Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung, vertreten durch die Bundeskanzlerin, den Vizekanzler und die sie tragenden Fraktionen und Parteien, hat heute Nacht vereinbart, dass – erstmals überhaupt – die Abschreibung digitaler Wirtschaftsgüter erleichtert werden soll, um auf diese Art und Weise die Transformation im digitalen Bereich, den Übergang zur Industrie 4.0, und die künstliche Intelligenz zu fördern. Das ist ein wichtiger Schritt, der dazu beitragen kann, eine neue Innovationsdynamik auszulösen.
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Wir haben gleichzeitig beschlossen, dass wir bis zum nächsten Treffen eine Lösung erarbeiten wollen, wie Personengesellschaften bei der Besteuerung mit Kapitalgesellschaften gleichgestellt werden können. Auch das ist ein wichtiges Zeichen insbesondere an mittelständische Unternehmen, dass wir ihre Arbeitsbedingungen, dass wir ihre Wettbewerbsfähigkeit stärken wollen.
Wir haben schließlich drittens – aber nicht als Letztes – auch vor dem Hintergrund des Transformationsprozesses in der Automobilindustrie bei den Zulieferern, die mittelständisch geprägt sind, beschlossen, dass wir diesen Transformationsprozess durch kluge Regelungen bei der Qualifizierung und durch Verbesserungen beim Kurzarbeitergeld unterstützen.
Das zeigt: Wir lassen die Betroffenen nicht im Stich. Dass es möglich war, in der Koalition gemeinsam diese Entscheidungen zu treffen, zeigt, dass die Wirtschaftspolitik für diese Koalition wichtig ist. Dafür bedanke ich mich als zuständiger Minister ganz herzlich.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit diesem Jahreswirtschaftsbericht ist es amtlich: Deutschland befindet sich seit nunmehr über zehn Jahren ununterbrochen in einem wirtschaftlichen Aufschwung. Es ist der längste Aufschwung seit der Wiedervereinigung und darüber hinaus der längste Aufschwung seit 1966, also seit mehr als einem halben Jahrhundert. In dieser Zeit sind der Wohlstand und die wirtschaftliche Stärke unseres Landes gewachsen, Löhne und Renten sind in den letzten Jahren deutlich gestiegen, die öffentlichen Finanzen wurden konsolidiert. Die Spielräume für Zukunftsinvestitionen in Bildung, in Forschung, in Gesundheit, in Umwelt- und in Klimaschutz sind gleichwohl deutlich gewachsen. Kaum ein anderes großes Land in Europa kann auf eine ähnliche Erfolgsgeschichte zurückblicken.
Dass dieser Erfolg möglich war und ist, verdanken wir den hart arbeitenden Beschäftigten in über 45 Millionen Beschäftigungsverhältnissen. Wir verdanken es Millionen von Unternehmerinnen und Unternehmern, Selbstständigen, Handwerkern, Mittelständlern, Hidden Champions, die trotz mancher Hindernisse und trotz mancher Probleme mit Bürokratie diese beispiellose Erfolgsgeschichte ermöglicht haben und immer noch ermöglichen. Dafür ein herzliches Dankeschön im Namen der Bundesregierung und hoffentlich auch im Namen des gesamten Hauses!
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, die deutsche Wirtschaft ist auch im letzten Jahr gewachsen, sonst wären wir ja nicht im Aufschwung geblieben. Sie ist um 0,6 Prozent gewachsen, also etwas stärker als erwartet, aber – das ist auch unsere Auffassung – nicht stark genug. Wir haben es mit einer teilweise gespaltenen konjunkturellen Entwicklung zu tun: In der Binnennachfrage, im Baugewerbe, bei vielen Handwerksbetrieben, bei den Dienstleistungen gibt es nach wie vor eindrucksvolle Wachstumszahlen, bei der exportorientierten Industrie dagegen haben wir zum Teil große Probleme. Deshalb ist es wichtig, dass die wirtschaftliche Entwicklung wieder Fahrt aufnimmt. Wir erwarten ein Wirtschaftswachstum von 1,1 Prozent im laufenden Jahr und 1,3 Prozent im nächsten Jahr. Damit liegen wir auf einer Linie mit den Wirtschaftsforschungsinstituten; wir liegen, was die Prognose für 2021 angeht, sogar am unteren Rand.
Wir haben also eine große Chance, dass die wirtschaftliche Dynamik wieder an Fahrt gewinnt und dass die Phase des eher niedrigen Wachstums überwunden werden kann. Das ist die Botschaft an all diejenigen, die überlegen, ob sie in Ausrüstung investieren sollen, die überlegen, ob sie neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einstellen sollen, weil ihre Auftragsbücher immer noch voll sind. Den Pessimisten und den Schlechtrednern, von denen es auch in diesem Haus eine ganze Reihe gibt, die im letzten Jahr bei jeder Debatte die Rezession an die Wand gemalt und so getan haben, als sei die gesamte deutsche Wirtschaft vom Scheitern bedroht, möchte ich sagen: Sie haben damit den Interessen unseres Landes geschadet.
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Wir sollten unsere Stärken herausstellen und nicht unser Licht unter den Scheffel stellen.
Gleichwohl hat jeder Jahreswirtschaftsbericht die Aufgabe, nicht nur Erfolge zu benennen, sondern ebenso auch Herausforderungen, Defizite und Handlungsoptionen, und zwar für die Zukunft; denn Wirtschaftswachstum ist auf Dauer nicht selbstverständlich. Die Claims für die internationale Wettbewerbsfähigkeit werden jeden Tag und jeden Monat und jedes Jahr neu abgesteckt. Deshalb müssen wir uns um die Unternehmen kümmern, denen es nicht gleichermaßen gut geht; deshalb müssen wir uns um die Branchen und um die Transformationsprozesse kümmern, in denen wir weltweit mit anderen konkurrieren, mit Ländern in Asien, in Amerika und auch anderswo in Europa. Deshalb, meine sehr verehrten Damen und Herren, brauchen wir eine Antwort auf die Transformationsprozesse und auf den Klimawandel.
Wir haben ein Paket zum Klimaschutz verabredet, das eindrucksvoll ist und das es ermöglicht, unsere Klimaziele 2030 einzuhalten. Wir bekennen uns zur Klimaneutralität. Dieses Anliegen ist uns ernst. Aber gerade weil es uns ernst ist – das sage ich als Wirtschaftsminister –, dürfen wir nicht auf dem Standpunkt stehen, dass uns die wirtschaftlichen Folgen egal sind. Ich bin überzeugt, dass die Industrie, die in Europa Stahl produziert, die in Europa Güter produziert, weniger CO2 pro Tonne emittiert als auf irgendeinem anderen Kontinent weltweit. Ich bin überzeugt, dass wir unsere Klima- und Energiepolitik nur dann weltweit vertreten und populär machen können, wenn wir nachweisen, dass Umwelt und Wohlstand kein Gegensatz sind, wenn wir deutlich machen können, dass wir die Wettbewerbsfähigkeit erhalten.
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Deshalb muss neben dem Klimawandel auch dieser Aspekt in den Vordergrund gestellt werden.
Wir haben beim Kohleausstieg, den wir gestern im Kabinett als Gesetzentwurf beschlossen haben, ein klares Signal für Klimaschutz gesetzt, aber mit dem parallelen Strukturstärkungsgesetz Kohleregionen auch deutlich gemacht: Wir lassen die Regionen nicht im Stich. Wir lassen das Mitteldeutsche Revier, die Lausitz und das Rheinische Revier nicht im Stich.
Wir wollen dafür sorgen – übrigens erstmals in der Geschichte des Strukturwandels in unserer Industrie, anders als bei früheren Gelegenheiten in den 60er- und 70er-Jahren –, dass mit öffentlichem Geld, mit bis zu 40 Milliarden Euro, private Investitionen ermöglicht, Infrastrukturen geschaffen werden und neue Arbeitsplätze entstehen. Wir haben das Ziel, dass wir in allen drei Revieren, um die es geht, in denen wir Braunkohlekraftwerke stilllegen werden, soweit es hinsichtlich der Energieversorgungssicherheit vertretbar ist, kontinuierlich daran arbeiten, dass am Ende des Transformationsprozesses in all diesen Revieren mehr und gute Arbeitsplätze bestehen und entstehen, als es heute der Fall ist. Diese Regionen müssen zu Gewinnern des Strukturwandels werden. Deshalb ist es eine gesamtstaatliche Aufgabe, ihnen zu helfen.
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Wir haben gleichzeitig das ehrgeizige Projekt der Energiewende. Wir haben uns vorgenommen, 80 Prozent unserer Elektrizität bis 2050 aus erneuerbaren Quellen zu produzieren. Das ist wichtig für Nachhaltigkeit. Aber das wird nur gelingen, wenn wir uns genauso intensiv, wie wir uns um Windräder und um Photovoltaik kümmern, auch um die Akzeptanz kümmern und darum, dass die Leitungen fertig werden und der Strom bezahlbar wird.
Das bringt mich zu dem dritten großen Punkt, der mir als Wirtschaftsminister wichtig ist. Es geht um die Rahmenbedingungen für Wachstum. Wenn sich ein mittelständischer Unternehmer überlegt, ob er noch einmal 20 Millionen oder 30 Millionen Euro in die Hand nimmt, um für die nächsten Jahrzehnte zu investieren und sein Unternehmen zukunftsfähig zu machen, dann wird er es nur tun, wenn er an die Verlässlichkeit der Rahmenbedingungen glaubt, wenn er überzeugt ist, dass der Staat ihm nicht das, was er damit erwirtschaftet, durch höhere Steuern und höhere Energiekosten und mehr Bürokratie versauert und wieder wegnimmt und er am Ende umsonst gearbeitet und investiert hat.
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Das ist der Grund für die Zurückhaltung bei den Ausrüstungsinvestitionen in den letzten Jahren. Das ist ein Grund dafür, warum viele die Frage stellen: Wie könnt ihr uns denn garantieren, dass diese Rahmenbedingungen gleich bleiben?
Meine Damen und Herren, das, was wir gestern vereinbart haben als Absicht für die Unternehmen, für die Personengesellschaften, das, was wir als ersten Schritt für die Abschaffung des Soli beschlossen haben, sind deutliche Zeichen dafür, dass wir die Belastungsgrenzen erkennen. Im Jahreswirtschaftsbericht – dafür bedanke ich mich, liebe Frau Hagedorn, auch beim Finanzministerium ganz herzlich – haben wir den Satz verankert, dass wir den Soli abschaffen wollen. Ich hätte mir gewünscht, dass wir über den ersten Schritt hinaus auch weitere Termine bereits im Gesetz verankert hätten. Aber wir haben ja noch einige Monate Zeit bis zur nächsten Bundestagswahl. Ich vertraue darauf, dass wir gemeinsam diese Planungssicherheit herstellen.
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Wir haben uns als Koalition darauf verständigt, dass die Sozialabgaben nicht über 40 Prozent steigen sollen. Wir haben diese Zusage bislang eingehalten, weil wir Anstiege im Bereich der Pflegeversicherung durch zweimalige Senkungen im Bereich der Arbeitslosenversicherung kompensiert haben. Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist das eine, dass wir das von Koalitionsbildung zu Koalitionsbildung wiederholen. Das andere ist, dass wir es in der Praxis erreichen. Wir haben gesehen, wie segensreich es war, vor über zehn Jahren eine Schuldenbremse im Grundgesetz zu verankern. Ich habe in meiner Mittelstandsstrategie für mein Ministerium den Vorschlag gemacht, dass wir auch über eine Sozialabgabenbremse im Grundgesetz nachdenken.
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Das ist noch nicht die Meinung der Regierung insgesamt. Aber ich bin durch die Reaktionen, die darauf entstehen, sehr ermutigt.
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Ich habe das Thema Energie, die Bezahlbarkeit von Strom, angesprochen. Ich bin davon überzeugt, dass wir die sichere Verfügbarkeit von Strom gewährleisten können. Wir wollen aber auch erreichen, dass Strom bezahlbar wird. Heute ist der Haushaltsstrom bei uns der teuerste in ganz Europa, und der Strom für die nichtprivilegierten Industrieunternehmen ist der zweitteuerste in ganz Europa. Deshalb muss es unser gemeinsames Ziel sein, dass wir in den nächsten Jahren dem Durchschnitt der europäischen Strompreise wieder näherkommen. Es muss unser Ziel sein, dass trotz des weiteren Ausbaus der Energiewende die Strompreise wieder sinken.
Wir haben im Rahmen des Klimapaketes beschlossen, dass wir die zusätzlichen Einnahmen durch den höheren Emissionsausgabepreis ab dem nächsten Jahr komplett für die Senkung der EEG-Umlage verwenden werden. Das wird die stärkste Senkung der EEG-Umlage seit 20 Jahren, seit wir sie eingeführt haben. Das ist für mich aber nur ein erster Schritt. Wir haben im Kohleausstiegsgesetz die Rechtsgrundlage dafür geschaffen, dass wir, der Finanzminister, die Umweltministerin und der Wirtschaftsminister, bei der Strompreiskompensation und bei den Netzentgelten auf Preisanstiege gemeinsam reagieren können. Das ist Mittelstandspolitik.
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Wir müssen diese Mittelstandspolitik trotz aller Fährnisse, trotz aller Versuchungen gemeinsam verteidigen.
Ich habe festgestellt, dass die Akzeptanz wirtschaftlichen Erfolges, dass die Akzeptanz von Unternehmertum in unserer Bevölkerung insgesamt gewachsen ist, weil die Menschen kapieren, dass man nur das verteilen kann, was man vorher erwirtschaftet hat, und weil sie wollen, dass Deutschland auch weiterhin zu den erfolgreichsten Ländern dieser Welt gehört.
Die Digitalisierung wird uns vor ganz neue Herausforderungen stellen: das automatisierte Fahren, Massenproduktionen mit Losgröße 1, die völlige Umstellung von Produktionsverfahren unter Zuhilfenahme von neuen Technologien. Die Frage ist, ob wir uns zutrauen, diese Transformationsprozesse gemeinsam mit den Unternehmen, gemeinsam mit der Wirtschaft zu gestalten und zu bewältigen.
Wir haben durch eine Förderung von Elektromobilität und durch eine Förderung des Baus von Batteriezellen in Deutschland und in Europa einen wichtigen Anstoß gegeben, dass diese Transformation gelingen kann. Über 70 Unternehmen beteiligen sich derzeit am Aufbau einer Batteriezellproduktion, viele davon in Deutschland. Wir haben mit dem Projekt „Gaia-X“, das eine europäische, verlässliche und souveräne Dateninfrastruktur schaffen soll, dafür gesorgt, dass wir im Bereich der Datenverarbeitung vorankommen und Versäumnisse der Vergangenheit aufholen.
Ich bin überzeugt, dass wir den digitalen Wandel gestalten können, wenn wir den Mut dazu haben. Bertha Benz, die Frau des Erfinders des Automobils, ist kürzlich in einer Biografie mit dem Titel „Mein Traum ist länger als die Nacht“ gewürdigt worden. Das ist die Herausforderung für uns: dass wir uns bei allen Problemen des Alltags trauen, den Blick nach vorne zu richten auf eine Welt, in der Wohlstand und Umweltschutz zunehmen, auf eine Welt, in der Handelsschranken und Protektionismus irgendwann wieder auf dem Rückzug sind, auf eine Welt, in der wir unseren Platz mit Selbstbewusstsein, mit Stolz und gemeinsam mit anderen verteidigen werden.
Vielen Dank.
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Jetzt eröffne ich die Aussprache und erteile das Wort dem Abgeordneten Tino Chrupalla, AfD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Landsleute! „Den Strukturwandel meistern“: Unter diesem Motto steht das Jahresgutachten 2019/20 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Es handelt sich hier meiner Meinung nach um ein Gefälligkeitsgutachten für die Bundesregierung. Die sogenannten Wirtschaftsweisen benennen Maßnahmen für Zwecke, die ohnehin bereits feststehen.
Die Botschaft kann man grob zusammenfassen: Alles prima, nur hier und da ein paar Schräubchen nachziehen, zum Beispiel noch mehr Frauen und alte Menschen ins Erwerbsleben drücken, mehr sogenannte Fachkräfte aus dem Ausland holen, auf keinen Fall protektionistisch agieren, auch wenn der Rest der Welt das mittlerweile tut, und ganz wichtig: alles international koordinieren. Ein grundlegender Kurswechsel wird nicht gefordert, und auch von Weisheit fehlt jede Spur.
In ihrer Rede beim Weltwirtschaftsforum in Davos hat die Bundeskanzlerin hingegen ausnahmsweise Klartext gesprochen.
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Jetzt wissen wir, was mit Strukturwandel eigentlich gemeint ist – Zitat –: „Transformationen von gigantischem, historischem Ausmaß“. Das waren ihre Worte. Diese Transformationen müssen stattfinden, weil sich „die gesamte Art des Wirtschaftens und des Lebens, wie wir es uns im Industriezeitalter angewöhnt haben“, grundlegend verändern wird. So die Prophezeiung der Kanzlerin.
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Sie weissagt außerdem, dass wir zu völlig neuen Wertschöpfungsformen kommen werden, und zwar mittels einer zweiten Riesentransformation: der Digitalisierung. Da frage ich mich wirklich: In welcher Glaskugel haben Sie diese Vision erschaut, Frau Merkel? Was, wenn das alles ein Riesenspuk ist, an dem sich große Player eine goldene Nase verdienen, während man einem Großteil der Menschheit die materiellen, sozialen und geistigen Lebensgrundlagen entzieht?
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Die Kanzlerin hat erfreulicherweise auch Verständnis dafür, dass noch nicht alle Menschen in Deutschland davon überzeugt sind oder, wie Herr Altmaier gerade sagte, es noch nicht kapiert haben, dass diese dramatischen Veränderungen wirklich notwendig sind und auch noch mit Steuermitteln finanziert werden müssen. Sie plädierte in ihrer Rede in Davos sogar dafür, dass wir miteinander sprechen und „die Emotionen mit den Fakten versöhnen“. – Das haben Sie schön gesagt, Frau Merkel.
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Das finde ich auch. Das ist es ja, was Menschen wie mich in die Politik getrieben hat: Wir vermissen die Dialogbereitschaft auf der Seite derjenigen,
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die an dieser großen Transformationsidee festhalten und jeden Preis dafür zu zahlen bereit sind,
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die wie besessen unsere gewohnte Lebensumwelt umkrempeln wollen und gar nicht zu wissen scheinen, was sie dort eigentlich tun.
Ist diese Idee vom großen Strukturwandel, von der gigantischen Transformation der Welt wirklich zu Ende gedacht? Oder ist es wieder nur der alte Traum vom irdischen Paradies, der dieser Politik zugrunde liegt
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und der wie jedes dieser Projekte in der Vergangenheit an der Realität scheitern wird?
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Auch wir von der AfD finden, dass es Zeit ist, miteinander zu sprechen. Ich bin zu diesem Dialog bereit. Es muss allerdings ein ergebnisoffener Dialog sein.
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Ich habe ein paar Wirtschaftsexperten an der Hand, Herr Altmaier, die Ihnen nicht nach dem Mund reden, sondern die Ihre Politik kritisch begleiten könnten. Die vermittle ich Ihnen gerne.
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Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Sören Bartol, SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Wirtschaftsaussichten sind besser als gedacht. Die Arbeitslosenquote bleibt voraussichtlich stabil. Die Zahl der Beschäftigten wird sogar weiter steigen, auf 45,5 Millionen. Das sind gute Aussichten. Das ist ein Ergebnis unserer guten Arbeit. Aber darauf ruhen wir uns nicht aus.
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Die zentrale Herausforderung, vor der die deutsche Wirtschaft und unsere Gesellschaft stehen, ist der Strukturwandel. Das heißt, es geht um den Zusammenhang von Wirtschaft, Arbeit und der sozialen Frage. Wir wollen die globale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands langfristig sichern. Aber das muss gerecht geschehen und alle Teile der Bevölkerung mitnehmen.
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Es geht um Sicherheit im Wandel. Dieser Satz wurde häufig strapaziert. Aber ich halte ihn für gültiger denn je.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt enorme Unsicherheiten und Wachstumsrisiken: globale Handelskonflikte, drohende Kriege, ein wachsender Protektionismus und der Fachkräftemangel. Hinzu kommen die Herausforderungen der Klimakrise und der Digitalisierung. Wir haben selten in Deutschland vor einer so dynamischen und tiefgreifenden Umwälzung von Wertschöpfungsketten, Geschäftsmodellen und ganzen Unternehmen gestanden. Diese Herausforderungen müssen wir vernünftig angehen. Das heißt, nicht Einzelinteressen dürfen im Vordergrund stehen; wir haben das Ganze, das Gemeinwohl im Blick. Am Ende halten Wirtschaft und Arbeit die Gesellschaft zusammen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für dieses Ziel hat die Koalition die richtigen Weichen gestellt. Der Haushalt 2020 und das Klimapaket 2030 setzen die richtigen Impulse für Investitionen und Innovationen. Wir werden das Beschlossene umsetzen, so die Konjunktur stabilisieren, Unternehmen und Bürgern Verlässlichkeit geben und das Innovationspotenzial dieses Landes heben.
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Dabei machen wir aber auch nicht den Fehler, immer nur akut auf Herausforderungen zu reagieren. Wir gestalten den Wandel aktiv.
Mit dem Strukturstärkungsgesetz für die Kohlereviere und der massiven Förderung der Elektromobilität für die Automobilindustrie sind wir auf einem guten Weg. Wir investieren in Innovationen. Aber es braucht noch mehr. Ein wichtiges Signal sind die gestrigen Beschlüsse des Koalitionsausschusses. Das Arbeit-von-morgen-Gesetz kommt; Dank auch noch mal an Bundesarbeitsminister Heil.
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Damit geht die Koalition die Transformation unserer Wirtschaft konsequent und zielgerichtet an. Das Paket ist eine gute Kombination aus Sicherheit für die Beschäftigten und Impulsen für den Wirtschaftsstandort. Qualifizierung und Innovation sind die Schlüsselworte der kommenden Jahre. Wir müssen mehr Vertrauen in unsere eigene Gestaltungskraft entwickeln. Aus Angst vor Veränderung entwickeln wir den Mut zur Veränderung; das ist unser Ziel.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, das alles heißt aber nicht, dass wir kopflos und ohne Plan vorschnell Ideen umsetzen. Wer täglich neue Vorschläge durch die Medien treibt, was Unternehmen alles ändern müssten und was alles zu wenig sei, der verunsichert Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Unsicherheit ist das Gegenteil von einem gesunden Investitionsklima.
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Wir sehen in der aktuellen Situation, wie eng Wirtschaft, Arbeit und Soziales zusammenhängen. Um den Strukturwandel zu bewältigen, braucht es Bündnispartner. Das sind die Unternehmen, die Betriebsräte und die Gewerkschaften sowie die Beschäftigten. Das ist für mich die eigentliche Innovationspartnerschaft des kommenden Jahrzehnts.
Auch hier hat die Koalition den richtigen Weg eingeschlagen. Wir haben die Grundlagen dafür gelegt, eine leistungsfähige Wirtschaft, soziale Gerechtigkeit und Klimaschutz zu verbinden. Der Jahreswirtschaftsbericht zeigt, dass wir gut gearbeitet haben. Aber er zeigt auch, dass wir uns nicht zurücklehnen können. Wir brauchen weiter einen aktiven, gestaltenden Staat als Partner der Wirtschaft und verlässlichen Anker für die Beschäftigten im Strukturwandel.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Jahreswirtschaftsbericht zeigt, dass wir eine gute Wirtschaftspolitik machen. Wir haben solide gearbeitet. Genau das wollen wir auch fortsetzen.
In diesem Sinne: Glück auf!
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Ich erteile das Wort dem Kollegen Michael Theurer, FDP.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Bild der Wirtschaft in Deutschland ist ein gespaltenes Bild: minus 3,6 Prozent bei der Industrie, minus 10 Prozent bei der Stahlindustrie, in einigen Teilen der Chemieindustrie bis zu minus 30 Prozent. Die Zahl der kurzarbeitenden Betriebe im deutschen Südwesten, in Baden-Württemberg, hat sich in den vergangenen zwölf Monaten verzehnfacht.
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Das bedeutet große Sorgen bei Beschäftigten mittelständischer Unternehmen.
Meine Damen und Herren, an dieser Stelle ist es ja gut und richtig, dass der Jahreswirtschaftsbericht wesentliche Forderungen enthält, die die FDP an dieser Stelle seit vielen Monaten vorträgt und einfordert und die wir heute wieder mit unserem Antrag „Tempo für Deutschland“ hier in den Bundestag einbringen: die vollständige Abschaffung des Soli, eine Unternehmensteuerreform, die andere Länder wie die USA, Großbritannien, Frankreich und selbst Italien bereits angepackt haben, und die Entlastung der Bürgerinnen und Bürger von unnötiger Bürokratie.
Herr Bundeswirtschaftsminister, Ihre Rede hier hat mir in weiten Teilen sehr gut gefallen.
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Aber es heißt ja „Regierungserklärung“, und was Sie nicht geschafft haben, was Sie versäumt haben, ist, zu erklären, warum die Vorschläge und Forderungen des Jahreswirtschaftsberichtes in der Regierung nicht umgesetzt werden.
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Da, meine Damen und Herren, sähen wir Sie sehr gerne, Frau Bundeskanzlerin. Wir fordern, dass Sie mit Ihrer Richtlinienkompetenz einfach die Wirtschaftspolitik, die Wettbewerbsfähigkeit, die Sicherung der Arbeitsplätze und vor allen Dingen auch die besseren Rahmenbedingungen für Handwerker, Selbstständige, kleine und mittlere Betriebe zur Chefsache dieser Regierung machen.
Der Koalitionsausschuss hat hierzu allerdings nicht genug geliefert: Fehlanzeige beim kompletten Soliausstieg, keine Entlastung durch eine große Steuerreform, eine Zustimmung zur Grundrente. Diese ist leistungsfeindlich. Sie folgt nicht dem Bedürftigkeitsprinzip; sie verteilt Wohltaten nach dem Gießkannenprinzip und nicht zielgenau. Wir sagen: Sie ist nicht eng definiert und nicht generationengerecht.
Wir werben hier an dieser Stelle noch mal für unser Konzept der Basisrente, mit dem wir die Altersarmut zielgenau bekämpfen können, ohne dass Menschen in den Genuss von Sozialleistungen kommen, die sie nicht brauchen. Lassen Sie uns Steuergelder und Beitragsgelder genauer für diejenigen bündeln, die sie wirklich nötig haben: die Bedürftigen, meine Damen und Herren.
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Wenn es heißt, es gebe kein Geld für Steuerentlastungen – darüber berichtet die „Börsen-Zeitung“ in ihrer vorgestrigen Ausgabe –: Allein in den Jahren 2008 bis 2019 hat der deutsche Fiskus durch die Niedrigzinspolitik der EZB 436 Milliarden Euro Einsparungen durch niedrigere Zinsen erzielt. Das kann man an die Bürgerinnen und Bürger zurückgeben.
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Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. In diesem Jahreswirtschaftsbericht ist eine Chance vertan worden. Kein Wort zur Wasserstoffstrategie, meine Damen und Herren. EU-Kommissar Timmermans fordert die Bundesregierung auf, hier endlich zu liefern. Seit Monaten fordern wir das hier. Wir brauchen Technologieoffenheit, die Brennstoffzellentechnologie. Aber auch synthetische Kraftstoffe können helfen, Arbeitsplätze in Deutschland zu erhalten.
Herr Altmaier, ich weiß nicht, ob Sie das Buch „Das Supermolekül“ – es geht um Wasserstoff – kennen. Ich habe mir gedacht, ich schenke es Ihnen einfach,
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damit sich neben Ihren vielen Büchern über Bismarck und über die Sozialpolitik der Vergangenheit jetzt auch noch ein Buch über die Technologiepolitik der Zukunft findet.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Carsten Linnemann, CDU/CSU.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben heute den 30. Januar und reden über diesen Jahreswirtschaftsbericht im Lichte einer fragilen konjunkturellen gesamtwirtschaftlichen Lage weltweit. Das zeigen auch die Ergebnisse des Koalitionsausschusses,
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die wir als Fraktion begrüßen. Ich bedanke mich beim Fraktionsvorsitzenden dafür, dass er wichtige Themen auf die Agenda gegeben hat, dass wir wieder reden über Beschleunigungen und Reformen, über Planungsbeschleunigung, über eine Unternehmensteuerreform.
Mir ist aber auch wichtig, dass das Thema Landwirtschaft – die Landwirtschaftsministerin ist auch anwesend – heute Nacht in den Fokus gerückt ist. Ich finde, das Thema Landwirtschaft wird zu selten durch die wirtschaftliche Brille betrachtet:
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Es heißt Landwirtschaft; das sind Familienunternehmen, das sind Mittelständler, die nachfolgeorientiert denken. Mittlerweile werden Landwirte ja zuweilen als Buhmänner angesehen und verantwortlich gemacht für alles, was auf dem Globus passiert. Das ist mitnichten richtig. Landwirte sind keine Buhmänner, sondern Landwirte sind diejenigen, die den ländlichen Raum stärken. Sie sind das Rückgrat des ländlichen Raums!
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Wir haben heute den 30. Januar. Seit 30 Tagen gibt es den Solidarpakt II nicht mehr. Vielleicht ist es ein richtiges Signal, an dieser Stelle einfach mal den Steuerzahlern in Deutschland Danke zu sagen, die 30 Jahre lang diesen Solidarpakt finanziert haben. Außerdem werden wir – der Wirtschaftsminister hat es gesagt – für 90 Prozent der Solizahler den Solidaritätszuschlag komplett abschaffen. Das ist der richtige Schritt. Es ist kein Geheimnis, dass wir gerne weitergehen wollen. Für uns ist die Abschaffung des kompletten Solis keine Frage der Finanzen, sondern eine Frage der Glaubwürdigkeit. Deswegen halten wir an diesem Punkt fest.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir erleben derzeit eine Epochenwende. Wir erleben eine Renationalisierung, zumindest entsprechende Tendenzen weltweit. Morgen Nacht werden die Briten die Europäische Union verlassen. Wir erleben zunehmend einen Wettlauf um neue Zölle. Und seit 30 Tagen ist das Schiedsgericht der WTO nicht mehr funktionsfähig, weil die Amerikaner die Nachbestellung von Richtern blockieren. Mit anderen Worten: Die Welthandelsordnung steht unter Druck. – Ich finde, auch in diesem Zusammenhang sollte die Koalition klar und deutlich für freien Handel werben; denn überall dort, wo Zölle abgebaut wurden, wo nichttarifäre Handelshemmnisse abgebaut wurden, gibt es wirtschaftliche Prosperität weltweit. Deswegen müssen wir für die Werte der sozialen Marktwirtschaft werben, nicht nur in Deutschland, sondern auch global.
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In Deutschland haben wir jetzt zehn Jahre Wachstum hinter uns. Das hat es, glaube ich, in der jüngeren Wirtschaftsgeschichte so noch nicht gegeben. Nachdem, wie ich finde, die Bundesregierung in den Jahren 2008 und 2009 klug gegen die Rezession, die mit minus 6 Prozent tiefgreifend war, gehandelt hat – Kurzarbeitergeld und vieles mehr –, hat sich dieses Land und insbesondere der Mittelstand in atemberaubender Geschwindigkeit wieder in die internationale Arbeitsteilung eingeklinkt. Wir haben in den letzten Jahren Wachstum gehabt, zwischen 2014 und 2018 sogar ein Wachstum über der Potenzialrate.
Zur Ehrlichkeit gehört aber auch, dass die EZB dieses Wachstum mit einer Niedrigzinspolitik befeuert. Sie begründet diese Nullzinspolitik – lassen Sie mich das bitte sagen – damit, dass sie mit ihr das Ziel einer Inflationsrate nahe 2 Prozent einhalten kann. Ich halte das auf Dauer für ungesund. Es wird zu Kollateralschäden kommen. Deswegen bin ich dafür, dass wir in Deutschland und auch in Europa eine Debatte über das richtige Inflationsziel bekommen. 2 Prozent halte ich in der heutigen globalisierten und digitalisierten Welt für zu hoch. Die Firmen haben nicht mehr die Möglichkeit, die Preise signifikant zu erhöhen. Deswegen müssen wir wieder zu einer gesunden, zu einer marktwirtschaftlichen EZB-Zinspolitik zurückkommen.
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Herr Kollege Linnemann, es würde gerne eine Zwischenfrage aus den Reihen der FDP gestellt werden.
Gerne im Anschluss, jetzt nicht.
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Also jetzt nicht?
Herr Präsident, ich möchte meine Rede zu Ende bringen; gerne als Kurzintervention im Anschluss. Jetzt nicht.
Das entscheiden Sie nicht.
Okay. 1 : 0 für Sie.
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Kommentieren Sie den Präsidenten besser nicht.
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Okay.
Reden Sie einfach weiter.
Peter Altmaier, der Wirtschaftsminister, hat es gesagt: Wir sind im Jahr 2019 an einer Rezession vorbeigeschrammt. Es gab keine, und es wird vorerst auch keine geben. Das liegt an der Binnenkonjunktur, das liegt an der staatlichen Nachfrage und auch an den Bauinvestitionen. Fakt ist aber auch: Wir haben eine gespaltene Wirtschaft: Die Bauindustrie, das Handwerk boomen, und auf der anderen Seite ist die Industrie in einer Rezession, auch befeuert durch demografische Entwicklungen und durch Strukturwandel.
Die Frage ist: Was kann Politik jetzt tun? Dazu stehen viele Punkte im vorliegenden Jahreswirtschaftsbericht. Ich glaube, entscheidend sind nicht in erster Linie Konjunkturprogramme oder neue Förderrichtlinien oder Subventionen, sondern verlässliche Rahmenbedingungen. Die Wirtschaft in Deutschland, der Mittelstand wollen verlässliche Rahmenbedingungen. Hier möchte ich gerne auf drei Punkte eingehen, die auch im Jahreswirtschaftsbericht an prominenter Stelle stehen:
Zum einen geht es um das Thema, auf das wir alle angesprochen werden, wenn wir unterwegs sind: das Thema Fachkräfte. Zum 1. März wird das Fachkräfteeinwanderungsgesetz in Kraft treten. Wir brauchen hier schnelle Verfahren. Wir brauchen eine schnellere Anerkennung ausländischer Abschlüsse und – das ist sehr wichtig – schnellere Visaverfahren, also gut ausgestattete Visastellen in den Botschaften.
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Wir brauchen zweitens eine Steuerreform; auch das wurde angesprochen. Der ehemalige Finanzminister Wolfgang Schäuble hat mal gesagt, dass eine Steuerquote von 22 Prozent ausreicht.
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Mittlerweile sind wir bei 24 Prozent. Ich finde – auch das wurde richtigerweise vom Wirtschaftsminister angesprochen –, dass Deutschland eine Unternehmensteuerreform braucht. Dieses Land lebt vom Mittelstand. Dieses Land lebt von den Familienunternehmen. Über 80 Prozent sind Personengesellschaften, und die müssen meines Erachtens gleich besteuert werden wie Kapitalgesellschaften, damit wir auch in Zukunft noch einen Mittelstand haben.
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Drittens müssen wir die Bürger entlasten; auch dabei bleiben wir. Die kalte Progression ist seit einigen Jahren abgeschafft; aber wir müssen darüber hinaus an den Mittelstandsbauch ran: Es kann nicht sein, dass wir den Bürgern das Geld wegnehmen, sie faktisch in die Bedürftigkeit ziehen,
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um sie anschließend mit vielen familienpolitischen Programmen da wieder rauszuholen. Das muss direkt passieren. Deswegen ist es nicht gefährlich, über Steuersenkungen zu reden, sondern es ist gefährlich, über Steuersenkungen nicht zu reden.
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Lassen Sie mich zum Schluss noch Folgendes sagen – auch da unterstütze ich Peter Altmaier ausdrücklich –: Wir brauchen neue Dynamik, wir brauchen Freiräume. Wir müssen ein Land werden, in dem Menschen Risiken eingehen können, in dem Menschen, übrigens Unternehmer wie Politiker, Fehler machen können und aus ihnen lernen. Wir müssen offen sein für gute Ideen, für neue Technologien und eine kluge Regulierung. Deswegen unterstützen wir die Bundesregierung dabei, mehr Experimentierklauseln vorzusehen bzw. zu nutzen; und wenn es funktioniert, dann rollen wir es in Deutschland aus, damit wir ein Land des Ausprobierens werden. Das muss jetzt das Gebot der Stunde sein.
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Wir dürfen uns nicht im Klein-Klein verlieren, sondern wir brauchen mehr Mut: Mut, dazuzulernen, Mut, auf die Ideen des Mittelstandes und der Wirtschaft zu vertrauen, Mut zu einem neuen Aufbruch.
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Klaus Ernst, Die Linke.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Theurer, ich kann es mir nicht verkneifen: Wenn Sie sich hier über die Grundrente aufregen, die die Koalition auf den Weg bringt, würde ich Ihnen mehr Glaubwürdigkeit zubilligen, wenn Sie sich wenigstens einmal auch darüber aufregen würden, dass es Leute gibt, die 4 000 Euro Rente kriegen – nicht im Monat, sondern am Tag, wie der Herr Zetsche. Wenn Sie in Ihren Reden die soziale Ausgewogenheit zumindest ein wenig als Ziel formulieren würden, würden Sie mehr Zustimmung erhalten, auch von den Bürgern in diesem Land.
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Meine Damen und Herren, wir reden hier nicht über die Rente, sondern über den Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung. Sie haben positive Aspekte aufgezeigt, Herr Minister. Sie haben auch durchaus Grund dazu. Allerdings ist die prognostizierte Steigerung des Wirtschaftswachstums um 0,5 Prozentpunkte auf 1,1 Prozent im nächsten Jahr im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass wir zwei Tage mehr arbeiten, dass wir zwei Arbeitstage mehr haben. Das ist also weniger eine Leistung des Wirtschaftsministers.
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Im Übrigen geht aus Ihrem Bericht hervor, dass insbesondere die Binnennachfrage die Konjunktur stabilisiert – auch richtig –, da insbesondere die steigenden Einkommen der Arbeitnehmer positiv wirken. Auch das ist keine Leistung des Bundeswirtschaftsministers, eher eine Leistung der Gewerkschaften, meine Damen und Herren.
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Die staatlichen Brutto-Ausrüstungsinvestitionen stagnierten 2019. Herr Altmaier, Ihre Regierung investiert viel zu wenig. Gewerkschaften und Arbeitgeber fordern in bemerkenswerter Einheit Investitionen von 450 Milliarden Euro für die nächsten zehn Jahre. Gerade um die Klimaziele zu erreichen, sind massive Investitionen zum Beispiel in Bahn, Bildung und neue Technologien notwendig.
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Doch anstatt eine Investitionsoffensive zu starten, starten Sie eine Initiative zur Steuerentlastung der Unternehmen. Was ist das denn? Haben denn die Unternehmen kein Geld mehr für Investitionen, Herr Altmaier?
Die Fakten: Während im Jahr 2000 noch 35 Prozent der Gewinne netto reinvestiert wurden, ist es im Jahr 2018 nur noch die Hälfte davon, nämlich 16 Prozent. 2001 wurden die Unternehmensteuern deutlich gesenkt. Das Ergebnis waren nicht mehr, sondern permanent weniger Investitionen. Die Quote ist gesunken. Mit Verlaub, Herr Altmaier, Ihr Vorschlag macht überhaupt keinen Sinn.
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Richtig wäre es tatsächlich, die mittleren und unteren Einkommen zu entlasten – übrigens nicht, wie Sie gestern im Ausschuss sagten, die Entlastung aller Einkommen, sondern die Entlastung der mittleren und niedrigen Einkommen. Warum? Weil zum Beispiel zwischen 1998 und 2015 die oberen 30 Prozent der Einkommensbezieher schon entlastet wurden, die obersten 10 Prozent sogar um 2,3 Prozent – die haben weniger Belastung –, und die unteren 70 Prozent der Einkommensbezieher mehr Steuern zahlten, die untersten 10 Prozent sogar 5,4 Prozent mehr. Also: Wir brauchen wirklich eine Entlastung der unteren Einkommen und nicht Steuerentlastungen mit der Gießkanne, wodurch man reine Mitnahmeeffekte bei den Reichen in diesem Lande erzielt, meine Damen und Herren.
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Das reichste Prozent unserer Bevölkerung, also 1 Prozent, besaß 2017 genauso viel wie die ärmeren 75 Prozent unseres Landes.
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Das ist ein Problem, weil diese Ungleichheit tatsächlich Wachstum hemmt. Das sagen alle Ökonomen.
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Im Übrigen: Wichtig wäre auch tatsächlich eine Entschuldung der Kommunen. Warum? Weil die Kommunen nicht mehr das Geld haben, die Leute einzustellen, die für Planungen notwendig sind, die sie aber brauchen, um die Mittel abzurufen, die ihnen vom Bund zur Verfügung gestellt werden; denn diese werden nicht abgerufen.
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Ich weiß nicht, warum Sie sich dagegen sperren, Herr Minister. Ich kann es nicht verstehen.
Dagegen lamentieren Sie ständig über Bereiche, die gar nicht in Ihre Zuständigkeit fallen.
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Manchmal habe ich den Eindruck: Sie haben vielleicht zu viel Zeit. – Ehe Sie sich darüber auslassen, dass wir keine Arbeitszeiterfassung bräuchten, ehe Sie die Dokumentation des Mindestlohns zu Ihrem Thema machen, ehe Sie eine Sozialabgabenbremse ins Grundgesetz schreiben wollen, kümmern Sie sich doch bitte einfach um das, wofür Sie zuständig sind, Herr Minister!
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Dann wären wir vielleicht einen Schritt weiter.
Wofür wären Sie zuständig? Die Windenergiebranche steht kurz vor dem Kollaps. Statt alles dafür zu tun, dass der Ausbau an Land und offshore wieder vorangeht, verharren Sie in dieser Frage in Untätigkeit. Auf die groß angekündigte Wasserstoffstrategie – da hat die FDP auch mal recht –
({11})
warten wir seit Wochen vergebens. Was ist mit der Umsetzung Ihrer Industriestrategie? Was ist zum Beispiel mit dem staatlichen Industriefonds, den Sie angekündigt haben? Was passiert da? Ich habe den Eindruck: Da sind Sie viele, viele Antworten schuldig.
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Die Autoindustrie wollen Sie bei der Umstellung auf neue Antriebe unterstützen. Toll, dass jetzt auch die Bundesregierung gemerkt hat, dass man elektrisch nur fahren kann, wenn eine Batterie drin ist. Das hat ja ziemlich lange gedauert bei uns in der Republik.
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Aber sollten die Gelder, die wir dort ausgeben, nicht an etwas gebunden sein? Was ist mit Mitbestimmung? Was ist mit Tarifverträgen? Was ist mit den Arbeitsplätzen in den Betrieben? Warum einfach Geld rüberschicken ohne jede Gegenleistung? Nein, meine Damen und Herren, das ist der falsche Weg.
({14})
Zum Schluss: Ein wichtiges Betätigungsfeld für Sie, Herr Altmaier, wäre zum Beispiel, auch mal Vorschläge zu machen, wie wir uns eigentlich gegen die exterritorialen Sanktionen der USA gegen europäische Unternehmen wehren, die immer unerträglichere Ausmaße annehmen.
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Es ist nicht mehr hinnehmbar, meine Damen und Herren, was da passiert.
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Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn unverhohlen europäische Unternehmen, die sich an Nord Stream 2 beteiligen, bedroht werden und selbst Briefe von amerikanischen Senatoren kriegen, dann ist mal darüber nachzudenken, nicht mit Wattebäuschchen zu werfen, sondern vielleicht auch mit Maßnahmen darauf zu reagieren.
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Ich schlage Ihnen vor: Machen Sie Strafzölle gegen US-amerikanisches Fracking-Gas; denn dann wissen die auch mal, wo der Hammer hängt.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Katharina Dröge, Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Altmaier, Sie haben es eben selbst gesagt: Wenn die Prognosen für das nächste Jahr etwas besser aussehen sollten, dann hat es damit zu tun, dass der harte Brexit hoffentlich abgewendet wird, dann hat es damit zu tun, dass der Handelsstreit zwischen den USA und China vielleicht nicht so schlimm wird, wie man befürchten musste. Mit einem hat es leider nichts zu tun, und das ist Ihre Politik. Denn wenn man sich anschaut, was die strukturellen Herausforderungen im Land sind, dann stellt man fest, dass Sie diese nicht angehen. Schlimmer noch: Ihre Politik ist so erratisch, dass sie mittlerweile zum Standortrisiko für dieses Land geworden ist.
({0})
Kein Unternehmen kann auf dem Prinzip Chaos Investitionsentscheidungen gründen. Das traurigste Beispiel dafür ist Ihr Umgang mit dem Kohlekompromiss. Er ist nicht nur verantwortungslos mit Blick auf den Klimaschutz. Ihr Umgang ist auch aus demokratischer Sicht ein extrem schwieriges Signal an dieses Land. Da holen Sie aus allen gesellschaftlichen Gruppen Menschen zusammen und sagen Ihnen: Euer Auftrag ist es, einen Kompromiss mit Blick auf den Kohleausstieg zu verhandeln. – Dann brauchen Sie ewig, um das Ganze zu bewerten, und dann setzen Sie es noch nicht mal um, sondern gehen hinter die Ergebnisse zurück. Das Signal, was Sie damit an die Bürgerinnen und Bürger und auch an die Unternehmen in diesem Land senden, ist vor allen Dingen eines: Auf diesen Minister kann man sich nicht verlassen.
({1})
Dasselbe machen Sie mit Ihrer Industriepolitik. Sie haben mit großen Worten eine Industriestrategie angekündigt. Dann haben Sie die nach massivem Widerstand zurückziehen müssen, haben eine neue vorgelegt, und dann sagen Sie, einen Kabinettsbeschluss möchten Sie daraus aber nicht machen. Wir brauchen keinen Minister, der immer nur schöne Papiere schreibt. Wir brauchen einen Minister, der handelt.
({2})
Herr Altmaier, Sie selbst haben die Stahlindustrie genannt. Ja, die braucht wirklich einen Minister, der handelt. Wenn thyssenkrupp oder Salzgitter auf eine klimaneutrale Stahlproduktion umstellen wollen, dann geht das nur, wenn wir einen Minister haben, der die Instrumente entwickelt, um ihnen zu helfen. Von Ihnen habe ich da aber bislang nichts gehört, weder einen Vorschlag für einen funktionierenden Grenzausgleich, um internationale Wettbewerbsfähigkeit sicherzustellen, noch einen Vorschlag für Instrumente, die helfen könnten, neue Technologien im Markt zu etablieren. Ich kann Sie nur auffordern: Wenn Sie eine zukunftsfähige Stahlproduktion hier in diesem Lande haben wollen, dann müssen Sie handeln!
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Bedauerlicherweise habe ich auch nichts von Ihnen dazu gehört, wie wir eine funktionierende Infrastruktur in diesem Land gewährleisten. Ich sage Ihnen, Herr Minister: In dieser Infrastruktur liegt die entscheidende Frage für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen. Das krasseste Beispiel – das haben wir gestern wieder im Ausschuss erlebt – ist das 5G-Netz. Hier schaffen wir die Infrastruktur der Zukunft, und seit Monaten gelingt es der Regierung nicht, eine gemeinsame Position dazu zu finden, welche Sicherheitsanforderungen wir an das 5G-Netz stellen wollen. Sie streiten miteinander,
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Sie verzögern. Sie können uns nicht sagen, wie die Sicherheitsanforderungen an bestimmte Unternehmen sind. Darauf können die Unternehmen nicht länger warten. Wir brauchen dieses 5G-Netz für die Infrastruktur der Zukunft. Aber wir brauchen ein sicheres 5G-Netz, und es wäre auch die Aufgabe eines Wirtschaftsministers, hier zu handeln und nicht immer nur Sonntagsreden zu halten.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Bernd Westphal, SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Jahreswirtschaftsbericht 2020 beschreibt sehr ausführlich die aktuelle Situation, aber auch die enormen Herausforderungen, vor denen Deutschland und Europa stehen.
Wir haben vor allem Dank zu sagen den vielen Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, innovativen Unternehmern, Handwerkern und Dienstleistern in diesem Land, die dazu beigetragen haben, dass wir auf so eine positive Bilanz und auf jahrzehntelanges Wirtschaftswachstum zurückblicken können. Dafür ganz herzlichen Dank!
({0})
Das schafft politischen Spielraum.
Aber auch die Themen, die wir behandeln, sind von einer enormen Tragweite. Es geht darum, die Weichen zu stellen für eine sichere, soziale, aber auch wirtschaftlich erfolgreiche Zukunft in unserem Land. Dass die Politik der Großen Koalition dabei erfolgreich ist, zeigt die lange Phase des wirtschaftlichen Wachstums. Aber ich sage auch: Der Bericht zeigt, dass gerade die Binnenkaufkraft, die Binnenkonjunktur dazu beigetragen haben. Das hat damit zu tun, dass wir Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entlastet haben und mit den richtigen Rahmenbedingungen dafür sorgen, auch zukünftig Kaufkraft zu erhalten. Deshalb sage ich: Die Reduzierung des Solidaritätsbeitrages könnten wir sicherlich schon auf den 1. Juli dieses Jahres vorziehen.
({1})
Das würde zusätzliche Effekte bedeuten und auch die Tarifbindung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erhöhen.
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Vor allen Dingen geht es darum, technischen Fortschritt so zu organisieren, dass er mit sozialem Fortschritt einhergeht und der gesellschaftliche Zusammenhalt gestärkt wird. Hubertus Heil hat als Arbeitsminister innovative Arbeitsmarktpolitik in konkrete Politik umgesetzt. Auch heute Nacht sind viele Instrumente, mit denen der Transformationsprozess sozial gerecht gestaltet werden kann, vereinbart worden.
({3})
Vor einem Jahr hat die Kohlekommission Ergebnisse vorgelegt, wie wir die Organisation des Kohleausstiegs politisch gestalten können. Daran werden wir uns orientieren. Mit dem Strukturstärkungsgesetz und seit gestern auch mit dem Kohleausstiegsgesetz liegen Vereinbarungen auf dem Tisch, über die wir jetzt parlamentarisch beraten werden. Sicherlich geht es im Kern sehr konkret darum, wie die Energiewende gestaltet werden kann.
Ich sage aber auch: Der Kohleausstieg ist nicht nur im Bereich Strom, sondern auch im Bereich Wärme zu organisieren. Deshalb werden wir in einem konstruktiven Dialog, Herr Altmaier, noch einmal überlegen, ob alles das, was im Kohleausstiegsgesetz festgeschrieben ist, auch machbar ist. Wir brauchen Versorgungssicherheit nicht nur im Bereich Strom, sondern auch im Bereich Wärme, für Industrie- und für Fernwärme.
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Deshalb ist es gut, dass wir genau hingucken, ob die Umsetzung so funktioniert.
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Die Menschen brauchen vor den Veränderungen keine Angst haben. Ganz im Gegenteil: Sichere Arbeitsplätze kann es in Zukunft nur dann geben, wenn sie mit Nachhaltigkeit, Klimapolitik und Umweltschutz vereinbar sind. Dafür brauchen wir natürlich auch eine Wasserstoffstrategie – sie ist schon angesprochen worden –, und die Transformationsprozesse in der Chemie- und Stahlindustrie müssen gestaltet werden. Auch durch eine Kaufprämie für Elektroautos, Herr Altmaier, brauchen wir dringend Signale für die Verbraucherinnen und Verbraucher.
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Auch im Bereich Mieterstrom brauchen wir mehr Dynamik. All das sind Innovations- und Investitionsimpulse, die wir brauchen.
Es gibt keinen Grund, pessimistisch zu sein. Es gibt jedoch allen Grund, mit dieser Politik offen, engagiert und mutig die Verantwortung für die Zukunftsfragen zu übernehmen. Wir sind dazu bereit. Die Zukunft hängt davon ab, was wir heute tun.
Herzliches Glückauf!
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Nächster Redner ist der Kollege Leif-Erik Holm, AfD.
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Liebe Bürger! Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Wirtschaft kann also aufatmen. Die Rezession fällt aus; zumindest bei den Herstellern von Papierrollen für Kassenzettel. Die Bonpflicht macht es möglich. Zum Wohle der Wirtschaft endlich noch mehr Bürokratie! Was für ein Unfug, meine Damen und Herren!
({0})
Das steht sinnbildlich für Ihre unausgegorene Politik.
({1})
Ob es eben diese Bonpflicht ist oder die Industriestrategie 2030 mit staatlich verordneten nationalen Champions: Die Sachverständigen, Herr Altmaier, haben Ihnen ja diese Idee zu Recht um die Ohren gehauen. Wir brauchen Champions, ja, aber keine künstlichen Champions, sondern freien Wettbewerb und Luft zum Atmen für unsere Unternehmen.
({2})
Die Firmen ersticken an Bürokratie und Belastungen. Wir haben eine der höchsten Steuer- und Abgabenlasten weltweit. Da müssen wir endlich ran. Mein Zeuge ist Carsten Linnemann. Er hat es gesagt. Es war eine schöne Oppositionsrede, wirklich. Aber Sie müssen Ihre Regierung endlich so weit bekommen, dass sie es schafft: Der Soli muss endlich für alle weg; er ist ja auch für alle eingeführt worden. Die Unternehmen brauchen endlich eine deutliche Entlastung, die in anderen Ländern schon vorgenommen wurde; denn wir stehen ja im internationalen Wettbewerb.
({3})
Ein Riesenklotz am Bein der Wirtschaft ist Ihre Klima- und Energiepolitik. Gegen jede Vernunft treiben Sie eine ideologische Energiewende voran, die überhaupt nicht funktioniert und unsere Versorgungssicherheit aufs Spiel setzt.
({4})
Und dann muss der Bürger diesen Irrsinn auch noch mit den höchsten Strompreisen in Europa bezahlen, Herr Bartol. Das ist gaga!
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Kein anderes Land sägt sich selbst den Ast ab, auf dem es sitzt. Ganz offensichtlich haben wir nicht einen Klimanotstand, sondern einen ausgemachten Bildungsnotstand.
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Jetzt fahren Sie auch noch die Automobilindustrie gegen den Baum.
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Die Verbrauchsvorgaben der EU, die Sie mit zu verantworten haben, zwingen die Hersteller jetzt, E-Autos auf den Markt zu bringen, obwohl sie wissen, dass die kein Mensch kaufen will. Die Gründe liegen auf der Hand: zu teuer, zu lange Ladezeiten, zu geringe Reichweite, kaum Infrastruktur. Da werden auch 6 000 Euro Kaufprämie nichts dran ändern. Es macht einfach keinen Sinn. E-Autos sind weder umweltfreundlicher als moderne Diesel, noch sind sie ökonomischer.
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– Lesen Sie doch einmal nach.
Wir erleben jetzt, wie unsere Automobilindustrie, das Rückgrat der deutschen Wirtschaft, zunichtegemacht wird. Tausende Stellen sind bereits verloren gegangen. Kurzarbeit ist angesagt. Eine Studie der Bundesregierung sieht den Verlust von über 400 000 Arbeitsplätzen bis 2030. Und das alles passiert nur wegen ideologisch völlig überzogener Vorgaben. Diese Regierung hat offensichtlich nicht die Kraft, dem irren Zeitgeist zu widerstehen. Auch ihr Jahreswirtschaftsbericht liest sich mittlerweile, als hätte ihn Greta geschrieben. Wir dagegen können den Autofahrern versichern: Die AfD steht weiter zum Verbrennungsmotor, einfach weil er überlegen ist.
({9})
Meine Damen und Herren, wir brauchen keine teuren und sinnlosen Klimapakete oder Green Deals. Wir müssen endlich zurückkommen zu einer sicheren und bezahlbaren Energieversorgung für Bürger und Unternehmen. Stecken wir das Geld also lieber in die Energieforschung, um wirklich tragfähige Alternativen für die Zukunft zu finden.
Die Bundesregierung jedenfalls wird mit ihrer Wirtschaftspolitik scheitern. Es hat schon seinen Grund, warum sich selbst die Wirtschaftsverbände beklagen. Wachen Sie also auf! Unsere Unternehmen brauchen endlich ein gutes Klima. Darauf kommt es an.
({10})
Da ich erstaunlicherweise noch ein bisschen Zeit habe, möchte ich noch eines sagen.
({11})
Herr Wirtschaftsminister, Sie haben vorhin gesagt: Diejenigen, die von der Rezession reden, schaden unserem Land.
({12})
Das entspricht nicht meinem Selbstverständnis in diesem Haus. Wir sind nicht die Volkskammer. Wir sind hier aufgerufen, über die Probleme der deutschen Wirtschaft zu reden.
({13})
Wir haben eine Teilrezession im verarbeitenden Gewerbe, in der Industrie. Darüber muss hier in diesem Hause geredet werden. Darauf haben die Bürger ein Recht.
Danke schön.
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer, CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die deutsche Glücksspirale dreht sich weiter, und zwar im elften Jahr. Es ist bereits vom Bundeswirtschaftsminister und auch vom Kollegen Linnemann angesprochen worden: Wir sind im elften Jahr des Wachstums, wenn auch moderat, und das gab es noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Wir haben den höchsten Beschäftigungsstand: 45,3 Millionen Menschen, die in Lohn und Brot sind. Wir haben die niedrigste Arbeitslosigkeit seit der Wiedervereinigung. Und wir haben 4,2 Millionen Menschen mit ausländischem Hintergrund, die bei uns beschäftigt sind, davon 2,24 Millionen aus der EU. Das sind die Fachkräfte, die wir zum Teil händeringend suchen und die diesen Wirtschaftsaufschwung auch mittragen. Deshalb ist es gut und richtig, dass wir im letzten Jahr entsprechende Entscheidungen im Fachkräftebereich getroffen haben. Wir brauchen diese Fachkräfte weiterhin.
Der Aufschwung kommt mehr denn je bei den Bürgern an. 2020 werden zum ersten Mal seit unvordenklichen Zeiten die Nettolöhne sogar stärker steigen als die Bruttolöhne, und zwar um 2,9 Prozent. Die Lohnquote steigt – das wurde von den Linken immer eingefordert; davon habe ich vom Kollegen Ernst heute nichts gehört, dabei hätte er das einmal loben können, sonst spricht er es immer an – zum ersten Mal seit den 90er-Jahren wieder deutlich an auf 70,9 Prozent. Die Beiträge in der Sozialversicherung bleiben unter 40 Prozent. Den Vorschlag des Wirtschaftsministers, diese zu deckeln oder zu begrenzen, können wir nur nachdrücklich unterstützen; denn das war der Grund – das war ja das große Thema in den 90er-Jahren –, weshalb die Glücksspirale damals durchbrochen wurde und wir in einer Teufelsspirale waren von immer mehr Arbeitslosen. Weil die Sozialversicherungsbeiträge zu hoch waren, waren wir nicht wettbewerbsfähig. Deshalb müssen sie dauerhaft unter 40 Prozent gehalten werden.
({0})
Auch über die Neuverschuldung und die Schuldentilgung spricht kein Mensch mehr. Wir haben im letzten Jahr das Maastricht-Kritierium eingehalten und sind bei einer Staatsverschuldung von unter 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts geblieben. Das ist für uns aber nicht genug. Das Maastricht-Kriterium ist eine Obergrenze. Wir werden dieses Jahr Richtung 55 Prozent gehen. Das heißt, wir haben solide gewirtschaftet, wir haben solide Haushalte, und trotzdem können wir uns die größten Infrastrukturinvestitionen der öffentlichen Hand leisten, die wir seit der Wiedervereinigung hatten. Insofern gibt es wirklich sehr viel Gutes zu berichten.
Auch geben wir mehr Geld für Forschung und Innovation aus. Da will ich bei dieser Gelegenheit klarstellen: Es gab die eine oder andere Meldung und auch besorgte Schreiben, dass wir weniger für die Energieforschung ausgeben. Das ist natürlich nicht der Fall. Die Ausgaben für die Energieforschung lagen 2011 bei rund 650 Millionen Euro und 2018 bei knapp 1,1 Milliarden Euro, also doppelt so hoch. Auf diesem hohen Niveau wird sie nicht nur verstetigt, sondern sie wächst weiter an. Wir geben beispielsweise für die Reallabore, ein neues, gutes, innovatives Instrument des Technologietransfers im Energiebereich, zwischen 2019 und 2022 zusätzlich 100 Millionen Euro pro Jahr aus. Insofern könnten wir sagen: Alles gut, wunderbar, weiter so! – Das mache ich aber nicht.
In der Tat gibt es auch Sorgenkinder. Wir haben als Träger des Wachstums den privaten Konsum aufgrund der Glücksspirale, die ich gerade beschrieben habe. Wir haben den staatlichen Konsum mit 0,5 Prozent; der private liegt bei 0,7 Prozent. Wir haben auch Bauinvestitionen. Wir stehen gerade, von der Öffentlichkeit fast unbemerkt, vor einem kleinen Bauwunder: 700 000 Genehmigungen im Baubereich, die noch nicht umgesetzt sind, die also dafür sorgen, dass noch gebaut wird. Im letzten Jahr gab es 350 000 neue Baugenehmigungen, so viele wie schon lange nicht mehr. Das Baukindergeld schlägt voll ein und trägt maßgeblich dazu bei, dass breite Teile unserer Bevölkerung in der Lage sind, zukünftig Wohneigentum zu erwirtschaften.
({1})
Sorgenkind ist aber der Außenbeitrag; das wurde heute schon angesprochen. Über 30 Jahre war – mit Ausnahme der Jahre 1993 und 2009, in denen es Rezessionen gab – der Außenbeitrag immer der Träger des Wachstums. Auch weltweit ist in über 40 Jahren das Handelsvolumen immer stärker gewachsen als das Sozialprodukt. Das heißt, der Handel und die Globalisierung haben dazu geführt, dass alle, die dort mitmachen, es besser haben, mehr davon haben und ein größeres Wachstum erzielen; Kollege Linnemann hat das vorhin angesprochen. Das muss man mit aller Deutlichkeit wiederholen: Wer der Abgrenzung und dem Protektionismus, wie es die AfD tut oder wie die linke Seite das angesprochen hat, das Wort redet, der schadet Deutschland, der schadet der deutschen Wirtschaft, der schadet der europäischen Wirtschaft.
({2})
Wir müssen alles tun, um die multilateralen Institutionen wieder lebensfähig zu machen. Wir müssen alles tun, auch im Rahmen einer Koalition der Willigen. Es gibt genug Länder auf dieser Welt, mit denen wir freien Handel treiben können, von Japan über Neuseeland, Australien, Kanada bis hin zu den Mercosur-Ländern. Europa muss hier an der Spitze sein und die Koalition der Willigen für Freihandel und Globalisierung anführen.
({3})
Dass die Wertschöpfungsketten zurückgehen, ist ein Grund dafür, warum der Außenbeitrag im letzten Jahr einen negativen Beitrag geleistet hat. Die Wertschöpfungsketten, also Vorprodukte, die geliefert werden, und deren Austausch – seit 200 Jahren wissen wir, dass Handel Effizienzgewinne für alle bringt – sind im letzten Jahr kürzer geworden. Das ist ein erstes Fanal. Dagegen müssen wir kräftig arbeiten.
Das zweite Sorgenkind sind – Peter Altmaier hat das angesprochen – die Ausrüstungsinvestitionen. Wir brauchen einen wettbewerbsfähigen Industriestandard. Unternehmensteuerreform ist das andere Stichwort. Aber wir brauchen in Europa auch eine europäische Industriestrategie, die Antworten darauf gibt, wie Europa bei den Herausforderungen und Zielen, die wir uns beispielsweise im Rahmen des Green Deals gesetzt haben, handeln soll. Wir benötigen einen europäischen Industriestrompreis, der im Vergleich zu anderen Regionen der Welt wettbewerbsfähig ist, sodass die Wertschöpfungsketten der Grundstoffindustrie – egal ob Chemie, Kupfer, Aluminium – hier in Europa bleiben und es kein sogenanntes Carbon Leakage, keine Abwanderung der Industrie gibt. Ein Industriestrompreis ist hier allemal die bessere Lösung als die angedachte Border Adjustment Tax.
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Auch andere Instrumente wie die Important Projects of Common European Interest im Batteriebereich und in der Mikroelektronik müssen ausgebaut werden. Ich bin der Meinung, dass wir sie sowohl bei 5G als auch bei 6G brauchen, damit Europa hier die Kompetenzen zurückgewinnt. Wenn wir diese klugen Strukturreformen jetzt angehen, dann wird der Aufschwung weitergehen und die deutsche Glücksspirale sich weiterdrehen.
In diesem Sinne lassen Sie uns in diesem Jahr dafür gemeinsam arbeiten.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Reinhard Houben, FDP.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Carsten Linnemann, Ihren Reden höre ich immer unheimlich gerne zu; das ist super. Nur, warum setzen Sie denn diese Politik in der Bundesregierung nicht um?
({0})
Machen Sie weiter, Herr Linnemann! Sie sind offensichtlich in Ihrer Fraktion in der Minderheit; der Eindruck entsteht zumindest bei mir. Sie können immer auf die Unterstützung der FDP im Bundestag bei Ihren Themen setzen. Vielen Dank!
({1})
– Ich glaube, er ist besser in der CDU aufgehoben. Da muss man mehr besser machen als bei der FDP, wenn es um Wirtschaftsfragen geht.
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Herr Bundesminister, Sie sprechen von Pessimisten und Schlechtrednern. Ich habe schon einmal versucht, das zu erklären. Sie glauben doch nicht im Ernst, dass es dann, wenn ein Oppositionspolitiker vom Rednerpult aus die Wirtschaft – in Anführungszeichen – „schlechtredet“, der Wirtschaft auch wirklich schlecht geht. Das ist doch nun wirklich irrsinnig. Wenn der Kollege Linnemann sagt – wenn ich ihn zitieren darf –: „Die Industrie steckt in einer Rezession“, ist dann Ihr Kollege Linnemann ein Schlechtredner? Machen Sie das einmal unter sich aus, meine Damen und Herren.
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Fakt ist zumindest: Das prognostizierte Wachstum von 1,1 Prozent wird hauptsächlich durch den Kalender getragen. Im Jahr 2020 gewinnen wir allein dreieinhalb Arbeitstage. Damit kann man schon einen größeren Teil des Anstiegs des Wirtschaftswachstums von 0,6 auf 1,1 Prozent darstellen. Damit sollten wir uns aber nicht zufriedengeben.
Gerade ist eine aktuelle Meldung hereingekommen – das finde ich traurig in unserem Land, Herr Wirtschaftsminister –: Wir reden über Wirtschafts- und Ordnungspolitik eigentlich nur dann, wenn die Arbeitslosenzahlen steigen. Wenn wir im Moment über die Ticker mitbekommen, dass die Arbeitslosigkeit wieder auf 5 Prozent gestiegen ist, dass 200 000 Menschen in unserem Land mehr arbeitslos sind, dann kann uns das nicht freuen. Deswegen sollten wir mehr Anstrengungen zeigen und dürfen uns nicht auf dem ausruhen, was wir hier so allgemein gehört haben.
({4})
Dass zumindest die Gewerkschaften in unserem Land begriffen haben, in welcher Situation wir stecken, zeigt sich doch dadurch, dass die starke IG Metall in Tarifverhandlungen eintritt und nicht etwa über Gehalts- und Tariferhöhungen diskutieren möchte, sondern darüber, wie Arbeitsplätze und Standorte in Deutschland gesichert werden können. Die IG Metall möchte einen Tarifvertrag abschließen, der zur Standortsicherung dient. Da sollten beim Wirtschaftsminister eigentlich die Alarmglocken schrillen.
({5})
Lieber Herr Pfeiffer, eine Bemerkung kann ich mir nicht
({6})
– vielen Dank; manchmal ist es auch nett, wenn die CDU/CSU einem etwas Freundliches zuruft – verkneifen. Sie hatten von einer Glücksspirale gesprochen. Ich finde, dass das eine etwas merkwürdige Wortwahl ist. Sie haben den Freihandel angesprochen. Warum, lieber Herr Pfeiffer – täglich grüßt das Murmeltier –, ist diese Bundesregierung nicht in der Lage, den Handelsvertrag mit Kanada, CETA, abzuschließen? Warum haben wir das immer noch nicht gemacht? Mit wem, meine Damen und Herren, sollen wir denn dann noch Verträge abschließen, wenn wir es noch nicht einmal mit Kanada machen können? Das ist ein großes Problem in dieser Bundesregierung. Ändern Sie das!
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Jetzt hat das Wort der Kollege Dieter Janecek, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Minister, vor wenigen Tagen hat Ihr Koalitionspartner – namentlich der Parlamentarische Geschäftsführer Carsten Schneider – Sie als Problembären für die deutsche Wirtschaft und für die deutsche Energiewende bezeichnet. Ich möchte ihm nicht widersprechen.
({0})
In Ihre Amtszeit fällt der historische Tiefstand beim Ausbau der Windenergie seit Einführung des EEG vor 20 Jahren.
({1})
Gleichzeitig kündigten Sie – so viel Humor muss man erst einmal haben – gestern an, dass wir global eine Vorreiterrolle beim CO2-freien Wasserstoff anstreben. Sie scheinen über Zauberkünste zu verfügen: Mit immer weniger erneuerbaren Energien wollen Sie immer mehr grünen Wasserstoff herstellen. Willkommen in der Voodoo-Ökonomie des Peter Altmaier!
({2})
Wenn wir ernsthaft – dieses Ziel verfolge ich wie Sie – Technologieführerschaft bei Wasserstoff, bei Power-to-Gas, bei der Modernisierung der Grundstoffindustrien anstreben wollen – allerdings wäre es auch nicht der richtige Weg, gemäß dem Buch „Das Supermolekül“, das Sie, Herr Theurer, erwähnt haben, eine Technologie sozusagen über alle anderen zu erheben, was Sie uns ja immer vorwerfen –
({3})
und wenn wir diese Technologien nach vorne stellen wollen, dann brauchen wir eine Verdreifachung des Ausbautempos bei den erneuerbaren Energien. Was Sie liefern, sind Abstandsregelungen, die eine komplette Branche abwürgen. So kann es in Deutschland nicht weitergehen.
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Wir laufen sehenden Auges in eine Ökostrom- und Versorgungslücke hinein. Damit gefährden Sie auch die Zukunftsfähigkeit unserer Industrie; denn wenn Sie mit der chemischen Industrie, mit den Grundstoffindustrien, mit der Stahlindustrie, der Zementindustrie, der Gipsindustrie, mit deren Vertretern ich heute sprechen werde, reden, dann werden sie Ihnen alle sagen: Wenn wir den Wandel hinkriegen wollen, dann brauchen wir erneuerbare Energien. – Wir kommen da momentan nicht vom Fleck, und dafür sind Sie als Wirtschaftsminister verantwortlich.
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Jetzt habe ich auch der Rede von Herrn Pfeiffer zugehört. Sie haben sich zum Thema „Border Adjustment Tax“ geäußert. Die Europäische Kommission geht voran und möchte für den Wandel der Grundstoffindustrie – Bernd Westphal nickt, weil er das Thema auch betreibt – einen Rahmen schaffen. Wir brauchen einen Rahmen, weil die betroffenen Industriebereiche das nicht allein hinbekommen. Sie brauchen Unterstützung, sie brauchen ein Level Playing Field. Jetzt ist die Äußerung aus der CDU/CSU-Fraktion: Wir wollen lieber einen niedrigen Industriestrompreis, als überhaupt darüber zu reden, wie wir als Europäische Union stark sein wollen. – Das ist doch genau der falsche Weg. Wir brauchen ein Konzept, wie wir gemeinsam mit der Industrie vorangehen können.
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Wenn wir von Planungssicherheit reden, müssen wir feststellen, dass genau dieser Rahmen momentan nicht da ist. Wie sollen denn die Investitionsentscheidungen – es geht um Hunderte von Milliarden Euro, die in diesen Industrien in den 2020er-Jahren investiert werden müssen, um zu modernisieren – getroffen werden, wenn wir nicht entschlossen einen Rahmen setzen?
Das ist die Aufgabe, die ein Wirtschaftsminister anzugehen hat. Sie sind Ankündigungsweltmeister; beim Umsetzen mangelt es eben bei Ihnen. Mit uns als Grüne bekommen Sie den Leitfaden für die ökologische Transformation, die die Wirtschaft braucht. Nur so sichern wir die Arbeitsplätze der Zukunft. Darum geht es.
({7})
Sabine Poschmann, SPD, hat als nächste Rednerin das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Alle Jahre wieder bestaunen wir zur selben Zeit den Jahreswirtschaftsbericht.
({0})
Ich sage natürlich extra „bestaunen wir“; denn es ist eigentlich unglaublich, welchem externen Einfluss unsere Wirtschaft doch so standhält. Sie ist immer noch robust, und dazu haben wir durchaus unseren Teil beigetragen. Wir haben zum Beispiel die Binnennachfrage durch den Mindestlohn gestärkt.
({1})
Deutschland – das sei jetzt einmal in Richtung FDP und in Richtung Grüne gesagt – ist nach einer neuesten Studie sogar Innovationsweltmeister, die Nummer eins der Welt.
({2})
Da kann man doch nicht kritisieren, dass wir nicht zukunftsfest seien, sondern wir gehen genau in diese Richtung von Innovationen, und genau das ist der Weg, die Zukunft, unsere Wirtschaft, aber auch die Arbeitsplätze zu sichern.
({3})
Noch einmal in Richtung FDP: Wenn sich jemand um steigende Arbeitslosigkeit oder, besser gesagt, um Vermeidung von Arbeitslosigkeit kümmert, dann ist es doch die SPD, und da bin ich froh, dass wir in dieser Regierung sind.
({4})
Dennoch müssen wir natürlich Obacht geben; denn einzelne Branchen schwächeln. Dabei sollten wir nicht ausschließlich die großen Industrieunternehmen sehen, sondern natürlich auch den Mittelstand und einen Teil des Handwerks. Auch sie brauchen unsere Aufmerksamkeit; denn die Abhängigkeit von den Großen erschwert den Kleineren häufig die Planung. Trotzdem haben sie aufgrund ihrer Größe den Vorteil, schneller umstrukturieren zu können. Aber auch das braucht Know-how, Arbeitskräfte und Finanzierung. Es gilt auch hier, gezielt vorbereitet zu sein, und deshalb sollten wir die guten Ergebnisse der gestrigen Beratung des Koalitionsausschusses zügig umsetzen.
({5})
Was mir insgesamt bei der Strategie für eine nachhaltige Wirtschaft fehlt, ist der Gerechtigkeitsaspekt. Wir halten unsere Wirtschaft an, die Unternehmen klimaneutral umzugestalten. Darin sehen wir die Chance, technologisch Vorreiter zu sein und unseren Wohlstand und auch das Wachstum zu erhalten. Das ist richtig und wichtig. Doch wäre es bei der derzeitigen ungleichen Vermögensverteilung nicht sinnvoll, auch den sozialen Umbau der Wirtschaft mitzudenken? Jetzt mögen Sie meinen: Ja was sollen wir noch alles tun? – Aber an dieser Stelle sage ich Ihnen: Ohne sozialen Frieden gibt es auf Dauer kein Geschäft.
({6})
Dabei müssen wir nicht bei Adam und Eva anfangen. Es gibt bereits Ansätze, für die wir allerdings von alten Strukturen abrücken müssen. Dabei denke ich an Mitarbeiterbeteiligungen, dabei denke ich an eine Gesellschaftsform „Verantwortungseigentum“, dabei denke ich an soziales Unternehmertum. All das bietet Chancen nicht nur für den sozialen Frieden, sondern für mehr Innovation, für Mitarbeiterbindung, Unternehmensnachfolge, für die Lösung von gesellschaftlichen Problemen. Nutzen wir doch diese Chance!
Herzlichen Dank.
({7})
Jetzt erteile ich dem Kollegen Dr. Andreas Lenz, CDU/CSU, das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Jahreswirtschaftsbericht liegt vor; er wurde auch schon ausgiebig diskutiert. Die Zahlen sind gut. Das Wirtschaftswachstum betrug im letzten Jahr 0,6 Prozent und wird in diesem Jahr wahrscheinlich 1,1 Prozent betragen, und das in einem schwierigen wirtschaftlichen Umfeld. Wir haben externe Schocks, Stichwort „Handelskonflikte“, und auch in diesem Haus ist es durchaus so – diesen Eindruck kann man zumindest gewinnen –, dass einige gern die Rezession in Deutschland herbeigeredet hätten. Niemand sagt, dass Sie das nicht dürfen. Aber sich das zu wünschen, ist natürlich dann noch einmal verwerflicher.
Getragen wird das Wachstum vom Inlandskonsum, von den fleißigen Bürgerinnen und Bürgern, von den Unternehmern, vom Mittelstand, vom Handwerk. Für uns sind Unternehmer immer noch Vorbild und nicht Feindbild. An dieser Stelle sage ich meinen herzlichen Dank an all diese fleißigen Menschen.
({0})
Die Bauinvestitionen boomen. Sie stiegen letztes Jahr um 3,8 Prozent und werden in diesem Jahr um über 2 Prozent steigen. Aber auch die Investitionen des Bundes befinden sich auf Rekordniveau. Sie beliefen sich im letzten Jahr auf knapp 40 Milliarden Euro, und sie werden weiter steigen.
All das sind Beiträge für Wachstum und Beschäftigung, meine sehr geehrten Damen und Herren, und dies bei einem ausgeglichenen Haushalt. Übrigens liegen wir beim Maastricht-Kriterium der Gesamtverschuldung wieder unter 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Auch darauf können wir stolz sein.
Aber lassen Sie mich eines ganz klar sagen: Es ist in dieser Situation nicht die Aufgabe des Bundes, jetzt die Kommunen zu entschulden.
({1})
Die Kommunen zu entschulden, das ist, wenn überhaupt, Aufgabe der Bundesländer. Auch deswegen wurden die Länder in der Vergangenheit maßgebend entlastet.
Übrigens muss man an dieser Stelle auch erwähnen, dass wir nach wie vor eine Rekordbeschäftigung in Deutschland haben. 45,3 Millionen Menschen sind in Deutschland erwerbstätig. Die Zunahme beruht im Übrigen hauptsächlich auf einem Zuwachs an sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen. Auch dieses Jahr wird die Beschäftigung nochmals zunehmen, um über 200 000 Beschäftigte. Das ist die Grundlage für Wohlstand, die Grundlage auch für gesellschaftliche Teilhabe. Um das zu erhalten, brauchen wir weiterhin einen flexiblen, das heißt einen aufnahmefähigen Arbeitsmarkt, meine sehr geehrten Damen und Herren.
({2})
Nur noch einmal kurz zum Thema Außenhandel. Der Außenbeitrag zum Wachstum liegt dieses Jahr bei minus 0,4 Prozent, ist also negativ. Wir haben es ja bereits gehört: Der Leistungsbilanzüberschuss wird dieses Jahr auf 6,7 Prozent sinken, von 8,6 Prozent bezogen auf das BIP in 2015. In einer solchen Situation beschließen die Grünen – wörtlich –: „ … muss Deutschland aktiv seinen überbordenden Leistungsbilanzüberschuss reduzieren und den europäischen Partnern mehr Luft zum Atmen lassen ...“ Wir konkurrieren doch nicht mit Griechenland oder Bulgarien, sondern als Europa insgesamt mit den USA und China. Das verkennen Sie komplett.
({3})
Wenn wir den Leistungsbilanzüberschuss abbauen, schaden wir auch unseren europäischen Partnern.
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Jetzt wollen Sie auch noch die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands verbieten. Das ist mit uns nicht zu machen, meine sehr geehrten Damen und Herren. Im Gegenteil: Wir brauchen noch mehr Wettbewerbsfähigkeit, ob bei den Steuern oder auch bei den Energiekosten.
Der Industriestromtarif auf europäischer Ebene wurde angesprochen. Wir brauchen mehr Wagnis-, mehr Wachstumsfinanzierungen. Da begrüße ich ausdrücklich, dass schon jetzt daran gearbeitet wird, wie man den 10-Milliarden-Euro-Beteiligungsfonds, der im November beschlossen wurde, richtig ausgestaltet. So geht Zukunft, so geht Innovation, und so werden Unternehmensgründungen auf den Markt gebracht, meine sehr geehrten Damen und Herren.
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Jetzt seien wir mal ehrlich: Von der FDP kommt nichts außer Problembeschreibung.
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Der BDI-Präsident Dieter Kempf bezeichnet die AfD als Risiko für die deutsche Wirtschaft. Ähnlich sieht es übrigens Siemenschef Kaeser.
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Übrigens, keine Frage: Wir stehen vor konjunkturellen und auch vor strukturellen Herausforderungen. Wirtschaftspolitik ist gefragt, ist mehr denn je gefragt; aber das wird nur mit der CDU/CSU klappen, meine sehr geehrten Damen und Herren. Das muss nach der Diskussion auch klar sein.
Anlässlich der aktuellen Diskussion und der Proteste um die Landwirtschaft möchte ich betonen, dass die Landwirtschaft die Wirtschaft des ländlichen Raumes ist. Landwirte sind nicht nur irgendwelche Kulturlandschaftspfleger, die für diese Aufgabe entlohnt werden. Hier werden hochwertige Produkte produziert, hier findet bedeutende Wertschöpfung statt. Jeder neunte Arbeitsplatz steht mit dem Agribusiness, mit den vor- und nachgelagerten Bereichen, in Verbindung. Auch darauf können wir stolz sein, und auch das müssen wir weiter unterstützen, meine sehr geehrten Damen und Herren.
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Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität stärken, heißt es im Jahreswirtschaftsbericht. Dafür haben wir viel getan. Dafür müssen wir aber zweifelsohne auch in Zukunft noch viel tun. Ich lade alle ein, dass wir darüber diskutieren und die Aufgaben der Zukunft gemeinsam anpacken.
In diesem Sinne: Herzlichen Dank.
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Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Johann Saathoff, SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Ausgangslage – das haben wir jetzt oft gehört – ist besser als prognostiziert. Trotz der vielen Unkenrufe hat sich die Wirtschaft weiterhin positiv entwickelt, oder wie wir in Ostfriesland den Kritikern sagen würden: Holl’t Beck to blaaren.
Aber es kommen auch noch viele Herausforderungen auf uns zu. Wir haben heute in der Debatte unglaublich viel über Außenwirtschaft gesprochen und relativ wenig über Binnenwirtschaft. Deswegen lege ich den Schwerpunkt meiner Rede mal auf die binnenwirtschaftliche Betrachtungsweise.
Die deutsche Wirtschaft wird von außen immer mit den Unternehmen, die international bekannt sind, identifiziert und verbunden: Siemens, Bayer, VW usw. Aber das Rückgrat der deutschen Wirtschaft, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist der Mittelstand:
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viele kleine Unternehmen, die teilweise industrielle Produktion erst möglich machen, und viele Handwerksbetriebe mit bestens ausgebildeten Mitarbeitern. Gerade diese kleinen und mittleren Unternehmen finden sich oft in den ländlichen Räumen des Landes. Das muss man an dieser Stelle konstatieren: Das verfassungsmäßige Ziel der gleichwertigen Lebensverhältnisse in Stadt und Land in Deutschland gerät zunehmend aus den Fugen. Wollen wir die Wirtschaft stärken, Wirtschaftspolitik vorantreiben, dann müssen wir die ländlichen Räume stärken, damit das auch dort stattfinden kann.
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Wir müssen die ländlichen Räume nicht deshalb stärken, um ihnen tröstend Almosen entgegenzuwerfen, sondern weil wir die Potenziale der ländlichen Räume kennen und damit die Wirtschaft voranbringen können. Ländliche Räume stärkt man dadurch, dass man dort Arbeitsplätze schafft, und dafür muss man das Handwerk stärken, zum Beispiel bei der Produktion von Windenergieanlagen.
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Tausende Arbeitsplätze, Herr Minister, sind gerade in Ostfriesland in Gefahr. Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass diese Menschen weiterhin Arbeit haben.
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Zum Beispiel bei der energetischen Gebäudesanierung: Wir haben im Moment eine Sanierungsquote von 0,7 Prozent, brauchen aber eine Quote von 2 Prozent. Es sind alles Handwerksberufe, die dort gebraucht werden.
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Weiteres Beispiel: Bei der Veredelung von landwirtschaftlichen Produkten wie Fleisch und Milch vor Ort haben wir die Möglichkeit, regionale Produkte wieder zu stärken. Damit findet auch eine stärkere Identifikation des Verbrauchers mit dem Produkt statt, und damit wird das Problem der Landwirtschaft ein Stück weit eingedämmt.
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Wesentlich für die Stärkung der ländlichen Räume ist der Ausbau der Infrastruktur: Straßen, Schiene, Häfen, aber auch Breitband, vor allen Dingen Breitband- und Glasfasernetze und die 5G-Anbindung. Mit der richtigen Infrastruktur ergeben sich hervorragende Chancen zum Beispiel auch für Start-up-Unternehmen. Es wird nämlich künftig egal sein, von wo aus man arbeitet; und wenn das egal ist, kann man auch da arbeiten und leben, wo es schön ist, nämlich im ländlichen Raum, wo es sicher ist und wo Kinder gesund aufwachsen können.
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Das ist nachhaltige Wirtschaftspolitik, die die Städte entlastet.
Auch erneuerbare Energie wird im ländlichen Raum produziert. Ich habe das an dieser Stelle schon mal gesagt. Klimapolitik ist Wirtschaftspolitik, meine Damen und Herren. Wirtschaftspolitik ist zugleich auch Strukturpolitik. Das ist die Handschrift der SPD-Fraktion. Die Ausgangslage ist gut. Packen wir’s an!
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Damit schließe ich die Aussprache.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung und die Große Koalition planen eine Reform des Bundespolizeigesetzes. In einem ersten Entwurf für die Novelle dieses Gesetzes tauchte eine neue Ermächtigungsgrundlage auf für automatisierte Gesichtserkennung im öffentlichen Raum an Verkehrsknotenpunkten durch die Bundespolizei. Um das gleich vorweg zu sagen: Viele Bürgerinnen und Bürger in Deutschland und wir Freie Demokraten sind gegen eine flächendeckende automatisierte Gesichtserkennung im öffentlichen Raum,
(Beifall bei der FDP – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wir auch! Darum geht es doch gar nicht!
weil das nicht zu einer freiheitlichen Demokratie, sondern eher in totalitäre Regime passt, wenn der Staat nachvollziehen kann, wo sich alle Bürgerinnen und Bürger aufhalten.
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Da Sie bei der Union gerade die Zähne fletschen, weiß ich schon ziemlich genau, was gleich hier in der Debatte gesagt werden wird. Hier wird gesagt werden, die Bundespolizei sei auf die Nutzung dieser neuen Technologie angewiesen, sie würde sie verantwortungsbewusst einsetzen und vor allem: Wer nichts zu verbergen hat, der hat auch nichts zu befürchten. – So werden Sie es hier gleich darstellen.
({1})
Ich will Ihnen dazu aber sagen: Das passt überhaupt nicht zur Rechtslage, und das passt vor allen Dingen nicht zu dem, was das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2018 zu einem anderen Bereich der Datenerhebung im öffentlichen Raum entschieden hat, nämlich zur Kfz-Kennzeichenerfassung. Da hat das Bundesverfassungsgericht ganz eindeutig entschieden, dass schon die Erfassung der Daten im öffentlichen Raum die Bürgerrechtseinschränkung ist und nicht erst der Treffer. Und weil diese Entscheidung, die das Bundesverfassungsgericht Ende 2018 dazu getroffen hat, so schön ist, will ich Ihnen noch eine andere Passage aus dieser Entscheidung vortragen – ich zitiere –:
Zur Freiheitlichkeit des Gemeinwesens gehört es, dass sich die Bürgerinnen und Bürger grundsätzlich fortbewegen können, ohne dabei beliebig staatlich registriert zu werden, hinsichtlich ihrer Rechtschaffenheit Rechenschaft ablegen zu müssen und dem Gefühl eines ständigen Überwachtwerdens ausgesetzt zu sein.
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Das sagen Ihnen nicht irgendwelche weltfremden Bürgerrechtsfritzen von der FDP, sondern das sagt Ihnen das höchste deutsche Gericht.
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Ich sage Ihnen: Das, was für Kfz-Kennzeichen gilt, das gilt erst recht für Gesichter.
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Deswegen sollte der Deutsche Bundestag ein Recht auf Anonymität in der Öffentlichkeit festschreiben.
Natürlich, meine Damen und Herren, gilt ein solches Recht nicht schrankenlos. Wer eine Straftat begangen hat und deswegen gesucht wird oder wer gefährlich ist, dessen Identität muss durch den Staat in der Öffentlichkeit aufgedeckt werden können, um die Bürgerinnen und Bürger und die öffentliche Sicherheit zu schützen.
Sie werden hier gleich mit dem Modellversuch am Berliner Südkreuz um die Ecke kommen, bei dem die biometrische Gesichtserkennung in der ersten Testphase ausprobiert worden ist.
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Und ja: In der ersten Phase betrug die Fehlerquote gerade mal 0,5 Prozent – Menschen, die einen Datentreffer bekommen haben, obwohl sie gar nicht gesucht waren.
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Aber wissen Sie, wie viel 0,5 Prozent an einem großen deutschen Verkehrsknotenpunkt sind? Am Hauptbahnhof in Frankfurt am Main mit 460 000 Fahrgästen pro Tag sind das 2 300 Treffer, die eigentlich keine Treffer sein sollten.
Meine Damen und Herren von der Union, Ihnen ist die Wirkung der Gesichtserkennung auf die Bürgerrechte im Allgemeinen egal.
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Aber dass Ihnen auch die Wirkung dieser 2 300 Treffer egal ist,
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das sagt etwas über Ihren Wunsch aus, eine zweifelhafte, technisch unausgereifte Technologie einzuführen, ohne sich hinreichend damit beschäftigt zu haben.
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Hier sollte der Deutsche Bundestag ein Stoppschild aufstellen.
Die ganze Debatte über das Thema „automatisierte Gesichtserkennung“ hängt ja nicht nur am Bundespolizeigesetz, sondern auch an der Berichterstattung, die es in der letzten Woche über die App Clearview gegeben hat, eine App, die in den Vereinigten Staaten schon von Sicherheitsbehörden eingesetzt wird und mit der im öffentlichen Raum im Internet nach einem Gesicht gesucht werden kann wie in einer Suchmaschine. Das wäre das Ende jeder Privatsphäre im öffentlichen Raum.
Der Deutsche Bundestag muss deutlich machen: Wir teilen die Skepsis der Europäischen Kommission. Es braucht ein Moratorium für die Verwendung solcher Applikationen, und es braucht ein Recht auf Anonymität im öffentlichen Raum.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Thorsten Frei, CDU/CSU.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn der Bundesinnenminister in der vergangenen Woche die Regelungen für die automatisierte Gesichtserkennung aus dem Entwurf für ein neues Bundespolizeigesetz herausgenommen hat, weil es da noch Fragen zu klären gibt, dann ist das von uns nicht zu beanstanden. Ich halte es für absolut richtig, dass offene Rechtsfragen geklärt werden, bevor wir in einem sensiblen Bereich der Polizei die Nutzungsmöglichkeit neuer Instrumentarien eröffnen.
({0})
Aber das, was Sie hier vorgetragen haben, lieber Herr Kuhle, das hat mit der Realität und mit dem, was die Koalition plant, nichts, aber auch gar nichts zu tun – gar nichts!
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Es geht hier nicht um die staatliche Überwachung von Leuten, die überhaupt nichts mit diesen Dingen zu tun haben, sondern ganz im Gegenteil.
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– Nein, es geht darum, dass wir die digitale Gesichtserkennung als Instrumentarium dafür nutzen, dass Menschen, die in polizeilichen Fahndungsdateien sind, letztlich auch schneller dingfest gemacht werden können.
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Da geht es eben nicht darum, dass man den Falschparker erwischt, sondern man muss klar definieren, in welchen Grenzen, für welche Dateien und in welchem Rahmen man diese Möglichkeit letztlich eröffnet.
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Es ist unzweifelhaft möglich; das haben bisherige Modellversuche gezeigt.
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Und die Argumente, die Sie hier ansprechen, überzeugen mich nicht. Wenn Ihre Argumentation zutreffend wäre: „Die digitale Gesichtserkennung verhindert keine Straftaten“, dann würde das doch auch für die Regelungen des Strafgesetzbuches gelten. Wenn ein Richter eine Strafe ausspricht, dann hat das auch keine unmittelbare Auswirkung auf die Straftat,
({6})
und trotzdem wissen wir, dass es natürlich eine enorme generalpräventive Wirkung hat. Da muss man ganz einfach sagen: Es ist klar, dass das genauso für die Videoerkennung gilt, und deswegen brauchen wir dieses Instrumentarium.
Ein zweiter Punkt. Es ist auch in den letzten Tagen immer wieder davon gesprochen worden, dass es in der Gesellschaft Widerstände gegen diese Form der Gesichtserkennung gebe. Ich kenne keine solche Umfrage, überhaupt nicht.
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Es ist eindeutig so, dass die Menschen Videoüberwachung, auch die intelligente Gesichtserkennung, letztlich als Instrumentarium eingesetzt wissen wollen, wenn es in klar definierten Grenzen passiert.
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Diese Möglichkeit möchten wir mit dem Polizeigesetz schaffen. Deswegen wird es unser Ziel bleiben, in dieser Legislaturperiode mit der Novelle des Bundespolizeigesetzes diese Möglichkeit zu eröffnen.
Herr Kollege Frei, der Kollege Höferlin, FDP, würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Ja, das darf er gerne tun.
Danke schön, dass Sie die Frage zulassen. – Ich muss nur sichergehen, ob ich das richtig verstanden habe. Sie haben gerade gesagt, dass die Maßnahme einen „generalpräventiven“ Charakter hat. Habe ich es richtig verstanden, dass Sie der Meinung sind: „Wenn wir flächendeckend videoüberwachen und die Gesichter erfassen, hat das einen generalpräventiven Charakter so wie Strafrecht“? Mit anderen Worten: Wenn wir die Gesichter aller Menschen an öffentlichen Plätzen aufnehmen, sorgt das dafür, dass sie sich anständig benehmen. – Ist es das, was Sie gerade gesagt haben?
({0})
Nein, Herr Höferlin, da haben Sie mich falsch verstanden. Ich vermute fast, dass Sie mich absichtlich falsch verstanden haben.
({0})
Es geht um Folgendes: Ich habe klar gesagt, dass wir uns hier im Parlament natürlich erstens darüber verständigen müssen, wo solche Gesichtserkennungsmaßnahmen örtlich ermöglicht werden sollen, wo die Bundespolizei solche Maßnahmen einsetzen darf.
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Zweitens müssen wir uns natürlich auch darüber verständigen, welche Straftaten, welche Fahndungsdateien letztlich als Grundlage dafür herangezogen werden sollen.
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Wenn an Bahnhöfen und Flughäfen, wo ein besonderes Gefährdungspotenzial besteht, eine solche Videoüberwachung vorgenommen wird, hat das natürlich eine generalpräventive Wirkung.
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Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen, lieber Herr Höferlin: Das deckt sich auch mit der Wahrnehmung einer Mehrzahl in der Bevölkerung. – Ich lasse mich lieber ohne weitere Konsequenzen von einer solchen Videokamera aufnehmen, als dass ich mich auf einem Bahnhofsvorplatz verprügeln lasse.
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Deshalb hat es diese Wirkung. Das ist doch überhaupt nicht zu bestreiten.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, Herr Kuhle ist auch darauf eingegangen, dass wir sehr erfolgreiche Probemaßnahmen am Bahnhof Berlin-Südkreuz hatten. Sie sind auch auf die Fehlerquote dort eingegangen
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und darauf, was das für die praktische Arbeit der Polizei bedeutet. Ich will Ihnen Folgendes sagen: Wenn Sie das entsprechende Gutachten durchlesen, werden Sie sehen, dass Sie, wenn Sie unterschiedliche Softwaresysteme miteinander verbinden, keine Fehlerquote von 0,5 Prozent haben,
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sondern von 0,00018 Prozent.
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Und am Ende entscheiden immer noch Polizisten, was damit passiert. Insofern ist Ihr Argument entkräftet.
Es ist doch vollkommen klar, dass wir die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in eine Novelle des Bundespolizeigesetzes miteinbeziehen werden. Es ist auch deshalb überhaupt keine Frage, weil es nicht um eine flächendeckende Überwachung geht, sondern weil es um die gezielte, intelligente Videoerkennung geht
({9})
und um nichts anderes.
({10})
Wenn man tatsächlich lieber Polizisten einstellt, als diese Technik anzuwenden, dann kann ich nur sagen: Das eine tun und das andere nicht lassen. – Wir haben in der Vergangenheit, in der letzten Legislaturperiode, 10 000 zusätzliche Stellen bei den Bundessicherheitsbehörden geschaffen.
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Wir haben in dieser Legislaturperiode die Schaffung von zweimal 7 500 zusätzlichen Stellen für Polizeibeamte beschlossen und die Mittel bundesseitig auch tatsächlich durchetatisiert. Wir tun beides. Aber es reicht nicht, mehr Polizisten zu haben. Sie brauchen auch die Instrumentarien, um ihre Arbeit vernünftig und gut erledigen zu können.
Herr Kollege Frei, die Frau Kollegin Domscheit-Berg, Linke, würde auch eine Zwischenfrage stellen.
Dann soll sie das gerne tun.
Vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Es sind genau zwei halbe Fragen. – Sie beziehen sich ja auf den sogenannten erfolgreichen Versuch am Südkreuz. Bei den Daten fehlen aber zwei Monate, und es ist unerklärlich, warum sie fehlen. Ist Ihnen das bekannt? Können Sie eine Erklärung geben, warum diese Daten fehlen? Und kann man diese Daten bekommen?
Zweite Teilfrage: Ist Ihnen bekannt, dass es sehr viele Studien gibt, die nachweisen, dass es bei Gesichtserkennung sehr häufig zu Diskriminierungen kommt in Form von Falscherkennungen bei bestimmten Personen, die nicht weiß und nicht männlich sind. Das hat in anderen Ländern und Städten, unter anderem in San Francisco, dazu geführt, dass man biometrische Erkennungssysteme im öffentlichen Raum verboten hat, weil sie zu unvertretbarer Diskriminierung und Falschverdächtigung führen. Ist Ihnen das bekannt, und finden Sie es vor diesem Hintergrund vertretbar, so etwas in Deutschland haben zu wollen?
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Liebe Frau Domscheit-Berg, die erste Frage stellen Sie am besten dem Bundesinnenministerium. Dann werden Sie darauf eine Antwort bekommen.
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Die zweite Frage will ich gerne beantworten. Ich finde es wirklich eigentümlich, dass Sie als Vertreterin der Fraktion Die Linke die Frage nach der Antidiskriminierung stellen. Dazu fällt mir Folgendes ein: Der Senat unter Beteiligung der Linken hier in Berlin arbeitet mit großem Eifer an einem Antidiskriminierungsgesetz, das eine Beweislastumkehr für Polizeibeamte beinhaltet. Also der Polizist, der beispielsweise im Görlitzer Park einen Dealer anspricht, muss nachweisen, dass er das aufgrund eines Verdachts macht und nicht, weil er ihn diskriminieren will. – Vor diesem Hintergrund müssen Sie doch zugeben: Die Videoüberwachung ist eine Technologie, die diskriminierungsfrei ist. Wir haben keine anderen Erkenntnisse. Es zeigt im Grunde genommen nur Folgendes: Ihr abgrundtiefes Misstrauen gegenüber dem Staat
({1})
und denen, die für den Staat den Kopf hinhalten. – Insofern ist es ein Argument, das Sie als Linke selbst ad absurdum führen.
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Ich will zuletzt noch an die FDP gerichtet Folgendes sagen: Sie brauchen uns nicht zu erklären, wie das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit im demokratischen Rechtsstaat ist.
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Ich weiß, dass Sie das permanent versuchen.
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Das brauchen Sie aber nicht.
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Wir wissen sehr wohl, dass das Streben nach Sicherheit nie dazu führen kann, die Freiheit für die Menschen in unserem Land zu beeinträchtigen.
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Wir wissen aber auch, dass Freiheit ohne Sicherheit nicht gewährleistet werden kann.
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Zu den Rechten, die wir zu schützen haben in unserem Land, gehört auch das Recht, nicht Opfer einer Straftat zu werden, nicht beklaut zu werden, nicht verletzt zu werden, nicht getötet zu werden. Genau dazu dient dieses Instrumentarium, diese Technologie. Deshalb möchten wir sie dort einsetzen, wo wir besondere Gefahrenpunkte in unserem Land haben: beispielsweise auf Flughäfen, auf Bahnhofsplätzen oder anderem mehr.
Wir sind davon überzeugt, dass, wenn wir klar definieren, in welchem Rahmen dies möglich und geboten ist, wir dann zu einem Mehr an Sicherheit in unserem Land kommen, und das wird auch die Freiheit für die Menschen stärken.
Herzlichen Dank.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Roman Reusch, AfD.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin sehr froh, dass Kollege Frei vor mir gesprochen hat; so komme ich mit meinen drei Minuten Redezeit locker aus.
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FDP und die Grünen möchten gerne ein neues, wunderbar funktionierendes Instrumentarium zur Fahndung nach Straftätern verbieten lassen. Sie berufen sich dabei auf die Freiheit. Worauf denn sonst?
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Beim Ruf nach Freiheit sollte man immer mal nachfragen: Freiheit wovon? Freiheit, um was zu tun? Und Freiheit für wen? Freiheit für Kinderschänder, für Mörder, für Vergewaltiger, für Räuber, für Terroristen? Das sind die Leute, nach denen üblicherweise in unseren Systemen gefahndet wird. Das ist dieser Personenkreis, Himmelherrgott noch mal! Man möchte sich die Haare raufen.
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Wer unseren Sicherheitsbehörden ein wunderbares Fahndungsinstrument aus den Händen schlagen will, der nimmt billigend in Kauf, dass eine große Zahl solcher Täter nicht erwischt wird, und der nimmt weiter billigend in Kauf, dass diese Täter – unter ihnen auch sehr viele Serientäter – weitermachen können.
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Lassen Sie sich das von einem alten Strafverfolgerknochen sagen: Die beste Prävention ist es, Kollege von Notz, Serientäter dahin zu bringen, wo sie hingehören, nämlich hinter Schloss und Riegel. Da können sie nicht weitermachen.
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– Das sind alte, praktische Erkenntnisse. Da fragen Sie mal andere alte Knochen; die können Ihnen das auch bestätigen.
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Natürlich gibt es Probleme – wie immer –, wenn man ein neues System einführt, gerade im digitalen Bereich. Es gibt Fragen, die sich stellen, die geklärt werden müssen. Zu dem Themenkreis wird Frau Kollegin Cotar anschließend noch was sagen. Ich kann jedenfalls nur sagen: Ich wünsche den Kollegen der CDU/CSU-Fraktion viel Fortune dabei, den Bundesinnenminister wieder zu seiner früheren Auffassung zu bekehren.
Dieses sinnvolle System beeinträchtigt kaum jemanden; die Beeinträchtigung ist minimal. Wenn Sie dasselbe in der analogen Welt mit einem Riesenaufgebot an Polizeibeamten machen, dann ist die Einwirkung auf die Kontrollierten viel stärker, als wenn Sie das digital machen. Davon kriegen sie nicht mal was mit. Ob Wachtmeister Schulze nun eine größere Trefferwahrscheinlichkeit hat, wenn er sich ein Fahndungsfoto anguckt und sich dann die vorbeigehenden Leute anschaut, wage ich noch zu bezweifeln. Da denke ich, dass die neuen Systeme besser sind. Deswegen sollte das Instrument eingeführt werden.
Die Anträge von Grünen und Liberalen sind abzulehnen.
Danke.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Ute Vogt, SPD.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will vorausschicken, dass wir dem Herrn Bundesinnenminister Seehofer dankbar sind, dass er das Thema „automatische Gesichtserkennung“ aus dem Bundespolizeigesetz erst mal herausgenommen hat.
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– Nach seiner Auskunft erst mal.
({1})
Wir sind der Meinung, dass das Bundespolizeigesetz zügig beschlossen werden muss, weil wir eine zeitgemäße Grundlage für die Arbeit unserer Bundespolizei brauchen.
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Wir sind auch der Meinung, dass das Thema „automatisierte Gesichtserkennung im öffentlichen Raum“ eine ausführlichere und lang andauernde Debatte in der gesamten Gesellschaft braucht.
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Denn es geht in der Tat um die Abwägung zwischen Kriminalitätsbekämpfung, Verbrechensbekämpfung einerseits, aber andererseits eben auch um die individuelle Freiheit und Selbstbestimmung der Menschen und ihre Bewegungsfreiheit im öffentlichen Raum.
({4})
Da ist es gut, differenziert zu diskutieren.
Der Blick nach China zeigt uns, dass es gute Gründe gibt, solche Systeme mit großer Vorsicht anzufassen. Und es ist ja kein Zufall, dass inzwischen auch in der Europäischen Union ähnliche Diskussionen wie hier stattfinden, ob es nicht gar eines Verbots dieser Technologie im öffentlichen Raum bedarf. Man braucht aber nicht China zu bemühen; ich denke, dafür besteht kein Anlass. Ich persönlich und auch meine Bundestagsfraktion haben sehr großes Vertrauen in unseren Rechtsstaat und auch sehr großes Vertrauen in unsere Polizei und in die entsprechenden Behörden.
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Wir dürfen trotzdem fragen, ob dieses Instrument wirklich das richtige sein kann, um diejenigen zu finden, die sich eines Verbrechens schuldig gemacht haben; denn eine automatisierte Gesichtserkennung im öffentlichen Raum ist sehr leicht zu überlisten. Auf der einen Seite kann sich derjenige, der Böses im Schilde führt, sehr einfach tarnen, aber auf der anderen Seite werden alle anderen regelmäßig gescannt und damit eben auch identifiziert.
Die Gesichtserkennung im öffentlichen Raum hat eine andere Qualität als zum Beispiel ihr Einsatz bei der Einreise an der Grenze, wie wir ihn kennen. Dort ist es ein bewusster Akt: Ich gehe hin mit meinem Pass, lege den Pass zur Erkennung der biometrischen Daten auf den Scanner, schaue gleichzeitig bewusst in die Kamera, und es sitzt ein Bundespolizist oder eine Bundespolizistin daneben und beobachtet den Vorgang, um mögliche Fehler so gering wie möglich zu halten.
Die automatisierte Gesichtserkennung im öffentlichen Raum mithilfe von biometrischen Daten hat auch eine andere Qualität als das, was wir derzeit an Videoüberwachung kennen; denn es werden eben nicht wie bisher Geschehnisse erfasst, sondern Menschen werden sehr individuell erkennbar. Aus meiner Sicht ist das gleichbedeutend mit einer Kontrolle ohne entsprechenden Anlass. Dieser anlasslosen Kontrolle setzt unsere Verfassung – das zeigt auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die der Kollege Kuhle schon zitiert hat –, wie ich finde, zu Recht sehr enge Grenzen.
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Ich bin der Überzeugung, dass ein weiter gehender Eingriff, nämlich dass wir nicht nur Kennzeichen – sie waren Gegenstand der Bundesverfassungsgerichtsentscheidung vom Dezember 2018; dort wurden bereits Einschränkungen vorgenommen, sie wurden vorhin zitiert –, sondern sogar die Gesichter entsprechend erfassen, ein falscher, wenn nicht sogar gefährlicher Weg ist.
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Wir brauchen an dieser Stelle ein weiteres Mal – Kollege Frei hat es angesprochen – eine ganz intensive Abwägung zwischen Sicherheit auf der einen und Freiheit auf der anderen Seite; das ist jede ausführliche und öffentliche Debatte wert. Deshalb bin ich ausnahmsweise mal froh um einen Antrag der FDP, der diese Debatte heute aufruft; aber Sie können sich darauf verlassen, dass wir auch in der Bundesregierung eine lebendige Debatte zu diesem Thema führen werden.
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Ich wünsche mir ausdrücklich, dass wir das Bundespolizeigesetz davon abtrennen; denn das sollte schnell auf den Weg gebracht werden.
Danke schön.
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. André Hahn, Die Linke.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als jemand, der vor eineinhalb Jahren nicht geglaubt hat, dass Horst Seehofer nach den heftigen Kontroversen über die Flüchtlingspolitik heute noch immer im Amt ist, hätte ich es kaum für möglich gehalten, dass ich noch mal in die Verlegenheit kommen würde, diesen Bundesinnenminister, den auch sein eigener Parteichef öffentlich infrage stellt, für irgendetwas loben zu müssen. Und doch könnte man heute beinahe in Versuchung geraten, genau das zu tun.
({0})
Bei der anstehenden Reform des Bundespolizeigesetzes war im Entwurf ein Passus geplant, der an 135 Bahnhöfen und 14 Flughäfen den Einsatz von Videoüberwachung mit automatisierter Gesichtserkennung erlaubt hätte. Das wäre nicht weniger als ein Dammbruch gewesen, ein weiterer Schritt hin zu einem Überwachungsstaat, den ja angeblich niemand will, aber der durch die amtierende Bundesregierung dennoch immer weiter ausgebaut wird.
Dass nun ausgerechnet Horst Seehofer wegen rechtlicher Bedenken die Einführung der hochumstrittenen Technologie der automatisierten Gesichtserkennung gestoppt hat, begrüßen wir ganz ausdrücklich, auch wenn nicht nur wir Zweifel daran haben, dass vor allem die Union wirklich dauerhaft auf dieses Instrument verzichten will; Herr Frei hat es hier ja deutlich gesagt. Deshalb sollte der Bundestag hier unbedingt ein klares Stoppzeichen setzen. Deshalb bin ich dankbar, dass es den vorliegenden Antrag der FDP gibt; er wird von unserer Fraktion unterstützt.
({1})
Wir als Linke werden die Einführung einer automatisierten Gesichtserkennung im öffentlichen Raum nicht zulassen und dagegen, falls erforderlich, auch mit rechtlichen Mitteln vorgehen. Wir wollen, was die Massenüberwachung angeht, hier in Deutschland nicht amerikanische und schon gar nicht chinesische Verhältnisse.
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Wir befürchten allerdings, dass mit dem jetzigen, womöglich eher taktischen Verzicht auf die Aufnahme ins Gesetz ein grundsätzliches Umdenken im Innenministerium nicht verbunden ist. Deshalb ist es wichtig und notwendig, dass wir jetzt eine gesellschaftliche Diskussion über den Einsatz von künstlicher Intelligenz im öffentlichen Raum anstoßen; denn der immer größer werdende Einsatz dieser Technik hat nachhaltige Auswirkungen auf unsere verfassungsmäßige Ordnung, weil er die Art und Weise beeinflusst, wie sich Bürgerinnen und Bürger in der Öffentlichkeit bewegen, wie sie ihre Grundrechte wahrnehmen und wahrnehmen können.
Anders als bei der klassischen Videoüberwachung, bei der die Kamera technisch gesehen nur ein optisches Hilfsmittel einer ortsabwesenden Polizei ist, werden bei Videoüberwachung mit automatisierter Gesichtserkennung persönliche Daten der erfassten Personen in Echtzeit verarbeitet, werden biometrische Informationen der gescannten Personen automatisiert mit Referenzdaten abgeglichen. Dieser Vorgang greift tief in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ein. Aus völlig unbescholtenen Bürgerinnen und Bürgern – wir haben gehört: es geht um Tausende jeden Tag – werden so potenziell Verdächtige. Der öffentliche Raum dient dann praktisch nur noch der Fahndung. Eine derartige Entwicklung, die den freiheitlich verfassten Rechtsstaat vollends zu einem präventiv handelnden Sicherheitsstaat formen würde, dürfen wir nicht zulassen.
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Aber es geht hier um weit mehr als den abstrakten Abgleich von Daten durch Computer. Wer beobachtet wird, verhält sich anders, zumal durch die fortwährenden Befugniserweiterungen in den Sicherheitsgesetzen kaum noch nachvollziehbar ist, welche Behörde die Aufzeichnungen zu sehen bekommt und was mit ihnen geschieht. Dieser psychologische Effekt, der schon bei der klassischen Videoüberwachung ohne Gesichtserkennung eintritt, weshalb wir auch beim Einsatz dieser Technik große Bedenken haben, hat unmittelbare Konsequenzen für die Meinungs- und Versammlungsfreiheit in unserem Land. Wer das Gefühl hat, überwacht zu werden, zumal von einer staatlichen Autorität, wird sich zweimal überlegen, auf welche Demonstration er geht oder welches Transparent er hochhält. Deshalb dürfen wir nicht alles zulassen, was technisch möglich ist. In einem Rechtsstaat heiligt der Zweck nicht alle Mittel.
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Und wer glaubt denn ernsthaft, dass das Instrument der automatisierten Gesichtserkennung künftig tatsächlich nur bei der Polizei zum Einsatz kommt? Die Geheimdienste von BND bis Verfassungsschutz warten schon seit Langem darauf, die neue Technik anwenden zu können. Auch deshalb ist es wichtig, dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten.
Vor wenigen Tagen gab es dazu einen interessanten Kommentar von Jannis Brühl in der „Süddeutschen Zeitung“, der davor warnt, dass „die Gesichtserkennung den öffentlichen Raum erreicht“; denn das würde „ein Überwachungsnetz übers Land“ legen, „das sich von jenem im digitalen Raum unterscheidet“. Zitat:
Man kann ihm nicht entkommen. Im Gegensatz zum Smartphone lässt sich ein Gesicht weder zu Hause lassen noch abschalten. … mit Gesichtserkennung springt Massenüberwachung nun in die physische Welt über. Jeder wird gescannt. …Tausende Kameras mit angeschlossenen Datenbanken unserer Gesichter … ermöglichen blitzschnelles, automatisiertes Durchleuchten Hunderttausender, die vorbeilaufen, und die … Verfolgung eines Menschen über mehrere Kameras hinweg.
Ich sage: Wer wann mit wem wohin unterwegs ist, geht weder die Polizei noch die Geheimdienste etwas an.
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Ich füge hinzu: Orwell lässt grüßen, und selbst der hätte das wohl kaum für möglich gehalten. Der Kommentator in der „Süddeutschen“ kommt dann auch zu dem Fazit: „Die neue Technik“ ist zu gefährlich und „gehört untersagt. Denn sie führt direkt in den Überwachungsstaat“.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Hahn. – Nächster Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist der Kollege Dr. Konstantin von Notz.
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Moin, Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mehr und mehr wird deutlich, was in den vergangenen Tagen bereits kaum zu übersehen war, und diese Debatte, die wir hier schon eine geraume Zeit verfolgen können, macht es auch sehr deutlich: Bei der jüngsten Kehrtwende des leider abwesenden Bundesinnenministers ging es eben nicht darum, die vielfachen, auch verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die automatische biometrische Gesichtserkennung im öffentlichen Raum noch mal grundsätzlich zu hinterfragen. Vielmehr handelt es sich um ein rein taktisches Manöver, das nur einem Zweck dient, nämlich von den anderen im Gesetzentwurf versteckten bürgerrechtlichen Kloppern wie der Onlinedurchsuchung und wohl auch von dem hochumstrittenen Hackback abzulenken und den eigenen Gesetzentwurf so doch noch irgendwie ins Kabinett zu bringen. Ich sage Ihnen: Da machen wir nicht mit, und ich wünsche Ihnen von der SPD frohe Verrichtung dabei.
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Ohne uns!
Wer so agiert wie Horst Seehofer, der öffentlich suggeriert, es gehe ihm um eine ernsthafte Debatte über diese hochumstrittene Technologie, gleichzeitig aber längst mit der Unionsfraktion ausgehandelt hat, die entsprechenden Passagen im weiteren Verfahren wieder ins Gesetz zu hieven, der handelt parlamentarisch unlauter und ist auch eine Gefahr für die unseren Rechtsstaat konstituierenden Freiheitsrechte, meine Damen und Herren.
({1})
Wir diskutieren nicht seit gestern über die automatische biometrische Gesichtserkennung. Jede Fachfrau weiß: Die Systeme sind völlig unausgereift. Die Fehlerquote ist horrend und das Pilotprojekt am Berliner Südkreuz ganz bestimmt nicht geeignet, als Blaupause für das Ausrollen dieser totalitären Technologie zu dienen.
({2})
Sicher sind an der Gesichtserkennung drei Dinge: die enorme Fehlerquote, der tiefe Grundrechtseingriff bei völlig unbescholtenen Bürgerinnen und Bürgern und der fehlende sicherheitspolitische Mehrwert. Deswegen gehört diese Technik verboten, und zwar gesetzlich und europaweit, meine Damen und Herren.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Unionsfraktion, Herr Kollege Schuster, Sie haben ja in den letzten Tagen zum Beispiel im Deutschlandfunk nebulös in den Raum gestellt, beim entsetzlichen Anschlag auf dem Breitscheidplatz wäre irgendetwas mit automatischer biometrischer Gesichtserkennung zu erreichen gewesen. Bei aller Freude am Argument: Das ist wirklich abwegig, und es ist unseriös, solche Thesen zur Verfolgung der eigenen politischen Ziele hier in den Raum zu stellen.
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Es gab sehr viele Probleme deutscher Sicherheitsbehörden, gegen Anis Amri entschlossen vorzugehen, obwohl von zehn möglichen roten Lampen 20 lichterloh brannten.
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Aber ich sage Ihnen: Der Mangel an automatischer biometrischer Gesichtserkennung ist keines dieser Probleme gewesen. Es ist schlicht unseriös, das so vorzutragen, und entblößt auch, wie wenig Argumente Sie auf Ihrer Seite haben, wenn Sie solche Beispiele bemühen müssen, meine Damen und Herren.
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Ihre Pläne und dieses Gesetz sind verfassungsrechtlich – es hilft auch nicht, hier so platt zu argumentieren, Herr Frei – massiv angreifbar. Die Gesichtserkennung – China lässt grüßen! – gefährdet die relative Anonymität öffentlicher Räume massiv.
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Und wenn Sie auf dieses Problem rechtlich nicht mit einem Wort eingehen, dann hilft das Ihrer Argumentation nicht;
({8})
denn die automatische Gesichtserkennung stellt die Unschuldsvermutung offen infrage und erklärt alle Menschen unabhängig von jedem Verdachtsmoment zu potenziellen Terroristen oder Kinderschändern oder was andere hier eben ins Feld geführt haben.
({9})
Das alles erhöht die öffentliche Sicherheit überhaupt nicht, sondern sorgt vor allen Dingen für eines: Dringend benötigtes Personal bei der Bundespolizei wird einmal mehr durch unnütze Dinge gebunden, und das brauchen wir nicht, meine Damen und Herren.
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Die Debatte um Clearview – Stichwort: mehrere Milliarden Fotos teils illegal zusammengeklaubt durch Crawler – hat noch mal klargemacht, welche massiven Gefahren in dieser Technologie liegen. Deswegen fordert der Bundesbeauftragte für den Datenschutz aus gutem Grund ein EU-weites Verbot. Deswegen denkt auch die EU-Kommission aus gutem Grund laut über ein solches europäisches Verbot nach.
({11})
Und wenn Sie unseren Argumenten nicht trauen, dann trauen Sie deren Argumenten; denn sonst erleben Sie nach dem Mautdesaster gleich das nächste europarechtliche Problem mit diesem Vorstoß, den Sie hier offenkundig planen.
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Herr Kollege von Notz, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der AfD-Fraktion?
Nein, vielen Dank. – Hier liegen Ihnen heute gleich zwei ziemlich gleichlautende Anträge von FDP und Grünen vor. Die Forderung an Sie ist glasklar: Verzichten Sie auf dieses Instrument! Stellen Sie gesetzlich klar, dass ein solches grundsätzliches Infragestellen der relativen Anonymität im öffentlichen Raum auch mit Ihnen von der Großen Koalition nicht zu machen ist!
In Ihrer Fraktion, liebe Union, gibt es ja eine irritierende Unentschlossenheit bezüglich der berechtigten Sorge hinsichtlich der Beteiligung chinesischer Staatsunternehmen in sensiblen Infrastrukturbereichen. Ich finde, diese Debatte ist ein guter Punkt, um zu erkennen, dass es hier nicht um Symboldebatten geht, sondern dass Rechtsstaatstreue sich in der Praxis der Gesetzgebung zeigt. Die Instrumente von Diktaturen, liebe Kolleginnen und Kollegen, vergiften die Freiheit eben leider auch in Rechtsstaaten.
Ganz herzlichen Dank.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege Dr. von Notz. – Nächster Redner ist Dr. Mathias Middelberg, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Hier sind zum Schluss ganz heftige Kanonen aufgefahren worden. „Instrumente der Diktatur“, „Überwachungsstaat“, „Orwell“, „Verhältnisse wie in China“, wo die Leute wirklich den ganzen Tag abgescannt werden, wo Benimmpunkte vergeben werden, wenn man über eine rote Ampel läuft – all das ist Schwachsinn und hat mit dem, was wir heute diskutieren, rein gar nichts zu tun, um das mal deutlich zu sagen.
({0})
Ich will mal beim ersten Punkt anfangen. Die FDP schreibt in ihrem Antrag, es gehe hier um die Anonymität der Betroffenen. Die Anonymität der Betroffenen ist überhaupt nicht gefährdet; sie ist gar nicht infrage gestellt.
({1})
Ich möchte allen Zuschauern hier und auch im Fernsehen deutlich machen, worum es geht: Hinterlegt ist eine Referenzdatenbank – das wurde eben schon erwähnt –; das ist gewissermaßen eine Verbrecherdateikartei mit Verbrechergesichtern.
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Da sind die Verbrechergesichter von Schwerstkriminellen, von Terroristen und Gefährdern, die wir in Deutschland dringend suchen, gespeichert.
Jetzt stellen wir Kameras auf,
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nicht flächendeckend in der Republik, sondern nur an Bahnhöfen und an großen Flughäfen, also ganz begrenzt und klar geregelt. Die Passanten, die wie Sie und ich und alle die, die hier im Raum sitzen, beispielsweise in Berlin durch den Bahnhof marschieren, werden von diesen Kameras ganz kurz biometrisch abgescannt.
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– Jetzt werden Sie alle unruhig, weil es mal einer vernünftig erklärt. Hören Sie einfach mal zu!
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Die Gesichter aller unbescholtenen Passanten wie von Ihnen, vielleicht auch von mir
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werden kurz abgescannt und mit den Gesichtern, die wir in dieser Schwerstverbrecherkartei haben, verglichen. Wenn es keinen Treffer gibt – das wird bei uns allen der Fall sein –, dann passiert rein gar nichts.
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– Herr von Notz, hören Sie doch einmal zu. Ich habe Ihnen eben auch zugehört, habe Sie nicht unterbrochen und habe auch nicht dazwischengerufen.
Ihr Gesicht, Herr von Notz, wird, wenn Sie durch den Bahnhof laufen, biometrisch gescannt und Sekunden später gelöscht.
({8})
Da wird nichts erfasst. Es wird keiner registriert, es wird niemand identifiziert.
({9})
Keine Anonymität ist in Gefahr. Das ist alles Käse, was Sie hier erzählt haben. Ich sage es ganz deutlich: Das ist alles Blödsinn.
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Es ist doch so, dass der Eingriff jetzt schon stärker ist. Wenn wir uns hier in Berlin in die BVG-Straßenbahn begeben, dann werden Videoaufnahmen von Ihnen, von uns gemacht. Es ist nicht jedes Gesicht erkennbar,
({11})
aber manche Gesichter sind durchaus gut erkennbar.
({12})
Diese Videoaufnahmen sind rechtlich völlig in Ordnung. Sie werden ungefähr 10 oder 14 Tage gespeichert, also noch viel länger als in dem eben beschriebenen Fall der biometrischen Gesichtserkennung.
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Das ist unzweifelhaft zulässig und schon jetzt geltende Praxis an vielen Standorten in Deutschland und in vielen Straßenbahnen. Was Sie, Herr von Notz, hier erzählt haben – auch zum Thema Clearview; es würden massenhaft Daten gesammelt und in irgendwelchen Datenbanken gespeichert –, ist alles Quatsch.
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Diese Datenbanken – die Referenzdatenbank der Schwerverbrecher und Terroristen – haben wir jetzt schon. Die dürfen wir auch auf gesicherter Rechtsgrundlage haben.
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Auf der Grundlage dieser Bilder kontrollieren Polizeibeamte – sie müssen all diese Bilder im Kopf haben – jetzt schon auf Straßen, Plätzen und in Bahnhöfen, und das ist gut so.
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– Richtig, Herr Kollege Kuhle. Das ist gut so.
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Die Augen dieser Polizeibeamten – das ist der ganze Vorgang, um den es geht – ersetzen wir jetzt durch intelligente Kameratechnik.
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Darum geht es und um nichts anderes. Das heißt, wir kontrollieren ja bisher schon. Wir machen bisher schon einen Gesichtsabgleich. Das machen wir jetzt mit einem technischen Verfahren. Ich sage Ihnen – Stichwort: Fehlerquote, Herr Kuhle –:
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Die Fehlerquote, wenn sich ein Polizeibeamter Gesichter anguckt, ist im Zweifel viel höher.
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Er wird am Ende denken, der Kollege Grosse-Brömer könnte doch der sein, den wir suchen.
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– Ich habe extra einen aus unserer Fraktion ausgesucht. – Dann wird er Herrn Grosse-Brömer kontrollieren, wird sich nett mit ihm unterhalten und wird sagen: Das ist gar nicht der gesuchte Schwerverbrecher.
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Wir suchen einen anderen. – Dann wird sich der Kollege Grosse-Brömer bedanken und sagen: Klasse, es ist ein Sicherheitsvorteil hier in Deutschland, dass wir solche Systeme haben, die uns die Möglichkeit geben, Mörder, Serienvergewaltiger und Terroristen aus dem Verkehr zu ziehen.
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Ich sage Ihnen: Das werden die Leute hier im Land als großen Sicherheitsgewinn verstehen.
Noch eine letzte Bemerkung. Was mir wirklich auf die Mütze geht – das sage ich Ihnen komplett auf der linken Seite –: Sie problematisieren das Thema Datenschutz immer im Zusammenhang damit, dass im Zweifel unsere Polizei
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das eine oder andere Datum mehr oder weniger erfasst oder gespeichert hat und unter Umständen dabei jemand zu Unrecht in Verdacht gerät. Das ist ein Problemfall, das ist ein Dateneingriff. Wir alle können darüber sprechen, wie wir dies regeln und kontrollieren. Aber die eigentliche Bedrohung für unsere Datensouveränität, für unsere privaten Daten, für jeden von uns liegt ganz woanders.
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Die liegt bei den großen Datenkraken in den USA oder sonst wo.
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Die liegt bei Facebook, bei Google, bei Instagram. Da liegen die Probleme. Die sind in Zukunft in der Lage, ganze Bewegungsprofile von uns zu erstellen. Das ist das eigentliche Risiko, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen.
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Wir müssen die entsprechenden Rechte haben, dass diese Daten kontrolliert und gelöscht werden.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Das ist die eigentliche Gefahr. Hinzu kommen künftig möglicherweise Gefahren aus Russland oder China. Das sind die Gefahren für unseren Datenbestand, aber nicht, –
Herr Kollege, bitte.
– dass der eine oder andere Polizist aus Versehen jemanden kontrolliert, der nachher kein Schwerverbrecher ist. Es ist im Gegenteil ein Sicherheitsgewinn, wenn am Ende auch nur einer dieser Schwerstkriminellen aus dem Verkehr gezogen wird.
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Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Middelberg. – Wie Sie bedauere auch ich, dass sich der Bundesinnenminister, die Bundesjustizministerin und der Bundeskanzleramtsminister der Gesichtserkennung im Deutschen Bundestag dadurch entzogen haben, dass sie nicht anwesend sind.
({0})
– Ja. Herr Kollege Grosse-Brömer, aber Sie wissen, dass es in einer solch wichtigen, uns alle beschäftigenden Debatte um die innere Sicherheit wünschenswert wäre, wenn die Bundesregierung angemessen vertreten wäre, was nicht heißt, dass Parlamentarische Staatssekretäre nicht angemessene Vertretungen sind.
({1})
– Herr Kollege Scheuer, ich habe Sie kommen sehen. Das hat mich sehr erfreut. Ich sehe Sie lieber kommen als gehen, um das einmal festzustellen.
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Als nächste Rednerin hat für die AfD-Fraktion die Kollegin Joana Cotar das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kollegen! Es ist ein wirklich spannendes Thema, das wir heute diskutieren: Einsatz biometrischer Videoüberwachung. Bundesinnenminister Seehofer forderte bis vor Kurzem in seinem Entwurf zur Reform des Bundespolizeigesetzes noch den massenhaften Einsatz der automatischen Gesichtserkennung. Jetzt hat er den Passus aus dem Gesetz gestrichen. So kennen wir ihn: heute hü, morgen hott.
Durch die fortschreitende Digitalisierung wird vieles möglich, was früher noch undenkbar war. Vieles geht einfacher, effizienter und schneller, auch die Überwachung der Menschen. Durch Kameras und künstliche Intelligenz kann man im Schnellverfahren Menschen überprüfen, Gesichter abgleichen, zur Fahndung ausgeschriebene Straftäter finden und festnehmen; ein Gewinn für die Sicherheit der Menschen hier im Land.
Aber der Einsatz einer solchen Videoüberwachung stellt einen sehr weitreichenden Grundrechtseingriff dar, und ganz schnell sind wir bei dem Thema Freiheit. Was darf der Staat? Was soll er?
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Wo haben die Rechte des Einzelnen Vorrang? Wo muss der Bürger vor dem Staat geschützt werden?
Die Diskussionen sind kontrovers. Die EU erwägt ein Verbot biometrischer Videoüberwachung, London führt sie gerade ein, China hat sie perfektioniert und in San Francisco – eine der Hauptstädte der technologischen Revolution – ist sie bereits seit letztem Jahr verboten.
In meiner Brust schlagen zwei Herzen – ich bin ehrlich –: Vor einigen Jahren hätte ich dem Antrag der FDP, ohne mit der Wimper zu zucken, zugestimmt. Aber wir leben im Jahr 2020 und die Sicherheitslage ist eine andere.
({1})
Durch die verfehlte Politik der Bundesregierung, durch einsame Entscheidungen von Frau Merkel,
({2})
durch den fortgesetzten Rechtsbruch des Parlaments leben wir in Zeiten, in denen ein Terrorist einen Lkw in einen Weihnachtsmarkt fahren kann, in denen regelmäßige Updates an Gefährdern in diesem Land zur Tagesordnung gehören, in denen die Zahl der Messerattacken in bedrohlichem Ausmaß zunimmt, in denen Menschen vor Züge oder die Treppen hinunter gestoßen werden, in denen die Zahl der Sexualdelikte zunimmt. In Deutschland ist die innere Sicherheit erodiert. Dieser Realität müssen wir uns stellen.
({3})
Das bedeutet auch, unsere Polizei endlich zu stärken, ihr die Möglichkeit zu geben, Gefahren abzuwehren, die Chance, Schwerstkriminelle und Terroristen an besonders gefährdeten Orten zügig zu identifizieren und festzusetzen. Aber dabei müssen wir höllisch aufpassen. Es braucht klare Regeln, strenge Vorgaben und Kriterien und vor allem Grenzen. Eine Totalüberwachung der Bürger durch den Staat darf es nicht geben. Chinesischen Verhältnissen erteilen wir eine klare Absage.
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Kein Mensch darf an jeder Stelle registriert und überprüft werden.
Bei der automatischen Gesichtserkennung müsste klar geregelt werden, wer die Informationen sammelt, wer sie einsieht, verwendet und wie lange und wo die Überwachungsdaten gespeichert werden. Missbrauchsmöglichkeiten müssen ausgeschlossen, der Datenschutz sichergestellt werden. Erst im Herbst 2019 wurde bekannt, dass eine Datenbank mit 1 Million Fingerabdrücken und Gesichtsscans unverschlüsselt im Netz abrufbar war. Welche Gefahren davon ausgehen, muss ich Ihnen nicht erklären. Und die letzte Entscheidungsgewalt, das letzte Wort muss immer der Menschen haben und nicht die Maschine.
Bevor wir eine solche Technik einsetzen, muss aber auch klar sein, dass sie richtig funktioniert, und das ist im Moment nicht der Fall. Die Algorithmen sind noch zu ungenau.
Die Falscherkennungsrate beim Pilotprojekt – wir haben es gehört – am Berliner Bahnhof Südkreuz lag korrigierterweise bei 0,67 Prozent. Das klingt auf den ersten Blick wenig. Das bedeutet aber für diesen Bahnhof bei 90 000 Reisenden am Tag 600 völlig unschuldige Passanten sind in den Verdacht einer Straftat gekommen.
({5})
Das sind über 70 000 Fehlalarme und anlasslose Kontrollen im Monat an nur einem Bahnhof. Das können wir uns nicht erlauben. Das ist nicht nur den Bürgern nicht zuzumuten, sondern auch den Beamten nicht. Es kostet Zeit und Geld. Die Falschtreffer müssen also deutlich reduziert werden, bevor wir eine solche Methode einsetzen.
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Wir müssen die Balance zwischen Sicherheit und Freiheit finden. Nicht alles, was digital gemacht werden kann, sollte auch gemacht werden. Aber wenn es gemacht werden muss, dann muss es klare Regeln und enge Grenzen geben. Die Bürger müssen vor Straftätern, aber auch vor einem übergriffigen Staat geschützt werden. Dieser Balanceakt ist eine Herausforderung, der wir uns alle stellen müssen. Lassen Sie uns darüber diskutieren, und zwar mit den Bürgern draußen. Schließen wir die Bürger bei dieser Diskussion nicht aus und treffen wir keine vorschnellen Entscheidungen.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank, Frau Kollegin Cotar. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Uli Grötsch, SPD-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es gut, dass wir die Debatte um die automatisierte Gesichtserkennung mit dem heutigen Tag hier ins Parlament bringen. Ich glaube aber, dass es nicht ausreichen wird, darüber nur im Parlament zu debattieren. Über eine so weitgehende Frage wie die automatisierte Gesichtserkennung muss auch eine breite gesellschaftliche Debatte geführt werden. Ich bin mit meiner Kollegin Ute Vogt einig, dass es Zeit braucht, dass wir Zeit brauchen, um eine so weitgehende Frage zu diskutieren.
({0})
Ich will auch sagen: In einer solchen Frage muss man in einer Koalition nicht einer Meinung sein und darf um die Lösung ruhig ringen. Denn eines vereint uns am Ende ja doch, nämlich dass wir eines der sichersten Länder der Welt eben noch sicherer machen wollen. Über die Frage, wie wir das machen, darf man auch streiten.
({1})
Wer denkt bei einer solchen Frage nicht an China, wer denkt nicht an den Film „Minority Report“, wer denkt nicht an den Orwell’schen Überwachungsstaat aus dem Buch „1984“?
({2})
Wer stellt sich nicht die Frage nach dem Potenzial einer solchen Kamera? Es geht dabei nicht um die Frage, was man jetzt konkret macht, sondern darum, welches Potenzial eine solche Kamera, eine solche Software und natürlich auch eine solche gesetzliche Regelung hat, nämlich das Potenzial, am Ende der Big Brother aus „1984“ zu werden. Es geht bei der Frage des Einsatzes von Gesichtserkennungssoftware im öffentlichen Raum darum, dass wir damit sozusagen eine Tür aufmachen. Wir müssen in aller Breite und in aller Ausführlichkeit darüber reden, was hinter dieser Tür wartet und ob wir wirklich durch diese Tür hindurchgehen wollen. Denn wenn wir diese Tür öffnen und durch sie hindurchgehen, wenn wir die gesetzlichen Voraussetzungen schaffen, dann werden wir diese Tür meiner Überzeugung nach nie wieder schließen können.
({3})
Befürworter sagen nun, darum gehe es nicht; es gehe um die Verfolgung von Straftätern und Terrorverdächtigen. Ja, im Moment ist das wohl auch so, aber spätestens seit der Enthüllung von „China Cables“ wissen wir, dass dieselbe intelligente Technik in China massenhaft gegen die uighurische Minderheit und gegen Andersdenkende per se eingesetzt wird. Es ist, wie ich finde, auch bemerkenswert, dass gerade San Francisco, das Tech-Headquarter dieses Planeten, wenn man so möchte, seinen Behörden den Einsatz von Gesichtserkennungstechnologie verboten hat. Weil es also um so viel geht, ist es kein Zeichen von Schwäche, wenn Koalitionspartner über den richtigen Weg streiten.
({4})
Es geht schließlich um nichts Geringeres als den von mir auch hier immer wieder bemühten Spagat zwischen Freiheit und Sicherheit, den wir Mal für Mal versuchen.
Im Übrigen – das sei auch noch gesagt – haben wir uns im Koalitionsvertrag nicht dazu verpflichtet, diese Software einzuführen; wir haben dort nur geregelt, diese Technik zu prüfen. Auch ich habe mir das Pilotprojekt am Bahnhof Südkreuz angesehen und komme – anders als die Bundesregierung – zu dem Schluss, dass jeder Falschtreffer einer zu viel ist.
({5})
Ich will eben nicht in Kauf nehmen, dass jeden Tag an 135 Bahnhöfen und 14 Flughäfen in diesem Land zahlreiche Bürgerinnen und Bürger falsch erkannt werden. Ich sage Ihnen: Egal ob das am Frankfurter Hauptbahnhof 230 Menschen sind oder 10: Auch 10 Menschen sind 10 zu viel; denn solch eine Identitätsfeststellung dauert – ich weiß das aus eigener beruflicher Erfahrung – ja keine fünf Minuten. Es dauert schon eine Weile, bis man weiß, ob es der Herr Grosse-Brömer ist oder dann doch der Herr de Vries, den man vor sich hat.
({6})
Das dauert eine gewisse Zeit. Ich halte das nicht für zumutbar.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Ende. Wir haben bei diesem Thema neben rechtlichen Fragen auch ethische Fragen zu diskutieren.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Dafür brauchen wir Zeit. Diese Zeit sollten wir uns alle nehmen.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist der Kollege Benjamin Strasser, FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einmal mehr zwingt uns Bundesinnenminister Seehofer, einen Antrag vorzulegen, weil im Bundesinnenministerium ganz offensichtlich weder die Bürgerrechte noch die Privatsphäre trotz eines Heimatministers eine Heimat haben. Das ist bitter. Dabei wird in Deutschland alles geregelt, es gibt für alles irgendwelche Normen und Regeln. Es gibt einen TÜV für Autos, es gibt aber keinen TÜV für Bürgerrechte. Darum ist es richtig, dass die Wählerinnen und Wähler uns als Freie Demokraten als Bürgerrechts-TÜV wieder in dieses Hohe Haus entsandt haben.
({0})
Dieser Rolle werden wir heute auch gerecht. Ein Credo der unionsgeführten Innenpolitik lautet seit Jahrzehnten: Alles, was möglich ist, ist für uns auch machbar, und zur Not haben wir ja noch das Verfassungsgericht. – Das ist nicht unser Rechtsstaatsverständnis in diesem Land. Wir wollen nicht bei jedem Gesetz bis an die Belastungsgrenze des Verfassungsrechts gehen, sondern wir wollen uns ganz genau anschauen, was sinnvoll ist, und nicht, was nur technisch möglich ist.
({1})
Wir sagen hier ganz klar Nein, wenn es um die Einführung einer generellen automatisierten biometrischen Gesichtserkennung in diesem Land geht. Sie in der Union scheinen gar nicht zu verstehen, was eigentlich das Problem ist. Ich probiere es einmal auf Latein, wenn es auf Deutsch nicht funktioniert: „Respice finem!“, möchte man Ihnen zurufen, „Bedenke das Ende!“. Das Problem, Herr Middelberg, das ist doch nicht der Treffer; das Problem ist, dass Sie alle Bürgerinnen und Bürger, die an dieser Kamera vorbeigehen, zunächst einmal zu potenziellen Terroristen erklären, die abgeglichen werden müssen, und erst bei einem Treffer ist es ein Terrorist.
({2})
Das ist das Problem. Das wird Ihnen das Verfassungsgericht auch ganz klar sagen.
Die Digitalisierung bietet unendliche Chancen, auch im Sicherheitsbereich. Das ist so. Sie bietet im Übrigen auch Chancen, Technologien, die momentan sehr eingriffsintensiv sind, datensparsamer und eingriffsärmer zu gestalten. Ich würde mir Ihre Technikbegeisterung gerne wünschen, wenn es beispielsweise darum geht, einen verschlüsselten Messenger-Dienst für die Polizei anzuschaffen. Da versagen Sie seit Jahren, sind aber bei jeder Schnapsidee dieses Bundesinnenministers begeistert.
({3})
Wir müssen ganz genau hinschauen, was da passiert. In Baden-Württemberg zum Beispiel gibt es am Fraunhofer-Institut in Mannheim das interessante Projekt, dass eben nicht alle Menschen erkannt werden, sondern dass die Menschen verpixelt gefilmt werden und – basierend auf Algorithmen – erst dann die Szene aktiviert wird, wenn ein Mensch geschlagen, getreten oder sonst wie körperlich angegangen wird. Letztlich entscheidet dann ein Beamter, was in dieser konkreten Situation zu tun ist. Da sind wir durchaus offen.
Wir sind aber nicht am Ende dieser Diskussion. Weder Sie noch wir wissen, wie sich das technologisch entwickeln wird und welche Risiken und Nebenwirkungen diese Technologie hat. Deswegen ist ein Moratorium so wichtig, das wir in diesem Antrag fordern. Erst einmal soll untersucht werden, was technisch möglich ist, was die Nebenwirkungen sind. Dann können wir in diesem Hohen Haus entscheiden, was bürgerrechtskonform umgesetzt werden kann. Deswegen sollten Sie unserem Antrag zustimmen.
Vielen herzlichen Dank.
({4})
Vielen Dank, Herr Kollege Strasser. – Als nächster Redner hat der Kollege Christoph de Vries, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ursprünglich wollte die FDP ja heute über die Bonpflicht debattieren.
({0})
Ich glaube, da waren Sie zunächst auch auf der richtigen Spur, da haben Sie eine gewisse Kompetenz. Nun haben Sie sich umentschieden. Es wäre besser gewesen, Sie hätten sich für die erste Variante entschieden.
({1})
Aber das kennen wir ja schon aus den Jamaika-Verhandlungen. Da haben Sie sich auch falsch entschieden. Es ist also ein kleines Déjà-vu.
Beschäftigen wir uns nun mit Ihrem Kernthema, der Angst vor dem Überwachungsstaat à la George Orwell hier in Deutschland. Aber worum geht es eigentlich? Kollege Middelberg hat das schon gut vor Augen geführt. Es geht darum, erhobene Daten gegen Fahndungsbestände der Sicherheitsbehörden abzugleichen und gegenzuchecken, um nichts anderes. In welcher Form und in welchem rechtlichen Rahmen das geschehen kann und soll, das ist doch noch alles völlig offen. Darüber kann man reden. Wir als Parlament hätten die große Chance, im Zuge der Beratungen zum Bundespolizeigesetz ein Zeichen für die Sicherheit in Deutschland zu setzen und eine gute Rechtsgrundlage für intelligente Videoüberwachung mit automatisierter Gesichtserkennung zu finden.
Das Problem ist doch, liebe Kolleginnen und Kollegen: Sie wollen diese Chance, die wir haben, mit Ihren Anträgen schon im Vorfeld vereiteln, bevor überhaupt ein Gesetzentwurf vorliegt.
({2})
Damit wollen Sie jede Debatte im Keim ersticken. Da werden wir auf keinen Fall mitmachen. Das sage ich Ihnen hier an dieser Stelle ganz klar.
({3})
Was wir auch nicht teilen, ist Ihr grundsätzliches Misstrauen gegenüber den Sicherheitsbehörden in Deutschland.
({4})
Es ist vielfach angesprochen worden: Die Trefferrate, die wir im Testbetrieb hatten, lag bei unter 1 Prozent. Es ist eben nicht so, dass jeder, der dort fälschlicherweise als Treffer ausgelöst wird, gleich freiheitsentziehenden Maßnahmen unterzogen wird, sondern der Beamte guckt händisch, gleicht das ab, und erst dann werden Maßnahmen getroffen, wenn sie denn geboten sind.
Jetzt lassen Sie mich das mal ins Verhältnis setzen; denn Sie haben hier ja Ihre großen Berechnungen angeführt. Gleichen wir das einmal ab mit der analogen Welt von heute. Wie ist denn heute die Wirklichkeit? Wenn die Polizei eine Person öffentlich zur Fahndung ausschreibt, kommt das Bild auf Litfaßsäulen, in Zeitungen und wird sonst wo veröffentlicht, auch in Nachrichtensendungen. Bei jedem Fahndungsbild gehen Hunderte von Hinweisen ein, und die Polizei ist selbstverständlich verpflichtet, jedem einzelnen Hinweis nachzugehen. Das heißt, wenn Oma Erna der Meinung ist: „Mein Nachbar ist der Täter“, dann muss die Polizei dort klingeln und dem nachgehen.
({5})
Die Trefferungenauigkeit in der anlogen Welt ist doch eine deutlich höhere. Trotzdem käme niemand von Ihnen auf die Idee, das infrage zu stellen.
({6})
Kollege de Vries, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Höferlin?
Nein, die lasse ich nicht zu.
({0})
Wir machen jetzt mit den Beispielen weiter; Stichwort „Bahnhof“ Wenn dort Bundespolizeibeamte heute verdächtigte Personen überprüfen – dies findet in großer Zahl statt –, dann haben wir selbstverständlich auch eine Trefferungenauigkeit. Das betrifft auch viele Menschen, die sich nichts zuschulden haben kommen lassen. Auch da haben Sie bisher kein Problem gesehen. Glauben Sie denn – mit Blick auf die Effektivität der Fahndung –, dass ein Polizeibeamter Hunderte Fahndungsbilder von Straftätern und Terroristen im Kopf haben kann und diese ausfindig machen kann, wenn er am Bahnhof Streife läuft?
({1})
Es ist einfach so: Die Nutzung intelligenter Videotechnik ist um ein Vielfaches effektiver als die bloße menschliche Wahrnehmung. Dass ausgerechnet die Parteien, die hier sonst jede Debatte zur Digitalisierung anmelden, der Bundesregierung in diesem Fall Vorwürfe machen, immer dann, wenn es um Sicherheit geht, Nein sagen und alles blockieren wollen – das ist wirklich völlig daneben.
({2})
Das, was ich jetzt gesagt habe, zeigt doch, wie unbegründet Ihre Ängste vor dem Überwachungsstaat sind, die Sie hier auch heute wieder in der Diskussion zu verbreiten versuchen. Es zeigt, wie haltlos Ihre Forderungen sind.
({3})
Ihre sicherheitspolitische Position ist wirklich fern jeder Realität. Das hat auch schon Kollege Middelberg deutlich gemacht.
Und das will ich Ihnen noch sagen: Gute Innenpolitik macht man nicht mit dem Schüren von Ängsten.
({4})
Dieser Grundsatz gilt im Übrigen nicht nur für die AfD, sondern auch für viele andere hier in diesem Raum bei dieser Debatte.
({5})
Aber Sie bleiben Ihrer Linie treu, Herr von Notz; das muss man durchaus anerkennen. Sie stellen hier im Haus datenschutzrechtliche Maximalforderungen. Diese sind Ihnen wichtiger als der Schutz der Bürger vor Terroristen, vor Gefährdern, vor schweren Straftätern.
({6})
Bei uns ist es umgekehrt; das kann ich Ihnen sagen. Wenn sich im parlamentarischen Verfahren die Möglichkeit bietet, werden wir deshalb die Nutzung der intelligenten Videotechnik unterstützen.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank, Herr Kollege de Vries. – Die FDP-Fraktion hat eine Kurzintervention beantragt, die ich zulasse. Herr Kollege Höferlin, Sie haben das Wort.
Danke, Herr Präsident. – Herr Kollege de Vries, jenseits der Frage, ob es verfassungsrechtlich okay ist, wollte ich auf Ihre Zahlen eingehen. Sie sagen: Selbstverständlich muss jeder Treffer überprüft werden. – Ich habe das eben mal schnell mit den Zahlen von 2018, mit den Besucherzahlen an den 20 größten Bahnhöfen in Deutschland, überschlagen. Dort würden bei einer Fehlerquote von 0,5 Prozent – wir haben gehört, dass es eigentlich 0,67 Prozent sind, aber ich habe es mal überschlagen – pro Tag zwischen 20 000 und 25 000 falsch positive Treffer erzeugt, die durch die Polizei überprüft werden müssten. Ich rede hier von den 20 größten Bahnhöfen. Geplant sind: 140 Bahnhöfe und Flughäfen. Ich prognostiziere, dass die Zahlen inzwischen höher sind.
Meine Frage ist: Erklären Sie mir mal bitte, wie Sie pro Tag – eigentlich sind die Zahlen höher; aber ich habe mich nur auf die 20 größten Bahnhöfe bezogen – 25 000 falsch positive Treffer durch die Bundespolizei überprüfen lassen wollen. Haben Sie bereits im nächsten Haushalt die entsprechenden Stellen dafür vorgesehen?
({0})
Herr Kollege de Vries, Sie dürfen antworten. Bitte.
Lieber Herr Kollege Höferlin, ich habe die Ehre, dass ich bisher zwei Kurzinterventionen hatte, beide von Ihnen.
({0})
Ich muss auch heute sagen: Wenn man Unsinn redet, wird er nicht dadurch besser, dass man ihn wiederholt.
({1})
Wir haben, wenn man die Systeme koordiniert, eine Fehlerquote – Herr Middelberg hat es schon gesagt – von 0,00018 Prozent. Damit entbehren die Zahlen, die Sie eben genannt haben, wirklich jeder Grundlage. Ich habe Ihnen auch gesagt, dass nicht in jedem Fall eine Überprüfung stattfindet. Sie haben schon Bedenken angemeldet, als es um die Videoüberwachung im öffentlichen Raum überhaupt ging. Ich will Ihnen das mal für Hamburg darstellen: Dort sitzt die Bundespolizei mit 200 Bildschirmen, jeder S-Bahnhof wird angeguckt. Die Konsequenz ist gewesen, dass die Zahl der Straftaten in den S- und U-Bahnhöfen in Hamburg um über 50 Prozent gesunken ist. Das ist ein guter Erfolg. Hier gehen wir einen Schritt weiter, und dieser ist genauso vernünftig.
({2})
Vielen Dank. – Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Jens Zimmermann, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, zunächst sollte man mal feststellen, dass wir es eigentlich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten in Deutschland geschafft haben, eine vernünftige und ausgewogene Diskussion beim Thema Überwachung zu haben. Wir sind, wenn wir uns andere Länder anschauen, weit, weit von den Extremen entfernt. Jeder, der mal in London war, weiß, dass an jeder einzelnen U-Bahnstation 200 Kameras sind. Das Ergebnis bei uns zeigt, dass wir auch hier im Deutschen Bundestag immer wieder um die Frage der Videoüberwachung gerungen haben, dass wir sie weder einseitig verteufelt haben noch einseitig als seligmachende Lösung angesehen haben. Ich finde, wir brauchen bei dem Thema Gesichtserkennung an dieser Stelle genau so eine Debatte.
({0})
Wir hatten hier vor Weihnachten einen Kollegen aus dem Parlament in Hongkong zu Gast. Wenn man sich mit ihm unterhält, stellt man fest, dass das nicht irgendwelche Fantasien sind, sondern dass es die Probleme, die heute in dieser Debatte aufgeführt worden sind, durchaus schon konkret gibt. Es ging darum, dass smarte Verkehrskameras aufgestellt wurden und jetzt plötzlich Menschen, die wieder nach China einreisen wollen, an der Einreise gehindert werden, weil diese Kameras auch die Demonstrantinnen und Demonstranten dort erfasst haben. Das ist keine Fantasie; das findet dort statt. Das ist auch technisch möglich. Deswegen ist es wichtig, dass wir darüber diskutieren.
({1})
Wenn wir uns das Thema „Social Scoring“ anschauen, dann geht es schon weiter. Sie bekommen negative Bewertungen, wenn Sie ein Papierkügelchen auf den Boden schmeißen. Das findet mit dieser Technologie statt.
Eben sind auch die privaten Unternehmen angesprochen worden. Es ist richtig: Die privaten Datenkraken sind ein reales Problem. Aber wir müssen auch aufpassen; denn: Die Versuchung, genau auf diese Daten dann auch staatlicherseits zuzugreifen, ist ziemlich groß.
({2})
Das Vorgehen des Unternehmens Clearview ist deswegen zur Diskussion geworden: Ein privates Unternehmen hat über 3 Milliarden Fotos gesammelt und Profile erstellt, und jetzt kommen in den USA Ermittlungsbehörden und sagen: Wir nutzen das, um Menschen zu identifizieren.
({3})
Das ist real. Das ist ein Problem. Das gilt es in jedem Fall zu verhindern.
({4})
Wir müssen uns natürlich auch anschauen, welche Diskussionen eigentlich auch schon laufen. Wir haben ja nicht nur die Diskussion über die Gesichtserkennung. Schauen wir uns mal das Thema Palantir-Software an, wo es darum geht, mit Algorithmen Datenbanken zusammenzulegen und eben auch analoge Dinge smart und intelligent zu machen. Da blicke ich schon auch zu den Kolleginnen und Kollegen von FDP und Grünen. In Hessen ist diese umstrittene Software unter Schwarz-Grün eingeführt worden.
({5})
In Nordrhein-Westfalen wird es jetzt eingeführt mit Beteiligung der FDP.
({6})
Ich würde mir an der Stelle auch mal eine so engagierte Debatte wünschen, wie wir sie jetzt haben. Das wäre notwendig.
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Ich will am Ende meiner Rede auch noch eines klarmachen, weil immer von Orwell und irgendwie von Fantasie gesprochen wird. Warum müssen wir immer auch ein bisschen nach vorne denken? In Österreich hätte sich niemand vorstellen können, dass irgendwann mal das Innenministerium das Bundesamt für Verfassungsschutz durchsuchen lässt und alle Akten von Rechtsextremisten konfisziert. Das war weit außerhalb unserer Vorstellungskraft. Deswegen müssen wir, wenn wir dem Staat solche Instrumente zur Verfügung stellen, solche Möglichkeiten in Betracht ziehen. Ich habe keine Bedenken, was das hier und jetzt angeht; ich habe großes Vertrauen in unsere Behörden. Wenn wir uns anschauen, was in Österreich passiert ist, dann müssen wir uns auch vorstellen, was – ich hoffe, das wird nicht passieren – vielleicht auch mal in Deutschland passieren kann. Deswegen ist es wichtig, dass wir hier eine abgewogene und ausgewogene Debatte führen und diese Dinge nicht einfach als Fantasie zur Seite wischen.
Ich freue mich auf die Diskussion. Ich finde es gut, dass sie heute hier begonnen hat.
Danke schön.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Michael Kuffer, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegen von der FDP, Sie geben sich einfach immer wieder den gleichen Reflexen hin. Dabei zeigen Sie auch, dass Ihr Verständnis vom Verhältnis der Sicherheit zur Freiheit in einem Ausmaß verrutscht ist, das uns doch immer wieder überrascht.
Sie wissen doch, wie erheblich wir gerade im Bereich des Terrorismus herausgefordert sind. Würde ich jetzt eine Parallele zur Tierwelt ziehen, dann würde ich es so beschreiben: Die Tollwut bricht aus, und Sie reagieren mit Tierschutzbestimmungen.
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Unser politischer Violinschlüssel ist hier einfach ein ganz anderer. Absolute Sicherheit ist nicht möglich. Aber wir wollen das Menschenmögliche und das technisch Mögliche tun, um die Menschen zu schützen. Das bedeutet, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir die technischen Möglichkeiten ausschöpfen wollen, um zu schützen
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und um schwere, zum Teil schwerste Kriminalität nicht nur zu bekämpfen, sondern ihr vorzubeugen. Um genau diesen präventiven Aspekt geht es bei der Frage der intelligenten Videoüberwachung und bei der Frage der automatischen Detektion und der Gesichtserkennung im Besonderen.
Die Videoüberwachung, liebe Kolleginnen und Kollegen, beschränkt sich bisher in der Praxis allzu oft darauf, im Nachhinein, also nach einem Geschehen, mit der Auswertung der Videoüberwachung die Tataufklärung zu unterstützen. Das ist selbst dort in praxi meistens so, wo wir Echtzeitvideoüberwachung haben. Warum? Weil wir die Vielzahl von Kameras angesichts der personellen Ressourcen bei der Polizei einfach nicht alle gleichzeitig im Blick haben können. Da kommen wir jetzt zum Kern des Themas.
Die automatische Detektion versetzt uns in die Lage, eine funktionierende Echtzeitüberwachung – eine funktionierende! – durchzuführen. Das heißt nichts anderes, als die Möglichkeit zu schaffen, ins laufende Geschehen einzugreifen. Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, die Sie die Grundrechtsfragen so hoch gehängt haben, schützen wir übrigens ein Grundrecht, nämlich das Recht auf Leben und Gesundheit.
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Dieses Grundrecht müssen wir in einen sachgerechten und im Übrigen alle Aspekte berücksichtigenden Ausgleich mit dem Persönlichkeitsgrundrecht bringen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, wenn Sie schon die „Gesta Romanorum“ zitieren, dann muss ich Ihnen dazu sagen: Sie haben die Hälfte des Satzes verschwiegen. Es heißt nämlich: „… prudenter agas et respice finem“. Handle klug und bedenke das Ende!
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Zum klugen Handeln gehört genau jene Abwägung, die ich Ihnen hier beschreibe.
Deshalb nur ein paar Worte zur Eingriffsintensität. Sie ist nämlich faktisch bei der automatischen Detektion viel geringer als bei der herkömmlichen Videoüberwachung. Sie würden doch auch nicht allen Ernstes Datenschutzbedenken in den Vordergrund stellen,
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wenn Polizeibeamte patrouillieren und das Geschehen vor Ort mit eigenen Augen verfolgen. Sie würden es vermutlich auch dann nicht tun, wenn die Polizeibeamten einfache Hilfsmittel,
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wie zum Beispiel ein Fernglas, benutzen. Deshalb frage ich Sie, warum Sie das gerade in einem Fall tun, wo uns die Technik in die Lage versetzt, dass wir den Blick des Polizeibeamten sozusagen verlängern und dass wir die Videoüberwachung und das Auge des Polizeibeamten maximal nah zueinander bringen.
Es werden nur jene Fälle erkannt, die relevant sind. Alle anderen Fälle werden ausgesondert. Damit fallen 99 Prozent der Videoüberwachung aus dem grundrechtssensiblen Bereich heraus. Diese Videostrecken müssen wir dann gar nicht mehr sichern. Wir müssen künftig, wenn wir diese Technik intelligent einsetzen, nicht Tausende von Bändern und von Datenträgern mit Videomaterial sichern, sondern wir können uns auf das beschränken, was relevant ist. Darum geht es.
Ein Letztes.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Wenn Sie richtig rechnen, lieber Kollege Höferlin, dann kommen Sie mit den Zahlen, die hier genannt worden sind, nämlich mit einer Fehlerquote von 0,00018 Prozent,
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nicht auf 25 000 Fälle pro Tag, sondern dann kommen Sie auf sieben, auf sieben Fälle pro Tag, die sozusagen falsch positiv aufscheinen.
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Herr Kollege, kommen Sie jetzt bitte zum Schluss.
Das sind die Erfahrungen, die wir aus dem Pilotversuch am Südkreuz gewonnen haben. Die sind für uns Grund genug, dieses Thema weiterzuverfolgen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Damit schließe ich die Aussprache.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident, wegen vorhin: Ich bin auch sehr gerne da, wenn Sie Präsident sind.
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Vielen Dank für die immer klaren Ansagen und die Ordnung der Sitzung.
Wir haben vor, den Nahverkehr mit viel Geld neu zu unterstützen und zu ordnen.
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Deswegen ist es heute ein sehr guter Tag; denn wir brauchen moderne Mobilität nicht neu zu erfinden, sondern wir können eine Mobilität ohne Staus und ohne Parkplatzsuche anbieten. Sie ist vorhanden, nämlich über die öffentlichen Verkehrsmittel.
Gerade die zunehmende Zahl der Pendler zeigt, dass wir zum Umsteigen motivieren und ganzheitlich denken sollen. Das geht nicht alleine mit Appellen an die Vernunft, sondern vor allem mit ganz klaren Projekten und vor allem mit einer entsprechenden Mittelausstattung.
Wenn ich mir die Regionalbahnen anschaue, die Straßenbahnen, die S- und die U-Bahnen: Wir haben in der Vergangenheit sehr stark immer nur einen Verkehrsträger im Auge gehabt. Mit dieser Reform, mit dieser Novelle des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes schaffen wir auch die Ausweitung auf verschiedene Verkehrsträger und verschiedene Verkehrsmittel, damit das Umsteigen erleichtert wird und der Anreiz erhöht wird. Wir schaffen damit mehr Attraktivität.
Es freut mich riesig, dass diese Novelle gestern im Verkehrsausschuss mit überwältigender Mehrheit angenommen wurde. Nicht nur die geschätzten Kolleginnen und Kollegen der Koalition, was ja eigentlich normal ist,
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wenn ein Minister einen Vorschlag vorlegt, sondern auch die Kollegen und Kolleginnen der FDP und der Grünen haben meinem Vorschlag zugestimmt. Das beweist, dass wir nach langen Diskussionen, auch mit den Bundesländern, ein echtes, gutes Angebot vorlegen können.
Um was geht es? Nicht jeder Bürger auf den Zuschauerrängen und an den Bildschirmen kann etwas mit dem Begriff „Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz“ anfangen. Nicht jeder ist Verkehrspolitiker und weiß dieses Monstrum an Begriff zu definieren. Um was geht es also? Wir verbessern mit Bundeshilfe die regionalen Verkehre. Wir verbessern für die Bundesländer und die Kommunen die Investitionen vor Ort in den Ausbau von Straßenbahnlinien oder U-Bahnen.
Diese Koalition hat schon im Koalitionsvertrag den richtigen Schwerpunkt gesetzt, nämlich den ursprünglich angedachten Betrag von 333 Millionen Euro zu erhöhen, noch mal aufwachsen zu lassen. Das Klimakabinett hat am Ende des letzten Jahres noch mal ordentlich was draufgelegt. Wir sprechen von einer – Achtung! – Versechsfachung der Mittel, die diese Koalition mit Unterstützung einiger aus der Opposition anwachsen lässt, damit vor Ort das Pendeln und vor allem der Nahverkehr für die Bürgerinnen und Bürger verbessert werden. Das ist eine echte Verbesserung für die Bürgerinnen und Bürger. Herzlichen Dank für diese Unterstützung.
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Was machen wir, wenn wir als Bund für die Bundesländer und für die Kommunen Verbesserungen vor Ort vornehmen? Wir wollen die Elektrifizierung und die Reaktivierung von Schienenstrecken. Wir wollen die Kapazitäten auf der Schiene erhöhen. Wir werden den Fördersatz auf sage und schreibe 75 Prozent der zuwendungsfähigen Kosten anheben. Wir werden nicht nur in Stadtgebiete gehen, sondern auch in den ländlichen Raum und damit den Auftrag erfüllen, für die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse zu sorgen, was diese Koalition zum Ziel hat.
Wir schaffen so einen gesamtwirtschaftlichen Nutzen, weil wir damit auch die mittelständische Bauwirtschaft anschieben. Wir haben heute über den Jahreswirtschaftsbericht debattiert. Das Bundesverkehrsministerium leistet einen großen Beitrag mit diesen Investitionen. Mit diesem GVFG, dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz, kann man sofort in die Ausschreibung gehen. Das erwarten wir jetzt auch von den Bundesländern: dass sie Projekte melden; denn wir stellen die Mittel dafür bereit.
Wir investieren nicht nur in neue Maßnahmen, sondern – das ist ganz neu – vor allem auch in die Grunderneuerung, in die Instandsetzung, in die Renovierung. Das ist zwar nachrangig, aber auch damit soll jetzt ein Beitrag geleistet werden. Wenn wir länger brauchen für die großen Bauprojekte, können wir im Bereich der Grunderneuerung sehr schnell in die Umsetzung kommen. Wir werden U-Bahnhöfe, Treppenaufgänge modernisieren, tropfende Decken beseitigen oder Tunnel von Grund auf erneuern, das heißt kleinere und mittelgroße Baumaßnahmen umsetzen, die vor Ort ankommen.
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Mit dem Bündnis für moderne Mobilität, das ich ins Leben gerufen habe, werden wir im Dialog mit Ländern und Kommunen die Anmeldungen bzw. die Listen jetzt sukzessive durchgehen, damit das Geld auch dort landet, wo wir es brauchen, damit wir die Bürger wirklich zum Umsteigen auf die öffentlichen Verkehrsmittel animieren können, damit wir unsere Städte entlasten. Wir wollen nicht nur an die Vernunft appellieren, sondern wir wollen auch den Pendlerinnen und Pendlern helfen, Geld und Zeit zu sparen, wenn sie umsteigen: Zeit bei der Parkplatzsuche und Geld für die Miete oder die Jahresgebühr für den Parkplatz. Wir wollen Angebote im Bereich der öffentlichen Transportmittel schaffen.
Meine Damen und Herren, damit Sie sehen, dass wir ganzheitlich denken: Wir investieren, wie gesagt, nicht nur in Neubauprojekte in den Metropolregionen, sondern mit den Grunderneuerungen auch in den ländlichen Räumen. Dazu kommt noch: Wenn ein Pendler keine Möglichkeit zum Abstellen seines Fahrzeugs hat, wenn er in seiner Mobilitätszentrale morgens sein Auto nicht abstellen kann, wenn er sein Elektroauto nicht laden kann, wenn er sein Rad nicht in einer sicheren Fahrradgarage abstellen kann, dann wird er nicht auf die S-Bahn oder die U-Bahn umsteigen. Deswegen schaffen wir auch diesbezüglich ein Angebot. Das ist ganzheitlich zu sehen: Man kann das Fahrzeug sicher abstellen, auf die Bahn umsteigen und mit dieser in die Metropolregion fahren.
Herr Präsident, ich freue mich, dass wir heute noch Reden zu den Regionalisierungsmitteln, zu den zwei Planungsbeschleunigungsgesetzentwürfen hören können. Heute ist ein guter Tag für die Dynamik in Deutschland.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Minister Scheuer. – Für den Inhalt der Reden ist das Präsidium nicht verantwortlich.
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Als nächster Redner hat der Kollege Wolfgang Wiehle, AfD-Fraktion, das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Mehr Geld für die Verbesserung der Verkehrsverhältnisse in Städten und Gemeinden – das verspricht die Änderung des GVFG, des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes. Da kann man doch eigentlich nur jubeln,
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jedenfalls auf den ersten Blick. Der Ausbau von U-Bahn und Stadtbahn muss vielerorts warten, weil das Geld fehlt. Dass hier jetzt endlich gehandelt wird, begrüßt auch die AfD.
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Der Straßenverkehr geht aber leer aus, und das ist typisch für die Art, in der die Koalition ideologische Verkehrswendepolitik macht.
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Die Grünen hatten schon 2018 beantragt, alle Fördertatbestände für den Straßenbau aus dem GVFG zu streichen. Und die Regierungskoalition folgt dem. Manche werden jetzt sagen: Ja, bei Fördermitteln für den Straßenbau müssen die Städte sich halt an die Bundesländer wenden;
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denn vom Bund gibt es dafür schon seit Jahren kein Geld mehr.
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Wenn aber bis 2025 die Gelder des Bundes versechsfacht werden, dann darf der Straßenbau dabei nicht völlig leer ausgehen.
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Städte, die Straßentunnel bauen und damit den Lärmschutz und den Verkehrsfluss verbessern, brauchen dafür Geld. Anwohnergaragen gibt es nicht für umsonst. Diese wird man verstärkt brauchen, beispielsweise wenn für den Radwegeausbau Parkplätze beseitigt werden.
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Digitalisierte Ampelsteuerungen verbessern den Verkehrsfluss und reduzieren den Schadstoffausstoß. Auch die müssen bezahlt werden. Wenn die Straßenprojekte nicht über das GVFG-Bundesprogramm laufen sollen, dann muss der Bund die Länder in die Lage versetzen, ihre Förderung für kommunale Verkehrsprojekte entsprechend aufzustocken.
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Die Forderung der AfD-Fraktion ist klar: Eine Einseitigkeit zulasten des Straßenverkehrs darf es nicht geben.
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Künftig sollen auch Straßenbahnen gefördert werden, die auf Autospuren fahren, und zwar mit Priorität vor den Autos.
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Meine Damen und Herren von der Koalition, von Grünen und Linken, damit produzieren Sie neue Verkehrsstaus,
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und die werden in den Städten schon jetzt immer schlimmer. Die gestern veröffentlichte TomTom-Studie beweist es aufs Neue.
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Diese Stauproduktion durch Straßenbahnprojekte nimmt die Verkehrspolitik des Bundes systematisch in Kauf. Jedes Bauprojekt muss bekanntlich auf seinen volkswirtschaftlichen Nutzen hin geprüft werden. Bei dieser sogenannten standardisierten Bewertung werden alle möglichen Vorteile der Fahrgäste im Nahverkehr eingerechnet, aber eben nicht die Fahrzeitverluste für die Autofahrer, die länger im Stau stehen. Bei einer Expertenanhörung hier im Bundestag wurde das bestätigt. Das ist so, wie wenn Sie in einer Firmenbilanz die Gewinne ausweisen, aber für zu erwartende Verluste keine Vorsorge treffen. „Milchmädchenrechnung“ ist dafür noch ein vornehmer Begriff, meine Damen und Herren.
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Sie sehen: Auf den zweiten Blick ist beim GVFG längst nicht alles Gold, was glänzt. Die AfD-Fraktion wird den Gesetzentwurf der Bundesregierung in der Ausschussfassung daher ablehnen und den Gesetzentwurf der Grünen ebenfalls. Die beiden Änderungsanträge der Fraktion der Grünen lehnen wir als zu weitgehend ab. Der Entschließungsantrag der AfD-Fraktion dient dagegen dem Zweck, zwischen der Förderung des öffentlichen Nahverkehrs und der Förderung des Individualverkehrs in den Städten Ausgewogenheit herzustellen.
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Kommen Sie bitte zum Schluss.
Bitte stimmen Sie diesem Antrag zu. Das ist der richtige Weg.
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Vielen Dank, Herr Kollege Wiehle. – Als nächster Redner hat der Kollege Sören Bartol, SPD-Fraktion, das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Wirtschaft sprechen wir ja oft über Hidden Champions. Sie stehen nicht in der ersten Reihe, werden nicht von allen bejubelt, spielen aber real oft die entscheidende Rolle. Auch bei Gesetzen gibt es Hidden Champions, und dazu gehört das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz, kurz GVFG genannt. Neben der Städtebauförderung ist es eines der wichtigsten Instrumente, um die Lebensqualität von Menschen ganz konkret und spürbar zu verbessern. In Bezug auf den Klimaschutz ist es zentral für die Verkehrswende. Es ist ein entscheidender Baustein, wenn es um faire Preise und ein attraktives Angebot im Nahverkehr geht. Und es ist systemrelevant, damit Mobilität auch digital wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in den letzten Monaten viel über neue Wege geredet, über sogenannte Wenden: Klimawende, Energiewende, nicht zuletzt die Verkehrswende. Was das industriepolitisch bedeutet, haben wir in den letzten Wochen ausführlich diskutiert. Etwas untergegangen ist dabei, dass die Kommunen einer der entscheidenden Faktoren für die Mobilitätswende sind. Der Nahverkehr ist mitten in einem Strukturwandel: Roller, Leihräder, Pkw-Sharing, Plattformanbieter sind immer öfter natürlicher Teil der Mobilitätskette. Sie werden quasi als öffentliche Verkehrsmittel wahrgenommen. Das eigentliche Verkehrsmittel in Städten wird jedoch das Smartphone sein. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das heißt, wir müssen unsere Infrastrukturen zukunftsfest machen und modernisieren, auch um die Klimaziele zu erreichen.
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Bei allen technischen und sozialen Innovationen brauchen wir im Kern einen leistungsfähigen öffentlichen Personennahverkehr. Wir wollen einen ÖPNV, der Menschen zuverlässig von A nach B bringt und dabei vor allem unseren Ansprüchen an Qualität, faire Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten, Bezahlbarkeit und Barrierefreiheit genügt.
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Ein bezahlbarer ÖPNV bleibt für uns die gerechteste und sozialste Form von Mobilität.
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Deshalb nehmen wir auch im GVFG zusätzliches Geld in die Hand. Wir erhöhen die Haushaltsmittel schrittweise auf 1 Milliarde Euro jährlich ab dem nächsten Jahr. 2025 verdoppeln wir die Mittel noch einmal auf 2 Milliarden Euro. Damit gibt es vor allen Dingen Planungssicherheit. Länder und Kommunen müssen das jetzt schnell umsetzen, und wir müssen genau schauen, welche Effekte das Geld hat und ob wir in den kommenden Jahren vielleicht nachsteuern und uns das noch einmal anschauen müssen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bedürfnisse und die Bedingungen in der Stadt und auf dem Land sind unterschiedlich. In der Stadt gibt es mehr Carsharing, mehr ÖPNV, neue Plattformen, Elektromobilität.
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– Straßenbahnen natürlich auch. – Auf dem Land sind die Menschen abhängiger vom Individualverkehr. Trotzdem setzen wir auch in dünnbesiedelten Regionen auf den ÖPNV. In meinen Augen haben wir ihn dort alle gemeinsam – in unterschiedlichsten Konstellationen – in den letzten Jahrzehnten teilweise kaputtgespart. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das müssen wir zurückdrehen. Der ÖPNV gehört überall zur Daseinsvorsorge. Auch deshalb brauchen wir die Investitionen, wie wir sie heute hier mit dem GVFG beschließen.
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Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen?
Bitte schön.
Herr Bartol, vielen Dank für das Zulassen der Zwischenfrage.
Sie brauchen ja nicht zu fragen. Sie können auch einfach etwas sagen.
Ja, danke für den Hinweis; auch das ist bekannt. – Ich möchte Sie zwei Sachen fragen. Es geht zum einen um das Thema Barrierefreiheit, das Sie angesprochen haben, und zum Zweiten um die gesteigerten Investitionen. Vielleicht fange ich mit dem Zweiten an: Können Sie mir vielleicht erklären, warum wir das Grundgesetz ändern mussten, um diesen Deckel wieder abzusprengen? Wer hat denn diese Versteinerung in der letzten Legislatur eingeführt? Sie können gerne auch die Parteifarben benennen. – Das war meine erste Frage.
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Zum Zweiten habe ich eine Frage zum Stichwort Barrierefreiheit. Wir haben sowohl gestern im Ausschuss als auch hier im Plenum einen Antrag vorgelegt, der sagt: Wir wollen Bundesmittel nur noch für Projekte vergeben, die sich Barrierefreiheit wirklich auf die Fahnen schreiben. – Im Gesetz steht das bislang anders. Wie wird sich denn Ihre Fraktion dazu verhalten?
Sie kennen die Antwort eigentlich schon; ich versuche trotzdem, Ihnen meine Sicht der Dinge darzustellen.
Zur Barrierefreiheit: Sie wissen doch, was für riesige Herausforderungen wir in einem gewachsenen System, nicht nur im Nahverkehr, sondern auch im schienengebundenen Verkehr, im Fernverkehr, haben. Wir reden hier über gigantische Summen, die wir alle gemeinsam aus Steuermitteln investieren müssen. Ja, ich glaube, das ist im Haus auch Konsens. Wir alle wollen das.
Ich kann mich noch erinnern, als wir damals die Fernbusse und das neue Fernbussystem eingeführt haben. Da gab es eine intensive Diskussion darüber, wie wir mit einem solchen System umgehen. Da haben wir – auch als deutsche Sozialdemokratie – Wert darauf gelegt, dass wir von Anfang an das Thema Barrierefreiheit mitdenken. Erinnern Sie sich einmal an die Änderungen im PBG, dem Personenbeförderungsgesetz, die wir vorgenommen haben. Das war ein klares System, und wir haben gesagt: Es gibt einen Punkt, an dem ihr barrierefrei sein müsst. – Da müssen sich alle Länder, alle Kommunen, alle handelnden Akteure gemeinsam fragen: Sind wir weit genug? Ich sage Ihnen: Nein, wir sind noch nicht weit genug. Dieses Thema wird uns weiter begleiten. Ich glaube, wir müssen da immer eine Schippe obendrauf legen. Deswegen haben wir uns – auch in der Großen Koalition; denken Sie an unsere Bahnhofsprogramme – genau um dieses Thema gekümmert.
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Ich finde dieses Thema wichtig. – Und nein, ich stimme dem nicht zu, weil wir das anders machen. Dafür brauchen wir keinen Grünenantrag.
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Ich komme zum zweiten Punkt, den Sie in Ihrer Frage angesprochen haben. Natürlich ist das GVFG, also das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz, etwas, wo Fachpolitiker schon immer gesagt haben: Es ist unterfinanziert. Wir müssen es systematisch verändern. Wir müssen zum Beispiel nicht nur neu bauen, sondern wir müssen in den Erhalt gehen. Wir dürfen die vorhandene Infrastruktur sozusagen nicht vergammeln lassen; sondern wir müssen Geld in die Hand nehmen – auch vom Bund. Natürlich dauert es bei Fachpolitikern lange, bis die Erkenntnis in diesem großen Hause ankommt. Denn Sie wissen natürlich auch: Es gibt immer widerstreitende Interessen, was die Frage der Mittelhöhe für einzelne Programme angeht. Ich finde, heute ist der Tag, wo Sie als Opposition einfach einmal sagen können:
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Danke, dass diese Mittel so steigen. Danke, dass die Kommunen jetzt das Ganze ausbauen können und dass sich alle einfach einmal gemeinsam freuen.
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Man kann aber natürlich auch das Haar in der Suppe weitersuchen.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Sie haben es tatsächlich geschafft, in Ihrer weitreichenden Beantwortung der Fragestellung Ihre Redezeit zu verdoppeln. Das ist eine echte Kunst.
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Sie haben jetzt noch 44 Sekunden für den Rest Ihrer Rede.
Ja. Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen uns ehrlich machen – das war auch gerade die Diskussion –: Ein besserer ÖPNV kostet mehr. Dieses Investitionspaket ist für mich wirklich ein sehr, sehr guter Anfang. Zusammen mit dem Regionalisierungsgesetz und unserem Modernisierungsprogramm für Bahnhöfe investieren wir massiv in einen attraktiven Nahverkehr. Damit schaffen wir die Alternativen für ein modernes und umweltfreundliches Mobilitätsangebot in Stadt und Land. Ich freue mich, dass wir mit den heutigen Beschlüssen das GVFG mehr in die öffentliche Wahrnehmung rücken. Der Hidden Champion, das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz, darf heute einmal aus seinem Schatten heraustreten und sich feiern lassen. Das wird seiner Bedeutung gerecht, und das kommt den Kommunen und unseren Bürgerinnen und Bürgern auch zugute.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Bartol. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Torsten Herbst, FDP-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist keine Frage: Ein attraktiver ÖPNV schafft einen Mehrwert für die Bürgerinnen und Bürger. Unser Dank gilt aber nicht zuerst der Koalition, sondern zuerst dem deutschen Steuerzahler; denn der ermöglicht mit seinem Geld, dass wir in den ÖPNV investieren können.
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Uns als Freien Demokraten geht es dabei nicht um Ideologie, es geht nicht um Weltrettung, es geht auch nicht um den Kulturkampf gegen das Auto, sondern es geht schlichtweg darum, bessere Mobilität und Alternativen im Alltag zu zeigen.
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Der Verkehrsminister hat es angesprochen: Wenn wir uns U-Bahnen, S-Bahnen und Straßenbahnen zu Stoßzeiten anschauen, sehen wir, dass wir da mittlerweile an Kapazitätsgrenzen gelangt sind. Da ist es sinnvoll, in Ausbau und Modernisierung zu investieren. Deshalb stimmen wir als Freie Demokraten diesem Gesetzentwurf auch zu.
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Was wir allerdings – das will ich hinzufügen – schon als zum Teil ziemlich schräg empfinden, ist eine in Teilen von manchen Fraktionen hier betriebene völlige ideologische Überlagerung der gesamten ÖPNV-Diskussion. Da gibt es mittlerweile einen bunten Strauß an Forderungen: Man müsse die Autos in Innenstädten komplett verbieten. Man müsse Radfahrern Sonderurlaubstage gewähren. Kostenlosen ÖPNV müsse es überall geben, und den Verbrennungsmotor, den möge man bitte verbieten. – Meine Meinung ist dazu: Das, sehr geehrte Damen und Herren, ist weit weg vom Bild des mündigen Bürgers. Das ist zwangsgrüne Umerziehung, und das wird es mit den Freien Demokraten nicht geben.
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Wir wollen die Menschen durch attraktive ÖPNV-Angebote überzeugen, auch einmal auf eine Autofahrt zu verzichten, und nicht die grüne Moralkeule schwingen. Ich glaube, das ist auch der bessere Weg: Alternativen schaffen, gute Angebote schaffen. Komfort, Schnelligkeit und Service, das sind die Merkmale, die den ÖPNV attraktiv machen und die dafür sorgen, dass sich die Bürger für den ÖPNV entscheiden.
Ich will aber auch hinzufügen: Beim GVFG und auch bei anderen Bundesprogrammen stellt sich immer die grundsätzliche Frage, ob denn die Verlängerung einer Straßenbahnlinie wirklich eine Aufgabe ist, die der Bund in jedem Fall mitfinanzieren muss. Warum haben unsere Länder und Kommunen eigentlich nicht die finanzielle Kraft, aus eigenen Mitteln diese doch originären Aufgaben zu erfüllen?
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Ich glaube, wir könnten die gesamte Fördermittelbürokratie, über die wir uns alle hier ganz oft beschweren, deutlich reduzieren, wenn wir die Finanzkraft von Ländern und Kommunen stärken. Dann würde nämlich nicht vor allem gebaut, was mit Subventionen gefördert wird, sondern es würde gebaut, was gebraucht wird.
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Das wäre aus unserer Sicht in der langfristigen Perspektive der bessere Ansatz, um Steuergelder sinnvoll einzusetzen.
Herr Kollege Herbst, erlauben Sie eine Nachfrage aus der Fraktion Die Linke?
Gerne.
Bitte.
Herr Kollege Herbst, vielen Dank, dass Sie das zulassen, auch wenn das jetzt quasi eine nachgelagerte Zwischenfrage ist. Aber bei der Frage, ob die Kommunen das nicht selbst finanzieren könnten, bin ich etwas angetriggert gewesen. Ich komme aus Potsdam. Die Landeshauptstadt Potsdam profitiert vom starken Zuzug nach Berlin. Viele Menschen landen eben nicht in Berlin, sondern bei uns. Die Landeshauptstadt entwickelt gerade ein Wohngebiet, in dem perspektivisch über 10 000 Menschen wohnen sollen und das nur durch eine Straßenbahn sinnvoll angeschlossen werden kann.
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Daher hofft sie dringend auf die Mittel aus dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz. Wir reden über 300 Millionen Euro für eine Stadt mit 180 000 Einwohnern.
Bitte sagen Sie mir: Wie wollen Sie denn eine Kommune finanziell dauerhaft so ausstatten, dass sie ohne Unterstützungsprogramme des Bundes 300 Millionen Euro für ein Straßenbahnprojekt zur Erschließung eines Wohngebietes, das wir brauchen, weil viele Menschen von Potsdam aus nach Berlin fahren – nicht nur, weil es bei uns so schön ist –, investieren kann? Auch wenn es in Potsdam natürlich sehr schön ist, finde ich, dass es an dieser Stelle richtig ist, dass der Bund die Kommunen unterstützt, und zwar auch, wenn es originär eine kommunale Aufgabe sein mag. Denn eine Kommune könnte das niemals alleine stemmen, wie gesagt, 300 Millionen Euro bei 180 000 Einwohnern in der Landeshauptstadt. Das ist überhaupt nicht darstellbar. Genau dafür brauchen wir das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz. Ich glaube, es müsste sogar besser ausgestattet sein, als von der Bundesregierung jetzt beabsichtigt.
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Herr Kollege, in diesem Fall besteht sogar Konsens; denn bei Großprojekten in dieser Dimension ist eine finanzielle Unterstützung der Kommunen von außen notwendig. Aber Sie wissen auch: Wir haben die entsprechenden Grenzen im GVFG sehr stark abgesenkt, teilweise auf 10 Millionen Euro. Wenn ich mir die Größe des kommunalen Haushalts der Stadt Potsdam anschaue: Ganz ehrlich, wenn man eine Investition von 10 oder 12 Millionen Euro nicht selbst stemmen kann, dann macht man, glaube ich, etwas falsch.
Wir regen uns alle auf und wir haben viel diskutiert über Förderkriterien, über die Kompliziertheit der Verfahren, über die Dauer; denn erst müssen Anträge eingereicht werden, dann werden sie im Bundesministerium bearbeitet, bevor sie zurückgegeben werden. Wir müssen dafür sorgen, dass Verkehrsinvestitionen in Deutschland schneller auf den Weg gebracht werden. Bisher dauert alles viel zu lange.
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Vielen Dank, Herr Kollege Herbst. – Als nächster Redner hat der Kollege Andreas Wagner, Fraktion Die Linke, das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Liebe Bürgerinnen und Bürger! Verstopfte Straßen in den Städten sind nervig für alle: für die Anwohnerinnen und Anwohner genauso wie für diejenigen, die mit dem Auto im Stau stehen. Deshalb müssen wir den Verkehr anders organisieren.
Wenn wir Staus und den Autoverkehr reduzieren und so die Wohn- und Aufenthaltsqualität in den Städten und Gemeinden verbessern wollen, müssen wir Alternativen schaffen. Nur dann besteht die Möglichkeit zum Umsteigen. Das heißt: Wo es bereits ein Angebot mit Bus und Bahn gibt, muss dieses ausgebaut werden, damit zusätzliche Fahrgäste befördert werden können.
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Gleichzeitig dürfen wir die vielen Kommunen im ländlichen Raum nicht aus dem Blickfeld verlieren. Wir müssen uns um sie kümmern. Hier ist es vielerorts notwendig, überhaupt ein Angebot mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu schaffen. Die Menschen auf dem Land haben ein Recht darauf. Sie dürfen nicht vergessen werden.
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Den Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs können die Kommunen nicht alleine stemmen. Daher ist es gut, dass mit der Änderung des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes den Kommunen mehr Geld bereitgestellt wird, und das nicht nur einmalig, sondern langfristig. Das gibt den Kommunen mehr Sicherheit, die sie auch für die Personalplanung brauchen; denn ein zügiger Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs ist nicht nur eine Frage des Geldes, sondern auch von genug Personal in den Genehmigungsbehörden.
Der Schlüssel zur Mobilitätswende ist eine gute Verknüpfung verschiedener Verkehrsmittel. Wer auf dem Land auf ein Auto angewiesen ist, soll die Möglichkeit haben, auf dem Weg in die Stadt auf die Bahn umzusteigen. Deshalb ist es richtig Park-and-ride-Anlagen zu fördern. Gleichzeitig brauchen wir auch sichere Abstellanlagen für Fahrräder. Wir haben im Verkehrsausschuss beantragt, dass das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz entsprechend konkretisiert wird und auch Bike-and-ride-Anlagen gefördert werden. Leider wurde dies von der Regierungskoalition abgelehnt. Wir bleiben dabei: Aus unserer Sicht gehören Bike-and-ride-Anlagen zum Standard eines modernen Bahnhofs und entsprechend gefördert.
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Positiv ist, dass entgegen dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zukünftig auch Seilbahnen gefördert werden können, die im öffentlichen Personennahverkehr integriert sind. Positiv ist auch, dass bessere Bedingungen zur Förderung von Straßenbahnen ohne besonderen Bahnkörper aufgenommen werden. Beides haben wir im Ausschuss beantragt. Eine von uns angeregte Förderung von Oberleitungsbussen wurde dagegen nicht übernommen. Wenn es nach uns gegangen wäre, hätten wir die Fördermittel ab dem Jahr 2025 auf 3 Milliarden statt auf 2 Milliarden Euro erhöht. Das wäre möglich. 1 Milliarde Euro weniger in Militär- und Kriegsübungen stecken und stattdessen in die Bahn investieren, das wäre doch was.
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Mit dem heute zur Abstimmung stehenden Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz werden die Kommunen bei ihren Aufgaben im Verkehrssektor gestärkt. Auch wenn noch mehr möglich gewesen wäre: Die dringend notwendige Verkehrswende erhält damit einen kräftigen Schub, und das ist gut so.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Wagner. – Nächster Redner ist der Kollege Stefan Gelbhaar, Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Scheuer! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! „Opposition ist Mist“, wird gesagt. Und doch, mit einem Schmunzeln, möchte ich sagen: Auch aus der Opposition heraus lässt sich etwas bewegen, es dauert nur lange. Vor eineinhalb Jahren hat meine Fraktion hier einen Gesetzentwurf zum Gemeindeverkehr vorgelegt. Wir haben den Entwurf „Verkehrswendegesetz" genannt. Darüber stimmen wir heute ab.
Bis Ende 2019 gab der Bund jährlich nur 330 Millionen Euro für den ÖPNV aus, ein Dreiunddreißigstel des Geldes, das in Autobahnen und Bundesstraßen fließt. Das wird jetzt mehr. Bisher wurden mit diesen viel zu knappen Mitteln allerdings vor allem Großprojekte in großen Städten finanziert, und das muss sich ändern.
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Unser Verkehrswendegesetz fordert deshalb, dass mehr Bus- und Bahnprojekte in mehr Kommunen gefördert werden. Projekte in kleineren Städten wie Cottbus oder Celle sind genauso förderungswürdig.
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Kleinere Straßenbahnprojekte, O-Bus-Systeme oder Seilbahnen brauchen Förderung, damit sie realisiert werden können. Und nicht nur Neubau: Besonders die Grundsanierung bestehender Bahnsysteme lohnt sich. Das ist nachhaltig.
Projekte dürfen grundsätzlich nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen gefördert werden. Auswirkungen auf Umwelt-, Klima- und auch Gesundheitsschutz müssen künftig einfließen. Das, werte Bundesregierung, ist ein Arbeitsauftrag an Sie.
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Verkehrswende in Städten bedeutet nicht nur mehr Bus und Bahn. Es bedeutet auch bessere Infrastruktur für Rad und Fuß.
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Das bedeutet auch eine intelligente Verknüpfung zwischen den Verkehrsarten. Gute Verkehrspolitik muss all das zusammendenken. Deshalb müssen wir anfangen, uns gute, auch teure Fuß- und Radinfrastruktur zu leisten: Brücken als Abkürzungen, Fahrradparkhäuser, insbesondere an Bahnhöfen. In den Niederlanden ist das längst Standard. Diese Förderung braucht eine gesetzliche Grundlage.
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All das schlägt unser Gesetzentwurf vor. Deswegen fand er in der Expertenanhörung im Ausschuss breite Zustimmung.
Kurz vor Weihnachten hat die Bundesregierung selbst einen Gesetzentwurf vorgelegt, der einige unserer Forderungen übernimmt. Das ist eine Verbesserung, und deswegen werden wir zustimmen.
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Sie haben dabei allerdings etwa den Radverkehr, die O-Busse oder den Klimaschutz nur verwässert eingebracht oder gar abgelehnt. Daher verspreche ich Ihnen eines: Diese Punkte stehen allesamt spätestens in der nächsten Runde wieder auf der Tagesordnung.
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Meine Damen und Herren, ich möchte mit einer Aufforderung, meinetwegen auch einer Bitte schließen: Stimmen Sie zumindest dem Änderungsantrag zur Barrierefreiheit zu. Projekte, die nicht den Standards zur Barrierefreiheit entsprechen, dürfen einfach nicht mehr mit Bundesmitteln gefördert werden. Lassen Sie uns das gemeinsam im Gesetz klarstellen – damit die Verkehrswende alle mitnimmt.
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Vielen Dank, Herr Kollege Gelbhaar. – Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kollegen Michael Donth, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wäre Franz Beckenbauer nicht Fußballfunktionär, sondern für Kommunen und Länder zuständig, würde er heute womöglich fragen: Ja is denn heit scho Weihnachten? – Das, worüber wir heute abstimmen, meine Damen und Herren, ist allerdings mehr als ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk an Länder und Kommunen. Es ist ein Quantensprung für den öffentlichen Verkehr, ein Quantensprung für die Schiene. Wenn man die Mittel eines Bundesprogramms, das eigentlich, so war es vereinbart, 2019 hätte auslaufen sollen, nicht einstellt oder mit den bisher knapp 330 Millionen Euro jährlich fortführt, sondern bis 2025 auf 2 Milliarden Euro versechsfacht und danach mit 1,8 Prozent dynamisiert, dann darf man das mit Fug und Recht einen Quantensprung nennen.
Aber damit ist Weihnachten noch nicht vorbei. Mit dem Gesetz, über das wir heute abstimmen, wird der regelmäßige Förderanteil des Bundes von bisher 60 Prozent auf 75 Prozent, bei der Elektrifizierung sogar auf 90 Prozent gesteigert. Mit dem Gesetz wird die Mindestvorhabengröße je nach Fördertatbestand von bisher 50 Millionen auf 30 Millionen Euro, im Einzelfall sogar auf 10 Millionen Euro gesenkt. Und das Gesetz enthält die Anerkennung und Förderung der teuren Planungskosten. Vor allem aber fördern wir in Zukunft die Grunderneuerung, die bisher im Gesetz überhaupt nicht enthalten war. Denn unser erklärtes Ziel mit dem Deutschland-Takt ist die Verdoppelung der Fahrgastzahlen. Damit müssen wir auch sicherstellen, dass neben der noch zu errichtenden auch die vorhandene Infrastruktur gut in Schuss ist. Dafür benötigen wir aber auch gute Verknüpfungen, integrale Taktknoten, die einen barrierefreien Umstieg vom Auto, Bus oder Fahrrad ermöglichen. Auch diese Knoten wollen wir fördern.
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Dass wir diese Weihnachtsgeschenke heute verteilen können, verdanken wir natürlich zunächst dem Steuerzahler; das wurde schon angesprochen. Es ist aber auch Ergebnis einer langen Diskussion mit Experten von Verbänden, Ländern, Kommunen und auch mit den Vertretern der Opposition. Sie alle finden sich mit ihren Forderungen – Kollege Gelbhaar hat das unterstrichen – im heute zur Beschlussfassung anstehenden Gesetz wieder; natürlich nicht zu 100 Prozent, aber alle finden sich wieder. Ganz besonders möchte ich mich zuerst bei unserem Bahnbeauftragten Enak Ferlemann und seinem Team und bei meinem – morgen aus dem Bundestag ausscheidenden – Kollegen Martin Burkert und bei Detlef Müller für die gute Zusammenarbeit als Berichterstatter bedanken.
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Gemeinsam ist es uns gelungen, einen guten Gesetzentwurf noch zu verbessern. Wir senken die Anforderungen an den sogenannten besonderen Bahnkörper und werden somit auch Projekte wie innerstädtische Trassen beispielsweise bei der Regionalstadtbahn in meinem Wahlkreis Reutlingen, in Tübingen, liebe Annette Widmann-Mauz, und anderswo, wo die Altstadtbebauung einen eigenen Bahnkörper nicht zulässt, ermöglichen. Wir senken die Hürden für die Grundsanierung, und wir sorgen dafür, dass auch Mobilitätsformen wie Seilbahnen die Chance bekommen, als Teil des ÖPNV die Straßen zu entlasten.
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Dabei schütten wir die Mittel nicht mit dem Füllhorn aus, sondern es muss volkswirtschaftlich Sinn machen.
Als Bundestagsabgeordneter, als Bahnberichterstatter meiner CDU/CSU-Fraktion, aber vor allem auch als Kommunalpolitiker bin ich – Sie merken das vielleicht – von diesem Gesetz schlichtweg begeistert; denn wir stellen nicht nur mehr Geld bereit. Wir schaffen mit dem neuen GVFG die Voraussetzungen für einen modernen, klima- und kundenfreundlichen Schienenpersonennahverkehr. Das größte Weihnachtsgeschenk – um im Bild zu bleiben – machen wir daher den Pendlern und solchen, die es noch werden sollen. Wir entlasten – das ist der zweite Bestandteil – die Städte und Gemeinden deutlich.
Der Ball – um bei Franz Beckenbauer zu bleiben – liegt nun im Feld von Ländern und Kommunen, in deren Verantwortlichkeit die Anmeldung der Projekte liegt und die nun mit der Planung loslegen können. Wie gesagt, auch die Planungskosten haben wir in die Förderung aufgenommen. Wir werden genau hinschauen, ob es womöglich Unsicherheiten bei der Bewilligung von Projekten gibt, die vielleicht durch den Erlass von Verwaltungsvorschriften beseitigt werden können, wie es der Bundesrechnungshof angeregt hat. Wenn nötig, müssen wir hier nachsteuern.
Zusammengefasst: Ich bin begeistert. Stimmen Sie zu!
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Donth. – Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Detlef Müller, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir alle – fast alle – wollen einen starken öffentlichen Personennahverkehr als Rückgrat der Verkehrswende. Wir wollen mehr Angebote im Nahverkehr, Taktverdichtungen und bessere Qualität. Dafür schaffen wir mit dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz, einem wirklichen Juwel, die Voraussetzungen. Das Gesetz wird endgültig entfristet. In den mittelfristigen Wirtschaftsplänen – auch meines kommunalen Verkehrsunternehmens – konnte man in den vergangenen Jahren immer lesen: Risiko – Auslaufen des GVFG oder zurückgehende Mittelbereitstellung. – Das ist vorbei. 6,6 Milliarden Euro, davon 4,6 Milliarden Euro zusätzlich, bis in das Jahr 2025, das ist die Summe, die wir als Bund zur Verfügung stellen. Wir erhöhen die Förderquoten in Teilen bis zu 90 Prozent und senken auch Förderhöhen ab. Und wir ermöglichen bis 2030 die Förderung von Grunderneuerung von Straßenbahnen, U- und S-Bahnen, flächendeckend; denn durch die Absenkung der Förderhöhe beim besonderen Bahnkörper – Herr Donth sprach das an – können auch Maßnahmen in den Innenstädten finanziert werden, wo sich Straßenbahnen, Autos und Radfahrer die Straße nun einmal teilen müssen, weil es die Bebauung nicht anders zulässt. Dadurch profitieren nicht nur Berlin, Hamburg und München, sondern auch Gera, Mainz, Krefeld, Essen, Leipzig und Chemnitz. Es geht eben nicht nur um die Großstädte.
Wir senken auch den Grenzwert für die Förderfähigkeit der Maßnahmen auf 10 Millionen Euro pro Maßnahme ab und schaffen die Beschränkung auf Ballungsräume ab. Damit sind diese Förderungen erstmals flächendeckend in ganz Deutschland nutzbar. Durch die Gesetzesnovelle lassen sich zentrale Omnibusbahnhöfe, Seilbahnsysteme im ÖPNV, Park-and-ride-Parkplätze, Umsteigeknoten finanzieren, Strecken reaktivieren, Strecken elektrifizieren.
Dass die AfD die Förderung von Straßen gegen die Förderung der Schiene ausspielen will, zeugt von ihrer Unkenntnis.
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Über das GVFG lässt sich seit der Föderalismusreform 2007 keine kommunale Straßeninfrastruktur mehr fördern, da dies Aufgabe der Länder ist. Die Länder wollten das, und die Länder machen das. Die Länder bekommen dafür seit 2007 pro Jahr über 1,3 Milliarden Euro Entflechtungsmittel vom Bund. Im Übrigen investiert der Bund pro Jahr knapp 8 Milliarden Euro in die Fernstraßeninfrastruktur, auch weiter wachsend.
Zum Schluss ein Dank für die gute Zusammenarbeit an alle beteiligten Kolleginnen und Kollegen aus der Koalition, besonders an meinen leider ausscheidenden Kollegen Martin Burkert, aber auch für die kritischen und hilfreichen Hinweise aus den Reihen von FDP, Linken und Bündnis 90/Die Grünen. Wir haben als Parlament aus einem Rohdiamanten, dem Gesetzentwurf der Bundesregierung, einen schön geschliffenen Edelstein gemacht.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Müller. – Damit schließe ich die Aussprache.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Ein Tagesordnungspunkt zur Wiedergutmachung im Staatsangehörigkeitsrecht, das hört sich zunächst einmal wie eine kleine Sache an, die nur wenige Menschen betrifft, und eigentlich ist es auch so. Aber es geht um mehr: Es geht um die Frage, ob wir nach den vielen wichtigen Reden, die hier gestern gehalten worden sind, auch Taten folgen lassen, ob wir handeln. Deswegen ist dieser Punkt, den wir heute hier besprechen, so zentral und so wichtig.
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Das Gedenken an die Untaten des Nationalsozialismus gehört zu uns, gehört zu Deutschland, gehört zur Staatsräson und ist zugleich Herzenssache. Deswegen habe ich mich mit anderen auch für den Vorschlag von Esther Bejarano ausgesprochen, dem Erinnern durch einen bundesweiten Feiertag am 8. Mai Raum zu geben.
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Das kollektive Erinnern ist Ausdruck unseres Respekts für diejenigen, die unter den Nazis gelitten haben. Es ist aber auch für uns selbst, für unser demokratisches, freies Gemeinwesen so unfassbar wichtig, zu erinnern, nicht zu vergessen und zu handeln.
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Es darf niemals zu einem Satz wie folgendem kommen: Diese schlimme Zeit ist nun überwunden, wir können einen Schlussstrich ziehen. – Nein, einen Schlussstrich gibt es nicht. Die Aufarbeitung der Verbrechen bleibt.
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Die Aufarbeitung der Verbrechen bleibt und ist eben auch Auftrag. Wir können nicht ausblenden, worum es dabei im Grundsatz geht, und eben auch nicht, worum es gerade heute in der einen Frage beim Staatsangehörigkeitsrecht geht. Es geht um Menschen, die von den Nazis verfolgt wurden, es geht um ihre Nachfahren. Von der diskriminierenden Einbürgerungspraxis waren vor allem Jüdinnen und Juden betroffen, ihre Nachfahren waren betroffen, Sinti und Roma und auch andere. Dass diese Nachfahren von NS-Verfolgten heute wieder in Deutschland leben und leben wollen, ist und bleibt ein wahnsinnig großes Geschenk. Das können wir nicht oft genug sagen.
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Ganz real aber bedeutet es für sie eben auch jeden Tag alltägliche Anstrengung, im Land der Täter zu leben und sich damit auseinanderzusetzen, nicht zuletzt wegen des alten und des neuen Antisemitismus, nicht zuletzt wegen Hass, wegen Hetze, wegen Gewalt, die sie zu ertragen haben, meine Damen und Herren, wie die jüdische Autorin Mirna Funk anlässlich des diesjährigen Gedenktages formulierte:
… man wird antisemitischen Vorurteilen ausgesetzt, und zwar wöchentlich. Man muss sich … zu Israel verhalten, man fragt sich, ob die eigenen Ängste … in irgendeiner Weise mit alten Traumatisierungen der Vorfahren zu tun haben.
Ich bin all denjenigen von Herzen dankbar, die sich entscheiden, in Deutschland, in unserem Land zu leben und ihm nicht den Rücken zu kehren. Auch deswegen haben wir den Auftrag zum Handeln, heute und hier.
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Das Erinnern muss das Handeln im Heute leiten. Michael Groys, der sich selbst als jüdischer Aktivist versteht, formulierte es diese Woche im Deutschlandfunk so:
Wer Juden helfen will, muss konkrete Maßnahmen tun. … Nicht empören, … nicht Bagel essen, nicht Klezmer hören, sondern mit ganz konkreten nüchternen Handlungen.
Darum geht es heute hier. Das ist unser Auftrag.
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Wenn wir von Wiedergutmachung im Staatsangehörigkeitsrecht sprechen, bedeutet es nicht, dass wir die deutschen Verbrechen vergessen machen können. Unser Gesetzesvorschlag ist keine Antwort auf NS-Unrecht, sondern es ist eine praktische Maßnahme von anderen.
Ich persönlich sehe den Begriff „Wiedergutmachung“ in diesem Kontext und überhaupt übrigens sehr kritisch. Ich leite daraus vor allem eines ab: Es geht nicht um Wiedergutmachung. Das, was geschehen ist, können wir Deutschen niemals wiedergutmachen. Es geht darum, dass wir Verpflichtungen haben, es geht darum, dass wir ganz klar machen müssen: Diese Menschen können wir nicht noch mit wahnsinniger Verwaltung, mit Bürokratie und mit schwierigen Verfahren konfrontieren. Darum geht es heute und hier.
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Diejenigen in der Exclusions Group, die sich für die Wiedereinbürgerung von Menschen einsetzen, denen die Nazis die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen haben oder die sie unter Verfolgungsdruck aufgeben mussten, sind heute zum Teil hier, und ich freue mich sehr, dass sie da sind. Herzlichen Dank dafür!
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Die Gespräche mit den Mitgliedern der Gruppe haben immer wieder ergeben, welche Ungerechtigkeiten der Artikel 116 Absatz 2 Grundgesetz in der Praxis immer noch mit sich bringt. Er schließt eben weiterhin ganze Gruppen von dem gesetzlichen Einbürgerungsanspruch aus. Deswegen haben wir im vergangenen August ein Gesetz eingebracht, das diese Lücken schließen soll. Für NS-Verfolgte und ihre Nachfahren darf die Einbürgerung keine Bitte sein. Es ist ihr gutes Recht. Darum geht es.
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Das Problem ist lange bekannt. Die Bundesregierung hat übrigens auch reagiert, auf Druck von außen und von innen, aus dem Parlament.
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Aber sie hat mit Erlassen reagiert, und so ein Erlass – das wissen wir alle – ist etwas, was man sehr schnell zurücknehmen kann. Das ist eben kein Gesetz. Bei einem Erlass gibt es übrigens auch keinen Rechtsweg. Deswegen sagen wir: Wir brauchen ein Gesetz.
Wir bitten Sie von Herzen: Stimmen Sie zu, dass es das Recht gibt, dass es ein Gesetz gibt, dass es Klarheit für diejenigen gibt, die in unserem Land leben wollen, leben können, die sich dafür entschieden haben, die uns dieses Geschenk machen und die wir nicht mit Bürokratie konfrontieren sollten, die wir nicht mit weiteren Schwierigkeiten konfrontieren sollten. Ich finde, das muss eigentlich selbstverständlich sein.
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Es ist auch etwas, bei dem ich sage: Das kann man nicht mit Verwaltungsvorschriften lösen. Es ist ein Thema, bei dem ich übrigens finde, dass wir es hier nicht in Konfrontation miteinander besprechen sollten. Das zeigt auch, dass Sie sich längst auf den Weg gemacht haben. Aber wir könnten gemeinsam heute hier ein eindeutiges, ein klares Zeichen setzen. Das ist meine Bitte. Deswegen sage ich: Stimmen Sie zu! Es ist ein Recht, es ist ihr gutes Recht, und es ist gut für unser Land, für den Zusammenhalt, den wir hier so wichtig finden.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Göring-Eckardt. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Mathias Middelberg, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir teilen in ganz weiten Punkten Ihre Einschätzungen, Ihre Darlegungen, die Sie eben hier geäußert haben, Frau Göring-Eckardt. Es darf ja nicht umsonst sein, dass wir wie auch gestern hier Gedenktage veranstalten, dass wir des großen Unrechts gedenken, das wir Deutsche vor allem gegenüber dem jüdischen Volk verübt haben. Dann muss es auch so sein, dass wir die konkreten Konsequenzen ziehen.
Ich bin ganz ausdrücklich damit einverstanden, wenn Sie sagen, dass der Begriff „Wiedergutmachung“ in diesem Zusammenhang kein geeigneter Begriff sei. Über alle diese Dinge sind wir, glaube ich, einig; da wird es zwischen uns keinen Streit geben. Trotzdem kommt mir das, was wir so machen – ich sage das ganz ehrlich –, ein wenig wie eine Scheindebatte vor.
Sie haben eben davon gesprochen, es gehe darum, ein Recht einzuräumen oder einen Anspruch auf gesetzlicher Basis einzuräumen, und das sei nun das Entscheidende. Da sind wir tatsächlich anderer Meinung. Sie haben eben gesagt, es müsse jetzt gehandelt werden. Ich kann nur feststellen: Es wird längst gehandelt, nämlich seit August letzten Jahres. Da hat die Bundesregierung – das haben Sie in einem Nebensatz auch erwähnt – tatsächlich gehandelt, nämlich zwei Erlasse verkündet, die genau die Problemfelder behandeln, die bisher bei der Anwendung des Artikel 116 Absatz 2 unzureichend behandelt wurden, für die keine konkreten Regelungen getroffen waren.
Das waren vor allen Dingen Fälle, in denen insbesondere Juden nicht formell ausgebürgert worden sind, sondern aus Deutschland geflohen sind, was sie damals tun mussten. Sie sind in andere Länder gegangen und haben durch den Erwerb der dortigen Staatsangehörigkeit beispielsweise die deutsche Staatsangehörigkeit verloren. Das hat es ihnen schwer gemacht und macht es ihnen auch heute schwer, die deutsche Staatsangehörigkeit wieder zu erwerben.
Dafür aber – darin sind wir uns auch einig – muss es eine Lösung geben; sie gibt es auch schon. Die Aufforderung, jetzt müsse einer handeln, jetzt müsse die Bundesregierung etwas tun, Frau Göring-Eckardt, geht, ehrlich gesagt, ins Leere; denn die Bundesregierung handelt schon seit August letzten Jahres, und das will ich hier noch einmal ausdrücklich feststellen.
Allen, die so betroffen sind, wie Sie es beschrieben haben, wird geholfen. Da sind eine Menge von Sondergruppen zu nennen und zu behandeln. All die sind in diesen Erlassen erfasst. Mit diesen Erlassen haben wir auf dem verwaltungsrechtlichen Wege jetzt viel schneller handeln können, und wir können auf dem verwaltungsrechtlichen Wege auch sehr viel flexibler handeln.
Das erkennen wir an dem einen oder anderen besonderen Fall. Es gab zum Beispiel eine Einbürgerung von Danzigern in das Deutsche Reich. Dabei hat man aber jüdische Mitbürger in Danzig nicht eingebürgert. Das ist eine Spezialgruppe, die quasi nicht ausgebürgert wurde, die ihre Staatsangehörigkeit nicht verloren hat. Sie wurden gar nicht eingebürgert, obwohl sie damals eigentlich einen Einbürgerungsanspruch gehabt hätten.
Auch diese Sondergruppen sind jetzt durch die Regelungen erfasst, die wir getroffen haben. Da gibt es überhaupt keine Beschränkungen. Es hätte auch auf die Verfahren überhaupt keinen Einfluss, wenn wir das jetzt durch ein Gesetz regeln würden. Es würde überhaupt keinen Unterschied machen.
Auch Sie haben in Ihrem Gesetzesvorschlag formuliert, dass ein Wiedergutmachungsinteresse gegeben sein muss, und haben dafür Regelbeispiele genannt. Den unbestimmten Rechtsbegriff des Wiedergutmachungsinteresses müssten wir auch durch Verwaltungsvorschriften oder durch Verwaltungspraxis auslegen. Das heißt, wir wären dann genau an dem Punkt, an dem wir jetzt schon sind, und bei dem, was wir jetzt schon abgearbeitet haben: Wir müssten nämlich dazu Verwaltungsvorschriften und Erlasse entwickeln. Das heißt, wir wären mit Ihrem Gesetz am Ende keinen Schritt weiter. Wir wären kein Jota weiter. Es würde überhaupt keinen Unterschied machen.
Ich würde von keinem verlangen, dass er Jura studiert; das will ich auch keinem zumuten.
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– Finde ich auch. Ich habe es auch genossen. – Aber Sie lernen im Jurastudium relativ bald, dass es so etwas wie eine Ermessensbindung der Verwaltung gibt. Die entsteht entweder dadurch, dass die Verwaltung bestimmte Fälle immer wieder in gleicher Weise behandelt, oder die besteht durch eine – ich sage mal: vorweggenommene – Verwaltungspraxis, die man in Verwaltungsvorschriften oder beispielsweise in Erlassen festlegt. Wenn die Verwaltung dann aber so gebunden ist – Stichwort: Ermessensreduzierung auf null –, dann entwickelt sich dadurch für den Betroffenen ein Rechtsanspruch. Das heißt, wir haben materiell hier die gleiche Rechtslage geschaffen, die wir hätten, wenn wir jetzt Ihr Gesetz beschließen würden.
Ich sage es einmal ganz offen: Die Aufforderung „Ihr müsst handeln!“ ist völlig richtig. Ich sage dazu nur: Wir haben längst gehandelt. Deswegen brauchen wir auch nichts mehr zu ändern.
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Genau das ist die Situation. Alle Sonderfälle – ich könnte noch auf alle möglichen Fälle eingehen – sind behandelt.
Was noch ein großes Problem ist – das ist jetzt der eigentliche Haken an der Sache –: Die Verfahren dauern relativ lange; die dauern ziemlich lange. Das ist das eigentliche Problem. Ich habe die Information leider nicht im Detail, aber das Auswärtige Amt stockt in den Auslandsvertretungen meines Wissens personell auf, um die Fälle besser und schneller behandeln zu können. Vor allen Dingen haben wir im Parlament mit dem letzten Haushalt festgelegt, dass das Bundesverwaltungsamt gerade im Bereich der Prüfungen in Staatsangehörigkeitsverfahren 50 zusätzliche Stellen bekommt. 50 zusätzliche Stellen! Davon werden die meisten, jedenfalls ein großer Teil, in genau den Verfahren eingesetzt, um die es jetzt geht.
Also, ich sage Ihnen ganz offen: Diesem sehr konkreten und auch wichtigen Problem – das haben Sie zu Recht, Frau Göring-Eckardt, geschrieben: das ist ein wirklich wichtiges Thema – stellen wir uns mit den angemessenen gesetzgeberischen Möglichkeiten und mit dem angemessenen und aufgestockten Personal. Ich glaube, das ist eine gute Lösung. Das sollten wir den Menschen auch so erzählen und es auch so vermitteln. Wir sollten nicht immer den Eindruck vermitteln, als wäre die Rechtslage schlecht und als hätten sie keinen Anspruch. Sie haben einen Anspruch. Die Verwaltungspraxis ist gefestigt, und die Verwaltung ist an die Anwendung der gesetzlichen Regelungen gebunden.
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Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Middelberg. – Als nächstem Redner erteile ich dem Kollegen Dr. Christian Wirth, AfD-Fraktion, das Wort.
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Herr Präsident! Werte Kollegen! Vorab möchte ich im Rahmen der Behandlung des Themas Staatsangehörigkeit, Herr Professor Krings, die Bundesregierung bitten, sich des Falles der russlanddeutschen Frau aus Germersheim, Rheinland-Pfalz, anzunehmen, die nächste Woche mit ihren beiden Kindern abgeschoben werden soll, obwohl bereits ihre Eltern als Russlanddeutsche in Deutschland gelebt haben. Der Fall ist relativ absurd.
Die Abstammung ist nach der Familie wohl das wichtigste Identifizierungsmerkmal des Menschen in der zivilisierten Welt. Sie ist das Bindeglied zu den Wurzeln eines Menschen, zur Sprache, Kultur, Geschichte, sinngebend für eine Solidargemeinschaft auf allen politischen und gesellschaftlichen Ebenen einer Nation und somit die wichtigste Grundlage für die Staatsangehörigkeit. Das Staatsangehörigkeitsrecht ist ein zentraler Aspekt der staatlichen Ordnung; denn dieses definiert das Staatsvolk und stellt das rechtliche Band dar, das den Bürger mit seinem Staat verbindet.
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Die Ausbürgerung bedeutet ähnlich wie der Verstoß aus der Familie den Verlust wesentlicher Identifikationsmerkmale, mit denen ein Mensch aufwächst. Kein Wunder, dass der Nationalsozialismus sich während seiner Schreckensherrschaft auch des Mittels der Ausbürgerung bediente, bei Menschen, die nicht in ihr verqueres Weltbild passten.
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Ebenso wenig ist es ein Wunder, dass die sozialistische Diktatur der DDR dieses Mittel gegen unliebsame Bürger von den Nationalsozialisten übernahm.
Zwar bestimmt Artikel 116 Absatz 2 des Grundgesetzes, dass frühere deutsche Staatsangehörige, denen die Staatsangehörigkeit aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen entzogen worden ist, und ihre Abkömmlinge auf Antrag wieder einzubürgern sind. Allerdings ist diese Regelung nicht nur sprachlich ungenau, sie wirft auch rechtliche Fragen auf, da die Einbürgerung nach alten überkommenen Regelungen erfolgt, die bei Frauen und Männern und deren Abkömmlingen je nach Ehestatus zu unterschiedlichen Regelungen führen kann.
Konkret bedeutet das Rechtspostulat der Kausalität der Ausbürgerung nämlich, dass Abkömmlinge im Sinne des Grundgesetzes die ehelichen und legitimierten Kinder und Kindeskinder ausgebürgerter Männer sind sowie die nichtehelichen sowie nach Durchsetzung der Gleichberechtigung geborenen ehelichen Kinder und Kindeskinder ausgebürgerter Frauen. Umgekehrt erbt aber ein nichteheliches Kind nicht die Deutscheneigenschaft seines Vaters, und ein früheres eheliches Kind, dessen Vater kein Deutscher war, nicht die Deutscheneigenschaft seiner Mutter.
Sicher reden wir nicht mehr von sehr vielen Geschädigten, aber solche Ungerechtigkeiten müssen 75 Jahre nach Ende der NS-Herrschaft beseitigt werden, während leider der Trend bei dem DDR-Unrecht dahin geht, das Unrecht zu leugnen.
Da stellt sich natürlich die Frage, warum die Bundesregierung, die sonst gar nicht genug Staatsbürgerschaften verteilen kann, bei diesem Thema so viel Zurückhaltung zeigt. Wir haben vorhin vielleicht einen Grund gehört. Andererseits sagt die Bundesregierung:
Die Bundesregierung weist darauf hin, dass die Überlegungen zu einer sachgerechten Lösung wegen der Komplexität dieser Problematik noch nicht abgeschlossen sind.
Aus diesem Grunde ist der Antrag der FDP, die Bundesregierung zu einem Gesetzentwurf aufzufordern, bereits ein untaugliches Mittel.
Aber auch inhaltlich bleibt der Antrag schwammig und handwerklich schlecht gemacht. Hier soll es auch um die Ehegatten ausgebürgerter deutscher Staatsbürger gehen, die „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die deutsche Staatsangehörigkeit erworben hätten“. Dieser Gummiparagraf schließt auch all jene ein, die nie deutsche Staatsbürger waren und nie Interesse an einer Einbürgerung hatten. Da es hier konkret auch um deren Abkömmlinge gehen soll, was bei gemeinsamen Abkömmlingen mit dem deutschen Partner ja hinfällig ist, führt dies zu unsinnigen Realitäten:
Eine Frau, sagen wir, eine Britin, die einen geflüchteten Deutschen geheiratet hat und nach der Trennung oder nach dessen Tod Kinder mit jemand anderem hatte, könnte auf diesem Wege diesen den Anspruch auf eine Einbürgerung vererben. Das wäre vielleicht nicht Ihre Absicht, wäre aber die absurde Folge Ihrer Forderung.
Die Linkspartei weist in ihrem Gesetzentwurf auf einen oft übersehenen Sonderfall hin, nämlich die Fälle all derer, die zwar nie formell ausgebürgert, aber von Masseneinbürgerungen ausdrücklich ausgenommen wurden, so zum Beispiel die Juden der Stadt Danzig. Allerdings ist die folgende Ausweitung auf alle „nach 1933 angeschlossenen … Gebiete“ dann doch problematisch. Nimmt man Ihren Entwurf so an, wie er hier steht, entsteht ein Paradoxon: Bestimmte Gruppen wie Juden, Sinti und Roma, die in Österreich lebten und mit dem Anschluss von der deutschen Staatsangehörigkeit ausgenommen wurden, würden ein Recht auf Einbürgerung erhalten, obwohl sie nie eine deutsche Staatsbürgerschaft hatten. Österreicher, die mit dem Anschluss die deutsche Staatsbürgerschaft erhielten, sie aber 1945 natürlich wieder verloren haben, nicht – mindestens ein Grenzfall des Gleichbehandlungsgebotes.
Schließlich verzichten Sie auf die formellen Voraussetzungen des § 8 des Staatsangehörigkeitsgesetzes und fordern keinerlei Bindung an Deutschland für die Abkömmlinge, sodass bei Ihnen eine gewisse Beliebigkeit bei der Einbürgerung zu befürchten ist.
Kommen wir also zum Gesetzentwurf der Grünen, und – das wird Sie überraschen – den finden wir gut. Lobenswert sind der explizite Verweis auf § 8 Staatsangehörigkeitsgesetz als Voraussetzung für die Einbürgerung und eine ausdrücklich geforderte Bindung an Deutschland für nicht in Deutschland geborene Abkömmlinge.
Zwar ist fraglich, ob die Geburt alleine schon ausschlaggebend sein soll, wenn das gesamte Berufsleben im Ausland stattfand, aber die Zahl der Fälle sollte überschaubar sein. Immerhin entschärft die Vorgabe der Bindung an Deutschland auch das Österreich-Problem, was vor absurden Folgen, wie sie sich aus dem Antrag der Linken ergeben, schützt.
Wir werden deshalb dem Antrag der Grünen zustimmen. Auch wenn wir wissen, dass man uns nicht mit derselben Fairness begegnen wird, sind wir fairerweise bereit, einen sinnvollen Antrag auch ohne Ansehen der Partei mitzutragen.
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Darüber hinaus begrüßen wir es, dass die drei anderen Oppositionsparteien offenbar das Abstammungsprinzip in Sachen Staatsbürgerschaft wieder für sich entdeckt haben, nachdem sie es jahrzehntelang verteufelten. Die Grünen haben es im Jahr 2000 sogar mit abgeschafft.
Herzlichen Glückwunsch zur Besserung und ein genauso herzliches Willkommen im Kreis der Vernünftigen, zumindest in dieser Frage.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Helge Lindh, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zwei Fragen und zwei Geschichten scheinen mir im Mittelpunkt zu stehen.
Zwei Fragen. – Erste Frage: Was bedeutet es, wenn Nachfahren von NS-Verfolgten, insbesondere jüdische Nachfahren, Deutsche werden wollen? Ich denke, es ist nicht nur eine riesige Gnade für uns, es ist auch ein ungeheurer Akt des Verzeihens und des Vertrauens in uns, den wir gar nicht hoch genug würdigen können,
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gerade in einer Situation, in der Jüdinnen und Juden in diesem Land zwar nicht auf gepackten Koffern sitzen, aber doch angesichts des steigenden Antisemitismus die Koffer wieder vom Speicher geholt haben, was uns allen zu denken geben sollte.
Die zweite Frage, die mir bei dem Thema Staatsangehörigkeit und hier bei dieser aktuellen Frage wichtig erscheint, ist: Wer ist deutsch? Denn mit der Staatsangehörigkeit gibt sich ein Land ein Selbstbild, definiert unzweifelhaft, wer im Sinne der Staatsangehörigkeit dazugehört und wer nicht; das ist einschließend und ausschließend.
Unser Verständnis als SPD-Fraktion ist, dass das Staatsangehörigkeitsrecht generell einen Akzent aufs Inklusive, aufs Einschließen haben sollte. Es kann gerade bei dem betroffenen Personenkreis, aber auch insgesamt nicht unser Ziel sein, dass Menschen, die sich mit dem Land identifizieren und die Staatsangehörige werden sollten, dauerhaft sehr hohe Hürden ertragen müssen. Wir sollten Menschen dafür belohnen, dass sie Deutsche werden wollen, und sie nicht bestrafen.
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Der Alltag der Einbürgerungswilligen zeigt generell, dass die Praxis von nichtwilligen Ausländerbehörden oft von dem Gefühl eines Bestrafens getragen ist. Da ist noch viel Arbeit zu leisten.
Wir haben aber auch zwei Geschichten. Die eine Geschichte ist die der politischen Regelungen: Gesetzgebung, Rechtsverordnung, Erlass. Wir als Koalition haben uns erst einmal aus Gründen des Pragmatismus und eindeutig auch der Geschwindigkeit entschieden, den Erlassweg zu gehen. Gleichzeitig sage ich – das haben wir als SPD auch immer offen formuliert –, dass unser generelles Ziel durchaus eine gesetzgeberische Lösung ist, wir aber erst abwarten wollen, was die Erlasse ergeben, und uns genau anschauen wollen, welche Fälle erfasst werden: Gibt es Nachsteuerungsbedarf?
Wenn wir alle ehrlich miteinander sind, stellen wir fest, dass auch die durchaus sehr guten Gesetzentwürfe Lücken haben, dass es auch dort blinde Flecken gibt und es auch, wie die Anhörung zeigte, Personengruppen gibt, die nicht umfassend erfasst sind, was es noch dringlicher macht, erst einmal abzuwarten und nicht einfach diesen Gesetzentwürfen zuzustimmen. Also: erst einmal der Erlassweg und dann schauen, was gesetzgeberisch möglich ist. Aber ich danke ausdrücklich – ich finde, das ist bei dieser Debatte geboten – nicht nur dem Koalitionspartner, sondern auch den Grünen und Linken, dass sie das Thema aufgebracht haben.
Ich erlaube mir aber – so kennen Sie mich – eine kleine, winzige kritische Anmerkung. Im Antrag der Grünenfraktion steht, dass die Koalition erst nach dem großen medialen Aufkommen und nach dem Gesetzentwurf der Grünen gehandelt habe. Ich glaube, wir brauchen nicht diese Form der Belehrung und des Hinweises. In diesem Punkt wären ein bisschen weniger grüne Selbstgewissheit und ein Hauch mehr Zurückhaltung und Demut angebracht gewesen.
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Generell aber stimmen wir bei dem Ziel und der Erkenntnis, wie wichtig es ist, mit dem Staatsangehörigkeitsrecht Menschen zu erfassen, die bisher nicht durch Artikel 116 Absatz 2 berücksichtigt wurden, völlig überein.
Jetzt komme ich aber zu der eigentlichen Geschichte, die mir wichtig erscheint. Worüber reden wir? Heinrich Heine schrieb 1828 als herausragender deutscher Jude über Emanzipation, und nicht nur über Juden-Emanzipation. Er schrieb Folgendes:
Es ist die Emanzipation. Nicht bloß die der Irländer, Griechen, Frankfurter Juden, westindischen Schwarzen und dergleichen gedrückten Volkes, sondern es ist die Emanzipation der ganzen Welt, absonderlich Europas, das mündig geworden ist und sich jetzt losreißt von dem eisernen Gängelbande der Bevorrechteten, der Aristokratie.
Das ist so wichtig, damit wir erkennen, dass diejenigen und deren Nachkommen, um die es hier geht, nicht Fremde sind – das wollten die Nationalsozialisten erreichen –, sondern sie waren zutiefst Teil von uns und unserer Geschichte.
Weil das Stichwort „Aristokratie“ mich jetzt dazu verleitet: Unter denen, deren Nachfahren verfolgt wurden, waren zum Beispiel auch James und Agnes Simon, deutsche Juden, die im deutschen Kaiserreich das Kaiserhaus immens unterstützt haben, aber auch Stützen der Weimarer Demokratie waren und die in ungeheuerlicher Weise Kunstschätze dem deutschen Staat überlassen, geschenkt haben. Ihre Nachfahren sind, trotz allem, was sie erlebt haben, dabei geblieben. Diese Haltung und diese Bescheidenheit ist etwas, an dem sich zum Beispiel die Hohenzollern ein Beispiel nehmen könnten.
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Es gibt aber auch noch einen anderen Fall, jemanden, der beispielhaft ist für die Personen und deren Nachfahren, über die wir sprechen. Sein Name ist Samuel Steilberger. Er war Bandweber, kam als Arbeitsmigrant aus Langenberg nach Elberfeld. Zwölf Kinder hatte er. Er war kein Intellektueller. Er war ein ganz normaler Jude dieser Zeit, und er war ein ganz normaler Deutscher dieser Zeit; das war ganz selbstverständlich. Diejenigen aber, die dann seine Nachfahren aus der Staatsangehörigkeit ausschließen wollten, konstruierten eine Geschichte, die nie eine war. Dieser Samuel Steilberger freute sich riesig, als seine Kinder und seine Enkelkinder Musikunterricht bekommen konnten – diese Chance hatte er nie – und als er zum Ende seines Lebens die Chance hatte, eine Wohnung mit Balkon zu beziehen. Seine Gedanken waren die eines gewöhnlichen Deutschen.
Also frage ich an dieser Stelle: Wer ist deutsch? Dieser Samuel Steinberger war und ist deutsch. Er gehörte und gehört zu uns, und seine Nachfahren gehören zu uns. Wir sind sie, und sie sind wir.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Lindh. – Nächster Redner für die FDP-Fraktion ist der Kollege Stephan Thomae.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und verehrte Kollegen! Meine Damen und Herren! Am gestrigen Tag haben wir hier im Plenum des Deutschen Bundestages in einer bewegenden Feierstunde an die Opfer des Nationalsozialismus erinnert. Heute geht es darum, ein Stück Wiedergutmachung zu versuchen; das Problem mit diesem Wort ist schon mehrfach erwähnt worden. Wie kann man Unrecht in dieser Weise wiedergutmachen? Aber es ist doch beschämend, dass noch Rechtszustände andauern, in denen Unrecht, das durch Nationalsozialisten hervorgerufen worden ist, immer noch andauert.
Ein solcher kleiner Punkt, der manchem vielleicht wie eine Fußnote erscheinen mag, ist in der Tat ein Problem im Staatsangehörigkeitsrecht. Es gilt immer noch: Wir müssen das Problem beseitigen, dass Menschen, denen die Staatsangehörigkeit durch die Nationalsozialisten entzogen worden ist oder die die deutsche Staatsangehörigkeit wegen des Unrechts der Nationalsozialisten nicht erwerben konnten, immer noch ausgeschlossen sind oder es ihnen erschwert wird, die deutsche Staatsangehörigkeit zu erwerben.
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Was wie eine kleine Fußnote erscheinen mag, ist für manche Menschen ein wichtiger Punkt. Es geht vor allem darum, dass wir den Anspruch erfüllen, dass dieses Unrecht beseitigt wird. Es handelt sich um einen Punkt von nicht zu unterschätzender Symbolkraft. Aus diesem Grunde genügt es uns nicht, dass nur durch zwei Erlasse der Bundesregierung die Möglichkeit, die deutsche Staatsangehörigkeit zu erwerben, erleichtert wird. Vielmehr sollten wir im Plenum des Deutschen Bundestages, wo wir uns in historischer Verantwortung mit diesen Fragen beschäftigen, diesen Punkt debattieren, und das tun wir heute im Rahmen dieses Tagesordnungspunktes, meine Damen und Herren.
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Das Problem besteht darin, dass sowohl die beiden Erlasse des Bundesinnenministeriums als auch die beiden Gesetzentwürfe der Grünen und der Linken nicht völlig lückenlos jenen Zustand wiederherstellen, der herrschen würde, wenn durch nationalsozialistisches Unrecht nicht die Staatsangehörigkeit entzogen oder der Erwerb erschwert worden wäre. Kollege Middelberg hat solche Fälle schon genannt.
Es geht darum, dass Menschen, die nicht formal ausgebürgert worden sind, die aber noch rechtzeitig vor Beginn des Zweiten Weltkrieges aus Deutschland fliehen konnten, eine andere Staatsangehörigkeit annahmen und deswegen die deutsche Staatsangehörigkeit verloren. Es geht um die sogenannten Danziger Juden, also Menschen, die eingebürgert worden wären, wenn auch Juden nach Beginn des Zweiten Weltkriegs in den eroberten Gebieten eingebürgert worden wären. Und es geht um Ehegatten, die Deutsche hätten werden können, wenn ihr Ehepartner nicht ausgebürgert worden wäre oder die Staatsangehörigkeit Deutschlands verloren hätte.
Das sind Lücken, die nach wie vor bestehen und die auch durch die Erlasse des BMI und die Gesetzentwürfe der Grünen und der Linken nicht vollständig beseitigt werden. Als Verbesserung haben die Grünen – allerdings erst gestern – einen Antrag eingebracht, der diese Lücke schließt. Genau der Punkt ist im Antrag der FDP enthalten. Ich empfehle Ihnen, den Antrag der FDP anzunehmen; denn er beseitigt alle Lücken, fügt keine weiteren Voraussetzungen, wie etwa Sprachkenntnisse, besondere Deutschlandbezüge, ein, und es ist keine Examinierung notwendig, um Kenntnisse in der deutschen Rechtsordnung, Gesellschaftsordnung und dergleichen nachzuweisen.
Der Antrag der FDP ist der Antrag, der genau jenen Zustand lückenlos und ohne weitere Voraussetzung wiederherstellt, der gelten würde, wenn es das Unrecht der Nationalsozialisten nicht gegeben hätte. Deswegen, meine Damen und Herren, empfehle ich Ihnen diesen Antrag der FDP heute zur Annahme.
Vielen Dank.
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Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke für die Fraktion Die Linke.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Für Die Linke ist ganz klar: Menschen, deren Vorfahren wegen NS-Unrecht die deutsche Staatsangehörigkeit verloren haben, haben einen Wiedergutmachungsanspruch. Deutschland muss in die Pflicht genommen werden, ihre Einbürgerungsanträge positiv zu bescheiden, ohne Wenn und Aber.
Dass wir hier überhaupt über dieses Thema reden, verdanken wir vor allem der überzeugenden Arbeit der Betroffenengruppe. Ich möchte mich hier insbesondere bei Nick Courtman und Felix Couchman bedanken,
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und ich möchte sie heute auf der Besuchertribüne begrüßen. Sie haben auf zahlreiche Fälle hingewiesen, in denen Deutsche aufgrund der Verfolgung durch die Nazis ihre Staatsbürgerschaft verloren haben und von den Wiedereinbürgerungsgarantien des Grundgesetzes ausgeschlossen sind. Das gilt zum Beispiel, wenn Frauen, die vor den Nazis flohen, im Exil einen ausländischen Mann heirateten. Damit verloren sie automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit. Das Gleiche gilt, wenn sie sich vom Aufnahmeland einbürgern ließen.
Ich habe zahlreiche Schreiben von Betroffenen bekommen, zum Beispiel von Katherine Scott. Sie lebt heute in den USA. Vor einigen Jahren beantragte sie die deutsche Staatsbürgerschaft. Ihr Antrag wurde abgelehnt; denn ihre Mutter, so schrieb das Konsulat, habe Deutschland ja mit einem deutschen Pass verlassen und erst durch die Heirat mit einem Engländer die deutsche Staatsbürgerschaft verloren. Außerdem liege ihre Einbürgerung nicht im deutschen Interesse, so das Konsulat. Das ist wirklich der Gipfel an Kaltherzigkeit.
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Das Gleiche erlebt Peter Guillery, der heute in England lebt. Sein Vater galt als Halbjude. Er floh mit seiner Mutter 1939 nach England, wo er später britischer Staatsbürger wurde. Damit habe er freiwillig auf die deutsche Staatsbürgerschaft verzichtet, hieß es bei der Ablehnung seines Einbürgerungsantrags. Selbst schuld, so das zynische Fazit der deutschen Behörden.
So, meine Damen und Herren, ging es Hunderten von Antragstellern. Ich möchte hier unmissverständlich klarstellen: Nein, diese Menschen waren nicht selbst schuld, dass sie ihre deutsche Staatsbürgerschaft verloren haben. Schuld war Nazideutschland und niemand sonst.
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Die Bundesregierung hat im Übrigen mit Erlassregelungen – wir haben es heute schon gehört – einige kritische Punkte aus dem Weg geräumt. Nur, Kollege Middelberg und auch Kollege Lindh: Die Erlasse des Innenministeriums enthalten noch Lücken bei der Wiedergutmachung, und sie sind auch politisch unzureichend. – Deswegen sagen wir: Wir brauchen nicht nur Erlasse, sondern wir brauchen ein Gesetz mit einem klaren Rechtsanspruch.
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In unserem Gesetzentwurf fordern wir, auch jene Menschen zu berücksichtigen, deren Vorfahren zum Teil jahrzehntelang in Deutschland gelebt haben, aber wegen antisemitischer Ressentiments nicht eingebürgert wurden.
Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Daniel Eisenberg, 28 Jahre alt. Sein Großvater wurde 1913 in Hannover geboren als Sohn eines staatenlosen galizischen Juden. Der Großvater hat 26 Jahre lang in Deutschland gelebt, im Pelzhandel gearbeitet, Steuern gezahlt. Aber als sogenannter Ostjude hatte er keine reelle Chance auf Einbürgerung, schon gar nicht nach 1933. Kurz vor Kriegsbeginn floh er nach Großbritannien. Sein Enkel, Daniel Eisenberg, möchte Deutscher werden, hier arbeiten und hier leben. Aber die Erlassregelungen geben es nicht her, dass er eingebürgert wird.
Wie absurd das ist, zeigt ein Vergleich. Die Nachfahren deutschsprachiger Juden, die im besetzten Polen von den Sammeleinbürgerungen deutschstämmiger Einwohner ausgeschlossen wurden, können heute zu Recht ihre Einbürgerung beantragen, obwohl sie nie im Deutschen Reich gelebt oder gearbeitet haben. Aber für Leute wie Daniel Eisenberg, dessen Großvater mitten aus Deutschland stammte und vor den Nazis fliehen musste, gilt das nicht. Die Erlassregelungen gelten auch nicht für Betroffene, die mittlerweile wieder in Deutschland leben – Nick Courtman, der heute hier ist, ist so ein Beispiel –; denn dafür sind die Länder zuständig, und der Bund hat keine Weisungsbefugnis.
Das zeigt: Die Erlassregelungen führen das unübersichtliche Flickwerk der bisherigen Regelung fort. Zudem versprechen sie lediglich eine – Zitat – „wohlwollende Handhabung“ der Einbürgerungsanträge. Es geht aber darum, dass wir den Betroffenen einen Rechtsanspruch gewähren. Die Linke findet: Die Nachfahren von NS-Opfern verdienen nicht Gnade, sondern Recht, und dafür brauchen wir ein Gesetz.
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Deutschland ist in der Bringschuld. Es muss Wiedergutmachung leisten, wo immer sie möglich ist, und zwar bedingungslos.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Michael Kuffer das Wort.
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Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Dieser Tage befinden wir uns in Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus. Das NS-Regime hat unaussprechliches Leid über die Menschheit gebracht. Es hat verfolgt, entrechtet, gemordet. Die Gedenkstunde in dieser Woche hat uns dieses Verbrechen wieder einmal in aller Deutlichkeit vor Augen geführt. Wir sind uns jeden Tag der Verantwortung bewusst, dafür Sorge zu tragen, dass sich das Geschehene nicht wiederholt, dass es nicht in Vergessenheit gerät und, ja, dass den Betroffenen Wiedergutmachung zuteilwird. Diese Verantwortung leitet uns; sie leitet uns in den verschiedenen Bereichen unserer Arbeit und natürlich auch in diesem Fall.
Ich möchte Ihnen als Berichterstatter der Unionsfraktion für das Staatsangehörigkeitsrecht im Namen der ganzen Fraktion in aller Deutlichkeit sagen: Deutschland muss und wird seiner historischen Verantwortung gegenüber denjenigen gerecht werden, die als Nachfahren deutscher Verfolgter des NS-Regimes staatsangehörigkeitsrechtliche Nachteile und zum Teil himmelschreiendes staatsangehörigkeitsrechtliches Unrecht erlitten haben. Das steht außer Frage. Das gilt auch und besonders für Menschen, deren Eltern oder Großeltern aus Deutschland flüchten mussten.
Da es in der Vergangenheit Fälle gab, in denen nicht alle Betroffenen – es sind ja hier eine Reihe von Fällen aus der Praxis genannt worden – von der in Artikel 116 Absatz 2 Grundgesetz vorgesehenen Regelung umfasst wurden, wonach frühere deutsche Staatsangehörige, denen zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 durch NS-Unrecht die Staatsangehörigkeit entzogen wurde, auf Antrag wieder einzubürgern sind, hat das Bundesinnenministerium bereits im August vergangenen Jahres mittels einer Erlassregelung eine Regelung geschaffen, um den Betroffenen schnell, unmittelbar geltend und vor allem unbürokratisch helfen zu können. Der Bedarf war unstrittig; er wurde erkannt, und er wurde aus unserer Sicht behoben.
Nun ist eine Debatte um die rechtstechnische Umsetzung dieser Lösung – Erlass oder Gesetz? – entstanden. Ich will noch mal sagen: Im Hinblick auf die inhaltlichen Folgen ist klar – das haben uns auch die Experten in der Anhörung im Oktober vergangenen Jahres so bestätigt –, dass dies keine Frage der Rechtsstellung ist. Die Rechtsstellung der Betroffenen, die die notwendigen Voraussetzungen erfüllen, wird durch die Frage „Erlass oder Gesetz?“ in keiner Weise berührt.
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Im Gegenteil: Dazu bietet die Verwaltungsvorschrift Flexibilität, konkrete Fallkonstellationen zu formulieren, und schafft dadurch aus unserer Sicht letztlich mehr Rechtssicherheit. Wenn hier immer wieder davon gesprochen wird, dass ein Gesetz eine höhere Rechtssicherheit schafft, weil man Verwaltungsregelungen jederzeit wieder zurücknehmen kann, dann kann ich nur noch mal an das erinnern, was Kollege Middelberg hier vorgetragen hat: Sie übersehen dabei den Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung. In den Fällen, in denen das Ermessen auf null reduziert wird, ist eine stabile Bindung an diese Regelung gegeben.
Es ist ebenfalls zu Recht darauf hingewiesen worden, dass, wenn wir jetzt einen unbestimmten Rechtsbegriff einführen, indem wir ein Wiedergutmachungsinteresse als Tatbestandsvoraussetzung normieren, dieser ganze Bereich natürlich von den Verwaltungsgerichten ausgelegt werden müsste. Die nähere Ausgestaltung müsste trotzdem in einer Rechtsverordnung erfolgen. Insofern glauben wir, dass durch eine gesetzliche Regelung anstelle des Status quo keine Verbesserung erreicht werden würde, sondern eher eine Verzögerung und vielleicht auch zunächst eine Erschwerung. Insofern sind wir der Meinung, dass hier kein Regelungsbedarf besteht.
Danke schön.
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Das Wort hat Dr. Lars Castellucci für die SPD-Fraktion.
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Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Uns liegen heute mehrere Anträge zur Wiedergutmachung im Staatsangehörigkeitsrecht vor. Dabei geht es – man muss wirklich sagen: noch immer – um Menschen, denen in der Nazizeit die Staatsangehörigkeit entzogen wurde oder die sie beispielsweise auf der Flucht verloren haben, oder um ihre Nachkommen.
Ich will für die SPD-Fraktion zunächst sagen, dass der Begriff der Wiedergutmachung in diesem Zusammenhang wirklich ein schwieriger Begriff ist. Es wurden Menschen aus der Gemeinschaft ausgestoßen; sie wurden zur Flucht gezwungen. So etwas kann man nicht wiedergutmachen. Ich denke, es geht vielmehr um unsere besondere Verantwortung, um unsere Verpflichtung diesen Menschen und ihren Nachkommen gegenüber.
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Eigentlich gibt unser Grundgesetz einen klaren Auftrag: In Artikel 116 heißt es:
Frühere deutsche Staatsangehörige, denen zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 die Staatsangehörigkeit aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen entzogen worden ist, und ihre Abkömmlinge sind auf Antrag wieder einzubürgern.
In der Praxis – das ist dargestellt worden – gibt es aber eine Vielzahl von Gruppen, die nicht berücksichtigt sind. Darin sind unter anderem die Erwähnten enthalten, die die Staatsangehörigkeit besessen haben, sich aber auf die Flucht begeben haben, bevor sie ihnen entzogen werden konnte. Ein weiteres, wie ich finde, besonderes Beispiel ist: Wenn die Eltern nicht miteinander verheiratet waren und nur die Mutter Deutsche war, nach alter Rechtsprechung aber der Vater die Staatsangehörigkeit weitergibt, dann bleibt das Kind ohne den Anspruch auf die deutsche Staatsangehörigkeit. Das ist bis heute der Fall.
Wenn Sie mich also fragen, ob ich glaube, dass wir mit dem, was wir bisher auf den Weg gebracht haben, unserer besonderen Aufgabe, unserer besonderen Verpflichtung den Menschen gegenüber in ausreichendem Maße nachgekommen sind, dann muss ich Ihnen sagen: Ich bin dieser Auffassung nicht. Ich glaube, es braucht einen Rechtsanspruch für die Betroffenen.
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Ich vermute auch, dass es weitere Personengruppen gibt, die von den Erlassen nicht erfasst sein werden.
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Wir sind also wahrscheinlich einen wichtigen Schritt gegangen – das ist dargestellt worden –; aber wir sind gewiss noch nicht am Ziel. Darüber war in der Koalition aber keine Einigkeit zu erzielen. Deswegen muss ich Sie für heute um Geduld bitten, da wir zunächst die Wirkung dieser Erlasse auswerten werden. Das Thema bleibt auf der Tagesordnung, und wenn es weiteren Handlungsbedarf gibt, dann werden wir es erneut besprechen.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, in den letzten zehn Jahren gab es 30 000 Einbürgerungsanträge von in diesem Zusammenhang Betroffenen. Die Grünen haben in ihrem Antrag dazu geschrieben – ich zitiere daraus –:
Dass eine so große Zahl an Nachkommen von während der NS-Diktatur Verfolgten und zur Emigration Gezwungenen heute wieder deutsche Staatsangehörige werden wollen, sollte Deutschland mit Dankbarkeit erfüllen.
Das hat Frau Göring-Eckardt heute so ähnlich in ihrer Rede formuliert. Ich denke, dem kann man nur aus vollem Herzen zustimmen.
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Ich glaube ganz generell, darin liegt auch der Schlüssel. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sollten uns freuen, wenn jemand Deutscher sein oder Deutscher werden will.
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Ganz offensichtlich ist die Freude darüber nicht gleich verteilt in diesem Haus; sonst könnte es doch nicht so schwierig sein, noch ein paar Veränderungen an unserem Staatsangehörigkeitsrecht vorzunehmen.
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Ich möchte anschließen an das, was mein Kollege Lindh hier vorgetragen hat: Wann ist man denn Deutscher? Unser Grundgesetz sagt: Deutscher ist, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. – In Deutschland leben rund 21 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund; mehr als die Hälfte von ihnen besitzt den deutschen Pass. In Deutschland leben vielleicht 4 bis 5 Millionen Muslime; fast die Hälfte von ihnen besitzt den deutschen Pass. Ich möchte Sie fragen: Glauben Sie, dass diese Personen im Alltag als Deutsche angesehen werden? Ich habe gerade mit Praktikantinnen und Praktikanten hier im Deutschen Bundestag gesprochen. Da wurde mir unter anderem vermittelt: Wenn wir von „wir“ sprechen, wissen sie zum Teil nicht, ob sie sich angesprochen fühlen können oder sogar angesprochen fühlen müssen. – Ich denke, solange das noch so ist, haben wir in Fragen des gesellschaftlichen Zusammenhalts noch eine ganze Menge zu tun.
Viele müssen sich immer wieder fragen lassen, wo sie eigentlich herkommen. Ferda Ataman hat darüber ein Buch geschrieben mit dem Titel „Ich bin von hier: Hört auf zu fragen!“. Auch der Titel zeigt: Wir haben noch viel zu tun, wenn es um den gesellschaftlichen Zusammenhalt geht.
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Konkrete Beispiele sind Diskriminierungen im Alltag, beispielsweise bei der Suche nach einer Wohnung oder auf dem Arbeitsmarkt. Oder man unterstellt Menschen, dass sie, wenn sie ihre Wurzeln nicht verbergen oder verheimlichen wollen, sich nicht ganz zu uns bekennen und nicht ganz dazugehören wollen. Ich finde, Johannes Rau hat recht gehabt, als er vor 20 Jahren gesagt hat:
Es kommt nicht auf die Herkunft des Einzelnen an, sondern darauf, dass wir gemeinsam die Zukunft gewinnen.
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Für diesen Satz müssen wir heute noch eine ganze Menge tun.
Über 100 000 Menschen wurden 2018 eingebürgert. Ich finde, meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist eine gute Nachricht. Wir sollten mit der Staatsangehörigkeit nicht zu großzügig sein; wir dürfen streng sein. Ist man als Deutscher in Wuhan und von einem neuen Virus betroffen, dann müssen wir diesen Menschen ausfliegen. Als Staat haben wir Pflichten gegenüber unseren Staatsbürgern.
Umgekehrt – das hat auch der Bundespräsident gestern zum Ausdruck gebracht – gilt, dass wir von den Menschen, die bei uns eingebürgert werden wollen, etwas verlangen, nämlich nicht weniger, als dass – ich zitiere – „die Lehren aus unserer Geschichte … zum Selbstverständnis aller Deutschen gehören“ müssen; „denn Verantwortung im Hier und Heute tragen wir alle!“ Ich denke, das ist gestern sehr gut zum Ausdruck gekommen.
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Darin kommt auch der hohe Anspruch zum Ausdruck, den wir mit dem Bekenntnis zu unserem Land verbinden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, unser Thema ist auf Wiedervorlage. Nutzen wir die Zeit für das öffentliche Gespräch darüber, was „dazugehören“ bedeutet und wie gutes Zusammenleben gelingen kann! Nur so schaffen wir die Basis für ein wirklich gutes Staatsangehörigkeitsrecht. Wir können im Leben nicht alles wiedergutmachen, aber wir können versuchen, die Dinge immer wieder von Neuem gut zu machen.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Axel Müller für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich auf die Anträge bzw. Gesetzentwürfe der Fraktionen der FDP, der Grünen und der Linken etwas näher eingehe, möchte ich ein paar allgemeine Gedanken zur Staatsangehörigkeit formulieren.
Die Staatsangehörigkeit ist Ausfluss der Staatsbürgerschaft. Als Staatsbürger habe ich Rechte und Pflichten. Den Pflichten versuchen sich sowohl dem rechten Spektrum zuzurechnende Reichsbürger wie auch linken Ideologien anhängende sogenannte Weltbürger gerne zu entziehen.
Im Personalausweis ist die Staatsangehörigkeit ein identitätsstiftendes Merkmal. Für überzeugte Europäer und Unionsbürger, als die wir uns im Schengenraum über die nationalstaatlichen Grenzen hinweg frei bewegen, rückt die Zugehörigkeit zu einem Nationalstaat immer mehr in den Hintergrund. Für die Bürgerinnen und Bürger des Vereinigten Königreichs hat sie mit Blick auf den übermorgen in Kraft tretenden Brexit eine ganz andere Bedeutung gewonnen, wenn sie aufgrund ihrer britischen Staatsangehörigkeit ihre Unionsbürgerschaft und damit auch die Freizügigkeit verlieren.
Das dürfte für einen Teil der Einbürgerungsanträge aus diesem Teil Europas, deren Zahl gestiegen ist, mit ursächlich sein. Während es 2015 gerade mal 43 Anträge waren, schnellte die Zahl nach dem Brexit-Referendum auf 684 nach oben, um in 2018 mit 1 506 Anträgen einen neuen Höhepunkt zu erreichen. Mit diesen Zahlen will ich aber keinesfalls – ich möchte nicht missverstanden werden – die Ernsthaftigkeit der gestellten Anträge anzweifeln. Vielmehr zeigt das nur, dass die Entwicklung immer neue Beispiele und Fallkonstellationen hervorbringt.
Dies und die Thematik der heutigen Debatte haben allesamt damit zu tun, dass wir auch 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, der von Nazideutschland begonnen wurde, immer noch mit den Folgen und rechtswidrigen Entscheidungen dieses Unrechtsstaates befasst sind. Dieses Unrecht setzt sich an den Nachkommen der Verfolgten und Entrechteten fort. Allen Versuchen, hier einen Schlussstrich zu ziehen, erteile ich daher in Übereinstimmung mit der Kollegin Göring-Eckardt eine klare Absage.
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Dieser Verantwortung wollten sich auch die Väter und Mütter unseres Grundgesetzes stellen, indem sie Artikel 116 Absatz 2 formulierten und in ihn ausdrücklich hineingeschrieben haben, dass gerade Personen, „denen zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 die Staatsangehörigkeit ... entzogen worden ist“, und ihren Nachkommen, die Möglichkeit gegeben wird, auf Antrag eine Wiedereinbürgerung zu bekommen.
Zugleich haben sie aber in Artikel 16 Grundgesetz einen Riegel vorgeschoben. Er sorgt dafür, dass die deutsche Staatsangehörigkeit nicht entzogen werden darf, wenn ansonsten eine Staatenlosigkeit droht. Dies gilt aktuell bei den zurückkehrenden deutschen IS-Kämpfern und -Unterstützern, wenn diese ansonsten staatenlos würden. Auch dieser Bürgerinnen und Bürger unseres Staates muss sich dieser Staat annehmen.
Abstrus ist allerdings ein Vorschlag, der einmal aus den Reihen der Linken gekommen ist und der besagte, dass man deutschen Unternehmern, die sich, um weniger Steuern zahlen zu müssen, im Ausland niedergelassen haben, die Staatsangehörigkeit bzw. ihren Pass entziehen müsste. Überraschend ist das allerdings nicht, wenn man sich daran erinnert, dass ihre Vorgängerpartei unliebsame Staatsbürger einfach ausgebürgert hat.
Die Verfasser des Grundgesetzes wollten den Entrechteten einen Teil der ihnen geraubten Identität mit den genannten Artikeln zurückgeben. Das muss auch unsere Richtschnur bei der Frage sein, wer aus diesem Personenkreis einzubürgern ist.
Wie sich im Laufe der Zeit herausstellte, hat Artikel 116 Grundgesetz bei Weitem nicht alle möglichen und denkbaren Fälle erfasst. Das hat der Kollege Dr. Thomae mit den Beispielen, die er hier vorgetragen hat, deutlich gemacht. Allerdings: Eine Lückenlosigkeit mit einer jetzt erlassenen gesetzlichen Regelung herstellen zu wollen, halte ich dann doch für einen überhöhten Anspruch. Es gibt viele solcher Fallkonstellationen, und es kommen immer noch neue hinzu. Das verlangt eben nach Flexibilität, und diese Flexibilität gewährleisten die genannten Erlasse des Bundesinnenministeriums.
Gesetze, statisch, wie sie nun einmal sind, verlangen stets nach einer Neufassung. Ich glaube, dem wird das Ganze nicht gerecht, zumal die Erlasse, wie gesagt wurde, anspruchsbegründenden und die Verwaltungsbehörden bindenden Charakter haben.
Sämtliche von der Opposition vorgelegte Anträge setzen auf Gesetze. Man könnte das als Actus contrarius bezeichnen – das habe ich bereits ausgeführt –; man muss ein Gesetz aber so machen, dass es handwerklichen Gesetzmäßigkeiten gerecht wird. Das wird der Gesetzentwurf der Linken nicht; er spricht von einem Wiedergutmachungsinteresse, ohne das näher zu definieren, und das bedeutet, dass der Gesetzentwurf unbestimmt ist.
Abschließend rufe ich Ihnen zu: Halten wir es in dem Fall mit Montesquieu:
Kollege – –
„Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen, dann ist es notwendig, kein Gesetz zu machen.“
Ich bedanke mich.
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Zu ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag erhält nun die Kollegin Sandra Maria Bubendorfer-Licht für die FDP-Fraktion das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In zahlreichen Veranstaltungen haben wir in den letzten Tagen und Wochen der Shoah gedacht. Bis heute fällt es mir persönlich – so wird es vielen gehen – immer noch schwer, zu begreifen, wie Menschen anderen Menschen derart abscheuliche Grausamkeiten antun konnten.
Bei den Reden, Berichten und Erzählungen der Überlebenden lässt es mich schaudern. Die Aussage „Nie wieder!“ ist keine Parole und kein Slogan; es ist unsere Verpflichtung aus einer – das sage ich aus tiefster Überzeugung – historischen Schuld.
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Diese Schuld werden wir niemals begleichen können. Wir können nur daran arbeiten, sie, so gut es geht, wiedergutzumachen.
Dies war auch die Motivation der Mütter und Väter des Grundgesetzes für Artikel 116 Absatz 2. Damit haben sie die Grundlage zur Wiedergutmachung für das Unrecht geschaffen, das Menschen wiederfahren ist, denen aus diskriminierenden, politischen, rassischen oder religiösen Gründen die deutsche Staatsbürgerschaft durch das nationalsozialistische Unrechtsregime entzogen wurde.
Es ist richtig und wichtig, dass wir als Parlament eine umfassende Wiedergutmachung ermöglichen. Lange genug hat es gedauert.
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Unser Ziel muss es sein, allen, denen Unrecht widerfahren ist, und deren Nachfahren so weit wie möglich Wiedergutmachung zu leisten. Das kann leider nicht in allen Bereichen gelingen. Viele Folgen des Nationalsozialismus sind unumkehrbar. Bezüglich der Staatsangehörigkeit kann es nun aber endlich gelingen, und zwar auf Betreiben der FDP-Fraktion.
Meine Damen und Herren, eine ehrlich gemeinte Wiedergutmachung kann niemals an Voraussetzungen geknüpft sein.
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Aber von welchen Menschen sprechen wir hier eigentlich? Wir sprechen von Menschen, die die deutsche Staatsangehörigkeit dadurch verloren haben, dass sie ihre Heimat zurückließen, um sich und ihre Familie vor nationalsozialistischer Verfolgung zu retten. Wir sprechen von Menschen, denen die deutsche Staatsangehörigkeit aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen von den Nazis verweigert wurde. Wir sprechen aber auch von Menschen, die aufgrund einer völlig überholten Rechtsauffassung von der Gleichheit der Geschlechter die Staatsangehörigkeit in der Bundesrepublik noch nicht erhalten haben.
Auch in der Bundesrepublik ist es uns bisher nicht gelungen, das nationalsozialistische Unrecht in Bezug auf Staatsangehörigkeiten wiedergutzumachen. Wie großartig ist es dann erst, wenn wir heute mit genau diesem Recht auf Staatsbürgerschaft belegen können, dass das völkische Gedankengut – zumindest beim größten Teil in diesem Haus – endgültig überwunden ist und es nie, nie wieder Maßstab von politischen Entscheidungen sein darf!
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Philipp Amthor für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Wiedergutmachung des Unrechts des Nationalsozialismus ist für uns nicht nur in diesen Tagen, sondern seit der Konstituierung und seit der Konstitutionalisierung unseres Staates eine originäre Verpflichtung. Dass darüber Einigkeit herrscht und dass wir deswegen größtmögliche Offenheit für Einbürgerungswünsche von Nachfahren der NS-Opfer haben müssen, ist ein gutes, ein notwendiges und gemeinsames Zeichen dieser Debatte, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Es ist wichtig, dass wir uns, um Klarheit in dieser Frage zu gewinnen, auch den Geist der Verfassung vor Augen führen. Über Artikel 116 Absatz 2 des Grundgesetzes ist heute schon verschiedentlich gesprochen worden. Es war eine ganz bewusste Entscheidung der Mütter und Väter des Grundgesetzes, dort einen Anspruch auf Wiedergutmachungseinbürgerung für die Opfer des Nationalsozialismus zu verankern. Dabei liegt dieser Norm, Artikel 116 Absatz 2 des Grundgesetzes, das klare Verständnis zugrunde, dass die Ausbürgerungsmaßnahmen des NS-Regimes Unrechtsakte par excellence und damit von Anfang an nichtig waren.
Dieser unerträgliche Widerspruch zur Gerechtigkeit, wie man es in der Radbruch’schen Formel formulieren würde, muss aufgelöst werden. Aber schon damals war den Müttern und Vätern des Grundgesetzes klar, dass das nicht mit zwei Sätzen in der Verfassung gehen wird, sondern dass es dafür eine nähere Präzisierung braucht, dass wir eine praktisch handhabbare Spezifizierung dieses Wiedereinbürgerungsanspruches brauchen.
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Dass das aktuell ist, haben wir anhand der Zahlen gesehen, über die wir diskutiert haben: Sie sind von 43 Anträgen in 2015 auf 1 500 Anträge in 2018 gestiegen, auch bedingt durch das Brexit-Referendum. Aber für uns ist klar – auch wenn hier ein scheinbarer Widerspruch aufgezeigt werden sollte –: Wir wollen auf diesen gestiegenen Anspruch reagieren, und wir wollen das mit einer handhabbaren Lösung tun. Genau das hat das Bundesinnenministerium mit seinen Erlassen zur Auslegung von § 14 des Staatsangehörigkeitsgesetzes auch getan. Denn wenn hier behauptet wird, es gebe keinen gesetzlichen Anspruch auf Wiedereinbürgerung, dann ist das falsch. Die Erlasse selbst sind nicht die Grundlage der Wiedereinbürgerung, sondern sie konkretisieren § 14 des Staatsangehörigkeitsgesetzes.
Ich will deutlich machen: Wir haben einen gesetzlichen Anspruch, und das ist auch gut so. Hier einen Widerspruch zu erwecken, führt in die Irre, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Nun ist der Vorschlag der Opposition, mit einem neuen § 15 des Staatsangehörigkeitsgesetzes einen gänzlich neuen Wiedereinbürgerungsanspruch, eine neue Norm, zu schaffen. Das wird dann hier als weiter gehendere Lösung, als größerer Gewinn für die Betroffenen verkauft. Ich will aber sagen, auch nach dem Eindruck der Anhörung, die wir im Innenausschuss hatten: Das ist kein Gewinn für die Betroffenen. Für diejenigen, die als Nachfahren der Opfer des Nationalsozialismus wieder eingebürgert werden wollen, ist nicht die Frage entscheidend, ob das indirekt über das Verwaltungsinnenrecht passiert oder direkt durch einen neuen Anspruch, sondern entscheidend ist, dass es passiert. Genau dafür haben wir eine schnelle Regelung getroffen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Es ist wichtig, dass unsere Lösung nicht nur schneller ist – die Erlasse des Bundesinnenministeriums gelten schon seit einem halben Jahr, während wir hier noch diskutieren –, sondern sie ist auch rechtssicherer. In der Anhörung des Innenausschusses haben die Verwaltungsrechtsprofessoren Hailbronner und Kluth das ausdrücklich erklärt. Die Regelung, die Sie vorschlagen, schafft nämlich einen neuen auslegungsbedürftigen Rechtsbegriff in § 15 des Staatsangehörigkeitsgesetzes. Das führt erst mal nicht zu mehr, sondern zu weniger Rechtssicherheit; denn Sie werden Verwaltungsverfahren haben, in denen Verwaltungsgerichte in 16 Bundesländern diesen neuen Rechtsbegriff neu auslegen müssen. Das finden wir nicht überzeugend. Wir knüpfen an einen schon jetzt bestehenden gesetzlichen Anspruch in § 14 an. Das ist schneller, das ist rechtssicherer, und das ist der richtige Weg für die Praxis und auch für die Betroffenen, weil er konkret hilft, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Für uns ist entscheidend: Wie müssen wir hier reagieren? Es geht nicht um die Frage „Erlass oder Gesetz?“, es geht auch nicht nur um Gesetzestechnik, sondern es geht darum, dass wir eine Lösung brauchen, die verantwortungsvoll ist, die schnell ist, die rechtssicher und einheitlich ist und die unserer historischen Verantwortung gerecht wird. Genau das hat die Bundesregierung mit dem Bundesinnenministerium vorgelegt. Das ist der richtige Weg, und dafür treten wir ein, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Ich schließe die Aussprache.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorhin haben wir über das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz geredet. Da ging es vor allem um den Bau, die Sanierung, den Ausbau, den Neubau unserer regionalen Infrastruktur. Jetzt geht es um ein weiteres ziemlich großes Begriffsmonster, nämlich das Fünfte Gesetz zur Änderung des Regionalisierungsgesetzes. Was heißt das? Für alle, die nicht zu den Feinschmeckern, zur verkehrspolitischen Community gehören: Wir sorgen für mehr Geld für den Betrieb von Bussen und vor allem Bahnen – das betrifft den Großteil des Geldes – in den Regionalverkehren vor Ort. Aktuell stellen wir den Bundesländern die Rekordsumme von 8,65 Milliarden Euro jährlich zur Verfügung. Die Bundesebene schafft jetzt mehr Chancen für besseren Regionalverkehr, für die Bestellung von wichtigen Regionalverkehren vor allem für die Pendlerinnen und Pendler, aber auch zur besseren Anbindung der Fläche an die städtischen Regionen. Wir geben damit Chancen, die die Bundesländer jetzt ergreifen können.
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Bei der Abstimmung über das Dritte Gesetz zur Änderung des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes, über das wir vorhin debattiert haben, haben die Koalition, die Grünen und die FDP zugestimmt; die Linken und die Grünen haben sich enthalten. – Sie haben jetzt die Möglichkeit, angesichts von so viel Geld diesem Gesetzentwurf zuzustimmen.
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Warum machen wir das?
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Weil wir im Rahmen des Klimapakets für dieses Jahr noch einmal zusätzlich 150 Millionen Euro drauflegen. Zwischen 2020 und 2031 fließen zusätzlich zu den jährlichen 8,6 Milliarden Euro – Rekordniveau – noch einmal insgesamt 5,2 Milliarden Euro an die Bundesländer, damit sie diese wichtigen Regionalverkehre bestellen können. Das ist wirklich eine tolle Botschaft für die Fahrgäste, für die Bürgerinnen und Bürger.
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Wir appellieren nicht nur an die Menschen, umzusteigen, damit im Verkehrsbereich die Klimaziele erreicht werden können, sondern vor allem unterfüttern wir das jetzt mit richtig Geld, und zwar nicht für den Bau, sondern auch für den Betrieb. Unser Ziel ist, die Zahl der Fahrgäste zu verdoppeln. Das gilt nicht nur für den Fernverkehr, sondern auch für den Regionalverkehr. Ich bin sehr dankbar, dass wir intensiv mit dem Bahnbeauftragten der Bundesregierung, Enak Ferlemann, darüber diskutiert haben.
Wenn ich an den morgigen Tag denke: Da steht die Verabschiedung zweier Gesetzentwürfe zur Beschleunigung von Planung und Genehmigung an.
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Das ist ein absoluter Durchbruch, vor allem für die Schiene. Das wollte auch diese Große Koalition, diese Bundesregierung erreichen, nämlich dass wir ein klares Statement für die Stärkung der Schiene abgeben.
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Wenn ich jetzt in dieser Reihe vorwärtsgehe: Die Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung mit einem Volumen von 86 Milliarden Euro wurde gefixt und unterschrieben. Der Aufwuchs im Vergleich zur letzten Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung beträgt 54 Prozent.
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Die Aufteilung der 11 Milliarden Euro in einer Vereinbarung mit der Bahn stehen für die Stärkung der Bahn, ein robustes Netz, Digitalisierung und vieles mehr bereit.
Vorher haben wir über Gemeindeverkehrsfinanzierung geredet. Da gab es einen Aufwuchs von an die 2 Milliarden Euro. Das ist eine Versechsfachung der Mittel. Die Regionalisierungsmittel von 8,6 Milliarden Euro jährlich werden in den nächsten Jahren noch einmal um insgesamt 5,2 Milliarden Euro steigen. Diese Große Koalition, diese Bundesregierung schafft wirklich etwas für neue Mobilität, für die Mobilität der Zukunft, und dafür bin ich sehr, sehr dankbar. Herzlichen Dank!
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Wenn ich noch ergänzen darf: Zu unseren weiteren Vorhaben gehören nicht nur das Zukunftsbündnis Schiene, sondern auch der wichtige Deutschland-Takt, der wiederum in diese Maßnahme sehr stark reinwirkt. Denn wir wollen die Regionalverkehre viel stärker mit den Fernverkehren vernetzen, sodass sich die Aufenthaltsqualität und die Umstiegsqualität für die Fahrgäste verbessern. Das erreichen wir, indem wir die Busfahrten und die Zugfahrten deutlich zuverlässiger machen und damit erleichtern. Ja, wir wollen natürlich auch kräftig in die Digitalisierung der Schiene investieren. Wir wollen vor allem effizient steuern und eng takten. Es handelt sich also um ein stimmiges Gesamtpaket.
Aber ich muss den Bundesländern auch sagen: Der Bund stellt das Geld zwar zur Verfügung; den Betrieb muss man aber vor Ort organisieren. Wir kämpfen momentan auch hier mit Ausgaberesten, die jetzt wirklich an den Mann und an die Frau vor Ort in den Regionen gebracht werden müssen, und zwar durch die Bestellung von Regionalverkehren. Der Bund will, dass investiert wird. Daher müssen die Bundesländer auch die Leistung bringen, meine Damen und Herren.
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Das werden auch die Pendlerinnen und Pendler merken.
Wenn ich das Gesamtpaket sehe, sage ich Ihnen: Wir haben ein paar Wochen nach den Beschlussfassungen zu den Klimaprogrammen durch das Klimakabinett schon so viele entscheidende Weichen gestellt, dass die Anforderungen wirklich erfüllt werden können.
In der Verkehrspolitik ist es so, dass die Verzögerung natürlich schon spürbar ist, wenn es eine Baumaßnahme bei laufendem Betrieb gibt. Aber wie geht es denn einem normalen Abgeordneten, ob der im Bundestag ist oder in einem Landtag? Er steht auf einem Bahnsteig – Richtung Flughafen beispielsweise – und wird von Bürgern angesprochen. Dem Bürger ist es egal, wer wofür zuständig ist, ob für den Regionalverkehr oder für den Fernverkehr. Deswegen schaffen wir als Bundestagsabgeordnete und als Bundesregierung auch die Möglichkeiten vor Ort, dass die Bundesländer an dieser Stelle besser wirken können.
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– Frau Lötzsch, Ihr Kollege hat vorher gerade von Potsdam erzählt und dass er notwendige Mittel für die Gemeindeverkehrsfinanzierung braucht. Sie haben sich aber dann nicht entschließen können, diesem Gesamtpaket zuzustimmen, obwohl die Mittel versechsfacht wurden. Er hat um die Mittel gebeten, und wir schaffen die Mittel als CDU/CSU- und SPD-Koalition.
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Das ist die gute Botschaft für die Bürger: Wir gehen wirklich in die Regionen.
Allen, die mitgearbeitet haben, meinen herzlichen Dank!
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Das Wort hat der Abgeordnete Wolfgang Wiehle für die AfD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Mit den sogenannten Regionalisierungsmitteln
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gibt der Bund den Ländern Geld, damit diese Nahverkehr beispielsweise mit S-Bahnen oder Regionalbussen anbieten können. Bislang sind das jährlich 8,6 Milliarden Euro. Diese Summe soll jetzt in großen Schritten steigen. Addiert man diese Steigerungen über die nächsten zwölf Jahre, so summieren sie sich auf stattliche 5,2 Milliarden Euro.
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Die AfD begrüßt das, wenn es wirklich dazu führt, dass der öffentliche Nahverkehr besser wird.
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Dafür gibt es Hürden.
Eine solche Hürde besteht in einer Automatik, die man in das Eisenbahnregulierungsgesetz eingebaut hat. Dort steht, dass die Preise für die Nutzung von Bahnstrecken und Stationen genauso schnell steigen wie die Regionalisierungsmittel. Mit einem Extraaufschlag auf die Regionalisierungsmittel steigen dann auch die Streckenpreise schneller, und schon ist ein großer Teil der neuen Mittel weg, ohne dass auch nur ein zusätzlicher Zug fährt. Übrig bleibt dann eine Geldspritze für die angespannte Kasse der Bahn. Die Koalition hat einen Entschließungsantrag gestellt, der eine zeitnahe Lösung dieses Problems fordert. Dem werden wir zustimmen.
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Und wir nehmen den Begriff „zeitnah“ sehr ernst.
Die FDP-Fraktion glaubt, die Lösung in einer Subvention der Entgelte für die Nutzung der Bahnstrecken gefunden zu haben; sie würde die Regionalisierungsmittel gar nicht erhöhen. Einfacher wird dadurch die Sache aber nicht. Zum heutigen Zeitpunkt können wir zu Ihrem Entschließungsantrag, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der FDP-Fraktion, nicht mehr als eine Enthaltung anbieten.
Eine weitere Hürde für Verbesserungen im Nahverkehr liegt im Verhalten einiger Bundesländer. Manche nutzen die Gelder gar nicht voll aus und legen sie gewissermaßen auf Halde. Andere entlasten ihren Landeshaushalt und finanzieren die Verbilligung von Schülerfahrkarten aus den Regionalisierungsmitteln. Diese und ähnliche Dinge liegen in der Verantwortung der Länder. Wir können von der Bundesebene aus nur Appelle formulieren.
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Aus der Sicht der AfD muss besonders scharf darauf geachtet werden, dass in den Hauptverkehrszeiten genügend Verkehrsmittel angeboten werden. In Bussen und Bahnen herrscht oft drangvolle Enge, und das muss sich deutlich bessern.
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Ideologische Scheuklappen darf es keine geben. Wer Autofahrer auf dem Weg in die Stadt zum Umsteigen bewegen will, muss an den Bahnhöfen mehr Parkplätze anbieten.
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Dieses Park-and-ride-System wird aber von Autogegnern angegriffen, die am liebsten gar keine Parkplätze wollen. Unter dem Strich fahren die Leute aber dann mit dem Auto gleich ganz in die Stadt. Man sollte sich schon überlegen, was man tut.
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Wir können vom Bund aus die Länder nur dazu aufrufen, im Sinne der Bürger zu handeln und die Angebote zu verbessern. Die AfD-Landtagsfraktionen werden, wenn nötig, gerne in die Diskussion einsteigen.
Die AfD-Fraktion erwartet, dass das Problem mit den drohenden Preissteigerungen für die Nutzung der Bahnstrecken und Stationen schnell gelöst wird.
Wir werden der Gesetzesänderung heute zustimmen. Und – ich wiederhole es –: Wir werden die kluge Verwendung der Gelder in den Bundesländern immer im Auge haben.
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Das Wort hat der Abgeordnete Detlef Müller für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben heute, vor knapp zwei Stunden, die parlamentarische Beratung des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes abschließen können. Damit haben die Kommunen die Grundlage für eine auskömmliche Finanzierung des schienengebundenen öffentlichen Personennahverkehrs für die kommenden zehn Jahre. Jetzt geht es um die Erhöhung der Regionalisierungsmittel.
Ich möchte zunächst eine Zahl wiederholen: 5,25 Milliarden Euro. 5,25 Milliarden Euro stellen wir als Bund den Ländern bis zum Jahr 2031 zusätzlich zur Verfügung, um hauptsächlich Schienenpersonennahverkehrsleistungen zu bestellen. Das heißt: mehr Regionalverkehr. Das heißt: Taktverdichtung. Das heißt: Anbindung und Mobilität durch mögliche Reaktivierung von Strecken und auch Neubestellung von Leistungen. Damit schaffen wir neue Möglichkeiten, Regionen zu vernetzen und Entwicklungschancen zu nutzen. Denn schon heute können Sie in ganz Deutschland erkennen: Wo Regionen verkehrlich gut angebunden sind, da wachsen sie, da entwickeln sie sich positiv. Und das gilt für das Berliner Umland genauso, wie es für Sachsen, Hessen oder eben auch Bayern gilt.
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Deswegen ist diese Maßnahme nicht nur verkehrspolitisch richtig; sie ermöglicht auch gute Standort- und Wirtschaftspolitik.
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Als Verkehrspolitiker will ich besonders herausstellen, dass der vorliegende Gesetzentwurf zur Erhöhung der Regionalisierungsmittel nicht allein steht. Er reiht sich in eine ökologisch und ökonomisch zukunftsweisende Verkehrspolitik ein, durch die wir die Bahn, übrigens nicht nur die DB, als Verkehrsmittel stärken wie noch nie zuvor, und zwar sowohl im Fern- und Nahverkehr als auch im Güterverkehr. Wir stärken die Schieneninfrastruktur durch die Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung III mit 86 Milliarden Euro in den kommenden zehn Jahren. Durch das heute beschlossene GVFG fördern wir den kommunalen schienenbezogenen ÖPNV mit zusätzlich 4,6 Milliarden Euro. Wir machen das Angebot der Bahn durch die Mehrwertsteuersenkung im Fernverkehr attraktiver. Die Trassenpreise im Schienengüterverkehr haben wir halbiert. Und wir schaffen auch die Voraussetzungen für den Deutschland-Takt ab 2030. Kurz: Wir stehen für die Bahn als wirtschaftlich leistungsfähigen und ökologisch sinnvollen Verkehrsträger der Zukunft.
Wie stark der Paradigmenwechsel im Bereich Bahnpolitik ist, lässt sich an den Regionalisierungsmitteln ganz einfach verdeutlichen. Einige der Kollegen hier im Plenum werden sich an die Neuregelung der Regionalisierungsmittel im Jahr 2016 erinnern. Damals wurde hart um einen Kompromiss gerungen, der eine auskömmliche Finanzierung des Schienen-, Wasser- und Nahverkehrs ermöglicht. Es ging um die Verteilung zwischen den Bundesländern. Am Ende brauchte es sogar den Vermittlungsausschuss. Damals war eine Senkung der Regionalisierungsmittel für einige Länder, vor allem in Ostdeutschland, ein denkbares Szenario. Das konnten wir abwenden.
Heute sind wir zum Glück deutlich weiter. Allein deshalb ist der vorliegende Gesetzentwurf zu begrüßen. Das hat auch die öffentliche Anhörung des Verkehrsausschusses zur Erhöhung der Mittel gezeigt. Dort machten alle geladenen Sachverständigen deutlich, dass eine Erhöhung des Mittelansatzes richtig ist. Natürlich wurde auch Kritik geübt, Kritik daran, dass ein Teil der erhöhten Regionalisierungsmittel eben nicht der Bestellung von zusätzlichen Verkehren zugutekommt, sondern in Form von Trassenentgelten und Stationsgebühren abfließt. Diese Kritik kann man teilen, muss man aber nicht. Ich möchte an dieser Stelle aber zu bedenken geben, dass die Trassenentgelte dafür genutzt werden, die Infrastruktur des Systems Schiene zu erhalten. Wie sich dieses Verhältnis nun genau darstellt und regulatorisch unterlegt werden soll, werden wir in einer Revision des Eisenbahnregulierungsgesetzes klären. Das braucht Zeit, und das braucht die Einbeziehung aller Bundesländer, der Verbände, der Bahn usw. Der im Ausschuss vorgelegte Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen geht genau darauf ein.
Abschließend bleibt zu sagen: Der vorliegende Gesetzentwurf schafft die Grundlage für mehr Regionalverkehr auf der Schiene, für Taktverdichtungen und Neubestellungen von Strecken. Geben wir aber bitte alle gemeinsam darauf acht, dass alle Bundesländer diese Mittel vollständig für den gedachten Zweck ausgeben
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und nicht den Spar- oder Rücklagenstrumpf damit füllen. Es gilt: Mehr Verkehr auf die Schiene!
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Torsten Herbst für die FDP-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bei diesem Thema geht es um eine Menge Geld: 5,2 Milliarden Euro bis 2031 zusätzlich, vor allem für einen besseren Schienenpersonennahverkehr. Wir als Freie Demokraten finden, dass dieses Geld dort sinnvoll angelegt ist, wo es gelingen kann, zusätzliche Fahrgäste zu gewinnen.
Ich möchte hinzufügen: Die Schiene hat ihre Stärken, aber sie hat auch ihre Schwächen. Die Schiene ist dort stark, wo es gelingt, Nachfrage zu bündeln, wo Fahrzeiten, Takte und Komfort konkurrenzfähig zum Auto sind. Aber das trifft längst nicht auf alle Regionen Deutschlands zu. Schauen wir uns um: Allein in Deutschland gibt es 55 Mittelstädte mit mehr als 40 000 Einwohnern, die überhaupt keinen Bahnanschluss haben. Die erreicht kein Bahnangebot. Es gibt eine Vielzahl von kleinen Gemeinden, die keinen Bahnanschluss haben. Es gibt eine Vielzahl von Gemeinden mit mehreren Ortsteilen, wo es zwar in einem Ortsteil einen Bahnanschluss gibt, aber die anderen Ortsteile zum Teil 10 oder 15 Kilometer entfernt liegen. Das heißt, auch die werden von den zusätzlichen Mitteln nicht profitieren. In den ländlichen Regionen gibt es ein subventioniertes Angebot, aber seien wir ehrlich: Es fahren oftmals Busse und Züge, die völlig leer sind. Das ist weder ökonomisch noch ökologisch.
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Wir brauchen andere Konzepte und flexible Bedienformen. Es ist traurig, dass das Bundesverkehrsministerium bei der Reform des Personenbeförderungsgesetzes in einer Sackgasse steckt und keinen Millimeter vorankommt.
Meine Damen und Herren, hier wird der Eindruck erweckt: Die 5,2 Milliarden Euro fließen eins zu eins in mehr Verbindungen und bessere Takte. Doch die Wahrheit ist: Die Hälfte – 49 Prozent, um genau zu sein – geht direkt wieder an die Infrastrukturgesellschaften des Bundes. Das ist de facto eine Finanzspritze an die Deutsche Bahn durch die Hintertür. Dadurch entsteht kein Nutzen für die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land.
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Man lässt sich gerne feiern für das viele Geld. Stellen Sie sich aber vor, Sie gehen auf einen Geburtstag und bringen eine große Geburtstagstorte mit, lassen sich dafür gebührend feiern, aber beim Hinausgehen nehmen Sie die halbe Torte wieder mit. Das ist schon eine halbe Mogelpackung.
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Im Übrigen: Das zusätzliche Geld löst nicht alle Probleme. Wir hören von ganz vielen Aufgabenträgern, dass sie gerne mehr Leistungen bestellen würden, aber sie bekommen von den Verkehrsgesellschaften gesagt: Wir finden keine Triebfahrzeugführer; wir können nicht mehr Angebote machen, obwohl wir gerne fahren würden. – Und was noch hinzukommt: Wenn Sie noch viele Kilometer vom Bahnhof nach Hause zurückzulegen haben, gibt es viel zu wenig Möglichkeiten, flexiblen ÖPNV nachfragegetrieben zu organisieren.
Meine Damen und Herren, wir müssen über andere Wege nachdenken. Unser Entschließungsantrag enthält ein ganz spezielles Angebot. Wir wollen die 5 Milliarden Euro für eine Trassenpreissenkung im Schienenpersonennahverkehr nutzen. Dann würden nicht 50 Prozent, sondern 100 Prozent dieser Mittel in bessere Mobilitätsangebote fließen. Wir finden, das ist eigentlich ein unwiderstehliches Angebot.
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Das Wort hat der Kollege Thomas Lutze für die Fraktion Die Linke.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Als Erstes begrüßt es die Linksfraktion ausdrücklich, dass die Regionalisierungsmittel aufgestockt werden. Damit stärken wir die Bemühungen vieler Länder und Verkehrsverbünde, ihr Bahnangebot gerade im Nahverkehr zu verbessern.
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Wir bedauern aber, dass die Hälfte der zusätzlichen Mittel, also rund 2,6 Milliarden Euro, tatsächlich nicht vor Ort ankommen. Die aktuelle Gesetzeslage bindet die Hälfte des Geldes bei der Deutschen Bahn AG, ohne dass eine Verwendung für den Ausbau des Bahnangebotes sichergestellt werden kann. Wenn Sie das ändern wollen, also dafür sind, dass die 5,2 Milliarden Euro bei den Ländern ankommen, dann müssen Sie einfach nur die Gesetzeslage – und dafür sind wir nun einmal zuständig im Deutschen Bundestag – ändern. Wir als Linksfraktion würden dem zustimmen.
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Denn – zweitens – worum geht es? Aktuell führen wir eine intensive Klima- und Umweltschutzdebatte. Die Ursachen dafür liegen auf der Hand, und sie sind in diesem Haus, abgesehen von einer Fraktion, unumstritten. Und trotzdem: Bevor man die Nutzung eines Autos einschränkt oder verteuert, muss das Angebot im öffentlichen Verkehr deutlich verbessert werden.
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Es ist nicht nur die Milchkanne auf dem Land, die nicht angebunden ist. Es sind oft Kreisstädte und Mittelzentren, manchmal sogar die Randlagen von Großstädten, wo es fast unmöglich ist, den öffentlichen Personennahverkehr bzw. die Bahn zu erreichen. Gerade dort wird der Umstieg vom Auto auf die Bahn erschwert. Hier wird wirklich jeder Euro gebraucht, damit sich das ändert und wir endlich zu einer Verbesserung der Situation kommen.
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Dritter Punkt: Wir brauchen irgendwann einmal auch klare Regeln, wie die Länder diese Gelder ausgeben werden. Zwei zufällige, aber aktuelle Beispiele zeigen, dass manches sehr weit auseinander liegt. Im neuen Koalitionsvertrag in Thüringen sind zahlreiche Projekte von Streckenreaktivierungen aufgelistet. Ich hoffe sehr, dass die dortigen Kolleginnen und Kollegen von CDU und FDP diesen sinnvollen Projekten zustimmen werden, damit im thüringischen Landtag eine Mehrheit zustande kommt.
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Bei mir zu Hause im Saarland wird aktuell eine Nebenbahn im Landkreis St. Wendel abgerissen, und dies, obwohl dort konkrete Nachfrage für den Güterverkehr bestand.
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Nebenan auf der brachliegenden sogenannten Hochwaldbahn nach Hermeskeil droht die Umnutzung zu einem Radweg. Der Vorschlag, auf dem ehemals zweigleisigen Bahndamm ein Bahngleis zu erhalten und das andere Gleis parallel für den Radweg zu verwenden, wurde abgelehnt. Sorry, aber im selbsternannten „Autoland Saarland" würde sich bahnpolitisch auch dann nichts verbessern, wenn es deutlich mehr Geld vom Bund gibt. Hier müssen unsere Regularien geändert werden. So geht es nicht weiter.
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Langfristig ist zu überlegen, ob die Vergabe der Regionalisierungsmittel des Bundes nicht an strengere Verwendungsregeln gekoppelt wird. Das sollte der Verkehrsausschuss ergebnisoffen, aber ernsthaft diskutieren.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Matthias Gastel für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Es ist viel in Bewegung geraten im Mobilitätsbereich. Es gibt beispielsweise hehre Ziele, so die Verdoppelung der Fahrgastzahlen bei der Bahn. Es sind zahlreiche Diskussionen, die notwendig sind, in Gang gekommen und auch einige konkrete Vorhaben aufs Gleis gesetzt worden, so beispielsweise die Erhöhung der Regionalisierungsmittel, um die es gerade geht. Es ist eine grüne Idee und Forderung gewesen, diese Mittel zu erhöhen, damit die Länder mehr Regionalverkehre bestellen können.
Aber was die konkrete Umsetzung angeht, müssen wir erhebliche Mengen an Wasser in den schwarz-roten Wein gießen. Sie reden von 5 Milliarden Euro. Aber man muss sehen, dass die Hälfte davon an DB Netz und an DB Station & Service durch die Trassenentgelte und die Stationsgebühren geht. Das heißt, diese Gelder stehen eben nicht für Leistungsverbesserungen zur Verfügung. Es ist noch nicht einmal klar, was konkret mit dieser Hälfte, die an die Infrastrukturgesellschaften gehen soll, gemacht wird. Wir haben andere und besser geeignete Finanzierungsinstrumente für die Infrastruktur, durch die das Geld zielgenauer fließen würde.
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Wie gesagt, nur die Hälfte steht zur Verfügung. Aber immerhin zweieinhalb Milliarden Euro für mehr Verkehr auf der Schiene! Da stellt sich die Frage: Worauf sollen eigentlich die zusätzlichen Regionalzüge fahren? Seit 1992 ist das deutsche Schienennetz um 20 Prozent zurückgebaut worden. Im gleichen Zeitraum sind die Straßen um 40 Prozent ausgebaut worden. Für mehr Züge sind natürlich Bedarfe und Notwendigkeiten vorhanden; das ist keine Frage. Aber auf einer geschrumpften Infrastruktur mehr Züge fahren zu lassen, bedeutet auch mehr Konflikte und mehr Verspätungen; auch das muss man sehen. Drei Bundesverkehrsminister von der CSU in Folge waren für das deutsche Schienennetz einfach zu viel. Es ist in die Knie gegangen. Es ist am Limit angekommen.
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Das Schlimmste ist, dass die Versäumnisse nicht konsequent genug aufgeräumt werden. Wenn man sich den Haushaltsplan 2020 anschaut, dann sieht man bei den Bedarfsplanmitteln für den Aus- und Neubau der Schienenwege ein Minus von 120 Millionen Euro. Sie kürzen noch beim Aus- und Neubau der Schienenwege. Das ist eine wirkliche Katastrophe. Wenn man sich dann auch noch die Preissteigerungen im Bahnbau vor Augen führt, weiß man: Es wird alles teurer, und im Bedarfsplan steht weniger Geld zur Verfügung. Das ist Ihre Politik, auf die man hier hinweisen muss.
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Das Fazit ist also: Die Verkehrswende ist dringender denn je, um die Mobilität der Menschen nachhaltig zu sichern. Die Koalition steht aber sich selbst mit ihren eigenen Zielen und damit auch der Verkehrswende im Wege. Statt mehr für Straßen auszugeben, sollten Sie klare Prioritäten für die Schiene setzen; denn Straßen haben wir genug. In Deutschland ist jedes Haus mit einer Straße erschlossen, aber längst nicht jede Stadt mit einem Schienenweg und mit einer Personenverkehrsanbindung auf der Schiene. Wir brauchen jetzt klare Entscheidungen für eine starke Schiene. Ihnen fehlt leider der Mut, diese Entscheidungen zu treffen.
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Das Wort hat der Abgeordnete Michael Donth für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 5 247 547 487,45 – nein, das ist nicht meine Kontonummer. Das ist die exakte Summe, über die wir hier reden, nämlich 5 Milliarden 247 Millionen 547 Tausend 487 Euro und 45 Cent. Das ist das Geld, das wir von heute an bis 2031 mit dem Regionalisierungsgesetz den Bundesländern zusätzlich zur Verfügung stellen. 5,2 Milliarden Euro für einen attraktiven, klimafreundlichen öffentlichen Nahverkehr!
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Wir erhöhen die Kapazitäten und damit Fahrgastzahlen. Wir finanzieren aber auch eine Ausweitung bestehender und neuer Linienführungen, um in Städten, vor allem aber auch im Umland der Städte eine verlässliche Alternative zum eigenen Pkw anbieten zu können. Wir verbessern damit gerade auch im ländlichen Raum erheblich die Infrastruktur und machen somit das Leben auf dem Land attraktiver.
Diese enorme Summe steht aber auch für einen Investitionshochlauf zugunsten des ÖPNV, wie wir ihn noch nie gesehen haben. Jetzt zusätzliche 5,2 Milliarden Euro für die Länder, dann die vor zwei Wochen unterzeichnete LuFV III, mit der in den kommenden zehn Jahren verlässlich 86 Milliarden Euro in das Schienennetz fließen. Die GVFG-Mittel werden mit dem Gesetz, das wir vor zwei Stunden beschlossen haben, auf 2 Milliarden Euro pro Jahr bis 2025 erhöht. Damit und mit den Gesetzesvorhaben zur Planungsbeschleunigung morgen unterstreichen wir unseren Willen zum schnellen Ausbau von Verkehrsinfrastruktur und zur Verbesserung des öffentlichen Nahverkehrs.
Verkehrsminister Andreas Scheuer bringt den ÖPNV voran wie kein anderer Minister vor ihm.
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Was wahr ist, muss man auch sagen.
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Aber wir lehnen uns nicht zurück. Der Folgeeffekt der starken Erhöhung der Regionalisierungsmittel ist ein stärkerer Anstieg der Trassenentgelte. Das wiederum weckt die Sorge, dass womöglich durch den Mittelabfluss in die Infrastruktur nicht mehr genug Geld da sein wird, um zusätzliche Verkehre zu bestellen. Aber das deutsche Eisenbahnregulierungsrecht ist komplex, wie es der Titel schon nahelegt. Es reicht nicht, einfach nur an einer Stellschraube zu drehen. Wir müssen dieses komplexe System so reformieren, dass sowohl die Infrastruktur als auch das Angebot der darauf fahrenden Zugleistungen weiter wachsen können. Wir unterstreichen daher mit unserer Vorlage, dass wir unserem Versprechen aus dem Koalitionsvertrag zügig nachkommen und das Eisenbahnregulierungsrecht anpacken werden. Da erwarten wir – Herr Gastel, das ist in Ihrem Sinne – Ihre Zustimmung.
Aber eines muss ich auch ganz deutlich sagen: Nur mehr Geld vom Bund wird den Nahverkehr nicht per se verbessern. Jetzt sind die Länder dran, diese deutliche Finanzspritze in spürbare Verbesserungen für die Kundinnen und Kunden des Nahverkehrs zu verwandeln. Ich sage das ganz bewusst auch in Richtung meines Heimatlandes Baden-Württemberg, wo die groß angekündigte Wende im öffentlichen Nahverkehr derzeit zu viel Frust, zu kleineren Zügen mit zu wenigen Plätzen und etlichen Zugausfällen führt, alles Folgen einer unüberlegten Politik, vor der meine Kollegen schon vor fünf Jahren im Landtag gewarnt haben. Wir schaffen als Bund mehr Kapazitäten auf der Schiene. Wir verbessern die Infrastruktur und planen einen deutschlandweiten integralen Taktfahrplan. Wenn aber im Zug schlicht kein Platz mehr ist, um mitzufahren, ist das alles für die Katz, und es schreckt mögliche neue Kundinnen und Kunden ab.
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Meine Kolleginnen und Kollegen, die Weiterentwicklung des öffentlichen Personenverkehrs liegt meiner Fraktion, liegt unserem Minister, liegt – ich glaube, das sagen zu dürfen – uns allen sehr am Herzen. Aber sie kann nur gelingen, wenn alle über Parteigrenzen hinaus zusammenarbeiten. Dazu fordere ich Sie heute ausdrücklich auf. Unterstützen Sie dieses Gesetz; denn mit diesem Gesetz und den Gesetzen, die wir morgen noch beraten und beschließen werden, sind wir auf dem richtigen Weg hin zu einem soliden Fundament für einen modernen ÖPNV in Deutschland. Ich bin gespannt, was sich auf diesem Fundament aufbauen wird. Ich bitte um Ihre Zustimmung.
Vielen Dank.
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Das Wort hat die Kollegin Elvan Korkmaz-Emre für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mobilität ist ein Stück Freiheit. Sie kommt aber nicht, wenn kein Geld da ist. Mit diesem Gesetz kommt mehr Geld. 8,6 Milliarden Euro gibt es jährlich plus jährliche Dynamisierung und jetzt 5,2 Milliarden Euro zusätzlich bis 2031 on top. Wir unterstützen damit Länder, ganze Regionen. Das sind Investitionen in die Daseinsvorsorge, und das ist sozialdemokratische Verkehrspolitik.
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Wir lösen damit ein zentrales Versprechen ein, das wir in der Regierung gegeben haben, nämlich die Einleitung der Verkehrswende. Klar haben die Bundesländer recht, wenn sie sagen, es könnte immer noch ein bisschen mehr Geld sein – natürlich. Aber am Ende darf man nicht vergessen: Das Regionalisierungsgesetz ist die Kirsche auf dem Eis. Das große Geld steckt in der LuFV III und dem GVFG; das hat mein Kollege Herr Müller gerade ausgeführt.
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Fakt ist: Es tut sich gerade ganz schön viel. Das Geld für die dringend notwendigen Investitionen steht zum Abruf bereit. Um einmal die Allianz pro Schiene zu zitieren: „Davon profitieren Millionen Pendler in Deutschland und zudem der Klimaschutz.“ Das sei ein starkes Signal. – Ja, es ist ein verdammt starkes Signal, und das darf auch einmal so gesagt werden.
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Was mit dem Geld konkret passiert, zeigt ein Blick nach NRW. Hier haben wir drei SPNV-Aufgabenträger. Der NWL, der für meine Region zuständig ist, bedient 5,6 Millionen Einwohner mit einem Finanzvolumen von rund 355 Millionen Euro und einem Schienennetz von 1 700 Kilometern; er hat eine sagenhafte jährliche Betriebsbilanz von 34,5 Millionen Zugkilometern. Die Zahlen sprechen für sich, und mit dem Regionalisierungsgesetz und dem zusätzlichen Geld werden wir das noch verstärken.
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Fakt ist aber auch: Nur mit dem Aufwuchs der Mittel ist es nicht getan. Deshalb haben wir als Koalitionsfraktionen auch einen Antrag eingebracht, mit dem wir die Regierung auffordern, sich mit den Ländern zusammenzusetzen und gemeinsam zu hinterfragen, wie die Mittel zielgerichtet eingesetzt werden können.
Verschweigen darf man auch nicht, dass wir über die grundsätzliche Struktur des Eisenbahnsektors sprechen müssen. Die Debatte konzentriert sich manchmal viel zu stark auf die DB. Es geht hier aber um das Funktionieren eines Gesamtsystems, bei dem es durchaus Mitbewerber gibt. Daher brauchen wir faire Marktbedingungen, Rechtssicherheit und Transparenz. Das ist die Voraussetzung dafür, dass am Ende alle in dieselbe Richtung laufen. Nichts anderes schreiben uns auch Monopolkommission, Rechnungshof und Netzagentur ins Hausaufgabenheft.
Deshalb müssen wir in dieser Legislaturperiode an diese Themen herangehen. In diesem Sinne: Die Richtung stimmt. Wir stolpern hier nicht, sondern gehen hier große Schritte, und dafür ist auch die Zeit. Den Mut für die Verkehrswende bringen wir auf.
Vielen Dank.
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Ich schließe die Aussprache.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Nach 13 Jahren übernimmt Deutschland jetzt wieder den EU-Ratsvorsitz. Wir fordern die Bundesregierung in dem ersten unserer beiden Anträge heute auf: Nutzen Sie diesen Vorsitz, um das Verhältnis zwischen der EU und Israel zu verbessern. Das ist dringend notwendig.
Eine Umfrage des MITVIM-Instituts zusammen mit Ihrer Friedrich-Ebert-Stiftung vom November zeigt: Nur 27 Prozent der Israelis sehen in der EU einen Freund Israels, aber 45 Prozent einen Feind. Die übergroße Mehrheit hat laut dieser Umfrage mehr Vertrauen in Trumps Amerika und Putins Russland als in die EU. Das sollte uns zu denken geben.
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Die einseitig proislamische und antiisraelische Haltung in der EU-Kommission und im EU-Parlament belastet das Verhältnis zu Israel massiv. Das wird an drei Punkten besonders deutlich: Die EU weigert sich, die islamistische Terrororganisation Hisbollah als Ganzes als Terrororganisation zu listen, die EU fördert die antisemitische BDS-Bewegung, und die EU diskriminiert Israel, indem sie Waren aus jüdischen Siedlungen jetzt besonders kennzeichnet; man könnte auch sagen: sie brandmarkt.
Die „Jüdische Allgemeine Zeitung“ schrieb im November zu den Antisemitismus-Reden von Heiko Maas – ich darf zitieren –: „Zur Phrase greift, wer nichts Konkretes zu sagen hat.“
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Die Bundesregierung beschwört die historische Verantwortung Deutschlands. Wenn es aber konkret wird, dann knickt sie vor der Islamlobby ein, wie im Fall von Kuwait Airways, dem Gegenstand unseres zweiten Antrags heute. Die Antidiskriminierungsstellen nehmen jeden Handwerksmeister ins Visier, der bei der Stellenausschreibung nicht korrekt gendert. Aber eine arabische Fluggesellschaft darf israelische Staatsbürger auf deutschen Flughäfen diskriminieren und die Beförderung verweigern? Stellen Sie sich nur einmal ganz kurz vor, die Lufthansa täte das mit Türken, Syrern oder Irakern.
Frau von Storch – –
Nein, vielen Dank. – Wie groß wäre da wohl die Empörung?
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Bei Israelis aber: das ganz große Schweigen. Das ist inakzeptabel, und deshalb steht dazu heute dieser Antrag von uns zur Abstimmung. Beenden Sie diese unerträgliche Praxis!
Forderungen, Angriffe auf Israel zu stoppen, werden von der EU ignoriert, blockiert und im schlimmsten Fall sabotiert.
Erstens: Hisbollah. Im EU-Ausschuss hat mein Kollege Siegbert Droese gestern den Außenminister gefragt: Wird die Bundesregierung während ihrer Ratspräsidentschaft darauf hinwirken, dass die Hisbollah als Terrororganisation eingestuft wird, und zwar als Ganzes? Die Antwort war: Das wird nicht klappen. – Was taugt eine EU, die nicht einmal bereit ist, eine Terrororganisation als solche einzustufen? Was taugt eine EU, die sich willentlich zum Rückzugsraum für Terroristen macht? Wir wollen das nicht.
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Zweitens: BDS. Wir fordern Sie auf, den Bundestagsbeschluss „BDS entschlossen entgegentreten“ auch umzusetzen. Die EU-Vertreterin für Außenpolitik hat ausdrücklich erklärt, dass die Zugehörigkeit zur antisemitischen BDS-Bewegung nicht zum Ausschluss von EU-Geldern führt. Das ist unvereinbar mit dem Beschluss dieses Bundestages. Deutsches Steuergeld darf nicht an die BDS-Bewegung fließen, auch nicht indirekt über den EU-Haushalt.
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Drittens: die Kennzeichnungspflicht. Zentralratspräsident Schuster hat dazu gestern im Innenausschuss noch einmal unterstrichen: Die Kennzeichnungspflicht für Waren aus jüdischen Siedlungen ist ein diskriminierender Doppelstandard. Sie gilt nämlich nur für Israel und nicht für den Rest der Welt, wo es auch Konflikte gibt.
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Die „Jerusalem Post“ titelte dazu: Während Dschihadisten Israel angreifen, ist die EU damit beschäftigt, Israel zu bashen.
Der islamische Terror und der Islamismus sind die Feinde Deutschlands, Israels und Europas. Der Einfluss der Islamlobby in der EU muss ein Ende haben.
Vielen Dank.
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Der nächste Redner ist der Kollege Roderich Kiesewetter, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben gestern in einer sehr anrührenden, emotionalen Gedenkstunde der millionenfachen Opfer des NS-Terrorregimes gemeinsam mit dem israelischen Präsidenten gedacht. Wer von uns diese Gedenkstunde auf sich wirken lässt und zugleich die Ausstellung im Paul-Löbe-Haus besucht, spürt: 75 Jahre nach Ende des Holocaust ist unsere Verantwortung im Kampf gegen Antisemitismus, Hass und Rassismus offenkundiger denn je. – Klar wird: Die mittlerweile gewachsene Freundschaft zwischen Deutschland und Israel ist eines der größten Geschenke, die unser Land seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs empfangen hat,
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vielleicht sogar das größte Geschenk überhaupt.
Deshalb hat unser Bundestag in den letzten zwei Jahren in etlichen fraktionsübergreifenden Anträgen zu der BDS-Frage Stellung genommen. Wir haben uns klar dagegen positioniert. Wir haben uns klar in der Hisbollah-Frage positioniert: Aufhebung der Trennung zwischen einem politischen und einem militärischen Arm. Aber noch viel weitgehender: Wir haben in einer Antisemitismusdebatte sehr klare Positionen mit Blick auf Forderungen an die Bundesregierung vertreten und uns klar zu „50 Jahre diplomatische Beziehungen mit Israel“ und zu „70 Jahre seit der Gründung dieses Staates“ geäußert. Damit haben wir als Parlament Leitplanken geschaffen. Innerhalb dieser Leitplanken sind die beiden Anträge, die hier zur Debatte stehen, bereits aufgehoben.
Das Thema Hisbollah habe ich bereits angesprochen. Aber genauso sind die Verhandlungen mit Kuwait ein Thema für die Bundesregierung. Wir ermutigen auch die Bundesregierung, ihre Luftverkehrsverhandlungen mit den kuwaitischen Behörden fortzusetzen. Es ist also nichts Neues, was wir hier beraten, sondern es ist tägliche Arbeit der Bundesregierung, und die sollten wir unterstützen und nicht Anträge, die zu spät kommen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich deshalb aus aktuellem Anlass die verbleibende Redezeit dem Nahostfriedensplan widmen. Wir Deutschen stehen gemeinsam mit unseren europäischen Partnern dafür ein, dass das Existenzrecht Israels sehr klar auch in den Gremien der Vereinten Nationen verteidigt wird und dass wir alles dafür tun, dass der Friedensprozess, wie ihn die VN-Sicherheitsratsresolution 2334 vertritt – sie ruft zu direkten Verhandlungen zwischen Israel und den palästinensischen Behörden auf –, gestärkt wird.
Der Friedensplan, wie wir ihn gestern wahrgenommen haben, hat eine große Schwäche: Er ist nur zwischen Israel und den USA verhandelt und sieht vor, dass die palästinensische Seite ihn akzeptieren muss. Wenn die Palästinenser ihn nicht akzeptieren, was sie gestern schon angedeutet haben, sind sie in einer sehr schwachen Verhandlungsposition. Ich glaube, es ist unsere Aufgabe, im Rahmen unserer deutsch-israelischen Beziehungen sehr stark darauf hinzuwirken, dass dieser Friedensplan nicht exklusiv ist, sondern inklusiv, und die palästinensische Seite miteinbezieht.
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Es ist legitim und nachvollziehbar – auch aus innenpolitischen Gründen –, dass hier der Wahlkampf in Israel berücksichtigt wird. Netanjahu möchte am 2. März wiedergewählt werden.
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Es ist auch vor dem Hintergrund nachvollziehbar, dass in diesem Jahr Präsidentschaftswahlen stattfinden. Aber es ist unsere Aufgabe, dass wir, wenn wir die regelbasierte internationale Ordnung verteidigen, UN-Resolutionen in den Vordergrund stellen und alles tun, dass die VN-Sicherheitsratsresolution 2334 mit Leben erfüllt wird.
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Wenn von uns heute aus dieser Debatte ein Signal ausgehen soll, dann muss es das Signal sein, dass es inklusive Friedensverhandlungen sind, die auch Israel ermöglichen, gesichtswahrend mit ihrem unmittelbaren Nachbarn zu wirken, dass wir für einen demokratischen jüdischen Staat arbeiten und dass wir für einen demokratischen palästinensischen Staat arbeiten, der auch lebensfähig sein muss. Diese Ziele dürfen wir nicht aufgeben. Denn weder eine Einstaatlösung noch eine Lösung zulasten der beiden Gruppen kann die Lösung sein. Unsere Aufgabe ist es, in der EU-Ratspräsidentschaft und im Weltsicherheitsrat darauf hinzuwirken, dass es zu einer echten Friedenslösung im Nahen und Mittleren Osten kommt.
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Wir sollten deshalb alles tun, um als Bundestag – auch im Lichte der Anträge, mit denen wir uns in den vergangenen Jahren beschäftigt haben; hier fühlen wir uns besonders verantwortlich – das zu tun, was uns Staatspräsident Rivlin ins Stammbuch geschrieben hat: mitzuwirken als Europäer, dass Europa an der Seite Israels steht, dass wir für eine gemeinsame Friedenslösung in der Region arbeiten. Wir müssen auch herausstellen, dass der Friede Israels durch Raketen der Hisbollah, unterstützt vom Iran, genauso bedroht ist wie durch den Unfrieden, der die Palästinenser auseinandertreibt und nicht eint. Wir müssen dafür sorgen, dass wir zu einem gemeinsamen Friedensprozess kommen, wie er seinerzeit in Oslo angeregt wurde und wie er immer wieder gefördert wird. Es ist unsere Aufgabe, daran mitzuwirken. Unsere Aufgabe ist nicht, Wahlkampfabsichten in USA oder Israel zu fördern, sondern die Gesamtaussöhnung ist unsere Aufgabe. Dafür stehen wir.
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Deshalb war der gestrige Gedenktag so wichtig: dass wir uns daran erinnern, gegen Antisemitismus, gegen Rassismus und Hass zu stehen und dies auch durch die glaubwürdige Unterstützung des Friedensprozesses im Nahen und Mittleren Osten zu tun.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Für die FDP hat das Wort der Kollege Alexander Graf Lambsdorff.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Ich habe mich etwas gewundert, als ich den Antrag zur Europäischen Union und zu Israel sah und den Urheber, die AfD-Fraktion. Ich habe mich gefragt: Wie sieht es eigentlich mit der Position der AfD zur EU und zu Israel aus? – Zur EU steht der Austritt Deutschlands 2024 im Wahlprogramm. Gestern Abend – ich war in Brüssel – liegen sich Herr Meuthen und Herr Farage jubelnd in den Armen,
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als das Austrittsabkommen beschlossen worden war.
Als die AfD sich überlegen konnte, mit wem sie in Europa gemeinsame Sache macht, für wen hat sie sich entschieden? Für die ID-Fraktion, die Fraktion Identität und Demokratie, geführt von einem Mann von der Lega, von Herrn Salvini. Herr Meuthen ist darin gemeinsam mit dem Generalsekretär vom Rassemblement National – das ist die Partei von Frau Le Pen – stellvertretender Vorsitzender.
Meine Damen und Herren, Sie wollen überhaupt keine Beziehungen der EU zu irgendjemandem. Sie wollen, dass Deutschland aus der EU austritt. Sie wollen die EU zerstören. Sie haben keine Glaubwürdigkeit bezogen auf Ihren Antrag, zumal Sie auch noch das Europäische Parlament abschaffen wollen.
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Und wie sieht es mit Israel aus? Das ist ein Staat, der nur existiert, weil es die Shoah gegeben hat, an die hier so würdig erinnert worden ist. Dann haben Sie einen prominenten Vertreter Ihrer Partei, den Fraktionsvorsitzenden in Thüringen, Herrn Höcke, der das Mahnmal, mit dem an die Shoah erinnert wird, infrage stellt, indem er sagt: Kein anderes Land würde sich ein solches „Denkmal der Schande“ in seine Hauptstadt stellen.
Meine Damen und Herren, Regierungsvertreter Israels wollen mit Ihnen nichts zu tun haben. Sie verweigern jeden Kontakt!
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Die NS-Herrschaft als „Vogelschiss“ zu bezeichnen, spricht auch noch für sich.
Schauen wir noch auf das Verhältnis EU-Israel, wie es sich heute darstellt. Israel ist Teil von Horizon 2020, dem großen Forschungsförderungsprogramm. Das ist super; denn Israel ist wirklich eine Forschungs-, Innovations- und Start-up-Nation. Das finden wir klasse. Israel ist auch Teil von „Erasmus+“, das heißt, junge Leute haben die Chance auf einen Austausch.
Es stimmt: Wir sind uns nicht immer einig in allen Fragen. Über die Bewertung des Friedensplans können wir noch diskutieren. Das gilt auch für die Kennzeichnungspflicht. Ich bin der Meinung, dass das, was die israelische Regierung dazu sagt, einfach falsch ist: Die Siedlungen sind völkerrechtlich nicht Teil Israels. Also ist die Kennzeichnungspflicht – das war übrigens seit Jahren absehbar – auch nachvollziehbar.
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Die Europäische Kommission hat eine Antisemitismusbeauftragte – ich glaube, schon länger als die Bundesregierung. Wenn dann im AfD-Text steht, man würde in Europa bei muslimischem Terror beschwichtigen, dann kann ich nur sagen: 2016 hat es im Herzen des Europaviertels einen islamistischen Terroranschlag auf die U-Bahnstation Maelbeek gegeben. Darunter haben irrsinnig viele Leute massiv gelitten. Niemandem in Brüssel ist nicht bewusst, dass islamistischer Terrorismus eine Bedrohung für unsere Zivilisation ist.
Also mit anderen Worten: An Ihrem Antrag stimmt ganz wenig, und das, was im Einzelnen vielleicht richtig sein mag, leidet darunter, dass Ihre Gesamtglaubwürdigkeit schlicht nicht gegeben ist.
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Am besten für die Europäische Union, am besten für Israel, am besten für die Beziehungen der Europäischen Union zu Israel wäre, wenn Sie und Ihresgleichen aus den Parlamenten unseres Kontinents wieder verschwinden würden.
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Die Kollegin Dr. Barbara Hendricks ist die nächste Rednerin für die SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst kann ich mich in der Analyse dem Kollegen Roderich Kiesewetter vollständig anschließen und brauche das hier nicht zu wiederholen. Auch Ihnen, Graf Lambsdorff, danke ich für die deutlichen Worte, die Sie gefunden haben.
Ich will mich in der Tat damit auseinandersetzen: Hat denn die AfD überhaupt das Recht, einen solchen Antrag zu stellen, oder ist das pure Heuchelei?
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Natürlich hat sie formal das Recht. Aber hat sie moralisch das Recht?
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Das ist doch eine Frage, die wir uns stellen können.
Ja, es ist klar: Es gibt muslimischen Antisemitismus; den gibt es in Deutschland, und den gibt es auch anderswo. Und ja, es gibt muslimisch geprägte Staaten, die die Existenz des Staates Israel leugnen und auch Israel als Staat zerstören wollen. Es ist überhaupt keine Frage, dass wir uns damit auseinandersetzen müssen, und selbstverständlich ist das zu verurteilen.
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Gleichwohl haben wir uns in unserem Land mit dem rechtsextrem motivierten Antisemitismus auseinanderzusetzen.
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In einer bekannten Umfrage von Allensbach aus dem Juni des Jahres 2018 wurde die Aussage vorgestellt: „Juden haben auf der Welt zu viel Einfluss.“ Dem haben 55 Prozent der AfD-Anhänger zugestimmt. Bei den Anhängern anderer Parteien waren es zwischen 16 und 20 Prozent.
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Das ist immer noch sehr viel; aber es sind trotzdem nicht 55 Prozent. Natürlich sind 16 bis 20 Prozent auch zu viel. Da müssen wir demokratische Parteien uns auch noch mal überlegen, was wir falsch machen.
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Aber 55 Prozent der Anhänger der AfD sind dieser Auffassung.
Was haben wir in der letzten Zeit erlebt? Bei einem Besuch des ehemaligen KZ Sachsenhausen hat ein Gast von Alice Weidel die Existenz von Gaskammern in deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagern geleugnet. Mitglieder der AfD-Landtagsfraktion von Thüringen wollten am vergangenen Montag an einer Kranzniederlegung der Thüringer Landesregierung und des Landtages in der Gedenkstätte Buchenwald teilnehmen. Die Leitung der Gedenkstätte hat dies mit der Begründung abgelehnt, die AfD-Fraktion im Thüringer Landtag habe sich nie von den Aussagen ihres Fraktionsvorsitzenden Björn Höcke distanziert.
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Man mag diese Maßnahme kritisch sehen. Aber immerhin: Der Leiter der Gedenkstätte verfügt über das Hausrecht, und er kann in der Tat entscheiden, wen er für nichtadäquate Besucher in der Gedenkstätte hält. Das hat er getan.
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Man darf vielleicht daran erinnern: Höcke forderte eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“, er spricht von einem Mahnmal der Schande inmitten der Hauptstadt – Graf Lambsdorff erwähnte es schon –, und er bezeichnete die Aufarbeitung der NS-Zeit als „dämliche Bewältigungspolitik“.
({8})
Er warnt vor einer „kleinen Geldmachtelite“ und bezeichnet den Mäzen George Soros als „weltweit fanatischsten Kämpfer gegen Souveränität und Demokratie“ mit „völkerauflösendem, perversen Geist“. So weit Herr Höcke in einigen Äußerungen.
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Gleichzeitig sagt der AfD-Fraktionsvorsitzende Gauland, Höcke stehe in der Mitte der Partei, und Herr Gauland spricht auch vom Nationalsozialismus als einem „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte.
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Ein antisemitischer Abgeordneter des baden-württembergischen Landtags, der laut Gerichtsbeschluss „Holocaustleugner“ genannt werden darf, ist nach wie vor Mitglied der AfD. Die Landtagsfraktion hat ihn nicht ausgeschlossen, weil es dafür keine Zweidrittelmehrheit gab, die notwendig gewesen wäre.
Ein Abgeordneter dieses Hauses schrieb daraufhin an einen Verleger in einem 2016 veröffentlichten Briefwechsel – ich zitiere –:
Ich möchte weiterhin die heuchlerischen politischen Instrumentalisierungen des Holocaust kritisieren können, ich möchte nicht schweigen müssen, wenn unsere Bundeskanzlerin die Torheit begeht, die Verteidigung des Staates Israel zur Staatsräson Deutschlands zu erklären.
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Das war der Abgeordnete Marc Jongen.
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Übrigens – Graf Lambsdorff sagte es schon –: Die israelische Regierung lehnt jedweden Kontakt zur AfD ab. Die Anfang des Jahres geplante Reise einer Delegation des brandenburgischen Landtags nach Israel musste abgesagt werden, da die AfD-Abgeordneten in Israel nicht willkommen waren. Das kann man gut verstehen,
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wenn man die Person des Partei- und Fraktionsvorsitzenden in Brandenburg betrachtet.
Hingegen: AfD-Bundestagsabgeordnete reisten Ende November nach Syrien und trafen sich mit Vertretern von Diktator Assad. Syrien befindet sich, wie wir wissen, nach wie vor mit Israel im Kriegszustand.
Der Bundespräsident hat am Mittwoch im Bundestag Folgendes gesagt: Wenn wir die deutschen Verbrechen gegen Jüdinnen und Juden verharmlosen, verhöhnen wir die Opfer. – Das Programm der AfD ist nicht antisemitisch.
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Aber die AfD gibt Antisemiten eine politische Heimat.
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Und darum schlussfolgere ich: Der heute vorliegende Antrag ist nicht wirklich ernst gemeint, er ist heuchlerisch. Die AfD gibt sich lediglich den Anschein, gegen den Antisemitismus anzugehen. Ihr Ziel ist es, die Wählerinnen und Wähler glauben zu machen, die AfD sei eine bürgerliche Partei. Das sind Sie nicht.
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Die undemokratischen völkischen Kräfte gewinnen nach und nach die Mehrheit in der AfD, und Antisemiten haben in dieser Partei, wie eben schon ausgeführt, eine politische Heimat. Dem werden wir uns entgegenstellen.
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Der nächste Redner: für die Fraktion Die Linke der Kollege Dr. André Hahn.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben es in den letzten Tagen mehrfach gehört: Es ist wunderbar, dass es hier bei uns in Deutschland heute wieder viele aktive jüdische Gemeinden gibt. Kaum jemand hätte das nach der Befreiung vom Faschismus für möglich gehalten. Viele Jüdinnen und Juden hat es erhebliche Überwindung gekostet, hierher zurückzukehren und in dem Land zu leben, von dem der Zweite Weltkrieg ausging, jenem Nazideutschland, das für den Holocaust, für die Ermordung von Millionen Jüdinnen und Juden verantwortlich war. Für diese Schuld kann und darf es kein Vergessen geben.
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Auch deshalb haben wir, haben alle Demokraten in diesem Land eine ganz besondere Verpflichtung: Menschen jüdischen Glaubens in jeglicher Hinsicht zu unterstützen und zu schützen. Deshalb ist ein gutes, ein freundschaftliches Verhältnis zu Israel wichtig – was Kritik an politischen Entscheidungen nicht ausschließt. Klar ist: Antisemitismus jeglicher Art müssen wir mit aller Entschiedenheit entgegentreten.
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Antisemitische Positionen gehören zu den konstituierenden Elementen des Rechtsextremismus. Die AfD lässt seit Jahren nahezu nichts unversucht, rechtsextreme Positionen hoffähig zu machen.
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Angesichts dessen finde ich es schon ziemlich dreist, dass gerade diese Fraktion versucht, sich hier als Anwalt jüdischer Menschen oder der Beziehungen Deutschlands zum Staat Israel aufzuspielen.
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Ich will darauf verzichten, hier die unsäglichen antisemitischen Äußerungen von Gedeon, Sayn-Wittgenstein, Höcke, Gauland und Co zu wiederholen. Zur Verbesserung unserer Beziehung zu Israel brauchen wir ganz sicher keine Anträge der AfD.
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Eines will ich für meine Fraktion Die Linke aber auch ganz klar sagen: Es reicht nicht aus, sich in Sonntagsreden oder hier im Parlament über ein wieder blühendes jüdisches Leben in Deutschland und enge Verbindungen zu Israel zu freuen, wo viele Jüdinnen und Juden nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue Heimat gefunden haben.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Friedhoff aus der AfD-Fraktion?
Nein, gestatte ich nicht.
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Ich will für meine Fraktion Die Linke auch noch mal eindeutig erklären: Das Existenzrecht Israels darf von niemandem zur Disposition gestellt werden.
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Das ändert nichts daran, dass wir auch sagen: Ja, die Palästinenser haben Anspruch auf einen eigenen Staat. – Das tun wir auch. Trotzdem ist der erste Satz, den ich in diesem Zusammenhang betont habe, extrem wichtig.
Ein letzter Punkt. Unser Bekenntnis zu Schuld und Verantwortung muss auch glaubwürdig sein. Durch meine parlamentarischen Anfragen der letzten Wochen ist herausgekommen, dass die Gräber von SS-Kriegsverbrechern und sogar KZ-Kommandanten von Sachsenhausen, Dachau und Mauthausen über die Kriegsgräberfürsorge bis heute mit Steuergeldern gepflegt und erhalten werden. Damit muss endlich Schluss sein!
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Letzter Satz: Staatliche Förderung verdienen die Opfer und nicht die Täter. Daran darf es keinen Zweifel geben – nicht hier im Bundestag und auch nicht in unserer Gesellschaft.
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Der Kollege Omid Nouripour hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein Vertreter des israelischen Staates ist im Mai letzten Jahres von den deutschen Medien gefragt worden, warum er, wie alle anderen Vertreter des Staates Israel, nicht mit der AfD sprechen möchte. Er hat daran erinnert, dass er wenige Tage zuvor im Konzentrationslager Sachsenhausen zu Besuch war. Dann sagte er – ich zitiere –:
Ich finde es sehr schwierig, mir irgendeine Art von Gespräch mit Elementen vorzustellen,
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die irgendeine Form von Nostalgie für diese Vergangenheit verspüren.
Ich finde, er hat recht.
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Adorno hat gesagt: In rechtsradikalen Bewegungen macht die Propaganda die Substanz der Politik aus. – Auch er hat recht.
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Ihnen geht es nicht um den Schutz des Staates Israel oder seiner Bürgerinnen und Bürger, und das wissen auch unsere israelischen Freunde, wie wir gerade gehört haben. Ihnen geht es darum, die Erinnerungskultur in diesem Land zu diffamieren. Das tut aus der Mitte der Partei heraus Ihr Parteikollege Björn Höcke stellvertretend für viele andere, die ihm zujubeln, und stellvertretend für eine Jugendorganisation, die sich selbst Höcke-Jugend nennen will. Er diffamiert, indem er das, was wir in dieser Woche so würdig im Hohen Hause getan haben, als „dämliche Bewältigungspolitik“ bezeichnet.
Sie sind in einem braunen Sumpf versunken, aus dem Sie nicht mehr herauskommen können. Das ist auch der Grund, warum die sogenannten Gemäßigten mittlerweile zunehmend aus Ihrer Fraktion austreten. Sie haben ein Monster geschaffen, das Sie gar nicht stoppen wollen.
Schauen Sie sich an, was diese Woche zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz auf Ihrer eigenen Facebook-Seite zu lesen ist – ich zitiere Übles –: „Schluss mit dem Gejammer“, „Es reicht“, „Wir haben mit dem Scheiß nichts zu tun“, „Immer dieses Gelaber über die Juden, ich kann es nicht mehr hören“, „Den Holocaust gab’s doch gar nicht.“.
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Ich sage Ihnen jetzt – hören Sie bitte einmal zu –: Der Grund, warum Menschen sich trauen, so einen strafbaren, menschenverachtenden, hetzerischen Mist zu schreiben, ist auch Ihre Art, mit dem Thema umzugehen.
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Herr Kollege Nouripour, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Friedhoff zu?
Nein, herzlichen Dank.
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Das Resultat von Ihrem „Vogelschiss“, Ihrer Beschwichtigungspolitik ist genau die Rhetorik, die ich gerade beschrieben habe. Und dann spielen Sie das Unschuldslamm.
Ich zitiere noch einmal Adorno: Es ist ein altbewährtes und bis heute beliebtes Verfahren von rechtsradikalen Bewegungen: die Gefahren von rechts verharmlosen, den Entlarver selbst als totalitären Moralisten und Idealisten hinstellen. – Genau das tun Sie täglich. Ich warte eigentlich stündlich darauf, dass jemand von Ihnen aufsteht und sagt: Ein links-grün versiffter Steuerberater von Herrn Gauland ist schuld.
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Wenn der Antisemitismus in Deutschland zunimmt, wenn so schreckliche Ereignisse wie in Halle passieren, dann haben diese Stimmen und diese Rhetorik daran auch einen Anteil.
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Und wer so tut, als wäre der Antisemitismus ein rein importiertes Problem – noch mal: es gibt dieses Problem – aus dem Nahen Osten, will nur eines, nämlich seinen eigenen Beitrag zur Wiedererstarkung des Antisemitismus in der Mitte unserer Gesellschaft verschleiern.
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Ich kann Ihnen versichern: Alle demokratischen Parteien in diesem Haus werden Ihnen das nicht durchgehen lassen. Wir haben eine verdammt große, besondere Verantwortung gegenüber dem jüdischen Leben in Deutschland und dem Staat Israel. Wir alle werden nicht zulassen, dass Sie die Erinnerungskultur in diesem Land in den Dreck ziehen. Ich schwöre Ihnen als deutscher Moslem bei meinem Gott, dass wir das nicht zulassen werden. Das sind wir Deutsche den Opfern des Holocausts und allen weiteren Opfern der Nazidiktatur in Deutschland schuldig.
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Ich erteile das Wort zu einer Kurzintervention dem Kollegen Dietmar Friedhoff, AfD-Fraktion.
Herr Nouripour und auch die Vorredner, was mich immer etwas entfremdet,
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ist, dass es meiner Ansicht nach hier in diesem Hohen Hause hin und wieder an Respekt fehlt.
({1})
Deswegen kann ich mich vor der gestrigen Rede des israelischen Präsidenten nur verneigen, die nämlich genau darauf zielte, dass das Wichtigste, was wir Menschen brauchen, Augenhöhe und Respekt sind.
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– Ja, entspannen Sie sich. – Das fehlt mir hier bei dieser Diskussion.
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– Ja, ich nicht. Entspannen Sie sich.
Ich hoffe, dass Sie die gleiche Rede gehört haben wie ich gestern. Und zwar sagte der israelische Präsident, dass der Antisemitismus, der gerade stattfindet, nationalistisch ist, linksextrem ist und muslimisch ist.
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– Er hat es hier gesagt.
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– Das hat er so gesagt. – Wenn sich der Deutsche Bundestag dieser Diskussion nicht stellt und wir die Wahrheit nicht benennen, dann frage ich mich: Wie können wir eine wahrheitslose, inhaltslose Diskussion, die Sie hier ja ständig führen, auf den Punkt bringen? Denn so schützen wir die israelischen Bürger in Deutschland nämlich nicht.
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So liefern wir sie aus. Das ist Ihre Wahrheit, und das kann nicht zu unserer werden.
Ich möchte Sie an einer Stelle abholen, weil Sie immer von Einzelschicksalen und Familien sprechen: Mein Opa war im KZ. Er war nämlich Kommunist und hat sich gegen das Naziregime aufgelehnt.
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Genau wegen seiner Haltung wurde er eingesperrt. Glauben Sie mir: Meine Familie kann über das Thema reden. – Vielleicht sollten wir uns alle gemeinsam wieder mit Respekt an einen Tisch setzen.
Danke schön.
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Herr Kollege, wollen Sie darauf antworten? – Bitte schön.
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Herr Kollege Friedhoff, könnten Sie während der Antwort stehen bleiben? – Danke schön.
Herr Kollege, ich würde mir niemals anmaßen, im Namen des Staatspräsidenten eines anderen Landes zu sprechen,
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erst recht nicht im Namen des Präsidenten Israels.
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Ich bin einfach nur dankbar, dass wir dieses Geschenk bekommen haben, dass der Staatspräsident Israels trotz unserer Geschichte zu uns kommt, trotzdem diese Rede hält, und dann auch noch hier
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auf Hebräisch spricht. Das ist eine Gnade, die wir hoffentlich alle verdient haben, die uns wirklich nur beschämen kann. Das ist eine große Ehre.
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Ich hatte im Dezember letzten Jahres das Privileg, gemeinsam mit meinem Parteivorsitzenden und einer kleinen Delegation Herrn Rivlin in seinem Büro zu besuchen. Wir bekamen einen extrem herzlichen, freundschaftlichen und guten Empfang und hatten eine wundervolle Diskussion. Ich werde mir sicher nicht anmaßen, daraus zu zitieren, aber ich kann Ihnen versichern, dass nicht nur der Staatspräsident Israels aufgrund des Erstarkens Ihrer Partei und auch anderer sinngleicher Parteien in Europa höchst besorgt ist. Wenn es eine Entwicklung gibt, die eine massive Belastung für das europäisch-israelische Verhältnis bedeutet, dann sind Sie das.
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Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Christian Schmidt, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um es noch einmal grundsätzlich zu sagen: Es gibt zwei entscheidende Lehren aus dem Holocaust, die wir gestern auch in diesen beeindruckenden Reden von Staatspräsident Rivlin und unserem Bundespräsidenten gehört haben.
Erstens. Es muss einen jüdischen demokratischen Staat geben, in dem jüdische Menschen leben können. Dieser Staat muss in der Lage sein, sich zu verteidigen. Es ist in unserem Interesse – wie die Bundeskanzlerin gesagt hat: unsere Staatsräson –, das Existenzrecht dieses Staates zu unterstützen, zu verteidigen und zur Gewährung beizutragen.
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Wir müssen in unserem Land und weltweit zu jeder Zeit antisemitischen Einstellungen und Taten entgegentreten.
Dazu sind insbesondere diejenigen aufgerufen, die sich in Gruppierungen befinden, bei denen die Auseinandersetzung damit mangelhaft ist. Jeder Einzelne hat die Möglichkeit, sich innerhalb seiner eigenen Struktur und Partei – Kollegin Hendricks hat einige Beispiele und Zitate von Herrn Höcke genannt, die ich nicht wiederholen oder unterstreichen möchte – klar zu äußern und festzulegen und Herrn Gedeon und Herrn Höcke die Propaganda gegen Israel, gegen Juden und gegen das deutsche Geschichtsbewusstsein – die Erinnerungsarbeit – zu nehmen. Das findet aber nicht mit solchen Anträgen statt, sondern das findet in einer Diskussion statt, die hart sein mag. Aber unser Ziel muss doch sein, dass wir unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger in der Überzeugung unterstützen, dass sich dieses Verbrechen, das stattgefunden hat, nie wiederholen darf. Deklamatorische Bekenntnisse in Anträgen reichen dazu nicht aus.
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Die anderen Dinge kann man getrost denjenigen überlassen, die sich darum kümmern. Ja, wir sind dankbar, dass die größte Anzahl junger Israelis in Europa, die in Start-ups oder in Forschungseinrichtungen arbeiten, hier in Berlin ist. Darunter gibt es viele, die dazu beitragen, dass auch die nächste Generation sagt: Ja, in Deutschland, mit Deutschland und damit mit Europa ist eine gute Zusammenarbeit möglich.
Dazu gehört auch, dass man, wie ich es getan habe in meiner Zeit als kommissarischer Verkehrsminister, einem jungen Mann – er ist Deutscher und Israeli, besitzt beide Staatsbürgerschaften, ist hier in Berlin aufgewachsen –, dessen Flugbuchung von Kuwait-Airlines zurückgewiesen wurde, weil er koscheres Essen angefragt hatte, hilft und im Hinblick auf die sogenannte 6. Freiheit des Luftverkehrs – sie betrifft Transporte woandershin, in diesem Fall ein Flug nach Bangkok oder Singapur, der über Kuwait geht – klarmacht, dass man keine Diskriminierung von israelischen Staatsbürgern duldet. Deshalb müssen wir auch seitens der Bundesregierung – ich bin dankbar, dass dieser Ansatz fortgesetzt wird – bis hin zur kritischen Prüfung von Verkehrsrechten und Landerechten von kuwaitischen Airlines in Deutschland gehen.
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Das findet statt.
Dazu gehört auch, dass wir – vielen Dank, Roderich Kiesewetter – an den aktuellen Friedensvorschlag – man erwartet eigentlich, dass an so einem Tag alle, die daran beteiligten waren, gleichzeitig am Rednerpult stehen – vorurteilsfrei herangehen und sagen: Wenn sich daraus etwas machen lässt, dann aber nur mit allen gemeinsam.
Ich bedanke mich auch im Namen der Kolleginnen und Kollegen – das darf ich sagen – für das, was Staatspräsident Rivlin über die Leuchtturmwirkung deutscher Politik gesagt hat. Das hat mich beeindruckt. Dahinter steht auch eine Verantwortung, die wir wahrnehmen müssen, sei es in Europa oder international bei den Vereinten Nationen. Da wird noch einiges zu tun sein. Aber im Hinblick auf den völkerrechtlichen Status beispielsweise der Westbank und die Unversehrtheit Israels besteht noch Regelungsbedarf. Daran arbeiten wir mit, sodass auch die palästinensische Seite die Möglichkeit bekommt, sich in einem eigenen Staat zu verwirklichen. Das richtet sich nicht gegen Israel, sondern soll zum Frieden im Nahen Osten beitragen.
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Ich schließe die Aussprache.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Heute ist der Gesetzentwurf zur Errichtung der Deutschen Stiftung für Engagement und Ehrenamt in der zweiten und dritten Lesung. Wir freuen uns, dass wir an diesem Punkt sind. Es ist ein kleiner Gesetzestext; der reine Text ohne Begründung umfasst gerade einmal fünf Seiten. Aber diese fünf Seiten sind ein absolutes Novum für das Engagement in unserem Land.
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Wir schaffen damit erstmals eine bundesweite Anlaufstelle für Engagierte, Bürgerinitiativen, Vereine – kurzum: für das bürgerschaftliche Engagement in seiner ganzen Vielfalt. Mit der Deutschen Stiftung für Engagement und Ehrenamt gehen wir einen wichtigen Schritt, um die Zivilgesellschaft in Deutschland zu stärken und zu unterstützen.
Ich weiß aus vielen Diskussionen, die wir geführt haben, dass es auch Bedenken gegenüber der Stiftung gab. Aber eines ist ganz klar, und das will ich an dieser Stelle noch einmal versichern: Engagement ist und bleibt freiwillig; es ist getragen von den Kräften der Zivilgesellschaft. Wir wollen mit der Stiftung nicht das Rad neu erfinden oder Dinge tun, die es ohnehin schon gibt; vielmehr wollen wir auf Vorhandenem aufbauen. Wir wollen das, was vorhanden ist, stärken und unterstützen. Es geht darum, Netzwerke aufzubauen, Strukturen gerade dort zu schaffen und zu unterstützen, wo das Engagement noch nicht so stark ist, im ländlichen Raum, in strukturschwachen Regionen.
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Diejenigen, die sich seit Langem in diesem Bereich einbringen, die Erfahrung haben, wollen wir einladen, das mitzugestalten. Wir haben im parlamentarischen Verfahren darüber eine Diskussion geführt, wir werden sie auch weiterhin führen. Deshalb haben wir im parlamentarischen Verfahren die Einrichtung von Fachbeiräten vereinbart. Sie werden die Stiftung gut beraten und vielen Akteuren aus der Zivilgesellschaft die Möglichkeit geben, im Stiftungsgeschäft dabei zu sein.
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Wir haben im parlamentarischen Verfahren auch die Möglichkeit geschaffen – das war eine große Diskussion –, dass besonders innovative Projekte und Initiativen finanziell gefördert werden können. Wir ermöglichen, dass innovative Modellprojekte in Deutschland, die wegweisend sind, durch die Stiftung auch finanziell unterstützt und gefördert werden können. Vielen Dank an die Parlamentarier, die das mit eingebracht haben.
({3})
Das alles sind gute Voraussetzungen für die Arbeit einer solchen bundesweiten Stiftung, einer Stiftung, die denjenigen hilft, die etwas für die Gemeinschaft tun oder tun wollen und dabei auf Hürden stoßen, zum Beispiel Brigitte aus Wiesbaden, die für ein Nachtcafé für einsame Menschen nicht mehr genügend Freiwillige findet oder Henning aus Cottbus, der nicht weiß, ob er die Mitgliederliste des Vereins digitalisieren darf, der nicht weiß, wie er neue Mitglieder findet, wie er dafür sorgen kann, dass im Verein alles gut läuft. Die Stiftung wird somit Kompetenzzentrum sein, sie wird Service und Know-how bieten, gerade im Hinblick auf die Digitalisierung, aber auch bei den Themen Nachwuchsgewinnung, Fortbildung und der Frage, wie man ehrenamtliches Engagement gut organisieren und wie man vor Ort konkret unterstützen kann. Wir wollen Engagement nicht verordnen; wir wollen es besser machen, indem wir es unterstützen, indem wir erfolgreiche Ideen unterstützen.
Es gibt dafür Beispiele wie die Bundeskulturstiftung. Sie ist mittlerweile eine der größten Kulturstiftungen Europas. Damit hat der Bund schon vor Jahren ein ganz klares Zeichen gesetzt: Kultur zu fördern, ist eine Aufgabe von bundesweiter Bedeutung.
Das wollen wir nun auch mit dem Engagement tun. Es gibt in Deutschland 30 Millionen Menschen, die sich engagieren. Ihr Einsatz verdient unsere Anerkennung. Mit der Gründung dieser Stiftung setzen wir genau dieses Signal und zeigen, dass das Engagement von nationaler Bedeutung ist.
({4})
Meine Damen und Herren, vor 97 Tagen haben wir diesen Gesetzentwurf in den Bundestag eingebracht. Ich möchte mich bei allen bedanken, die daran mitgearbeitet haben, ihn noch besser zu machen. Er ist für die Stiftung ein gutes Fundament.
Jetzt geht es darum, die Stiftung mit Leben zu füllen. Ihr Sitz wird in Neustrelitz, in Mecklenburg-Vorpommern, sein, ganz bewusst im Osten Deutschlands. Das ist ein wichtiges Signal an diesen Teil des Landes, in dem es eben aufgrund der historischen Entwicklung noch nicht so viel Engagement gibt. Wir haben dort nicht so starke Strukturen, und es ist gut, diese zu unterstützen; denn ich bin mir sicher, dass es auch in Ostdeutschland viele Menschen gibt, die Großes bewirken bzw. bewirkt haben. Deshalb ist es gut, dass die Stiftung an diesem Ort ist.
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Lassen Sie uns gemeinsam dafür arbeiten, dass die Stiftung gelingt, dass sie das Engagement in Ost und West, in Nord und Süd und in unserer Mitte weiter stärkt. Ich freue mich, dass es heute so weit ist, dass wir die Stiftung errichten können.
Herzlichen Dank.
({6})
Vielen Dank, Frau Bundesministerin. – Für die Fraktion der AfD hat nun das Wort die Kollegin Nicole Höchst.
({0})
Herr Präsident! Werte Kollegen! Die Gründung einer zentralisierenden Stiftung ist nicht die passende Maßnahme zur Stärkung des Ehrenamts in strukturschwachen und ländlichen Räumen. Wohin zunehmend weltfremder und sich selbst legitimierender sozialistischer Zentralismus in Europa führt, zeigt uns eindrucksvoll der Steuergelder verschlingende Moloch der EU, nämlich weg vom Souverän, dem Bürger, und oft auch weg von der Wahrhaftigkeit.
({0})
Wir kritisierten bereits in der ersten Lesung, dass die Art der Zusammensetzung der Gremien die Stiftung zum verlängerten Arm der jeweiligen Regierung macht. Auch die Änderungsanträge der FDP und der GroKo ändern wenig an dieser Tatsache. Verehrte Kollegen insbesondere der zukünftigen spezialdemokratischen Oppositionspartei, wollen Sie wirklich einem solchen Konstrukt zustimmen?
({1})
Verehrte Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion, wollen Sie das so wirklich? Ihr Regierungsauftrag ist nicht in Stein gemeißelt.
Wie schnell könnten auch Sie zum Ziel von bundesregierlichem Framing und Maßnahmen im Kampf gegen freiheitlich-konservative Meinungen und Haltungen werden!
({2})
Nicht unwahrscheinlich in Zeiten des aufsteigenden Ökosozialismus, planwirtschaftlicher Verbots- und gesellschaftlicher Umbaupolitik.
Noch mal: Die geplante Vernetzung und Zentralisierung mittels Stiftungsgründungen dient nicht dem Ehrenamt, schon gar nicht dem Ehrenamt vor Ort, sondern der jeweiligen Bundesregierung und deren Ideen. Letztere könnten im schlimmsten Fall auch eine Haltungsdiktatur verfestigen, Andersdenkende medial und beruflich vernichten oder ihnen gar die Teilhabe an demokratischen Prozessen absprechen wollen. Das haben zum Beispiel Frau Hendricks und Herr Hahn eben öffentlich vorgeführt, die offensichtlich dem israelischen Staatspräsidenten bei der Feierstunde nicht zugehört haben.
({3})
Eine Stiftung einer Regierung, die derart selektiv wahrnimmt und zum Teil der Ideologie von linksunten.indymedia nähersteht als unserem Grundgesetz, lehnen wir ab.
Die Alternative für Deutschland möchte mit ihrem Antrag Ehrenamtliche spürbar wertschätzen. Ehrenamtskarten gibt es bereits zum Beispiel in Berlin und Brandenburg.
({4})
Letztendlich kann nur der Bund die Ehrenamtskarte in die Fläche bringen. Er kann bundesweit für Vergünstigungen bei Mobilität, Konsum und Kultur sorgen und die Ehrenamtskarte zu einer Karte machen, die bedeutsame Vergünstigungen bundesweit ermöglicht.
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Unser Vorschlag kann das klassische unpolitische Ehrenamt in der Wertschätzung weiter stärken. Andere Signale gehen leider vom Familienministerium aus. Freiwilligendienste und Bundesfreiwilligendienst mussten Kürzungen hinnehmen.
({6})
Letztere gehören zwar nicht originär zum Ehrenamt; die Kürzungen sind dennoch ein politisches Signal. Sie zeigen die Schieflage, dass Ehrenamtstätigkeiten zur politischen Meinungsbildung im Sinne der herrschenden Ideologie hohes Ansehen genießen und die klassischen Freiwilligendienste und Ehrenamtstätigkeiten eben nicht.
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Bestes Beispiel: „Demokratie leben!“ Unter Einflussnahme der Familienministerin Frau Dr. Giffey wurden die Kürzungen für das stark links schlagseitig meinungsbildende Projekt wieder zurückgenommen; andere blieben hingegen bestehen. So fördert die Regierung sehr deutlich nicht grundsätzlich das Wohl der freiheitlich-demokratischen Gesellschaft, sondern die Durchsetzung ihres totalitär-toleranten familien- und gesellschaftszerstörenden Weltbildes in allen Bereichen.
({8})
Meine Damen und Herren, bitte stimmen Sie gegen eine Verlängerung des Arms der jeweiligen Regierung, und stimmen Sie für die bundesweite Ehrenamtskarte! Sorgen Sie in Deutschland wieder für mehr Heimat, Wärme und Vertrauen, damit es allen Menschen in Deutschland besser geht!
Vielen Dank.
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Das Wort hat als Nächstes die Kollegin Nadine Schön, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Grundlage unseres christdemokratischen Wertesystems ist die katholische Soziallehre. Sie beruht auf den Prinzipien Personalität, Solidarität, Subsidiarität und Gemeinwohl.
({0})
„Baugesetze der Gesellschaft“ werden diese Prinzipien auch genannt. In kaum einem anderen Bereich kommen diese Baugesetze so stark und so konkret zutage wie im Ehrenamt.
In unserem Wertesystem sehen wir den einzelnen Menschen im Mittelpunkt, als individuelles Wesen mit Freiheit, Verantwortung und ganz individuellen Fähigkeiten. Dieses Individuum bringt sich in die Gemeinschaft ein, die von klein nach groß und von unten nach oben fähig ist, Probleme zu lösen und sich weiterzuentwickeln. Die Vielfalt der Fähigkeiten, die Solidarität und das Sich-Einbringen machen unsere Gesellschaft so reich und so menschlich.
Genau das sehen wir im Ehrenamt jeden Tag in ganz vielen Initiativen, Vereinen, Verbänden und Organisationen vor Ort.
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Viele Menschen bringen sich mit ihren Fähigkeiten zu Themen ein, die sie für richtig und wichtig halten und die nicht, wie die AfD meint, von oben vorgegeben werden. Da ist die Spielplatzinitiative. Da ist das Netzwerk von Freiwilligen. Da sind die Feuerwehrleute, die nachts aufstehen und morgens trotzdem ihre Kinder zur Schule bringen und arbeiten gehen. Da sind die Trainerinnen und Trainer in den Sportvereinen, die die Wochenenden auf dem Sportplatz oder in Sporthallen verbringen. Da sind Menschen, die sich für die Kleiderbörsen, für Menschen vor Ort, für alte Menschen, für Senioren, engagieren. Die Vielfalt des ehrenamtlichen Engagements in unserem Land ist unglaublich. Sie bereichert unsere Gesellschaft.
Das Ehrenamt, vor allen Dingen das Ehrenamt in Vereinen und Verbänden, von Menschen, die sich über einen längeren Zeitraum hinweg engagieren, wollen wir mit dieser Stiftung stärken.
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Unsere Aufgabe, die Aufgabe des Staates, ist es nämlich, die Menschen zu befähigen, sich einzubringen, und die Vielfalt zu stärken und zu unterstützen. Mit der Stiftung für Ehrenamt und Engagement tun wir genau das. Wir sehen die Stiftung als eine Plattform, die die guten Dinge, die es überall in unserem Land gibt, transparent und für andere zugänglich macht. Der eine kann vom anderen lernen. Das Dach ist die Stiftung.
Mit der Stiftung wollen wir das, was es noch nicht genügend gibt, weiterentwickeln. Wir wollen Ehrenamtliche dabei unterstützen, neue Herausforderungen anzugehen. Die Digitalisierung birgt so viele Chancen für das Ehrenamt. Diese können gemeinsam unter diesem Dach in der Vielfalt der vielen verschiedenen Initiativen vor Ort entwickelt werden. Wir sehen sie als Treiber, die Neues auf den Weg bringt.
Es wurde gelegentlich kritisiert, wir würden Doppelstrukturen schaffen.
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Gerade im Gesetz haben wir noch mal herausgestellt, dass wir keine Doppelstrukturen schaffen wollen. Wir wollen das, was da ist, für alle zugänglich machen. Wir wollen das, was fehlt, ergänzen. Wir wollen eine Plattform, die die Vielfalt der Ideen, der Möglichkeiten und Lösungen abrufbar macht. Wir wollen, dass das, was noch nicht da ist, entwickelt werden kann.
Niemand wird behaupten können, dass die Ehrenamtler heute sagen, dass vor Ort schon alles gut ist, dass sie tolle Unterstützung und Hilfe in egal welchem Bereich haben. Da sind neue Herausforderungen wie die Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs, der die Vereine, die Ehrenamtlichen wirklich vor Herausforderungen stellt. Hier können wir sie nicht alleinlassen. Da ist die Digitalisierung, die tolle Chancen für Vereinsmanagement, für Mitgliedergewinnung oder für den Umgang mit Regulierung bietet. Auch hier kann die Stiftung unterstützen, Neues auf den Weg bringen.
Wir wollen mit der Stiftung Vielfalt stärken und nicht bekämpfen, wie es in der Rede zuvor ausgedrückt worden ist. Wir sehen in unserem Wertesystem den einzelnen Menschen mit seinen Ideen, seinen Fähigkeiten und jeder einzelnen Initiative im Mittelpunkt. Diese Fähigkeiten wollen wir allen zugänglich machen. Das soll die Stiftung leisten. Deshalb sind wir stolz, dass wir sie heute gemeinsam auf den Weg bringen.
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Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Grigorios Aggelidis.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Ministerin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ehrenamt und Engagement – das ist der Kitt unserer Gesellschaft, bereichert unser Land und unser aller Leben. Es sind Millionen Menschen, die ihre Zeit opfern, die jungen Menschen Teamgeist und Sport beibringen, in Gemeinden für und mit Bedürftigen wertvolle soziale Arbeit leisten, in Blaulichtdiensten wie Feuerwehr, DRK, THW jeden Tag bereit sind, uns zu schützen und zu retten, und die vielen Hunderttausenden, die diese Arbeit durch ihre Vorstandsarbeit erst möglich machen.
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Das sind Millionen Menschen, die sich aber auch – oft täglich – darüber ärgern, dass sie immer mehr dieser wertvollen Zeit für Bürokratie wie Dokumentation und Steuererklärungen aufbringen müssen, oder durch den Gesetzgeber, der ihre Probleme nicht sieht, immer mehr Haftungen aufgeladen bekommen. Wenn Betreuer von Jugendfreizeiten ihre Arbeitszeit exakt dokumentieren müssen, wenn der DRK-Vorsitzende eines kleinen Ortsverbandes einen 160 Seiten langen Ratgeber Steuern berücksichtigen muss,
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wenn eine freiwillige Feuerwehr nicht einmal unkompliziert Bratwürstchen für die eigene Kasse verkaufen kann, dann läuft hier gehörig etwas schief, meine Damen und Herren.
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Das muss in Zukunft aufhören. Solche Entwicklungen müssen wir, das Parlament, verhindern. Und genau deswegen brauchen wir sowohl einen Ehrenamtscheck, der in Zukunft solchen Schwachsinn verhindert, als auch eine eindeutige zentrale Anlaufstelle, eine Ombudsstelle für das Ehrenamt, um die bisher aufgelaufenen schwachsinnigen Regelungen endlich zu entschärfen.
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Wir nehmen das sehr ernst. Genau deswegen lehnen wir Ihre Form der Ehrenamtsstiftung ab und legen einen eigenen Antrag vor. So wie die Stiftung vorgeschlagen ist, ist sie vor allem teuer und mehr ein Feld für drei Ministerien als ein Feld für Engagement. Ihr Vorschlag hält die Akteure der Zivilgesellschaft am Gängelband der drei Ministerien; denn diese haben ein Vetorecht und entscheiden alleine darüber, wer dazu darf, wer nicht oder wer rausfliegt. Wir wollen im Gegensatz zu Ihnen – deswegen dieser Antrag –, dass die Zivilgesellschaft stark und unabhängig von den Ministerien agieren kann.
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Wir wollen vor allem, dass es eine Ombudsstelle als zentrale Anlaufstelle für notwendige Veränderungen, Erleichterungen und Verbesserungen in der Gesetzgebung gibt. Ergebnis des Bürokratie-Barometers der Stiftung Aktive Bürgerschaft aus dem Jahr 2019: Von 870 000 Arbeitsstunden der Führungskräfte der Stiftung Aktive Bürgerschaft entfielen 460 000, 53 Prozent – oder für die, die es einfacher brauchen: 32 Minuten einer jeden Stunde –, auf Bürokratieerfüllung. Mehr als zwei Drittel der Vorstände sagen: Der Bürokratieaufwand war vor fünf Jahren geringer bzw. viel geringer als heute. – Es kann nicht sein, dass die Bundesregierung und der Gesetzgeber diese tragende Säule unserer Gesellschaft mit Bürokratie und gesetzlichen Vorschriften abreißen. Wir brauchen endlich einen Ehrenamtscheck, bei dem schädliche Wirkungen und Auswirkungen von Gesetzentwürfen für das Ehrenamt frühzeitig entdeckt und verhindert werden können.
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Wir brauchen dringend eine konsequente und spürbare Kehrtwende bei der bürokratischen Belastung von Ehrenamtlichen; denn das ist Zeit, die dann für das Engagement selbst fehlt. Deswegen ist es jetzt Zeit, dass wir das ändern. Stimmen Sie unseren Anträgen bitte zu. Helfen wir dem Ehrenamt.
Vielen Dank.
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Die Kollegin Katrin Werner ist die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir diskutieren abschließend über den Gesetzentwurf zur Errichtung einer Engagementstiftung. Eigentlich sagt man: Was lange währt, wird endlich gut. – Es wäre schön, wenn es so wäre. Aber bei diesen Vorlagen stimmt es nicht ganz.
Ja, nach der massiven Kritik der zivilgesellschaftlichen Organisationen und der Sachverständigen haben CDU/CSU und SPD einen Änderungsantrag vorgelegt. Ja, die Änderungen gingen zum Teil in die richtige Richtung. Aber die Grundstruktur der Stiftung wird nicht geändert. Der Einfluss der Zivilgesellschaft in der Stiftung ist immer noch viel zu gering. Es wurde gerade erwähnt: Drei Ministerien, die beteiligt sind, behalten ein Vetorecht in allen wichtigen Entscheidungen. Von 19 Sitzen sind 9 für die Zivilgesellschaft im Stiftungsrat vorgesehen. Wir verstehen einfach nicht: Wie soll die Breite von Verbänden, Vereinen und Organisationen vertreten sein?
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Für uns stellt sich die Frage: Wovor haben Sie eigentlich Angst? Um die Organisationen stärker einzubinden, soll der Stiftungsrat nun Fachbeiräte berufen können. Das haben Sie erwähnt, Frau Giffey. Sie können beratend tätig sein. Das ist aus unserer Sicht viel zu wenig. Es muss eine verbindliche, dauerhafte und umfassende Einbindung der Zivilgesellschaft in die Stiftung geben und diese muss stärker an den Entscheidungen beteiligt werden. Die Stiftungsstruktur, die Sie jetzt schaffen möchten, zeugt, so finden wir, eher von Misstrauen gegenüber der Zivilgesellschaft. Das darf einfach nicht sein.
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Auch wenn Sie erwähnen, dass nachkorrigiert wurde: Der Fokus der Stiftung liegt immer noch auf den Serviceangeboten und auf der Beratung. Der Fokus liegt nicht auf der Förderung von vorhandenen Strukturen und Organisationen. Insofern kann man nachvollziehen, dass es Ängste gibt, dass Parallelstrukturen geschaffen werden. Auch diese werden mit dem Änderungsantrag nicht abgeschafft. Sie schaffen also hauptsächlich eine Beratungsagentur mit 75 Stellen, statt die Expertinnen und Experten in eigener Sache direkt zu unterstützen und ihnen unter die Arme zu greifen.
Zivilgesellschaftliche Strukturen befürchten – das habe ich gerade gesagt –, dass sie verdrängt werden, dass es aber auch Parallelstrukturen gibt. Diesem Vorwurf begegnen Sie damit, dass es eine engere Abstimmung zwischen Ehrenamt- und Engagementstrukturen geben wird, die Sie in das Gesetz schreiben. Wir werden in Zukunft sehen, ob das Problem damit aus dem Weg geräumt werden kann. Befürchtungen sind da.
Die Kritik, die von vielen Seiten und auch in der Anhörung geäußert wurde, greifen Sie eher halbherzig auf. Der Änderungsantrag geht allerdings in die richtige Richtung. Ihm werden wir zustimmen, insgesamt werden wir uns enthalten.
Frau Giffey, von einer „Brücke zur Zivilgesellschaft“, von der Sie anfänglich gesprochen haben, kann keine Rede sein. Sie geben den Ministerien mehr Macht als der Zivilgesellschaft. Das finden wir schade. Der Änderungsantrag der FDP und der Entschließungsantrag der Grünen gehen in die richtige Richtung, aber beide beteiligen die Zivilgesellschaft nicht mehr. Das finden wir leider schade.
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Die Kollegin Kordula Schulz-Asche hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man durchs Land fährt, dann begegnet man überall den zahlreichen und bunten Vereinen, Initiativen, Organisationen des ehrenamtlichen Engagements, Menschen, die sich Tag für Tag vor Ort für unsere Gesellschaft und unsere Umwelt einsetzen. Was Engagement angeht, liegt Deutschland europaweit über dem Durchschnitt. Darauf können wir alle stolz sein. Deswegen möchte ich an dieser Stelle allen Engagierten in diesem Land herzlich danken.
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Frau Merkel hat sich kürzlich mit Engagierten getroffen und ganz plötzlich von dem Zuviel an Bürokratie gehört. Dabei steht schon im Koalitionsvertrag der Auftrag: Bürokratieabbau im Ehrenamt. Nur passiert ist bisher nichts.
Wer Engagement erleichtern will, meine Damen und Herren, darf nicht bei Sonntagsreden bleiben. Deshalb begrüßen wir vom Grundsatz her die Einrichtung einer Engagementstiftung, auch mit der großen Fördersumme in Höhe von 30 Millionen Euro. Aber wie so vieles bei dieser Großen Koalition: Gut gemeint ist noch längst nicht gut gemacht. Deswegen hagelt es Kritik aus der Zivilgesellschaft. Das haben wir in der Anhörung, im Bundesrat, im Normenkontrollrat usw. usf. gehört.
Uns ist es besonders wichtig, dass wir eine Stiftung des Förderns bekommen, die den Engagierten vor Ort tatsächlich unter die Arme greift und die Vernetzung vor Ort fördert.
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In der Praxis scheitert Engagement doch oft auch an kleineren Sachen: Man kann eine Raummiete nicht bezahlen, man braucht Mittel für einen Beamer. Wir wollen Engagement erleichtern.
Die CDU/CSU hingegen möchte eine zentrale Serviceagentur als Sorgentelefon und für sogenannte Vernetzungsleistungen. Dabei gibt es solche Netzwerke längst. Wir haben in den Kommunen die Freiwilligenagenturen, wir haben Bürgerstiftungen, wir haben das Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement. Bauen Sie lieber Bürokratie ab, statt eine zentrale Stelle zu schaffen, die den Weg durch den Bürokratiedschungel erleichtern soll!
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Und weiter: Eine Engagementstiftung muss die Vielfalt des Engagements abbilden. Aber was machen Sie? Von 19 Mitgliedern im Stiftungsrat werden nur 9 aus der Zivilgesellschaft sein. Das ursprünglich geplante Kuratorium wurde jetzt durch Fachbeiräte ersetzt. Statt die Zivilgesellschaft zu stärken und zu fördern, bleiben Sie Ihrem Top-down-Verständnis gegenüber engagierten Menschen treu.
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Wir haben einen Entschließungsantrag mit unseren Vorschlägen für eine selbstbewusste, für eine kritische Zivilgesellschaft eingebracht. Daher werden wir uns bei der Abstimmung zur Stiftung enthalten.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Für die SPD-Fraktion hat das Wort die Kollegin Elisabeth Kaiser.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Deutschland engagieren sich über 20 Millionen Menschen ehrenamtlich, also unentgeltlich, in Initiativen und Verbänden. Respekt, kann ich da nur sagen, und vor allen Dingen: Danke!
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Denn das, was diese Menschen in ihrer Freizeit machen – für andere da zu sein: für ihren Ort, die Kultur, die Jugend, Senioren, sozial Benachteiligte, unsere Sicherheit und vor allen Dingen unsere Demokratie –, könnte der Staat so nicht leisten und erst recht nicht ersetzen.
Mit ihrem Engagement zeigen sie allen anderen, dass jeder etwas tun kann. Oft wächst dann aus einzelnen Gestalterinnern und Gestaltern ein Gemeinsames; ein Wir entsteht. Dieses Wir ist das Fundament des solidarischen Miteinanders in den Städten und Dörfern, dieses Wir ist der gesellschaftliche Zusammenhalt.
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Problematisch wird es aber in den Orten, wo dieses Fundament bröckelt, weil Menschen abgewandert sind, weil keine Zeit neben dem Pendeln oder der Familie bleibt oder einfach weil es an Nachwuchs fehlt oder an Geld. Diese Sorge bringt mich zum Kern der Debatte, nämlich zu der Frage: Warum braucht es überhaupt eine Stiftung für Ehrenamt und Engagement?
Insbesondere als ostdeutsche Bundestagsabgeordnete möchte ich hier zwei Gründe und zwei wesentliche Punkte nennen:
Erstens. Die Stiftung soll dort unterstützen, wo die ehrenamtlichen Strukturen besonders schwach ausgeprägt sind, also vor allen Dingen in ländlichen Regionen, dort, wo der demografische Wandel schmerzhaft spürbar ist. Ich muss sagen: Ja, das trifft insbesondere auf Ostdeutschland zu. Franziska Giffey hat das auch schon ausgeführt. Deshalb ist es ein starkes Signal, dass diese Stiftung ihren Sitz in Neustrelitz haben wird.
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Mit dieser landesweiten Stiftung bringt der Bund auch seine Wertschätzung für die verantwortungsvolle Arbeit vieler Engagierter zum Ausdruck. Sie sollen sich vom Staat nicht alleingelassen fühlen. Sie verdienen jede Förderung und Unterstützung; denn viele Ehrenamtliche kennen die entmutigenden Momente im Kampf gegen die Bürokratie.
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Genau hier setzt die Stiftung an. Sie soll engagierte Menschen und Förderprogramme zusammenbringen, ihnen bei der Vernetzung mit bestehenden Engagementstrukturen helfen oder eben auch bei den Hürden im Ehrenamtsalltag – wie der Datenschutz-Grundverordnung oder dem Steuerrecht – beistehen.
Zweitens. Der wesentliche Grund für die Notwendigkeit dieser Stiftung ist, dass sie innovative Ideen zur Stärkung des Gemeinwesens über eine unkomplizierte Förderung zum Laufen bringen soll. Geben wir doch den Menschen, die sich engagieren möchten, denen aber die Mittel fehlen, die Chance, mit ihren Projekten das Zusammenleben vor Ort zu stärken und so auch andere für das Engagement zu motivieren! Ich bin sehr froh, dass wir die Möglichkeit der direkten Förderung im parlamentarischen Verfahren – vor allen Dingen durch die Vehemenz von Svenja Stadler – noch in dem Stiftungszweck verankern konnten.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, bürgerschaftliches Engagement ist sinnstiftend für eine offene, integrative und partizipative Gemeinschaft. Ich bin überzeugt: Diese Stiftung hat bei guter Umsetzung die Chance, das Ehrenamt und die guten Strukturen des bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland zu erhalten und zu stärken.
Nun muss sie zügig auf die Beine kommen, damit diese Hilfe für die Ehrenamtlichen spürbar und wirksam wird. Deshalb bitte ich Sie, jetzt den ersten Schritt zu tun und dem Gesetzentwurf zuzustimmen.
Vielen Dank.
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Der nächste Redner ist der Kollege Martin Patzelt, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste in unserem Haus! Die drei Ministerien, die die Stiftung tragen, fördern das Ehrenamt im Jahr mit etwa 1,2 Milliarden Euro. Hier kommt doch die Frage auf: Warum müssen wir dann eine Stiftung haben, und wie groß ist der Betrag von 30 Millionen Euro im Verhältnis zu dieser Fördersumme?
Aufgrund unserer Erfahrung, dass das Ehrenamt und das Engagement in Deutschland zwar eine erhebliche Förderung erfahren, im Unterausschuss „Bürgerschaftliches Engagement“ und in unseren Wahlkreisen aber dennoch ständig Probleme an uns herangetragen werden, mussten wir die Frage stellen: Woran liegt es eigentlich, dass trotz einer so großzügigen Förderung die Sorgen der Ehrenamtlichen und ihrer Organisationen so groß sind?
Wenn hier gesagt wird, dass wir genug Organisationen und Netzwerke für bürgerschaftliches Engagement haben, stellt sich für mich noch einmal die Frage: Wie kommt es denn, dass wir diese Sorgen und Probleme immer wieder vorgetragen bekommen? Es geht dabei um Fragen der Gemeinnützigkeit, Fragen des Steuerrechts, Fragen der Versicherung. Wie gehe ich mit Förderanträgen um? Was ist meine Ansprechadresse? Wie kann ich mich verbinden und in Netzwerken mitarbeiten?
All diese Fragen haben wir in den letzten Jahren vermehrt vorgetragen bekommen. Deshalb ist die Idee einer kleinen, flexiblen Stiftung, die versucht, genau diese Defizite zu beheben, ein positiver Beitrag der Bundesregierung und unseres Parlamentes, um dort Abhilfe zu schaffen.
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Diese Stiftung wird überhaupt kein staatliches Monstrum sein. Ich weiß nicht, wer den Entwurf überhaupt gelesen hat. Haben Sie das mal gelesen? Subsidiär, ergänzend, kooperativ, vernetzend – und das mit 30 Millionen Euro! Wie man daraus den Eindruck ableiten und hier im Parlament verkünden kann, dass das ein Monstrum wäre, verstehe ich nicht.
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Kollege Aggelidis, Sie wissen aus dem Unterausschuss genau, wo die Sorgen sind. Wir brauchen dafür keine wissenschaftliche Untersuchung. Diese Stiftung ist kein Monster, wie es vorgetragen wurde. Sie ist eine kleine, feine und hoffentlich sehr wirksame Stiftung, die genau auf die Anfragen, die aus der Praxis kommen werden, reagieren wird.
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Sie wird ein atmendes System sein, und sie wird sich dadurch beweisen, dass sie die Probleme aufgreift.
Herr Kollege Patzelt, der Herr Kollege Aggelidis würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Ja. – Ich werde das gleich weiter klarstellen.
Vielen Dank, Herr Kollege Patzelt, dass Sie die Frage zulassen. – Sie haben hier die 1,3 Milliarden Euro aufgeführt, die die drei Ministerien aufwenden; Sie wollen jetzt mit den 30 Millionen Euro noch einmal 75 Stellen schaffen. Sie sprechen von den Sorgen, die wir immer wieder hören; ich höre sie übrigens deutlich länger, weil ich aus dem Ehrenamt komme.
Sie haben also die 1,3 Milliarden Euro und die zusätzlichen 30 Millionen Euro genannt. Mich würde interessieren – und das ist auch meine Frage –: Wo genau, an welcher Stelle, steht der klare Auftrag zum Bürokratieabbau, zur Entlastung des Ehrenamtes, zur Verschlankung von Strukturen? Wo genau ist der Auftrag dazu? Wo ist bitte die eine Stelle auf Bundesebene – viele dieser Gesetze sind Bundesgesetze –, an die sich das Ehrenamt konkret wenden und bei der es sich beschweren kann, damit es besser wird? – Danke.
Wir wissen aus unserer Arbeit hier im Parlament – aus der Gesetzgebung –, dass wir die Bürokratie in Deutschland mit jedem neuen Gesetz vermutlich – manchmal ist das auch erwiesen – vermehren, statt dass wir sie vermindern. Wir haben einen Bedarf an Regelungswerken, der sich aus der Praxis unseres Lebens ergibt.
Ich vermute, dass die Stiftung genau der Ort sein wird, wo genau diese Barrieren und Hürden aus der Erkenntnis der Dialoge, die dort geführt werden, aufgenommen und an die Regierung und uns, ans Parlament, herangetragen werden.
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Das ist genau die Funktion der Ombudsstelle, die Sie in Ihrem Antrag fordern. Wir brauchen dazu keinen Ombudsmann, sondern wir brauchen die Stiftung, die in einem andauernden und lebhaften Dialog diese Probleme aufnimmt und weitertransportiert.
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– Wir müssen uns hier jetzt mal befrieden.
Okay, ich glaube, die Frage ist jetzt ausreichend beantwortet. – Herr Kollege, fahren Sie fort.
Das hätten wir weiter im Ausschuss diskutieren können.
Ich will noch einmal deutlich machen, was meine Vorredner schon gesagt haben: dass – das ist die Innovation – in einer subsidiären Weise genau dort ein Ansprechpartner da ist, der in den großen Ministerien und in den Bundesverwaltungsämtern so nicht gegeben ist: Face to Face, von Mail zu Mail, von Telefon zu Telefon. Und dann gilt es, die guten Gedanken aufzunehmen, die da sind, und in eine Landschaft hineinzubringen, die tatsächlich einen großen Bedarf an Innovationen hat.
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Meine Damen und Herren, von der Nachbarschaftshilfe bis zur Kommunalpolitik haben wir insbesondere dort, wo die Wirklichkeit so ist, dass Menschen weggehen, einen Bedarf, dass jemand anwaltlich an der Seite der Ehrenamtlichen steht. Es wäre ein wirkliches Fehlverhalten oder ein Versäumnis, wenn wir diesen Leuten nicht zur Seite stünden.
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Lassen Sie uns diese Stiftung auf den Weg bringen. Sie wird sich beweisen müssen. Ich bin dankbar, dass wir die Anhörung durchgeführt haben und nach der Anhörung mit unserem Antrag noch einmal alle die Probleme auszuräumen versucht haben.
Herr Kollege Patzelt, kommen Sie bitte zum Ende.
Frau Werner, zu Ihnen muss man sagen: Lesen Sie doch mal unseren Ergänzungsantrag! Dann werden Sie sehen, dass wir genau die Probleme, die beanstandet wurden in der Anhörung, aufgegriffen haben.
Leider ist meine Zeit zu Ende.
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Vielen Dank, Herr Kollege Patzelt. – Die Kollegin Gitta Connemann ist die letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt. Wenn Sie ihr noch die Chance geben, ihre Rede ungestört zu Ende zu führen! – Liebe Frau Kollegin, Sie haben das Wort.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Willst du froh und glücklich leben, lass kein Ehrenamt dir geben“, heißt es in einem Gedicht. Das klassische Ehrenamt – die Arbeit im Sportverein, im Gemeinderat, im Posaunenchor –, wer tut sich das noch an neben Arbeit, Familie und Haushalt? Die Antwort lautet: Mehr als 30 Millionen Menschen in diesem Land. In unserem Land engagieren sich 30 Millionen Menschen ehrenamtlich. Dafür sage ich, auch im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion: Danke schön!
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Sie alle werden gebraucht: die Feuerwehrfrau, der Fußballtrainer, der Kirchenvorstand, die Bürgermeisterin, die Hospizinitiative, der Schützenverein, die Theatergruppe. Ohne dieses Ehrenamt geht es nicht, vor allem nicht auf dem Land. Deshalb wird diese Ehrenamtsstiftung in gemeinsamer Verantwortung getragen, nicht nur vom BMI oder vom BMFSFJ, sondern auch vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft. Denn wir wissen: Wir brauchen diese Ehrenamtlichen auf dem Land. Sie sind kein Ersatz für den Staat, aber sie schenken sich selbst, und deshalb sind sie für uns die stillen Heldinnen und Helden des Alltags.
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Sie wollen keinen Lohn für ihren Einsatz, es geht ihnen nicht um Geld – Kolleginnen und Kollegen von der AfD, das ist nur Ihre Kategorie –, aber sie wünschen sich Anerkennung.
Bei Fragen: Die Kirmes war nicht groß genug? Die Vorstellung der Theatergruppe war nicht lustig genug? Der Sportverein ist abgestiegen? Die Kirche ist leer? Der Ortsvorsteher ist Politiker und macht deswegen sowieso alles falsch? Dabei müssen sie sich mit Bürokratie herumschlagen. Das Finanzamt will eine Bewertung des Sportvereins? Was ist eigentlich die Künstlersozialkasse? Wieso will die GEMA Geld für 300 Zuhörer, obwohl doch nur 100 im Saal saßen? Muss der Landfrauenverein wirklich ein Stück Torte für das Gesundheitsamt aufbewahren? Und, und, und. Wer soll diese Fragen beantworten, wer kann das schon alles wissen?
Ohne Frage: Es gibt manche Landkreise, die spezielle Ansprechpartner für das Ehrenamt bereithalten. Es gibt auch Freiwilligenagenturen, die aber nur vernetzen. Es gibt manche Vereine, die sich an Bundesverbände wenden können, wo es bereits professionelle Strukturen gibt. Diese sind beim Deutschen Roten Kreuz & Co auch bestens aufgehoben. Aber es gibt eben auch die vielen kleinen Vereine und Initiativen, die nirgendwo angebunden sind – der Gitarrenchor, der Literaturkreis, die Seniorentanzgruppe –; diese brauchen mehr Hilfe, sie brauchen Beratung, sie brauchen Service. Das war uns gerade als CDU/CSU-Bundestagsfraktion besonders wichtig.
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Genau darum geht es bei dieser Stiftung. Sie ist eine Stiftung für das Ehrenamt, ein Servicezentrum, ein Kompetenzzentrum mit Beratungsangeboten, mit Informationen. Ja, auch das gerade so belächelte Sorgentelefon. Aber das ist eben gerade so wichtig, genauso wie die Hilfe bei digitalen Formaten, die Unterstützung bei der Nachwuchsgewinnung etc., übrigens auch bei der Entwicklung von Vorschlägen für den Bürokratieabbau. Diese Stiftung soll eine echte Anlaufstelle für jedermann werden, schnell Hilfe leisten, und zwar vorneweg den Ehrenamtlichen – damit es am Ende heißt: Willst du froh und glücklich leben, lass ein Ehrenamt dir geben!
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Connemann. – Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir leben seit 75 Jahren in Frieden und Freiheit, und ich gehe davon aus, dass es in diesem Haus niemanden gibt, der nicht alles dafür tun würde, dass dieser Zustand erhalten bleibt.
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Leider hat sich die Sicherheitslage in der Welt und auch in Europa verändert. Wir haben immer noch den Ukraine-Konflikt, und unsere osteuropäischen EU- und NATO-Mitglieder sorgen sich um ihre Sicherheit. Die NATO hat darauf schon 2014 reagiert und einen Aktionsplan für erhöhte Einsatzbereitschaft beschlossen. Da geht es um 5 000 Soldaten, die zu der Speerspitze gehören, die innerhalb von 48 bis 72 Stunden an jedem Ort sein muss.
Meine Damen und Herren, für diese Fälle sind unsere bisherigen und heutigen Beschaffungswege zu lang. Deswegen brauchen wir die Möglichkeit, rechtssicher schneller zu beschaffen sowie die nationalen Sicherheitsinteressen und besondere Fähigkeiten unserer Sicherheitsindustrie zu schützen. Wir haben das auch im Koalitionsvertrag schon vereinbart, und wir werden jetzt das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen und die Vergabeverordnung Verteidigung und Sicherheit entsprechend ändern. Die anstehenden Gesetzesänderungen sind ausdrücklich nach Artikel 346 des EU-Vertrages erlaubt.
Wir definieren in Zukunft rechtssicher, unter welchen Voraussetzungen auf eine langwierige EU-weite Ausschreibung verzichtet werden kann. Erstens wird das zutreffen bei Schlüsseltechnologien oder Leistungen für den Grenzschutz, der Bekämpfung von Terrorismus, der organisierten Kriminalität und bei verdeckten Tätigkeiten von Polizei und Sicherheitskräften, bei Verschlüsselungen und dort, wo ein hohes Maß an Vertraulichkeit erforderlich ist. Zweitens wird ein Verzicht auf EU-weite Ausschreibungen bei einer Krise, bei einem mandatierten Einsatz der Bundeswehr, einer einsatzgleichen Verpflichtung und einer Bündnisverpflichtung möglich sein.
Vergaberügen oder Klagen von unterlegenen Bietern verzögern ebenfalls die Beschaffung erheblich. Sie sollen deshalb möglichst vermieden werden können. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Die Bundeswehr will ein besonderes Nachtsichtgerät beschaffen. Die Markterkundung der Beschaffungsstelle führt zu dem Ergebnis, dass nur ein Bieter in der Lage ist, diese spezielle Fähigkeit zu liefern. Wir stellen jetzt klar, dass der Nachweis eines Alleinstellungsmerkmals für den Zeitpunkt der Aufforderung zur Abgabe von Angeboten zu erbringen ist. Das gibt Rechtssicherheit und verhindert auch, dass unterlegene Bieter mit Klagen in der Zwischenzeit in die Lage versetzt werden, entsprechende Nachfertigungen oder Nachrüstungen vorzunehmen.
Um das Vergabeverfahren weiter zu beschleunigen, soll außerdem bei Vorliegen von Verteidigungs- und Sicherheitsinteressen der Vorabzuschlag erleichtert werden, um langwierige Verzögerungen durch Vergaberügen oder Klagen zu vermeiden.
Schließlich sollen auch Direktaufträge erteilt werden können, wenn besondere Lagen vorliegen. Zum Beispiel, wenn in einem Einsatz Terrorgruppen mit anderen Waffen vorgehen, muss es möglich sein, schnell unsere Truppe mit entsprechenden Schutzeinrichtungen zu versorgen.
Meine Damen und Herren, ich bin sicher, dass wir mit diesen Maßnahmen in Zukunft schneller und zielgerichteter beschaffen können. Voraussetzung ist aber, dass wir auch in Zukunft eine hohe Aufmerksamkeit auf die Beschaffung richten und die Ausschreibungen gut überlegen; denn das ist das A und O. Deswegen müssen wir auch die Beschaffungsstellen entsprechend ausstatten.
Zwölf aktuell laufende Mandate für Auslandseinsätze der Bundeswehr haben wir hier in diesem Haus beschlossen. Uns liegt daran, dass unsere Soldatinnen und Sicherheitskräfte mit der bestmöglichen Ausrüstung in die Einsätze geschickt werden können; denn wir tragen hier die Verantwortung für Leib und Leben unserer Soldatinnen und Soldaten und Polizistinnen und Polizisten. Dafür ist die vorgesehene Änderung des GWB und der VSVgV notwendig.
Ich komme an den Anfang meiner Rede zurück. Den Frieden zu sichern, muss auch in Zukunft unser wichtigstes Ziel bleiben. Deswegen bitte ich Sie, dem Gesetzentwurf zuzustimmen.
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Vielen Dank, lieber Kollege Bleser. – Der Kollege Rüdiger Lucassen hat das Wort für die AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Abgeordnete! Meine Fraktion wird diesem Gesetzentwurf zustimmen, und das im Wesentlichen aus zwei Gründen.
Erstens. Die AfD unterstützt jede noch so kleine Maßnahme, die Deutschlands nationale Souveränität gegen die irrsinnige EU-Gleichschaltungspolitik verteidigt.
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In diesem Fall geht es um das Recht jedes Staates, die Schlüsseltechnologien seiner Streitkräfte im eigenen Land zu entwickeln, zu schützen und zu kaufen.
Zweitens. Die AfD unterstützt jede noch so kleine Maßnahme, die die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr erhöhen kann. Der Wehrbeauftragte hat vorgestern zum sechsten Mal in Folge dokumentiert, wie nötig das ist. Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung will Deutschland das Recht zurückgeben, einen Rüstungsbedarf nicht unbedingt EU-weit ausschreiben zu müssen. Das ist gut. Frankreich, Spanien, Italien und fast jedes andere EU-Mitglied machen das seit Jahren so – nur Deutschland bisher nicht.
Die Bundesregierung begründet diese Spätzündung mit der veränderten sicherheitspolitischen Lage und der Notwendigkeit – ich zitiere –, „kurzfristig und effektiv“ Waffensysteme beschaffen zu können. Die Bundesregierung stellt in ihrem Entwurf also fest: Effektivität und EU schließen sich aus. Schnelligkeit und EU schließen sich aus. Einsatzbereite Streitkräfte und EU schließen sich aus. – Allein für diese Klarstellung bekommen Sie unsere Zustimmung.
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Meine Damen und Herren, seit sechs Jahren versucht die Regierung, das Beschaffungswesen der Bundeswehr zu reformieren. Den Erfolg dieser Bemühungen entnehmen Sie ebenfalls dem Bericht des Wehrbeauftragten. Warum aber kommt die Bundesregierung erst jetzt darauf, die zulässige Ausnahmeregelung vom EU-Recht anzuwenden? Zwei Möglichkeiten: Entweder war die Regierung zu blöd – das möchte ich nicht unterstellen –, oder aber sie wollte es nicht umsetzen. Davon bin ich überzeugt; denn Deutschland gilt seit 25 Jahren als der Streber im Umsetzen von EU-Recht, während andere Staaten ihre nationalen Rechte selbstverständlich nutzen.
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Der Gesetzentwurf ist nur ein kleiner Schritt auf dem Weg zur Wiederaufrichtung der Bundeswehr. Die Regierung muss als Nächstes eine weit gefasste Liste mit deutschen Schlüsseltechnologien erarbeiten. Auf diese Liste gehört zum Beispiel auch der Bau von Überwasserkriegsschiffen. Dann wäre der Auftrag zum Bau der neuen Fregatten MKS 180 nicht nach Holland, sondern nach Bremen, Hamburg oder Kiel gegangen.
Die Bundesregierung sollte das Recht auf nationale Vergabe auch auf den Bereich „Sicherung kritischer Infrastruktur“ anwenden. Cyberkampf und hybride Kriegsführung machen den Schutz von E-Werken, Wasserwerken und Krankenhäusern zum wesentlichen Sicherheitsinteresse Deutschlands.
Zusammenfassend: Erstens. Die Bundesregierung stellt in ihrem Entwurf verschämt fest, dass die Kernbereiche staatlicher Sicherheit nicht nach Brüssel, sondern hier nach Berlin gehören.
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Zweitens. Wenn die Bundesregierung die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr nicht zur Chefsache macht, wird auch dieser Entwurf nichts helfen. Die Erfahrung lässt wenig Hoffnung.
Danke schön.
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Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Frank Junge.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte zunächst einmal allen Frauen und Männern, die auf den unterschiedlichsten Ebenen aller Sicherheitskräfte unseres Landes für die Menschen in unserem Land Dienst tun, ausdrücklich Dank sagen.
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Sie tun das aus Überzeugung und mit vollem Engagement, obwohl – das sage ich offen und selbstkritisch – Ausrüstung und Ausstattung vor allem unserer Streitkräfte mangelhaft
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und unter diesem Gesichtspunkt nicht mehr zeitgemäß sind. Der Wehrbeauftragte hat das deutlich gemacht.
Ich sage aber auch ganz klar, dass die Bundeswehr kein finanzielles Problem hat. Es ist klargemacht worden, dass im letzten Jahr 1,1 Milliarden Euro für die Beschaffung von Rüstungsgütern gar nicht ausgegeben,
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sondern anderweitig verwendet worden sind. Unter diesem Gesichtspunkt wird klar, dass wir ein Managementproblem haben. Da sehe ich ganz besonders das Verteidigungsministerium in der Pflicht, Herr Staatssekretär Tauber. Die Fehler in diesem Management müssen beseitigt werden, damit unter diesen Gesichtspunkten die Ressourcen, die wir bereitstellen, am Ende auch dort ankommen, wo sie hingehören.
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Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Optimierung der Vergabestatistik und zum beschleunigten Verfahren im Bereich der Verteidigung und Sicherheit – darauf möchte ich vor allem eingehen – werden wir das Materialproblem der Bundeswehr nicht lösen. Wir werden mit diesen Änderungen aber dennoch dafür sorgen, dass in Situationen, in denen Gefahr in Verzug ist, in denen es explizit um die Sicherheit des Landes und die Sicherheit der Soldatinnen und Soldaten geht, künftig schneller ausgeschrieben, schneller produziert und schneller bereitgestellt werden kann als bisher.
Gegenwärtig – das wissen Sie; ich will es aber einmal für die sagen, die sich mit diesem Thema nicht so auskennen – ist das Erreichen von finanziellen Schwellenwerten bei öffentlichen Vergaben dafür ausschlaggebend, ob europaweit ausgeschrieben werden soll oder nicht. Im Sicherheits- und Verteidigungsbereich liegt diese Schwelle bei 443 000 Euro netto. Wie schnell die erreicht wird, ist allen klar. Deshalb ist es an dieser Stelle notwendig, auch mit solchen kleinen Schritten die nationalen Gestaltungsmöglichkeiten, die wir haben, einfach zu nutzen und auszuüben.
Wir tun das heute. Wir werden also Ausnahmetatbestände – zum Beispiel den mandatierten Bundeswehreinsatz, die friedenssichernde Maßnahme oder auch die Abwehr von terroristischen Angriffen – einbeziehen und die Großschadenslage berücksichtigen. Wir werden durch diese Ausnahmetatbestände dazu kommen, dass wir schneller ausschreiben können als bisher und von europaweiten Ausschreibungen Abstand nehmen können. Das wird in Konsequenz bedeuten, dass dadurch vor allem unsere Soldatinnen und Soldaten, die Tag für Tag buchstäblich den Kopf für unsere Sicherheit hinhalten, für ihre Einsätze und Aufgaben viel besser ausgerüstet sein werden als bisher.
Ich bin froh, dass wir endlich dazu gekommen sind, ein weiteres Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag umzusetzen. Nach meinem Dafürhalten hätte das Gesetz schon ein Stück weit früher kommen können, Herr Staatssekretär Hirte. Jetzt haben wir es, und ich bitte Sie herzlich um Zustimmung.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Bevor der nächste Redner zum Zuge kommt, lese ich Ihnen gerade das Ergebnis der namentlichen Abstimmungen vor, das die Schriftführerinnen und Schriftführer ermittelt haben.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die viel zu langsame Beschaffung von Rüstungsgütern ist das große Problem der Bundeswehr seit vielen Jahren. Seit Jahren bekommen wir erzählt, die Trendwenden würden es bringen. Aber wir wissen mittlerweile, dass das Ziel nicht erreicht wird. Deswegen macht sich die Bundesregierung Gedanken, wie es doch noch schneller gehen kann. Deswegen liegt uns dieser Gesetzentwurf vor. Aber das war schon alles Gute, was man zu diesem Gesetzentwurf sagen kann.
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Der Gesetzentwurf hat einen großen Pferdefuß. Man will jetzt nach und nach Technologien zu Schlüsseltechnologien erklären und die Beschaffung nur noch auf rein nationaler Ebene abwickeln. Wenn wir für unsere Soldatinnen und Soldaten aber das Beste an Ausrüstung, das Beste an Material haben wollen, brauchen wir möglichst viele Anbieter, möglichst viele Wettbewerber. Dann bekommen wir besseres Material, dann bekommen wir es günstiger, und dann bekommen wir es vor allen Dingen schneller.
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Wenn man jetzt ohne Not hingeht und das auf rein nationaler Ebene Technologie für Technologie organisiert, ist uns nicht geholfen.
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Die Aufgabe der Bundesregierung wäre vielmehr, dafür zu sorgen, dass die anderen Länder in Europa ebenfalls ihre Märkte öffnen, damit wir in ganz Europa einen gemeinsamen Markt für Rüstungsbeschaffung haben. Dafür haben wir millionenschwere Programme. Dafür haben wir PESCO. Dafür gibt die EU Millionen aus. Da müssen wir weiterkommen. Das wäre die Aufgabe für die Bundesregierung.
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Was das Vergaberecht angeht, da gibt es doch ganz andere Mittel, um wirklich viel schneller voranzukommen. Im Moment ist die Rechtslage so: Wenn ein Bieter in einem Vergabeverfahren unterliegt, kann er klagen, und dann ist das ganze Rüstungsvorhaben so lange gestoppt, bis das Verfahren entschieden ist. Warum geht man nicht wieder hin – so war die Rechtslage früher – und gibt dem Gewinner der Ausschreibung den Auftrag, die Rüstung wird beschafft, und wenn der Kläger sich vor Gericht durchsetzt, bekommt er den wirtschaftlichen Schaden ersetzt? Das wäre eine Maßnahme, um schneller vorwärtszukommen.
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Ein anderer Punkt: Die Bundeswehr darf bei Vergaben maximal 5 Prozent Schadensersatz fordern, wenn Rüstungsgüter nicht zum vertraglich vereinbarten Zeitpunkt ausgeliefert werden. In der Industrie sind viel höhere Vertragsstrafen gang und gäbe. Deswegen wird da auch viel pünktlicher geliefert. Warum machen wir uns ohne Not diese Hürde von maximal 5 Prozent? Wenn wir da realistischere Werte und höhere Strafen ansetzen würden, käme das Material auch schneller. Dann würden wir genauso schnell beliefert wie die Privatwirtschaft.
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Dieser Gesetzentwurf mit dem Schritt zu immer mehr nationaler Vergabe ist ein Rückschritt für die europäische Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Wir Freie Demokraten stehen und bekennen uns ganz klar zu Europa, stehen zum einheitlichen europäischen Binnenmarkt, ohne Wenn und Aber. Deswegen werden wir diesen Gesetzentwurf ablehnen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Müller. – Für die Fraktion Die Linke spricht der Kollege Tobias Pflüger. Bitte schön.
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Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, wir sind mit dem Beitrag des FDP-Kollegen schon ein bisschen näher an dem Punkt, um den es hier eigentlich geht. Es liegt ein Gesetzentwurf vor, bei dem neu definiert wird, was nationale Schlüsseltechnologien sein sollen. Die Definition greift so weit, dass inzwischen quasi fast alles gefördert werden soll, was vorhanden ist. Zum Beispiel wäre es jetzt so: Der Auftrag für dieses Mehrzweckkampfschiff MKS 180, der an einen niederländischen Anbieter gegangen ist, wäre mit diesem neuen Gesetz offensichtlich an einen deutschen Anbieter gegangen. Der Gesetzentwurf hat als Grundregel: Gekauft wird auf jeden Fall hier in Deutschland, egal ob es teuer ist, ob es schlechter ist. Auf jeden Fall muss hier die deutsche Rüstungsindustrie gefördert werden.
Ich kann nur sagen: Offensichtlich sind Sie nicht stringent in dem, was Sie politisch tun. Bei der Rüstungsindustrie wird eine Ausnahme gemacht; da wird vor allem national vergeben. Aber in anderen Bereichen soll es europäisch sein. Das ist hochgradig widersprüchlich. Wir sagen: Es darf hier nicht rein um eine Förderung der deutschen Rüstungsindustrie gehen.
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Außerdem wird in diesem Gesetzentwurf klipp und klar formuliert, worum es eigentlich geht. Es geht darum, dass der Bedarf für die Einsätze und einsatzgleiche Verpflichtungen der Bundeswehr besonders gefördert werden soll; besonders dort sollen die Rüstungsprodukte möglichst schnell hinkommen. Es geht also um die Auslandseinsätze in Afghanistan und Mali oder auch die Einsätze von Enhanced Forward Presence im Baltikum. Klipp und klar: Das sind alles Einsätze, die wir als Linke ablehnen. Also wollen wir selbstverständlich auch nicht, dass die Rüstungsgüter schneller dorthin kommen. Deshalb lehnen wir diesen Gesetzentwurf logischerweise ab.
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Der letzte Punkt: Wenn Sie tatsächlich wollen, dass Rüstungsprojekte anders und schneller funktionieren, dann müssen Sie das gesamte Verfahren ändern. Was Sie stattdessen machen, ist, dass Sie eine Konzentration in Richtung deutscher Rüstungsindustrie anstreben. Da kann ich nur sagen: Es ist nicht gut, wenn in Zukunft die Bundeswehr die teureren, schlechteren, aber vor allem deutschen Rüstungsprojekte hat. Es wäre vielleicht sinnvoll, dass man sich überlegt: Wie könnte man vernünftig abrüsten?
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Wir werden diesen Gesetzentwurf ablehnen, weil er nichts anderes ist als eine Förderung der deutschen Rüstungsindustrie, und das wollen wir nicht.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Pflüger. – Der Kollege Dr. Tobias Lindner hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
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Vielen Dank. – Geschätzter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den letzten Tagen habe ich eine durchaus absurde Situation erlebt. Da komme ich als Oppositionsabgeordneter ins Verteidigungsministerium – es ging um die Vergabe der neuen Fregattenklasse MKS 180 – und muss diese gegen Abgeordnete der Großen Koalition verteidigen. So weit sind wir gekommen. Herr Tauber, beides sollte Ihnen Sorgen machen.
Über was reden wir hier?
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Wir reden über die Situation, dass in einem langwierigen, transparenten Ausschreibungsverfahren der Auftrag für vier neue Schiffe an ein Konsortium vergeben wird. Es ist zwar unter niederländischer Führung, aber die Verteidigungsministerin sagt selbst, dass mindestens 70 Prozent, vermutlich 80 Prozent der Wertschöpfung aus Deutschland kommt. Ich kann verstehen, dass gerade Kollegen mit Wahlkreisen an der Küste um Arbeitsplätze besorgt sind. Ich kann verstehen, dass sich Kollegen aus dem Verteidigungsausschuss fragen: Dauert so ein Ausschreibungsverfahren nicht zu lange? Ich kann verstehen, dass es Unmut gibt, wenn der unterlegene Bieter seine ihm zustehenden Rechte wahrnimmt und die Vergabeentscheidungen rechtlich überprüfen lässt. Aber bei alldem, was ich verstehen kann, müssen wir uns doch die Frage stellen: Hilft dann dieses Gesetz? Und die Antwort ist eindeutig Nein.
Wenn Sie die Vergaben nur national durchführen wollen, dann haben Sie die genannten drei Probleme trotzdem. Wir gehen davon aus – das will ich hoffen –, dass die Beschaffung von Schiffen für die Bundeswehr von den Forderungen der Bundeswehr und vom militärischen Bedarf abgeleitet wird, dass es nicht um die Frage geht, wie viel Arbeitsplätze wir auslasten müssen, und dass Sie keine nationalen Kartelle bilden wollen, sondern den Wettbewerb zwischen deutschen Werften fördern wollen. Auch bei nationalen Ausschreibungen wird es ein entsprechendes Verfahren geben, und es wird am Ende unterlegene Bieter geben, die ihr gutes Recht wahrnehmen und klagen. Meine Damen und Herren, was Sie hier vorlegen, hilft bei all dem Unmut, der im Raum steht, kein bisschen; im Gegenteil.
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Schauen Sie sich die Stellungnahme von Transparency International zu diesem Gesetz an; übrigens verfasst von einem Juristen, der auch als Zeuge im Untersuchungsausschuss zur Berateraffäre zu Vergaberechtsverstößen gehört wurde. Die Organisation weist zu Recht darauf hin, dass das Gesetz nicht nur nicht hilft, sondern eine Menge Schaden anrichtet. Wenn Sie so weit auslegbare Begriffe haben wie „einsatzgleiche Verpflichtungen“ und große Kriegsschiffe darunter fassen wollen, dann öffnen Sie mit diesem Gesetz Kartellbildungen, überhöhten Preisen und unter Umständen auch Korruption Tür und Tor.
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Abschließend: Wenn andere europäische Länder ihren Markt abschotten, dann muss man – Kollege Müller hat es gesagt – dafür sorgen, dass sie ihren Markt öffnen. Die Antwort kann nicht sein, dass wir unseren Markt abschotten. Aus diesen Gründen werden wir den Gesetzentwurf ablehnen.
Herzlichen Dank.
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Der nächste Redner: der Kollege Henning Otte, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Insbesondere die letzte Rede hat wieder deutlich gemacht, wie wichtig es ist, Verantwortung zu übernehmen. Wer die Ausstattungssituation bei der Bundeswehr kritisiert, der muss auch bereit sein, Politik gestaltend durchzuführen.
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Wir müssen die Vergabeordnung ändern, damit das Material bei den Soldatinnen und Soldaten schneller ankommt. Deswegen machen wir dieses Gesetz. Dieses Gesetz hilft eindeutig; es ist ein gutes Gesetz, meine Damen und Herren.
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Frau Strack-Zimmermann hat schon wieder aus der vierten, fünften Reihe reingerufen. Sie lassen kein Mikrofon aus, um zu sagen: Die Materialsituation muss sich verbessern.
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Sie haben auch recht, aber dann müssen Sie auch die richtigen Schlüsse ziehen. Das machen wir, indem wir die Vergabeordnung ändern; denn die sicherheitspolitische Lage hat sich grundlegend geändert. Die Bundeswehr sieht sich erhöhten Anforderungen gegenüber, ob in der Bündnis- und Landesverteidigung oder in den Einsatzgebieten. Es geht um Modernisierung und um Ersatzbeschaffung, und das alles bei unseren Verpflichtungen gegenüber der NATO, der Europäischen Union, den Vereinten Nationen, der OSZE oder bilateral. Wir richten uns darauf aus und verhindern, dass langwierige europäische Ausschreibungen notwendig sind,
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auch wenn Material unmittelbar erforderlich ist und unmittelbar den Soldatinnen und Soldaten zur Verfügung gestellt werden muss.
Herr Kollege, der Kollege Graf Lambsdorff von der FDP würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Sehr gerne.
Ich hätte nur gerne, dass Sie bei der Wahrheit bleiben, Herr Otte.
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Sie haben gerade gesagt: Wenn Streitkräfte unmittelbaren Bedarf an Material haben, darf es keine langwierige europäische Ausschreibung geben. – Das ist geltendes europäisches Recht, das ist geltendes nationales Vergaberecht. Ich habe vor zehn Jahren im Europäischen Parlament als Berichterstatter die Richtlinie zur Beschaffung von Rüstungsgütern auf dem europäischen Markt durchs Parlament gebracht. Was Sie hier gerade behauptet haben, hält keiner Überprüfung stand. Sie machen ein schlechtes Gesetz. Würden Sie mir da zustimmen?
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Da stimme ich Ihnen natürlich nicht zu.
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Wir machen ein sehr gutes Gesetz, weil wir die Verantwortung für unsere Soldatinnen und Soldaten wahrnehmen. Wir müssen nicht, wie Sie, Graf Lambsdorff, trotz Sachverstand dagegenstimmen; Sie müssen das Hohelied des Liberalismus spielen. Vielmehr machen wir verantwortbare, pragmatische Politik für die Sicherheit unseres Landes. Es ist gut, dass CDU/CSU und SPD diesem Gesetzentwurf zustimmen.
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Wir von der Union passen nicht die Situation an die Politik an, wie sich das manche wünschen, sondern wir passen unsere Politik so an, dass wir Situationen verändern können. Darum geht es. Es geht auch darum, dass man den Bericht des Wehrbeauftragten ernst nimmt, um Veränderungen durchzuführen.
18 000 Soldatinnen und Soldaten waren Ende 2019 im Einsatz oder in einsatzgleichen Verpflichtungen. Kollege Peter Bleser hat deutlich dargestellt, was es bedeutet, wenn wir die VJTF für die NATO stellen. Wir müssen unmittelbar und schnell in der Lage sein, innerhalb von zwei bis fünf Tagen zu verlegen. Wir übernehmen unsere Verantwortung in Einsatzgebieten wie in Afghanistan, in Mali und im Kosovo. Wir haben auch unseren Soldatinnen und Soldaten gegenüber Verantwortung.
Herr Kollege Otte, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage, diesmal aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen?
Herr Präsident, das würde ich gern, aber wir haben extra den Untersuchungsausschuss für meine Rede unterbrochen. Da müssen wir gleich fortfahren.
Also nein?
Nein.
Tut mir leid, Frau Kollegin.
Ich will darauf hinweisen, dass wir in der letzten Legislaturperiode fünfmal mehr Investitionen durchgeführt haben, nämlich in Höhe von 30 Milliarden Euro. Wir haben Modernisierungen durchgeführt. Wir haben uns um Ersatzbeschaffung gekümmert. Wir sind auch unserer Bündnisverpflichtung nachgekommen, indem wir 20 Prozent der Mittel in die Erneuerung unserer Systeme investieren. Wir streben bis 2024 1,5 Prozent des BIP an; aber dass wir 2 Prozent erreichen müssen, das wissen wir alle. Das haben wir im Koalitionsvertrag mit der SPD klar definiert. Wir sagen: Wir müssen das Haushaltsrecht anpassen, damit das Geld, wenn das Gerät im Dezember nicht abnahmefähig ist, sondern mit Nachbesserungen erst im Februar, nicht verfällt. Wir wollen die Beschaffungsorganisation anpassen. Wir haben vor allem gesagt: Wir wollen die Vergabeordnung ändern, wenn es militärisch notwendig ist, damit wir uns eine langwierige europäische Ausschreibung ersparen. Wir wollen die Auftragsvergabe durchführen, allerdings unter der Voraussetzung, dass das Material krisenbedingt notwendig ist oder wenn es um Bündnisverpflichtungen geht. Das setzt nicht die Haushaltssystematik außer Kraft, wie Herr Pflüger gerade auf seinem Handy vielleicht nachliest. Der Bundesrechnungshof geht hier noch weiter. Es geht um Wettbewerb.
Wenn Sie sich Sorgen machen, dass wir veraltete Systeme haben, dann fassen Sie Mut und stimmen Sie zu, wenn wir sagen: Wir müssen auch in Forschung und Technologie und in militärische Mittel investieren, damit wir die Sicherheit unseres Landes erhöhen. Das erwarten die Bürgerinnen und Bürger von uns, das erwarten die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr sowie die zivilen und militärischen Mitarbeiter. Man erwartet aber auch in Europa, dass wir unserer Verantwortung gerecht werden, indem wir unsere Truppe so ausstatten, dass wir gemeinsam in Europa Frieden und Freiheit verteidigen können. Deswegen ist es gut, dass wir die Vergabeordnung heute anpassen. Ich bitte um Zustimmung zum vorliegenden Gesetzentwurf.
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Vielen Dank, Herr Kollege Otte. – Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Thomas Hitschler für die SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es schon ein paarmal gehört: Der Wehrbeauftragte hat zu Beginn dieser Woche ganz bewusst den Finger in die Wunde gelegt, wenn er davon spricht, dass es inzwischen dysfunktional gewordene Strukturen in der Beschaffung gibt. Er spricht von bürokratischem Klein-Klein und erwähnt Mittel in Höhe von 1,1 Milliarden Euro, die im Bereich der militärischen Hardware im vergangenen Jahr nicht abfließen konnten. Wir denken, dass ein großes Hindernis dafür, eine gut ausgerüstete Bundeswehr herbeizuführen, eben die bürokratischen Hürden sind, über die wir heute ausführlich diskutiert haben.
Wir haben uns daher im Koalitionsvertrag darauf geeinigt, im Vergaberecht die notwendigen Änderungen vorzunehmen.
Herr Kollege Hitschler, die Kollegin Keul würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
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Das ging aber schnell. – Ja, liebe Frau Kollegin Keul, sehr gern.
Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Frage zulassen.
Für Sie immer.
Ich muss jetzt doch einmal der FDP zur Seite springen.
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Wenn man Ihnen und dem Kollegen Otte zuhört, dann hat man das Gefühl, das gesamte Vergaberecht sei eine einzige bürokratische Hürde für effiziente Beschaffung. Haben Sie denn schon einmal darüber nachgedacht, dass der Sinn und Zweck eines Vergabeverfahrens der ist, einen fairen Wettbewerb sicherzustellen und dafür zu sorgen, dass am Ende das tatsächlich qualitativ beste Produkt für die Bundeswehr angeschafft wird
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und nicht das, was sich in intransparenten Verfahren möglicherweise durchsetzt?
Liebe Frau Kollegin Keul, erst einmal vielen herzlichen Dank für die Frage. – Ich würde erst einmal an diesem Punkt beginnen. Vielleicht komme ich ja im Laufe meiner Rede noch ein Stück weit auf das zu sprechen, was Sie gerade gefordert haben. Aber Sie sind auch schon eine ganze Weile im Bereich der Verteidigungspolitik tätig. Wir können uns lange vormachen, dass alles bei der Bundeswehr ganz schnell ist und dass wir nichts ändern wollen. Aber für diesen Punkt ist die Große Koalition nicht angetreten. Wir hören fast jede Woche im Verteidigungsausschuss Berichte zum Großgerät bei der Bundeswehr, das nicht schnell genug kommt. Ausschreibungen werden immer weiter nach hinten geschoben. Genau diesen Punkt gehen wir jetzt an.
Vielleicht ein Punkt, der die ganze Zeit merkwürdig dargestellt wurde: Es hört sich so an, als würden wir nur noch national ausschreiben. Wir können künftig in manchen Bereichen in einem sehr eng definierten Rahmen sagen: Nationale Schlüsseltechnologie in einem bestimmten Bereich schreiben wir national aus. Der europäische Markt bleibt davon unberührt, Kolleginnen und Kollegen.
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Meine Damen und Herren, der vorliegende Gesetzentwurf ist ein wichtiger Schritt auf diesem Weg. Wo es Bedarf an schneller Beschaffung gibt, muss es auch gesetzliche Möglichkeiten geben, genau diesen Bedarf zu decken. Wir glauben nämlich, dass schnelle Beschaffung wichtig ist. Trotzdem, Frau Kollegin Keul, stellen wir keinen Freibrief zur Aushebelung des Beschaffungsrechts für alles, was olivgrün angestrichen ist, aus. Wir setzen klare Grenzen, die festlegen, was geht und was nicht. Wir fügen Regelbeispiele für Fälle ein, in denen auf eine EU-weite Ausschreibung verzichtet werden kann. Wir setzen klare Grenzen dabei. Ein Beispiel: Wir können bei bereits mandatierten Auslandseinsätzen, einsatzgleichen Verpflichtungen oder Bündnisverpflichtungen und selbstverständlich auch im Krisenfall genau auf diese Ausnahmen zurückgreifen.
Im Gesetzentwurf wird nicht nur deutlich, wann unsere wesentlichen Sicherheitsinteressen berührt sind, sondern auch, welche Güter die beschleunigte Beschaffung in diesem Bereich ermöglichen soll. Kurz gesagt: Es muss eine sogenannte Schlüsseltechnologie sein, die vom Bundeskabinett entsprechend eingestuft wird. Dazu gehören beispielsweise geschützte Fahrzeuge, U-Boote oder Verschlüsselungstechnologien. Wir meinen, das ist ein klares Bekenntnis genau zu den besonderen Anforderungen der sicherheitsrelevanten Beschaffung, für die wir uns auch im Verteidigungsausschuss sehr häufig starkmachen.
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Wenn wir aber feststellen, dass speziell im Bereich des Beschaffungswesens – wer sich das Beschaffungsamt anschaut, stellt genau das fest – noch über 1 500 Stellen unbesetzt sind, dann wissen wir, dass wir nicht aufhören und den Eindruck erwecken dürfen, durch die Änderung des Vergaberechts sei alles geklärt. Sehr geehrter Herr Staatssekretär, ich finde, das ist für Sie und für das Ministerium noch immer eine der zentralen Aufgaben, an den Stellen zum Beispiel in Koblenz dafür zu sorgen, dass nicht nur die Arbeitsbedingungen für die Kolleginnen und Kollegen gut sind, sondern dass auch die Stellen, die Ihnen vom Parlament zur Verfügung gestellt wurden, besetzt werden.
Ich will abschließen. Wir haben auch Erwartungen an die Industrie. Wir haben als Parlament unsere Hausaufgaben gemacht: 1,1 Milliarden Euro, die nicht ausgegeben werden konnten – Verbesserungen beim Vergaberecht, Stellen, die beim Beschaffungsamt zur Verfügung stehen. Unsere Erwartung an die Industrie ist, dass sie auch liefert, wenn bei uns die Vergabe genau so ist, wie sie sein soll.
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.
Schlussendlich, Herr Präsident: Ich glaube, das Parlament, der Deutsche Bundestag, hat seine Hausaufgabe bei dieser Frage gemacht. Jetzt ist es am Ministerium und an der Ministerin, die Hausaufgaben auf ihrer Seite zu machen.
Vielen herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Hitschler. – Damit schließe ich die Aussprache.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Gegensatz zum Wohnungsmietrecht ist die Vermietung von Gewerberäumen gesetzlich kaum reguliert. Das heißt, es gibt keinen speziellen Kündigungsschutz, keinen Anspruch auf eine Mindestvertragslaufzeit, keine Begrenzung zulässiger Mieterhöhungen, und auch bei Neuvermietungen sind den Mietforderungen der Vermieter keinerlei Grenzen gesetzt. Für kleine Handwerksbetriebe und Einzelhändler, aber auch für Kultur- und Sozialeinrichtungen in Innenstadtlage kann dies höchst bedrohliche, ja, existenzgefährdende Folgen haben. Deshalb wird es höchste Zeit, dass die Bundesregierung davor nicht länger die Augen verschließt.
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Ein Beispiel – von vielen – aus meinem Wahlkreis: Nach 25 Jahren musste Ende letzten Jahres ein Kinderladen schließen. Trotz heftiger Proteste: Die Eigentümerin beharrte darauf, den Kinderladen vor die Tür zu setzen und die 190 Quadratmeter in Büroräume umzuwandeln, um dabei die Miete fast zu verdoppeln. Alternative Räumlichkeiten im Stadtteil gab es nicht. Die Folge: Die Erzieherinnen und Erzieher verloren ihren Arbeitsplatz. Die Eltern waren gezwungen, für ihre Kinder – einige von ihnen mit besonderem Förderbedarf – innerhalb kurzer Zeit neue Kitaplätze zu suchen. Einige Eltern mussten sogar ihren Arbeitsplatz aufgeben, weil sie keinen Kitaplatz fanden. Leider kein Einzelfall!
Meine Damen und Herren, wenn Vermieter ohne Rücksicht auf die Folgen maximalen Profit aus einem angespannten Gewerbemietmarkt zu schlagen versuchen, dann ist und bleibt das in meinen Augen inakzeptabel.
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Und immer mehr soziale Einrichtungen und kleine Gewerbetreibende wehren sich dagegen. Einige dieser Gewerbetreibenden sind heute auch hier bei uns zu Gast. Herzlich willkommen und vielen Dank für Ihr Engagement!
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Dass es sich nicht um Einzelfälle handelt, belegen auch die von mir bei der Bundesregierung abgefragten Daten. Allein von 2014 bis 2018 stiegen zum Beispiel die Mieten für größere Ladenflächen in 1B-Lagen jenseits der bekannten Haupteinkaufsstraßen in München, Berlin, Hamburg, Düsseldorf, Frankfurt und Köln im Schnitt um satte 53 Prozent. Auch der Generalsekretär des Zentralverbands des Deutschen Handwerks, Holger Schwannecke, schlägt inzwischen Alarm – ich zitiere –:
Die Preisexplosion im Immobiliensektor wird für unsere Betriebe zunehmend zum Problem. Vielerorts erleben wir einen Rückzug von Handwerkern aus den Innenstädten und Wohnvierteln an die Ränder der Stadt, da spielt sich ein echter Verdrängungswettbewerb ab.
Spätestens da müsste doch ein Aufschrei durch die Reihen der vermeintlichen Freunde des Handwerks und der Kleinunternehmer in der Union gehen. Aber nein, das Gegenteil ist der Fall. Obwohl der Bundesrat die Bundesregierung Ende 2018 aufgefordert hat, Maßnahmen zum Schutz von Gewerbemietern zu prüfen, sieht Wirtschaftsminister Altmaier keinerlei Handlungsbedarf. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, bekennen Sie doch endlich Farbe, auf welcher Seite Sie in dieser Frage stehen: auf der Seite der Immobilienlobby oder auf der Seite des Handwerks und des Kleingewerbes.
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Dass es auch anders geht, zeigen übrigens Länder wie Frankreich, Österreich oder Dänemark, wo die Gewerbemieten in unterschiedlicher Form reguliert sind. Lassen Sie uns jetzt auch in Deutschland endlich für mehr Sicherheit für Kleingewerbe und soziale Einrichtungen sorgen.
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Als Linke haben wir dazu konkrete Vorschläge vorgelegt.
Erstens. Gewerbemieter brauchen einen besseren Kündigungsschutz. Und sie brauchen bei befristeten Verträgen das Recht auf Vertragsverlängerung zu klar festgeschriebenen Konditionen.
Zweitens. Für die besonders stark betroffenen Kommunen braucht es eine Gewerbemietpreisbremse, die den unregulierten Anstieg der Gewerbemieten endlich stoppt.
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Drittens. Die Kommunen müssen ihre Instrumente des sogenannten Milieuschutzes endlich auch zum Schutz der gewerblichen und sozialen Infrastruktur nutzen können, meine Damen und Herren.
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Es sind solche klaren Regeln, die wir dringend brauchen, wenn wir wollen, dass es auch in Zukunft noch kleine Handwerksbetriebe in den Innenstädten gibt, dass inhabergeführte Einzelhandelsgeschäfte nicht gänzlich von großen Ketten verdrängt werden und dass soziale Einrichtungen wie Kitas oder Seniorentreffs in unseren Innenstädten noch eine Zukunft haben.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege Meiser. – Nächster Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Dr. Jan-Marco Luczak.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben hier einen Antrag von den Linken vorliegen, der nicht nur – das erwarten wir auch nicht anders – ein Griff in die sozialistische Mottenkiste ist – dazu komme ich gleich noch –, sondern der vor allen Dingen auch eines ist: Er ist eine Mogelpackung.
Er ist eine wirkliche Mogelpackung. Denn wie ist dieser Antrag überschrieben? Da steht: Wir wollen Kleingewerbe und soziale Einrichtungen vor der Mietenexplosion retten. Darüber kann man vielleicht sogar reden. Aber davon steht in Ihrem Antrag überhaupt nichts. Wenn Sie sich Ihren Antrag einmal genau anschauen, sehen Sie: Da steht überhaupt gar nichts von Kleingewerbe, sondern da geht es generell darum, das Gewerbemietrecht umzugestalten.
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Generell wollen Sie die Dinge, die wir im Wohnungsmietrecht zu Recht haben, weil die Wohnung für Menschen natürlich mehr ist als eine bloße Ware, weil sie dort leben – das ist ein Stück Heimat, das ist Rückzugsraum –, wo wir aus guten Gründen einen hohen sozialen Schutzstandard haben, wo wir das Mietrecht in den vergangenen Jahren zugunsten der Mieter deutlich angepasst haben,
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weil wir diese Problemlagen auch sehen, auf das Gewerbemietrecht übertragen.
Aber all das trifft doch auf Gewerbemieter überhaupt gar nicht in dieser Form zu. Das, was Sie hier vorschlagen, trifft dann auch die Großen. Das trifft dann Aldi, das trifft Rewe, das trifft Obi. Das sind doch nicht diejenigen, die den Schutz brauchen. All das wollen Sie jetzt aber mit diesem Antrag machen. Deswegen ist dieser Antrag wirklich eine große Mogelpackung. Sie sollten vielleicht einmal deutlich formulieren, was Sie eigentlich damit wollen.
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Es geht nämlich überhaupt nicht darum. Man könnte ja der Auffassung sein, das ist irgendwie alles fachlich einfach nur schlecht formuliert und schlecht gemacht. Aber ich glaube, Ihnen geht es am Ende um etwas ganz anderes. Ihr wirkliches Ziel ist, dass Sie am Ende einen Systemwechsel erreichen wollen; Sie wollen regulieren, Sie wollen eine staatliche Bevormundung machen,
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Sie wollen eine staatliche Bewirtschaftung von Grund und Boden. So hatten wir das 40 Jahre in der DDR, und wir haben am Ende auch gesehen, wohin das geführt hat, nämlich zu einem völlig maroden Land. Seit 30 Jahren kehren wir die Scherben weg, und langsam werden wir erst damit fertig. Wir wollen das an dieser Stelle nicht noch einmal haben.
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Das ist ja auch ein Teil einer Gesamtstrategie. Wir haben heute im Berliner Abgeordnetenhaus gesehen, dass es Ihnen genau darum geht. Das ist Teil einer Strategie. Sie nehmen das Land Berlin immer als Experimentierfeld für Ihre sozialistischen Versuche. Heute ist der Mietendeckel hier in Berlin beschlossen worden.
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– Da können Sie klatschen. Aber ich kann Ihnen sagen: Dieser Mietendeckel wird den Menschen in der Stadt hier überhaupt nicht helfen.
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Ganz im Gegenteil: Er wird ihnen schaden, weil wir nämlich das, was allein die Wohnungsknappheit hier in Berlin bekämpfen könnte, was allein das Problem lösen könnte, dass wir nämlich mehr Angebote haben, nur schaffen, wenn wir mehr Neubau haben.
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Mit diesem Mietendeckel, den Rot-Rot-Grün heute in Berlin beschlossen hat, schaden Sie den Menschen, weil Sie am Ende Neubau verhindern, weil Sie Klimaschutz verhindern, weil niemand mehr energetisch modernisieren will. Das wollen wir jetzt nicht auch noch im Gewerbemietrecht haben.
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– Da können Sie noch so sehr schreien.
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Aber Sie müssen sich einmal genau anschauen, was Sie hier fordern. Sie sagen ja zum Beispiel, dass man einen Gewerbemietendeckel machen will, dass Sie einen Gewerbemietspiegel machen wollen. Ich frage mich jetzt wirklich, wie Sie das machen wollen. Gewerbeimmobilien sind so unterschiedlich, dass es fachlich in der Praxis überhaupt nicht möglich ist, einen einheitlichen Mietenspiegel zu erstellen.
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Ich möchte das einmal an einem Beispiel deutlich machen. Für einen Bäcker zum Beispiel, der sein Unternehmen, seinen Laden in einem Wohngebiet hat, kann das eine Toplage sein, weil die Leute morgens losgehen und auch sonntagmorgens Brötchen kaufen. Da kann ein Bäcker richtig florieren. Wenn aber an der gleichen Stelle vielleicht ein Fachhandel für Schrauben aufmachen sollte, hätte der in einem Wohngebiet überhaupt gar keine gute Lage. Wie wollen Sie denn da jetzt eine irgendwie angemessene Miete im Sinne eines Mietspiegels machen?
({11})
Das ist fachlich absolut unmöglich.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lay?
Nein, erlaube ich nicht.
Deswegen werden wir einen solchen Gewerbemietspiegel an dieser Stelle auch nicht mitmachen.
Man muss an dieser Stelle auch noch einmal verdeutlichen: Wir haben hier eine fundamental andere Ausgangslage. Am Ende geht es bei Gewerbemieten um Unternehmer, die nicht in der gleichen Weise schutzwürdig sind wie etwa Menschen, die in ihrer Privatwohnung wohnen, wo sie einen Rückzugsraum haben, wo sie ein Stück weit Heimat haben. Deswegen gibt es an dieser Stelle einfach fundamentale Unterschiede.
Der einzige Punkt, an dem wir wirklich darüber nachdenken müssen – das hatte ich eingangs gesagt –, sind die sozialen Einrichtungen. Das sind Kindertagesstätten, das sind Seniorentreffpunkte. Sie sind tatsächlich unter Druck. Da gibt es mehrere Punkte, die wir uns anschauen müssen.
Viele von diesen sozialen Einrichtungen sind bei kommunalen Trägern angesiedelt, die eine staatliche Unterstützung erfahren. Da kann man schon einmal schauen: Wie können wir sozusagen staatliche Unterstützung an dieser Stelle vielleicht besser organisieren, damit sie eben nicht so stark unter Druck geraten? Ich bin sehr dafür, dass man überlegt, wie man schützende Regelungen einführt. Aber wir müssen das, glaube ich, mit Augenmaß tun, nicht so, wie Sie das machen: das gesamte Wohnungsmietrecht mit all seinen mieterschützenden Regeln, die dort völlig angemessen und richtig sind, jetzt einfach über einen Kamm zu scheren und auf das Gewerbemietrecht zu übertragen. Das hat keinen Sinn.
Vielmehr müssen wir sehr genau schauen, dass, wenn wir dort Veränderungen vornehmen, dies am Ende nicht dazu führt, dass gerade solche sozialen Einrichtungen, aber auch kleine Handwerksbetriebe, wie sie jetzt gerade hier genannt werden, am Ende überhaupt gar keinen Laden mehr bekommen, weil die Vermieter dann sagen: Wenn die jetzt auch so stark geschützt sind, dann vermiete ich an sie nicht mehr. Deswegen müssen wir an dieser Stelle sehr sorgsam damit umgehen.
({0})
Deswegen noch einmal: Das Ziel, soziale Einrichtungen auch in Kiezen zu erhalten, sodass sie durchmischt sind, dass wir dort lebendige Kieze haben, teilen wir. Aber das, was Sie jetzt vorschlagen, das Gewerbemietrecht vollständig umzugestalten, hilft am Ende nicht, das schadet nur, und deswegen werden wir das auch nicht mittragen.
({1})
Danke schön.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Enrico Komning, AfD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Lieber Kollege Dr. Luczak, ich muss ja eigentlich gar nicht mehr viel sagen; denn Sie haben ja eigentlich schon alles gesagt. Aber nun ist meine Rede geschrieben, und dann will ich in die gleiche bürgerliche Kerbe hauen, wie Sie es schon getan haben. Ich hoffe, Sie müssen sich heute Abend nicht rechtfertigen, weil ich Ihnen applaudiert habe.
({0})
Ja, meine Damen und Herren, man reibt sich ja schon manchmal die Augen. Wenn die Linken einen Antrag zum Schutz kleiner Gewerbetreibender einbringen, ist das so ähnlich, als würden sich die Grünen für den Ausbau von Kernkraftwerken aussprechen.
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So ist dann auch dieser Antrag. Nicht nur, dass sich die vorgeschlagenen Maßnahmen in ein Meer von sozialistischen Blütenträumen ergießen, nein, der Antrag ist geradezu zynisch. Er liest sich wirklich abenteuerlich: Kündigungsausschluss, Schadensersatzanspruch bei böswilliger Nichtverlängerung des Mietvertrages, Ihre geliebte Mietpreisbremse und Milieuschutz nun auch für Gewerbe.
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Sehr geehrte Kollegen, zunächst einmal müssen wir bei Gewerbemieten zwischen den großen Metropolen, weil hier tatsächlich Probleme aufgrund explodierender Mieten bestehen, und den kleinen und mittleren Städten unterscheiden. Dort heißt das Problem nämlich „Leerstand“. Beide Zustände sind verursacht durch zu viel Sozialismus und zu wenig Markt.
({3})
Sie wollen jetzt mit noch mehr Sozialismus die Probleme beseitigen. Allein hier in Berlin vernichtet die planwirtschaftlich gelenkte Wohnbaupolitik weite Teile der angestammten Gewerbeflächen. Von Ihren Genossen kontrollierte städtische Immobiliengesellschaften zocken kleine Gewerbe durch Mondmieten, Kündigungen und Drohungen ab. Sie sind für die Probleme verantwortlich, liebe Kollegen von den Linken.
Eine Gewerbemietpreisbremse schafft nicht einen zusätzlichen Quadratmeter mehr Gewerbefläche.
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Sie ist außerdem ein bürokratisches Monster. So sieht es im Übrigen auch der Städte- und Gemeindebund.
Überhaupt ist eine solche Mietpreisbremse ohnehin verfassungswidrig. Schon Ihr unseliger Berliner Mietdeckel wird die Gerichtsinstanzen wohl nicht überleben, bei Gewerbemieten erst recht nicht; denn hier bestehen gar keine Gründe dafür, das Eigentumsrecht des Vermieters zu beschneiden, so im Übrigen auch der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages.
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Ihr Antrag ist vor allem aber auch Ausdruck einer linken Arroganz gegenüber dem kleinen Gewerbe, dem Mittelstand, in den strukturschwachen Gebieten und in den ländlichen Räumen. Ziel muss es letztlich sein, dort, wo große Arbeitslosigkeit besteht, Mittelstand anzusiedeln, und nicht, ihn dort, wo er noch floriert, zu gängeln und zu beseitigen. Wenn wir auch nur ansatzweise dem tatsächlich vielerorts bestehenden Problem explodierender Gewerbemieten in den großen Städten wirksam begegnen wollen, müssen wir im Grunde genau das Gegenteil von dem tun, was Sie vorschlagen:
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weniger Regulierung, weniger Markt.
({7})
Nicht nur keinen sogenannten Milieuschutz für Gewerbe; aus meiner Sicht muss der § 172 Baugesetzbuch, der dafür verantwortlich zeichnet, vollständig in die Tonne geschmissen werden. Wir brauchen nämlich mehr Freiheit.
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Anstelle einer Mietpreisbremse müssen die richtigen Rahmenbedingungen geschaffen werden: planerische Sicherheit für bestehende Gewerbeflächen und vor allem Ausweitung von neuen Flächen. Dazu müssen mehr Möglichkeiten für Mischgebiete aus Wohn- und Gewerbeflächen geschaffen werden.
Hohen Gewerbemieten begegnen wir mit neuen Ideen, weniger Unterdrückung des Marktes, keinesfalls aber mit Sozialismus von gestern.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Komning. – Um einen Irrtum am Beginn Ihrer Rede aufzuklären: Man muss keine Rede halten; man kann sie auch zu Protokoll geben.
({0})
Das gilt nicht nur für ihn; das gilt für alle Beteiligten. Ich will nur darauf hinweisen.
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Als nächster Redner hat für die SPD-Fraktion der Kollege Michael Groß das Wort.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Präsident, Sie haben natürlich jetzt die Latte sehr hoch gelegt.
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Ich hoffe, meine Rede muss ich nicht zu Protokoll geben.
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Ich möchte darauf hinweisen, dass die steigenden Mieten hauptsächlich mit Gewinnerwartungen und Spekulation etwas zu tun haben und nicht mit anderen Dingen.
({2})
Ich weiß nicht, in welcher Welt Sie leben.
Der zweite Punkt. Ich bin froh, dass der Mietendeckel – ich schaue jetzt Eva Högl an – jetzt in Berlin umgesetzt wurde. Eva, noch einmal herzlichen Dank für den Vorschlag!
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Herr Luczak, Sie wissen auch, dass der Mietendeckel nicht für Neubau gilt. Also, er wird keinen Neubau gefährden.
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Sie haben ja schon mehrfach darauf hingewiesen – Sie selber sehen es jeden Tag –: In vielen Städten, etwa im Ruhrgebiet, in meiner Heimat, ist es so, dass viele Ladenlokale schließen, dass die multifunktionale Gestaltung der Stadtteile nicht mehr vorhanden ist, dass die Vielfalt sinkt. Aber in diesen Städten hat das hauptsächlich damit zu tun, dass die Kaufkraft sinkt, dass die Umsätze sinken, während die Mieten stabil bleiben. Aber es gibt eben auch andere Regionen: Berlin, München, Köln; das muss ich Ihnen nicht sagen. Auch eine Stadt im Ruhrgebiet entwickelt sich positiv. Dort liegen die Gewerbemieten zwischen 4 Euro und 220 Euro pro Quadratmeter.
Dann passiert natürlich Folgendes: Wenn der Umsatz aufgrund von Onlinehandel, anderen Dingen und der fehlenden Kaufkraft sinkt, dann geht uns ebendiese Vielfalt verloren. Wir als Bundesregierung verschließen davor auf keinen Fall die Augen. Wir haben zum Beispiel mit dem Programm „Lebendige Zentren“ in der Städtebauförderung mit 300 Millionen Euro dafür gesorgt, dass hier Impulse gegeben werden. Das hilft den einzelnen Mietern nicht; aber es nützt der Gestaltung des Stadtteils.
Wir müssen dafür sorgen – deswegen ist der Antrag der Linken an dieser Stelle natürlich richtig –, dass wir uns das genau anschauen. Es fehlt leider aus unserer Sicht an der Datengrundlage. Wir müssen natürlich genau schauen, wen wir durch den Schutz eigentlich erreichen wollen. Es darf nicht sein, dass wir Ketten unterstützen. Das kann auf keinen Fall der Sinn sein.
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Vielmehr müssen wir die kleinen Gewerbetreibenden und die sozialen Einrichtungen erreichen. Außerdem haben wir für die sozialen Einrichtungen schon etwas bei der letzten Mietrechtsreform getan, und zwar beim Mieterschutz bei Weitervermietung zu sozialen Zwecken. Also, wir sind auf dem Weg. Ich kann den Vorschlag von Herrn Luczak nur aufgreifen – er orientiert sich jetzt nach hinten –, dass wir bei den sozialen Einrichtungen in dieser Legislatur noch was tun.
({6})
Bei den anderen Fragen wollen wir das noch auf den Weg bringen.
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Ich möchte nur darauf hinweisen, dass ich zwei Vorschläge für sehr problematisch halte; einer wundert mich etwas. Die erste Problematik sehe ich bei der Mietpreisbremse. Die Mietpreisbremse ist verfassungsrechtlich insoweit geprüft, als es einen besonderen Schutzstatus für die Wohnungen gibt – aus einem bekannten Grund; den muss ich jetzt nicht wiederholen. Die Frage ist: Lässt sich das auf das Gewerbe übertragen? Ich muss mich deswegen wundern, weil ich gestern Frau Lay im Fernsehen bei Phoenix gesehen habe. Sie haben da sozusagen zitiert: Die Mietpreisbremse ist der letzte Mist, sie wirkt nicht, und sie treibt die Preise.
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Wenn Sie also einen Antrag stellen, wonach die Mietpreisbremse sozusagen das richtige Instrument ist, dann müssen Sie auch schlüssig bleiben. Da sollten Sie sich überprüfen. Wir halten sie für das richtige Instrument.
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Ich bin leider jetzt am Ende meiner Redezeit. Ich will den Präsidenten auch nicht ärgern. Ich danke Ihnen herzlich für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege Groß, für diesen Beitrag. – Als Nächste hat das Wort die Kollegin Katharina Willkomm, FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Grundstein der sozialen Marktwirtschaft ist die Freiheit. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes standen vor der Frage: Was ermöglichen wir, wem trauen wir was zu? Bei Unternehmerinnen und Unternehmern war die Antwort: Wir trauen euch in besonderem Maße zu, euer Leben selbst zu gestalten.
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Nutzt die Freiheit! Schafft Wohlstand! Tragt zum Fortschritt bei! Tragt aber auch Verantwortung für das, was nicht gelingt! – Das ist der Ausgangspunkt, wenn ich Ihren Antrag betrachte. Ich möchte drei Punkte herausgreifen.
Sie wollen bei Mietverträgen über Gewerberäume ordentliche Kündigungen ausschließen. Na super! Dann hat die Kita, die Sie angeblich schützen wollen, morgen die Kündigung im Briefkasten und übermorgen das Angebot für einen befristeten Mietvertrag.
Sie wollen bei befristeten Mietverträgen einführen, dass der Gewerbemieter einseitig einen laufenden Vertrag zu unveränderten Konditionen verlängern kann. Das heißt, Sie legen uns diesen Antrag vor, weil für die einen Unternehmer alles teurer wird. Dass auf der anderen Seite des Vertrages ein Unternehmer steht, dessen Ausgaben für Maler und andere Handwerker auch steigen, das ist Ihnen völlig egal.
Folgenden Punkt fand ich besonders interessant: Der Vermieter verlängert den Mietvertrag nicht und macht dafür ein auch in Ihren Worten schutzwürdiges Interesse geltend. Dann soll er trotzdem Schadensersatz zahlen! Ein Anspruch auf Schadensersatz, ohne dass der Vermieter eine Pflicht verletzt hat – was für ein Quatsch!
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Ein einseitiger Antrag, auf zwei Seiten niedergeschrieben: keine Freiheit, kein Fortschritt, strukturkonservativ bis ins Mark.
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– Sie schützen damit auch, wie gesagt, die Großunternehmen.
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Unter rein taktischen Gesichtspunkten funktioniert Ihr Antrag auch. Denn wie soll die SPD Nein sagen, wenn doch das rote Berlin ein solches Anliegen gerade durch den Bundesrat gebracht hat und der Bundesfinanzminister öffentlich sein Verständnis für den Berliner Mietendeckel erklärt hat?
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Wie soll die Union Nein sagen, nachdem sie schon die Mietpreisbremse durchgewunken hat, deren Verschärfung und auch noch die Verlängerung der Verschärfung?
Wenn diese Regierung es ernst meint mit unternehmerischer Freiheit, mit einem ausgewogenen Mietrecht und der Kompetenzordnung des Grundgesetzes, dann versteckt sie sich beim Mietendeckel nicht hinter der Unionsfraktion, sondern dann geht die Bundesregierung noch selbst als Verfassungsorgan nach Karlsruhe und bittet um Überprüfung des Mietendeckels.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Willkomm. – Als nächste Rednerin hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Canan Bayram das Wort.
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Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Kieznachbarin Daniela betreibt in Friedrichshain ein Modeinstitut. Das ist ein Bekleidungsgeschäft. Sie hat sich damit vor fast 17 Jahren eine Existenz aufgebaut, die nun bedroht ist. Vor einem Jahr hat sie erfahren, dass der Immobilienspekulant Fortis das Gebäude erworben hat. Nun muss sie raus.
Täglich bin ich mit den Folgen der fehlenden Gesetze zum Schutz der Gewerbemieterinnen und ‑mieter konfrontiert. Um die Gewerbemieterinnen und ‑mieter zu schützen, habe ich einen Gesetzentwurf erarbeitet, der erstmalig in der Geschichte dieses Landes ein eigenständiges Gewerbemietrecht schafft. Wir wollen, dass kleine Ladeninhaber, soziale Einrichtungen sowie Kunst- und Handwerksbetriebe vor Verdrängung geschützt werden.
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Viele Gewerbemieterinnen und ‑mieter wie Daniela gibt es in ganz Deutschland. Die wollen wir schützen, meine Damen und Herren.
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Noch vor einem Jahr hat der Staatssekretär Nußbaum auf meine Kleine Anfrage geantwortet, es lägen „keine verlässlichen und belastbaren Daten vor, die auf ein strukturelles und erhebliches Ungleichgewicht zwischen Vermietern und Mietern auf dem Mietmarkt über Gewerberaum schließen lassen“. Es scheint mir ein deutlicher Fingerzeig zu sein, dass ausgerechnet Sie, meine Damen und Herren von der CDU, sich nun infolge einer drastischen Mieterhöhung gezwungen sehen, Ihre Berliner Parteizentrale zu verlegen.
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Wie ich hörte, wird Ihnen von einem Berliner Künstlerkollektiv ein Büro in einem U-Bahn-Tunnel errichtet. Tja, meine Damen und Herren, so was kommt von so was. Jetzt sehen Sie selbst: Der Kapitalismus frisst seine Eltern.
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Unseren Gesetzentwurf werden wir am 12. Februar im Deutschen Bundestag in einem Fachgespräch präsentieren und zur Diskussion stellen. Wir wollen die Schutzregeln des Wohnraummietrechts, soweit sie Sinn machen, auf das Gewerbemietrecht übertragen. Damit wollen wir unanständig hohe Mietforderungen der Vermieter stoppen.
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Wir wollen kleinen Gewerbemieterinnen und Gewerbemietern das Recht geben, befristete Mietverhältnisse zu verlängern, um ihre Existenz zu sichern; darum geht es doch.
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Damit Daniela ihr Modegeschäft behalten kann, damit die Berliner CDU nicht in den U-Bahn-Tunnel ziehen muss
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und damit alle Gewerbetreibenden in Deutschland geschützt werden, wollen wir ein Gewerbemietrecht schaffen. Denn unser Entwurf muss Gesetz werden.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Bayram. – Das haut mich aber wirklich um, dass die Grünen jetzt die CDU-Parteizentrale schützen wollen. Das macht mich sprachlos.
Ich finde, dass jetzt der Kollege Paul Lehrieder für die CDU/CSU-Fraktion antworten darf.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Das Mitleid der Grünen mit der Parteizentrale der CDU in Berlin ehrt Sie; aber es ist scheinheilig.
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Wir haben heute einen schwarzen Tag für den Wohnungsbau, zumindest in Berlin, lieber Matthias Birkwald. Heute hat die rot-rot-grüne Koalition in Berlin einen Mietpreisdeckel auf den Weg gebracht.
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– Da gibt es keinen Grund zum Klatschen.
Lieber Herr Birkwald, glauben Sie im Ernst, dass durch den Mietpreisdeckel auch nur eine Wohnung geschaffen wird?
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– Ja, habe ich schon verstanden; es wird aber auch keine Wohnung saniert.
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– Jetzt höre ich von den Grünen den Zwischenruf: „Der Neubau ist doch ausgenommen.“ Gleichzeitig mit dem Mietendeckel ist aber auch geregelt – auch das gehört zur Wahrheit –, dass nach einer Sanierung die Miete nur maximal um 1 Euro pro Quadratmeter erhöht werden kann. Jetzt frage ich euch von den Grünen: Kann man mit 1 Euro Mietsteigerung
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eine vernünftige energetische Sanierung in vielen Altbauten durchführen? Sicherlich nicht! Da fällt sogar bei den Grünen die Kinnlade runter.
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Meine Damen und Herren, das ist ein schlechter Tag.
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– Matthias, entweder stellst du eine Frage, dann kriege ich mehr Zeit, oder du störst mich nicht.
Der Antrag von den Grünen, den wir heute behandeln, wurde offensichtlich mit heißer Nadel gestrickt. Er soll das verfassungsrechtlich höchst fragwürdige Vorhaben des rot-rot-grünen Berliner Senats, einen Mietendeckel zu schaffen, flankieren. Ihr anderthalbseitiger Antrag ist dabei aber inhaltlich nicht ansatzweise in der Lage, die vielschichtigen Probleme in Ballungsräumen oder Großstädten zu lösen. Im Gegenteil: Käme man ihm nach, so würde er in einer ohnehin schon angespannten Situation zusätzliche Rechtsunsicherheit auslösen.
Sie lassen dabei auch weiterhin außer Acht, dass der rasante Anstieg der Wohnungsmieten, also den persönlichen Rückzugsbereich einer Person oder eine Familie betreffend, durchaus schutzwürdig ist. Die Vorredner haben bereits darauf hingewiesen, dass durchaus eine Differenzierung angebracht ist zwischen Schutz von Wohnraum, weil jeder eine Unterkunftsmöglichkeit braucht, und Gewerberaum, weil die Partner hier stärker auf Augenhöhe sind.
Ich verkenne nicht, dass es in Innenstädten, in Kleinstädten, natürlich auch in Berlin, mit Verlaub, Leerstand gibt und Läden zum Teil leer stehen; darauf wurde schon von Vorrednern hingewiesen. Wir müssen schauen: Was sind die Ursachen? Nicht immer ist es die überhöhte Miete, sondern oft ist es auch unser Freizeitverhalten.
Wir diskutieren das Gaststättensterben, und zwar nicht nur in den Städten, sondern auch auf den Dörfern, weil wir abends nicht mehr so oft ausgehen. Auf der anderen Seite weiß ich auch um die Problematik von Klubs in Berlin.
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– Ich weiß nicht, wie oft der Kollege Birkwald in die Kneipe geht. Aber ich gehe davon aus, dass es ausreichend ist. – Also, in aller Regel ist es natürlich schlichtweg multikausal.
Wie kann man den Gewerbetreibenden helfen? Es gibt einen ganz tollen Bereich, bei dem man ansetzen kann: Das ist das Planungsrecht. Wir haben Artikel 30 Absatz 1 Baugesetzbuch. Vielleicht hilft mal ein Blick ins Gesetz, bevor man so einen Antrag schreibt. In einem Bebauungsplan kann man festsetzen, was in Zukunft auf einem Areal passieren soll: Kita, öffentliche Bedarfsfläche, kulturelle Einrichtungen. Das kann man natürlich auch berücksichtigen.
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Ich kenne es auch, dass viele soziale Einrichtungen im Besitz der Kommune sind. Da kann die Kommune mitgestalten, und die verlangt von sich aus keine überhöhte Miete. Da muss man auch ein bisschen die Kirche im Dorf lassen. Ja, es gibt auch private soziale Einrichtungen, die angemietet sind und sicherlich diese Probleme haben.
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Auch darauf wurde hingewiesen: Wir haben in Deutschland – im Übrigen anders als Sie in Ihrem Antrag schreiben und anders als in Frankreich – einen hohen Schutz des Privateigentums. Wir haben Artikel 2 Absatz 1 Grundgesetz, die allgemeine Handlungsfreiheit, und wir haben im gewerblichen Bereich die Möglichkeit, Staffelmieten zu vereinbaren. Wir haben die Möglichkeit, bereits vor Ablauf des Mietvertrages den Mietvertrag zu verlängern. Wenn ich meine Gaststätte oder meine Boutique umbauen will, dann rede ich mit meinem Vermieter und sage: Jawohl, wie schaut es denn aus? Können wir einen Vertrag für 10, 15 Jahre machen und, wenn ja, zu welchen Konditionen? Können wir reinschreiben, dass die Mieten nach dem Lebenshaltungskostenindex steigen? – All die Möglichkeiten bestehen jetzt schon, um sich langfristig beidseitig zu binden, Vertrauen auf beiden Seiten zu schaffen, Planungssicherheit auf beiden Seiten zu schaffen. All dies ist da.
Dies verkennt natürlich Die Linke. Die Linke möchte – auch darauf hat der Kollege Luczak bereits hingewiesen –, wie das zu Zeiten der DDR der Fall war, dass Einraum- und Zweiraumwohnungen zugewiesen werden. Seien wir mal ehrlich: Vor 1989 war der gewerbliche Wohnungsbestand in den Städten in den neuen Ländern nicht viel besser, als er heute ist, mit Verlaub.
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Wir sind froh, dass wir in vielen Bereichen blühende Landschaften sehen. Das ist aber eben auch ein Stück weit die Marktwirtschaft. Das ist die Möglichkeit, dass gewerbetreibende Mieter und Vermieter ihre Konditionen aushandeln. Daran wollen wir nicht rütteln. Deshalb wird es dich nicht wundern, lieber Matthias, dass wir euren Antrag ablehnen. Er ist nicht so toll.
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Ich bin gespannt, was die Grünen in ein paar Wochen bringen werden, wenn wir uns mit dem Thema wieder befassen. Ich freue mich darauf.
Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag. Machen Sie es gut!
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Vielen Dank, Herr Kollege.
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– Punktlandung. Ich bin ja auch stolz auf Sie. Sie haben noch drei Sekunden.
Als nächste Rednerin und damit abschließend zu diesem Tagesordnungspunkt hat die Kollegin Ulli Nissen das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch in Frankfurt gehen die Gewerbemieten durch die Decke. Alteingessene Bäckereien, Obst- und Gemüseläden, Metzger, Buchhandlungen und kleine Nähstuben verschwinden wegen hoher Mieten aus den Stadtteilen. Die Versorgung der Nachbarschaft ist häufig nicht mehr gesichert. Wie soll die Stadt der Zukunft aussehen? Die SPD spricht sich schon seit Langem für eine Stadt der kurzen Wege mit wohnortnaher Versorgung aus. Für das Klima ist es gut, wenn Erledigungen zu Fuß oder per Fahrrad gemacht werden können. Auch die SDGs fordern nachhaltige Städte und Gemeinden, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Der Bundesrat hat die Bundesregierung darum gebeten, dass sie Maßnahmen im Dreiklang aus Gewerbemietrecht, Wirtschaftsförderung und Städtebaurecht prüfen soll, die geeignet sind, eine Verdrängung von kleinen und mittleren Unternehmen, von Einzelhandels- und Handwerksbetrieben und sozialen Einrichtungen in Innenstädten zu verhindern.
790 Millionen Euro stellt der Bund jedes Jahr für die Städtebauförderung zur Verfügung. Wir haben jetzt drei Dachprogramme. Für die Entwicklung von Ortskernen, insbesondere zur Sicherung der Daseinsvorsorge, investieren wir 300 Millionen Euro mit dem Programm „Lebendige Zentren“.
Mit weiteren 200 Millionen Euro fördern wir das Programm „Sozialer Zusammenhalt“. Hiermit soll die Stärkung von Bildung und generationsübergreifenden Angeboten sowie die Integration aller Bevölkerungsgruppen – der soziale Zusammenhalt – gefördert werden.
Mit 290 Millionen Euro ist das Programm „Wachstum und nachhaltige Erneuerung“ ausgestattet. Dabei geht es um die nachhaltige Erneuerung von Quartieren, insbesondere durch Unterstützung des Wohnungsbaus und durch Klimafolgeanpassungen.
Ich bin überzeugt: Diese Programme helfen gegen Verdrängung und Gentrifizierung. Zugleich stärken sie den schon vorhandenen Gestaltungsspielraum der Kommunen. Diese sollten sie auch nutzen, zum Beispiel durch städtebauliche Verträge, Einzelhandelsentwicklungspläne, vielleicht auch durch Gewerbe- oder Handwerkerhöfe; darüber wird in Frankfurt nachgedacht. Bei der städtischen Frankfurter Wohnungsbaugesellschaft ABG Holding sind die Gewerbemieten zum Beispiel noch so moderat, dass sich auch Familienbetriebe halten können.
Die Mietrechtsreform der Großen Koalition von 2018 verbessert die Situation von sozialen Trägern, die Mietverhältnisse geschlossen haben, um sie für Wohnzwecke weiterzuvermieten. Seit dem 1. Januar 2019 gelten bestimmte Regelungen aus dem sozialen Mietrecht. Das gilt zum Beispiel für betreutes Wohnen oder Obdachlosenunterkünfte. Besonders wichtig ist der Kündigungsschutz. Jetzt haben soziale Träger mehr Planungssicherheit und werden besser vor Verdrängung geschützt. Die Bundesregierung prüft außerdem, ob ein Bedarf für weitere Maßnahmen besteht. Die SPD hat dazu in ihrem Papier zur Wohnwende gute Vorschläge gemacht.
Ich danke den Linken, die mit ihrem Antrag ein wichtiges Thema aufgegriffen haben,
({0})
und ich freue mich schon auf die Diskussionen im Ausschuss.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({1})
Vielen Dank, Frau Kollegin Nissen. – Damit schließe ich die Aussprache.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Geschätztes Kollegium! In dieser Woche, genau genommen morgen, verlieren wir mit Großbritannien einen wichtigen Partner und den zweitgrößten Nettozahler in der Europäischen Union. Die Briten treten aus; sie wollten es so. Wer Demokratie ernst nimmt, der respektiert den Willen des Volkes.
({0})
Insofern passt mein heutiger Antrag sehr gut in das aktuelle Zeitgeschehen; denn wer sich noch immer verwundert die Augen über die Gründe des Brexits reibt, der sollte sich intensiv mit dem Gegenstand dieser Debatte befassen, der sogenannten Whistleblower-Richtlinie der EU.
Mit dieser Richtlinie, die sich sowohl an den privaten wie auch an den öffentlichen Sektor wendet, wird angeblich die Verbesserung des Schutzes von Hinweisgebern, sogenannten Whistleblowern, bezweckt. So sollen Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden, keine Benachteiligung durch ihre Arbeitgeber oder Dienstherren befürchten müssen. Das hört sich ja erst mal gar nicht so abwegig, fast sogar ein bisschen populistisch an. Denken wir allein an Edward Snowden, der ja gern als Held der Wahrheit in den Medien gefeiert wird.
({1})
– Genau, ja, ist er. – Kurios ist nur, dass genau dieser Mann, der eindeutig politisch Verfolgter ist, in Deutschland kein Asyl erhält. Aber vielleicht stammt er einfach aus dem falschen Herkunftsland.
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Zurück zur Richtlinie. Wir dürfen uns nicht von ihrem klangvollen Titel ablenken lassen. Mit ihr wird das EU-Meldewesen in Amtsstuben und privaten Unternehmen etabliert. Verstöße gegen das Unionsrecht sollen intern – oder besser noch: extern – gemeldet werden, und das auf eigens dafür eingerichteten Meldekanälen, nach dem Motto: Ich möchte hier mal jemanden melden. – Wir kennen das Prinzip ja.
Was soll hier in Wirklichkeit also anderes geleistet werden, als die Beamten und Arbeitnehmer aktiv dazu aufzurufen und sie zu provozieren, die Anwendung des Unionsrechts und darüber hinaus die Unionspolitik in den Amtsstuben und Unternehmen der Mitgliedstaaten zu überwachen? Wir reden hier doch von nichts anderem als vom, bildlich gesprochen, berühmten roten Telefon der Europäischen Union.
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Ich kann es nicht oft genug wiederholen: Nicht Big Brother, sondern Big Union is watching you now!
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Dass dieses Instrument aber nicht nur erhebliche Gefahren für den Arbeitsfrieden mit sich bringt und vorsätzliche oder fahrlässige Fehlmeldungen erleichtert, also der gezielten Denunziation Vorschub leistet, ist noch lange nicht alles. Wir haben es hier funktional mit einer Regelung aus dem Exekutivbereich zu tun, unabhängig davon, ob sie in der öffentlichen Verwaltung oder in privaten Unternehmen ausgeübt wird. Das ist Polizeirecht, und dieses gehört gerade nicht zum Aufgabenbereich der Europäischen Union. Punkt!
({5})
– Ja, das gehört zum Polizeirecht. Richtig, Herr Martens. – Die Verwaltung ist Sache der Mitgliedstaaten, in Deutschland vornehmlich Sache der Länder. Die Europäische Union hat somit keine Ermächtigung, diesen Bereich zu regeln. Sie verletzt das Subsidiaritätsprinzip.
Wie kritisch, wie problematisch, ja, wie gefährlich diese Richtlinie ist, hat 2018, als die Entwurfsfassung bekannt wurde, nur ein Staatsorgan erkannt: die Bayerische Staatsregierung. Diese hat am 14. Juni 2018 einen Beschluss des Bayerischen Landtags herbeigeführt: Der EU fehle für die Richtlinie die Kompetenz, und sie verletze das Subsidiaritätsprinzip. – Erhellend ist aber der letzte Absatz aus dem Beschluss des Landtags, den ich – mit der Genehmigung des Präsidenten – zitiere:
Abschließend verwahrt sich der Bayerische Landtag gegen den mit dem Richtlinienvorschlag implizierten Generalverdacht gegen die Behörden in den Mitgliedstaaten.
Der Bundesrat hat die Bedenken Bayerns aufgegriffen und im Beschluss vom 25. Juni 2018 sogar erweitert. Als Mitglied des Deutschen Bundestages und als Vorsitzende der AfD in Bayern rufe ich Sie deshalb dazu auf, diesen Richtlinienentwurf dem EuGH im Rahmen einer Subsidiaritätsklage – die Frist dafür läuft noch circa eine Woche – vorzulegen und sich damit für den Rechtsstaat und den Erhalt des Föderalismus in Deutschland und in der EU einzusetzen.
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Ich kann nur warnen: Wenn diese Richtlinie umgesetzt wird, werden wir hier in der Folge nicht mehr nur über Zuständigkeitsfragen reden. Wir werden uns dann mit den materiellen Problemen der Richtlinie und mit ihrer Vereinbarkeit mit unseren Grundrechten, vor allem mit dem Persönlichkeits- und Unternehmensschutz, auseinandersetzen müssen.
Ganz ehrlich: Wenn Sie heute der Subsidiaritätsklage nicht zustimmen, dann sollten Sie, bevor Sie Strafgesetze zum Schutz der EU-Flagge vor Verunglimpfung verabschieden, das Design ebendieser vielleicht einmal überdenken: Entfernen Sie die Sterne, und setzen Sie Hammer und Sichel drauf,
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damit auch dem Letzten hier klar wird, welchem Regime Sie hier eigentlich nacheifern.
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Von der Europäischen Union zur Währungsunion zur Umverteilungsunion zur Überwachungsunion zur Meldeunion,
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nein danke, das braucht in Europa wirklich niemand. Das haben die Briten verstanden und sind uns deshalb im wahrsten Sinne des Wortes von dieser Fahne gegangen.
Vielen Dank.
({10})
Vielen Dank, Frau Kollegin Miazga. – Als nächster Redner hat das Wort Herr Professor Dr. Heribert Hirte, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten hier über den Antrag der AfD-Fraktion, nach Artikel 263 AEUV und Artikel 23 unseres Grundgesetzes eine Subsidiaritätsklage gegen die am 26. November 2019 – Sie haben die Frist richtig erwähnt – im Amtsblatt der EU veröffentlichte sogenannte Whistleblower-Richtlinie zu erheben.
Die Frage, ob ein Akt der Europäischen Union gegen das Subsidiaritätsgebot verstößt, ist zunächst einmal richtig; denn es entspricht unserem Staatsverständnis, dass eine höhere Ebene erst und nur dann tätig werden soll und kann, wenn die tiefere, bürgernähere das nicht kann oder will. Ebenso entspricht dieser Gedanke auch unserem Menschenbild, dass der Staat erst dann handeln und eingreifen soll, wenn der Bürger die Probleme nicht selbst sinnvoll lösen kann.
Nach der Richtlinie – das ist hier der Hauptpunkt – sollen Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden, keine Benachteiligungen durch ihren Arbeitgeber oder ihren Dienstherren befürchten müssen. Dabei steht im Mittelpunkt Ihrer Kritik, dass die Richtlinie auch die Verwaltung der Mitgliedstaaten und damit auch die deutsche Verwaltung adressiert, die bei uns in erster Linie in der Hand der Länder liegt.
Sie rügen mit Ihrem Antrag das Fehlen einer Ermächtigungsgrundlage, einen Verstoß gegen den Subsidiaritätsgrundsatz und die Unverhältnismäßigkeit. Meines Erachtens treffen alle diese drei Gesichtspunkte nicht zu.
Was zunächst das Fehlen einer Ermächtigungsgrundlage angeht, rügen Sie unter anderem eine Überschreitung der Binnenmarktkompetenz aus Artikel 114 AEUV, auf die die Richtlinie unter anderem gestützt wird. Nach Artikel 114 AEUV darf die Europäische Union „Maßnahmen“ treffen „zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, welche die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts zum Gegenstand haben“. Daran fehle es hier. Die Richtlinie habe „nichts mit dem Funktionieren oder gar der Errichtung des Binnenmarktes zu tun“. Es gehe nur „um den Schutz der Arbeitnehmer und Bediensteten, die auf Verstöße gegen das Unionsrecht ... hinweisen“.
Dazu kann ich nur sagen: Ja, darum geht es. Es ist richtig. Und es betrifft das Funktionieren des Binnenmarktes, und zwar ganz zentral.
({0})
Denn seit Jahrzehnten wissen wir, dass wir hinsichtlich der Rechtsangleichung in der Europäischen Union durchaus nicht selten mit der Lage konfrontiert sind, dass Mitgliedstaaten europäisches Recht zwar umsetzen, aber nicht anwenden. Auch wir selbst – das gebe ich unumwunden zu – sind hier manchmal in Versuchung geraten.
Im Bereich des Beihilferechts – das spielt gerade hier eine große Rolle – wissen wir ebenso, dass mit den europäischen Geldern und damit auch mit unseren Geldern nicht immer sauber umgegangen wird. Deshalb ist es richtig und wichtig, hier genauer hinzuschauen. Die hierfür aus Ihrer Sicht notwendigen, aber angeblich nicht gelieferten Beispiele nennen doch gerade Sie immer, wenn es darum geht, dass die Europäische Union angeblich Mittel verschwendet, Mittel, die wir ihr zur Verfügung gestellt haben. Gerade in diesem finanziellen Bereich muss genauer hingeschaut werden.
({1})
Traurig ist in diesem Zusammenhang – deshalb ist es gut, Frau Miazga, dass Sie das erwähnen –, dass es gerade das Vereinigte Königreich war, das hier eine Vorreiterrolle einnahm, indem es europäisches Recht nicht nur kodifizierte, sondern auch korrekt anwandte. Deutlicher als durch diesen Punkt kann eigentlich nicht aufgezeigt werden, dass das Funktionieren des Binnenmarktes eben nicht nur von den Regeln auf dem Papier, sondern auch vom gemeinsam gelebten und praktizierten Recht abhängt, was die Briten trotz eigener Compliance manchmal bei anderen vermisst haben. Zu Recht hat die Europäische Kommission deshalb schon vor längerer Zeit den tatsächlichen Vollzug europäischen Rechts und dessen Kontrolle zu einer ihrer Prioritäten gemacht. Genau hier setzt die Whistleblower-Richtlinie an.
Die Stärkung des Normvollzugs ist auch deshalb richtig, weil die – in Ihren Worten – Überwachung der Anwendung des Unionrechts eine der Voraussetzungen ist, um überhaupt Recht zu schaffen. Solange altes Recht nicht angewandt wird, ist es richtig, dass wir kein neues Recht schaffen. Deshalb: Die Richtlinie verstößt nicht gegen das Subsidiaritätsprinzip; sie verwirklicht es, und das ganz zentral.
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Dass es dabei nicht, wie Sie gerade gesagt haben, um Überwachung des Normvollzugs durch die EU-Kommission geht, hat die Kommission gerade gegenüber der Bayerischen Staatsregierung und dem Bundesrat klargestellt. Es geht immer noch um interne deutsche Meldewege. Diese innerdeutsche Überwachung des Normvollzugs steht dabei Seite an Seite mit den Regeln des Artikels 267 AEUV, des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, nach dem ein Gericht eine Vorentscheidung durch den Europäischen Gerichtshof einholen kann. Niemand käme auf die Idee, dass das gegen unsere eigene Rechtsprechungskompetenz verstößt. Nein, wir brauchen die gleiche Auslegung des Rechts; wir brauchen die gleiche Anwendung des Rechts. Darum geht es hier.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der AfD-Fraktion?
Nein. – Sie meinen weiter, dass die Richtlinie in unsere Organisationsautonomie bei der Verwaltung eingreift. Entschiedener Widerspruch: Das, was hier gemacht wird, das sind Richtlinien, das sind Vorschläge, die neutral sind. Sie greifen genauso wenig in den Vollzug der Verwaltung ein wie Bauvorschriften, die den Bundestag zwingen, Brandschutzvorschriften zu erlassen. Ich halte das Argument für völlig fernliegend.
Was den von Ihnen gerügten Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip angeht – die Fragmentierung der Normgebung durch die EU-Richtlinie –: Ja, genau dieser Punkt treibt uns um – dass das Melden, sozusagen das Aufdecken von Verstößen gegen europäisches Recht in manchen anderen Ländern nicht so funktioniert, wie wir es uns wünschen. Das kann und muss angeglichen werden. Insofern liegt auch in diesem Punkt kein Verstoß vor.
Wir werden Ihren Antrag ablehnen, und das mit großer Überzeugung.
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Vielen Dank.
({1})
Vielen Dank, Herr Kollege Hirte. – Der Kollege Peterka hat auf Bitten der AfD-Fraktion eine Kurzintervention angemeldet, die ich zulasse. Bitte, Herr Kollege Peterka.
Vielen Dank, Herr Präsident, für die Zulassung. – Herr Dr. Hirte, Sie haben ja ausgeführt, dass diese Whistleblower-Richtlinie zum Beispiel dazu diene – in diese Richtung wollten Sie gehen –, Vergaberechtsverstöße aufzudecken. Es sollte also quasi die Verschwendung von Geldern der EU aufgedeckt werden, und wir als AfD sollten das begrüßen. Das ist aber nur ein sehr kleiner Teil davon.
Sie wissen ja auch ganz genau, dass die Konferenz der Justizminister im November die Forderung an die Regierung gestellt hat, dass die Umsetzung per Gold-Plating auf nationales Recht ausgeweitet werden sollte.
({0})
Ich habe es von Anfang an im Ausschuss gesagt, dass zu erwarten ist, dass hier wieder Gold-Plating durch Deutschland erfolgt
({1})
und dass durch diese Hintertür die quasi polizeiliche Kontrolle von Gewerbe und Behörden durchgesetzt werden soll, wie es die EU dauernd macht. Deswegen: Bitte werfen Sie nicht diese Nebelkerzen. Schon der zugrundeliegende Ansatz ist zu verurteilen, und es wird – wie von dieser Bundesregierung zu erwarten – durch Gold-Plating noch schlimmer gemacht.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Herr Dr. Hirte, Sie wollen antworten. Bitte schön.
Herr Peterka, die Frage des Gold-Platings haben Sie im Unterausschuss selbst aufgeworfen, und Sie haben gesagt: Eigentlich müsste eine solche Richtlinie auch Verstöße gegen nationales Recht beinhalten, und auch die müssten entsprechenden Meldewegen unterliegen.
({0})
Das möchte ich nur in Erinnerung rufen. Sie haben genau dies gefordert. Im Übrigen ist die Frage, die Sie stellen, eine Frage der nationalen Umsetzung, und es ist keine Frage einer EU-Richtlinie.
Natürlich können wir über Anwendungsbereiche, soweit diese Richtlinie es nicht vorgibt, hier im Bundestag beraten. Das ist unsere Aufgabe. Das ist keine Frage des europäischen Rechts. Deshalb ist Ihr Antrag, das sozusagen nach Europa zu schieben, abzulehnen und falsch.
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Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Jürgen Martens, FDP-Fraktion, das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu dem vorliegenden Antrag der AfD: Ich habe mich zunächst gewundert, warum die ansonsten im Unterausschuss Europarecht nicht gesehene Kollegin Miazga hier tätig geworden ist.
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Wahrscheinlich deswegen, weil diese Ausführungen so peinlich waren, dass man sich hinterher mit ihnen im Unterausschuss Europarecht nicht mehr wird sehen lassen können.
({1})
Hier geht es nicht um „Big Union is watching you“ – mit Sicherheit nicht. Der Hammer-und-Sichel-Vergleich hinkt; er ist wirklich daneben, er ist schief, meine Damen und Herren. Das wissen Sie.
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Es geht auch nicht um eine Gefahr für die Souveränität der Bundesrepublik. Statt den Umsetzungsbedarf für eine Richtlinie erst mal zu evaluieren, gehen Sie weiter und behaupten, es gehe hier um Verwaltungsorganisationsrecht, Verwaltungsverfahrensrecht. Herr Professor Hirte hat klargemacht, dass das mitnichten der Fall ist. Natürlich ist die Whistleblower-Richtlinie auch relevant für den Binnenmarkt, eben im Bereich Vergaberecht, Zollrecht, Kartellrecht, Beihilfen, wo es immer wieder zu Verstößen kommt.
Wenn Sie fordern, dass wir uns intensiv mit dieser Richtlinie befassen, dann muss ich fragen: Was haben Sie eigentlich die letzten zwei Jahre gemacht? Mit was haben Sie sich denn befasst?
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Ihr Schweigen lässt sich doch eigentlich nur mit einer tiefgreifenden Narkotisierung erklären, wenn Sie sich hier auf einen Antrag aus Bayern von 2018 berufen. Dann verlangen Sie hier eine Sofortabstimmung. Ich sage mal: Das ist auch prozedural eine Unverschämtheit.
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Sie hätten längst tätig werden können. Das wäre nach der Geschäftsordnung dieses Hauses auch geboten gewesen. Ich brauche sicherlich keine Erlaubnis des Präsidenten, wenn ich sie zitiere:
Bei der Beratung von Unionsdokumenten prüfen die Ausschüsse auch die Einhaltung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit. Wird beabsichtigt, insoweit eine Verletzung zu rügen, ist unverzüglich der Ausschuss für Angelegenheiten der Europäischen Union zu informieren …
Haben Sie das irgendwann gemacht? Ist Ihnen die Idee irgendwann gekommen, hier etwas zu beanstanden? Nein. Offensichtlich kam Ihnen die Idee irgendwann in der Weihnachtspause, aber vorher nicht.
({5})
Herr Kollege Dr. Martens, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Miazga?
Ja.
Bitte schön.
Vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen, Herr Präsident. – Sie sind mich gerade ein bisschen angegangen.
({0})
– Sie müssen gleich für ihn ein bisschen weinen, nicht für mich. – Wissen Sie eigentlich, dass ich im Jahr 2018 eine Drucksache eingebracht habe, nämlich eine mit der Aufforderung zu einer Subsidiaritätsrüge, die hier durchs Plenum gegangen ist? Da haben Sie wohl geschlafen, Herr Kollege, oder?
Moment! Es ging hier um die Frage, ob Sie im Ausschuss gerügt haben, dass gegen das Subsidiaritätsprinzip verstoßen wird.
({0})
§ 93a Absatz 1 der GO-BT verlangt das nämlich. Wenn Sie andere Wege wählen, die nicht der Geschäftsordnung entsprechen, können Sie mir das hinterher doch bitte nicht vorwerfen.
({1})
Noch etwas. Sie möchten hier eine Subsidiaritätsklage. Dazu verhält sich § 93d Absatz 2 unserer Geschäftsordnung wie folgt:
Verlangt … ein Viertel der Mitglieder des Bundestages die Erhebung der Klage …, ist der Antrag so rechtzeitig zu stellen, dass innerhalb der Klagefrist eine angemessene Beratung im Bundestag gesichert ist.
Sie bringen einen Antrag ein, hoppladihopp, von jetzt auf nachher, und verlangen die Sofortabstimmung, weil Ihnen nämlich dann noch ganze neun Tage bleiben, um eine ordnungsgemäße Klage gegen ein Gesetz beim Europäischen Gerichtshof einzureichen.
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Das möchten Sie jetzt Ihren Wählern und Mitgliedern als höchst seriöse Europapolitik, getragen von Kenntnis und kritischem Bewusstsein, verkaufen. Das werden auch die Ihnen nicht abnehmen.
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Nunmehr erhält die Kollegin Esther Dilcher, SPD-Fraktion, das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Um mich auf diesen Antrag vorzubereiten, habe ich mir mal im Internet angeguckt, was die AfD vielleicht dazu sagen könnte. Witzigerweise findet man dort ein tolles YouTube-Video von Ihnen, Frau Miazga.
({0})
Allerdings steht das in erheblichem Widerspruch zu dem, was Sie heute gesagt haben.
({1})
Ich war über Ihre Ausführungen sehr überrascht. Sie haben mich nicht überzeugt, aber sie standen in erheblichem Widerspruch zu Ihrem Video.
In diesem Video bekamen wir – theatralisch ausgeführt – zu hören: Subsidiarität ist ein Instrument, das man nutzen könnte, wenn man denn wollte. – Ich kann Sie nicht ganz so gut nachmachen, aber ich fand es schon beeindruckend.
({2})
Es folgt dann ein stark verkürzter historischer Abriss zur Entstehung der Europäischen Union aus einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft usw. Sie erwähnen in diesem Beitrag, der auch mit „Subsidiarität“ überschrieben ist, mehrmals diesen Begriff, ohne ihn jedoch einmal zu erklären.
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– Wenn Sie es erwähnen wollen, müssen Sie es erklären. – Aber bei Ihnen ist jedes Thema dazu geeignet, gegen Flüchtlinge und Menschen mit Migrationshintergrund zu hetzen; das haben Sie auch in diesem Video wieder geschafft.
({4})
Sie haben kritisiert, dass es über das Thema Subsidiarität noch nicht einmal eine Diskussion im Parlament gebe, und Sie haben Ihren Ausschuss, den Europaausschuss, als Kaffee-und-Kuchen-Ausschuss bezeichnet.
({5})
Sie behaupten, dass immer mehr Kompetenzen nach Europa abgegeben würden, bis wir im Deutschen Bundestag nichts mehr zu entscheiden hätten. Damit wird die Arbeit im deutschen Parlament und von uns Parlamentariern der Lächerlichkeit preisgegeben.
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Hilfreich wäre es vielleicht auch für Sie gewesen, sich einmal damit zu beschäftigen, was Subsidiarität tatsächlich bedeutet. Ich finde, der Kollege Hirte und der Kollege Martens haben das hier eindrücklich ausgeführt.
Man sollte vielleicht noch mal gucken, was in der Richtlinie an Bereichen abgedeckt werden sollte. Besonders werden dort Regelungen für folgende Bereiche getroffen: zum öffentlichen Beschaffungswesen, im Bereich Finanzdienstleistungen, zu Maßnahmen gegen Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung, zu Produktsicherheit, Transportsicherheit, Umweltschutz, Atomsicherheit, zu Nahrungs- und Futtermittelsicherheit, Tiergesundheit und ‑wohlergehen, zur öffentlichen Gesundheit, zum Verbraucherschutz, Schutz der Privatsphäre und Schutz von persönlichen Daten sowie zu Verstößen gegen Wettbewerbsvorschriften der Europäischen Union.
Um diese Bereiche zu schützen, werden diese von Ihnen auch zitierten Meldekanäle geprüft. Es wird geprüft: Wie kann gemeldet werden, um die Loyalitätspflichten gegenüber dem Arbeitgeber zu wahren und nicht selbst bestraft zu werden? Der Knackpunkt ist natürlich: Die EU darf im Grundsatz nur tätig werden, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen nicht von den Mitgliedstaaten verwirklicht werden können, sondern wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkung besser auf Unionsebene zu verwirklichen sind. Sobald dieser Grundsatz verletzt ist, sieht Artikel 23 Grundgesetz vor, dass sowohl der Bundestag als auch der Bundesrat Klage vor dem Europäischen Gerichtshof erheben kann, wenn ein Viertel der Mitglieder dies beantragt; auch das dient dem Schutz der Minderheitenrechte.
Der in der Union bestehende Hinweisgeberschutz ist bereits in mehreren Mitgliedstaaten geregelt und gestaltet. Jetzt müssen wir uns fragen: Ist das ausreichend? Ist damit das Ziel des Whistleblower-Schutzes bereits national verwirklicht? Verletzt die EU-Richtlinie daher das Subsidiaritätsprinzip? Wir als SPD-Fraktion sagen hier – wir haben das auch von der CDU/CSU-Fraktion gehört –: Nein, das reicht als Verletzung längst nicht aus.
Ich will Ihnen auch sagen, warum. Die Folgen der von den Hinweisgebern gemeldeten Verstöße gegen das Unionsrecht, die eine grenzüberschreitende Dimension aufweisen, zeigen deutlich, dass ein unzureichender Schutz in einem Mitgliedstaat dazu führt, dass Verstöße von Hinweisgebern eben nicht mehr gemeldet werden, obwohl auch die Interessen aller anderen Mitgliedstaaten betroffen sind und Verstöße gegen Umweltschutz, nukleare Sicherheit, Geldwäsche oder Finanzdienstleistungen nicht an nationalen Grenzen haltmachen.
({7})
Wer glaubt, dass sich Hinweisgeber nur durch nationale Gesetzgebung – und das angeblich auch noch besser – schützen lassen, der leugnet wahrscheinlich auch die Klimakatastrophe oder kommt auf die Idee, die Sonne zu verklagen, weil sie einfach zu heiß scheint.
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– Das war genauso zum Thema, wie das, was alle Kollegen vorher gesagt haben.
Die Kollegin Miazga hat es ja deutlich gesagt – allerdings vertreten wir eine andere Auffassung –: Subsidiarität, also ob die EU unterstützend eingreifen bzw. Vorschläge machen darf, ist immer zu prüfen. Aus diesen Richtlinien, die auf Regierungsebene und auch in den Ausschüssen besprochen werden, müssen wir anschließend Gesetze machen, und die werden im Parlament beraten. Wir haben so viel zu tun wie selten; es ist nicht zu befürchten, dass wir in Deutschland wegen mehr EU-Richtlinien weniger zu entscheiden hätten.
Danke.
({9})
Vielen Dank, Frau Kollegin Dilcher. – Nächster Redner für die Fraktion Die Linke ist der Kollege Alexander Ulrich.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das ist mal wieder eine halbe Stunde hier im Bundestag, die man sich eigentlich schenken könnte;
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denn da wird eine eigentlich gute Idee der Europäischen Union mal wieder von der AfD für einen Generalangriff auf die Europäische Union missbraucht. Das hat Ihre heutige Rede wieder einmal deutlich gezeigt; Sie haben den Brexit als Bespiel genannt und gesagt, warum es gut ist, dass Großbritannien aus der Europäischen Union austritt. Wenn die AfD-Abgeordneten so gegen das Europäische Parlament und gegen die Europäische Union sind, dann sollten sie konsequent sein und diese Woche mit den Briten zusammen das Europaparlament verlassen.
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Irgendwann ist ja auch mal die Schonfrist für die AfD vorbei. Wenn man zwei Jahre im Bundestag ist und wie Sie, Frau Miazga, auch zwei Jahre im Europaausschuss, müsste man langsam wissen, wie das mit der Subsidiarität ist, was man da machen kann und wie man es machen muss. Die Vorredner sind darauf eingegangen: Lernen Sie endlich Parlamentarismus, und halten Sie hier keine blöden Reden über die Europäische Union! Das wäre besser als das, was Sie heute hier angestellt haben.
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Wenn wir aber schon mal über dieses Thema reden, dann sollten wir es nicht nur juristisch aufgreifen, wie es meine Vorredner gemacht haben; lasst uns doch mal darüber reden, worum es hier geht. Ich finde, der Vorschlag der Europäischen Union, dass man Whistleblower schützen soll, ist eine gute Idee; denn solche Leute brauchen Schutz.
Ich möchte mal zwei Beispiele nennen, die vielen von Ihnen vielleicht bekannt sind. Ich glaube, dass auch bei der nationalen Umsetzung dieser Richtlinie noch einiges getan werden muss. Ich nenne das Beispiel von Erwin Bixler. Kennt den noch jemand? Er hat auf Fälschungen der Arbeitslosenstatistik durch das Landesarbeitsamt Rheinland-Pfalz-Saarland aufmerksam gemacht. Die Arbeitgeber haben den aufrechten Beamten mit einer Denunziationskampagne und mit Mobbing in Krankheit und Frührente getrieben. So etwas sollte in Zukunft nicht mehr passieren.
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Das zweite Beispiel: Der Apotheker Martin Porwoll fand heraus, dass in seiner Apotheke gepanschte Krebsmedikamente verkauft wurden, und ging an die Öffentlichkeit. Sein Chef entließ ihn fristlos.
Diese Menschen sind keine Verräter, wie sie die AfD vielleicht gerne bezeichnet, sondern sie sind Helden des Alltags. Und solche Helden müssen geschützt werden.
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Deswegen geht die Richtlinie der EU auch in die richtige Richtung. Demokratien benötigen dringend einen rechtlichen Schutz für Whistleblower – auch über nationale Grenzen hinweg.
Aber ich sage auch: Die Bundesregierung sollte jetzt endlich mal tätig werden; denn was in Deutschland fehlt, ist ein Whistleblower-Schutzgesetz, wie wir es als Linke schon seit Jahren fordern. Deshalb ist die Bundesregierung aufgefordert, diese Richtlinie endlich zum Anlass für eine nationale Umsetzung zu nehmen. Da geht es nicht nur um EU-Recht, sondern da geht es auch um Verstöße in Unternehmen, im Privatleben oder beim Staat bzw. bei deutschen Behörden. Das, was bei VW oder anderen Firmen zum Beispiel beim Dieselskandal passiert ist, wäre vielleicht aufgedeckt worden, wenn die Menschen nicht Angst davor hätten, dass ihnen dafür fristlos gekündigt wird.
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Wir brauchen endlich einen Schutz für Whistleblower in Deutschland. Deshalb, glaube ich, ist es auch ganz gut, wenn wir daran erinnern, dass es Whistleblower gibt, die verfolgt werden, die sich in Russland oder woanders verstecken müssen. Solche Whistleblower sind Helden des Alltags und sollten auch durch den Deutschen Bundestag geschützt werden.
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Vielen Dank, Herr Kollege Ulrich. – Ich merke: Kaum füllt sich der Saal, wird der Geräuschpegel deutlich wahrnehmbarer. Ich bitte auch die Kollegin Künast, Gespräche zu unterlassen, damit den Rednerinnen und Rednern zugehört werden kann.
Die nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Manuela Rottmann, Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Vieles, was von der AfD kommt, ist schlimm. Manches ist aber auch nur ermüdend dumm. Der Antrag, über den wir gerade reden, gehört zur zweiten Abteilung.
({0})
In diesem Antrag steht, dass Mitarbeiter von Unternehmen, die Verstöße gegen Unionsrecht aufdecken, funktional Verwaltungstätigkeit ausüben. Wer, bitte, von Ihnen denkt sich eigentlich einen solchen Unsinn aus? Dann ist wahrscheinlich jemand, der eine Strafanzeige stellt, ein funktionaler Staatsanwalt, oder jemand, der Erste Hilfe leistet, gehört funktional zum Rettungsdienst. Das ist totaler Unsinn.
({1})
Die Überschrift Ihres Entschließungsantrages zum selben Thema lautet: „Hinweisgeberschutz national regeln – Subsidiaritätsprinzip einhalten“. Die Überschrift ist, höflich gesagt, irreführend; man könnte auch sagen: glatt gelogen. Denn Ihre Rede hat ja deutlich gemacht, dass Sie eines nicht wollen: weder auf europäischer noch auf nationaler Ebene irgendetwas für den Hinweisgeberschutz tun.
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Sie haben auch wieder die üblichen Begriffe verwendet: Denunziantentum und was nicht alles. Der Kollege Ulrich hat schon auf Martin Porwoll hingewiesen, der mit der Aufdeckung, dass Krebsmedikamente gepanscht werden, nicht nur millionenschweren Betrug gegen Krankenkassen aufgedeckt, sondern Leben gerettet hat.
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Er hat Leben gerettet, und er hat dafür schwerste Nachteile erlitten. So jemanden nennen Sie einen Denunzianten.
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Ich kann es mir nur damit erklären, dass Ihr moralischer Kompass vollkommen zerstört ist,
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oder damit, dass besonders die Mitglieder Ihrer Fraktion den Immunitätsausschuss überdurchschnittlich beschäftigen.
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Die Umsetzung der Hinweisgeberschutzrichtlinie wird anspruchsvoll. Aber zuallererst – hier wende ich mich an alle anderen Fraktionen – ist Hinweisgeberschutz eine Frage der Haltung.
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Hier müssen sich alle Fraktionen in diesem Haus entscheiden. Der Hinweisgeber handelt im öffentlichen Interesse. Er stellt sich gegen wirtschaftliche Macht, gegen Menschen, die großen Einfluss auf sein Leben haben. Stellen wir uns an die Seite dieser Menschen, oder lassen wir sie allein? Stärken wir Zivilcourage in Deutschland? Schauen wir der Wahrheit ins Auge, dass wir beim Hinweisgeberschutz nun wirklich nicht vorne dran sind und den Anstoß aus Brüssel dringend brauchen?
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Helfen wir mit dieser Richtlinie auch den Menschen in den Mitgliedstaaten der Union, die um Rechtsstaat und Demokratie kämpfen? Die brauchen ein solches Instrument: in Bulgarien, in Ungarn, in Rumänien. Solidarität mit den Hinweisgebern, mit den Helden des Alltags, fängt hier im Parlament an.
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Öffnen Sie sich diesen Menschen! Lassen Sie uns in Deutschland die Hinweisgeberrichtlinie gut umsetzen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Alexander Hoffmann, CDU/CSU-Fraktion.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie herzlich, wenn Sie es schon nicht selbst spüren, vielleicht aus Höflichkeit oder Stilempfinden auch dem letzten Redner dieser Debatte noch zuzuhören und die Gespräche einzustellen.
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Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, diese Debatte hat drei Ebenen. Es gibt zunächst einmal die Sachebene. Ja, ich glaube schon, dass man bei der sogenannten Whistleblower-Richtlinie auch durchaus juristische Bedenken hinsichtlich der Frage der Subsidiarität und der Frage der Verhältnismäßigkeit anmelden kann. Das hat es im Bayerischen Landtag gegeben. Ich glaube, dass in der Begründung sehr schön austariert ist, auf welche Punkte man achten muss.
Ich glaube, ich kann an dieser Stelle im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion sagen, dass wir all diesen Bedenken im Rahmen der Umsetzung Rechnung tragen werden, genauso wie wir dafür Sorge tragen werden, dass diese Richtlinie nicht überschießend umgesetzt wird.
Ich komme zur zweiten Ebene. Die zweite Ebene ist die Frage: Wie löst man diese Bedenken auf? Das, was Sie heute suggerieren, ist: Die einzige Möglichkeit, wenn man Bedenken hinsichtlich Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit hat, ist, eine Subsidiaritätsklage zu erheben. Das zieht sich wie ein roter Faden durch Ihren Antrag. Es wird am Schluss theatralisch untermauert – auch das muss man mal sagen; Sie haben es heute sehr schön dargeboten –: Wenn diese Richtlinie kommt, dann haben wir unsere Hoheitsrechte an das böse Europa, die Krake, abgegeben und wir sind quasi rechtlos und der Bürger sowieso.
Man hat fast das Gefühl, dass diese Richtlinienumsetzung Ihr neuer Migrationspakt ist. Ich darf an den Migrationspakt erinnern. Da haben Sie auch YouTube-Videos gemacht und die Backen aufgeblasen, so wie heute. Aber all das, was Sie damals behauptet haben, ist nicht eingetreten.
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Deshalb zurück zur Frage: Ist es denn zwingend, eine Subsidiaritätsklage zu erheben? Genau das ist es eben nicht. Ich kann nämlich Bedenken hinsichtlich Verhältnismäßigkeit und Subsidiarität auch im Rahmen der Umsetzung der Richtlinie Rechnung tragen, und ich habe sogar später auch im Rahmen eines Umsetzungsverstoßverfahrens die Gelegenheit, mich auf solche Punkte zu berufen. Deswegen ist das, was Sie heute – auch mit der namentlichen Abstimmung – an Endzeitstimmung erzeugen wollen, vollkommen fehl am Platz.
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Sie zitieren dann eine Kommentarstelle, die genau den Zusammenhang, den Sie herstellen, gar nicht beinhaltet. Auch diese Kommentarstelle beinhaltet nicht, dass eine Subsidiaritätsklage zwingend zu erheben ist, wenn man Bedenken hinsichtlich Verhältnismäßigkeit und Subsidiarität hat. Die Kommentarstelle besagt nur: Wenn eine Subsidiaritätsklage eingereicht ist und es um Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit geht, dann geht es zwangsläufig und denknotwendig um die Frage der Zuständigkeit der Europäischen Union.
Dann komme ich am Ende zur dritten Ebene, nämlich: Warum keine Subsidiaritätsklage? Das ist eigentlich noch viel interessanter. Die Antwort ist doch ganz einfach: Das, was in der Richtlinie geregelt werden soll, ist im Interesse von uns allen.
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Sie bedienen doch an den Stammtischen das Bild von dem Europa, wo in Brüssel irgendetwas entschieden wird; die Einzigen, die es umsetzen, sind die Deutschen, und der Rest kümmert sich gar nicht darum,
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und das alles zu unserem Nachteil.
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– Sie applaudieren sogar. – Genau das soll die Umsetzung der Richtlinie verhindern.
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Deswegen tun wir gut daran, konstruktiv in die Richtlinienumsetzung einzusteigen. Deswegen ist es auch richtig, wenn man sagt, dass die Umsetzung der Richtlinie auch eine Frage des funktionierenden Binnenmarktes ist. Denn er funktioniert nur, wenn sich alle an die Regeln halten. Deswegen trägt auch der Vortrag nicht, dass Artikel 114 AEUV nicht als ausreichende Ermächtigungsgrundlage von Ihnen anerkannt wird.
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Deswegen, meine Damen, meine Herren: Das Ziel müssten Sie doch vor Augen haben. Dann ziehen wir doch an einem gemeinsamen Strang! Kümmern wir uns um eine gute sachgerechte Umsetzung im Interesse eines stabilen, eines gleichberechtigten Europas!
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege Hoffman. – Damit schließe ich die Aussprache.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Vorsitzende der SPD, Frau Esken, hat vor nicht allzu langer Zeit getwittert, dass in Deutschland alle elf Minuten große Vermögen übertragen werden. Wenn ich mir die Politik der Großen Koalition der letzten Monate anschaue, fällt mir ein ganz anderer Tweet ein: Alle elf Minuten fallen Union und SPD eine neue Steuer oder ein neuer Weg ein, wie sie die Mitte dieser Gesellschaft belasten können.
({0})
Ob Solidaritätszuschlag bei den Kapitalerträgen, Verlustverrechnung oder Freibetrag bei der Grunderwerbsteuer: Überall wird der Sparer belastet. Eigenverantwortung und Vorsorge haben keinen Platz in der Großen Koalition – mit einem Ziel: Staat vor Privat.
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Mit der Finanztransaktionsteuer ist der Sparer jetzt noch mal dran, meine Damen und Herren. Als Robin-Hood-Steuer sollte die Finanztransaktionsteuer die Finanzmärkte zähmen. In der Scholz’schen Version einer Aktiensparersteuer ist davon nichts mehr übrig geblieben.
({2})
Im Gegenteil: Jeder, der privat vorsorgt und Aktien kauft oder in Fonds einzahlt, zahlt mehrmals. Die Großen, die Professionellen, investieren in Derivate. Die Steuer ist somit ein Subventionsprogramm für Derivate. Gestern hat es der Wissenschaftliche Beirat des Finanzministeriums noch mal zusammengefasst: Diese Finanztransaktionsteuer stabilisiert nicht, sie destabilisiert.
({3})
Aus der Robin-Hood-Steuer ist also eine Anti-Robin-Hood-Steuer geworden. Sie ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen, und sie trifft nicht nur die Falschen, sondern die Belastung ist auch viel höher, als man uns vormachen möchte. Es sind nicht 0,2 Prozent, die einmalig anfallen. Niemand hält eine Aktie über 30 Jahre. Fonds werden umgeschichtet. Das ist richtig so; das ist Risikovorsorge. Privatpersonen und Fondsmanager tun das. Berechnet man realistische Szenarien, dann sieht man: Die Steuer kostet rund 10 Prozent des Endwertes. Scholz nimmt es den Bürgern und gibt es dem Reichen, nämlich dem Staat.
({4})
Zu diesem Ergebnis kommt auch ein wissenschaftliches Gutachten, das wir in Auftrag gegeben haben, weil die Bundesregierung kein Interesse daran hatte, die Folgewirkungen abschätzen zu lassen. Österreich kommt zum gleichen Ergebnis. Diese Aktiensteuer belastet die Kleinanleger, die Realwirtschaft und die Altersvorsorge.
({5})
Sie belastet die Eigenkapitalaufnahme von Unternehmen – und das, obwohl wir starke Unternehmen mit starkem Eigenkapital wollen. Das ist ein Schlag gegen das, was wir wollen, nämlich die Stärkung der Kapitalmärkte.
Das Einzige, was die Steuer in dieser Form kann, ist, Einnahmen für die Staatskasse zu generieren – und das nur, weil der Koalition das Geld für die Ausgabenwünsche ausgeht.
({6})
Ich erwarte heute in dieser Debatte etwas von der Union dazu. Liebe Frau Tillmann, lieber Herr Dr. de Maizière, ich frage mich, ob Ihre Presseerklärung vom letzten Jahr noch gilt, wonach diese Aktiensteuer ein Etikettenschwindel ist. Ich bin gespannt, wie Sie sich heute positionieren, ob Sie nachgeben werden und ob Sie einen nationalen Alleingang, der ja auch schon durch die Medien ging, ermöglichen werden.
Die Sparer sind nicht dazu da, die Wahlversprechen der Großen Koalition zu finanzieren.
({7})
Es gibt auch eine Solidarität mit denen, die unser Land finanzieren.
Ich war auf einigen Neujahrsempfängen. Dort sagte jemand zu mir: Ich spare, ich betreibe Eigenvorsorge. In den letzten Monaten habe ich von dieser Bundesregierung keinerlei Unterstützung bekommen.
({8})
Wir Freien Demokraten möchten es den Menschen ermöglichen, eigenständig Vermögen aufzubauen. Wir möchten ihnen Respekt vor der Leistung zeigen, die sie erbringen, und wir möchten diesen Menschen im Deutschen Bundestag auch wieder eine Stimme geben.
Stärken Sie mit uns die Aktienkultur in diesem Land! Nehmen Sie hier und heute Abstand von der Aktiensparersteuer!
Vielen Dank.
({9})
Vielen Dank, Frau Kollegin Stark-Watzinger. – Das Wort hat nunmehr für die CDU/CSU-Fraktion die Kollegin Antje Tillmann.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Man könnte meinen, wir würden heute über die Finanztransaktionsteuer abstimmen. Das ist aber gar nicht der Fall.
({0})
Frau Stark-Watzinger kann es offensichtlich gar nicht abwarten, dass diese Finanztransaktionsteuer hier ins Gesetzgebungsverfahren kommt. Wir sind da bei Weitem nicht so schnell; wir haben erheblichen Diskussionsbedarf.
({1})
Die Steuer haben wir uns auch nicht erst gestern ausgedacht. Sie wissen, dass wir 2008, bei der Finanzkrise, zu der es durch riskante Investitionen und Handel im Aktienmarkt, aber auch im Hochfrequenzhandel gekommen ist, sehr wohl darüber nachgedacht haben – und zwar europaweit –, die Finanzmärkte sicherer zu machen. Europa war sich damals nicht nur einig, dass wir mehr Regulierung, mehr Aufsicht und mehr Sicherheit im Finanzmarkt brauchen, sondern damals ist auch die Idee der europäischen Finanztransaktionsteuer entstanden.
Dieses Modell ist unter Schäuble diskutiert worden. Leider stellte sich ziemlich schnell heraus, dass nicht alle EU-Mitgliedstaaten mitmachen werden. Übrig geblieben ist die verstärkte Zusammenarbeit von zehn interessierten Staaten in Europa, und darum geht es heute. Unser Finanzminister hat einen Vorschlag gemacht, wie es in diesem Rahmen der verstärkten Zusammenarbeit in Europa zu einer einheitlichen Finanztransaktionsteuer kommen könnte. Das ist die Minimallösung, die wir mitmachen. Das haben wir mehrfach gesagt; das steht im Koalitionsvertrag. Eine nationale Steuer wird mit der CDU/CSU nicht zu machen sein. Diese verstärkte Zusammenarbeit ist im Moment in der Diskussion, nichts anderes, keine nationale Finanztransaktionsteuer.
({2})
Nur zeigt die aktuelle Diskussion, dass wir Grund hatten, so lange diese Steuer nicht auf den Weg zu bringen. Denn je mehr man sich mit dieser Steuer befasst, desto mehr Probleme sieht man. Ja, Sie haben recht: Alles das, was wir uns vorgestellt haben, um den Finanzplatz sicherer zu machen, ist in dieser Steuer nicht mehr enthalten.
Der Hochfrequenzhandel ist bisher nicht besteuert. Dazu verweise ich aber darauf, dass das Gesetz durchaus noch Spielraum offenlässt – es gibt ja noch nicht einmal einen Referentenentwurf – und dass wir uns sehr wohl anschauen werden, wie die Franzosen das machen; die haben nämlich eine spezielle Hochfrequenzsteuer. Wir sind mit dem Finanzministerium im Gespräch, auch eine solche Steuer in den Referentenentwurf aufzunehmen, sobald er vorgelegt wird – aber auch das nur europäisch, keinesfalls national.
Und ja, Sie haben auch recht, dass die Sicherheit der Finanzmärkte bei diesem Gesetz nicht mehr im Vordergrund steht.
({3})
Die Sicherheit der Finanzmärkte haben wir aber längst anderweitig umgesetzt, zum Beispiel, indem wir Hochfrequenzhändler unter BaFin-Aufsicht gestellt haben,
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zum Beispiel, indem wir Gebühren für das exzessive Nutzen von Handelssystemen eingeführt haben,
({5})
zum Beispiel, indem wir Mindestpreisänderungsgrößen für Algorithmen festgelegt haben. Das heißt, Sicherheit auf den Finanzmärkten haben wir durch zahlreiche andere Gesetze, übrigens ohne Ihre Beteiligung, auf den Weg gebracht,
({6})
sodass dieser Teil bei dem Gesetz gar nicht mehr im Vordergrund steht.
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Ich bin lange genug Finanzpolitikerin, um zu wissen, dass es nicht per se unanständig ist, wenn ein Steuergesetz dazu dient, Steuereinnahmen zu erheben.
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Es kann nicht Ihr Ernst sein, dass Sie das problematisch finden.
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Aber – jetzt werden Sie mir vermutlich wieder zustimmen – es ist nicht sehr sinnvoll, wenn ein Steuergesetz Steuern in Bereichen einnimmt, bei denen wir auf der anderen Seite die Bürgerinnen und Bürger mit Steuergeldern unterstützen möchten. Deshalb will ich gar nicht verhehlen, dass wir beim Vorschlag des Finanzministers durchaus Diskussionsbedarf haben, zum Beispiel, wenn Altersvorsorge und Kleinsparer betroffen sind.
({10})
Denn auch das war Bedingung für unsere Zustimmung im Koalitionsvertrag: dass Altersvorsorgeprodukte nicht belastet werden und dass der Kleinsparer nicht belastet wird.
Herr Scholz hat in seinem Entwurf schon eine Opt-out-Lösung gefunden für Altersvorsorgeprodukte.
({11})
Das können wir national tun, das ist europäisch vorgesehen. Ich will aber gar nicht verhehlen, dass auch das natürlich Schwierigkeiten mit sich bringt. Denn was machen wir mit den Instituten, die nicht selber handeln? So können wir doch nicht sagen: Wenn das Steuerberaterversorgungswerk Aktien kauft, dann ist das steuerfrei bei der FTT, aber nicht, wenn ein Dienstleister dazwischengeschaltet wird. – Das heißt, nur über einen Freibetrag bei der FTT werden wir da keine Lösung finden, die uns befriedigt. Wir denken im Moment darüber nach, über die Einkommensteuer sicherzustellen, dass die Altersvorsorge nicht belastet wird.
({12})
Gar nichts geregelt ist hinsichtlich der Kleinsparer. Bei der FTT einen Freibetrag für Kleinsparer einzuführen, wird – das wird uns von allen Seiten gesagt – nicht funktionieren, ist ja auch als Optionsmodell gar nicht vorgesehen in der europäischen Lösung. Das heißt, auch da sind wir noch nicht so weit, dass wir dem Entwurf zustimmen können. Auch da diskutieren wir Lösungen, zum Beispiel über eine Erhöhung des Sparerfreibetrags.
All das ist in der Debatte. Deshalb können wir uns heute auf gar keinen Fall für eine Position entscheiden. Aber wir werden auch auf gar keinen Fall dem Antrag der Linken zustimmen, die diese ganzen europäischen Bemühungen heute einstampfen und heute eine nationale Steuer einführen wollen. Das ist mit uns nicht zu machen.
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Die vielen ungeklärten Fragen, die ich genannt habe, werden in den nächsten Monaten noch gemeinsam mit dem Finanzministerium geklärt werden müssen. Ich gebe gerne zu: Dass all diese Fragen und Bedenken auch vom Wissenschaftlichen Beirat im BMF geteilt werden, macht uns diese Aufgabe nicht leichter. Sie können ganz gelassen abwarten, was kommt. Unsere Position steht klar fest: Kein nationaler Alleingang, keine Belastung der Altersvorsorge, keine Belastung der Kleinsparer! Nur dann sind wir bereit, weiter mitzudiskutieren.
({14})
Das steht vor uns, und wir freuen uns, wenn Sie bei den Beratungen mitwirken.
({15})
Vielen Dank, Frau Kollegin Tillmann.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Finanzkrise hat uns in Deutschland sehr viel Geld gekostet. Die Finanztransaktionsteuer sollte ursprünglich die Schuldigen im Nachhinein zur Kasse bitten. Dieses Ziel wird vollkommen verfehlt. Denn wer waren die Schuldigen? Es war die amerikanische Politik, die Kredite ohne persönliche Haftung ermöglichte, und es waren außerdem die Institute, die intransparente CDOs ermöglichten und auf den Weltmarkt brachten. Aber wenn nicht die Verursacher getroffen werden, wer soll dann getroffen werden? Wir, wir Steuerzahler, wir sollen zur Kasse gebeten werden, und das ist nicht vertretbar.
({0})
Die Sache mit der Finanztransaktionsteuer ist sehr kompliziert. Hierzu einige Beispiele, um etwas Klarheit zu schaffen:
Wertpapiergeschäfte zum Zwecke der nachhaltigen Kapitalanlage, also zum Beispiel Geschäfte mit Aktien und Anleihen: Wir wollen, dass die Menschen damit die Möglichkeit haben, Vermögen zu bilden und zu halten und zu erhalten. Wer das will, darf aber keine Transaktionsteuer auf Geschäfte mit Aktien und Anleihen wollen. Nun sagt das Institut für Weltwirtschaft aber: Die meisten DAX-Werte werden doch von großen Fonds, Staatsfonds und Pensionsfonds gehalten. – Ja, richtig. Aber wer gibt denen denn die Gelder? Wie der Name schon sagt, sind das eben Staatsbürger und Pensionäre oder zukünftige Pensionäre. Aber wir wissen, Gelder gehören eben in die richtigen Kassen, und deswegen werden wir hier diesen Antrag ablehnen.
Von besonderem Interesse ist in diesem Fall, was der Beirat des Finanzministeriums laut „Handelsblatt“ heute gesagt hat, nämlich: Die Transaktionsteuer ist „aus ökonomischen Gründen nicht sinnvoll“.
({1})
Das ist genau auch unsere Meinung, zumindest was Aktien und Anleihen betrifft.
({2})
Meine Damen und Herren, wir wollen keine Neidsteuer.
Sicherungsgeschäfte: Wenn nun ein Fonds Aktien besitzt und Kurseinbrüche befürchtet, könnte er durch sogenannte Sicherungsgeschäfte Verluste vermeiden. Auch diese Geschäfte sind keine Spekulation und sollten deswegen auch nicht entsprechend behandelt oder gar bestraft werden, indem sie der Transaktionsteuer unterliegen. Nein, sie sind freizustellen, weil sie die Nachhaltigkeit von Wirtschaften eben unterstreichen.
Termingeschäfte: Ein Schweinezüchter hat tausend Schweine im Stall, die in drei Monaten schlachtreif sind. Was kann er machen? Er kann sie bereits heute verkaufen – und weiß genau, was er dafür bekommt.
({3})
Jemand, der die Schweine verarbeitet und Würste daraus machen will, kann schon heute zu einem festgestellten Preis diese Schweine kaufen und hat damit eine klare Kalkulationsgrundlage. Diese Planungssicherheit ist wertvoll und sollte nicht bestraft werden.
({4})
Zu einem Spekulationsgeschäft – bleiben wir bei Schweinen! -
({5})
wird die Sache erst dann, wenn der Verkäufer, in diesem Fall von Schweinen, die Schweine gar nicht besitzt
({6})
oder wenn der Käufer Rechte auf Schweine erwirbt, die er gar nicht haben will,
({7})
aber mit Anrechten auf Schweine spekuliert und auf steigende Preise hofft. Die Schweine selbst interessieren sie dabei überhaupt nicht. Für solche Fälle der Spekulation halten wir eine Finanztransaktionsteuer durchaus für überlegenswert. Sie würde Spekulation verteuern und damit eindämmen und Preisschwankungen dämpfen.
Auch für Hochfrequenzhandel ist eine Finanztransaktionsteuer durchaus bemerkenswert und erwähnenswert.
Darüber sollten wir im Ausschuss näher diskutieren, wie wir es schon angefangen haben.
({8})
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({9})
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Kollegin Cansel Kiziltepe, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie Sie sehen oder hören: Den Gegnern der Finanztransaktionsteuer ist jedes Mittel recht, um sie zu torpedieren. Das jüngste Beispiel zeigt, dass diesmal die Kleinsparer herangezogen werden
({0})
und als angeblich Leitragende postuliert werden.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, Ihre politische Strategie ist wieder einmal ziemlich durchsichtig.
({2})
Ich möchte Sie daran erinnern, dass Sie 2012, kurz nach der Finanzkrise, trotz Ihres Glaubensansatzes, der Markt regle alles, hier im Bundestag mit allen Fraktionen dafürgestimmt haben, dass wir eine umfassende Finanztransaktionsteuer einführen, damit wir die Verursacher der Finanzkrise auch an den Kosten beteiligen. Das haben Sie wohl vergessen.
({3})
2012 scheitern die Verhandlungen auf EU-Ebene unter einer schwarz-gelben Bundesregierung. Und heute legen Sie einen diffusen Antrag vor, der den Titel „Aktiensteuer darf nicht die Falschen treffen“ trägt.
({4})
Sagen Sie mal, geht’s noch? Die Wahrheit ist doch: Die FDP und die Finanzlobby treiben Scheinargumente vor sich her, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen, und das spiegelt sich auch im Antrag wider.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir reden hier über einen Steuersatz von 0,2 Prozent! Wer also 10 000 Euro in Aktien anlegt – und das muss man sich erst einmal leisten können –, müsste dafür beim Kauf 20 Euro Steuern zahlen. 20 Euro! Demgegenüber steht eine Wertverdoppelung nach zehn Jahren.
({6})
Das steht in keinem Verhältnis; das müssen auch Sie mal zugeben.
Diese Steuer besteuert zudem nicht den Aktienbesitz, sondern den Aktienhandel. Diese Steuer ist alles, nur kein Sparhindernis für Kleinanleger. Es ist eine Steuer, die hauptsächlich von Großanlegern und der Finanzindustrie getragen wird.
({7})
Das sagt im Übrigen aktuell auch das Kieler Institut für Weltwirtschaft. Vielleicht sollten Sie auch mal die richtigen Gutachten lesen.
({8})
Die Großanleger und die Finanzindustrie besitzen 80 Prozent der DAX-Aktien; allein BlackRock hat einen Marktanteil von fast 10 Prozent.
({9})
Mit anderen Worten: Kaum jemand wäre so stark betroffen wie Friedrich Merz. Ob er angesichts der Finanztransaktionsteuer Angst um seine zwei Flugzeuge hat, konnte ich noch nicht herausbekommen; aber ich bleibe dran.
({10})
Aber noch mal zum Antrag der FDP. Auf Seite 2 steht, „dass das von der Politik ausgerufene Ziel, durch die Finanztransaktionsteuer spekulativen Übertreibungen Einhalt bieten zu wollen und … Kapitalmarkteffizienz“ herzustellen, nicht erreicht werde.
({11})
Dann steht im Forderungsteil, deshalb müsste dieser unterbreitete Vorschlag zurückgezogen und nationale Alleingänge verhindert werden. Aber kein einziges Wort bzw. Vorschlag zu einer umfassenden Finanztransaktionsteuer in Deutschland oder in Europa!
({12})
Nur zur Erinnerung: Es gibt eine fast identische Steuer in zahlreichen anderen europäischen Ländern. Sie ist an der Londoner Börse fällig, sie ist an der Pariser Börse fällig,
({13})
nur bei uns nicht. Deutschland würde, selbst wenn es die Steuer im Alleingang einführen würde, –
Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss, bitte.
– nur mit den anderen Ländern gleichziehen.
Wir als SPD wollen diese Steuer.
({0})
Wir als SPD sind der Meinung, dass die Finanzindustrie an den Kosten der Finanzkrise in der Vergangenheit, aber auch in Zukunft beteiligt werden muss.
({1})
Danke schön.
({2})
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner ist der Kollege Jörg Cezanne, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich zitiere:
({0})
Wir wollen eine Finanzmarkttransaktionssteuer einführen. …
({1})
Eine solche Besteuerung sollte möglichst alle Finanzinstrumente umfassen, insbesondere Aktien, Anleihen, Investmentanteile, Divisentransaktionen sowie Derivatekontrakte
({2})
und mit einer breiten Bemessungsgrundlage bei einem niedrigen Steuersatz verwirklicht werden. Hierdurch wird die Belastung der einzelnen Finanztransaktionen gering gehalten.
Große Ratenummer: Wer hat’s erfunden?
({3})
Beschluss des Deutschen Bundestages vom 21. Juni 2012, getragen von den Fraktionen der CDU/CSU, der FDP, der SPD und Bündnis 90/Die Grünen zur Einführung einer Finanztransaktionsteuer im Rahmen des Pakts für nachhaltiges Wachstum und Beschäftigung.
({4})
Herzlichen Glückwunsch: Sie waren alle schon mal schlauer!
({5})
Leider – und da hat die FDP dann sogar wieder recht – taugt der Vorschlag des Bundesfinanzministers für eine Aktiensteuer dazu überhaupt nicht.
({6})
Er hat mit einer Finanztransaktionsteuer nichts, aber auch gar nichts zu tun. Er droht auch noch die letzten Reste der verstärkten Zusammenarbeit auf europäischer Ebene zu sprengen. Und vor allen Dingen ist der Kernhaken, dass er eben gerade jene gefährlichen spekulativen Geschäfte auf den Finanzmärkten nicht besteuert. Das ist falsch.
({7})
Und wenn Sie es mir nicht glauben, dann lauschen Sie vielleicht noch mal den Worten von Wolfgang Schäuble:
Allein die Umsätze mit Aktien zu besteuern, ist angesichts der Entwicklung an den modernen Börsen mit Derivategeschäften nicht zielführend.
Ein kluger Mann!
({8})
Für den Fall, dass im Rahmen der verstärkten Zusammenarbeit kein Ergebnis erzielt worden ist, war ausdrücklich auch die Einführung einer Finanztransaktionsteuer durch weniger Staaten oder sogar im nationalen Alleingang vorgesehen. Auch hierzu zwei Zitate.
Carsten Schneider, SPD:
Die Einführung dieser Steuer ist ein zentrales Vorhaben der Koalition. Ich erwarte, dass dies mit Priorität von der Bundeskanzlerin und dem Finanzminister vorangetrieben wird.
({9})
Oder – noch konsequenter – Markus Söder, CSU:
Wenn das Vorhaben in der EU
sich nicht durchsetzen lasse, dann eben
in der Euro-Zone … „Und wenn es dort nicht klappt, dann wäre ich für einen deutschen Alleingang.“ Deutschland besitze in Europa eine Führungsfunktion …
Herr Finanzminister – ich hoffe, Frau Ryglewski richtet es ihm aus –, nehmen Sie diese Führungsrolle wahr! Schaffen Sie eine Finanztransaktionsteuer, die den Namen verdient, im Notfall eben im nationalen Alleingang.
Danke schön.
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Vielen Dank, Herr Kollege Cezanne. – Bei der Aufzählung des Abstimmungsergebnisses aus dem Jahr 2012 habe ich bedauerlicherweise nicht erfahren, wie Die Linke abgestimmt hat. – Wissen Sie nicht mehr. Gut, okay.
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Dann hat als nächste Rednerin die Kollegin Lisa Paus, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Finanztransaktionsteuer wäre eine wichtige und zielgenaue Steuer. Sie beteiligt den Finanzsektor an den Kosten des Gemeinwesens – das ist überfällig –, und sie macht den Hochfrequenzhandel unattraktiver; sie dämpft ihn, sie entschleunigt und reduziert damit die Spekulationen. Deswegen brauchen wir sie dringend in Deutschland und in der Europäischen Union.
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Es waren nicht die Grünen, die dazu eine Studie gemacht haben, sondern die FCA, also die britische Finanzaufsicht. Die hat festgestellt, dass die Existenz und massive Ausweitung des Hochfrequenzhandels jetzt schon jedes Jahr Schäden in Höhe von 5,5 Milliarden Dollar für die normalen Kleinsparer anrichten. Das gehört dringend reduziert, und auch deswegen brauchen wir eine Finanztransaktionsteuer, meine Damen und Herren.
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Deswegen gibt es auch zu Recht seit Jahren, wenn nicht gar Jahrzehnten, eine sehr, sehr hohe – und zwar stabil hohe – Zustimmung in der Bevölkerung.
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Wie für die Einführung des Mindestlohns und wie für eine stärkere Vermögensbesteuerung sind über 80 Prozent der Menschen in Deutschland und darüber hinaus dafür; aber die Situation ist anders als beim Mindestlohn. Wir haben zwar das Jahr 2020, aber wir haben immer noch keine Finanztransaktionsteuer, weder auf Derivate noch auf Aktien noch auf Währungen. Und woran liegt das? Wolfgang Schäuble trägt dafür tatsächlich in Europa die zentrale Verantwortung.
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2011 haben wir hier gemeinsam beschlossen, dass sie kommen soll. Seit 2011 hat er es wirklich mit Bravour geschafft, diese Finanztransaktionsteuer totzureiten.
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In aller Ruhe hat er sie seit 2011 bis 2017 Runde um Runde, Arbeitsgruppensitzung um Arbeitsgruppensitzung durch die Manege geführt, bis sie dann tatsächlich in ziemlicher Erschöpfung am Boden darniederlag.
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Deswegen muss man es tatsächlich einmal sagen: Als Olaf Scholz 2018 das Finanzministerium übernommen hatte, war die Finanztransaktionsteuer schon ziemlich tot.
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Er hätte zwei Möglichkeiten gehabt. Die eine wäre gewesen, sie sozusagen in Ehre zu beerdigen. Die andere wäre gewesen, sie tatsächlich wieder zum Leben zu erwecken. In dem Moment war es doch schon so – ein Thema war ja immer: das können wir wegen des Finanzplatzes London nicht machen; die machen ja nicht mit –, dass das Thema Brexit schon aktuell war.
Die SPD hatte zuvor gesagt: Wir machen den Unterschied. Wenn wir das Finanzministerium führen, dann gehen wir auf europäischer Ebene bei der Finanztransaktionsteuer voran, dann wird alles anders hinsichtlich der Finanztransaktionsteuer. – Der Finanzminister hätte tatsächlich Grund genug gehabt – sicherlich auch Unterstützung von seiner Partei –, das Thema voranzutreiben und wiederzubeleben. Aber leider hat er genau das eben nicht gemacht. Stattdessen hat er einen Zombieball für Untote veranstaltet, nämlich diese Mini-Aktiensteuer vorgeschlagen, die er uns allen als Finanztransaktionsteuer verkaufen will. Das ist zu Recht aufgeflogen: Das ist ein großer Bluff, ein Etikettenschwindel. Wie auch immer: Es taugt überhaupt nicht.
Deswegen werden auch wir dafür nicht die Hand heben, sondern unterstützen den Antrag der Linken.
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Lassen Sie uns einen Neuanfang machen. Gerade heute ist der Tag, bevor die Briten aus der Europäischen Union aussteigen. Lassen Sie uns die Situation nutzen, um jetzt neu über den Finanzplatz Europa zu diskutieren und gemeinsam eine Finanztransaktionsteuer auf den Weg zu bringen, –
Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss.
– auch, indem wir Deutsche da vorangehen.
Danke.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Paus. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hans Michelbach, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Die Koalitionsparteien haben, wie Sie wissen, im Koalitionsvertrag eine Reihe von Maßnahmen zur Eindämmung der Finanzmarktrisiken vereinbart. Im Koalitionsvertrag heißt es dazu – ich zitiere mit Genehmigung des Herrn Präsidenten –:
Wir stärken den Finanzplatz Deutschland und schützen Steuerzahler vor riskanten Finanzmarkt-Spekulationen …
So weit, meine Damen und Herren, dürfte jedem die Notwendigkeit, am Finanzmarkt stärker und deutlicher Leitplanken zu setzen, seit der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise vor gut zehn Jahren bewusst sein.
Wir haben dazu mehr als 40 Gesetze verabschiedet. Hier kann sich als weitere Maßnahme im europäischen Kontext die Finanztransaktionsteuer positiv einreihen. Die Koalition hat sich deshalb im Koalitionsvertrag darauf verständigt, eine echte, zielführende Finanztransaktionsteuer im europäischen Kontext einführen zu wollen. Das ist die Sachlage, meine Damen und Herren.
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Es war uns immer klar: Eine Finanztransaktionsteuer nur im nationalen Rahmen kann die notwendige Wirkung auf dem internationalen Finanzmarkt wie auch den Schutz vor Krisen nicht erreichen.
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Wer dennoch für eine rein nationale FTT plädiert, betreibt dann natürlich nur Symbolpolitik.
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Es gibt auch kein beliebiges Steuerfindungsrecht aus fiskalischen Gründen als Grundlage für eine nationale Steuer. Eine echte, substanzielle Finanztransaktionsteuer benötigt mindestens den Kontext der verstärkten Zusammenarbeit in der Europäischen Union; denn eine Verlagerung ins Ausland nützt niemandem.
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Frankreich hatte mit 1,6 Milliarden Euro Einnahmen geplant, hat aber jetzt nur 756 Millionen Euro eingenommen, weil es eben eine Verlagerung in das Auslandsgeschäft gab.
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Also: Wenn man es richtig machen will, dann geht es national nicht. Das zeigt das Beispiel Frankreich.
Meine Damen und Herren, nun wissen Sie, dass die Bundesregierung, konkret der Bundesfinanzminister Olaf Scholz, mit anderen EU-Staaten an einer gemeinsamen Regelung arbeitet. Und wer arbeitet, der wird auch Ergebnisse vorweisen können. Es gibt dazu einen Entwurf, der jetzt von den beteiligten Staaten geprüft wird, also nichts, was jetzt schon fertig oder gar gesetzesreif wäre oder hier zur Abstimmung gestellt werden könnte.
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Das heißt, es bleibt noch viel zu tun. Es geht um Beratungen, es geht darum, Fachwissen und Sachverstand einzubringen. Das ist hier notwendig.
Der Bundesfinanzminister muss nach einer Lösung suchen, die zu einer effektiven Abwehr neuer Finanzkrisen führt. Es muss auch sichergestellt werden, dass bei der FTT inländische wie ausländische Papiere gleichermaßen erfasst werden. Eine weitere wichtige Bedingung ist für uns, dass Altersvorsorgeprodukte nicht der FTT unterliegen.
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Der Bundesfinanzminister hat dies für die Staaten der verstärkten Zusammenarbeit bereits als Option in sein Verhandlungspapier geschrieben. Das begrüßen wir außerordentlich, wie es die Kollegin Antje Tillmann hier schon vorgetragen hat.
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Wir halten es deshalb auch für selbstverständlich, dass Deutschland diese Optionsmöglichkeit zieht, sollte es zu einer Einigung auf europäischer Ebene kommen. Alles andere wäre – auch für die Bürgerinnen und Bürger – nicht nachvollziehbar.
Es geht uns also, um es an dieser Stelle noch einmal deutlich zu sagen, nicht um eine Kleinanlegersteuer oder eine Grundrenten-Finanzierungssteuer.
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Es geht klar und deutlich um ein Instrument zur Finanzmarktregulierung. Das ist das Ziel, das wir uns mit der Steuer gesetzt haben. Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie dem Parlament eine substanzielle und funktionsfähige Lösung im europäischen Kontext vorlegt. Es ist klar: Die Diskussion muss dann weitergehen, die Beratungen müssen zum Ziel geführt werden. Sie kann aber erst dann sinnvoll weitergeführt werden, wenn sich die anderen europäischen Verhandlungspartner positioniert haben. Die richten sich nicht nach der FDP, die richten sich nicht nach der Linken, sondern nach ihren eigenen Vorstellungen.
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Deswegen sind Verhandlungen angebracht, um letzten Endes sachgerechte Lösungen voranzubringen. Wir sind sach- und lösungsorientiert und wollen natürlich keine Showeffekte.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Michelbach. – Vorletzter Redner des heutigen Tages und letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Lothar Binding, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lisa Paus hat die Geschichte der Finanztransaktionsteuer schön geschildert. Wenn man Attac noch mit dazunimmt, ist es sogar eine 20-jährige Geschichte. Du hast gesagt, Scholz hätte die Möglichkeit gehabt, das Projekt zu beerdigen oder ein ganz neues Projekt im großen Stil aufzulegen. Nur hast du vergessen, die dritte Alternative zu erwähnen: Weil es manchmal total wichtig ist, einen Fuß in die Tür zu bekommen, ist ein erster Schritt, wenn er in die richtige Richtung geht – oft ist der erste Schritt der schwierigste –, etwas sehr Gutes, auch wenn er klein sein mag.
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Ich glaube, Frau Stark-Watzinger, über eine Sache müssen wir noch mal reden: Sie nutzen oft den Begriff „Mitte der Gesellschaft“. Jetzt frage ich mich, wo Sie diese Mitte ansiedeln.
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Alles, was Sie in Ihrem Antrag schreiben – da steht es zehnmal drin –, dreht sich um Kleinanleger, Kleinaktionäre, Jedermannssteuer. Jetzt frage ich mich, ob nicht Folgendes wahr ist: Die meisten kleinen Leute haben ein Sparbuch
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und kein Aktiendepot. – Ich glaube, das ist die Wahrheit.
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Also denken Sie bei der Mitte der Gesellschaft an die obersten 10 Prozent der Einkommen.
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Sie haben sich dann noch gewundert, dass die Steuer der Einnahmeseite des Staates dient.
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Da war ich froh, dass Antje Tillmann Ihnen erklärt hat: Es ist die traditionelle Aufgabe von Steuern, die Einnahmeseite des Staates zu bedienen. – Vorhin hat jemand gesagt, wir bäten die Leute zur Kasse. Ganz klar: Wir bitten alle zur Kasse, und alle bekommen alles wieder zurück.
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– Ja! – Das ist die Idee der Steuer. Es gibt ja keine Steuereinnahmen, die nicht wieder ausgegeben werden. Ja gut, unseren Lohn ziehen wir ab – das stimmt –; aber ansonsten ist es so.
Laut der „Rheinischen Post“ hat das Kieler Institut für Weltwirtschaft, nicht direkt ein SPD-Institut – das ist schon richtig –, gesagt: Nicht der Kleinanleger, sondern der Großanleger
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trägt die Hauptlast.
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Das ist auch die Wahrheit. Beauftragt hat dieses Gutachten übrigens ein CSU-Minister, Gerd Müller. Die Forscher unterstützen die Einführung der Finanztransaktionsteuer, weil die meisten Anlagen in die von dieser Steuer betroffenen Papiere von Großinvestoren kommen,
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von Investoren aus dem Ausland, zum Beispiel von privaten US-Fonds – da können wir ruhig eine kleine Steuer nehmen;
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von der Krise wurde ja vorhin schon gesprochen – oder von Staatsfonds. Und wie kommt das? Weil diese die meisten DAX-Aktien halten oder handeln. Das zitiert die „Rheinische Post“ aus diesem Gutachten.
Insofern ist klar: Dass es bei der Finanztransaktionsteuer um Privathaushalte und Kleinanleger geht, ist, offen gestanden, nur bei einer von der FDP erfundenen Finanztransaktionsteuer so. Das trifft aber nicht auf die Steuer zu, die wir im Moment planen einzuführen.
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Übrigens, eine Aktiensteuer ist international und historisch bewährt.
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– Ja, Stempelsteuern gibt es schon einige Hundert Jahre. – Da können wir gleich weitermachen: Belgien hat eine Börsenumsatzsteuer, Finnland eine Kapitalverkehrsteuer, Frankreich eine Finanztransaktionsteuer, Irland eine Stempelsteuer, Italien eine Finanztransaktionsteuer usf. Ringsum sind wir von Ländern mit Steuern dieser Art umgeben.
Kurz noch etwas zum Hochfrequenzhandel – ich will die eine fachliche Information noch geben –: Die Idee von Olaf Scholz ist, sich an Frankreich anzulehnen. Da ist es so, dass die Scheinorder im Hochfrequenzhandel extra besteuert werden. Die Scheinorder sollen eingestellt werden.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Das dämmt schon einen großen Teil des Hochfrequenzhandels ein. Sie sehen: Das ist eine tolle Idee, und Ihre Kritik geht leer.
Schönen Dank.
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So interessant Ihre Ausführungen sind: Vielen Dank, dass Sie zum Ende gekommen sind, Herr Binding. – Damit schließe ich die Aussprache.