Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete! Wir haben heute Morgen eine sehr eindrückliche Gedenkstunde mit der sehr eindringlichen Rede des israelischen Staatspräsidenten erleben dürfen. Für mich war dieser Morgen auch deshalb eindrücklich, weil ich gestern zum ersten Mal in der Geschichte des deutschen Verteidigungsministeriums einen israelischen Staatspräsidenten zu Gast hatte, der vor allen Dingen auch mit Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr gesprochen hat, die in den vergangenen Monaten in Israel zusammen mit Soldatinnen und Soldaten der dortigen Armee ihre Übungen vollzogen haben. Es ist deutlich geworden, dass wir auf der Grundlage gemeinsamer Werte dort engagiert sind.
Heute Morgen vor dieser Gedenkstunde, als ich die Möglichkeit hatte, mit den Eltern der beiden Soldaten zu reden, die der Staatspräsident erwähnt hat – sie wurden 2014 von der Hamas verschleppt, gefangen genommen oder getötet; ihr Schicksal ist nicht bekannt –, ist aber auch deutlich geworden, wie sehr die Eltern, die Mütter darauf setzen – auch auf unsere Hilfe setzen –, dass ihre Söhne – lebendig oder tot – zur Familie zurückkehren können.
Das macht deutlich: Wenn wir von Soldaten und Einsätzen reden, dann reden wir am Ende immer über Menschen. Deswegen ist es wichtig, dass wir heute auch mit Blick auf das Seelenheil dieser Menschen, unserer Soldatinnen und Soldaten, im Kabinett den Staatsvertrag für die Einführung der jüdischen Militärseelsorge verabschiedet haben.
Die Frage, wie es um die Einsatzbereitschaft unserer Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr steht, ist auch für Sie ein ganz wichtiger Parameter, wenn Sie im Parlament entscheiden, in welche Einsätze wir hineingehen. Ich bin dem Wehrbeauftragten, der heute hier ist, sehr dankbar, nicht nur für seine Arbeit – dass er eine Institution ist, an die sich Soldatinnen und Soldaten wenden können –, sondern auch dafür, dass er den Finger in die Wunden legt, die noch nicht geschlossen sind. Denn wir haben die Trendwenden, die eingeleitet sind – das, was politisch beschlossen worden ist –, auch im Jahr 2019 noch nicht in genügender Form – in Form von Material, von Einsatzbereitschaft – für unsere Soldatinnen und Soldaten vorangebracht. Deswegen ist das die große Kernaufgabe für das Verteidigungsministerium in diesem Jahr. Ende dieses Jahres muss die Situation besser sein, als sie Ende 2019 war.
Das ist die Voraussetzung dafür, dass wir unseren internationalen Verpflichtungen sowohl in den Bündnissen als auch dort, wo wir an anderer Stelle international gefordert sind, gerecht werden können. Das ist auch die Voraussetzung dafür, dass wir uns mit einem weiteren Themenfeld, nämlich der Frage der inneren Verfasstheit der Bundeswehr, der Inneren Führung – auch das ist Gegenstand der Debatte und des Berichtes des Wehrbeauftragten –, mit aller Kraft befassen.
Eingedenk dessen, was wir heute Morgen so eindrücklich gehört und erfahren haben, ist – noch einmal – vollkommen klar, dass jeder Fall von Rechtsextremismus in der Bundeswehr einer zu viel ist, einer, der verhindert werden muss, einer, der aufgeklärt werden muss, aber auch einer, der zuerst einmal für den Einzelnen steht und nicht die gesamte Bundeswehr unter einen Generalverdacht stellt.
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Das sind die Grundlagen, auf denen wir arbeiten. Das war unter anderem auch Gegenstand der Diskussionen heute im Kabinett.
Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Ministerin. – Wir fangen an mit einer Frage aus der AfD-Fraktion.
Ich darf noch mal auf die Regeln hinweisen: erste Frage maximal eine Minute, die Antwort auch maximal eine Minute, dann die Nachfragen 30 Sekunden, also bitte kurz.
Gerold Otten hat die erste Frage.
Danke, Frau Präsidentin. – Frau Ministerin, das Kampfflugzeug Tornado befindet sich bereits seit 1981 im Dienst der Luftwaffe. Neben der Luft-Boden-Rolle und der Einsatzrolle „Taktische Luftaufklärung“ ist die Rolle der nuklearen Teilhabe der Bundesrepublik Deutschland durch den Tornado gewährleistet. Er ist damit das Trägersystem für US-amerikanische Atomwaffen, die auch auf deutschem Boden gelagert sind.
Meine Frage: Wie ist die Position der Bundesregierung und Ihre Position zum Fortbestand der nuklearen Teilhabe der Bundesrepublik Deutschland?
Frau Ministerin.
Herr Abgeordneter, es ist vollkommen klar, dass der Tornado mit all seinen Rollen in die Jahre gekommen ist und dass er ersetzt werden muss. Die Debatte darüber werden wir in den nächsten Monaten zu führen haben. Deutschland befindet sich unter dem Schutz des amerikanischen Nuklearschirms. Das ist eine der Grundkonstanten unserer Sicherheitspolitik, und an der hält das Verteidigungsministerium auch fest.
Herr Otten, haben Sie eine Nachfrage? – Ja.
Sie haben gerade angesprochen, dass die Frage der Nachfolge dringlich ist. Bis wann können wir mit einer Nachfolgeentscheidung rechnen?
Das ist eine Debatte, die wir zuerst innerhalb der Koalition führen. Das wird in den nächsten Wochen und Monaten der Fall sein.
Vielen Dank. – Ulla Schmidt von der SPD ist die nächste Fragestellerin. Bitte.
Vielen Dank. – Frau Ministerin, Sie haben zu Recht auf die Gedenkstunde heute hingewiesen und darauf, dass wir alle beeindruckt sind. Wir haben eine ganze Woche des Erinnerns, auch der Befreiung von Auschwitz. Wir haben diese Woche am Montag mit der Mehrheit der Fraktionen dieses Hauses mit dem Gedenken an die Euthanasieopfer begonnen. Jetzt frage ich Sie: Wenn ich dem Bericht des Wehrbeauftragten entnehme, dass ein Major, eine Führungsperson, bei der Weiterbildung aussagt: „Bin ich hier in einer Mongowerkstatt? Ihr seid Affen mit Trisomie 21“, und ich dann lese, dass er nur zwei Jahre Beförderungsverbot bekommt, dann frage ich Sie: Wie schätzen Sie das ein, auch angesichts Ihrer Aussage, dass jede Tat eine zu viel ist?
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Frau Ministerin.
Um es klar zu sagen: Diese Äußerung ist inakzeptabel. Dieses Verhalten ist inakzeptabel. Ich kenne den konkreten Fall nicht. Ich hatte noch nicht die Gelegenheit, den Bericht des Wehrbeauftragten en détail zu studieren. Wir werden darüber ja auch an anderer Stelle noch einmal reden.
In diesem Zusammenhang will ich sagen, dass es viele andere Beispiele aus der Bundeswehr gibt. Ich selbst habe in meinem Heimatland eine Kaserne in Lebach – sie ist gelegen neben einer Schule für Menschen mit Beeinträchtigungen des Gehörs –, die Jahr für Jahr einen unglaublich tollen Dienst leistet, wenn es zum Beispiel um die Durchführung der Landesjugendspiele für Menschen mit Behinderungen geht. Das heißt, es gibt viele gute Beispiele in der Bundeswehr. Beispiele, wie das, das Sie eben angeführt haben, bringen die gesamte Bundeswehr in Verruf und sind deswegen nicht zu tolerieren. Ihnen muss mit aller Härte begegnet werden.
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Frau Schmidt, haben Sie eine Nachfrage? – Bitte.
Frau Ministerin, ich kenne das hohe Engagement der Bundeswehr. Es liegt mir fern, die Bundeswehr als Ganzes zu kritisieren. Ich weiß, dass es um Einzelfälle geht; das habe ich betont. Ich glaube aber, dass jemand so etwas nicht sagt, wenn er nicht so denkt, und dass jemand, der so denkt, der Artikel 3 unseres Grundgesetzes, der besagt, dass alle Menschen gleichwertig sind, nicht akzeptiert, meiner Meinung nach in einer Führungsaufgabe der Bundeswehr fehl am Platze ist; denn sie soll unsere Werte und unser Grundgesetz nach außen vertreten.
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Frau Ministerin.
Die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr kommen aus der Mitte der Gesellschaft. Sie stehen in der Mitte der Gesellschaft, und sie stehen auf dem Boden des Grundgesetzes. Das ist die Voraussetzung. Das gilt insbesondere auch für die, die Führungsaufgaben haben. Wenn sie dem nicht gerecht werden, müssen sie nach dem bestehenden Rechtsrahmen entsprechend der Disziplinarordnung oder darüber hinausgehend beurteilt werden. Danach muss entsprechend gehandelt werden. Ob das in diesem Fall ausreichend geschehen ist, das muss ich mir noch mal anschauen. Wie gesagt: Ich werde mir den Bericht sehr genau anschauen, insbesondere mit Blick auf diesen Einzelfall.
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Vielen Dank. – Dazu gibt es jetzt drei Nachfragen. Zunächst Frau Buchholz.
Vielen Dank. – Frau Kramp-Karrenbauer, glauben Sie nicht, dass es zu den Aufgaben einer Verteidigungsministerin gehört, den Bericht des Wehrbeauftragten, der seit gestern Morgen vorliegt und den wir als Fachpolitiker natürlich schon studiert haben, möglichst schnell in Gänze zu lesen?
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Damit verbunden die Frage: Halten Sie an der Annahme fest, dass es sich um Einzelfälle im Bereich des Rechtsextremismus handelt? Die Zahl der Verdachtsfälle hat sich verdreifacht. Auch die vielen Beispiele, die im Wehrbeauftragtenbericht aufgeführt sind, sind ein Indiz dafür, dass es sich nicht um Einzelfälle handelt, sondern dass wir es mit bestimmten Strukturen zu tun haben. Das bedeutet nicht, einen Generalverdacht auszusprechen, aber ich glaube, wir können nicht mehr von Einzelfällen von Rechtsextremismus in der Bundeswehr sprechen.
Sehr geehrte Frau Abgeordnete, ich befinde mich mitten in der Lektüre des Berichtes des Wehrbeauftragten. Wir können nachher gerne vergleichen, wer in den Seiten schon weiter vorangeschritten ist, Sie oder ich.
Der zweite Punkt ist: Wir sind transparent, wir legen die Fälle offen. Wir haben den Militärischen Abschirmdienst genau deswegen reformiert, was der Wehrbeauftragte auch positiv gewürdigt hat. Ich persönlich gebe mich nicht zufrieden damit, zu sagen: Jeder einzelne Fall steht für sich alleine. – Vielmehr will ich wissen, auch als ehemalige Innenministerin, ob es Netzwerke gibt, ob es Verbindungen gibt über die Bundeswehr hinaus. Das ist genau der Bereich, den wir stärker beobachten.
Trotzdem muss jeder Fall einzeln betrachtet werden. Was bei vielen dieser Fälle, dieser Verdachte auffällt, ist, dass es – und das ist gut so – bei den Soldatinnen und Soldaten ein hohes Maß an Aufmerksamkeit gibt, mittlerweile auch die Bereitschaft, auf diese Fälle hinzuweisen, sie auch zur Anzeige zu bringen. Das ist etwas, was wir in der Vergangenheit so nicht festgestellt haben.
Vielen Dank. – Bevor Frau Dr. Strack-Zimmermann drankommt, würde ich noch eine Rückfrage zu dem Themenbereich zulassen, den Ulla Schmidt angesprochen hat. – Frau Rüffer, bitte.
Ich bin Ulla Schmidt sehr dankbar dafür, dass sie gerade am heutigen Tage diese Frage stellt. 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz sollten wir uns auch in Erinnerung rufen, dass die Erprobung der Massenvernichtung bestimmter Bevölkerungsgruppen, insbesondere der jüdischen Bevölkerungsgruppe, erprobt worden ist an Menschen mit Behinderungen. Das ist, glaube ich, im Bewusstsein unserer Bevölkerung viel zu wenig verankert.
Dass so etwas wie das, was Ulla Schmidt beschrieben hat, in der deutschen Bundeswehr vorkommen kann – das sind Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, die unser Land und unsere demokratische Rechtsordnung verteidigen sollen –, stimmt uns natürlich besorgt. Nun ist meine grundsätzliche Frage an Sie: Wie wird in der Ausbildung gewährleistet, dass auf solche Hintergründe rekurriert wird und deutlich gemacht wird, dass in der Bundeswehr für so ein Verhalten kein Platz ist?
Die Minute ist vorbei.
Und welche Konsequenzen ziehen Sie? – Danke.
Vielen Dank. – Frau Ministerin.
Gerade aufgrund der Erfahrungen aus der NS-Zeit müssen wir in Deutschland besonders sensibel mit diesem ganzen Themenkomplex umgehen, auch bezogen auf alle Fragen, die das Thema „Schutz des Lebens“ betreffen, in all seinen Lebensstadien. Das gilt auch für die Bundeswehr. Deswegen ist in der Ausbildung und auch in jeder weiter gehenden Fortbildung, die wir leisten, im Rahmen der Staatsbürgerkunde das Grundgesetz der Parameter, auf den wir uns beziehen. Dabei geht es natürlich auch um die Fragen, die Sie angesprochen haben.
Ich kann es nur noch einmal wiederholen: In vielen der Bundeswehr zur Seite gestellten Organisationen und auch in der Bundeswehr selbst gibt es ein ganz hohes Engagement gerade für Menschen mit Behinderungen. Dass wir uns jetzt gerade sehr erfolgreich um die Invictus Games beworben haben, hat auch etwas mit diesem Engagement zu tun.
Deswegen sage ich: Dieser Fall ist nicht akzeptabel, er ist bedauerlich, aber er darf auch nicht den Blick darauf verstellen, dass es Tausende anderer Soldatinnen und Soldaten gibt, die in einer ganz anderen Art und Weise unterwegs sind.
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Vielen Dank. – Nächste Fragestellerin: Dr. Strack-Zimmermann.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Ministerin, der Einsatz deutscher Soldaten an der Airbase Al-Asrak in Jordanien soll nach dem aktuellen Mandat Ende März auslaufen. Sie und weitere Vertreter Ihrer Partei haben sich vermehrt für einen Verbleib der Bundeswehr dort ausgesprochen, gerade im Angesicht der Situation im Irak und in den Nachbarländern. Selbst Außenminister Maas sprach sich für eine Verlängerung aus. Ich zitiere: „Wir halten unser Engagement dort für sinnvoll auch in Zukunft, denn der IS ist nicht besiegt.“
Aus unserer Sicht, aus Sicht der Freien Demokraten, wäre eine Verlängerung dringend nötig, auch um unabhängig von der Sicherheitslage im Irak ein Lagebild zu haben.
Wann können die Soldatinnen und Soldaten vor Ort endlich Klarheit bekommen? Und wie sieht die Sache heute aus? Können wir damit rechnen, an diesem wichtigen Punkt, wo man besonders erfolgreich war, zu bleiben? – An dieser Stelle richte ich meinen Dank an die Soldatinnen und Soldaten, die seit Jahren dort ihren Dienst tun.
Frau Ministerin.
Der Einsatz, den wir dort fahren, sowohl im Irak selbst als auch in Jordanien, ist ein wichtiger Einsatz. Wir wollen ihn fortsetzen. Es ist kein Geheimnis, dass die Union als Koalitionspartner bereit ist, insbesondere die Luftaufklärung länger laufen zu lassen, als der Bundestag das im Rahmen der Mandatierung beschlossen hat. Die Mandatierung ist die Geschäftsgrundlage. Deswegen führen wir auch Gespräche – das war die Zusage – mit anderen Partnern, ob sie uns aus der Luftaufklärung herauslösen können. Diese Gespräche laufen, sind noch nicht abgeschlossen. Ich habe – Stand heute – kein belastbares Signal unseres Koalitionspartners, dass sich an der Haltung der SPD in dieser Frage etwas geändert hätte.
Was für mich wichtig ist, ist, dass wir auf jeden Fall mit einem Fußabdruck in Jordanien bleiben; denn gerade die erste Woche im Januar hat gezeigt, wie wichtig es ist, dass wir, wenn deutsche Soldatinnen und Soldaten im Irak – in Erbil, in Taji – im Einsatz sind, auch die Fähigkeit haben, diese Soldatinnen und Soldaten zur Not schnell zu evakuieren.
Frau Strack-Zimmermann.
Wenn Sie mir eine Nachfrage erlauben: Es geht genau um Letzteres, nämlich darum, dass sich bewiesen hat, dass der Standort wichtig ist, um unsere Soldatinnen und Soldaten – aber auch unsere Partner; denn nicht jeder hat diese Möglichkeit – schnellstmöglich dort herauszuholen. Könnten Sie sich vorstellen, dass dieser humanitäre Ansatz Ihren Koalitionspartner, die Sozialdemokratie in Deutschland, in irgendeiner Form überzeugen könnte, dass unser Mandat dort, an dieser Stelle sehr wichtig ist?
Man muss in der Debatte unterscheiden. Das Erste ist die Luftaufklärung selbst, das Zweite ist die Luftbetankung, die wir auch fortführen müssten, wenn uns ein Partner auslösen würde, das Dritte ist die eigene Fähigkeit, Leute oder Partner zu evakuieren. Ich kann nur sagen: Wenn wir dabei bleiben, dass unsere Soldaten am Boden im Irak sind, dann müssen wir zur Sicherheit unserer eigenen Truppe diese Fähigkeit in Jordanien auf jeden Fall aufrechterhalten.
Nachfrage von Herrn Lambsdorff.
In aller Kürze: Sie haben eben gesagt, Sie seien mit Verbündeten in Gesprächen über die Ablösung der Mission. Hier im Plenum hieß es vor ein paar Wochen, mit Italien sei man sich so gut wie einig. In neun Wochen soll das ja schon sein. Wie sieht es denn mit den Italienern aus?
Wir befinden uns in der Endphase der Gespräche mit der italienischen Seite. Dort ist im Moment anscheinend der Einigungsprozess zwischen der militärischen und der politischen Führung im Gange. Insofern hoffe ich, dass wir in wenigen Tagen Klarheit darüber haben.
Vielen Dank. – Dazu eine Nachfrage von Herrn Pflüger von der Linken.
Vielen Dank. – Frau Ministerin, wir sind es von Ihnen inzwischen ja gewohnt, dass es, wenn verschiedene Konflikte diskutiert werden, immer Ihre erste Idee ist, die Bundeswehr dorthin zu schicken. In diesem konkreten Kontext habe ich eine Frage.
Wir hatten jetzt die Debatte zu dem Einsatz in Jordanien, dann gab es die Libyen-Konferenz, und Sie hatten wieder den Vorschlag gemacht, die Bundeswehr auch dorthin zu schicken. Das sehen die Bundeskanzlerin und der Außenminister offensichtlich anders. Deshalb meine konkrete Frage an Sie: Was ist Ihre Position dazu, und was ist die abgestimmte Position der Bundesregierung zu einem möglichen Einsatz der Bundeswehr in Libyen?
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Frau Ministerin.
Herr Abgeordneter, es gibt keine Differenz zwischen der Position der Bundesregierung und meiner Position. Wir sind in Libyen in einem schwierigen Prozess, und wir sind ganz am Anfang dieses politischen Prozesses, der wieder aufgenommen worden ist.
Sie beziehen sich auf eine Äußerung von mir, nachdem ich gefragt worden bin, was die Bundeswehr leisten kann. Ich habe gesagt: Zuerst einmal muss die politische Debatte darüber geführt werden, was gewollt ist. Erst wenn diese Entscheidung getroffen ist, ist die Bundeswehr sehr schnell in der Lage, zu sagen, ob das, was die Politik von ihr will, von ihr geleistet werden kann oder nicht. – Insofern bezieht sich Ihre Frage auf eine Berichterstattung, die nicht korrekt ist.
Vielen Dank. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn ich frage, ob es Nachfragen gibt, dann bitte ich Sie, sich sozusagen auf die erste Frage zu beziehen. Sonst ist das ein bisschen Getrickse.
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– Ja, ist schon gut; ich passe jetzt ein bisschen auf. – „Nachfrage“ bezieht sich auf das Thema, das im Mittelpunkt stand. – Herr Otte, bitte.
Sehr geehrte Frau Ministerin, Sie haben in Ihren einleitenden Worten dargestellt, wie wichtig es ist, Wertschätzung gegenüber Menschen auszudrücken. Eine besondere Wertschätzung ist vielleicht auch das öffentliche Gelöbnis vor dem Reichstag, das Sie angeordnet haben, aber auch die kostenlosen Heimfahrten für die Soldatinnen und Soldaten. Wir stellen fest, dass die Sichtbarkeit auf den Bahnhöfen wesentlich zugenommen hat.
Auch wenn diese Regelung erst seit Anfang des Jahres gilt: Können Sie schon einen ersten Erfahrungsbericht zu diesen Fahrten mit der Deutschen Bahn zum Ausdruck bringen?
Frau Ministerin.
Die Erfahrungen mit dieser Regelung sind durch und durch positiv. Über 130 000 Berechtigungs-€-Tokens sind schon abgerufen worden, 37 000 Fahrkarten sind schon jetzt in den ersten Wochen gebucht worden. Das Handling läuft vollkommen reibungslos. Die Gespräche mit den weiteren Verkehrsanbietern, also den Regionalbetrieben, laufen ebenfalls sehr erfolgreich, sodass wir hoffen, demnächst die Nutzung des gesamten Netzes anbieten zu können.
Die Erfahrungen der Soldatinnen und Soldaten sind durchweg positiv. Sie sagen, sie werden angesprochen, sie werden gefragt: Warum leisten Sie diesen Dienst? In welchen Einheiten sind Sie? – Man spricht ihnen Dank für das aus, was sie leisten. Viele Soldatinnen und Soldaten sagen mir, das sei das Schönste, was sie seit langer Zeit in der Deutschen Bundesbahn zu hören bekommen hätten.
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Herr Otte, haben Sie eine Nachfrage?
Frau Präsidentin, sehr gerne. – Ein zweites Signal war ja das öffentliche Gelöbnis hier vor dem Reichstag. Es waren auch viele Parlamentarier vor Ort. Sie hatten ja auch die Ministerpräsidenten angeschrieben oder aufgefordert, in den Bundesländern Ähnliches durchzuführen. Wie war dort die Resonanz?
Erst einmal ein herzliches Dankeschön an alle Kolleginnen und Kollegen, die beim öffentlichen Gelöbnis hier vor dem Reichstag mit dabei waren. Das war ein ganz eindrückliches Erlebnis.
Wir haben durch die Bank von allen Bundesländern sehr positive Rückmeldungen bekommen. Der Großteil der Bundesländer hat zu diesem Termin – das war ja der Geburtstag der Bundeswehr – eigene Veranstaltungen gemacht. Wir haben sogar Entschuldigungen von Ministerpräsidenten bekommen, die gefragt haben, ob sie sich vielleicht aus anderen Standorten Soldaten ausleihen könnten, damit sie auch etwas tun könnten. Insofern gehe ich davon aus, dass wir diese Veranstaltung in diesem Jahr wiederholen – mit einer noch breiteren Resonanz.
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Vielen Dank. – Dazu eine Rückfrage oder Nachfrage von Frau Vogler.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Ministerin, Sie haben, speziell um die kostenlose Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel durch Soldaten in Uniform zu ermöglichen, auch die Bekleidungsrichtlinie geändert. Bisher war es ja aus gutem Grund so, dass Soldatinnen und Soldaten in unserem sich doch als überwiegend zivil verstehenden Land das Tragen der Uniform in der Freizeit ausdrücklich verboten war. Jetzt haben Sie dies entsprechend geändert.
Sehen wir da nicht einen Paradigmenwechsel vom Bürger in Uniform hin zum Uniformträger auch in der Freizeit, der als wandelnde Litfaßsäule für die Bundeswehr wirbt?
Frau Ministerin.
Frau Abgeordnete, ich bitte um Verständnis, dass ich mich Ihrem Ausdruck der „wandelnden Litfaßsäule“ in Uniform nicht anschließen kann.
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Das ist, finde ich, gegenüber den Soldatinnen und Soldaten nicht angemessen.
Im Übrigen tragen unsere Soldatinnen und Soldaten, wenn sie kostenfrei die Deutsche Bahn nutzen, die Uniform nicht nur in ihrer Freizeit, sondern die Fahrt geht oft von ihrem Dienstort nach Hause. Insofern ist das keine reine Freizeit.
Vielen Dank. – Dann kommt jetzt Dr. Alexander Neu und danach Agnieszka Brugger.
Vielen Dank. – Frau Ministerin, ich möchte noch mal auf die Ursprungsfrage zum Nahen Osten zurückkommen. Vor wenigen Tagen wurde ja berichtet, dass die Bundeswehr in Erbil die Ausbildungsarbeit wieder aufgenommen habe, in der Region Bagdad aber nicht.
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Meine Frage ist: Von wem haben Sie die Zustimmung dazu bekommen? War diese Zustimmung lediglich mündlich oder auch schriftlich? Wenn sie schriftlich war: Würden Sie sie uns als kontrollierende Opposition zur Verfügung stellen? Das wäre für uns sehr hilfreich.
Frau Ministerin.
Sehr geehrter Herr Abgeordneter, die Bundeswehr befindet sich zurzeit im Rahmen der internationalen Mission der sogenannten OIR im Einsatz im Irak: sowohl am Standort Taji als auch am Standort Erbil. Die Grundlage für diesen Einsatz ist das Mandat des Bundestages. Dieses Mandat des Bundestages basiert auf der Einladung der irakischen Regierung. Diese Einladung ist nach wie vor existent. Das hat der Präsident des Iraks noch einmal bestätigt, das hat der Verteidigungsminister bestätigt.
Aufgrund dessen, dass sich die Sicherheitslage in Erbil jetzt noch mal etwas gebessert hat, hat das Headquarter des OIR beschlossen, dass wir dort die Ausbildungsmission wieder aufnehmen und fortführen.
Herr Neu, haben Sie eine Rückfrage? – Nein. Dann kommt als nächste Fragestellerin Agnieszka Brugger.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Ministerin, auf den völkerrechtswidrigen Einmarsch der Türkei in Nordsyrien haben Sie ja sehr schnell reagiert und einen Militäreinsatz in die Debatte eingebracht. Davon hat sich dann aber Außenminister Maas auf internationaler Bühne distanziert – in einer so schwierigen außenpolitischen Lage.
Ist es jetzt mittlerweile die offizielle Position der Bundesregierung, dass die Bundesregierung sich für einen Militäreinsatz in dieser Region einsetzt? In welchen internationalen Gremien, zum Beispiel den Vereinten Nationen, haben Sie diesen Vorschlag weiterverfolgt? Wie waren die Reaktionen?
Die Situation in Gesamt-Syrien, insbesondere die Situation in Nordsyrien, ist nach wie vor unbefriedigend. Sie ist eine humanitäre Katastrophe. In Nordsyrien gilt die Vereinbarung zwischen Russland und der Türkei, von der alle Beteiligten sagen: Sie kann auf Dauer keine tragfähige Grundlage sein. – Wir sehen insbesondere die Bemühungen, dass Flüchtlinge aus der Türkei in die Region Nordsyrien zurückkehren. Wir sehen auch die hohen Bedenken der kurdischen Bevölkerung, dass sie aus dieser Region vertrieben wird. Das macht aus meiner Sicht notwendig, dass die internationale Gemeinschaft diese Region im Blick behält. Das war Gegenstand auch der E-3-Gespräche am Rande des NATO-Gipfels in London, mit der Bundeskanzlerin und unter anderem mit dem türkischen Staatspräsidenten. Diese Gespräche wurden fortgesetzt und werden weiter fortgesetzt. Insofern steht das Thema Nordsyrien weiter auf der Tagesordnung.
Frau Brugger.
Ich finde, Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Ist das Engagement für einen Militäreinsatz in der Region jetzt die offizielle Position der Bundesregierung? Oder lassen Sie mich die Frage ein bisschen anders formulieren: Wir beobachten ganz viele sich zuspitzende, schwierige Krisen gerade im Nahen und Mittleren Osten. Ein Problem ist immer, dass die Europäische Union keine gemeinsame, geeinte Position vortragen kann. Jetzt haben Sie sich mit dem Außenminister darüber öffentlich und auf internationaler Bühne zerlegt. Wie soll eine europäische Einigkeit gelingen, wenn es nicht einmal möglich ist, in der Bundesregierung eine gemeinsame Position zu haben? Ich habe das auch den Außenminister in der Regierungsbefragung gefragt. Sehen Sie im Nachhinein nicht eigene Fehler auch in der Abstimmung in der Bundesregierung, und werden Sie das mit dem Außenminister zukünftig besser hinbekommen,-
Die Zeit!
– damit nicht wieder ein öffentlicher Streit in so wichtigen Fragen stattfindet?
Frau Ministerin.
Mit Blick auf die Situation in Nordsyrien bin ich insbesondere mit der Bundeskanzlerin einig, dass wir das E-3-Format nutzen, um dort zu einer guten Situation, zu einer guten Lösung zu kommen, möglicherweise auch abgesichert. Das ist aber eine Frage, wie wir insbesondere die humanitären Probleme lösen. Es ist vereinbart, dass insbesondere die Bundeskanzlerin ihre Kontakte nutzt, dass die entsprechenden Gespräche geführt werden. Auf Basis dieser Gespräche wird das weitere Vorgehen besprochen.
Vielen Dank. – Eine Nachfrage von Herrn Kollegen Bijan Djir-Sarai.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Ministerin, ich will die Frage der Kollegin vertiefen. Es ging nicht nur um Nordsyrien, sondern auch um die Bewertung der Libyen-Konferenz. Es ist auffällig, dass die Abstimmungsprozesse zwischen Ihnen und Herrn Maas bisher suboptimal sind. Deswegen die Frage: Was wollen Sie künftig tun, um diese Abstimmungsprozesse zu verbessern? Denn schließlich geht es hier auch um die Handlungsfähigkeit Deutschlands in der Außen- und Sicherheitspolitik.
Nur damit wir es verstehen: Was ist der Grund, dass Sie bei vielen außenpolitischen Themen so vorpreschen? Sprechen Sie dort als Verteidigungsministerin, oder sprechen Sie dort als die Parteivorsitzende der CDU?
Frau Ministerin.
Ich kann nicht erkennen, wo es eine unterschiedliche Bewertung der Libyen-Konferenz gibt. Die Libyen-Konferenz in Berlin ist ein großer Erfolg für Deutschland und insbesondere der Bundeskanzlerin gewesen, natürlich in enger Abstimmung mit dem Außenministerium. Das ist der Beginn einer neuen – möglicherweise auch politischen – Chance einer Einigung. Was darauf folgt, was darin abgesichert werden muss, ist eine politische Entscheidung. Ich betone nochmals: Die Bundeswehr ist, wenn es dazu kommt, in der Lage, schnell zu klären, was sie dazu beitragen kann, wenn ihr Beitrag erwünscht ist.
Wir, Heiko Maas und ich, stimmen uns sehr eng ab; das kommt auch noch aus Zusammenarbeiten aus anderen Zeiten. Vor allen Dingen stimmen wir uns zurzeit sehr eng ab, was das Thema Sahelzone anbelangt, eine der großen sicherheitspolitischen und außenpolitischen Fragen, die im europäischen und insbesondere im deutsch-französischen Kontext auf uns zukommen. Wir haben jetzt gemeinsam eine Abstimmung über die Frage gehabt: Wie ist die Position zur Sahelzone in der Bundesregierung? – Es wird dazu in Kürze einen entsprechenden Bericht im Kabinett geben. Insofern gibt es da keine Zerwürfnisse.
Haben Sie eine Nachfrage, Herr Kollege? – Das ist nicht der Fall. Aber es gibt weitere Nachfragen, und zwar von Frau Hänsel und dann von Herrn Trittin, Frau Keul und Herrn Lindner.
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Danke schön. – Frau Ministerin, anstatt immer vorschnell über neue, weitere Auslandseinsätze der Bundeswehr nachzudenken, zu spekulieren oder sie ins Spiel zu bringen, wäre ja ein friedenspolitischer Beitrag der Bundesregierung, wenn wir von einem Waffenembargo in Libyen sprechen, die deutschen Rüstungsexporte an die Anrainerstaaten, die alle verschiedene Konfliktparteien in Libyen unterstützen, endlich zu stoppen. Es ist doch das Naheliegende, dass keine Waffen mehr zum Beispiel an Ägypten geliefert werden.
Frau Kollegin, das ist wirklich keine Nachfrage. Wir haben Nachfragen zu dem Fragenkomplex vereinbart, der aufgerufen worden ist. Das war keine Nachfrage.
Ja, es ging um Libyen.
Nein, es ging wirklich um etwas anderes. Es ging um die Koordination innerhalb der Bundesregierung.
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– Ich passe ja auf.
Im Zusammenhang mit Libyen. – Dann stelle ich die Frage, ob es denn innerhalb der Bundesregierung eine gemeinsame Koordination über den Stopp der Rüstungsexporte in die Region gibt.
Frau Ministerin, und dann kommt Herr Trittin.
Wir haben ein entsprechendes Gremium; das ist der Bundessicherheitsrat. Dort wird über alle Exporte gesprochen. Die nächste Sitzung steht in Kürze an.
Herr Trittin.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Kramp-Karrenbauer, Sie haben darauf verwiesen, dass es im Zusammenhang mit der Situation in Nordsyrien innerhalb der Bundesregierung eine enge Abstimmung gibt. Sie haben auf die Bundeskanzlerin verwiesen.
Können Sie uns einmal erklären, wie Sie sicherstellen wollen, dass die Zusage der Bundeskanzlerin bei ihrem Besuch in der Türkei, bei Herrn Erdogan – zumindest war das der Presse zu entnehmen –, den Bau von Unterkünften für Flüchtlinge in Nordsyrien zu finanzieren, so ausgestaltet wird, dass dort nicht in den Bereichen gebaut wird, die die Türkei völkerrechtswidrig besetzt hält, womit man sich selber eines Völkerrechtsverstoßes schuldig machen würde?
Frau Ministerin.
Sehr geehrter Herr Abgeordneter, mit dieser Frage weisen Sie gerade auf die sehr schwierige Situation in Nordsyrien hin, die eben zurzeit auf einer Grundlage beruht, die auf Dauer nicht tragfähig ist. Deswegen muss auch die Unterstützung für die humanitäre Begleitung und die mögliche Rückkehr der Flüchtlinge eben so ausgestaltet werden, dass sie kompatibel und verträglich ist. Dazu haben jetzt erste Gespräche der Bundeskanzlerin mit dem türkischen Staatspräsidenten stattgefunden. Alles Weitere auf dieser Grundlage müssen wir innerhalb der Bundesregierung weiter besprechen.
Frau Keul.
Vielen Dank. – Mich treibt die gleiche Frage um, und ich bin mit der jetzt gegebenen Antwort noch nicht ganz zufrieden. Aber Sie haben erfreulicherweise auch klar gesagt: Der Einmarsch der Türkei in Nordsyrien ist völkerrechtswidrig. Damit ist auch der Verbleib der Türkei in Nordsyrien völkerrechtswidrig. Diese Einschätzung teile ich.
Dort finden ethnische Vertreibungen statt. Das heißt, wenn wir der Türkei Mittel zur Verfügung stellen, um in Nordsyrien Flüchtlingsunterkünfte zu bauen, dann wissen wir, wer sich dort ansiedeln wird, nämlich nicht die Flüchtlinge, die von dort vertrieben worden sind, sondern die Kräfte, die die Türkei gezielt in diesem Gebiet ansiedelt. Das heißt, die Bundesrepublik würde sich finanziell an einer ethnischen Vertreibung beteiligen. Das kann doch nicht ernsthaft unser Anliegen sein. Was sagen Sie dazu?
Frau Ministerin.
Auch Ihre Frage macht noch einmal deutlich, dass es gerade angesichts der Situation der Flüchtlinge und des Im-Raum-Stehens des sogenannten Bevölkerungsaustauschs – das ist zumindest die Befürchtung, die es gibt – wichtig ist, dass die internationale Gemeinschaft zum Beispiel mit dem UNHCR dort entsprechend engagiert ist. Das war ja auch die Grundlage der Überlegungen und der Initiativen.
Alles, was wir als Bundesregierung tun, muss sich in diesem Rahmen bewegen und wird ganz sicherlich nicht dazu beitragen, sozusagen die Position der Türkei alleine, die Sie eben beschrieben haben, zu unterstützen.
Herr Lindner.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Ministerin, ich will noch einmal auf Ihre optimierungsfähige Zusammenarbeit mit Bundesaußenminister Maas zurückkommen. Sie haben das E-3-Format am Rande des NATO-Gipfels in London erwähnt, daher frage ich: Wie soll denn die Bundeskanzlerin solche Themen wie die von Ihnen in Rede geführte Schutzzone in Nordsyrien irgendwie ansprechen, wenn das nicht Meinung der Bundesregierung, sondern Ihre persönliche Auffassung ist? Wie soll Deutschland im Rahmen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen das Thema ansprechen, wenn es keine geeinte Regierungsposition dazu gibt?
Frau Ministerin.
Die Bundeskanzlerin hat beim NATO-Gipfel in London im E-3-Format die Frage adressiert. Sie hat sie insbesondere so adressiert, wie es eben hier auch zum Ausdruck gekommen ist, nämlich wie insbesondere die humanitäre Situation unter Einbindung auch internationaler Organisationen abgefedert und auch kontrolliert werden kann. Das ist die Grundlage für weitere Gespräche, die sie führt. Das ist innerhalb der Bundesregierung vollkommen abgestimmt, und insofern gab es auch vor dem Gespräch in London Gespräche und enge Abstimmungen zwischen der Bundeskanzlerin, meiner Person und auch dem Außenminister.
Haben Sie eine Rückfrage, Herr Lindner? – Dann gehen wir jetzt wieder zur regulären Reihenfolge über. Der Kollege Elsner von Gronow und dann Kollege Lambsdorff sind an der Reihe.
Frau Ministerin, ich zitiere aus dem Strategiepapier der Bundesregierung zur Stärkung der Verteidigungsindustrie in Deutschland:
Die Bundesregierung bekennt sich … zum Erhalt nationaler verteidigungsindustrieller Schlüsseltechnologien.
Im Koalitionsvertrag wurde vereinbart, dass Sie den deutschen Überwasserschiffbau als Schlüsseltechnologie einstufen wollen. Konkret heißt es dort:
Für ... Deutschland ist eine leistungsstarke ... maritime Wirtschaft von großer ... Bedeutung. ... Den Überwasserschiffbau werden wir als Schlüsseltechnologie Deutschlands einstufen.
Das wäre enorm wichtig für die deutschen Werften, die sich ja oft im unfairen Wettbewerb mit Werften in anderen Ländern befinden, die staatlich sind und entsprechend geschützt sind.
Nun frage ich Sie nicht nur als Ministerin, sondern letztendlich auch als Vorsitzende der zumindest nominell führenden Regierungspartei, wenn auch gefühlt ohne Kommando- und Befehlsgewalt: Wieso ist denn das immer noch nicht umgesetzt, sodass jetzt wahrscheinlich mit der Vergabe des Bauauftrags zu MKS 180 ins Ausland ein immenser Nachteil für Deutschland entstanden ist?
Frau Ministerin.
Das, was Sie eben zitiert haben, befindet sich in der Umsetzung. Das Gesetz dazu ist ja auf den Weg gebracht worden, und die notwendige Liste mit dem, was sozusagen im nationalen Interesse eine Schlüsseltechnologie ist, ist in der Vorbereitung. Aber selbst wenn wir das jetzt schon umgesetzt und in Gesetzesform gebracht hätten, hätte das an der Entscheidung zu MKS 180 nichts geändert. Denn das Verfahren zu MKS 180 hat vor vier Jahren mit einer europaweiten Ausschreibung begonnen; es ist jetzt beendet worden. Insofern hätte auch eine veränderte Rechtslage auf diese Entscheidung keinen Einfluss gehabt.
Haben Sie eine Nachfrage?
Unbedingt. – Das bringt mich natürlich zu der entsprechenden Nachfrage: Wenn sich das erst in der Bearbeitung befindet und noch Zeit braucht, wie stellen Sie denn dann sicher, dass, wenn das Vergabeergebnis standhalten sollte, im Zeitraum bis zum nächsten Bauauftrag eines Großkampfschiffes für die deutsche Marine tatsächlich die wirtschaftlichen und technologischen Fähigkeiten der deutschen Wehr- und Rüstungsindustrie erhalten bleiben können?
Zum Ersten sind wir in der Umsetzung dessen, was im Koalitionsvertrag vereinbart ist, sehr weit. Es wird in Kürze vollzogen werden.
Zum Zweiten werden auch beim Thema „MKS 180“, sollte die Vergabeentscheidung Bestand haben – sie ist ja auch gerügt worden –, 70 Prozent der Wertschöpfung in Deutschland stattfinden. Wir haben eine sehr wettbewerbsfähige Ausrüstungsindustrie in Deutschland, die bei vielen Projekten zum Zuge kommt. Wenn wir eine geänderte Gesetzesgrundlage haben, wird das noch besser gehen.
Vielen Dank. – Jetzt kommt als Nächster Graf Lambsdorff und dann die Kollegin Möller von der SPD. Wir sind inzwischen in dem Fragebereich, in dem andere Themen aus der Kabinettssitzung angesprochen werden können. Aber ich glaube, es gibt noch genügend Fragen zum ersten Teil. – Graf Lambsdorff.
Ich war in London anlässlich des NATO-Gipfels bei einer Konferenz im E-3-Format. Briten, Franzosen und Deutsche saßen da zusammen. Für uns Deutsche war das unangenehm. Die Briten und Franzosen – das waren Außenpolitikprofis – hielten uns entgegen, die Bundesregierung presche mit unabgestimmten Vorschlägen vor; es gebe nicht genug Koordination; man wisse gar nicht, woran man sei, wenn man auf Deutschland blicke. Dann haben Sie aber einen Vorschlag gemacht, den wir als Freie Demokraten gut finden, nämlich, den Nationalen Sicherheitsrat einzurichten, um die Koordinierung zu verbessern.
Wir haben daraufhin eine Kleine Anfrage an Ihr Haus gerichtet: Wie soll der zusammengesetzt sein, und welche Zuständigkeiten soll er haben? Die Antwort war sage und schreibe vier Sätze lang; da war nichts. Meine Frage an Sie lautet jetzt: Können Sie bitte Licht in das Dunkel bringen? Können Sie uns helfen? Was soll dieser Nationale Sicherheitsrat sein? Wer soll darin Mitglied sein? Und was soll er konkret tun?
Frau Ministerin.
Der Nationale Sicherheitsrat kann drei Funktionen übernehmen: ein besser konsolidiertes Lagebild schaffen, als wir es zurzeit haben, in Krisensituationen eingeübte, bessere Strukturen der Absprache untereinander einführen und eine strategische Vorausschau betreiben. Dazu gibt es ganz unterschiedliche Modelle. Je nachdem, welchen Punkt man stärker gewichtet, muss man die Zusammensetzung vereinbaren. Ganz klar ist, dass es zurzeit keinen solchen nationalen Rat gibt und dass es auch im Koalitionsvertrag keine Vereinbarung dazu gibt, den in dieser Legislaturperiode einzuführen. Wir werden ein Modell entwickeln, und wenn das in dieser Legislaturperiode nicht umzusetzen ist, wird es sicherlich auch Gegenstand der Debatte bei der Aufstellung für die nächste Legislaturperiode sein.
Graf Lambsdorff, Rückfrage?
Dann würde ich Sie gerne persönlich fragen – ich verstehe, dass das keine Grundlage im Koalitionsvertrag hat; aber wenn Sie so etwas in den Raum stellen als Ministerin, dann müssen Sie ja eine Vorstellung haben –: Wer soll da Ihrer Meinung nach dabei sein? Also, Auswärtiges Amt, BMVg und das Entwicklungshilfeministerium würde ich als Kern sehen.
Aber der Bundessicherheitsrat – den haben wir – ist ja größer. Wäre das vielleicht etwas zum Anknüpfen? Also, ein bisschen konkreter hätten wir es schon gern.
Der Bundessicherheitsrat, den wir heute haben, hat ja eine andere Funktion; ich habe das vorhin im Zusammenhang mit den Rüstungsexporten ausgeführt.
Sie haben Ministerien genannt, die da sicherlich eine Rolle spielen. Ganz sicher gehört auch das Bundesinnenministerium dazu, weil äußere und innere Sicherheit zusammengehören.
Wenn man insbesondere das Thema „strategische Vorausschau, konsolidierte Lage“ in den Mittelpunkt stellt, dann muss man sozusagen auch die Kräfte, die das zuliefern, mit in einen solchen Rat hineinnehmen. Wie gesagt: Das hängt davon ab, welche Schwerpunkte man setzt.
Vielen Dank. – Dann Frau Kollegin Möller.
Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Ministerin, der Untersuchungsausschuss zur Berateraffäre in Ihrem Ministerium – ich bin Mitglied in diesem Untersuchungsausschuss – befindet sich auf der Zielgeraden. In den letzten beiden Sitzungen werden wir uns vor allen Dingen der Frage widmen, wer denn eigentlich auf der Leitungsebene die Verantwortung zu tragen hat. Am Ende ist ja klar, dass irgendjemand auch politisch verantwortlich sein muss.
Bisher wurde im Untersuchungsausschuss bereits eine ganze Reihe von Missständen aufgearbeitet, und es wurde eindeutig herausgearbeitet, dass diese in Ihrem Ministerium bisher noch nicht ausreichend aufgeklärt wurden und die bisherigen Erkenntnisse der sogenannten Verwaltungsermittlungen weit hinter den Erkenntnissen des Untersuchungsausschusses zurückbleiben.
Meine Frage nun an Sie, Frau Ministerin: Gedenken Sie, eine erneute vertiefte Untersuchung anzustoßen und Verantwortung auch politischer Art klar zuzuordnen, und gedenken Sie, aus diesen Verantwortlichkeiten auch Konsequenzen zu ziehen?
Frau Ministerin.
Vielen Dank. – Frau Abgeordnete, Sie haben eben zu Recht darauf hingewiesen, dass dieser Untersuchungsausschuss, der sich ja mit Vorgängen befasst, die auch vor meiner Amtszeit lagen, jetzt auf der Zielgeraden ist. Insofern ist die Frage, was wir nachher auch im Ministerium ganz konkret an weiteren Prozessen darauf setzen, was wir ganz konkret auch an weiteren Konsequenzen daraus ziehen, natürlich auch abhängig vom konsolidierten Endbericht dieses Untersuchungsausschusses. Wir werden uns sehr intensiv damit befassen, weil natürlich vieles von dem, was in Rede steht, auch heute schon eine Frage der Prozesse, die wir eingeleitet haben, ist. Das Thema Berater gehört dazu. Insofern werden wir auf der Grundlage der Ergebnisse, die der Untersuchungsausschuss zutage fördert, auch unsere Konsequenzen ziehen. Aber ich bitte um Verständnis: Was das genau ist, das können wir erst dann benennen, wenn wir den Bericht in den Händen haben.
Frau Möller, haben Sie eine Nachfrage?
Habe ich. – Wenn wir uns jetzt noch einmal genauer angucken, dass Sie ja Ermittlungen vorgenommen haben und diese tatsächlich hinter den Erkenntnissen des Untersuchungsausschusses zurückgeblieben sind, folgt meine erneute, konkretere Nachfrage: Haben Sie vor, weitere Ermittlungen oder Aufklärungsarbeiten in Ihrem Ministerium durchzuführen?
Frau Ministerin.
Wenn sich mit Blick auf die Erkenntnisse, die die bisherigen Verfahren im Ministerium zutage gebracht haben, und mit Blick auf die Erkenntnisse, die der Untersuchungsausschuss zutage bringt, ein Gap herausstellen sollte, werde ich mich natürlich auch mit der gesamten Leitungsebene damit befassen, warum es dieses Gap gibt und was wir daraus lernen und was wir da möglicherweise auch nacharbeiten müssen.
Aber was das konkret ist, das kann ich erst dann entscheiden, wenn ich die Dinge auch wirklich gegeneinanderlegen kann.
Vielen Dank. – Dazu Nachfrage Dr. Lindner.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Ministerin, Sie tragen mit Sicherheit nicht die Verantwortung für das, was den Untersuchungsgegenstand betreffend in der Vergangenheit geschehen ist, aber Sie tragen Verantwortung dafür, dass dieser Untersuchungsausschuss seine Arbeit machen kann. Bis heute, nach über einem Jahr Arbeit, hat Ihr Haus dem Ausschuss keine Vollständigkeitserklärung, keine einzige, über die zugegangenen Beweismittel geben können. Und in Rede steht ja auch, ob es noch SMSe gibt – insbesondere im Bereich der Leitung –, die darlegen können, wie die Leitung mit den Missständen umgegangen ist. Wird Ihr Haus denn wenigstens in der Lage sein, gegenüber dem Ausschuss zu erklären, dass es definitiv keine solchen SMSe gibt, dass Sie das definitiv ausschließen können?
Frau Ministerin.
Sehr geehrter Herr Kollege Lindner, Sie wissen, dass es mit Beginn der Ausschussarbeit im Ministerium die Anordnung an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, bis in die Hausspitze, gegeben hat, die jeweils eigenen Akten, auch die jeweils eigenen Handys danach zu sichten, ob darauf relevante, für den Untersuchungsgegenstand wichtige Punkte sind, und dass diese gesichert werden müssen. Wer dagegen verstößt, verstößt sozusagen gegen diese Anordnung und damit auch gegen die entsprechenden rechtlichen Gegebenheiten.
Wir haben es sehr deutlich gemacht, und die Vorgängerin im Amt hat dazu ja auch ihr Einverständnis erklärt: Wenn es Hinweise gibt, die es nötig machen, dass insbesondere dieses erste Handy, auf das Sie abstellen, noch einmal forensisch wiederhergestellt werden muss, ist sie damit einverstanden. Auch wir sind dazu bereit. Wenn es diese Hinweise gibt, können wir das tun.
Vielen Dank. – Dazu eine Nachfrage von Dr. Eberhard Brecht.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Ministerin, Sie haben auf die Frage meiner Kollegin Möller mögliche Konsequenzen aus dem Ergebnis des Untersuchungsausschusses angekündigt. Würde das notfalls auch personelle Konsequenzen einbeziehen?
Frau Ministerin.
Das ist eine Frage, die sich dann ergibt, wenn ich weiß, was für Befunde auf dem Tisch liegen, auch in der möglichen Unterscheidung dessen, was durch die eigenen Ermittlungen und die Erkenntnisse des Untersuchungsausschusses zutage gefördert worden ist. Aber es beinhaltet natürlich die gesamte Bandbreite an möglichen Reaktionen, die zur Verfügung stehen. Natürlich müssen auch die ins Auge gefasst werden, wenn es in der Sache erforderlich ist.
Dazu eine Nachfrage von Dr. Strack-Zimmermann.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Ministerin, ich muss noch einmal wegen der Handys nachhaken: Wir leben in einer digitalen Welt, das heißt, wir kommunizieren nicht nur per E-Mail oder per Telefon, sondern eben auch per SMS. Angesichts der Tatsache, dass wir im März darauf hingewiesen haben, dass wir diese Daten im Untersuchungsausschuss wollen und trotzdem einer der Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter das Handy stur gelöscht hat – sei es aus Unwissen, sei es aus was auch immer –: Können Sie gewährleisten, dass in Zukunft auch Daten in Ihrem Hause, die digital verarbeitet werden, uns jederzeit zur Verfügung gestellt werden – selbstverständlich nur dann, wenn es einen Untersuchungsgegenstand gibt?
Frau Ministerin.
Dass diese digitalen Daten eine große Rolle spielen, ist ja ganz unzweifelhaft, und dass sich daraus auch Veränderungen ergeben, sehen wir zurzeit ja genau in der Diskussion um einen anderen Untersuchungsausschuss. Die Grundlage, die im Ministerium vorgegeben ist und die ich vorgefunden habe, war die Anweisung an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, selbst noch einmal durchzuschauen und zu sichern, was nach dem Untersuchungsgegenstand gesichert werden muss – das ist die Anordnung gewesen –, und ansonsten die Handys dann noch mal zur Verfügung zu stellen; insofern ist die Grundlage eine andere. Dass sie aber im digitalen Zeitalter für die Zukunft anders ausgestaltet werden muss, da sind wir uns, glaube ich, einig.
Vielen Dank. – Erst Frau Brugger und dann Herr Jens Lehmann.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Ministerin, wir nehmen Sie gerne beim Wort, dass noch einmal gezeigt werden soll, dass diese SMS mit dem Untersuchungsgegenstand zu tun haben. Wir reden ja hier über das Handy der früheren Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen. Mein Kollege Lindner hat einen Screenshot abgeliefert, wie er mit ihr im Zeitraum des Untersuchungsgegenstandes SMS ausgetauscht hat; das ist mittlerweile auch vom Untersuchungsausschuss offiziell beweismäßig eingestuft worden.
Habe ich Sie dann richtig verstanden, dass Sie sich jetzt dafür einsetzen, dass diese SMS dem Ausschuss zur Verfügung gestellt werden? Denn den Nachweis, den Sie verlangt haben, hat mein Kollege Lindner als Zeuge im Ausschuss erbracht.
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Frau Ministerin.
Es ist die Frage, ob das, was im Ausschuss vom Kollegen Lindner erbracht worden ist, und die Genehmigung der Ministerin a. D., dass wir das Handy wieder forensisch herstellen können, unter Wahrung ihrer eigenen Rechte, abgedeckt ist; das können wir gerne noch mal untersuchen. Wenn es abgedeckt ist, stellen wir dieses Handy sehr gern forensisch wieder her; das ist überhaupt keine Frage.
Vielen Dank. – Dann jetzt Herr Jens Lehmann.
Danke, Frau Präsidentin. – Frau Ministerin, in den letzten Jahren wurde viel für unsere Soldaten getan, die im Einsatz versehrt oder verwundet wurden, an der Spitze das Einsatzversorgungsgesetz. Neben den gesetzlichen Maßnahmen gibt es noch eine ganze Menge Maßnahmen zur Therapie und Rehabilitation. Wie positionieren Sie die Invictus Games bei der Bundeswehr im Rahmen dieser Rehabilitation, und wie binden Sie die Invictus Games in diese Rehamaßnahmen ein?
Frau Ministerin.
Die Invictus Games und die Tatsache, dass wir sie für das Jahr 2022 nach Düsseldorf geholt haben, sind ein großer Erfolg, und ich darf mich an der Stelle bei allen, auch aus diesem Haus, bedanken, die dazu ihren Beitrag geleistet haben.
Der entscheidende Faktor – das haben uns die Verantwortlichen der Invictus Games in London noch einmal gesagt – ist das Konzept der Bundeswehr. Und das Konzept der Bundeswehr mit Blick auf diese Games lautet, dass die Entscheidung, wer daran teilnimmt, nicht daran festgemacht wird, wer die besten sportlichen Aussichten auf einen Sieg oder eine Medaille hat, sondern daran, ob die Teilnahme an diesen Spielen der ganz persönlichen Rehabilitation einen Schub nach vorne gibt und demjenigen hilft. Das ist der Parameter, den wir anlegen; das hat am Ende des Tages auch die Organisatoren überzeugt. Deswegen passen diese Games sehr gut in die Rehabilitationsarbeit und auch in die Bewältigung der Traumaarbeit, die wir in der Bundeswehr für diejenigen leisten, die im Einsatz entsprechend körperlich oder seelisch verletzt worden sind.
Herr Lehmann, haben Sie eine Nachfrage?
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Dann kommt Dr. Faber; der hat nämlich eine.
Frau Ministerin, erst einmal vielen Dank, dass Sie hier noch einmal auf die Initiative des Parlaments und meiner Fraktion hingewiesen haben, die Invictus Games nach Deutschland zu holen. Auch ich habe mich sehr gefreut, dass die Bewerbung Düsseldorfs so erfolgreich war.
Mir geht es jetzt darum, wie wir als Deutschland sicherstellen, welche Sportler an diesem Ereignis teilnehmen. Sie haben eben schon darauf hingewiesen, dass es nicht nur um Medaillen geht, sondern auch um Therapieerfolge. Innerhalb der Bundeswehr gibt es eine intensive Debatte dazu, welche Sportler in welchem Verhältnis repräsentiert werden. Wir haben in der Bundeswehr einsatzversehrte Soldaten; wir haben in der Bundeswehr aber auch Soldaten, die im Inland verunfallt sind, zum Beispiel einen Motorradunfall in ihrer Freizeit hatten. Wie wollen Sie dieses Verhältnis vor den unterschiedlichen Hintergründen der verunglückten und jetzt in Betreuung befindlichen Soldaten gewährleisten und gestalten? – Danke.
Frau Ministerin.
Zuerst einmal haben alle diese Soldaten, egal ob sie im Einsatz oder außerhalb des Dienstes im Inland verletzt worden sind, die volle Aufmerksamkeit und auch die volle Unterstützung verdient. Die Entscheidung darüber, wer letztendlich der Mannschaft der Invictus Games angehören wird, muss in den nächsten Monaten getroffen werden; die Parameter, die wir anlegen, habe ich eben geschildert. Sie müssen natürlich immer auch kompatibel sein mit den Parametern, die die Invictus Games selbst anlegen. Das ist das, was wir übereinanderlegen müssen. Dazu gibt es auch die entsprechenden Gremien und Arbeitsgruppen. Auf diesem Weg befinden wir uns. Die letztendliche Entscheidung darüber ist noch nicht getroffen; aber die Debatte findet in der Tat so statt, wie Sie sie eben geschildert haben.
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Normalerweise geht das nicht, Herr Lehmann, aber weil Sie vorher keine Nachfrage hatten, haben Sie jetzt die Gelegenheit.
Entschuldigung, Frau Präsidentin. – Frau Ministerin, mich würde der Frauenanteil bei den Invictus Games interessieren; denn ich war bei den Empfängen dabei. Können Sie den ungefähr beziffern? Wie hoch ist der?
Ich kann ihn nicht genau beziffern, kann aber versuchen, Ihnen die konkreten Zahlen nachzuliefern. Das hat natürlich, insbesondere wenn wir über Einsatzverwundete oder ‑verletzte reden, etwas damit zu tun, wie viele Frauen im Einsatz waren. Die Invictus Games verstehen sich aber auch als eine Veranstaltung, die sich nicht nur an den einzelnen Soldaten oder die einzelne Soldatin richtet, sondern sozusagen an das gesamte Umfeld; die gesamte Familie ist mit einbezogen und eingeladen. Das macht ihren besonderen Wert aus. Das unterscheidet im Übrigen diese Games auch von Olympischen oder Paralympischen Spielen.
Vielen Dank. – Dann kommen wir jetzt zur nächsten Runde. Tobias Pflüger.
Vielen Dank. – Dieser Tage findet das größte Manöver seit Ende des Kalten Krieges hier in der Bundesrepublik statt; 20 000 US-Soldaten sollen von West nach Ost transportiert werden. Das Manöver heißt Defender Europe 2020. Sie haben uns allen einen Brief geschrieben, in dem Sie dieses Manöver für dringend notwendig erachten. Wir haben eine andere Einschätzung. Wir haben den Eindruck: Hier wird eskaliert. Die spannenden Fragen sind: Warum halten Sie dieses Manöver für notwendig? Wie ist die Information der Bevölkerung? Und welche Truppenteile der Bundeswehr sind in dieses Manöver involviert?
Frau Ministerin.
Wir haben im Jahr 2014 nach den Besetzungen der Krim und der Ostukraine innerhalb der NATO auch über eine angepasste Strategie gesprochen, eine Stärkung von Bündnis- und Landesverteidigung. Im Rahmen dieser neu verstärkten Strategie spielen Übungen und Einsätze wie das Air Policing über den baltischen Staaten oder unser Einsatz in Enhanced Forward Presence in Litauen, aber auch die logistische Übung Defender Europe 2020 eine große Rolle.
Insofern teile ich Ihre sicherheitspolitische Einschätzung dazu nicht. Das ist eine notwendige Übung auf der Grundlage der festgelegten strategischen Überlegungen. Eine Alternative dazu wäre eine deutlich verstärkte Präsenz, insbesondere an den Ostgrenzen des Bündnisses – etwas, was wir nicht wollen, auch mit Blick auf die NATO-Russland-Grundakte.
Was die genaue Teilnahme der Bundeswehr anbelangt: Dazu kann ich Ihnen gerne schriftlich auch noch mal die Informationen zukommen lassen. Wir sind in enger Abstimmung mit allen verantwortlichen Behörden vor Ort, also denjenigen, die Genehmigungen aussprechen müssen und anderes. Das läuft in einer sehr intensiven Zusammenarbeit.
Herr Pflüger, Rückfrage?
Ja. – Sie haben ja gerade eben den geopolitischen Kontext relativ offen dargestellt. Das heißt, das Übungsszenario ist durchaus so, wie wir es vermuten: Hier geht es um die Übung insbesondere eines Aufmarsches gegen Russland.
({0})
Ich hätte gerne von Ihnen einfach noch mal eine politische Begründung dafür, warum Sie der Meinung sind, dass in den jetzigen Zeiten ein solches Manöver notwendig ist, insbesondere da es ja auch eine enorme Klimaschädigung ist, wenn so viele Militärfahrzeuge durch die Bundesrepublik geschickt werden.
Frau Ministerin.
Die Übung dient der Stärkung der Bündnis- und Landesverteidigung.
({0})
Das ist etwas, was wir 2014 in der NATO festgelegt haben. Deutschland ist im Rahmen dieser Strategie eine logistische Drehscheibe; dies wird jetzt geübt. Es ist im Übrigen auch ein Bekenntnis der amerikanischen Seite zu mehr Präsenz in Europa, und darüber freue ich mich.
({1})
Danke, Frau Ministerin. – Dazu eine Rückfrage von Frau Hänsel.
Danke schön, Frau Präsidentin. – Frau Ministerin, Sie haben ja die NATO-Russland-Grundakte erwähnt. Bisher gab es ja ein stilles Einvernehmen zwischen den NATO-Staaten und Russland darüber, dass die Präsenz militärischer Einheiten, die größer sind als eine Brigade, in den östlichen NATO-Ländern dieser Grundakte widerspricht. Jetzt sprechen wir von fast 40 000 Soldaten, die verlegt werden;
({0})
das ist eine Divisionsstärke.
Meine Fragen sind: Widerspricht das nicht fundamental dem Geist der NATO-Russland-Grundakte?
({1})
Empfinden Sie das im 75. Jahr der Befreiung von Krieg und Faschismus mit 26 Millionen Toten in der ehemaligen Sowjetunion nicht auch als einen Affront gegen die russische Bevölkerung, wenn wir jetzt Krieg gegen Russland üben?
({2})
Frau Ministerin.
Die Grundakte, die Sie erwähnt haben, bezieht sich auf eine dauerhafte Stationierung. Darum geht es gerade nicht. Es geht um eine Übung.
Ich bin mir sehr wohl bewusst der Opfer, die die Menschen in der ehemaligen Sowjetunion gerade im Zweiten Weltkrieg gebracht haben. Ich möchte auf keinen Fall die russische Bevölkerung für alles in Haftung nehmen, was die russische Regierung und der Staatspräsident zurzeit tun.
({0})
Ich will nur sagen, dass wir zurzeit erleben, auch in unserem Air Policing über den baltischen Staaten, dass es insbesondere Flugzeuge aus Russland sind, die fast tagtäglich den Luftraum –
({1})
und das ist NATO-Luftraum – verletzen. Deswegen kann ich nur sagen: Das ist die Realität. Deshalb muss geübt werden, und das tun wir.
({2})
Rückfrage: Frau Alt. Und dann Herr Neu.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Sehr geehrte Frau Ministerin, Sie haben die Ukraine erwähnt. Ich war vergangene Woche in der Ukraine, wo der Normandie-Gipfel vom Dezember bislang keine echten sicherheitspolitischen Konsequenzen hat. Weiterhin wird nahezu täglich die Waffenruhe gebrochen, die Mitarbeiter der OSZE können sich nicht frei bewegen, und es sterben weiter Menschen.
Welche Möglichkeiten sehen Sie, dem Wunsch der ukrainischen Regierung nach deutscher Militärhilfe zu entsprechen? Und in welchen Bereichen könnte Deutschland Ihrer Meinung nach einen Mehrwert bieten?
Frau Alt, das war jetzt keine Nachfrage.
Doch.
Nein, war es nicht. Aber, Frau Ministerin, bitte.
Die Situation in der Ukraine, so wie Sie sie geschildert haben, ist nach wie vor unbefriedigend. Deswegen haben wir gesagt – das ist auch das, worauf sich die Bundesregierung konzentriert –: Wir müssen das politische Format, die politischen Anstrengungen weiter vorantreiben, insbesondere im Rahmen des Normandie-Formates.
Dr. Neu hat eine Rückfrage zum Themenkomplex „Pflüger“.
({0})
Vielen Dank. – Noch mal zu Defender 2020. Gemäß dem Zwei-plus-Vier-Vertrag ist ja nicht nur die Stationierung, sondern auch die Verlegung von Truppen nach Ostdeutschland verboten. Ich zitiere Artikel 5 Absatz 3 des Zwei-plus-Vier-Vertrages. Da heißt es:
Ausländische Streitkräfte … werden in diesem Teil Deutschlands weder stationiert noch … verlegt.
Hier geht es im Wesentlichen um die Verlegung.
({0})
Meine Frage ist: Wenn das so ist und die Bundesregierung anders agiert, wie respektiert sie dann noch den Zwei-plus-Vier-Vertrag, oder ist er obsolet, seitdem sich die NATO nach Osten erweitert hat?
Frau Ministerin.
Der Vertrag, den Sie zitiert haben, ist natürlich nicht obsolet. Ohne dass ich jetzt in die juristischen Feinheiten einsteigen will: Wenn im Rahmen einer Übung Verlegungen und entsprechend auch wieder die Rückverlegungen erfolgen, dann verletzt das nicht den Vertrag, so wie Sie ihn eben zitiert haben.
({0})
Rückfrage? – Das ist jetzt die 30-Sekunden-Chance.
Es geht nicht nur um Verlegungen nach Ostdeutschland, sondern natürlich auch durch Ostdeutschland; aber seinerzeit gab es noch keine NATO-Osterweiterung.
({0})
Das heißt, hier wird ganz deutlich gegen den Geist von Zwei-plus-Vier verstoßen. Oder haben Sie eine andere Interpretation?
Frau Ministerin.
Es wird nicht gegen den Geist des Zwei-plus-Vier-Vertrages verstoßen. Ich glaube, wir können noch drei Nachfragerunden machen: Wir werden an diesem Punkt nicht zu einer politischen Übereinstimmung kommen.
Drei Runden machen wir nicht, so viel Zeit haben wir nicht.
({0})
Aber eine Nachfrage haben wir noch, und zwar von Frau Vogler.
({1})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Ministerin, nun mal Butter bei die Fische: Die US-Armee hat bekannt gegeben, dass sie das Manöver „Defender 2020“ als Stresstest für die deutsche Verkehrsinfrastruktur ansieht. Nun bin ich als Bahnfahrerin nicht der Ansicht, dass ein weiterer Stresstest unbedingt dazu beiträgt, dass die Situation für Pendler besser wird; aber das steht auf einem anderen Blatt. Was mich interessiert, ist: Was denkt die Bundesregierung, in welchem Umfang Schäden an der zivilen Infrastruktur entstehen werden? Haben Sie im BMVg dazu Rücklagen gebildet, und in welcher Art und Weise gedenken Sie schnell und umfangreich mögliche Schäden zu beseitigen?
Frau Ministerin.
Zunächst einmal ist dieser Transport, sowohl von Menschen als auch von Material, in der Tat einer der größten Transporte, die wir seit den 80er-Jahren hatten. Das ist wohl damit gemeint, wenn vom „Stresstest“ gesprochen wird. Wir sehen, inwieweit unsere öffentliche Infrastruktur, zum Beispiel Brücken, dem standhalten, was sie sonst auch bei Schwerlastverkehr aushalten müssen. Insofern haben wir noch keine vorausschauende Überlegung oder Planung, was möglicherweise an Schäden entstehen kann. Wenn Schäden entstehen, gibt es entsprechende Regularien, wie damit umzugehen ist. Diese gelten dann auch für diese Übung.
Vielen Dank. – Graf Lambsdorff, bitte kurz. – Wir verlängern diese Debatte.
Ich mache es ganz schnell. – Wir hören hier von den Kollegen der Linksfraktion eine wahnsinnige Aufregung über eine Verlegeübung von 20 000 Soldaten. Frau Ministerin, glauben Sie, dass die Kollegen der Linksfraktion zur Kenntnis genommen haben, dass das russische Manöver Sapad 2017 mit 100 000 Soldaten durchgeführt wurde, von denen nur 12 700 gemeldet wurden, damit man nicht über die Grenze von 13 000 kommt; denn dann müssen Beobachter eingeladen werden? Glauben Sie, die Kollegen haben das zur Kenntnis genommen?
({0})
Frau Ministerin.
Die Antwort wäre Spekulation;
({0})
aber wenn man sich die Qualität der Fragen anschaut, liegt die Vermutung nahe.
({1})
Ich kann die Debattenzeit um zehn Minuten verlängern. Ich glaube, Sie sind damit einverstanden, weil es ja eine sehr lebendige Fragerunde ist. – Dann kommt jetzt als Nächster Dr. Lindner und danach Herr Nolte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Ministerin, Sie sind in Ihren einführenden Bemerkungen auch auf den Jahresbericht des Wehrbeauftragten eingegangen. Der Wehrbeauftragte hat aus unserer Wahrnehmung heraus gestern ein sehr niederschmetterndes Bild über den Zustand der Bundeswehr gezeichnet. Wenn man sich den Bericht durchliest, stellt man fest: Er liest sich an vielen Stellen wie eine Kopie der Berichte der Vorjahre, und zwar nicht, weil Textpassagen kopiert wurden, sondern weil Dinge wie die Materiallage, die Einsatzbereitschaft nicht nur nicht in kleinen Schritten vorankommen, sondern nahezu stagnieren, und das, obwohl seit 2013 der Verteidigungsetat überproportional Jahr für Jahr wächst im Vergleich zum gesamten Bundeshaushalt. Vor dem Hintergrund möchte ich Sie in den letzten 15 Sekunden, die ich habe, fragen: Was wollen Sie denn anders machen als Ihre Vorgängerin, damit wir nicht wieder in einem Jahr oder in zwei Jahren dastehen und die gleiche Diagnose haben? – Danke schön.
Frau Ministerin.
Im Bericht des Wehrbeauftragten ist die Situation, was die materielle Einsatzbereitschaft anbelangt, sehr zutreffend geschildert worden, und ich habe eben sehr deutlich gesagt: Dieser Zustand ist nicht akzeptabel; er muss ganz dringend verbessert werden. Das war auch schon Gegenstand der Leitungsklausur zu Beginn dieses Jahres. Dort ist ein Sofortprogramm zur Verbesserung der materiellen Einsatzbereitschaft, auch zur Verbesserung des Abflusses der Haushaltsmittel beschlossen worden.
Daneben gibt es auch mittelfristigere Maßnahmen. Sie wissen, dass wir in einer Umstrukturierung des BAAINBw sind und andere Maßnahmen vorhaben. Das wird in diesem Jahr der absolute Schwerpunkt auch der ministeriellen Arbeit sein.
Herr Lindner.
Eine Nachfrage noch. Wenn wir uns im Verteidigungsausschuss Berichte zur Einsatzbereitschaft und auch zum Zulauf von neuem Material anschauen, dann ist nicht nur von Personalmängeln bei bundeswehreigenen Dienststellen zu lesen, sondern eben auch, dass die Industrie nicht vertragsgemäß und verspätet liefert, weil sie Personalmängel hat und anscheinend Dinge versprochen hat, die sie nicht einhalten kann. Welche Konsequenzen möchten Sie denn daraus ziehen? Denn ich kann mir vorstellen, dass die meisten Unternehmen, deren Namen ich in diesem Bericht lese, ja auch in Zukunft Verträge mit Ihrem Haus abschließen wollen.
Frau Ministerin.
Es ist in der Tat so, dass wir bei verschiedenen Ausrüstungsprojekten ein wenig auf der Stelle treten, weil etwa Ersatzteile fehlen oder die Bearbeitung auch im zuständigen Unternehmen nicht so schnell vonstattengehen kann, wie das geplant ist.
Das heißt für uns insbesondere, dass wir die Verträge, die wir jetzt für die Zukunft abschließen, in einer anderen Art und Weise abschließen müssen. Das heißt auch, dass wir eigene Fähigkeiten in der Bundeswehr wieder besser darstellen müssen. Genau das ist der Grund, weshalb wir zum Beispiel die HIL-Werke nicht privatisieren, sondern mit ihren Fähigkeiten in der Bundeswehr, also in der öffentlichen Hand, belassen und weiter nach vorne entwickeln und ausbauen, um auch ein gewisses Gleichgewicht zur Industrie zu schaffen.
Vielen herzlichen Dank. – Dann haben wir jetzt Jan Nolte. Und dann kommt die SPD mal wieder dran.
({0})
– Schau’n wir mal.
Sophia hat die Schlepperei angekurbelt, anstatt sie einzudämmen. Statistisch ist das gut nachzuweisen, und auch Unionsabgeordnete beklagen das ja in der Zeitung. Die IOM etwa erfasste in einer Statistik die Toten auf dem Mittelmeer innerhalb des ersten Halbjahres jeweils von 2014 bis 2019. Für 2014 – da gab es Sophia noch nicht – werden dort 800 Personen aufgelistet. 2015 – da gab es Sophia – waren es 2 000; im folgenden Jahr waren es schon fast 3 000 Personen. Im letzten Jahr von Operation Sophia, 2018, waren es immerhin noch 1 500 Personen. Als die Operation eingestellt war, sank diese Zahl sofort um zwei Drittel auf 500. Meine Frage: Wollen Sie die Operation Sophia wieder fortführen, auch wenn dann in Zukunft mehr Migranten auf dem Mittelmeer sterben?
Frau Ministerin.
Wenn Menschen sich – egal unter welchen Umständen – in Seenot befinden, müssen sie gerettet werden. Das ist eine humanitäre Verpflichtung, und dazu stehen wir.
({0})
Ich bin grundsätzlich der Auffassung, dass es besser ist, wenn wir dies kontrolliert und durchaus auch mit staatlichen Einrichtungen oder Mitteln machen, als es Privaten zu überlassen.
Aber es gibt einen ganz klaren Punkt zur Operation Sophia: Sie ist zurzeit ausgesetzt, weil man sich über grundlegende Fragen auch der Aufnahme derjenigen, die gerettet werden, innerhalb der Europäischen Union nicht geeinigt hat. Solange diese Einigung nicht erfolgt, ist diese Operation ausgesetzt und wird nicht wieder aufgenommen.
Herr Nolte, haben Sie eine Nachfrage?
Ja, ich habe eine Nachfrage. – Vielen Dank so weit, Frau Ministerin. – Australien fährt da ja eine andere Strategie. Da wird jeder zurückgebracht. Seit 2013 gibt es dort keine Toten mehr auf dem Meer. In derselben Zeit dürften es bei uns an die 20 000 gewesen sein. Da frage ich Sie: Warum gehen wir nicht zur australischen Strategie über? Sind diese Menschenleben das wert?
({0})
Eines möchte ich noch hinzufügen: Selbstverständlich müssen Menschen aus Seenot gerettet werden; aber das war an keiner Stelle meine Frage.
Frau Ministerin.
Für mich ist jedes Menschenleben es wert, dass man versucht, es zu retten – nach bestem Wissen und Gewissen.
({0})
Der zweite Punkt ist: Wenn Sie sich die Situation der Anrainerstaaten auf der anderen Seite des Mittelmeeres anschauen – wir haben vorhin in anderem Zusammenhang darüber gesprochen, Stichwort: Libyen und die Situation der Einrichtungen dort –, dann zeigt sich, dass sich das zurzeit ausschließt. Und wenn wir versuchen, dort zu stabilisieren, dann tun wir das deshalb, um den Menschen zu ermöglichen, vor Ort zu bleiben und den gefahrvollen Weg über das Mittelmeer nicht antreten zu müssen. Aber wir sind noch ein gutes Stück von dieser Situation entfernt.
({1})
Vielen Dank. – Dann kommt jetzt Johann Saathoff.
Frau Ministerin, die Vergabe des Auftrags für das MKS 180 an die niederländische Werftengruppe Damen bedeutet natürlich auch eine Neustrukturierung des Werftstandorts Deutschland an sich. Sie haben gerade von 70 Prozent Wertschöpfung in Deutschland gesprochen. Meine Information ist: Damen hat 80 Prozent zugesagt. – Gibt es neue Erkenntnisse dazu? Selbst wenn diese Wertschöpfung so stark in Deutschland stattfindet: Wie werden Sie konkret diese Neustrukturierung der Werftenstruktur in Deutschland begleiten?
Frau Ministerin.
Wenn ich „70 Prozent“ sage, dann ist das sozusagen der untere Rand. Es stimmt, dass 80 Prozent zugesagt sind, und ich freue mich sehr, wenn es 80 Prozent oder sogar noch mehr sind. Aber ganz am unteren Rand, sehr, sehr konventionell gerechnet, sind es 70 Prozent. Wichtig ist aber, dass ein Großteil der Wertschöpfung in Deutschland stattfindet, dass wir gerade mit Blick auf den Schiffbau, auch den Oberwasserschiffbau, konsolidieren müssen. Das hat, glaube ich, auch dieses Verfahren noch einmal gezeigt. Das ist einer der Punkte, von denen wir auch im Zusammenhang mit dem, was ich vorhin erwähnt habe, als Bundesregierung gesagt haben, dass wir dies zum Thema machen und dass wir dies auch entsprechend politisch begleiten wollen.
Herr Saathoff, Sie haben eine Rückfrage.
Besonders für meine Heimat Emden ist diese Entscheidung keine gute Botschaft, weil die Konstruktion bisher in Emden stattgefunden hat. Sie stimmen ja mit mir überein, dass Marineschiffbau ein Stück weit auch immer Strukturpolitik ist, nicht nur in Deutschland, sondern eigentlich auf der ganzen Welt. Gibt es Pläne für künftige Ausschreibungen von Militärschiffen? Werden Sie dann die Schlüsseltechnologie Überwasserschiffbau, wie wir das seit Jahren im Parlament gefordert haben, konsequent fördern, und werden Sie strukturpolitische Gründe auch mit in Ihre Entscheidungen einfließen lassen?
Frau Ministerin.
Sie haben vollkommen recht: Das hat sehr viel mit Strukturpolitik zu tun. Wenn wir „Konsolidierung“ sagen, dann meinen wir damit vor allen Dingen, dass wir auch international wettbewerbsfähig sind. Das betrifft aber weniger die Frage, was wir möglicherweise innerdeutsch an Standorten konzentrieren. Wenn wir die Rechtslage kennen und eine Liste dessen, was wir unter schützenswerter Schlüsseltechnologie verstehen, vorliegen haben, gibt uns das die Möglichkeit, beim nächsten großen Rüstungsvorhaben anders zu verfahren, als wir es beim MKS 180 getan haben.
Vielen Dank. – Jetzt lasse ich noch eine Fragestellerin zu, und das ist die Kollegin Kerstin Vieregge. Frau Vieregge, bitte.
Frau Ministerin, im vergangenen Jahr hat dieses Parlament zwei zentrale Vorhaben im Bereich der Fürsorge-, Sozial- und Besoldungsgesetzgebung beraten und verabschiedet, das Besoldungsstrukturenmodernisierungsgesetz und das Bundeswehr-Einsatzbereitschaftsstärkungsgesetz. Gibt es mittlerweile – sie sind noch relativ neu, ist ganz klar – schon Erkenntnisse über die Wirksamkeit und vor allem auch darüber, wie sie von den Soldaten bzw. zivilen Beschäftigten der Bundeswehr wahrgenommen werden?
Frau Ministerin.
Sie haben zu Recht diese beiden – aus meiner Sicht – sehr grundlegenden, wegweisenden Gesetze erwähnt, mit denen wir die Situation, auch die soziale Situation, der Soldatinnen und Soldaten an vielen Stellen verbessert haben. Ein herzliches Dankeschön an das Parlament; denn viele der Verbesserungen sind letztendlich erst im Laufe des parlamentarischen Verfahrens festgelegt worden. Die ersten Erfahrungen: Wir befinden uns im Moment in der Umstellung, im Ausrollen, zum Beispiel auch der neugeschaffenen Zulagen, aber die ersten Erfahrungen sind hier durchweg positiv. Das, was im Gesetz verankert ist, war ein massiver Wunsch, auch aus der Truppe selbst. Insofern ist die Zufriedenheit, dass man diesem Wunsch gerecht geworden ist, auch sehr hoch.
({0})
Frau Vieregge.
Glauben Sie, dass durch diese beiden Gesetze die Ziele der mittelfristigen Personalplanung erreicht werden können?
Sie sind auf jeden Fall sehr hilfreich; denn wenn man sich die Personalsituation in der Bundeswehr anschaut, auch über die verschiedenen Truppenteile hinweg, dann sieht man, dass wir durchaus größere Herausforderungen haben, zum Beispiel insbesondere bei der Marine. Das hat etwas damit zu tun, dass der Dienst dort oft monatelange Abwesenheit mit sich bringt hat und dadurch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf natürlich besonders schwer ist. Deshalb arbeiten wir dort auch mit entsprechend höheren Zulagen. Das ist ein weiterer Anreiz. Das hilft uns auf jeden Fall.
Vielen Dank. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, werte Frau Ministerin, ich beende die Befragung der Bundesregierung.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben eine Aktuelle Stunde zum Thema „Wahlrecht in Deutschland“, weil es 80 Millionen Deutschen nicht zu erklären ist, dass die GroKo bisher nichts getan hat, um einen Bundestag, der gegebenenfalls 800, 820 oder 850 Abgeordnete groß ist, zu verhindern. Mit anderen Worten: Es ist ein Unding, dass Sie es nicht schaffen, eine Drucksache in diesem Haus auf den Tisch zu legen, in der steht: „Der nächste Bundestag muss kleiner werden“, und in der Sie uns sagen, wie Sie das machen wollen.
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Jetzt höre ich aus den Reihen der CDU/CSU und der SPD: Es ist so ein Zeitdruck, es ist so schwierig, und es ist alles so kompliziert. – Diese Ausrede zählt nicht. Denn: Herr Lammert hat Ihnen in der 18. Wahlperiode gesagt, man müsse das Wahlrecht reformieren, Herr Schäuble hat sofort in der 19. Wahlperiode eine Kommission eingerichtet, und Sie verweigern sich seit zwei Jahren jedweder Sacharbeit. Sie schicken Menschen in die Kommission, die keine Vorschläge machen, oder die Vorschläge werden zurückgezogen, und Sie kommen nicht auf eine Drucksache dieses Bundestages. Nichtstun ist Arbeitsverweigerung. Der Bundestag muss kleiner werden und arbeitsfähig bleiben.
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Jetzt plagt Sie aber anscheinend ein schlechtes Gewissen. Ich höre dann von der SPD, dass die Leute sagen: Ja, andere Länder haben auch so große Parlamente, weil die eine kleinere Bevölkerung mit mehr Abgeordneten haben; so schlimm ist das alles gar nicht. – Wir alle haben jetzt Neujahrsempfänge hinter uns, und wir alle haben die Erfahrung gemacht, dass wir darauf angesprochen werden. Ich frage die Leute: Wollt ihr lieber, dass eine Kleinstadt wie Kronberg in meiner Heimat zum Wahlkreis dazukommt, oder wollt ihr lieber einen Bundestag mit 850 Abgeordneten? Ich habe niemanden getroffen, der gesagt hat: Ich habe lieber 830 Abgeordnete anstatt eines Wahlkreises, der um 15 000 oder 20 000 Einwohner vergrößert worden ist.
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Es gibt diese Menschen außerhalb eines Segments im Deutschen Bundestag nicht.
Otto Graf Lambsdorff hat einmal gesagt: Wer den Sumpf trockenlegen will, darf nicht die Frösche beauftragen. – Ich finde diesen Satz – Lambsdorff hat viele gute Sätze gesagt – in puncto Parlamentsrecht falsch. Es ist unsere ureigene Aufgabe, selbst dafür zu sorgen, dass notfalls auch die Anzahl unserer eigenen Sitze weniger wird.
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Wir haben einen Vorschlag gemacht. Der kostet die Linke einige Mandate, der kostet die SPD proportional Mandate, der kostet die Grünen, die CDU/CSU, die FDP und die AfD Mandate. Auch wenn Letzteres am erfreulichsten ist,
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so ist es doch ein Vorschlag, der dazu führt, dass alle gleichermaßen schrumpfen.
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Nur ein solcher Vorschlag, wo alle etwas beitragen, hat Aussicht auf Erfolg; denn jede Stimme im Deutschen Bundestag muss gleich viel wert sein. Es kann nicht sein, dass zwei Fraktionen sagen: Wir wollen am Gesetzestisch das zurückgewinnen, was wir beim Wähler verloren haben, und wir besorgen uns, der CDU/CSU, mit einem Grabenwahlrecht trotz des schlechtesten Ergebnisses unserer Geschichte eine absolute Mehrheit.
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Jetzt schwirren mehrere Vorschläge im Haus herum, aber keiner ist ein Gesetzentwurf. Keiner legt irgendetwas vor. Deswegen bitten wir Sie inständig: Spielen Sie nicht weiter auf Zeit! Hoffen Sie nicht, dass es vorübergeht! – Dieser Appell richtet sich zuallererst an die CSU;
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denn wir alle wissen: Herr Brinkhaus ist bereit, darüber nachzudenken, ebenso wie Herr Heveling; alle sind konstruktiv.
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Aber immer sagt die CSU: Nein, wir wollen nicht. Wir wollen nichts tun, was uns auch nur ein einziges Mandat kostet. – Das, liebe CSU, ist parlamentarisch einfach nicht korrekt. Wir werden Ihnen das nicht durchgehen lassen!
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– Ja, es ist typisch, dass die CSU an der Debatte nur sehr selektiv teilnimmt, weil sie die Taktik hat: Wir tauchen ab, und am Ende sind wir beunruhigt, oder wir sagen: Wir machen mal einen Vorschlag.
Herr Frieser hat einen Vorschlag gemacht. Und wissen Sie, was mit dem Vorschlag passiert ist? Sein eigener Minister Herr Seehofer,
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in dem Fall aber Herr Krings als Parlamentarischer Staatssekretär, hat geschrieben: Lieber Herr Frieser, Sie haben einen Vorschlag gemacht, aber Ihr Vorschlag ist verfassungswidrig. Setzen, sechs!
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Das hindert Herrn Frieser – der auch nicht teilnehmen kann – nicht daran, zu sagen: Wir haben diesen wunderbaren Vorschlag; wir wollen den Divisor ändern; wir wollen irgendetwas machen. – Nein, sein eigener Minister verhindert das. Ich weiß nicht, in welchem Lager Herr Frieser steht, ob er für Söder und gegen Seehofer ist – das versteht man bei der CSU oft nicht so genau –;
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aber jedenfalls macht er einen Vorschlag, der verfassungswidrig ist.
Der Deutsche Bundestag muss arbeitsfähig, kleiner sein und in der nächsten Legislaturperiode 598 oder 630 Mitglieder haben. Es gibt einen Gesetzentwurf; wir haben ihn auf den Tisch gelegt. Wir könnten auch den Fraktionszwang aufheben und darüber abstimmen; dann gäbe es längst eine Mehrheit für unser Vorhaben. Ich fordere Sie auf: Hören Sie auf mit dieser weggeduckten Haltung, und reformieren Sie den Deutschen Bundestag! Er muss kleiner werden.
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Der nächste Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Michael Grosse-Brömer.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen, insbesondere Herr Kollege Ruppert! Ich schätze ja sonst die Diskussion mit Ihnen,
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aber in diesem Fall ist das schwierig mit der Wahrnehmung der Realität, und inhaltlich war das ja auch relativ dünn.
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Wir können gerne etwas ändern; aber dann müssen wir auch darüber reden, was der beste Weg ist, den Bundestag zu verkleinern und gleichzeitig die repräsentative Demokratie zu erhalten.
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Deswegen will ich es gleich zu Beginn sagen: Die CDU/CSU-Fraktion will die Größe des Bundestages begrenzen – das ist unstreitig –, und wir haben dazu eine Reihe von Vorschlägen gemacht. Im Übrigen liegen die schon seit mehreren Monaten auf dem Tisch;
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die hatten nur den Nachteil, dass sie von Ihnen regelmäßig abgelehnt wurden. Damit fing es an.
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Das Zweite ist: Ich erinnere nur an den Vorschlag des ehemaligen, noch gar nicht so lange nicht mehr im Amt befindlichen Bundestagspräsidenten Norbert Lammert. Er hatte als Bundestagspräsident seriöse Vorschläge gemacht, insbesondere einen ganz konkreten. Den haben wir für gut befunden;
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den haben wir als CDU/CSU-Fraktion genau mit Blick auf die notwendige Reduzierung der Zahl der Abgeordneten im Deutschen Bundestag in der Fraktionssitzung beschlossen.
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Nur waren alle anderen dazu nicht in der Lage.
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Deswegen meine Bitte: Wenn Sie nächstes Mal diese Debatte anstoßen, gönnen Sie sich wenigstens die Wahrheit, und behaupten Sie nicht immer, es liege immer nur an den anderen. Das ist schlicht falsch.
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Ich habe vorhin schon wieder gehört: Jetzt fängt der gleich wieder mit den Wahlkreisen an. – Natürlich fange ich mit dem Thema Wahlkreise an; denn – das muss ich Herrn Dr. Ruppert nicht erklären – gemäß normaler Rechtslage haben wir 299 Wahlkreise, die Direktkandidaten in den Deutschen Bundestag entsenden – nämlich diejenigen, die ihren Wahlkreis bei der Bundestagswahl mehrheitlich gewonnen haben –, und wir haben 299 Listenmandate. Jetzt eine ganz einfache Frage: Was hat sich da verschoben?
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Die Zahl der Mandate, die durch die Wahlkreise entstehen, ist gleich geblieben. Aus der Balance geraten ist die Zahl der Mandate, die über Listen in den Bundestag einziehen,
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weil es nämlich Überhangmandate und daraus resultierend Ausgleichsmandate gibt.
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– Das ist ja jetzt nur eine Beschreibung des Sachverhaltes. Ich weiß gar nicht, warum man sich darüber aufregt.
Jetzt stellt sich die Frage: Welchen Weg nehmen wir?
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Welchen Weg nehmen wir, um diesen Bundestag nicht größer werden zu lassen, sondern möglichst kleiner werden zu lassen? Über eines sind sich hier alle einig, glaube ich, nämlich: Einen definitiven Vorschlag dazu gibt es nicht,
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weil wir nicht wissen, wie die nächste Bundestagswahl ausgeht. Wir wissen noch nicht, wie sich darauf basierend die Mandate entwickeln. Deswegen ist die Behauptung, Sie hätten jetzt einen Vorschlag gemacht, der definitiv der einzig wahre ist, schlicht falsch.
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– Ja, ist schon klar. Der einzige, der Ihren Interessen entspricht.
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Das verstehe ich auch. – Wenn wir aber Vorschläge unterbreiten, die wir auch unter Berücksichtigung der Bürgernähe bei den Wahlkreisen machen, dann werden Sie nervös und rufen dazwischen, um möglicherweise die Argumente zu übertönen. Aber die Wirksamkeit dieser Argumente bleibt trotzdem hoch.
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Deswegen noch einmal: Wir haben eine repräsentative Demokratie, und Repräsentation bedeutet auch Bürgernähe. Ich glaube, wir können sagen: 70 Jahre Parteiendemokratie haben diesem Land sehr gut getan und 70 Jahre repräsentative Demokratie auch. – Aber Repräsentation funktioniert nur, wenn man mit den Bürgern ins Gespräch kommt und auch im Gespräch bleibt.
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Natürlich gibt es keine Abgeordneten erster und zweiter Klasse; aber die Idee, dass man vorrangig über Listen der Parteifunktionäre die Anbindung kreiert, ohne sich dem Wähler und dessen Argumentation auszuliefern, ist nicht das Ziel einer Repräsentation im Sinne unserer Demokratie, wie wir sie kennen und für die wir sehr dankbar sind.
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Wir müssen uns vor Ort auch die Frage stellen: Können wir uns Wahlkreise mit mehr als drei Landkreisen erlauben, wie es jetzt schon in Mecklenburg-Vorpommern der Fall ist?
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Ich glaube, wir müssen dafür sorgen, dass bei dieser notwendigen Reform – wir als CDU/CSU verweigern uns da nicht – das Parlament vor Ort in den Wahlkreisen sein Gesicht behält – nämlich das Gesicht der Abgeordneten, die vor Ort ansprechbar sind –, statt nur Abgeordnete zu haben, die man vielleicht auf irgendwelchen Landeslisten findet.
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Deswegen ist es wichtig, zu sagen: Es muss so bleiben, dass bei der Bundestagswahl auch das Ergebnis in den Wahlkreisen wichtig ist. Für viele Leute sind die Bundestagswahlergebnisse wichtig und nicht nur die Tage, wo Listen aufgestellt werden, wo man den Kollegen derselben Partei erklärt, warum man beim nächsten Mal möglichst weit oben auf der Liste platziert werden muss, damit man in den Bundestag kommt.
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Das kann nicht das wahre Ziel sein, und das ist bei Ihrem Vorschlag ja auch ein Stück weit berücksichtigt worden.
Ich will Ihnen deshalb sagen: Die Schlagseite im Verhältnis zwischen Direktmandaten und Listenmandaten müssen wir verändern. Deswegen glaube ich: Wir müssen für eine verfassungskonforme Regelung sorgen. – Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil, das sich einer unserer Vorschläge zu eigen gemacht hat,
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zum Beispiel vorgeschlagen, 15 Überhangmandate nicht auszugleichen.
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Herr Kollege, die Redezeit ist abgelaufen.
Ich komme zum Schluss. – Da brauchen wir nicht zu sagen: Das ist allein unser Punkt. – Das findet sogar das Bundesverfassungsgericht gut und richtig.
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Lassen Sie uns einen übergroßen Bundestag verhindern! Lassen Sie uns das Wahlrecht wieder ins Lot bringen! Wir sind dazu bereit. Auch Sie müssen sich bewegen, nicht nur die CDU/CSU.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Für die AfD-Fraktion hat das Wort der Kollege Albrecht Glaser.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Tat, das Thema ist aktuell. Die Zeit ist knapp.
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Das Einfachste, was man machen kann, ist, dass Sie erstens unserem Gesetzentwurf vom November 2019, Drucksache 19/15074, zustimmen, der nur eine kleine Änderung an dem jetzigen Wahlrecht beinhaltet, nämlich die Frist für die Kandidatenaufstellung um drei Monate hinauszuschieben. Ansonsten laufen wir am 25. März vor die Mauer, weil dann nichts mehr geht; denn dann gilt nach geltendem Wahlrecht die neue Kandidatenaufstellung. Das könnten Sie machen. Sie haben es zweimal im Ausschuss verschoben. Stimmen Sie dem zu, da ist inhaltlich noch gar nichts geändert.
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Zweitens. Die Bertelsmann-Stiftung hat vor der Bundestagswahl 2017 gesagt, das seit 2013 geltende Wahlrecht zum Deutschen Bundestag sei ein „Parlamentsvergrößerungsgesetz“ – Wortzitat der Professoren Grotz und Vehrkamp. Das Wahlergebnis hat diese Prognose genauestens bestätigt. Auch die Kollegen von der Bertelsmann-Stiftung haben gesagt, dass wir nach der nächsten Bundestagswahl über 800 Mandate hätten, weil sich nun einmal die demoskopischen, die politischen Verhältnisse geändert haben.
Drittens. Der im November von den übrigen Oppositionsparteien vorgelegte Gesetzentwurf – lieber Herr Ruppert, stilisieren Sie es nicht so hoch – ist keine Lösung.
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Sie sind also im Grunde, was die Lösungskompetenz angeht, auf dem Niveau Ihres Kollegen von der CDU; Sie haben nämlich auch keine Lösung.
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– Auf dem Niveau von Ihnen, Herr Grosse-Brömer.
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– Ich weiß nicht, wer von Ihnen sich da jetzt benachteiligt fühlt. Das müssen Sie untereinander ausmachen.
Ihr jetziges Modell sieht 648 Sitze vor; Sie sehen, dass es keine Lösung ist. Das Thema der Wahlkreisgröße kommt hinzu – das ist angesprochen worden –; das ist ein rationaler Einwand. Sie müssten alle Wahlkreise in der Bundesrepublik Deutschland neu einteilen, und das bis zum 25. März. Sie glauben doch nicht, dass Sie das hinkriegen.
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Ich sage Ihnen in aller Klarheit: Sie wissen, dass Sie das nicht hinkriegen, deshalb machen Sie hier eine Alibiveranstaltung und behaupten, Sie wären die Problemlöser, obwohl Sie wissen, dass Sie keine Lösung haben.
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Viertens. Das Problem im jetzigen System ist ein unauflöslicher Konflikt zwischen dem Direktwahlsystem und dem tragenden Prinzip der Verhältniswahl. Die partielle Direktwahl muss gegenüber der Verhältniswahl zurücktreten. Das eine muss oben, das andere muss unten sein.
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Jetzt sage ich Ihnen, was viele von Ihnen vielleicht gar nicht wissen: Allein sieben Überhangmandate der CSU, einer Partei mit 6,17 Prozent aller gültigen Zweitstimmen, verursachen 107,8 Ausgleichsmandate. Meine Damen und Herren, diese Expertise und auch die Zahl können Sie in mehreren wissenschaftlichen Darstellungen finden. Das müssen Sie sich vorstellen. Das bedeutet: Das personalisierte Verhältniswahlrecht, das wir haben, wird hier in ein Mehrheitswahlrecht mit Verhältnisausgleich umgebogen. Das ist eine Perversion, und die klugen Leute unter Ihnen werden das auch wissen und auch berechnet haben. Der Kult um das Direktmandat muss entzaubert werden. In Berlin hat eine Kollegin mit 22,5 Prozent das Direktmandat erworben. Das heißt, 88 Prozent wollten die Kollegin gar nicht.
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Sie ist aber die direkt gewählte Abgeordnete geworden und ist jetzt die Anbindung des politischen Systems an den Wahlkreis. Also, eine echte, einfache Wahlkreismehrheit haben nur ganz wenige errungen. Das alles hat mit direkter Demokratie – Sie können sie hier verbal hochstilisieren – nichts zu tun.
Fünftens. Die Lösung ist erstens die Beibehaltung der Wahlkreise,
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dann können wir das handwerklich nämlich schaffen.
Zweitens. Wir begrenzen die Direktmandate pro Bundesland auf die Anzahl, die der jeweiligen Partei nach ihren Zweitstimmen als Mandate zustehen. Wie geht das? Es klingt kompliziert, ist aber ganz einfach. Die nach Stimmen oder Prozentzahl schwächsten Direktbewerber, diejenigen mit 22, 23, 24 Prozent , kommen nicht zum Zuge.
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Das ist hoch demokratisch und very simple.
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Das könnten wir ganz schnell umsetzen.
Dies alles steht in unserem Sachantrag vom 16. Oktober 2019, Drucksache 19/14066. Ich habe diesen Vorschlag bereits vor Weihnachten 2018 gemacht. Sie schaffen es zwar, zu behaupten, es liege kein Vorschlag auf dem Tisch. Lieber Herr Ruppert, es liegt einer auf dem Tisch. Sie wissen, dass er vorlag, und er war immer besser als der von Ihnen. Das tut mir leid, dafür kann ich nichts; das liegt an der Klugheit meiner Mitarbeiter.
Schließlich sage ich Ihnen: Das ifo-Institut hat genau diese Grundstrukturidee, die ich Ihnen gerade dargelegt habe, vor wenigen Wochen ebenfalls ausgegraben. Das Gleiche hat die Bertelsmann-Stiftung in einer ganz neuen Zeit ausgegraben. In den Zeitungen steht, dass die Bertelsmann-Stiftung vor einigen Tagen bei den anderen Oppositionsparteien war, den Vorschlag – im Kern identisch – vorgestellt hat, und es sei kein Widerspruch der anderen kleinen Parteien erfolgt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie können das auch nachlesen in einem Aufsatz in einer juristischen Fachzeitschrift, dem „Archiv des öffentlichen Rechts“, von Herrn Professor Meyer, der früher Präsident der Humboldt-Universität –
Herr Kollege Glaser, die Zeit ist abgelaufen.
– und jahrzehntelang Wahlrechtsexperte war und diesen Vorschlag genauso gemacht hat. Er hat also das Zertifikat – ich komme zum Schluss – von der ersten Expertise dieses Landes. Ich kann Sie nur dringend einladen: Obwohl der Vorschlag von der AfD kommt, könnten Sie ja vielleicht mal zustimmen.
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Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Carsten Schneider.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen heute hier in der Aktuellen Stunde auf Verlangen der FDP-Fraktion über eines der ureigenen Themen unserer Demokratie, nämlich wie das Wahlsystem in Deutschland gestaltet ist, wie es Mehrheiten an der Wahlurne im Bundestag abbildet, wie wir in Deutschland beim personalisierten Verhältniswahlrecht bleiben können und die mögliche Vergrößerung des Bundestages bei zukünftigen Wahlergebnissen möglichst verhindern. Ich nehme an, der Anlass für die Aktuelle Stunde ist der Vorschlag, den die Opposition hier auch eingebracht hat. Ich habe dafür Verständnis und bin gern bereit, darüber hier zu diskutieren.
Grundsätzlich gilt, dass sich das Wahlrecht in Deutschland bewährt hat. Grundsätzlich gilt,
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dass es zwischen direkt gewählten Abgeordneten und Listenabgeordneten keinen Unterschied gibt. Sie sind gleich viel wert; sie sind gleich gewählt;
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sie haben die gleichen Rechte, und sie haben die gleichen Pflichten.
Das sage ich insbesondere vor dem Hintergrund, dass ich selbst in der Beziehung ein Zwitter bin, weil ich nämlich meinen Wahlkreis dreimal gewonnen habe und dreimal verloren habe. Die Kollegin Tillmann von der Union aus Erfurt hat ihn bis jetzt zweimal verloren und zweimal gewonnen.
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Die Qualität der Arbeit der Abgeordneten hat das nicht beeinflusst. Es hat natürlich einen Einfluss, wer dort kandidiert. Ich behaupte aber, das hat den geringeren Einfluss. Den Haupteinfluss haben immer der gesamte Trend und natürlich auch die Frage der Unterstützung der jeweiligen Partei in dem jeweiligen Wahlkreis.
Jetzt sind wir beim Punkt: Das Wahlgesetz gilt in Deutschland, so wie es ist. Es gleicht die Wahlergebnisse in den Wahlkreisen vollkommen aus – Herr Glaser hat das ja auch ausgeführt –, was aber dazu führen kann, dass es, wenn eine Partei ein sehr schwaches Zweitstimmenergebnis hat, mit den Erststimmenergebnissen aber sehr weit vorne liegt, zumindest so weit, dass sie teilweise mit 30 Prozent die Wahlkreise gewinnt, zu einer erheblichen Vergrößerung des Bundestages kommt. So ist es derzeit Gesetz in Deutschland.
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Um zu unterstreichen, dass das nicht aus der Luft gegriffen ist: Bei der Thüringer Landtagswahl war die Linkspartei mit den Zweitstimmen deutlich stärkste Partei mit, glaube ich, 31 Prozent. Die CDU hatte 22 Prozent. Bei den Erststimmen wiederum war die CDU deutlich stärkste Partei und die Linkspartei nur auf dem dritten Platz.
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– Ach, Herr Brandner, halten Sie einfach mal die Klappe.
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– Es ist unerträglich! – Das zeigt, dass wir in Deutschland mittlerweile ein zersplittertes Parteiensystem haben.
Unser Ziel als Sozialdemokraten ist, dass wir das personalisierte Verhältniswahlrecht in Deutschland beibehalten und es auch in der Zukunft gilt. Und damit es in der Zukunft gilt, müssen wir Veränderungen vornehmen. Warum ist das wichtig? Wir wollen nicht die gleiche Situation wie in den USA haben, wo Präsident Trump gewählt und ins Amt eingeführt wurde – das haben wir alle festgestellt –, obwohl er fast 3 Millionen Stimmen weniger hatte als seine Mitbewerberin Hillary Clinton. Das ist das amerikanische System.
Wir haben eine andere Kultur des Konsenses und des Ausgleichs. Genau diesen Konsens und Ausgleich wollen wir. Das sage ich auch in Richtung Opposition. Ich habe Ihren Vorschlag ernst genommen; wir haben ihn auch beraten. Ich halte insbesondere die Verringerung der Zahl der Wahlkreise um diese stattliche Anzahl, die Sie vorschlagen, für zu stark; denn die Vergrößerung der Wahlkreise, die damit einhergeht, hätte zur Folge, dass Abgeordnete einfach nicht mehr so viele direkte Kontakte pflegen können.
Auch das erläutere ich Ihnen am Beispiel meines eigenen Wahlkreises: Ich war mal Abgeordneter von Erfurt. Erfurt hat 200 000 Einwohner. Nachdem wir in unseren Wahlkreisen in Ostdeutschland, auch in Thüringen, Bevölkerungsverluste hatten, haben wir jetzt noch 8 Wahlkreise. Früher waren es 13. Die Fläche wurde entsprechend vergrößert, sodass zu Erfurt Weimar hinzukam. Das sind zwei Städte; das geht. Wenn Sie aber einen Wahlkreis mit einer großen Fläche haben und mehrere Landkreise zusammenkommen, ist es umso schwerer, tatsächlich noch präsent zu sein.
Ich halte es aber für die Vertreter einer Volkspartei oder generell einer Partei für sehr wichtig, dass wir noch den direkten Kontakt mit den Bürgerinnen und Bürgern haben, auch am Wochenende.
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Deswegen sind wir in dieser Legislatur für eine Veränderung der Anzahl der Wahlkreise aus den Gründen, die auch Herr Glaser genannt hat, nicht zugänglich. Das betrifft die Frage der Umsetzbarkeit, aber insbesondere auch die Frage des direkten Kontakts.
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Zweitens. Wir brauchen einen Deckel.
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Auch der Vorschlag der Opposition garantiert kein Nichtanwachsen des Bundestages.
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– In der Tat. Aber Sie können nicht klar sagen, ob es unter 700 sind. Sie können auch nicht sagen, ob es über 650 sind. – Aus diesem Grund schlagen wir vor, dass es eine Begrenzung nach oben gibt, einen Deckel, der bei einer Größenordnung liegt, die geringer ist als die jetzige Anzahl der Bundestagsabgeordneten.
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Wir sind im Gespräch mit der Union und wollen uns hinsichtlich der verschiedenen Möglichkeiten, die es gibt, auch gemeinsam positionieren. Wir werden den Bundestag rechtzeitig damit beschäftigen und noch in dieser Legislatur zu einer Entschlussfassung kommen.
Vielen Dank.
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Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege Friedrich Straetmanns.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Das erste Problem, das ich mit der heutigen Aktuellen Stunde habe, ist, dass sie überhaupt notwendig ist. Eine Aktuelle Stunde soll auf aktuelle Ereignisse Bezug nehmen. Die Frage der Reform des Wahlrechts ist aber gar kein aktuelles Thema, sondern ein Thema, das uns seit Beginn dieser Wahlperiode beschäftigt und mit dem wir uns als Parteien und Fraktionen auch in einer Kommission beschäftigt haben.
({0})
Der einzige konkrete Vorschlag, der von Grünen, FDP und der Linken vorgelegt wurde, ist ein Ergebnis der Mitarbeit in dieser Wahlrechtskommission.
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Von daher bin ich froh, dass sich die Arbeit insoweit ausgezahlt hat.
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Ja, natürlich hat Kollege Schneider recht, wenn er sagt, unser Vorschlag sei keine Garantie, dass der Bundestag, wie von uns prognostiziert, auf eine Größe von ungefähr 630 Abgeordneten abgeschmolzen werde. Aber er ist der einzige konkret vorliegende Vorschlag, der überhaupt in diese Richtung geht. Ich halte diese Reform für erforderlich, weil das ein Wunsch ist, den die Bevölkerung an uns herangetragen hat.
({3})
Wir haben diesen konkreten Vorschlag am 11. Oktober 2019 öffentlich gemacht. Wir haben ihn in Form einer Gesetzesinitiative eingebracht, und er hat eine Drucksachennummer. Er ist also diskutabel. Aber was tut die Große Koalition? Sie redet mit uns überhaupt nicht darüber. Wir haben immer deutlich gemacht, dass unser Vorschlag ein Gesprächsangebot ist. Aber man muss auch mal bereit sein, ein Gesprächsangebot anzunehmen und zu diskutieren. Das sind Sie offensichtlich nicht.
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Ich bin es an dieser Stelle auch, ganz ehrlich gesagt, leid und ärgere mich wirklich, dass ich Ihre Vorstellungen – die der Großen Koalition, vor allen Dingen der Union – immer nur den Medien entnehmen kann. Suchen Sie das direkte Gespräch. Unsere Fraktionsvorsitzenden haben ja aus lauter Verzweiflung einen Brief an Sie gerichtet, und morgen, habe ich gehört, soll es dann endlich zu einem Gespräch kommen. Das ist in Anbetracht der Laufzeit eine pure Frechheit gegenüber den Wählerinnen und Wählern.
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Ich will einen Punkt deutlich betonen, weil das auch immer wieder andiskutiert worden ist: Uns als Fraktion und Partei Die Linke ist die Frage eines paritätischen Wahlrechts, also einer gleichen Zahl von weiblichen und männlichen Abgeordneten in diesem Haus, extrem wichtig.
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– Darum können wir uns gerne kümmern. – Wir wollen auf jeden Fall einen geschlechtergerechten Bundestag haben. Dieses Thema haben wir auch ganz bewusst am Anfang in die damalige Wahlrechtskommission unter der Leitung von Herrn Schäuble eingebracht, und ich habe dann zur Kenntnis nehmen müssen, dass eine Wahlrechtsreform eventuell an diesem Thema gescheitert wäre. Um eine Wahlrechtsreform und die Reduzierung der Zahl der Abgeordneten nicht nur davon abhängig zu machen und um Ihnen von der Union keinen Vorwand zu liefern, die Wahlrechtsreform scheitern zu lassen, haben wir dieses Anliegen zurückgestellt; aber wir werden – das will ich deutlich machen – dieses wichtige Thema niemals aufgeben.
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Ich muss insbesondere aus dem Verhalten der Union – von Herrn Oppermann haben wir ja immerhin eine Zustimmung zu unserer Gesetzesinitiative als Einzelmeinung hören dürfen – schließen, dass Sie kein ernsthaftes Interesse haben, das Wahlrecht im Sinne einer wirklichen Verkleinerung und einer grundsätzlichen Reform anzupacken,
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auch wenn Herr Grosse-Brömer hier etwas anderes vorgetragen hat. Ihre Nichthandlungen stehen im Grunde für sich.
Andererseits bin ich es auch leid – mich erreichen viele Zuschriften von Bürgerinnen und Bürgern zum Thema Wahlrecht, die ihr Anliegen formulieren, dass der Bundestag kleiner werden soll –, wenn ich mich für eine Verkleinerung einsetze, wenn sich meine Fraktion dafür einsetzt, wenn sich meine Partei und meine Mitstreiter mit unserer Gesetzesinitiative dafür einsetzen, dass wir in eine politische Mithaftung genommen werden für das, was Sie hier veranstalten, nämlich Nichthandeln.
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Das ist Förderung der Politikverdrossenheit. Die Reform ist so wichtig, damit wir auch nach draußen zeigen: Wir sind handlungsfähig.
({10})
Ich wünsche mir, dass bei dem morgigen Gespräch der Fraktionsvorsitzenden ein konkretes Ergebnis herauskommt. Wir stehen – das haben Sie zu vertreten – inzwischen unter einem enormen zeitlichen Druck. Das wäre nicht notwendig gewesen, wenn dieses Gespräch viel, viel früher stattgefunden hätte.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege Straetmanns. – Die nächste Rednerin ist für Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Britta Haßelmann.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Zeit drängt. Das weiß jede und jeder in diesem Haus. Aber der einzige Vorschlag, der dem Bundestag vorliegt, der auch in einer Anhörung diskutiert werden kann, ist der der Fraktionen der FDP, Grünen und Linken.
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Meine Damen und Herren, das ist der einzige Gesetzentwurf, den es gibt,
({1})
obwohl die Zeit drängt und obwohl es verantwortungslos wäre, nicht zu handeln. Das mache ich Ihnen von der Koalition – Union und SPD – zum Vorwurf.
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Wir diskutieren seit 2013 über eine notwendige Reform des Wahlrechtes. Wir waren auch schon mal weiter als jetzt mit den Vorschlägen aus der Union. Gemeinsame Grundlage, meine Damen und Herren, war immer das personalisierte Verhältniswahlrecht. Wenn man das einfach so laufen lässt, wie es jetzt bei der Union läuft – die CSU erklärt jeden Tag aufs Neue, was sie alles nicht macht, und 46 Abgeordnete, die knapp 7 Prozent der Wählerstimmen erhalten haben, tanzen dem Rest der Union auf der Nase herum –,
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dann blockiert man eine Wahlrechtsreform. Gleichzeitig kommen Leute, die schon 2009 das sogenannte Grabenwahlrecht favorisiert haben, mit dieser alten Klamotte wieder aus dem Saal. Meine Damen und Herren, die Forderung nach Einführung des Grabenwahlrechts wird erhoben, weil man keine guten Zweitstimmenergebnisse mehr erzielt.
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Dann tut man so – Michael Grosse-Brömer, für wie blöd halten Sie uns eigentlich? –,
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als wäre das personalisierte Verhältniswahlrecht schon immer so ausgestaltet, dass 299 Abgeordnete direkt gewählt werden und weitere 299 über die Liste kommen.
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Meine Damen und Herren, so ist es nicht. Personalisiertes Verhältniswahlrecht bedeutet was ganz anderes. 299 direkt gewählte Abgeordnete und 299 Listenabgeordnete, das sieht das Grabenwahlrecht vor. Liebe SPD, wacht auf! Denn ihr werdet nicht mehr gebraucht, wenn sich dieses Wahlrecht durchsetzt.
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Dann hat diese Union nämlich die absolute Mehrheit von 335 Stimmen.
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Ich glaube mittlerweile, dass man als Union den Laden einfach einmal laufen lässt. Auch vom Vorsitzenden wissen wir nicht, was er will. Das ist bei der SPD im Übrigen genauso. Man spielt einfach auf Zeit, setzt ein bisschen auf Chaos und legt keinen eigenen Vorschlag vor. Meine Damen und Herren, das ist verantwortungslos.
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Dann sind wir immer wieder damit konfrontiert worden: der bessere und der schlechtere Abgeordnete. – Mittlerweile hat man gemerkt, wie es ist; denn Herr Dr. Schäuble als Bundestagspräsident hat sich schützend vor uns alle gestellt und gesagt: Hört mal auf mit dieser Mär. Es gibt nur den oder die Abgeordnete. – Um festzustellen, dass er recht hat, würde ein Blick ins Grundgesetz reichen.
Zu dem von Ihnen viel postulierten direkt gewählten Abgeordneten: Können Sie mir mal sagen, wieso so viele von ihnen in dieser Legislaturperiode trotz Direktwahl fluchtartig ihr Mandat aufgeben haben? In dieser Legislaturperiode sind sieben oder acht Abgeordnete ausgeschieden. Keiner aus ihrem Wahlkreis ist nachgerückt. Sigmar Gabriel, Herr Harbarth, Herr Kelber, Frau Mortler, Frau Reimann, Frau Schüle, Herr Stübgen – alle waren sie direkt gewählt, alle haben sie jetzt einen anderen Job, und für alle gab es keinen Nachrücker aus ihrem Wahlkreis. Mit der letzten Legislaturperiode könnten wir weitermachen. Da waren es über 15 direkt gewählte Abgeordnete,
(Dr. Florian Toncar [FDP]: Frau Schavan, Herr Pofalla, nach wenigen Wochen schon, direkt nach der Wahl!
die was Besseres in ihrem Leben vorhatten, was anderes machten. Da rückten Leute aus anderen Städten nach, von überallher. Das war alles kein Problem. Warum sollte das jetzt plötzlich ein Problem sein, meine Damen und Herren?
({10})
Auch die, die über die Liste gewählt sind, machen ihre Arbeit, und zwar gut. Heute ist es längst so, dass jede und jeder von uns Bürgersprechstunden anbietet, Wahlkreisarbeit macht und sich mit Verbänden und Initiativen trifft.
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Also, hören Sie auf, zu behaupten, das sei anders. Das ist eine Mär.
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Wir haben einen guten Vorschlag gemacht, FDP, Linke und Grüne gemeinsam. Er enthält die Grundlage des personalisierten Verhältniswahlrechtes. Er wirkt sich auf alle Parteien gleichermaßen negativ proportional aus. Auch wir verlieren danach Mandate; wir hätten nach diesem Vorschlag nicht – wie heute – 67, sondern 59 Abgeordnete. Es ist ein Vorschlag auf Grundlage des personalisierten Verhältniswahlrechtes. Wir reduzieren die Zahl der Wahlkreise. Wir erhöhen die Gesamtzahl der regulären Sitze moderat – damit federn wir die Härten ab –, und wir machen Schluss mit dem Verrechnungsschritt, der die Länderproporze sichert. Das ist ein guter Vorschlag; der ist fair und gerecht,
({13})
und er sichert das personalisierte Verhältniswahlrecht.
Meine Damen und Herren, ich stelle fest: Auch seit dem Jahr 2013 – seitdem diskutieren wir darüber – haben wir keinen Gesetzesvorschlag von Ihnen beiden, CDU/CSU und SPD. Sie tragen Verantwortung dafür, dass wir heute an diesem Punkt sind. Ein Spiel auf Zeit ist nicht länger hinnehmbar.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Ansgar Heveling.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 29. September 2011 erklärte der damalige Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion van Essen hier an dieser Stelle:
Ich rede deshalb ganz gern, weil ich finde, dass das Wahlrecht eines der wichtigsten Themen in einem Parlament ist. Das ist eine sehr sensible Materie, und deshalb sind alle, die sich damit beschäftigen, aufgerufen, damit sensibel umzugehen.
({0})
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Ob allerdings eine Aktuelle Stunde
({1})
der richtige Ort für diese Sensibilität ist, das möchte ich doch infrage stellen.
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Man kann ja auch den Eindruck nicht ganz loswerden, dass es Ihnen hauptsächlich darum geht, hier öffentlichkeitswirksam mit Ihrem Antrag zu punkten. Aber es geht um ein zentrales staatspolitisches Thema, und da geht es eben auch um Sensibilität.
Natürlich: Wir wollen eine Einigung bei der Wahlrechtsreform und sehen auch deren Notwendigkeit. Wir alle wissen auch, dass dafür nicht mehr viel Zeit bleibt. Aber dann müsste es doch unser gemeinsames Ziel sein, dass wir miteinander – nicht übereinander – sprechen
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und jeder für sich überlegt, wie wir da aufeinander zugehen können. Die letzten Tage haben Ihnen doch gezeigt, dass in der Union hier einiges in Bewegung geraten ist.
({4})
Aber natürlich ist es bei einer föderal strukturierten Volkspartei wie der CDU so, dass es eben auch unterschiedliche Interessen gibt, die berücksichtigt werden müssen. Dass es die Interessen der CSU gibt und dass es natürlich auch bei der SPD andere, unterschiedliche Auffassungen zum Wahlrecht gibt, muss berücksichtigt werden.
({5})
Mit uns kann es aber nur eine Lösung geben, welche die Bedeutung der Direktmandate für unsere Demokratie angemessen berücksichtigt. Wir finden, dass der Vorschlag der Opposition, der eine starke Reduzierung um 50 Wahlkreise vorsieht, dem eindeutig nicht gerecht wird.
Ich darf zitieren:
Der Vorschlag … die Zahl der Wahlkreise zu reduzieren, ist vielleicht gut gemeint … wäre aber eine Verschlimmbesserung. Denn die Direktwahlkreise in unserem Land sind ein ganz entscheidendes Bindeglied zwischen Bürger und Bundestag. Die Direktwahlkreise sind das Fundament für die Akzeptanz und Bürgernähe unserer Politik. Eine Verringerung der Zahl der Direktwahlkreise würde zu weniger Bürgernähe führen.
Besser hätte ich es nicht ausdrücken können – ist aber nicht von mir. Kollege Ruppert hat das hier im Deutschen Bundestag am 30. Juni 2011 gesagt.
({6})
Auch zum zweiten Element des Vorschlags der Opposition, zur Verrechnung von Überhangmandaten mit Listenmandaten, darf ich zitieren:
Dann müssten die Überhangmandate, die zum Beispiel in Baden-Württemberg … entstehen könnten, dadurch kompensiert werden, dass man bereits gewonnene Listenmandate in Nordrhein-Westfalen, Brandenburg oder anderswo abzieht. Das ist keine gerechte Lösung. Das ist eine grob ungerechte Lösung, gerade für die Länder, die in der Regel keine Überhangmandate erhalten. … Das ist eine föderalismusfeindliche Lösung. Die Länder werden doppelt bestraft: Sie erhalten keine Überhangmandate, und beim Ausgleich müssen sie für die anderen auch noch sozusagen die Kompensation leisten. …
({7})
Zugleich ist der Vorschlag bürgerfeindlich; denn er führt auch zu einer schlechteren Repräsentanz der Einwohner dieser Länder.
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Auch das ist vollkommen richtig, und auch das ist nicht von mir ausgeführt worden, sondern das hat im Jahr 2011 mein geschätzter Kollege Ruppert an diesem Pult gesagt.
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Natürlich sind wir bereit, mit Ihnen über all diese Stellschrauben konstruktiv zu reden; denn das sind die Ansatzpunkte, um die es geht. Aber ich glaube nicht, dass wir hier heute im Plenum eine Übereinkunft darüber finden können.
Vielen Dank.
({10})
Für die AfD-Fraktion hat das Wort der Kollege Tobias Peterka.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen! Den Bundestag gibt es nun seit über 70 Jahren. Zum Glück ist er stabiler und demokratischer als so manches deutsche Parlament vorher; aber das ist kein Freifahrtschein für Selbstzufriedenheit.
In der ersten Legislatur hatte der Bundestag bekanntlich gut 400 Sitze, heute kommen wir auf 709 Sitze – ein Rekord unter den Demokratien in der Welt. Die Wähler zweifeln inzwischen durch alle Milieus hindurch zu Recht daran, ob das noch gerechtfertigt ist. Diese Meinung schlägt oftmals auch auf den Parlamentarismus an sich durch, und das – das sage ich in aller Deutlichkeit – dürfen wir nicht zulassen.
({0})
Wenn Sie alle aus den gesetzten, angekommenen Parteien nun wie bekannt aufspielen und jeden progressiven Vorschlag als Populismus wegwischen, dann sprechen Sie den Wählern da draußen jede Urteilsfähigkeit ab; dabei wissen Sie ganz genau, was bei einer Volksbefragung zur Verkleinerung des Bundestags herauskommen würde. Daher ist dieses Instrument für Sie ohnehin Teufelswerk.
Wir freuen uns natürlich über jeden Abgeordneten, der in diesem Haus die Fahne für die AfD hochhält, ganz klar – aber nicht zu den Kosten, dass dann dafür einer von SPD, Grün, Links oder gar mehrere von der Union zusätzlich mit drinsitzen. Da machen wir uns nicht mit Ihnen gemein. Dieses Gruppenticket wollen wir so bald als möglich aufkündigen.
Frau Haßelmann, wir als AfD haben wiederholt – sei es in der Schäuble-Schaufensterkommission oder in Anträgen ans Plenum – gefordert, dass gemäß unserem Programm eine erhebliche Verkleinerung ohne Wenn und Aber umzusetzen ist, im besten Falle eine auf 450 Mitglieder. In der öffentlichen Diskussion und auch hier wieder kommt das freilich nicht vor. Da heißt es einfach: Regierung gegen Grün, Links und FDP, bzw. man betreibt einfach Hofberichterstattung für die gescheiterte Schäuble-Kommission.
({1})
Ich habe jetzt auch gelesen: Selbst die SPD möchte inzwischen zwingende Mann-Frau-Tandemwahlen zur Auflockerung einführen. Dazu fällt mir nichts mehr ein.
Erneut eine klare Ansage: Wer wirklich eine effektive Verkleinerung des Bundestages will, der hat die Unterstützung unserer Fraktion. Kommen Sie doch einfach bei uns vorbei.
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Reden Sie mit uns. Die Wege sind nämlich nicht so weit, wie Sie sich das vielleicht wünschen.
Nehmen wir das Scheinargument, man könne nicht viel mehr tun, außer Wahlkreise zu reduzieren oder komplizierte Divisoren einzuführen. Natürlich muss ein Parlament arbeitsfähig sein. Aber sind das andere nicht? Das Repräsentantenhaus der großen, föderalen USA zum Beispiel hat nicht einmal 450 Sitze. Beispiele dieser Art kann man endlos fortführen.
Inzwischen hat meine Erfahrung gezeigt: Es ist nicht entscheidend, ob in einem Untergremium mehr oder weniger Vertreter einer Partei sitzen und die Hand heben; es kommt vielmehr auf die vorbereitende Arbeit hinter den Kulissen durch die Mitarbeiter an.
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Den entscheidenden Arbeitsschritt macht natürlich hoffentlich immer noch der Abgeordnete. Aber für die Effektivität zählt schlussendlich die Leistung unter der Motorhaube und nicht, ob das Auto vier oder fünf Räder hat.
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Ich fordere Sie auf, den Vergleich durchaus ernst zu nehmen; denn der Bundestag trägt inzwischen – leider – eine erhebliche Last; er hat den ganzen Imperativ aus Brüssel umzusetzen. Von kritischer Auseinandersetzung damit kann hier nicht die Rede sein. Die findet sowieso kaum statt.
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Ich bitte also, auch vor diesem Hintergrund, um einen fähigen Apparat auf Arbeitsebene. Der Feldherrenhügel ist bereits ziemlich voll; 450 gewählte Vertreter sind genug. Sie alle wissen, dass die Verhältniswahl prägend ist und daher nicht jeder Gewinner eines Direktmandats bedient werden muss, schon gar nicht dann, wenn dieser zum Beispiel nur paarundzwanzig Stimmen erhalten hat. Daher fordern wir als AfD entsprechend dem Steuerzahlerbund und Stimmen in der Wissenschaft: Direktmandate nur bis zum Zweitstimmenanteil; danach die Niedrigsten konsequent kappen.
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Das Wahlrecht lässt dies auch zu. Gewählt ist, wer per Gesetz dazu bestimmt wird. Mit einem Multiplikator von 1,5 kommen wir als AfD auf eine feste, verlässliche Zahl von 450 Mitgliedern.
Wenn wir nun noch – ich komme ja aus Bayern – das urdemokratische Prinzip der offenen Liste einführen, ich also Kandidaten hochwählen und runterwählen kann, dann haben wir ein rundes System, das alle Verfassungsvorgaben erfüllt. Das spart Hunderte Millionen von Euro und stärkt unsere Demokratie wieder etwas. Die wird es brauchen, wenn auch ganz anders, als Sie sich das vielleicht denken.
Vielen Dank.
({7})
Für die SPD-Fraktion hat das Wort die Kollegin Yasmin Fahimi.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer an den Monitoren und auf den Tribünen! Lassen Sie mich am heutigen Tag, aber auch vor dem Hintergrund dessen, was der Herr Peterka gerade vorgetragen hat, eine kurze Bemerkung vorneweg machen: Der Deutsche Bundestag ist eine tragende Säule unserer Demokratie. Er ist auch und gerade vor dem Hintergrund unserer Geschichte, derer wir uns am heutigen Tag erinnert haben, ein Bollwerk gegen Antidemokraten, ein Bollwerk gegen alle Populisten, die aus unserer Demokratie einen Witz machen wollen. Unser Parlament muss ein Aushängeschild für Menschenrechte, Freiheit und verantwortliches Handeln sein.
({0})
Deswegen irritiert mich die sehr verengte Debatte ein wenig, in der es ausschließlich um die Größe des Parlaments geht, die offensichtlich als Ersatz dafür stehen soll, welchen Wert dieses Parlament hat.
({1})
Das wird der Wertigkeit dieses Hauses und das wird unserem Auftrag nicht gerecht.
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Ich sage auch – Achtung –: Meine Prognose ist, dass die Achtung unserer Demokratie nicht steigen wird, wenn wir über uns selbst als reinen Kostenfaktor reden.
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– Ich weiß, dass die AfD das alles nicht interessiert, aber mir ist das wichtig als Sozialdemokratin; denn so verstehe ich mich.
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Ich kann mich also nur wundern über die öffentliche Diskussion, in der unser Bundestag als überteuertes und lästiges Beiwerk verstanden wird. Ich bin der Überzeugung, dass das Vertrauen in die Demokratie in erster Linie nicht von der Größe abhängt, sondern von unserer Wirksamkeit.
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Aber ja, natürlich, es stellt sich auch die Frage, wie viele Abgeordnete angemessen sind, um eine verantwortliche Beratung und Entscheidung zu gewährleisten. Deswegen zur Info ein paar Fakten: Deutschland hat mit 8,6 Bundestagsabgeordneten pro 1 Million Einwohner noch ein vergleichsweise bescheidenes Parlament. Frankreich, Polen, Italien, Portugal, alle haben deutlich mehr Abgeordnete im Verhältnis zur Einwohnerzahl. Und die Kosten sind mit 12 Euro pro Kopf und Jahr auch durchaus überschaubar, finde ich. Ich jedenfalls kann allein daraus nicht ableiten, dass der Bundestag unverhältnismäßig groß angesetzt ist.
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Wenn wir ehrlich sind, müssen wir sagen: Auf diese Art und Weise sollte man nicht darüber reden, sondern wir müssen über die Aufstellung unseres Bundestages insgesamt reden und uns dem Thema anders nähern. Für mich beginnt Basisdemokratie im Wahlkreis – ja, in der Tat –, und zwar unabhängig davon, ob man direkt gewählt ist oder nicht; denn das ist eine Bezugsgröße für die Wählerinnen und Wähler, und das ist ein Verantwortungsraum, den ich als Abgeordnete habe, ebenfalls unabhängig davon, ob ich direkt gewählt bin oder nicht. Wenn ich mir Wahlkreise wie zum Beispiel Diepholz – Nienburg, Rotenburg I – Heidekreis oder Cuxhaven – Stade II in meinem Bundesland anschaue, dann stelle ich fest, dass diese Wahlkreise heute schon 2 500 bis 2 700 Quadratkilometer umfassen. Das muss man sich erst einmal vorstellen. Wenn man also jetzt einfach die Anzahl der Wahlkreise, wie vorgeschlagen, um 16 Prozent reduzieren würde,
({7})
dann würden diese Wahlkreise auf 3 000 Quadratkilometer anwachsen, und ich frage mich, wie man dann noch Bürgernähe herstellen soll.
({8})
Ich glaube also, dass diese Debatte alleine nicht zielführend ist und dass der vorliegende Vorschlag schlicht und ergreifend nicht zu Ende gedacht ist. Deswegen müssen wir weiter darüber beraten.
Ich wünsche mir, dass wir den Fokus in dieser Debatte auf etwas anderes legen. Wenn ich das mal kurz skizzieren darf: Wenn ich in dieses Parlament schaue, dann sehe ich erst einmal ein ganz anderes Problem, nämlich, dass hier viel zu wenige Frauen sitzen, und zwar insbesondere auf der rechten Seite des Plenums.
({9})
Deswegen sage ich: Wer eine Wahlrechtsreform will, der soll zuerst über Parität reden.
({10})
Ich fordere, dass nur noch quotierte Landeslisten zugelassen werden und dass Überhangmandate nur noch durch das jeweils schwächer vertretende Geschlecht ausgeglichen werden –
({11})
so lange, bis 50 Prozent erreicht sind. Das wäre ein ernsthaftes Zeichen von Wahlrechtsreform; denn diese fortwährende Männerdominanz hier im Parlament ist eine Zumutung für alle Menschen, die für ein gleichberechtigtes Menschenbild stehen.
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Ich wünsche mir außerdem, dass wir über die Länge der Wahlperiode reden und über eine Amtszeitbegrenzung für diejenigen, die auf der Regierungsbank sitzen.
({13})
Ich wünsche mir eine ernsthafte Wahlrechtsreform und nicht sozusagen einen hastigen Beschluss eines Einzelaspekts, der in der Systematik dann auch noch falsch ist.
Ich wünsche mir, dass wir stolz darauf sind, welche Demokratie wir uns aufgebaut haben, und dass wir junge Menschen motivieren, sich für diese Demokratie zu begeistern und sich für das Allgemeinwohl einzusetzen. Die Dinge haben nur den Wert, liebe Kolleginnen und Kollegen, den wir ihnen geben, und das ist insbesondere ein ideeller Wert.
Überlassen wir nicht den Wutbürgern unsere Parlamente! Schaffen wir neue Heldinnen und Helden der Demokratie!
({14})
Die Demokratie ist nie vollkommen, aber wir können sie besser machen. Das muss unser Ziel sein.
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Der nächste Redner ist für die FDP-Fraktion der Kollege Dr. Marco Buschmann.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und liebe Zuschauer! Der 1. Deutsche Bundestag hatte 410 Mitglieder, dieser Deutsche Bundestag hat 709 Mitglieder, und wenn wir auf der Basis des geltenden Wahlrechts und bei den jetzigen Umfragelagen wählen würden, dann hätte dieser Deutsche Bundestag über 800 Mitglieder. Das sind die Bürgerinnen und Bürger nicht bereit zu akzeptieren.
Die Bürgerinnen und Bürger wollen nicht, dass dieses Parlament unbegrenzt wächst. Die Bürgerinnen und Bürger wollen nicht, dass wir uns arbeitsunfähig machen und immer teurer werden.
({0})
Das erfinde ich nicht; das wollen über 90 Prozent der Bürgerinnen und Bürger, wie eine repräsentative Umfrage von Civey zeigt. Deshalb: Wenn fast 90 Prozent der Menschen in diesem Land eine Reform des Wahlrechts wollen, verweigern Sie sich nicht länger, sondern machen Sie bitte mit, liebe Kolleginnen und Kollegen der Großen Koalition!
({1})
Wir haben in diesem Haus in einer ungewöhnlichen Aufstellung von der Linkspartei über die Grünen bis zur FDP einen konkreten Gesetzentwurf vorgelegt.
({2})
Diese ungewöhnliche Allianz war möglich, weil wir uns gegenseitig mit Respekt behandelt haben. Wenn Sie es mit den Gesprächen, die Sie hier angekündigt haben, ernst meinen,
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dann kann ich Ihnen nur raten: Sie müssen in diese Gespräche mit Respekt einsteigen.
({4})
Wenn hier wieder versucht wird, eine Zweiklassengesellschaft von Abgeordneten herbeizureden, wonach die Direktgewählten die Guten und die anderen so eine Art Beifahrer sind, dann kann ich nur sagen: Das widerspricht nicht nur dem Leitbild unserer Verfassung, sondern das ist schlichtweg Unsinn.
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Man kann da jetzt mit dem Kopf schütteln; ich sehe das ja. Aber ich will Sie mal mit der Wahlrechtssoziologie in Deutschland und in Ihren Wahlkreisen bekannt machen.
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Es wird ja immer gesagt, es komme darauf an, dass wir das Verhältnis zwischen Wählern und Abgeordneten – Sie meinen damit immer die direkt gewählten Abgeordneten – nicht vergrößern. Daran hänge die Bürgernähe. Da ist es ja bemerkenswert, dass es schon heute extrem große Unterschiede bei der Anzahl der Wahlberechtigten in den einzelnen Wahlkreisen gibt – insbesondere übrigens in Bayern. Der Wahlkreis mit den meisten Wahlberechtigten ist der Wahlkreis 238 in Coburg, und der Wahlkreis mit den meisten Wahlberechtigten ist der Wahlkreis 243 in Fürth.
({7})
– Coburg hat die wenigsten. – Zwischen beiden Wahlkreisen haben wir einen Unterschied von fast 100 000 Wahlberechtigten. Lesen Sie es nach! Es hat Sie bislang nie interessiert, wie viele Bürger in den Wahlkreisen waren.
({8})
Die CSU hat das nie interessiert. Sie hätten bei der Bundesregierung, beim Innenminister intervenieren können. Sie haben es nie getan. Das Argument ist vorgeschoben. Das wissen Sie, und das wissen wir. Das lassen wir uns hier nicht bieten.
({9})
Das zweite Argument ist ja immer: Der direkt gewählte Abgeordnete ist mit Mehrheit gewählt und deshalb demokratisch legitimiert. – Das stimmt. Ich möchte hier auch ganz klar sagen: Ich habe Respekt vor jeder direkt gewählten Kollegin und jedem direkt gewählten Kollegen. Aber so zu tun, als ob nur diese sich Tag und Nacht für das Wohl der Bürgerinnen und Bürger einsetzten, ist schlichtweg Unsinn.
({10})
Ich habe Respekt vor allen Kollegen hier im Haus, die Tag und Nacht, im Feierabend und an Wochenenden sich für das Wohl der Bürgerinnen und Bürger einsetzen.
Die Mehrheit im Wahlkreis, von der Sie immer reden – wir sind ja nicht in einem Zwei-Parteien-System, einige müssen noch umschalten; wir sind ja hier im Hause mit sieben Parteien vertreten –, ist im Regelfall eine relative Mehrheit, die sich zum Beispiel im Wahlkreis Rostock – Landkreis Rostock II schon mit 29,5 Prozent einstellt, im Wahlkreis Dresden I mit 24,6 Prozent oder im Wahlkreis Berlin-Mitte schon mit 23,5 Prozent. Ihre relative Mehrheit hat immer eine absolute Mehrheit von zum Teil über 70 Prozent gegen sich. Wo ist das denn demokratischer, als über die Liste gewählt zu werden? Den Unterschied gibt es gar nicht!
({11})
Diese Zahl zeigt auch schon – die Kollegin Haßelmann hat es angedeutet –, was die Krux an all diesen Mehrheitswahlrechtsvorschlägen ist. Das Mehrheitswahlrecht, ob verkappt als Grabenwahlrecht oder sonst wie eingeführt, führt dazu, dass kompakte Minderheiten zu relativen Mehrheiten werden können, die dann zu absoluten Mehrheiten im Parlament führen. Ein Wahlrecht, das es einer Minderheit möglich macht, über die Mehrheit zu herrschen, nenne ich undemokratisch.
({12})
Hören Sie auf, über das Mehrheitswahlrecht zu spekulieren. Das ist undemokratisch.
Ein letzter Gedanke in Richtung Bundesregierung, um sie auch noch in die Debatte einzubinden. Sie von der Bundesregierung klagen ja darüber, dass der Deutsche Bundestag Ihnen zu viele Fragen stellt und Sie damit gewissermaßen von der Arbeit abhält; jedenfalls konnte ich das den Medien entnehmen. Das ist direkte Folge der Größe dieses Deutschen Bundestages. Wenden Sie sich nicht an die Opposition mit der Klage, dass sie nicht so viele Fragen stellen soll, sondern wenden Sie sich an die Sie tragenden Fraktionen mit der Aufforderung, an einer Verkleinerung des Bundestages mitzuwirken.
({13})
Dann erledigt sich die Zahl von Anfragen von ganz alleine.
Herzlichen Dank, meine Damen und Herren.
({14})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat als Nächstes das Wort der Kollege Michael Frieser.
({0})
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kollegen! Sie hörten einen Redner, der in seinem Wahlkreis in Gelsenkirchen 6,5 Prozent der Erststimmen erhalten hatte und dessen Wahlkreis dann am Ende mit 38 Prozent an die SPD ging. Ich sage das, damit sich Ihre Perspektive – übrigens, Herr Präsident, ohne Tortendiagramm, ohne Balkendiagramm; ich habe nichts, was ich den Zuschauern zeigen könnte – notwendigerweise ein Stück ändert.
Keiner aus der Union, keiner aus der SPD hat hier jemals einen Unterschied zwischen einem Mandatsträger mit einem Direktmandat und einem mit einem Listenmandat gemacht.
({0})
Das ist unwahr.
({1})
– Regt euch nur auf. Es gibt im Gesetz keinerlei Unterschied. Abgeordneter bleibt Abgeordneter.
({2})
Frau Haßelmann trocknen Sie Ihre Krokodilstränen. Sie haben dem Kollegen Grosse-Brömer den Vorwurf gemacht, er hielte Sie wohl für blöd.
({3})
Tun Sie mir bitte dieselbe Ehre an!
Es geht hier doch überhaupt nicht um die Frage, ob es einen Unterschied zwischen uns gibt. Alle machen ihre Arbeit.
({4})
Es geht um die Frage des Weges in dieses Parlament. Da ist das personalisierte Verhältniswahlrecht eben eindeutig. Es ist eindeutig, dass es eine personelle, eine tatsächlich direkte Komponente und eine Mehrheitswahlkomponente hat. Das können Sie doch nicht in Abrede stellen. Also, hören Sie bitte auf, diesen Unterschied auf unnatürliche Weise herbeizuführen! Wir wollen ihn nicht. Wir wollen uns nur ans Recht halten.
({5})
Deshalb muss man mit dieser Aussage deutlich aufräumen, Ihre Vorschläge hülfen, irgendwie die Welt beim Drehen zu hindern. Wir haben es über zweieinhalb Jahre in der Reformkommission versucht. Wir haben es berechnen lassen. Jedem ist klar, dass Ihr Vorschlag selbst dann, wenn 50 Wahlkreise gestrichen würden, diesen Bundestag nicht daran hindert, größer zu werden. Wie oft soll man das an diesem Pult eigentlich noch darstellen? Es hilft einfach nicht, wenn Sie eine Regel finden wollen, die das Problem, das wir analysiert haben, nicht löst. Deshalb ist der Vorschlag nicht tauglich.
({6})
Das Zweite, was ich noch sagen möchte, betrifft die Idee der Nichtzuteilung von Wahlkreisen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, stellen Sie sich vor, Sie führen einen Wahlkampf – das gilt übrigens auch für Listenmandatsträger; die führen nämlich auch Wahlkampf –, bewerben Sie sich um ein Mandat, erhalten dieses Mandat selbstverständlich mit relativer Mehrheit – mit welcher Mehrheit wollen Sie es denn sonst erreichen? –, und am Ende des Tages sagt Ihnen der Bundeswahlleiter: Tut mir wahnsinnig leid, aber es ging um 0,1 Prozentpunkte daneben; Sie werden nicht in den Deutschen Bundestag einziehen. – Das machen Sie mit dem deutschen Wähler nur ein einziges Mal. Beim nächsten Mal geht er nicht mehr zur Wahl.
({7})
Er wird nämlich definitiv nicht mehr erkennen, dass es auf sein Kreuz ankommt. Das ist das Kreuz mit der Demokratie: Sie rufen den Wähler zur Wahl, er versucht, jemanden zu wählen, und am Ende des Tages entscheidet ein Bundeswahlleiter darüber und sagt: Tut mir furchtbar leid, es hat nicht geklappt. – Da muss man doch zum Ergebnis kommen: Dahinter steht eine andere Idee.
Tut mir leid, auch diesen Vorwurf muss man mal erheben: Wer so mit dem personalisierten Verhältniswahlrecht umgeht, der meint es nicht besonders ernst mit dessen Elementen. Am Ende des Tages, glaube ich, läuft es darauf hinaus, dass man Wahlkreise für überhaupt nicht mehr notwendig erachtet, dass man dieses Land nur noch nach Listen und Verhältniswahlrecht entscheiden lässt.
({8})
Das mag gerne so in Ihr politisches Bild passen. Unser Bild ist es nicht. Der Wahlkreis ist entscheidend, weil er ein direktes Element der Demokratie ist.
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Ich darf vielleicht noch einmal ins Gedächtnis rufen: Die Listen der Parteien werden auf 16 Listenmandats- und Listenparteitagen erstellt. Die Bewerber für die Wahlkreise werden in 299 basisdemokratischen Aufstellungsversammlungen direkt gewählt. Die Legitimation durch den Wähler direkt vor Ort, der ein Gesicht, eine Person, einen Menschen haben will, der nach Berlin geht
({10})
– durch Schreien wird es nicht besser –, diese Legitimation, die vom Wähler vor Ort kommt, ist also eindeutig direkter als die der Listenmandate. Es heißt mehr Unabhängigkeit. Es heißt am Ende – um einmal das CSU-Motto zu zitieren –: „Näher am Menschen“.
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Letztendlich werden Sie die Frage hier nur lösen können, wenn Sie den Menschen für die Wahl eine deutliche Höchstgrenze versprechen, wenn Sie auch sagen können, wie viele Mandate der Deutsche Bundestag am Ende des Tages wirklich haben wird. Also: Versuchen Sie nicht, mit Ihren Nebelkerzen abzulenken!
({12})
Die Frage, die wir hier für die Arbeitsfähigkeit des Deutschen Bundestages zu klären versuchen, ist, wie wir am Ende eine echte Höchstgrenze erreichen; dabei darf es nicht nur um das Streichen und Zerschmettern von Wahlkreisen gehen. Damit tun Sie weder dem Wähler noch der Demokratie einen Gefallen.
Vielen Dank.
({13})
Nächster Redner: für die SPD-Fraktion der Kollege Mahmut Özdemir.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist nicht das erste Mal und sicherlich auch nicht das letzte Mal, dass wir hier über das Wahlrecht reden,
({0})
weil wir – Herr Carsten Schneider hat das gerade versprochen – noch in dieser Wahlperiode zu einer Lösung kommen werden. Ich finde es jedoch bedauerlich, dass wir nicht über das Mehren des Erfolgswertes von Stimmen streiten oder darüber, wie wir in diesem Land die Wahlbeteiligung erhöhen. Die Vorstöße bislang trugen zwar alle die Überschrift „Wahlrecht“, sie zielten aber alle auf einen einzigen Sachverhalt ab, nämlich auf die Anzahl der Mitglieder des Deutschen Bundestags.
Strebt eine Partei die Änderung der Geschäftsgrundlage an, ist es nicht nur im Zivilrecht üblich, dass sich alle Parteien an einen Tisch setzen, um eine Lösung zu finden,
({1})
sich erneut zu vertragen. Ohne eine solche Einigung, die alle Interessen gleichermaßen wahrt oder gleichermaßen schädigt, gibt es im Deutschen Bundestag keine Veränderung.
Das Wahlrecht ist die Geschäftsgrundlage unseres Zusammentretens hier als gewählte Abgeordnete. Ich betone es noch einmal gerne: Ob ein Mitglied dieses Hauses über seinen oder ihren direkt gewonnenen Wahlkreis einzieht oder über die jeweilige Landesliste einen Sitz erringt, mag höchstens am Wahltag von Belang sein. Wir dienen schließlich alle gemeinsam dem Wohl dieses Landes.
({2})
Ich wiederhole gerne noch mal die Zahlen, die die Kollegin Fahimi aufgegriffen hat. Wir sind insgesamt 709 Abgeordnete. Im Bundeshaushalt sind für Räumlichkeiten, Abgeordnetenentschädigungen und Ähnliches etwa 1 Milliarde Euro reserviert. Teilt man das – und das hat sie getan – durch 80 Millionen Einwohner, kommt man auf rund 13 Euro pro Bundeseinwohner jährlich. Das kostet unsere Demokratie. Betrachtet man 100 000 Einwohner, so ist deren Vertretung durch 0,8 Abgeordnete sichergestellt. In Europa ist dieser Wert, also Parlamentarier je 100 000 Einwohner, im Übrigen einer der geringsten im Vergleich aller 28 Parlamente.
Nun wird angeführt, der Bundestag sei zu groß. Angesichts der genannten Zahlen und Verhältnisse trägt diese Aussage auch nicht zwingend. Die Frage ist doch, liebe Opposition: Reden wir über die Größe des Deutschen Bundestages,
({3})
oder reden wir über die im Wahlrecht angelegte Selbstvergrößerung, die wir beschränken wollen? Damit meine ich die garantierten Mindestsitze. Die sind eben kausal für die Vergrößerung des Deutschen Bundestages und nicht die Zahl der Wahlkreise.
Die Oppositionsfraktionen haben einen Vorschlag gemacht, die Anzahl der Wahlkreise zu kürzen.
({4})
Dieser wahlrechtsimmanenten Selbstvergrößerung wollen Sie aber keinen Einhalt gebieten.
({5})
Irgendwo müssen Sie sich dann doch schon auf die Wahrheit beschränken, finde ich. Denn je besser man Stimmenerfolgswerte abbilden kann und je mehr man dafür Sorge tragen will, dass jedes Mandat eine etwa gleich große Stimmengewalt hinter sich vereinigt, desto größer muss ein Gremium werden. Gaukeln Sie also, liebe FDP, der Öffentlichkeit nicht vor, es ginge Ihnen darum, den Deutschen Bundestag zu verkleinern, wenn Sie das Türchen offen lassen wollen, dass er sich zu Ihren Gunsten weiter vergrößern darf.
({6})
Die wahlrechtsimmanente Selbstvergrößerung ist nämlich eine Garantie für Stimmgerechtigkeit. Diese mit dem Ziel der Verkleinerung des Deutschen Bundestages in Einklang zu bringen, ist dennoch verfassungsrechtlich möglich.
Ich finde: Lassen Sie uns gemeinsame Ziele statt Modelle formulieren! Lassen Sie uns diese Ziele gemeinsam wissenschaftlichem Sachverstand zuführen und in ein Sitzzuteilungsverfahren bringen,
({7})
das dem Wahlgesetz, der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Überhangmandaten
({8})
und dem Ausgleich der Verzerrung von Erst- und Zweitstimmen gerecht wird.
({9})
Erstens. Wir als Sozialdemokraten wollen eine wirksame Begrenzung durch eine noch zu bestimmende Höchstzahl der Mitglieder des Deutschen Bundestages.
({10})
Dabei wird nach einer Bundestagswahl zunächst die Sitzzuteilung nach Recht und Gesetz so durchgeführt, als gäbe es gar keine Begrenzung, um dann anhand des Proporzes wieder die Landeslisten auf eine gemeinsam bestimmte Höchstzahl, die über der Regelgröße von 598, aber unterhalb der heutigen Zahl liegt, herunterzukürzen. So dienen wir alle dauerhaft dem Ziel einer zumindest nicht weiteren Vergrößerung des Deutschen Bundestages.
({11})
Zweitens. Um die demokratische Vertretung vor Ort sicherzustellen und die Wahlkreisflächen nicht zu vergrößern, bleibt es dauerhaft bei 299 Wahlkreisen. Die Wahlkreissiegerinnen und Wahlkreissieger ziehen als Abgeordnete ungeachtet der Höchstzahl immer mit der Stimmenmehrheit im Wahlkreis in den Deutschen Bundestag ein. Alles andere wäre aus meiner Sicht auch verfassungswidrig.
({12})
Drittens. Alle Parteien – das ist für mich persönlich der wichtigste Punkt – werden dazu verpflichtet, ihre Landeslisten streng geschlechtergerecht zu besetzen, also im Wechsel Frau/Mann.
({13})
Das ist eines der aus meiner Sicht wichtigsten Ziele.
({14})
Ich habe Ihnen meine Ziele vorgetragen. Ich würde mir wünschen, dass wir alle gemeinsam, anstatt irgendwelche Modelle aufzustellen und Nebelkerzen zu werfen, sämtliche Ziele in einen großen Topf werfen, dass wir diese Ziele gemeinsam priorisieren, gemeinsam würdigen und dann zusehen, getragen durch wissenschaftlichen Sachverstand, dass diese gemeinsamen Ziele, die wir vereinbart haben, durch ein Modell umgesetzt werden, das dann Eingang in das Bundeswahlgesetz findet.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({15})
Der letzte Redner in der Aktuellen Stunde: der Kollege Philipp Amthor, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ja gut, dass wir hier intensiv und emotional um ein neues Wahlrecht ringen, und es ist auch gut und legitim, dass die FDP eine schnelle Einigung fordert.
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Und eine schnelle Einigung, liebe Kolleginnen und Kollegen – ob Sie das glauben oder nicht –, wollen auch wir von CDU und CSU. Aber wir wollen eben nicht nur eine schnelle Einigung, sondern auch eine gute und überzeugende Einigung. Und eine solche stellt Ihr Vorschlag nicht dar, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition.
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Denn Ihr Vorschlag, über den wir hier ja gelegentlich schon diskutiert haben, ist in diesem Hause nicht mehrheitsfähig, weil er die Direktmandate zu stark entwertet und weil er das Prinzip des regionalen Ausgleichs entwertet. Ich finde, daran wird wieder überdeutlich: Sie haben den Problemschwerpunkt einfach nicht erkannt oder wollen ihn nicht erkennen.
Michael Grosse-Brömer hat darauf hingewiesen: Das Bundeswahlgesetz sieht 598 Abgeordnete als Regelgröße vor, davon 299 in Wahlkreisen gewählt und 299 über die Listen gewählt. Die Realität ist seit Jahren, dass wir 299 direkt gewählte Abgeordnete haben und mittlerweile 410 Listenabgeordnete.
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Da muss man doch nicht sehr viel nachdenken, sondern es ist offensichtlich. Es reicht also nicht, wenn Sie nur eine schnelle Einigung fordern, sondern wir fordern von Ihnen auch schnelles Nachdenken darüber, dass das Problem bei den Listenmandaten liegt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({3})
Genau darauf muss aus unserer Sicht der Fokus gerichtet werden.
Das Problem bei dem Verhältniswahlrecht, wie wir es im Moment haben, und auch das Problem bei Ihrem Vorschlag ist einfach die fehlende Kalkulierbarkeit und die fehlende Nachvollziehbarkeit. Es kann doch nicht sein, dass wir ein System haben, bei dem man vielleicht zwar noch am Wahlabend weiß, wer in einem Wahlkreis ein Direktmandat gewonnen hat, bei dem man aber zusätzlich zum Jurastudium noch ein Mathematikstudium braucht, um zu verstehen, wer denn über die Liste gewählt ist.
({4})
Das ist ein System, das so nicht funktioniert.
Ich will Ihnen eins sagen: So populistisch und so einfach, wie Sie das hier dargestellt haben, ist das auch keine gute Geschäftsgrundlage. Denn das Wahlrecht können wir an vielen Stellen mit 50 Prozent plus x, also mit der einfachen Mehrheit, ändern. Wir haben einen Prozess, in dem die Regierungsfraktionen offen mit den Oppositionsfraktionen reden. Und Sie führen hier so ein Theaterschauspiel auf!
({5})
Da dürfen Sie nicht glauben, dass das irgendwie ein gutes Klima schafft, um dann besser miteinander reden zu können.
({6})
Ich finde, das ist nicht der richtige Umgang miteinander, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({7})
Die populistischen Lösungen, die vorgeschlagen werden, sind, isoliert betrachtet, doch auch nicht tragfähig. Wenn wir nur die Zahl der Wahlkreise reduzieren, kann das, selbst wenn wir 30 Wahlkreise streichen, dazu führen, dass ohne andere Methoden der Bundestag unterm Strich sogar noch größer ist als heute. Das ist einfach kein überzeugendes Momentum.
({8})
Und dann wird gefordert, wie wir es verschiedentlich gehört haben: Die Wahlkreissieger mit den vermeintlich schlechtesten Ergebnissen werden nicht in den Bundestag gewählt.
({9})
Erstens will ich mal daran erinnern: Diesen Vorschlag, der jetzt auch in der Opposition beliebt ist, den hat die AfD ursprünglich mal gemacht. Da will ich aber sagen: Was Sie bei der AfD zu Recht kritisiert haben, sollten Sie auch heute an sich selbst kritisieren, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({10})
Dazu, dass jetzt im Zuge einer Obergrenze auch diskutiert wird, dass einige wegfallen sollen, die einen Wahlkreis eigentlich gewonnen haben, also dann nicht im Bundestag sitzen sollen, muss man auch sagen: Das überzeugt doch nicht.
({11})
Wozu führt denn das? Herr Buschmann, Sie haben heute hier eine große Rede über Obergrenzen im Parlament gehalten. Ihr Vorschlag würde dazu führen, dass vielleicht im Wahlkreis Gelsenkirchen ein Abgeordneter, der zwar mit 20 Prozent das Direktmandat gewonnen hat, aber damit ein zu schlechtes Ergebnis erzielt hat, nicht einziehen soll, Sie dann aber mit 6,5 Prozent hier mit breiter Brust im Bundestag sind, nur weil Sie über die Liste abgesichert sind, oder was?
({12})
Das passt doch vorne und hinten nicht zusammen. Deswegen müssen wir schon darauf achten: Wer einen Wahlkreis hat und wer einen Wahlkreis mit relativer Mehrheit gewinnt, der muss danach auch im Deutschen Bundestag sein, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({13})
Ich glaube, es ist sinnvoll, über einen Deckel nachzudenken. Aber dieser Deckel kann eben nicht unkonditioniert sein.
({14})
Es kann nicht so sein, dass der Ausgleichsmechanismus direkt gewählte Abgeordnete entfallen lässt, sondern wir wollen, dass beachtet wird, dass direkt gewählte Abgeordnete auch ins Parlament kommen, und dass auch die regionale Verteilung beachtet wird.
({15})
Bekanntermaßen habe ich ein großes Herz für den ländlichen Raum; Sie wissen das. Mein Wahlkreis ist 1,96-mal so groß wie das Saarland. Aber ich habe an der Stelle auch mal ein großes Herz für die Städte. Denn ich finde, es kann auch nicht sein, dass dann, wenn wir den ersten Zuteilungsschritt weglassen, ein Ergebnis entsteht, bei dem wegen Überhangmandaten im Süden Deutschlands auf einmal keine Abgeordneten aus Hamburg und aus Bremen mehr im Parlament sind. Das kann doch nicht richtig sein.
({16})
Föderalismus ist eine Stärke dieses Landes. Deshalb müssen wir darauf auch setzen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Wir werden einen Vorschlag machen. Wir lassen uns von Ihnen nicht treiben.
({17})
Die Hand ist zu konsensualen Gesprächen ausgestreckt.
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Populismus ist jetzt nicht das Gebot der Stunde, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Vielen Dank, Herr Kollege Amthor. – Jetzt haben wir das alles auch ausführlich erörtert. Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich unterbreche jetzt die Sitzung bis 16.30 Uhr. Wir haben also fünf Minuten Pause.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die CDU/CSU-Fraktion hat schon seit Jahren für eine Zusammenführung des Energieeinsparungsgesetzes und der Energieeinsparverordnung mit dem Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz gekämpft. Deswegen begrüße ich den aktuellen Gesetzentwurf der Bundesregierung zum GEG ganz grundsätzlich. Die Zusammenlegung im Gebäudeenergiegesetz wird zu einer Vereinfachung der Verfahren und zu weniger Bürokratie führen. Sie führt zu mehr Planungssicherheit, und davon profitieren private Haushalte genauso wie die Wohnungs- und Bauwirtschaft, Baustoffproduzenten, Ingenieure, Architekten, aber auch Länder und Kommunen.
Der Gebäudesektor ist ein wichtiger; denn er hat für die Energiewende eine ganz zentrale Bedeutung. Hohe Energieeffizienz in Gebäuden senkt den Energiebedarf und, meine Damen und Herren, schützt Verbraucherinnen und Verbraucher sowie Unternehmen vor Energiepreissteigerung. Sie ist außerdem unverzichtbar, um Treibhausgasemissionen nachhaltig zu senken und Klimaziele zu erreichen. Denn immerhin verursachen Wohngebäude rund ein Drittel der CO2-Emissionen in Deutschland.
Und, meine Damen und Herren, entgegen einiger Behauptungen: Energieeffizienzinvestitionen und Energieeffizienzanforderungen führen nicht zu unverhältnismäßigen Baupreissteigerungen.
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Die Wirtschaftlichkeitsuntersuchung des BMWi zum Gebäudeenergiegesetz hat belegt und ergeben, dass es eben kein zentraler Kostentreiber ist. Vielmehr schaffen Energieeffizienzinvestitionen im Wohngebäudebestand Ambiente und darüber hinaus auch erhöhten Wohnkomfort. Die Energiewende dient der Erreichung unserer Klimaziele und der Stärkung der deutschen Wirtschaft. Das geht mit diesem Gesetz Hand in Hand.
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In Anbetracht dieser Bedeutung muss ich allerdings auch eines sagen: Das Gesetz hat – und das hat die Kollegin Verlinden gerade angesprochen – noch etwas Luft nach oben; ich sage das hier ganz freimütig.
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Deswegen freue ich mich auf eine ambitionierte Diskussion hier im Parlament und in den Ausschüssen. Ich will einige Dinge anführen.
Erstens. Die Vorbildfunktion der Liegenschaften der öffentlichen Hand kommt nach meiner Überzeugung noch nicht in dem Maße zur Geltung, wie es erforderlich ist.
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Insofern bin ich sehr dafür, dass wir in dem Bereich nicht unerheblich nachschärfen. Die Wirtschaftlichkeitskriterien sind selbst dann zu erreichen, wenn wir bei den Neubaustandards das KfW-Effizienzhaus 55 als Analogie nehmen. Meine Damen und Herren, es tut uns gut, wenn wir das ins GEG hineinschreiben. Ich glaube auch, dass die Sanierungen für den öffentlichen Gebäudebestand durchaus ambitionierter ausfallen und die Mindestanforderungen um gut die Hälfte erhöht werden können. Ich halte insofern eine Nachjustierung des Gesetzes für sinnvoll und erforderlich.
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Zweitens. Die Definition der wirtschaftlichen Vertretbarkeit verdient meines Erachtens einen ganzheitlichen Ansatz. Wir sollten die gesamtwirtschaftlichen Effekte stärker berücksichtigen. Wir sollten solche Dinge wie Komfortgewinne, Raumluft- und Lichtqualität sowie positive Auswirkungen auf die Gesundheit stärker gewichten und das durchaus auch in dem Gesetzentwurf verankern.
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Gleichzeitig können wir dann den Anforderungen, die wir im Rahmen des Klimapaketes an uns selbst gestellt haben, genügen. Das GEG bietet hierzu einen sehr konkreten Anlass.
Ich will – drittens – das Thema Innovationsklauseln ansprechen. Ich finde Innovationsklauseln richtig. Wir müssen das Thema „Klimaschutz und Vereinbarung mit Wirtschaftlichkeit“ neu denken. Dafür sind Innovationen dringend erforderlich. Ich will es allerdings auch ganz deutlich ansprechen: Innovationsklauseln dürfen nicht dazu missbraucht werden, ambitionierte Anforderungen zu unterlaufen. Auch darauf wollen wir gemeinsam im Gesetzgebungsverfahren hinwirken.
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– Ich freue mich über die fraktionsübergreifende Begeisterung für meinen Beitrag.
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Ich will – viertens – auf den Begriff „Quartier“ eingehen. Ich glaube, es tut not, dass wir bei diesem Begriff mehr Klarheit schaffen.
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Da bietet es sich aus meiner Sicht an, dass wir uns der klaren Formulierung im Energiewirtschaftsgesetz bedienen.
Abschließend noch einmal: Ich begrüße ausdrücklich die Initiative der Bundesregierung zum Gebäudeenergiegesetz. Die deutsche Wirtschaft hat meines Erachtens heute schon hervorragende technische Lösungen parat.
Ich freue mich auf eine spannende Beratung, bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und hinterlasse meinem Kollegen Lenz, glaube ich, eine Minute mehr Redezeit.
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Vielen Dank.
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Der Kollege Steffen Kotré hat das Wort für die AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Mit diesem Gesetz beschreiten wir jetzt weiterhin den Kurs in die sozialistische Energiepolitik,
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die nämlich gekennzeichnet ist durch Bürokratieaufbau, Ineffizienz, Fehlverteilung, Bevormundung, Enteignung und Verbote, meine Damen und Herren, und natürlich durch die sozialen Folgen, die sich daraus ergeben. Die Regierung redet hier von Entbürokratisierung, aber wenn wir mal ganz genau hinschauen, stellen wir fest, dass aus den 62 Paragrafen, die es vorher gab, 114 werden. Das ist also keine Entbürokratisierung, sondern das ist Bürokratieaufbau pur, meine Damen und Herren.
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Ab 2026 verbietet der Staat den Bürgern neue Ölheizungen. Alte Anlagen werden schon jetzt verboten, und auch das ist wiederum ein Zeichen sozialistischer Planwirtschaft, nämlich sozialistische Verbotskultur in Reinform. Die jetzigen Ölheizungsbesitzer werden durch diese planwirtschaftlichen Eingriffe ebenfalls enteignet; denn Heizöl wird teurer durch die neuen Maßnahmen,
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auch Ersatzteile für die Heizungen werden teurer durch diese neuen Maßnahmen, und es entstehen auch volkswirtschaftliche Schäden, weil wir eben nicht weiter an innovativen Lösungen arbeiten.
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Überhaupt ist der Zwang zur Nutzung einer bestimmten Energieform oder auch das Verbot von elektrischen Leistungskennzahlen ab einer gewissen Höhe ebenfalls Ausfluss sozialistischer Planwirtschaft, meine Damen und Herren.
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Dazu gehört eben auch, dass die Maßnahmen für energieeffiziente Gebäude genau das Gegenteil bewirken. Seit der Energieeinsparverordnung 2016 ist klar, dass die baulichen Veränderungen durch die Energieeinsparung gar nicht amortisiert werden. Herr Müller, wenn es denn so wäre, dann bräuchte man eben auch kein Gesetz. Und diese ineffizienten Bau- und Modernisierungskosten werden natürlich dann auf die Mieter umgelegt.
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Wir haben sowieso schon knappen Wohnraum. Wir haben 2 Millionen Fremde bei uns im Land, die den Wohnraum verknappen.
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Alles zusammen völlig unsozial, meine Damen und Herren.
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Überhaupt: Die übertriebenen Ökoauflagen verteuern dem Häuslebauer den Erwerb der eigenen Immobilie. Immer weniger Familien können sich ein Eigenheim leisten. Die Baukosten sind zwischen 2010 und 2018 zum Beispiel bei Doppelhaushälften um 65 Prozent gestiegen, aber die durchschnittlichen Löhne eben nur um 41 Prozent. Daran haben die vorliegenden Regelungen einen Anteil von circa 20 Prozent, meine Damen und Herren, und genau das ist unsozial.
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Und wie es in einer sozialistischen Planwirtschaft so ist, geht die Produktion am Bedarf vorbei.
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Die Bauindustrie hat sich hier in einem staatlich abgesicherten Nischenmarkt etabliert und eingerichtet, der vom Staat extra geschaffen wurde.
Eine Studie der TU München kommt zum Ergebnis, dass die thermischen Verluste diverser Bauweisen größtenteils hochgerechnet werden, aber die Einsparungen aufgrund der Wärmeeinstrahlung der Sonne niedriggerechnet werden. Unsere Gebäude werden also thermisch oft schlechtergerechnet, als sie sind. Wir reden hier von 20 bis 50 Prozent. Auch daran erkennt man ideologische Planwirtschaft, meine Damen und Herren.
Das vorliegende Gesetz beschneidet ganz klar die Freiheit der Bürger, sich selbst um die Energie- und Wärmeversorgung der Häuser zu kümmern. Es belastet und gängelt sie. Es ist ein Schritt in den Energiesozialismus.
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An dieser Stelle sei gesagt: Wir sollten die Gesetze nicht zusammenfassen, sondern sie einfach streichen.
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Und ich sage Ihnen: Freiheit statt Energiesozialismus!
Vielen Dank.
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Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Timon Gremmels.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man die Rede von Herrn Kotré so hört, stellt man fest, dass die beste Nachricht des Tages ist, dass die AfD künftig eine Minute weniger hier im Parlament spricht.
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Ich glaube, das schafft uns allen mehr Lebensqualität, und es führt zukünftig hoffentlich zu sachlichen Debatten, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Wie heute der „Tagesspiegel Background“ schreibt, ist das Gebäudeenergiegesetz besser als sein Ruf.
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Und ich kann nur sagen: Recht hat „Tagesspiegel Background“. – Wir schaffen mit dem Gebäudeenergiegesetz ein modernes Ordnungsrecht für klimafreundliches Bauen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Lassen Sie mich das an drei Punkten deutlich machen.
Erstens. Wir führen etwas zusammen, was zusammengehört, nämlich die Energieeinsparverordnung, das Energieeinsparungsgesetz und das Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz. Es ist überfällig, dass wir diese drei Dinge zusammen betrachten. Deswegen ist es gut, dass das Gebäudeenergiegesetz diese Regelungen bündelt. Zweitens. Wir entbürokratisieren und vereinfachen die Verfahren. Und drittens. Es erfolgt eine notwendige Umsetzung der Gebäudeeffizienzrichtlinie der Europäischen Union, meine sehr verehrten Damen und Herren. Hier sind wir vorangekommen.
Ja, ich als Sozialdemokrat hätte mir ebenso wie meine Fraktion – das sage ich ganz ehrlich – eine Verschärfung der energetischen Standards gewünscht. Das ist leider mit unserem Koalitionspartner derzeit noch nicht möglich. Aber auch ohne diese Verschärfung bringt das Gebäudeenergiegesetz den Klimaschutz spürbar voran.
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Auch das, meine sehr verehrten Damen und Herren, möchte ich an drei Punkten deutlich machen; ich bin dem Kollegen Müller dankbar, der zwei Punkte davon ebenfalls angesprochen hat.
Erstens: die sogenannte Innovationsklausel, zum Beispiel bei der CO2-Bilanzierung. Man muss nämlich nicht, wie bisher, ausschließlich auf den Primärenergieverbrauch achten, sondern künftig kann auch ein Gebäude, bei dem eine CO2-Einsparung erfolgt, die Vorgaben erfüllen. Ich glaube, das ist ein sinnvoller Ansatz mit Blick auf die CO2-Emissionen. Deswegen ist dieser Innovationsansatz richtig.
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Zweitens. Ebenfalls richtig ist, den Quartiersansatz zu verankern und auf den Weg zu bringen; denn die Energiewende wird zu einem Großteil in den städtischen Quartieren umgesetzt. Deswegen ist es richtig und wichtig, Gebäude nicht separat voneinander zu betrachten, sondern zusammen als Quartiere. Dieser Innovationsansatz ist richtig.
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Und drittens sage ich Ihnen auch ganz klar und deutlich: Ja, es wird ab 2026 ein Ölheizungsverbot geben, außer dort, wo es keine Alternativen gibt.
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Auf diese Einschränkung hat Herr Kotré eben anscheinend aus guten Gründen verzichtet; denn es lässt sich nicht so gut hetzen, wenn man über Fakten spricht.
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Wenn es keine Alternativen gibt, wird es auch in Zukunft noch Ölheizungen geben. Sagen Sie das bitte klar und deutlich, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Ich sage Ihnen ganz deutlich: Ja, wir wollen das GEG umsetzen, aber wir dürfen es nicht, wie es die Grünen zum Teil machen, herausgelöst aus dem Gesamtkontext der Energiewende betrachten; denn das Gebäudeenergiegesetz steht in einer direkten Verbindung mit der Neuausrichtung der Klimaschutzpolitik im Gebäudebereich, die wir hier auf den Weg gebracht haben.
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Ich möchte ganz deutlich sagen, dass wir als Sozialdemokraten im Bestand die größten Chancen sehen. Der schlafende Riese liegt im Bestand; da wollen wir ran. Wir wollen dort hohe energetische Standards sicherstellen; denn wenn wir die nicht sicherstellen, dann werden steigende Heizkosten das Wohnen deutlich teurer machen. Und das wird mit uns als Sozialdemokraten nicht gehen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Wir möchten, dass energetische Sanierung nicht zulasten der Mieterinnen und Mieter geht. Ein Herausmodernisieren darf es unter keinen Umständen geben. Deshalb haben wir auch die Modernisierungsumlage in dieser Wahlperiode von 11 auf 8 Prozent gesenkt. Das ist wichtig für die Mieterinnen und Mieter. Wir werden das auch künftig in verschiedene andere Maßnahmen einbetten, wie die Erhöhung des Wohngeldes und die Erhöhung der Mittel um 10 Prozentpunkte für bestehende Förderprogramme.
Herr Präsident, lassen Sie mich zum Schluss fünf Punkte nennen, wo wir dieses Gebäudeenergiegesetz besser machen können: bei der Ladeinfrastruktur für E-Autos, bei der Gebäudeautomatisierung und ‑digitalisierung, bei dem Thema „synthetische Brennstoffe“, bei dem Thema „nachhaltig Bauen“ und – das hat Herr Müller auch gesagt – im Hinblick auf die Vorbildfunktion der öffentlichen Hand. Diese fünf Punkte werden wir im parlamentarischen Verfahren umsetzen. Dann wird aus einem guten Gebäudeenergiegesetz ein noch viel besseres Gebäudeenergiegesetz. Ich freue mich sehr auf die parlamentarischen Beratungen.
Vielen Dank, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Vielen Dank. – Der nächste Redner: der Kollege Dr. Martin Neumann, FDP-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetzentwurf liegt nun auf dem Tisch; seit Mai letzten Jahres war er angekündigt. Es geht ja nicht nur darum, die EU-Gebäuderichtlinie, die seit über zehn Jahren in Kraft ist, endlich umzusetzen. Das Gebäudeenergiegesetz hat schlichtweg auch eine Schlüsselrolle, wenn wir das Thema „Energiewende und Klimaneutralität“ tatsächlich ernst nehmen. Ich habe hier und da meine Zweifel. Ich behaupte an dieser Stelle, dass wir in Deutschland kein Regelungsdefizit haben, sondern eine Vielzahl von Gesetzen, die nebeneinander und gegeneinander wirken.
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Genau das war doch die Absicht: Dieses Gesetz entsprechend zu vereinfachen, die Dinge nicht einfach eins zu eins zu kombinieren.
Wichtig sind, glaube ich – das ist zumindest schriftlich erwähnt; wir müssen es genau hinterfragen –, das Thema Wirtschaftlichkeit und vor allen Dingen das Thema Technologieoffenheit. Wenn ich aber von einem Ölheizungsverbot lese, denke ich: Es geht doch eigentlich nur um den Brennstoff. Welche Rolle sollen dann in diesem Zusammenhang die Heizung, der Heizkörper, die Rohrleitung spielen? Ich kann doch keine Ölheizung verbieten; vielmehr muss ich sagen: Ich brauche einen anderen Brennstoff. – Darum geht es.
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Mit diesem Verbot haben Sie die Menschen verunsichert. Fragen Sie doch mal auf der Straße, ob die Menschen das verstanden haben. Ich glaube, es ist wichtig, diesen Punkt zu erklären.
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Was auch ganz wichtig ist – das sage ich ganz deutlich –, ist das Thema Hybridlösung. Man muss mehrere Energieträger haben; das ist vernünftig. Quartierbezogene Lösungen sind angesprochen worden. Wir hatten gestern Abend eine Diskussion dazu. Das finde ich super. Das müssen wir machen, und das bringt auch Ergebnisse. Und was auch ganz wichtig ist – damit habe ich eigene Erfahrungen –, ist das Thema „qualifizierte Energieberatung“. Das heißt, wir müssen systemisch vorgehen, also nicht nur die Außenwand oder die Decke neu machen, sondern alles betrachten.
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Meine Redezeit ist relativ knapp. Zum Kriterium Primärenergiebedarf: Davon hat man sich nicht gelöst. Im Pariser Klimaabkommen geht es um die Senkung von CO2-Emissionen. Wenn wir das ernst nehmen, sollten wir die Senkung an die erste Stelle setzen. Dann habe ich nämlich die Möglichkeit, dem Eigentümer zu sagen, wie viel CO2 er ausstoßen darf. Dann kann er selbst bestimmen, auf welchem Weg er das Ziel erreicht. Das ist für mich Technologieoffenheit.
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Herr Gremmels, Sie haben es angesprochen, und ich will es noch mal sagen, weil ich es wichtig finde: Die Anerkennung von grünen Gasen wie Wasserstoff und Biomethan ist nicht vorgesehen, spielt keine Rolle. Das geht nicht. Warum macht man so was? Die 2019 angekündigte Wasserstoffstrategie bleibt die Bundesregierung weiterhin schuldig.
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Das steht nirgends. Das Umweltministerium – das muss ich an dieser Stelle noch mal deutlich sagen – blockiert weiterhin das Thema Technologieoffenheit.
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Aber nur dann haben wir die Möglichkeit, Lösungen anzubieten, die sozusagen den Anforderungen an die Gebäude und den Erwartungen der Eigentümer Rechnung tragen. Ich glaube, da haben wir viel zu tun.
Der Gesetzentwurf liegt auf dem Tisch. Schauen wir ihn uns an. Es kann losgehen.
Danke.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Der nächste Redner: der Kollege Lorenz Gösta Beutin, Die Linke.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute ist ein schlechter Tag für den Klimaschutz.
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Die Bundesregierung hat mit dem Kohleausstieg bis 2038 einen Ausstieg verabredet, der viel zu spät kommt und der sich nicht einmal an den viel zu schwachen Kohlekompromiss der Kohlekommission hält. Sie wollen den Kohleausstieg für die Konzerne vergolden. Wir sagen: 2030 ist der späteste Termin für das Klima. Wir wollen Regionen und Beschäftigte schützen, nicht die Kohlekonzerne.
({1})
Am gleichen Tag legen Sie uns hier im Bundestag einen Gesetzentwurf für den Klimaschutz im Gebäudebereich vor, von dem alle Expertinnen und Experten und auch die Verbände sagen, dass er in wesentlichen Punkten hinten und vorne nicht reicht.
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Sie zementieren damit Stillstand beim Klimaschutz im Gebäudebereich, und das ist ein fatales Signal.
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Mehr als 30 Prozent der Emissionen, die wir in Deutschland haben, kommen aus dem Gebäudebereich. Wie im Verkehrsbereich ist auch im Gebäudebereich in den letzten Jahrzehnten viel zu wenig passiert. Wie lange hält so ein Gebäude? Es hält nach heutigen Standards vielleicht 100 Jahre. Wir kennen auch Statistiken, die besagen, dass so ein Gebäude im Durchschnitt nach etwa 40 Jahren saniert werden muss.
Die Bundesregierung behauptet ja, dass sie 2050 Klimaneutralität erreichen will. Wenn Sie aber nun mit viel zu niedrigen Gebäudestandards ankommen, mit Standards, die bereits 2016 bestanden haben, dann müssen Sie sich doch fragen lassen: Wollen Sie es zulassen, dass Gebäude, die heute gebaut werden, in vielleicht 10 oder 20 Jahren
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kostenintensiv und aufwendig saniert werden müssen?
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Sie schaffen damit heute schon die Sanierungsfälle von morgen, und das ist ein Skandal.
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Wir haben gestern einen Aktionsplan Klimagerechtigkeit in der Fraktion Die Linke beschlossen. Es ist ein Gegenentwurf zum Klimamurks von Union und SPD. Wir wollen eine Politik, die bezahlbares Wohnen und Klimaschutz zusammenbringt. Dazu schlagen wir konkrete Punkte vor. Wir sagen: Wir wollen Warmmietenneutralität. Wir wollen keine Mieterhöhungen, die über die realen Kosten von Sanierungen hinausgehen. Wir wollen nicht mehr, dass Klimaschutz für Vertreibung von Mieterinnen und Mietern durch Immobilienkonzerne missbraucht wird von Immobilienkonzernen, die damit ihre Profite machen wollen. Wir wollen die Immobilienkonzerne in die Schranken weisen. Wir wollen Mietendeckel wie in Berlin bundesweit einführen,
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und notfalls muss man eben auch über die Enteignung von Immobilienhaien nachdenken.
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Wir wollen ein öffentliches Wohnungsbauprogramm für klimaneutrales Wohnen, für Menschen, die wenig Geld haben.
Zwei Drittel aller Wohngebäude sind in der Nachkriegszeit gebaut worden. Drei Viertel der Gebäude aus den 50er-, 60er- und 70er-Jahren sind wenig oder gar nicht energetisch saniert. Wir sagen: Die müssen wir sozial gerecht dämmen. Wir wollen mehr Lebensqualität, wir wollen mehr soziale Gerechtigkeit, und wir wollen mehr Klimaschutz. Das ist für uns Klimagerechtigkeit.
Vielen Dank.
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Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort die Kollegin Dr. Julia Verlinden.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Energieexperten vom Thinktank Agora Energiewende haben kürzlich die deutsche CO2-Bilanz für das letzte Jahr vorgelegt.
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Sie haben festgestellt, dass die CO2-Emissionen von Gebäuden und Verkehr sogar zugenommen haben.
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Das heißt, es wurde mehr Erdgas, Heizöl, Benzin und Diesel als im Vorjahr verbraucht, und das ist doch alarmierend, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Ohne klimagerechte Gebäude kann Deutschland seine verbindlichen Zusagen für den Klimaschutz nicht einhalten. Doch was machen Sie als Bundesregierung in dieser Situation?
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Sie verhindern mit dem vorgelegten Gesetzentwurf den rechtzeitigen Umstieg auf Erneuerbare und auf Energiesparen.
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Wenn wir uns anschauen, wie rasant sich mittlerweile die Erderwärmung beschleunigt, dann kann man wohl sagen: Sie gießen mit diesem Gesetzentwurf weiter Öl und Erdgas ins Feuer, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes.
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Die Regierung schreibt mit diesem Gesetz völlig veraltete Standards für Jahre fort. Die geplanten Energiesparvorschriften für Neubauten stammen aus dem Jahr 2013. Die Vorgaben für den Einsatz von Erneuerbaren stammen sogar von 2009.
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Glauben Sie wirklich, im vergangenen Jahrzehnt sei überhaupt nichts passiert? Glauben Sie, die Gebäudetechnik habe sich nicht weiterentwickelt, die erneuerbaren Energien seien immer noch Nischentechnologien? Dann schauen Sie sich mal in Europa um!
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Unsere Nachbarn sind bei erneuerbarer Wärme deutlich weiter.
Wir Grüne finden: Neubauten müssen bereits heute den bestmöglichen Klimastandard aufweisen, und das ist der Passivhausstandard; denn diese Gebäude werden auch noch 2050 genutzt. Spätestens dann müssen wir klimaneutral leben und wirtschaften, wenn wir die Lebensgrundlagen für unsere Kinder erhalten wollen. Sie können doch nicht wirklich wollen, dass Häuser, die heute gebaut werden, in 20 Jahren schon wieder saniert werden müssen. Was für eine Riesenverschwendung von Ressourcen und Geld wäre das denn?
({8})
Denn Bauwirtschaft, Gebäudetechnik und – –
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der SPD-Fraktion?
Ja.
Liebe Frau Kollegin, Sie haben ja gerade eben den Passivhausstandard erwähnt. Sie sagen, das sei Ihr Ziel. Ist Ihnen eigentlich bekannt, dass es Messungen gibt, die nachweisen, dass der Passivhausstandard nicht in jedem Fall zu der Energieeinsparung führt, die Sie hier verlangen? Zum Beispiel gibt es – das ist nachgewiesen – in Bayern ein Hotel, südlich von München, wo ein Gebäudeteil nach KfW-100-Standard gebaut wurde und ein anderer Gebäudeteil nach Passivhausstandard. Die Energieverbräuche sind dieselben, aber der ökologische Rucksack ist ein anderer. Das heißt, klimapolitisch ist Ihr Passivhaus schlechter.
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Sie sagen weiterhin, wir hätten die erneuerbaren Energien nicht berücksichtigt. Das erste Mal wird Photovoltaik angerechnet.
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Vorher war das nämlich im Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz nicht der Fall. Ich habe wenig Lust darauf, eine Debatte ohne Messwerte zu führen. Insofern sage ich auch hier an dieser Stelle: mehr Physik wagen. Es hilft mir nicht, eine Ideologie voranzubringen, –
Herr Kollege.
– die nicht durch Messwerte untersetzt ist, liebe Kollegen.
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Die Frage ist verstanden. – Sie können antworten, Frau Kollegin.
Lieber Klaus Mindrup, ich finde es ziemlich unfassbar, was ich hier höre.
({0})
Es ist so, dass die verschiedenen Standards, nach denen man einen Neubau errichtet, selbstverständlich einen Riesenunterschied machen, wenn es um die Frage geht, wie viel Energie dann während des Betriebs verbraucht wird; das ist ja wohl logisch.
({1})
Und es ist so, dass die Frage, ob jetzt Photovoltaik angerechnet werden kann oder nicht, uns kein Stück weiterhilft bei der Frage, wie viel erneuerbare Wärme tatsächlich in Deutschland genutzt wird. Wir krebsen seit Jahren, Jahrzehnten mit einem Wert rum, der jenseits von all dem ist, was andere EU-Staaten schaffen. 21 Länder in der EU haben einen höheren Anteil von erneuerbarer Wärme in ihrem Mix. Da kann ich nicht akzeptieren, dass ein bisschen Photovoltaik gegengerechnet wird, wenn wir die Chancen von Wärmepumpen, die Chancen von Geothermie, die Chancen von Biomasse und die Chancen von Solarthermie nicht vernünftig einbauen in einen Gesetzentwurf,
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der dafür sorgt, dass genau diese Standards, die heute Stand der Technik sind, vorgeschrieben sind für den Neubau von Gebäuden. Wir müssen die Effizienz und das Potenzial der erneuerbaren Energien auch wirklich nutzen; denn all das, was ihr jetzt hier fortschreibt, hat zehn Jahre lang nicht funktioniert.
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Das kann doch überhaupt nicht dazu führen, dass die Klimaschutzziele erreicht werden.
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– Doch, es ist ein Fortschreiben. Genau die gleichen Standards, die seit zehn Jahren gelten, sollen jetzt weiter gelten, und das kann nicht das Ziel eines neuen Gesetzes sein.
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Wenn wir im Jahr 2050 einen klimaneutralen Gebäudebestand haben wollen, dann müssen Sie jetzt mit einem vernünftigen Gesetz genau diese Maßnahmen umsetzen. Es ist wichtig, dass das, was Bauwirtschaft, Gebäudetechnik, Erneuerbare-Energien-Branche zur Verfügung stellen, um energiesparende, erneuerbar beheizte Gebäude zu errichten, endlich auch genutzt wird. Die Branchen brauchen die Verlässlichkeit aus der Politik, um als Unternehmen auch planen und richtig investieren zu können. Geben Sie ihnen also endlich die Leitplanken, die nötig sind.
Noch mal zur Erinnerung: Die Gesetze und Verordnungen, die die Regierung jetzt in diesem Gebäudeenergiegesetz zusammenführen will, sind bis zu zehn Jahre alt. Wir haben gerade von Carsten Müller gehört, da sei noch Luft nach oben. Die Union scheint es offenbar noch für möglich zu halten, diese Effizienzstandards weiter anzuheben. Von der SPD höre ich gerade großes Mauern. Das stört mich.
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Inzwischen gab es das Pariser Klimaschutzabkommen, das die Bundesregierung und auch dieses Parlament angenommen haben. Diesen Beschluss muss die Regierung jetzt auch endlich in die Tat umsetzen. Ihr habt uns letztes Jahr weismachen wollen, dass ein Klimaschutzgesetz CO2-Einsparungen in allen Sektoren sicherstellt. Das war letztes Jahr immer die Aussage mit Blick auf dieses Klimaschutzgesetz. Jetzt kommt hier ein Gebäudeenergiegesetz auf den Tisch, das von diesem Versprechen nicht nur meilenweit entfernt ist, sondern es auch vollkommen untergräbt. Stampfen Sie das ein. Legen Sie uns ein ernstzunehmendes Klimaschutzgesetz für den Gebäudesektor vor; denn auch die Unternehmensinitiative DENEFF nennt das Gesetz ganz zu Recht eine Mogelpackung für den Klimaschutz.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Der nächste Redner: der Kollege Dr. Andreas Lenz, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute das Gebäudeenergiegesetz in der ersten Lesung, und ich stelle fest: Wenn die AfD und die Grünen so aufgeregt diskutieren, dann liegt man mit einem Gesetzentwurf meistens gar nicht so falsch.
({0})
Es hat zugegebenermaßen etwas gedauert, bis wir den Gesetzentwurf in das parlamentarische Verfahren gebracht haben; aber es ist in der Zwischenzeit auch einiges passiert. So konnten wir bereits wesentliche Teile des Klimaschutzpaketes vom September umsetzen. Teile davon sind auch in das Gebäudeenergiegesetz eingegangen. Besonders freut es mich, dass wir die steuerliche Förderung der energetischen Gebäudesanierung endlich umsetzen konnten. Das ist ein wichtiger Schritt,
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wenn es darum geht, die Sanierungsquoten tatsächlich zu steigern. Das setzt auch Anreize für mehr Innovationen in den Bereichen Klimaschutz und Energieeffizienz. Das ist auch ein parlamentarischer Erfolg, meine sehr geehrten Damen und Herren.
Wir starten insgesamt nicht bei null. Bisher konnten die CO2-Emissionen im Gebäudebereich von 1990 bis 2018 um 44 Prozent reduziert werden. Das ist für sich genommen schon ein großer Erfolg. Allerdings steckt im Gebäudebereich noch viel Einsparpotenzial, gerade bei der Wärme. So sieht der Klimaschutzplan bis 2030 67 Prozent Einsparungen gegenüber 1990 vor.
Herr Kollege Lenz – erst einmal einen schönen Nachmittag –, gestatten Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung von Herrn Krischer?
Normal immer gerne, aber ich habe eigentlich um 17 Uhr einen Folgetermin.
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Dann sind Sie ja eh schon zu spät.
Wir können es gerne auf den Ausschuss oder auf morgen verschieben.
Ja oder nein? Ich habe es nicht verstanden.
Das war jetzt ein Nein.
Gut. Aber Sie kommen so oder so zu spät.
Die 21 Millionen Gebäude, die es in Deutschland gibt, verbrauchen insgesamt 35 Prozent des gesamten deutschen Energiebedarfs. Genau hier setzt das Gebäudeenergiegesetz an und schafft gebündelte, unbürokratische und praktikable Lösungen, die zum einen helfen, Energie und damit CO2-Emissionen einzusparen, und zum anderen keine unnötige Verteuerung von Wohnraum mit sich bringen. Wir bringen also Klimaschutz und Wirtschaftlichkeit zusammen, meine sehr geehrten Damen und Herren.
Mit dem Gebäudeenergiegesetz werden bestehende Verordnungen und Gesetze für Neubauten zusammengefasst und vereinheitlicht. Außerdem werden damit die EU-Vorgaben zur Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden vollumfänglich erfüllt werden. Das neue Gebäudeenergiegesetz führt das Energieeinsparungsgesetz, die Energieeinsparverordnung und das Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz zusammen. Es schafft so ein neues, einheitliches, aufeinander abgestimmtes Regelwerk.
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Das Gebäudeenergiegesetz folgt dem Ansatz, den Primärenergieverbrauch der Gebäude so gering wie möglich zu halten. So können die Erneuerbaren am wirtschaftlichsten zum Einsatz kommen. Das Gesetz folgt dem Wirtschaftlichkeitsgrundsetz, aber auch dem Grundsatz der Technologieoffenheit.
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Lieber Martin Neumann, es ist schon etwas bedenklich, wenn man glaubt, dass man eine alte Ölheizung mit anderen Einsatzstoffen betreiben kann. Das ist gar nicht ausgeschlossen, aber dann muss man auch wissen, mit welchen Einsatzstoffen man es günstiger machen wird.
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Wir setzen also auf Anreize anstatt auf Verbote. Wenn man zukünftig über 40 Prozent Förderung für eine neue, effizientere und mit erneuerbaren Energien betriebene Heizung bekommt, dann ist das doch ein immanenter Anreiz, entsprechend auf neue Technologien zu setzen.
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Das Gebäudeenergiegesetz schafft neue Flexibilitätsoptionen bei der Erfüllung der energetischen Standards für Neubauten, beispielsweise durch eine bessere Anrechnung von gebäudenah erzeugtem Strom aus erneuerbaren Energien.
Wir haben vorhin schon gehört: Wir müssen im parlamentarischen Verfahren noch über einige Punkte sprechen. Ich spreche hier auch den Punkt Berechnung des Primärenergiefaktors für Biomethan an. Dies müssen wir uns im parlamentarischen Verfahren anschauen. Es gibt aber auch noch andere Stellschrauben, wo wir sicher noch nachjustieren werden. Es ist wichtig, dass hier noch nicht das letzte Wort gesprochen worden ist. Trotzdem ist es jetzt schon einmal ein guter Aufschlag, der vom Ministerium gemacht wurde.
Das Gebäudeenergiegesetz wird zur Vereinfachung der energetischen Vorschriften für Bauen und Sanieren beitragen. Es leistet außerdem einen Beitrag für bezahlbares Wohnen und für den Klimaschutz. Ich glaube, das ist ein Schritt in die richtige Richtung.
In diesem Sinne: Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Andreas Lenz. – Bevor ich Herrn Rimkus aufrufe, hat das Wort zu einer Kurzintervention Oliver Krischer.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Kollege Lenz, wenn Sie eine Zwischenfrage mit der Begründung, Sie hätten noch Folgetermine, nicht zulassen – andere Termine sind Ihnen wichtiger als die Debatte, die wir hier führen –, dann sollten Sie, ehrlich gesagt, einmal darüber nachdenken, dass wir hier über ein wesentliches Gesetz der Bundesregierung zum Klimaschutz reden.
({0})
Ich möchte Ihnen eine Frage stellen: Sie haben eine Lobeshymne auf den Gesetzentwurf gesungen, haben dargestellt, wie toll, wie vorbildhaft alles ist. Aber die Pressemitteilung der Deutschen Unternehmensinitiative Energieeffizienz ist mit folgenden Worten überschrieben:
Gebäudeenergiegesetz im Bundestag:„Mogelpackung für den Klimaschutz“
Da steht weiter drin, das Ganze sei eine Nullnummer und beinhalte „eine leere Worthülse“ statt einer „Vorbildrolle für öffentliche Gebäude“ usw. usf.
Wenn ich mir jetzt angucke, wer der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Unternehmensinitiative Energieeffizienz ist, dann sehe ich: Es ist ein gewisser Carsten Müller. Er hat eben zu uns gesprochen. Offensichtlich hat er nicht den Mut besessen, hier das zu sagen, was er als Vertreter der Unternehmensinitiative in der Pressemitteilung von sich gibt.
({1})
Deshalb wäre meine Frage an Sie, Herr Lenz: Halten Sie das Ganze, was Sie hier vorlegen, auch für eine „Mogelpackung für den Klimaschutz“? Sind Sie bereit, am Ende hier das zu tun, was Herr Müller draußen fordert, nämlich wesentliche Änderungen an diesem Gesetz vorzunehmen, damit aus dieser Nullnummer ein tatsächlich wirksames Gesetz wird?
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Herr Dr. Lenz, ich gehe davon aus, Sie wollen antworten? – Dann haben Sie jetzt das Wort.
Ich antworte natürlich sehr gerne. – Wenn Sie über Pünktlichkeit und über Höflichkeit sprechen, muss ich sagen: Ich glaube, Sie waren zu Beginn der Debatte selbst noch gar nicht da.
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Es lag vielleicht nicht nur an den Folgeterminen, sondern auch an Ihren Fragen oder an Ihnen – das lasse ich jetzt mal dahingestellt –, dass ich während der Rede nicht antworten wollte.
Was die Presseberichterstattung angeht: Der „Tagesspiegel Background“ sagt in der Rubrik „Energie & Klima“, dass das Gebäudeenergiegesetz besser ist, als viele glauben.
Letzter Punkt. Auf Carsten Müller hören wir auch im parlamentarischen Verfahren sehr gerne und lassen seine Kompetenz einfließen. Aber Ihre Belehrungen brauchen wir nicht.
Herzlichen Dank.
({1})
Vielen Dank, Dr. Lenz. – Dann komme ich zum letzten Redner in dieser Debatte. Es ist für die SPD-Fraktion Andreas Rimkus.
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir bringen heute das Gebäudeenergiegesetz, das sogenannte GEG, in erster Lesung auf den Weg und führen dazu die erste Debatte im parlamentarischen Verfahren. Wir werden es sicherlich noch feinjustieren. Ich bin allen Rednern dankbar, die an der einen oder anderen Stelle Kritik geübt oder Verbesserungen gewünscht haben. Denn das Struck’sche Gesetz wird auch hier gelten – davon bin ich fest überzeugt.
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Insofern freue ich mich auf die Fortsetzung der Beratungen im Ausschuss.
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Ich persönlich könnte mir auch einiges vorstellen, was man noch machen könnte, beispielsweise bei den erneuerbaren Energien oder bezüglich der synthetischen Brennstoffe,
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lieber Kollege Martin Neumann. Wir könnten bei den Baumaterialien etwas machen und intelligenter vorgehen.
Aber – Stand heute – drei Punkte sind mir besonders wichtig, und auf die möchte ich kurz eingehen:
Der erste Punkt. Mit dem GEG bringen wir endlich die Entbürokratisierung deutlich nach vorne. Das muss man einfach wissen. Vorher hatte man es durchaus mit einem Wust, einer Ansammlung von Formeln und thermodynamischen Sätzen zu tun. Da musste man schon einen richtig guten technischen Background haben. Das haben wir ein bisschen entwirrt. Was wir da hinbekommen haben, finde ich so in Ordnung. Das sagt hier der Elektriker.
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– Gerne. – Einerseits führen wir die separaten Regelwerke zusammen – Sie wissen es –: das Energieeinsparungsgesetz, die Energieeinsparverordnung und das Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz. Mit dem Modellgebäudeverfahren erleichtern wir auch die Nachweisführung. Wir integrieren im Übrigen die europäischen Vorgaben zur Regelung des Niedrigstenergiegebäudestandards.
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– Ja, Julia, genau das machen wir alles.
Der zweite Punkt ist, dass wir auch einen nennenswerten Fortschritt in Sachen Klimaschutz machen – natürlich! –;
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denn ein Neubau hat nach dem vorliegenden Entwurf einen im Schnitt knapp 70 Prozent geringeren Energiebedarf als der Durchschnitt der Gebäude im Bestand, und das ist erheblich, wie ich finde. Das ist eine positive Botschaft.
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– Ja, man kann viel besser werden. Das ist doch vollkommen klar. Lass uns das im Ausschuss bereden und dann fachlich gucken, wo wir noch Verbesserungen hinkriegen können.
Herr Kollege, war das ein Nein zu einer Zwischenfrage?
Das war kein Nein zu einer Zwischenfrage, sondern eine Einladung dazu, die Debatte im Ausschuss weiterzuführen.
Dann frage ich Sie: Erlauben Sie eine Zwischenfrage oder Kommentierung? – Gut.
Vielen Dank, dass ich die Zwischenfrage stellen kann. – Ich bin ein bisschen überrascht, dass Klaus Mindrup jetzt nicht mehr da ist, der sich eben so engagiert in die Debatte eingebracht hat. Er hat das Thema Passivhausstandard angesprochen. Genau da möchte ich noch mal nachhaken.
Die EU schreibt vor, dass wir als Mitgliedstaat einen Niedrigstenergiegebäudestandard definieren, und der kann doch nicht KfW 70 sein. Der muss doch niedrigstmöglich sein, also ein Passivhausstandard. Was ist denn nach Einschätzung der SPD-Fraktion ein sogenannter EU-konformer Niedrigstenergiegebäudestandard?
Ich finde es interessant, dass die Debatte zwischen Ihnen und Herrn Mindrup sozusagen über mich verlängert wird.
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Ich kann, um den Kreis zu schließen, darauf nur antworten: Der Kollege Mindrup hat deutlich gemacht, dass es zwischen dem Passivhausstandard und dem, was an Gebäudetechnik vorhanden ist, Unterschiede geben kann. Er hat das am Beispiel eines Hotels deutlich gemacht, und ich finde, dieses Beispiel ist selbsterklärend.
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Sie, Frau Verlinden, haben übrigens auf seine Frage nicht geantwortet.
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Ich dagegen gebe eine Antwort. Europa sagt: Wir müssen runter mit den Werten, aber die Frage, wie wir das definieren, wird durchaus unterschiedlich beantwortet. Der Passivhausstandard kann die Lösung sein, muss aber nicht. In jedem Fall muss es ein Niedrigstenergiegebäude sein, und das finde ich auch völlig in Ordnung.
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Wir werden die fachlichen Gespräche im Ausschuss weiterführen. Dort werden wir Aufklärung bieten, was Klaus Mindrup möglicherweise gesagt hat, Sie aber noch nicht verstanden haben.
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Wie gesagt, im Moment geht das nur über den Umweg.
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Der dritte Punkt ist der Gesamtkontext. Wir flankieren das Gesetz mit einer Vielzahl von Maßnahmen wie der Gestaltung des CO2-Preises, der steuerlichen Förderung energetischer Gebäudesanierung, steigenden Investitionszuschüssen und der berühmten Prämie für den Austausch von Ölheizungen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, trotzdem sind viele nicht zufrieden; das ist doch klar. Die einen beschweren sich, dass die Anforderungen nicht streng genug sind, andere beschweren sich, dass wir zu streng sind. Entscheidend ist, dass wir Maß und Mitte halten.
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Ich bin ein Rheinländer. „Mer künne och övverdrieve“, sagt man bei uns zu Hause.
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Lassen Sie uns das besser nicht machen. Wir brauchen eine sozialverträgliche Lösung. Wir werden dafür sorgen, dass wir gute und nachhaltige Gesetze machen, die uns nach vorne bringen und uns helfen, Ökologie, Ökonomie und Soziales zu verbinden. Die Leute sollen nicht erschreckt werden, sie sollen uns nachmachen, was wir vordenken. Das macht, wie ich finde, Lust auf mehr, und diese Lust auf mehr können wir besprechen. Wir werden uns zur zweiten und dritten Beratung hier wieder zusammenfinden. Ich wünsche Ihnen was.
Danke.
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Vielen Dank, Andreas Rimkus. – Damit schließe ich die Aussprache.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den letzten Monaten war ein erheblicher Migrationsdruck aus der Türkei zu verzeichnen. Im vergangenen Jahr sind etwa 60 000 Migranten aus der Türkei auf die griechischen Inseln gekommen. Die Zahl hat sich gegenüber dem Vorjahr nahezu verdoppelt. Das ist ein Faktum, das wir zunächst zur Kenntnis nehmen müssen. Wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass sich etwa 42 000 Migranten auf den griechischen Inseln befinden. Und ja, es ist richtig: Die Zustände dort sind prekär, und sie drohen unhaltbar zu werden.
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Insofern gibt es einen Handlungsdruck; das möchte ich ganz ausdrücklich zugestehen.
Was überhaupt nicht geht – lassen Sie mich das als Vorbemerkung sagen –, ist, so zu tun – und das tun die Antragsteller –, als würde Deutschland seiner humanitären Verantwortung nicht gerecht werden. Das ist falsch.
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Schauen Sie sich die Zahlen an: Seit 2015 haben wir 1,8 Millionen Asylantragsteller in Deutschland aufgenommen. Das sind mehr als 41 Prozent in diesem Zeitraum, bezogen auf die ganze Europäische Union. Allein im Jahr 2016 hat Deutschland mehr Asylbewerber aufgenommen als alle anderen 27 EU-Länder zusammen. Seit 2015 hat unser BAMF etwa 1 Million Schutztitel ausgereicht. Insofern ist eines vollkommen klar: Deutschland lässt weder Griechenland noch Italien allein, und wir lassen auch keine Kinder auf den griechischen Inseln im Stich; das möchte ich als Vorrede einfach mal sagen. Ich glaube nicht, dass wir uns nachsagen lassen müssen, unserer humanitären Verantwortung nicht gerecht zu werden.
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Lassen Sie mich an dieser Stelle zu dem konkreten Vorschlag in diesen Anträgen Folgendes sagen
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– ich würde zunächst einmal versuchen, den gedanklichen Schluss zu ziehen; vielleicht erübrigt sich dann ja die Frage –:
Zunächst einmal ist klar – das hat Max Weber in seinem großen Essay „Politik als Beruf“ so beschrieben –, dass es beim politischen Tun nicht nur auf die Gesinnung ankommt, sondern letztlich auch darauf, die Folgen des eigenen Handelns in die moralische Gesamtbewertung einzubeziehen. Wenn ich mir die Folgen anschaue, die eine solche Ad-hoc-Aufnahme von Flüchtlingskindern von den griechischen Inseln hätte, dann muss ich sagen, dass die Folgen nicht verantwortbar sind.
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Insbesondere ist dieser Weg nicht verantwortbar, wenn man ihn als nationalen Alleingang ausgestaltet, meine sehr geehrten Damen und Herren. Das ist ein ganz entscheidender Punkt.
Was wäre nämlich das Signal? Das Signal wäre, dass man nur irgendwie die griechischen Inseln erreichen muss, dann wird man nach einiger Zeit auch das europäische Festland erreichen. Das würde neue Pull-Faktoren auslösen. Vor allen Dingen würde das das Türkei-EU-Abkommen ad absurdum führen, doch das ist ein ganz wesentlicher Pfeiler unseres Konzepts „Ordnen, Steuern und Begrenzen“. Deshalb geht das nicht.
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Damit würde man im Ergebnis die Situation auf den griechischen Inseln nicht verbessern, sondern nur noch viel unmöglicher machen.
Deswegen kommt es auf Folgendes an: Wir müssen mithelfen, damit sowohl die Türkei als auch Griechenland angemessen unterstützt werden können.
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Bei der Türkei kommt es darauf an, dass genügend Mittel für eine menschenwürdige Unterbringung vorhanden sind, darüber hinaus aber auch irreguläre Ablandungen verhindert werden. Und bei Griechenland kommt es darauf an, dass neben der humanitären Unterstützung die Asylverfahren dort beschleunigt werden. Und wenn am Ende eine Ablehnung steht, muss auch eine Rückführung in die Türkei erfolgen. Sonst kann das EU-Türkei-Abkommen nicht funktionieren. Genau darum geht es. Dafür setzt sich die Bundeskanzlerin ein. Dafür setzt sich der Bundesinnenminister ein: in Griechenland und in der Türkei. Wir lassen dem auch ganz konkretes Handeln folgen.
Herr Frei, darf ich Sie fragen, ob Frau Hänsel nun eine Zwischenfrage stellen darf?
Ja. Ich bin schon ein bisschen weitergekommen. – Bitte schön, Frau Hänsel.
Danke schön, dass Sie die Frage zulassen, Herr Frei. Entgegen Ihrer Ankündigung haben sich meine Fragen nicht von selbst beantwortet.
Ach so, Sie haben sie ja noch gar nicht gestellt.
Aber Sie haben ja auf mich gedeutet und gesagt, dass sich meine Frage vielleicht erübrigt.
Entschuldigung.
Sie hat sich aber nicht erübrigt. – Sie haben wieder dargelegt – das geschieht ja gebetsmühlenartig –, dass es Pull-Faktoren gibt, die dazu führen, dass mehr Flüchtlinge kommen. Aber das Problem ist grundsätzlicher Natur: Flüchtlinge sind nicht wegen der Pull-Faktoren da, sondern weil es Fluchtursachen gibt. Das ist der erste Punkt.
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Seit Jahren sagen wir gebetsmühlenartig: Schauen Sie stärker auf die Fluchtursachen – es gibt viele Gründe; ich kann sie nicht alle aufführen –: Handelspolitik, Waffenlieferungen usw. Auch da machen Sie Ihre Hausaufgaben nicht. Das ist ein ganz großes Problem.
Jetzt haben wir ungefähr 40 000 Menschen auf den griechischen Inseln. Es gab mittlerweile einen Generalstreik der griechischen Bevölkerung auf den Inseln. Die Situation ist untragbar. Es geht um mehrere Tausend unbegleitete Minderjährige. Ich verstehe nicht, weshalb Sie jetzt nicht einfach handeln und sagen: Wir holen diese Jugendlichen hierher, aufs europäische Festland – man kann das mit anderen Staaten zusammen organisieren –, damit sie die Möglichkeit haben, rauszukommen. – Wenn Sie das nicht machen, Herr Frei, dann sind Sie wirklich politikunfähig. Sie verweisen auf die Jahre zuvor, auf das, was Sie alles gemacht haben; aber es gilt, jetzt zu handeln. Die Situation ist untragbar. Dafür brauchen wir eine Lösung.
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Herr Frei.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Hänsel, zunächst einmal: Mit einem Punkt haben Sie recht. Natürlich muss man Fluchtursachen bekämpfen, und das machen wir auf vielfältige Weise. In der Politik gilt aber eben nicht: Du machst das eine und dann das andere nicht. In diesem Fall gilt: Das eine tun und das andere nicht lassen.
Jetzt zu Ihrer zweiten Frage: Worum geht es? Sie unterstellen, dass das Problem dadurch gelöst würde, dass man Ad-hoc-Aufnahmen von Jugendlichen und Kindern von den griechischen Inseln vornimmt. Meine These ist eine gegenteilige. Wenn Sie das Grundproblem dort nicht lösen, dann verbessern Sie die Situation auch durch solche Ad-hoc-Aufnahmen nicht, sondern ganz im Gegenteil: Sie machen die Zustände für die Menschen auf den griechischen Inseln dadurch noch unerträglicher.
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Liebe Frau Hänsel, ich will Ihnen deshalb auch sagen, was wir tun. Beispielsweise haben wir aus den Beständen des BAMF für etwa 10 000 Personen entsprechende Unterbringungskapazitäten zur Verfügung gestellt. Am 10. Dezember sind 55 Lkws mit Hilfslieferungen im Volumen von 1,56 Millionen Euro nach Griechenland gefahren. Wir helfen auch bei den Verfahren.
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Wir haben den griechischen Behörden beispielsweise 1 000 DNA-Tests zur Verfügung gestellt, damit man für eine Familienzusammenführung sorgen kann.
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Wir helfen an ganz vielen Stellen, um die Griechen zu ertüchtigen, die Aufgaben schneller zu lösen und damit auch die Situation auf den griechischen Inseln zu verbessern. Das ist der entscheidende Punkt.
Vielen Dank. – Erlauben Sie eine Rückfrage oder Bemerkung vom Kollegen Kurth?
Ja, bitte schön.
Vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen, Herr Frei. – Sie haben gerade davon gesprochen, dass es eine Frage der Verantwortungsethik im Gegensatz zur Gesinnungsethik ist, die Personen, die auf den griechischen Inseln unter fraglos menschenunwürdigen Umständen leben – insbesondere die Minderjährigen –, nicht aus diesen menschenunwürdigen Umständen zu befreien.
Ich muss schon sagen: Ich finde es interessant, dass die Einhaltung von Menschenrechten jetzt plötzlich eine Frage der Gesinnungsethik sein soll. Ich sehe das genau andersrum, dass nämlich die Einhaltung der Menschenrechte von Menschen, die sich auf europäischem Territorium befinden, eine Frage der Verantwortungsethik ist.
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Ich meine, das ist zumindest zum Teil auch bei Ihnen schon angekommen.
Ich möchte jetzt noch einmal konkret fragen. Am 13. Januar hat meine Fraktion unter Leitung von Luise Amtsberg ein Fachgespräch durchgeführt, bei dem es um das Bündnis „Städte Sicherer Häfen“ und die Seebrücke ging. Der Staatssekretär Mayer hat dort angekündigt, am 28. Januar, also gestern, solle ein Gespräch zwischen den Vertretern aufnahmebereiter Kommunen und dem Innenministerium stattfinden. Dieses Gespräch ist grundlos abgesagt worden.
Wissen Sie von diesen Gesprächsinitiativen, und meinen Sie nicht, dass angesichts der jetzigen Situation nichts mehr nottut, als wenigstens mit den Kommunen zu sprechen – die mehr als 130; dazu gehört auch meine Stadt Dortmund –, die sich bereit erklärt haben, diese Minderjährigen aus diesen unerträglichen Situationen zu befreien?
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Herr Frei, jetzt haben Sie das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Kurth, ich kann Ihnen diese Frage nur insoweit beantworten: Ich bin kein Vertreter des Innenministeriums und auch kein Vertreter der Regierung. Ich kann Ihnen aber meine Meinung sagen: Ich würde als Bundesinnenministerium ein solches Gespräch nicht führen, weil die Kommunen aus meiner Sicht für vieles Verantwortung tragen sollten, aber mit Sicherheit nicht für die Asyl- und Flüchtlingspolitik.
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Das kann nur eine nationale Aufgabe sein. Wir sind darüber hinaus der Auffassung, dass man das Problem nicht nur im nationalen, sondern sogar im europäischen Maßstab lösen muss.
Die Kommunen, die Sie ansprechen, sind nicht bereit, die Konsequenzen zu tragen. Sie wollen nur eine bestimmte Art von Flüchtlingen aufnehmen, am liebsten Familien mit Kindern.
(Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben unseren Antrag nicht gelesen!].
Sie sind nicht bereit, die Kosten dafür zu übernehmen. Das tut die Allgemeinheit, und deshalb ist das auch eine nationale Aufgabe, die national entschieden werden muss.
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Ich kann Ihnen nur meine Meinung sagen: Ich würde als Bundesinnenministerium ein solches Gespräch nicht führen.
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Jetzt komme ich zum letzten Punkt. Ich möchte noch auf Folgendes hinweisen: Wir haben beispielsweise unsere Rechte aus dem Dublin-Vertrag in der Vergangenheit – insbesondere im vergangenen Jahr – nicht so wahrgenommen, wie wir es hätten tun können. Wir haben im ganzen Jahr 2018 sechs Dublin-Rücküberstellungen nach Griechenland vorgenommen. Die Griechen haben umgekehrt 3 995 Dublin-Überstellungen vorgenommen.
Ich will an der Stelle nur eines sagen: Es gibt sehr viele Beispiele dafür, wo wir Verantwortung übernehmen. Das tun wir auch weiterhin. Aber wir tun es so, dass wir die Folgen im Blick haben. Wir unterstützen die griechischen Behörden, die Aufgaben richtig zu erledigen. Damit tragen wir auch effektiv zum Schutz der Menschen auf den griechischen Inseln bei.
Jetzt will ich Ihnen von den Grünen noch ein Letztes sagen.
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Wenn ich Ihren Antrag anschaue: Sie wollen einen nationalen Alleingang bei den Ad-hoc-Aufnahmen. Sie wollen, dass wir die Rechtsberatung auf den griechischen Inseln finanzieren.
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Glauben Sie eigentlich, dass es den europäischen Zusammenhalt stärkt, wenn wir hingehen und den anderen Ländern erklären, wie Rechtsstaatlichkeit funktioniert? Wir brauchen mehr europäische Zusammenarbeit in diesem Bereich und nicht weniger. Dafür schaffen wir die Voraussetzungen, nicht Sie mit Ihrem Antrag.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Thorsten Frei. – Nächster Redner: Armin-Paulus Hampel für die AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Besucher im Deutschen Bundestag! Uns von der AfD-Fraktion wird ja immer vorgeworfen, wir würden in unseren Anträgen in den Formulierungen und vor allen Dingen in den Faktenangaben nicht sehr präzise sein. Ich muss in diesem Fall die Grünen belehren – da müssen Sie nachsitzen –: Die Zahlen, die Sie hier anführen, sind leider nicht korrekt.
Wir waren gerade in Griechenland. Wir haben mit Vertretern des griechischen Migrationsministeriums, das neu eingerichtet worden ist, gesprochen. Über 47 000 Menschen, nicht 42 000 Menschen, befinden sich derzeit auf fünf griechischen Inseln. Davon sind auch nicht die Hälfte Minderjährige, sondern ein Großteil sind alleinstehende Erwachsene, vornehmlich junge Männer. Nicht einmal ein Drittel davon sind Familien. – Das erst mal zur Klarstellung!
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Was wollen Sie denn unternehmen? Was wollen Sie machen? Sie wollen unbegleitete junge Menschen nach Deutschland schicken. Und dann? Dann kommen sie in ein Jugendheim, und da werden sie von den Sozialpädagogen umfassend betreut und in eine bessere Zukunft geführt.
Wie ist die Realität? All diese Kinder kommen aus Kulturen, in denen die Familie, der Clan, die Großfamilie das bindende Glied schlechthin ist. Diese Kinder alleine in Deutschland zu lassen, würde bedeuten, diese Kinder völlig allein zu lassen, auch in ihrer Entwicklung, meine Damen und Herren.
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Deswegen bleiben wir dabei: Herr Frei, Sie brauchen keinen DNA-Test. Nehmen Sie dem Kind das Mobiltelefon ab. Es telefoniert nämlich täglich mit Mami und Papi. So ist die Realität.
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Dann sind wir der Meinung: Schicken Sie diese Kinder zurück zu ihren Eltern. Sorgen Sie dafür, dass die Eltern sicher in Schutzzonen untergebracht werden und der gesamten Familie kein Leid mehr geschieht. Das wäre vorsorgliche Politik für diese Menschen.
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Da wir uns gerade auf den griechischen Inseln, bevorzugt in Samos, umgeschaut haben, kann ich Ihnen nur eins sagen – das ist die Realität, Herr Frei –: Frau Merkel fährt zu Herrn Erdogan, von dem wir erfahren haben, dass er gerade 185 Flüchtlinge zurückgenommen hat, während Tausende nach Griechenland, und zwar über eine Wasserstraße von knapp 1,6 Kilometern Breite zwischen Kusadasi und Samos, hinübergekommen sind. 1,6 Kilometer! Jeden Tag landen in Griechenland zwischen 50 und 500 Personen an. Die deutsche Bundespolizei ist vor Ort. Sie kann nichts ändern, weil die türkischen Grenzer dort drüben mit den Schleppern gemeinsame Sache machen. Jede Tour bringt 40 000 Euro. Das ist verlockend.
Dann, Herr Frei, müsste Ihre Kanzlerin, Frau Merkel,
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als Allererstes zu Herrn Erdogan gehen und sagen: Sie haben von uns 6 Milliarden Euro bekommen, um dieses Problem zu lösen. Was machen Sie? Sie lassen tagtäglich willentlich und wissentlich Hunderte, wenn nicht gar Tausende von der Türkei rüber nach Griechenland.
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Das Endziel – Sie müssen nur mit den Menschen dort sprechen; die sagen es Ihnen ganz offen – ist, von den Inseln aufs Festland zu kommen. Sobald die Menschen das Festland erreicht haben, können sie sich in Griechenland frei bewegen, vornehmlich hoch nach Thessaloniki und dann weiter über Mazedonien, Serbien oder Bosnien; wir waren ebenfalls dort und haben das Elend in den Lagern gesehen. Das Ziel von allen ist eindeutig – Sie brauchen nur zu fragen –: Germany, Deutschland. – Das sagt Ihnen jeder, den Sie dort ansprechen.
Das bedeutet nicht mehr wie 2015 die Ankunft von Hunderttausenden, was natürlich eine mediale Wirkung erzeugt hat. Inzwischen kommen sie zu Hunderten und zu Tausenden. Der Fluss bleibt konstant. All diejenigen, die in Griechenland sind, derzeit 47 000 Menschen, haben ein Ziel: die Bundesrepublik Deutschland, das seligmachende Land.
Dagegen sprechen wir uns aus. Das wollen wir nicht. Ihr Antrag – machen Sie erst einmal eine ordentliche Recherche zu den Zahlen – ist indiskutabel. Sie vergessen eins: Diese Menschen nehmen die Kinder als ein politisches Mittel; der Pull-Faktor wurde erwähnt. Wenn die Kinder in Deutschland sind, sollen die Familien nachziehen.
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Das wollen wir nicht. Wir drehen es um. Diese armen Kinder werden nicht als politisches Mittel verwendet, sondern man schickt sie zurück zu ihren Eltern, dahin, wo sie hingehören.
Danke schön, meine Damen und Herren.
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Vielen Dank. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Dr. Lars Castellucci.
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Herzlichen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will den antragstellenden Fraktionen, der Linken und den Grünen, ausdrücklich danken, dass sie diese Anträge hier eingebracht haben. Die Situation auf den Inseln, die Situation der unbegleiteten Minderjährigen und der weiteren Personen, die sich auf den Inseln befinden, ist beschämend für Europa. Das verlangt unsere Aufmerksamkeit. Hier muss dringend gehandelt werden.
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Ich glaube, das sollte auch erst einmal der Ansatz des überwiegenden Teils dieses Hauses sein.
Ich will meine Redezeit darauf verwenden, dafür zu werben, eine europäische Lösung anzustreben, und das auch begründen.
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Wir haben Handlungsbedarf. Es ist gesagt worden, dass wir im Bereich der humanitären Hilfe bereits gehandelt haben. Das verdient ausdrücklich den Dank seitens der SPD-Fraktion in Richtung Innenministerium. Den Druck, der durch die Bilder und die Anträge entsteht, wollen wir jetzt nutzen, noch einmal etwas mehr Unterstützung für unser Ansinnen zu erhalten, in Europa eine Koalition hinzubekommen, die gemeinsam handelt.
Warum ist das so wichtig? Meine Partei, die SPD, hat sich vor 95 Jahren aufgemacht und aufgeschrieben, für die vereinigten Staaten von Europa einzutreten. Warum haben wir das gemacht? Nicht nur in der Hoffnung auf die Freundschaft der Völker, sondern auch, weil wir gespürt haben, dass es ein Aufeinander-angewiesen-Sein auf diesem Kontinent gibt, auf dem so viele Völker miteinander leben, und dass dieses Aufeinander-angewiesen-Sein erfordert, dass wir solidarisch miteinander umgehen, insbesondere bei den Fragen, die uns gemeinsam betreffen; denn nur das sichert unseren Frieden, und nur das sichert unseren Wohlstand. Genau das hat uns 2015 Probleme gemacht. Im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/2009 haben wir den Ländern an den Außengrenzen der Europäischen Union im Süden die Mittel gekürzt, ihnen einen Sparkurs aufoktroyiert und ihnen damit auch ein Stück weit die Luft zum Atmen und die Chancen genommen, ihre Dinge im Innern gut zu regeln.
Dann kam 2015. Wir haben ignoriert, dass die Zahlen unter anderem in Italien und in Griechenland schon jahrelang gestiegen waren. 2015 haben wir in Deutschland entschieden: Wir müssen humanitär handeln und haben in Ungarn gesagt: Die Menschen können zu uns kommen. – Als das passiert ist, haben wir gesagt: Jetzt wollen wir gerne die Solidarität der europäischen Staaten. – Das funktioniert nicht. Solidarität ist keine Einbahnstraße,
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sondern Solidarität können wir nur miteinander walten lassen. Genau an diesem Punkt stehen wir heute. Wir müssen für Solidarität werben. Wir haben im zweiten Halbjahr dieses Jahres die Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union inne. Wir haben jetzt also ein besonderes Zeitfenster und eine besondere Chance, zu gemeinsamen Lösungen zu kommen. Wir dürfen jetzt nicht ein Mal humanitär sein und eigenständig, im Alleingang handeln und damit möglicherweise eine Lösung torpedieren und verhindern, dass wir auf lange Sicht nicht mehr humanitär handeln können. Deswegen werbe ich dafür, dass wir das Innenministerium bzw. die Bundesregierung ermutigen, sich mit Nachdruck dafür einzusetzen, mehrere europäische Länder dazu zu gewinnen, auf den griechischen Inseln zu handeln.
Der Bundespräsident hat heute gesagt: „Handeln wir als gute Nachbarn in Europa.“ Das ist für mich kein Satz, der nur in eine Gedenkrede gehört, sondern das ist ein Satz, den wir uns in jeder Debatte vor Augen führen müssen, angesichts dessen wir jeden Tag aufs Neue überprüfen müssen, wo wir in Europa gemeinsam gefordert sind. „Handeln wir als gute Nachbarn in Europa“ bedeutet keine deutschen Alleingänge, erst recht nicht ein halbes Jahr vor der deutschen Ratspräsidentschaft, und auch, jetzt europäische Lösungen auf den griechischen Inseln anzustreben, damit die Verhältnisse dort verbessert werden können.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Lars Castellucci. – Ich war ein bisschen erstaunt über das plötzliche Ende der Rede; denn es wäre noch Zeit da gewesen, aber gut.
Nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion Linda Teuteberg.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ja, die Zustände in den Unterkünften in den sogenannten Hotspots sind vollkommen unzureichend. Auch die Zustände in den Lagern im Norden Griechenlands sind zum Teil katastrophal. Die Aufnahme zusätzlicher Flüchtlingskontingente durch die Bundesrepublik ist jedoch keine verantwortungsvolle Lösung für dieses Problem, auch nicht im Hinblick auf unbegleitete minderjährige Flüchtlinge.
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Was wir brauchen, sind klarere Regeln und schnellere Verfahren.
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Wir müssen daran arbeiten, im Rahmen des Hotspot-Konzepts zügige und rechtsstaatliche Asylverfahren zu realisieren. Und wir müssen beim Frontex-Mandat endlich Fortschritte sehen.
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Die aktuelle griechische Regierung hat hier Zusagen gemacht, endlich zusätzliche Anstrengungen zu unternehmen. Aktuell gibt es da großen Verbesserungsbedarf; das leugnet auch niemand. Nach Auskunft des Bundesinnenministeriums von Mitte September wurden seit Inkrafttreten der EU-Türkei-Erklärung nur 1 905 Geflüchtete zurück in die Türkei gebracht. Nach Angaben der Bundesregierung aus dem Frühjahr wurden 2018 im Rahmen des Abkommens 322 Asylsuchende abgeschoben. Fast 5 000 haben im selben Zeitraum Griechenland freiwillig verlassen.
Die griechische Regierung muss nun dringend angehalten werden, die Aufnahmebedingungen für Migranten zu verbessern und zügige rechtsstaatliche Verfahren und gegebenenfalls Rückführungen durchzuführen. Hier gehört allerdings zur Wahrheit auch dazu, dass EU und UNHCR bereits große Unterstützung gewähren, die offenbar in Griechenland nicht hinreichend umgesetzt wird; denn es gibt durchaus bessere Bedingungen auch für Kinder, was medizinische Versorgung und anderes angeht, und zwar in Flüchtlingslagern in der Türkei und Jordanien. Es liegt hier also nicht an mangelnder Hilfe durch EU und UNHCR, sondern sehr wohl an der Umsetzung in Griechenland. Auch das gehört zur Wahrheit dazu.
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Deshalb wäre auch schnelle Hilfe für Kinder in schlimmen Situationen vor Ort schon heute möglich.
Unabhängig von der aktuellen Lage bleibt allerdings vor allem der Befund, dass die Europäische Union nach wie vor schlecht auf eine neue Migrationskrise vorbereitet wäre. Das ist auch die Beobachtung des UNHCR-Hochkommissars. Wir sind als Europäische Union leider noch immer auf die Kooperationsbereitschaft auch von Staaten wie Marokko, Libyen oder der Türkei angewiesen. Das macht die Europäische Union einerseits erpressbar und führt andererseits in manchen Bereichen zu Zuständen, die wir nicht wollen können, zu humanitär unhaltbaren Zuständen etwa in der Zusammenarbeit mit libyschen Milizen.
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Es ist darum überfällig und unser Ziel als Freie Demokraten, in der EU endlich zu einem neuen Konsens in der Migrationspolitik zu kommen. Allerdings wird dazu nicht beitragen, die Bedenken nahezu aller Nachbarn in der Migrationspolitik zu ignorieren und immer wieder punktuelle Alleingänge Deutschlands durchzuführen. Wir wollen einen tragfähigen Konsens mit anderen in Europa, und dazu müssen auch Griechenland und andere ihren Beitrag leisten. Daran wollen wir mitarbeiten, nicht an punktuellen Alleingängen Deutschlands.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Linda Teuteberg. – Nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke ist Ulla Jelpke.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Frei, seit Jahren diskutieren wir über europäische Maßstäbe, seit Jahren diskutieren wir über Griechenland und über die Überforderung Griechenlands. Da nutzt es meines Erachtens nicht, hier eine Klein-Klein-Aufrechnung zu machen, sondern Deutschland sollte tatsächlich Vorbild im solidarischen humanitären Handeln sein.
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Das bedeutet eben tatsächlich, Kinder und Jugendliche, die unbegleitet sind, ohne ihre Eltern in diesen geschlossenen katastrophalen Lagern, in Deutschland aufzunehmen. Die Kapazitäten sind da, und die Hilfsbereitschaft der Menschen in unserem Land ist auch vorhanden.
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Die Lebensbedingungen in den Hotspots sind von Not und Gewalt geprägt. Es fehlt dort an allem: an Schlafplätzen, an sanitären Einrichtungen, an ärztlicher Versorgung, an psychologischer Betreuung, am Zugang zu Bildung. Im größten Lager Moria waren jetzt kürzlich etwa 20 000 Schutzsuchende untergebracht. 40 Prozent von ihnen sind Minderjährige. Ihre Rechte werden in einem teils bedrohlichen Ausmaß verletzt. 2019 sind drei Kinder in der Folge dieser Bedingungen dort gestorben.
Diese erbärmlichen Zustände wurden bewusst, Herr Frei, durch den schäbigen Flüchtlingsdeal mit Erdogan geschaffen, mit dem alleinigen Ziel, Menschen abzuschrecken, nach Europa zu kommen. Man bezahlt Erdogan dafür, dass er Flüchtlinge abhält,
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wirklich Schutz zu finden. Das ist ein Riesenskandal, meine Damen und Herren.
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Der damalige Innenminister de Maizière hat übrigens 2016 im Bundestag mit den Worten auf uns eingeredet: Auch wenn wir jetzt einige Wochen ein paar harte Bilder aushalten müssen: Unser Ansatz ist richtig. – Wir sehen aber: Es geht nicht um einige Wochen, sondern es geht um Jahre. Und wenn Sie ehrlich sind, wissen Sie auch, dass die Menschen dort jahrelang warten, bis ihr Verfahren durchgeführt wird.
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Davon mal ganz abgesehen: Nein, wir wollen diese Bilder nicht ertragen und aushalten, sondern wir wollen die untragbaren Zustände in den griechischen Lagern ändern. Und dafür können wir hier auch ganz viel tun.
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Meine Damen und Herren, die Aufnahmebereitschaft in Deutschland ist groß. Ich sagte es eben schon: Die Liste der Städte und Gemeinden, die öffentlich erklärt haben, mehr Flüchtlinge aufnehmen zu wollen, wird immer länger. Etwas über 120 haben sich schon bereit erklärt. Die Länder Berlin, Niedersachsen und Thüringen haben Innenminister Seehofer im Dezember ihre Bereitschaft signalisiert und sogar um Zustimmung zur Aufnahme der unbegleiteten Kinder und Jugendlichen gebeten. Doch Seehofer stellt sich quer. Das ist wirklich eine Schande, meine Damen und Herren.
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Viele der in den Hotspots festsitzenden Flüchtlingskinder haben Angehörige, die bereits im Asylverfahren in Deutschland sind. Sie haben gemäß der Dublin-Verordnung einen Rechtsanspruch auf Familienzusammenführung. Doch das BAMF verwehrt selbst ihnen immer häufiger die Aufnahme nach Deutschland. Zwischen Juni und Dezember hat die Asylbehörde mehr als 70 Prozent der Übernahmeersuchen aus Griechenland mit fadenscheinigen Begründungen abgelehnt.
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So darf man mit dem Menschenrecht auf ein Familienleben nicht umgehen.
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Das BAMF muss meines Erachtens unmissverständlich angewiesen werden, diese Regelung der Dublin-Verordnung zur Familienzusammenführung großzügig auszulegen. Mit unserem Antrag schlagen wir vor, dass wenigstens die 2 000 unbegleiteten Kinder aus den Horrorlagern herausgeholt werden.
Das kann aber nur der Anfang sein. Die Bundesregierung muss sich auf EU-Ebene für die sofortige Aufkündigung des Türkei-Deals und für die Schließung dieser in EU-Verantwortung liegenden Hotspots einsetzen.
Frau Jelpke.
Wir brauchen ein europäisches Asylsystem, das diesen Namen wirklich verdient.
Ich danke Ihnen.
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Vielen Dank, Ulla Jelpke. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Luise Amtsberg.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss vorausschicken: Wenn man den CDU-Kollegen Frei hier reden hört, wird völlig offensichtlich, dass es scheinbar ein Riesenkommunikationsproblem zwischen der CDU/CSU-Fraktion und dem Innenministerium und eigentlich auch der Kanzlerin gibt, die ja schon seit 2013 sagt: Dublin ist gescheitert. – Horst Seehofer sagt: Wir wollen eine neue Verteilpolitik; wir müssen Verantwortung übernehmen. – Und Sie stehen hier und sagen: Griechenland ist allein verantwortlich. – Ich frage wirklich: Warum? Weil Lesbos näher an Damaskus liegt als Bad Säckingen, Ihr Heimatort?
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– Nein, ganz im Ernst. Das ist doch die Frage, die sich dahinter verbirgt.
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Ich wollte eigentlich so anfangen: Ich bin froh, dass wir uns hoffentlich alle darüber einig sind, dass die Lage vor Ort inakzeptabel ist und dass wir sie ändern müssen, und zwar sofort. – Das war eine Hoffnung, die sich zerschlagen hat. Ich werde mal versuchen, das BMI zu adressieren und trotzdem am moderaten Ton meiner Rede festzuhalten, weil wir wirklich versucht haben, Maßnahmen aufzuschreiben, die ganz konkret leistbar sind, um als humanitären Beitrag in Europa die Situation dort vor Ort zu verbessern.
Wir fordern die schnelle Umsetzung des Familiennachzugs nach der Dublin-Verordnung – die Probleme wurden schon angesprochen –: die Aufnahme von 5 000 besonders schutzbedürftigen Menschen. Das muss man noch mal erwähnen, weil Sie da unseren Antrag scheinbar nicht richtig gelesen haben. Wir sprechen von Kindern, von schwangeren Frauen, von kranken Menschen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie wissen, dass die Ideen meiner Fraktion zur europäischen Flüchtlingspolitik weit über das hinausgehen, was wir hier aufgeschrieben haben. Natürlich haben wir auch massive Kritik am EU-Türkei-Deal und wollen ihn ablösen. Auch viele andere Punkte spielen dort eine Rolle. Aber wir haben uns beschränkt auf Ad-hoc-Maßnahmen, auf humanitäre Maßnahmen, damit wir uns hier nicht über die großen Linien zerstreiten, sondern wirklich ganz konkret etwas ändern, was uns allen nicht gefallen kann.
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Deshalb ärgert mich das. Deshalb ärgert mich der Einstieg in diese Debatte.
Es ist doch geboten, Griechenland zu helfen.
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Denn Griechenland ist längst überfordert. Griechenland hat auch um Unterstützung gebeten, und zwar nicht nur um Decken, sondern eben auch um die Aufnahme.
Vielleicht erinnere ich noch einmal daran: 2015 hatten wir einen verbindlichen Ratsbeschluss zur Unterstützung der Mittelmeeranrainerstaaten; demnach hätte Deutschland binnen zwei Jahren 27 000 Menschen aufnehmen sollen aus Italien und Griechenland. 27 000 Menschen, das hatten wir zugesagt. Tatsächlich aufgenommen haben wir aber nur die Hälfte. Die gegenwärtige Überlastung Griechenlands – und das müssen Sie zur Kenntnis nehmen – ist also auch eine Folge unserer nicht eingehaltenen Zusagen.
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Schon allein deshalb ist es auch absolut verantwortungslos. Denn bei den Hotspots handelt es sich – auch das wird immer wieder vergessen – um europäische Einrichtungen. Die CDU/CSU-Fraktion tut seit Monaten – ich habe das ja zur Kenntnis genommen – so, als seien das griechische Einrichtungen. Wir haben sie damals mitgegründet. Wir haben gesagt: Wir übernehmen Mitverantwortung, und, ja, wir tragen dort auch Verantwortung.
Das von meiner Fraktion hier geforderte Aufnahmeprogramm wäre ein wichtiger Schritt hin zur europäischen Solidarität, auch zu einer neuen Verteilpolitik, wie Horst Seehofer sie auch als Ziel ausgegeben hat.
Und weil Sie das immer als Gegenargument bringen: Es ist natürlich kein nationaler Alleingang. Wie könnte es denn auch ein nationaler Alleingang sein, wenn wir einem anderen europäischen Mitgliedstaat Unterstützung anbieten?
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Das ist doch das Gegenteil von Alleingang. Das ist kein Schritt gegen, sondern ein wichtiger Schritt für Europa, und das Europarecht lässt dies auch explizit zu.
Einen letzten Satz und Gedanken: Die kommunalen Strukturen zur Aufnahme und Versorgung dieser Menschen sind derzeit in Deutschland vorhanden. Viele Strukturen sind häufig ungenutzt. Zahlreiche Bundesländer haben längst ihre Aufnahmebereitschaft signalisiert, die Kommunen, im Rahmen der Seebrücke-Bewegung, bieten Plätze, wollen in der Situation Abhilfe schaffen; sie und große Teile der Zivilgesellschaft und der Kirchen haben den Mut und den Willen, hier aktiv zu werden.
Frau Kollegin.
Es ist Ihre Aufgabe, dem auch Gehör zu verschaffen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Luise Amtsberg. – Nächster Redner: Alexander Throm für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Unbestreitbar haben wir auf den griechischen Inseln unhaltbare, auch nicht hinnehmbare Zustände, was die Unterbringung der Flüchtlinge dort anbelangt, gerade auch im Hinblick auf die Standards in einem europäischen Land.
Wir haben diese Zustände leider nicht erst seit gestern, sondern schon seit Längerem. Es ist ein nachhaltiges Missmanagement, das dort von Griechenland betrieben wird. Ich frage mich immer: Ist das Unwillen oder Unvermögen gewesen in den vergangenen Jahren?
Wir haben Hilfe angeboten. Die Vorgängerregierung – unter Tsipras, 2015 bis 2019 – hat diese Hilfe aber nur widerwillig angenommen. Jetzt sieht es anders aus. Wir helfen: Wir helfen mit Personal; knapp 100 Beamtinnen und Beamte sind auf den Inseln im Einsatz. Wir schicken Hilfsgüter: 57 Lkws. Und wir helfen auch von Deutschland aus: Das BAMF priorisiert die Anfragen aus Griechenland zur Familienzusammenführung und zu Dublin; diese werden als Erstes bearbeitet.
Aber wir müssen auch sagen, dass Griechenland selbst das EU-Türkei-Abkommen nicht lebt, nicht umsetzt; denn dazu gehören auch Rückführungen in die Türkei, um die Inseln, die Hotspots, zu entlasten. 2019 wurden jedoch nur 189 Personen wieder in die Türkei zurückgeführt.
Zwei Tage vor Weihnachten hat der Vorsitzende der Grünen, Herr Habeck, in einem Interview erklärt, dass wir den Griechen helfen sollen. Er sagte: „Holt als Erstes die Kinder raus!“, „als Erstes“. Deswegen ist die Frage: Was kommt als Zweites?
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Nicht alles, was man sich wünscht, ist hinterher auch tatsächlich sinnvoll. Es würde nämlich einem deutschen Alleingang gleichkommen. Auf die Frage: „Soll Deutschland das auch tun, wenn andere Länder nicht mitmachen?“, bestätigt Habeck: Ja, das muss Deutschland tun. – Das wäre aber genau das falsche Signal. Sie haben es angesprochen: Das sind europäische Einrichtungen, es ist nicht Deutschland allein zuständig. Wir brauchen eine europäische Lösung, einen europäischen Verteilmechanismus, an dem die Bundesregierung, der Innenminister auch mit neuen Vorschlägen arbeitet. Wenn wir aber solche deutschen Alleingänge machen,
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warum sollen dann andere europäische Länder auf die Idee kommen, sich mit uns auf ein neues Verteilsystem zu einigen? Wir sind uns doch einig: Dublin ist gescheitert. Deswegen müssen wir längerfristig, über den heutigen und morgigen Tag hinaus, denken.
Der Vorschlag Ihres Parteivorsitzenden ist wirklich zu kurz gesprungen.
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Offensichtlich hat es ihm auch ausgereicht, den öffentlich-medialen Aufschlag zu haben. Denn ich habe dann gewartet, dass mal ein konstruktiver Vorschlag der Grünen kommt. Aber nach Weihnachten: Still ruht der See.
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Gestern haben Sie – gestern! – mit heißer Nadel einen Antrag gestrickt, weil sie gemerkt haben: Die Linken haben das schon länger thematisiert, und es wird heute auf die Tagesordnung gesetzt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei allem guten Willen: Wir sind uns einig, dass wir die Probleme dort lösen wollen und müssen. Aber so kann seriöse und zielführende Politik nicht funktionieren.
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Vielen Dank, Alexander Throm. – Der letzte Redner in dieser Debatte: Michael Kuffer für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Wir haben eine gemeinsame Sichtweise auf das Problem; aber wir haben eine völlig unterschiedliche Sichtweise auf die Lösung. Ein so gewaltiges Problem, liebe Kolleginnen und Kollegen, wie es uns die weltweiten Migrations- und Fluchtbewegungen aufgeben, kann man nur in den Griff bekommen, wenn man es an der Wurzel packt, anstatt sich darauf zu beschränken, dass man die Symptome bekämpft, und zu versuchen, sich dabei auch noch dauernd zu überbieten; das kann und wird nicht gelingen. Wer das weiterhin fordert, hat insbesondere aus 2015 nichts gelernt. Deshalb sage ich Ihnen in aller Deutlichkeit: Wir müssen aufhören, dass wir in Europa Menschen quer über den Kontinent verteilen und erst nach der Verteilung die Frage der Bleibeperspektive stellen; das ist die falsche Reihenfolge. Das ist im Übrigen die Kernfrage, um die es geht, die uns aber bei der Frage nach den Lösungen trennt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken und von den Grünen, das, was Sie erreichen wollen, ist: Sie wollen die Frage der Bleibeperspektive ignorieren und gerade auch Menschen ohne Bleibeperspektive nach Deutschland und Europa bringen – wohl wissend, wie das endet –, indem Sie in Ihrem Antrag bewusst verschweigen, dass die Frage der Bleibeperspektive sich genau an jenen humanitären Fragen orientiert, die Sie zwar ansprechen, aber meines Erachtens in einen völlig falschen Kontext stellen.
Eine Bleibeperspektive haben jene Menschen, die in ihrer Heimat individueller Verfolgung ausgesetzt sind, und sie haben – vorübergehend jedenfalls – bei uns immer noch auch jene Menschen, die vor Krieg flüchten müssen. Wenn wir von Menschen ohne Bleibeperspektive sprechen, dann deshalb, weil genau jene humanitären Gründe fehlen. Die Frage ist, ob man diese Menschen aus anderen als den humanitären Gründen in Europa verteilen, nach Deutschland holen und in Kauf nehmen will, dass wir am Ende den Aufenthalt nicht beenden können. Sie wollen genau das. Ich sage Ihnen: Wir wollen genau das nicht.
Übrigens scheinen es Ihre Parteifreunde in Hamburg auch nicht zu wollen. Dort, wo Sie regieren, gibt es auch ab und zu lichte Momente wie bei den Kolleginnen und Kollegen in der Hamburger Bürgerschaft, die im Dezember in Hamburg gegen dieses Ansinnen gestimmt haben.
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Sie sagen aber weiterhin: Wenn einem der Keller vollläuft, liegt der Fehler darin, dass man nicht schnell genug Wasser schöpft. – Ich sage Ihnen: Wir glauben, dass in einem solchen Fall das Problem doch eher woanders liegt.
Deswegen ist unsere Antwort darauf, überfüllte Hotspots zu verhindern, dass wir schon die Überfüllung und den Stau vermeiden, und zwar mit einer dreiteiligen Antwort, die weiterhin richtig bleibt: erstens mit raschen Verfahren, die genau die Frage der Bleibeperspektive klären, und zwar als Erstes; zweitens mit einer zügigen Rückführung jener, die keine Bleibeperspektive haben, und zwar unter Ausnutzung genau jener Instrumente und Möglichkeiten, die uns die Vereinbarung mit der Türkei bietet; drittens mit einer Verteilung jener, bei denen humanitäre Gründe vorliegen, selbstverständlich unter Wahrung der humanitären Bedingungen, solange wir die Menschen dort unterbringen müssen. Das ist eine Selbstverständlichkeit.
Wir als Bundesrepublik Deutschland haben die Griechen ausführlichst dabei unterstützt. Wenn mir die Frau Präsidentin freundlicherweise die drei Minuten geben würde, –
Nein.
– die der Kollege Castellucci nicht ausgeschöpft hat, dann könnte ich das ausführlich darlegen.
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Ansonsten sind Sie darauf angewiesen, mir das auch so zu glauben.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Michael Kuffer. – Damit schließe ich die Aussprache.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Adoption ist ein hochsensibles Thema. Wir wollen aber, dass es kein belastendes Thema wird und dass Menschen, die in ihrer Kindheit adoptiert wurden, und ihre Familien gut begleitet werden – bei der Adoption selbst, aber auch danach, in ihrem späteren Leben.
Rein statistisch werden in Deutschland jeden Tag zehn Kinder adoptiert. Im Jahr 2018 waren es insgesamt 3 733 Kinder. Über 95 Prozent der Adoptionen erfolgten im Inland, 176 waren Auslandsadoptionen. Man könnte sagen: Das sind keine hohen Fallzahlen. Aber für die betroffenen Kinder und ihre Familien bedeutet eine solche Entscheidung die Welt.
Mit dem Adoptionshilfe-Gesetz wollen wir die Unterstützung vor, während und nach der Adoption verbessern, für jedes Kind, egal ob in Deutschland oder im Ausland adoptiert, egal ob es in einer Adoptivfamilie aufwächst oder vom neuen Partner oder von der neuen Partnerin eines Elternteils adoptiert wird. Wir wollen Familien in den verschiedenen Situationen ihres Lebens stärken. Man kann sich unser Adoptionshilfe-Gesetz wie ein Haus vorstellen. Unter dem Dach der Adoptionsvermittlungsstellen in Deutschland gibt es vier tragende Wände: Beratung, Aufklärung, Vermittlung und Begleitung. Und diese wollen wir stärken.
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Erstens wollen wir einen Rechtsanspruch auf Beratung und Begleitung nach der Adoption einführen, damit Familien die nötige Unterstützung bekommen, wann immer sie diese brauchen. Die benötigte Hilfe kann sehr unterschiedlich sein. Zum Beispiel, wenn eine Mutter in einer schwierigen Situation ist und vor der Entscheidung steht, ob sie ihr Kind zur Adoption freigibt. Vielleicht wünscht sie sich auch später noch Kontakt oder Informationen über ihr Kind. All das muss sensibel begleitet werden. Und nicht immer ist ein Informationsaustausch oder Kontakt das Beste für alle Seiten. Deshalb sollen die Adoptionsvermittlungsstellen gestärkt werden. Das ist auch wichtig, wenn die Adoptivfamilie Fragen zur Entwicklung des Kindes hat, wenn es schwierige Vorerfahrungen des Kindes gibt und Beratung gebraucht wird.
Wir wollen eine verpflichtende Beratung bei Stiefkindadoptionen einführen, also wenn Kinder von der neuen Partnerin oder dem neuen Partner eines Elternteils adoptiert werden. Die Adoptionsvermittlungsstelle muss hier sicherstellen, dass die Adoption dem Kindeswohl dient und nicht aus anderen Motiven heraus geschieht, beispielsweise wegen Unterhaltsstreitigkeiten oder weil der andere Elternteil aus der Familie gedrängt werden soll. Das sind Fragen, wo es Beratung und Unterstützung braucht.
Wir wollen – zweitens – mit dem Gesetzentwurf einen offeneren Umgang mit dem Thema Adoption innerhalb der Adoptivfamilien, aber auch zwischen der Herkunfts- und der Adoptivfamilie fördern. Kinder haben das Recht, zu wissen, wo sie herkommen. Das ist wichtig für ihre Entwicklung.
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Wir wollen deshalb eine altersgerechte Aufklärung der Kinder unterstützen und auch den Kontakt zwischen Herkunfts- und Adoptivfamilie fördern, soweit es die Eltern wünschen.
Zudem wollen wir auch die Rechte der Herkunftseltern stärken, beispielsweise mit dem Recht, Informationen aus der Adoptivfamilie zu bekommen – allerdings nur, wenn die Adoptivfamilie diese Informationen freiwillig bei der Adoptionsvermittlungsstelle hinterlegt. Auf diese Weise werden beide Familienteile gestärkt.
Drittens wollen wir auf das Thema Vermittlung setzen. Die Adoptionsvermittlungsstellen sind der Anker der Vermittlungen, und wir wollen ihre Strukturen stärken, indem wir einen klaren Aufgabenkatalog festlegen und die Kooperation zwischen den verschiedenen Fachstellen verbessern.
Und viertens wollen wir die Auslandsadoptionen besser begleiten; knapp 200 sind es im Jahr. Wir wollen unbegleitete Auslandsadoptionen grundsätzlich untersagen und ein verpflichtendes Anerkennungsverfahren für Adoptionen aus dem Ausland einführen.
Das wollen wir tun. Insgesamt sind es keine hohen Fallzahlen, über die wir hier sprechen. Dennoch ist es wichtig, über diese Fälle, über die besonderen Familiengeschichten zu sprechen und zu ermöglichen, dass die Kinder in diesen Familien ihren Weg gehen können, egal ob in der leiblichen oder adoptierten Familie. Darum kümmern wir uns.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Ministerin Giffey. – Nächster Redner in der Debatte: Frank Pasemann für die AfD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Hilfen für Familien bei Adoption“, oder kurz: „Adoptionshilfe-Gesetz“, ist der Titel der Gesetzesvorlage. „Verbesserung“ und „Hilfe“, das klingt immer sehr vielversprechend und auch wohlfeil.
Wer in Deutschland Erfahrungen mit einem eigenen, nicht selten unerfüllbaren Adoptionswunsch gemacht hat, wünscht sich natürlich eine Verbesserung oder gar Hilfe jedweder Art. Aber: Der vorliegende Gesetzentwurf ist letztlich nicht mehr als eine minimale Verbesserung des Status quo. Nicht mal dem eigenen Anspruch aus dem Koalitionsvertrag der Regierungsparteien vom 12. März 2018 wird dieser Entwurf gerecht. Dort heißt es – ich zitiere mit Genehmigung der Präsidentin –:
Wir wollen ein modernes Adoptionswesen in Deutschland. Unser Ziel ist es, die Strukturen der Beratung und Vermittlung im Adoptionsvermittlungsverfahren zu verbessern.
Wie sieht die Wirklichkeit aus? Die Zahl der Adoptionen hat sich in den letzten 25 Jahren halbiert und lag im Jahr 2018 – wir haben es schon gehört – bei knapp über 3 700 Kindern und Jugendlichen, Tendenz weiter sinkend. Der Anteil der sogenannten Stiefelternadoptionen macht über die Hälfte der Adoptionen aus. Es handelt sich dabei allerdings nur um eine rein juristische Formalität, bei welcher Kinder in Lebensgemeinschaften von Partnern adoptiert werden.
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Nur circa 1 100 Adoptionen sind Adoptionen in Familien.
Eine dringende grundsätzliche Verbesserung für die Lebenssituation von genau diesen tatsächlich elternlosen Kindern sollte aber durch den vorliegenden Gesetzentwurf zu erwarten sein.
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Dies wäre der Fall, würde ein Kind etwa aus der Heimbetreuung leichter in die Obhut einer sorgenden Familie wechseln können. Die Zahl der Kinder und Jugendlichen in Heimbetreuung ist mit circa 80 000 Kindern und Jugendlichen erschreckend hoch und steigt seit Jahren weiter an.
Gleichzeitig bleiben im vorliegenden Gesetzentwurf die Anforderungen an potenzielle Adoptiveltern im europäischen Vergleich viel zu hoch. Selbstverständlich sind in Sachen Kindeswohl kaum Abstriche zu machen. Allerdings gilt es zu überdenken, ob das Idealbild der derzeitigen Adoptionsnormen, sprich: die Adoptionsvoraussetzungen, das Ziel sein sollte oder nicht – und das wäre der pragmatischere Weg – vielmehr eine essenzielle Verbesserung der Lage des Kindes, welches adoptiert werden könnte und dies auch möchte.
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In meinen Augen ist die Familie jedenfalls einer Pflegeeinrichtung vorzuziehen.
Ein Punkt, der bisher gar keine Beachtung fand, ist die Adoption als Alternative zur Abtreibung, oder kurz: Leben statt Tötung ungeborenen Lebens. Unter dem Eindruck massenweiser Abtreibungen – jedes Jahr werden in Deutschland circa 100 000 Kinder abgetrieben – wäre es ein Leichtes, das Rechtsinstitut der Adoption durch rechtliche Vereinfachung und Entbürokratisierung zu einem wirksamen Instrument der Willkommenskultur für Kinder zu machen.
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Eine Schwangerenkonfliktberatung, die auf der einen Seite die Tötung ungeborenen Lebens als Option hat, könnte durch die weitere Option einer unkomplizierten Adoption auch bei mancher ungewollt Schwangeren zu einer Entscheidung für das ungeborene Leben führen.
Letzter Satz. Als stärkste Oppositionspartei im Deutschen Bundestag
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geben wir den eingebrachten Gesetzentwurf an die Bundesregierung als mangelhaft zurück und fordern diese auf, ihn grundlegend zu überarbeiten.
Vielen Dank.
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Danke schön. – Nächste Rednerin: Bettina Wiesmann für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Adoption gibt es schon seit Jahrhunderten: die Annahme eines fremden Kindes als das eigene und nicht immer aus Not. Der Begriff „Adoption“ stammt aus der römischen Kultur, in der mittels Adoption die besten Nachfolger für einen Angehörigen der Staatsspitze legitimiert wurden: Kaiser Augustus war adoptiert, Kaiser Nero war adoptiert. Die Eltern kannten sich und verschafften sich durch die Adoption eine intensivere Verbindung.
Die Adoption ist, so kann man sagen, der Ursprung der verfassten sozialen Elternschaft. Dies ist aber nur ein Aspekt. Der andere Aspekt, der andere Teil ist das Kind, das nicht zuletzt durch die Kinderrechtskonvention beispielsweise ein Recht auf Kenntnis seiner biologischen Eltern hat. Dessen positive Wirkung auf die Entwicklung eines adoptierten Kindes bestätigt auch die Forschung. Und dem kommt dieses Gesetz durch Förderung der offenen Adoption nach.
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Soziale Elternschaft ohne biologische geht nicht; das muss man einmal zur Kenntnis nehmen.
Meine Damen und Herren, noch vor 60 Jahren mussten Annehmende mindestens 50 Jahre alt sein; denn die Adoption diente primär der Alterssicherung der kinderlosen Annehmenden. Später wurde nicht nur in der DDR die Adoption eingesetzt, um Kinder aus kritischen oder abweichenden Familien zwangsweise herauszuholen. Adoption hieß bis weit in die Gegenwart hinein: Der bisherige Lebenszusammenhang des Kindes wird komplett abgeschnitten: Seine leiblichen Eltern sind weg, der Nachname wird geändert, alte und neue Eltern kennen sich nicht. Aber – das ist ein großer Fortschritt, den wir hier weiterentwickeln – Adoption muss vom Kind her gedacht werden. Niemand muss mehr aus materieller Not – gottlob! – eine Adoption anstreben. Heute dient die Adoption dazu, Familienbande zu stiften oder zu festigen und Kindern auf Dauer mehr Sicherheit zu geben.
Für uns als Union ist das ein Wert an sich, solange das verbindliche Füreinander tatsächlich im Mittelpunkt steht. Dass Adoptionen langfristig gelingen, ist Ziel und Zweck dieses Gesetzentwurfs. Ob Fremdadoption durch Verheiratete, ob Stiefkindadoption oder ob Adoption ausländischer Kinder – es sind viele verschiedene Spielarten, aber alle sind aus Sicht des Kindes, der Kinder eine erhebliche Herausforderung. Deshalb muss hier – davon sind wir überzeugt – ganz genau hingeschaut werden. Wir sind deshalb sehr froh, dass der Gesetzentwurf die Pflichten zur Begleitung, Beratung und Moderation vor und während der gesamten Übergangsphase deutlich ausweitet.
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Für die nachgehende Begleitung wird ein Rechtsanspruch eingeführt, und das Kind ist entsprechend seiner Entwicklung zu beteiligen. Mit 14 Jahren muss es dann zustimmen. Eine Schiedsstelle kann eingeschaltet werden. Die Vermittlungsstellen prüfen nicht nur, ob die Annehmenden dem Kind einen Rahmen und einen Halt für eine gute Entwicklung geben können, sondern sie erhalten die Möglichkeit, den gesamten Prozess offen und für alle Beteiligten weitgehend transparent zu führen. All dies dient dem Kindeswohl, für das wir eine funktionierende Familie als wesentlich ansehen.
Von besonderer Bedeutung ist, dass endlich für Adoptionen von Kindern im Ausland die gleichen Anforderungsstandards gelten wie bei Inlandsadoptionen. Nur bei Mitwirkung einer Adoptionsstelle der Länder oder zugelassener Stellen freier Träger und nur mittels eines verpflichtenden Anerkennungsverfahrens wird die Adoption rechtsgültig. Damit wird endlich gleiches Recht geschaffen, egal wo das Kind geboren wurde.
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Meine Damen und Herren, all dies sind gute Gründe, diesen Gesetzentwurf gut zu finden. Er bringt nach Jahren der Diskussion endlich Klarheit. Ich freue mich, dass wir damit einen deutlichen Schritt hin zur Beachtung der Rechte der Kinder machen; denn bei Adoption ist nicht der Kinderwunsch der Annehmenden vorrangig zu berücksichtigen – es gibt kein Recht auf ein Kind –, sondern das Wohl des Kindes ist der wichtigste Gesichtspunkt. Dann gelingt Adoption und mit ihr Familie, nach Unionsverständnis Familie als Ort, wo Kinder und Eltern auf Dauer Verantwortung füreinander übernehmen.
Ich freue mich sehr auf die Beratungen im Ausschuss und danke Ihnen fürs Zuhören.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Bettina Wiesmann. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Daniel Föst.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Ministerin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ohne Zweifel ist eine Adoption eine lebensverändernde Entscheidung – für das Kind, für die Adoptiveltern und für die Herkunftseltern. Die psychosozialen Folgen bei jeder Form der Adoption – da ist es völlig egal, ob aus dem Ausland oder aus dem Inland adoptiert wird oder ob es sich um eine Stiefkindadoption handelt – dürfen nicht unterschätzt werden. Im Mittelpunkt muss – ich kann das nicht oft genug betonen; ich sehe, Sie sehen das genauso – das Wohl des Kindes stehen.
Ich frage mich, warum die letzte grundlegende Reform des Adoptionsrechts 1970 stattfand. Unsere Gesellschaft hat sich seitdem stark gewandelt. Darum ist das Vorhaben, das Adoptionsrecht zu modernisieren, grundsätzlich eine gute Idee. Das gilt insbesondere für das Verbot von unbegleiteten Adoptionen aus dem Ausland; denn solche unbegleiteten Adoptionen – das müssen wir uns klarmachen – sind ein Einfallstor für illegale Praktiken, teilweise sogar für Menschenhandel.
Auch die Risiken von unbegleiteten Adoptionen aus dem Ausland sind hoch. Sind die Bewerber auf ihre Rolle vorbereitet? Sind sie überhaupt grundsätzlich geeignet? Wurden die Herkunftseltern über die Folgen ihrer Entscheidung aufgeklärt? Ist eine qualifizierte Nachbetreuung durch Fachstellen garantiert? Für genau solche Fragen gibt es die autorisierten und anerkannten Fachstellen. Durch die Fachstellen wird die Wahrscheinlichkeit, dass eine Adoption für alle Beteiligten gelingt, deutlich erhöht. Beratung vor, während und nach der Adoption ist deshalb richtig und wichtig, und wir begrüßen das ausdrücklich.
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Ein wichtiger Baustein für eine funktionierende Adoption ist zudem der offene Umgang mit dem Thema. Eine Adoption ist ja gerade eine Entscheidung fürs Leben. Es liegt in der Natur der Sache, dass früher oder später alle Beteiligten Fragen aufwerfen, die geklärt werden müssen. Deswegen ist ein offener und selbstverständlicher Umgang mit der Adoption ausgesprochen wichtig; auch das berücksichtigt der vorgelegte Gesetzentwurf, und das ist gut.
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– Ja, man darf durchaus als Serviceopposition die Regierung mal loben, wenn etwas gelingt. Ist ja selten genug.
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Dieses Gesetz hat gute Punkte, aber ich appelliere an das Haus, dieses Gesetz noch besser zu machen.
Erstens. Die Forderung nach mehr Begleitung und Beratung ist richtig und gut; allerdings muss auch sichergestellt werden, dass die verantwortlichen Stellen – und damit meine ich die staatlichen Stellen und die in freier Trägerschaft – auch die entsprechenden Mittel für ihre Aufgaben bekommen.
Zweiter wichtiger Punkt. Reden Sie bitte endlich auch mit dem Justizministerium! Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem März 2019 gilt auch hier bei diesem Gesetz. Wir hätten auch den Gesetzentwurf des BMJV in diesen Gesetzentwurf einarbeiten müssen.
Und drittens. Wir leben im 21. Jahrhundert.
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Wir haben gottlob die Ehe für alle. Es ist nicht allen bewusst, dass wir im 21. Jahrhundert leben; manche wollen auch wieder zurück in die Vergangenheit. Aber es kann nicht sein, dass ein lesbisches Paar, das schon ewig verpartnert ist – Sie alle kennen den Fall der Ackermanns –, heute einen langwierigen und komplizierten Prozess einer Stiefkindadoption durchlaufen muss, anstatt einfach die Elternschaft anerkannt bekommen zu können. Korrigieren Sie das endlich im Abstammungsrecht!
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Daniel Föst. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Doris Achelwilm.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Wir beraten heute einen Gesetzentwurf zur besseren Unterstützung von Familien bei Adoptionsverfahren. An vieles Wichtige wurde gedacht, zum Beispiel daran, dass das im Mittelpunkt stehende Kind je nach Entwicklungsstand stärker informiert und beteiligt werden soll. Auch die Herkunftseltern und Adoptivfamilien des Kindes sollen durch umfassende Beratungsprozesse – wir haben es gehört – intensiver berücksichtigt und begleitet werden, und das ist gut.
An vieles, was wichtig ist, wurde aber auch noch nicht gedacht. Da wäre zum einen das Geld. Die praktische Umsetzung neuer Beratungsrechte und ‑pflichten liegt wesentlich bei den Adoptionsvermittlungsstellen. Die sollen für den erneuerten Katalog an zusätzlichen Aufgaben gut 3 Millionen Euro mehr für Personal erhalten. Das klingt vielleicht nach ein bisschen was, bedeutet in der Praxis aber nur etwa 70 zusätzliche Vollzeitfachkräfte bundesweit. Hier braucht es mehr Mittel, wenn der Aufwand für die breitere Aufstellung nicht zulasten der Länder oder des Beratungspersonals gehen soll.
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Zum spezielleren Problem, das bereits angeklungen ist – und das ist tatsächlich ein grundlegendes Gerechtigkeitsproblem –: Das Adoptionshilfe-Gesetz benachteiligt bestimmte Elternkonstellationen, weil es sie nicht mitdenkt, und zwar Familien mit zwei lesbischen Müttern. Selbst wenn Kinder in diese Regenbogenfamilien hineingeboren wurden, gibt es keine gleichwertigen Rechte für die beiden weiblichen Elternteile. Für ihre gemeinsame Elternschaft müssen sie, von der Heirat ganz abgesehen, den monatelangen Umweg der Stiefkindadoption gehen und diese durch aufreibende Verfahren beglaubigen lassen. Andernfalls hat die nichtgebärende Mutter, wenn der leiblichen Mutter etwas zustößt, keine Rechte, und ihr Kind gilt im Fall der Fälle als Vollwaise, obwohl es das gar nicht ist. Der Lesben- und Schwulenverband bringt diese gravierende Benachteiligung auf den Punkt und sagt: Lesbische Mütter sind die einzigen Eltern, in deren Partnerschaften Kinder hineingeboren werden, die gegenüber dem Jugendamt und dem Familiengericht ihre Eignung als Eltern nachweisen müssen. – Es ist ein Unding.
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Dass mit dem sogenannten Adoptionshilfe-Gesetz für lesbische Elternpaare nun noch eine verpflichtende Beratung obendrauf kommt, weil das für Stiefkindadoptionen eben so vorgesehen ist, stellt eine zusätzliche Auflage für Zwei-Mütter-Familien dar, und das, obwohl sie gar keine Stieffamilien sind. Dicker Fehler, sicher nicht im Sinne des Kindeswohls, bitte ändern!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn vielfältige Familienkonstellationen längst gesellschaftliche Realität sind, müssen die Rechte für Familien jenseits traditioneller Normen schneller mitwachsen. Die Ehe für alle ist seit zweieinhalb Jahren da, hat aber noch echte Lücken, wie sich auch hier wieder zeigt. Allen Betroffenen, den Verbänden, die gegen die Situation der diskriminierenden Stiefkindadoption kämpfen und Lösungsvorschläge aufzeigen, wie zum Beispiel den Ackermanns, müssen wir gerecht werden. Dafür muss das Abstammungsrecht grundlegend reformiert werden. Solange das nicht passiert und Regenbogenfamilien nicht gleichgestellt sind, muss das Adoptionshilfe-Gesetz zumindest so gestaltet werden, dass es keine weiteren Hürden für bereits benachteiligte Eltern schafft.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Doris Achelwilm. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Katja Dörner.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Wohl und die Interessen der Kinder müssen bei Adoptionen immer im Mittelpunkt stehen. Im Sinne der Kinder kann ich es daher nur ausdrücklich begrüßen, dass der vorgelegte Gesetzentwurf auf eine stärkere Einbindung und Begleitung aller an einer Adoption Beteiligten abzielt, und zwar im Vorfeld, während und auch nach Beendigung des formalen Adoptionsprozesses. Denn der Bedarf an Unterstützung, Information und Beratung endet für viele Kinder und ihre Adoptionsfamilien, aber eben auch für viele Herkunftsfamilien nicht mit dem Tag der Adoption. Fragen ergeben sich, und Herausforderungen entstehen, gerade auch im Alltag, mit und ohne einander. Das Recht auf eine professionelle Begleitung nach der Adoption kann hier helfen, vieles aufzufangen. Das ist eine tatsächliche Verbesserung.
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Und es ist auch im Sinne der Kinder, mehr Offenheit über das Adoptionsverfahren aktiv zu fördern, und zwar für sämtliche Beteiligten. Das Wissen darum, wo man herkommt, ist für viele Menschen ein zentraler Bestandteil ihrer Identität; das haben wir hier schon häufig gehört, und das sehen wir auch so. Deshalb ist es auch zu begrüßen, dass zukünftig der Informationsaustausch und, falls möglich, der Kontakt mit der Herkunftsfamilie stärker gefördert werden sollen.
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Aber das Wissen um die eigene Herkunft sollte ein Recht sein und nicht nur eine Option. Das gilt auch – altersgerecht aufbereitet – für Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren. Die individuelle Möglichkeit, über die eigene Abstammung Kenntnis zu erlangen und auch Kenntnis gewährt zu bekommen, sollte deshalb aus unserer Sicht im Gesetz stärker verankert werden. Da interessieren wir uns auch für das, was wir in der Anhörung dazulernen werden. Vielleicht gibt es da ja noch Möglichkeiten, beim Gesetz nachzubessern.
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Es ist auch gut, dass unbegleitete Auslandsadoptionen verboten werden. Das dient dem Schutz von Kindern, und es lässt Adoptiveltern auch sicher sein, dass das Kind, das sie adoptieren, tatsächlich eine neue Familie braucht.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, mehr Offenheit, mehr Begleitung und mehr Unterstützung: Das Adoptionshilfe-Gesetz geht aus unserer Sicht in vielen Punkten in die richtige Richtung. Grundsätzlich heiße ich deshalb auch die vorgesehene verpflichtende Beratung bei Stiefkindadoptionen gut. Auch sie dient dem Schutz und dem Wohl der betroffenen Kinder. Keinen Sinn, absolut gar keinen Sinn macht sie allerdings bei lesbischen Müttern, die gemeinsam ein Kind bekommen. Hier stellt die verpflichtende Beratung eine zusätzliche Hürde dar, ich will sogar sagen: eine regelrechte Schikane. Es zeigt sich die Krux, dass weiterhin versäumt wird, lesbische Ehepaare mit heterosexuellen Ehepaaren endlich gleichzustellen.
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Anstelle einer Stiefkindadoption ihres Kindes, bald nun auch noch verbunden mit einer verpflichtenden Beratung, muss für lesbische Mütter eine automatische Anerkennung der Elternschaft erfolgen. Wir fordern das schon sehr lange. Ich frage mich, wann die Bundesregierung das endlich umsetzt. Das ist nicht nur im Sinne der Mütter, sondern insbesondere im Sinne der Kinder. Wir hätten dann auch keinen Grund mehr, eigentlich rundum sinnvolle Gesetzentwürfe aufgrund ihrer Auswirkungen auf bestimmte Elternkonstellationen doch kritisieren zu müssen, die im Kontext der Adoption gar nicht verortet sein sollten.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Katja Dörner. – Nächste Rednerin: für die CDU/CSU-Fraktion Ingrid Pahlmann.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Adoptionsrecht in erster Lesung. Ich glaube, wir können uns alle zumindest ansatzweise vorstellen, wie tiefgreifend eine Adoption für alle Beteiligten ist: für die Kinder, für die leiblichen Eltern und für die Adoptivfamilien. Eine Adoption verändert viele Leben in einem absolut unbeschreiblichen Maße. Deswegen unterstützen wir als Union das Anliegen der Bundesregierung, die Adoptionshilfe zu verbessern und auszubauen unter Einbeziehung der Erkenntnisse aus Forschung und auch aus Praxis. Welche Verbesserungen sind nun konkret angedacht? Ich möchte im Folgenden auf vier wesentliche Punkte eingehen.
Erstens. Alle Beteiligten sollen einen Rechtsanspruch auch auf nachgehende Beratung durch eine Adoptionsvermittlungsstelle bekommen; denn eine Adoption begleitet die betroffenen Menschen ihr Leben lang. Eine Adoption ist eben nicht abgeschlossen, sobald durch einen gerichtlichen Beschluss ein neues juristisches Kind-Eltern-Verhältnis begründet wurde. Nein, eine Adoption fängt eigentlich dann erst so richtig an. Deswegen ist es immens wichtig, dass wir alle Beteiligten nicht alleine lassen, dass wir sie nicht nur vor und während des Adoptionsprozesses fachlich fundiert begleiten und dann sagen: Herzlichen Glückwunsch, nun seht zu, dass alles funktioniert. Und Tschüss! – Nein, die Eltern – die leiblichen und die Adoptiveltern – und vor allem auch die Kinder sollen in der für sie neuen Situation weiterhin unterstützt werden.
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Wir müssen die Adoption als Ganzes sehen und den Beteiligten in den unterschiedlichen Phasen auch zur Seite stehen.
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Zweitens. Ein offener Umgang mit der Adoption soll gefördert werden; denn für Kinder – für ihr Selbstbild und ihre Entwicklung – ist es enorm wichtig, zu wissen, woher sie kommen und wo ihre Wurzeln sind. Deswegen sollen Adoptionsvermittlungsstellen die Adoptiveltern ermutigen und dabei unterstützen, ihr Kind über seine Herkunft aufzuklären. Dass das alles natürlich altersgerecht und mit der notwendigen Sensibilität geschehen muss, ist klar. Und: Es bleibt auch den Adoptiveltern unbenommen, selbst über das Ob, Wann und Wie einer solchen Aufklärung zu entscheiden. Darüber hinaus sollen der Austausch und der Kontakt zwischen Herkunftsfamilie und Adoptivfamilie, wo gewünscht, gefördert werden. Da es den leiblichen Eltern in der Regel nicht leichtfällt, ihr Kind zur Adoption freizugeben, wollen wir auch ihre Rolle stärken. Sie sollen ein Recht auf Zugang zu Informationen erhalten, die die Adoptiveltern freiwillig bei der Adoptionsvermittlungsstelle für sie hinterlegt haben. Voraussetzung dafür aber bleibt, dass dies immer dem Wohle des Kindes entspricht.
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Drittens. Um die Adoptionsvermittlungsstellen in ihrer zentralen Rolle zu stärken, werden diese mit einem konkreten Aufgabenkatalog ausgestattet. Sie erhalten ferner ein Kooperationsgebot, um den fachlichen Austausch und die Vernetzung auch mit anderen Beratungsstellen auszubauen, zum Beispiel der Schwangerschaftsberatung, der Erziehungsberatung. Das alles ist im Sinne der Familien, die dann einen ganzheitlichen Umgang mit ihren Bedürfnissen erhalten.
Viertens. Um Kinder zu schützen, sollen unbegleitete Auslandsadoptionen verboten werden. Adoptionen von Kindern aus anderen Ländern, mitunter aus einer anderen Kultur, sind oft noch viel, viel schwieriger zu gestalten. Deshalb müssen Auslandsadoptionen in Zukunft durch eine Adoptionsvermittlungsstelle begleitet werden. Das sichert nicht nur das Wohl des Kindes, sondern bereitet auch die Adoptionsfamilie auf die besonderen Herausforderungen einer Auslandsadoption vor. Ein Scheitern solcher Adoptionen hinterlässt einen Scherbenhaufen, der kaum zu kitten wäre.
Meine Damen und Herren, dieses Maßnahmenpaket zum Adoptionsrecht beinhaltet viele weitere Punkte; wir haben es schon gehört. Ziel ist es insgesamt, alle Adoptionsbeteiligten zu stärken, das Kindeswohl voranzustellen und so insgesamt das Gelingen von Adoptionen zu fördern. Wir als Unionsfraktion begrüßen diese Vorschläge. In den anstehenden Ausschussberatungen werden wir intensiv prüfen, ob wir an der einen oder anderen Stelle nachjustieren müssen. Ich freue mich auf die Diskussionen und auf den Austausch mit Ihnen allen im Ausschuss.
Danke.
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Vielen Dank, Ingrid Pahlmann. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Sönke Rix.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wenn man insbesondere mit Bürgerinnen und Bürgern über das Thema Adoption spricht, dann haben häufig viele das Beispiel der Familien vor Augen, die quasi auf Kindersuche sind. Häufig wird es so betrachtet: Sie haben es so schwer, sie wollen so gerne, können aber nicht; die Adoptionsverfahren sind zu kompliziert, und es gibt zu viele rechtliche Hürden usw. – Die wenigsten denken beim Stichwort „Adoption“ sofort auch an die Ursprungsfamilie, also daran, dass es auch Gründe gibt, warum eine Familie ein Kind zur Adoption freigegeben hat – wenn ich es mal so ausdrücken darf. Auch wenige denken dabei an das Kind selbst. Viel häufiger wird in erster Linie darüber geredet: Was können wir tun, um die Situation für die Adoptiveltern zu verbessern?
Das Gute an diesem Gesetzentwurf ist, dass er wirklich alle drei in den Blick nimmt. Erstens geht es darum, die Situation derer zu verbessern, die einen Kinderwunsch haben. Sie sollen über die eigentliche Adoption hinaus begleitet werden. Der Prozess der Adoption ist nicht beendet, wenn das Kind in die Familie gekommen ist, sondern geht weiter. Zweitens nimmt der Gesetzentwurf die Kinder in den Blick. Er stärkt nämlich die Rechte der Kinder. Der gesamte Prozess der Adoption soll mit Blick auf das Kindeswohl gestaltet werden. Drittens nimmt der Gesetzentwurf auch die Herkunftsfamilien in den Blick. Gerade diese Ausgewogenheit ist das besonders Gute an diesem Gesetzentwurf, Frau Giffey. Deshalb danke ich Ihnen für diesen Entwurf.
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Wir diskutieren immer wieder auch über die besondere Situation bei der Adoption von Kindern aus dem Ausland. Deshalb auch hier ein Dank, dass Sie ein Verbot von unbegleiteten Adoptionen aus dem Ausland mit aufgenommen haben. Auch das verbessert die Situation; denn diese Adoptionen sind ein besonders schwieriges und sensibles Thema. – Von daher ist es ein sehr guter Gesetzentwurf, bei dem wir uns auf die weiteren Beratungen mit Ihnen und auf die Anhörung mit den Fachkolleginnen und ‑kollegen im Ausschuss freuen.
Natürlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, kann man, wenn es um das Thema Adoption geht, auch noch viel weiter gehen. Auch die Fachpolitikerinnen und Fachpolitiker der SPD sind der Auffassung, dass lesbischen Ehepaaren keine Hürden in den Weg gestellt werden sollen, wenn sie Kinder adoptieren wollen.
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Wir glauben, dass dies über das Abstammungsrecht zu regeln ist, und wir hätten auch kein Problem damit, es hier zu regeln. Wir halten es für richtig, denjenigen, die Verantwortung übernehmen, in deren Familien Kinder geboren werden, nicht auch noch Hürden in den Weg zu stellen.
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Von daher sind wir bei diesem Thema sehr gesprächsbereit. Aber das ist ja auch nur eine der Baustellen, die wir bearbeiten. Viele Dinge, was Adoptionsfamilien und Adoption angeht, sind im Bereich Recht und Verbraucherschutz angesiedelt. Von daher muss man das immer im Zusammenhang denken.
Ich finde, der Entwurf ist ein guter Baustein. Wir freuen uns auf die Debatte dazu und werden die Adoptionshilfe verbessern.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Sönke Rix. – Letzter Redner in dieser Debatte: Dr. Volker Ullrich für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es sind numerisch nur wenige Fälle: Rechnerisch werden in Deutschland pro Tag keine zehn Adoptionen vorgenommen. Dennoch ist es richtig und wichtig, dass sich der Rechtsstaat mit diesem Thema beschäftigt – zum einen, weil wir für jeden einzelnen Fall Sorge tragen wollen, dass die Adoption in einem rechtlich ordentlichen Verfahren abläuft, zum anderen, weil die Adoption für diejenigen, die adoptiert werden, aber auch für die Adoptiveltern einen wesentlichen Einschnitt in ihrem Leben darstellt.
Ich möchte den Grundsatz, der uns leitet, in den Mittelpunkt der Debatte stellen. Bei der Frage, wie wir das Adoptionsrecht in Deutschland zukünftig ausgestalten, steht für uns das Kindeswohl im Mittelpunkt. Das ist der Dreh- und Angelpunkt des Adoptionsrechts.
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Es ist richtig, wenn wir die Stiefkindadoptionen – sie betreffen 63 Prozent der Adoptionen – stärker in den Blick nehmen und den Familien, bei denen Stiefkindadoptionen vorkommen, die helfende Hand des Staates anbieten. Selbst wenn die Kinder bereits in den Familien leben, wie das oftmals der Fall ist, ist für diese einschneidende Änderung dennoch eine Beratung des Staates notwendig. Ich sage auch – das ist die verfassungsrechtliche Komponente –: Wir müssen bei der Frage der Stiefkindadoption mit Nachdruck das Urteil des Bundesverfassungsgerichts umsetzen. Das sind wir nichtehelichen und ehelichen Lebensgemeinschaften gleichermaßen schuldig.
Die Adoptionsvermittlungsstellen werden zukünftig einen höheren Stellenwert bekommen. Dabei muss auch klar sein, dass diese ordentlich ausgestattet werden und dass die Pädagoginnen und Pädagogen, die dort beraten, sich ihrer Tätigkeit bewusst werden. Das ist eine schwierige und wichtige Aufgabe der Länder und der freien Träger, und sie brauchen die Unterstützung des Staates.
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Der letzte Punkt ist mir wichtig – er betrifft nicht viele Fälle, weniger als 200 im Jahr –: die Auslandsadoption. Es ist ein wichtiges Signal, dass wir sagen, es gibt zukünftig keine unbegleiteten Auslandsadoptionen mehr; denn hier geht es um mehr. Es geht um die Frage, ob Schutzstandards eingehalten werden. Es geht darum, dass die Eltern des Kindes möglicherweise gar nicht aufgeklärt werden. Es geht darum, dass wir in Familien eingreifen und dass letzten Endes durch die Auslandsadoptionen vielleicht sogar Unrecht passiert. Wir müssen verhindern, dass sich eine Art Markt entwickelt. Auch hier geht es einzig und allein um das Kindeswohl.
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Wenn wir all das betrachten, dann können wir mit wissenschaftlicher Beteiligung eine Modernisierung des Adoptionsrechts erreichen; denn es geht uns um die Kinder.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Volker Ullrich. – Damit schließe ich die Aussprache.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der erste Strafprozess im milliardenschweren Cum/Ex-Steuerskandal am Landgericht Bonn findet voraussichtlich im Februar/März sein Ende und ist schon heute wegweisend. Angeklagt sind zwei britische Aktienhändler. Der Schaden beläuft sich auf 447 Millionen Euro. Eine Entscheidung ist bereits gefallen. Der Vorsitzende Richter stellte im Dezember klar: Das Gericht sieht den Straftatbestand der Steuerhinterziehung in einem besonders schweren Fall als erfüllt an.
Das Urteil ist in seiner Signalwirkung gar nicht zu überschätzen. Denn inzwischen ist klar:
Erstens. Cum/Ex ist der größte Steuerskandal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland mit einem Schaden von mindestens 10 Milliarden Euro.
Zweitens. Cum/Ex ist auch ein europäischer Steuerskandal mit einer Dimension von geschätzt 50 Milliarden Euro.
Drittens. An Cum/Ex waren praktisch alle Bankensegmente beteiligt, natürlich die Deutsche Bank, die Commerzbank, aber auch zahlreiche andere internationale Banken, aber eben auch etliche Landesbanken, die DekaBank, private Bankhäuser, und auch Sparkassen und Volksbanken waren direkt oder zumindest indirekt beteiligt.
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Viertens. Cum/Ex ist auch ein Beraterskandal. Freshfields beispielsweise und andere große internationale Wirtschaftskanzleien waren zentrale Drahtzieher und haben sich darauf spezialisiert, Recht und Gesetz auszuhöhlen, statt es zu verteidigen.
Fünftens. Cum/Ex ist ein klarer Fall von Staatsversagen.
Aber die staatlichen Strukturen, die diesen Skandal ermöglicht haben, sind bis heute dieselben. Und auch das ist ein Skandal.
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Ja, Olaf Scholz hat im vergangenen Jahr angekündigt, ein paar neue Planstellen im Bundeszentralamt für Steuern zu schaffen; aber das ist deutlich zu wenig. Bis heute relativieren Sie von der Koalition den Schaden. Im Endbericht des Cum/Ex-Untersuchungsausschusses beharrten Sie doch ernsthaft auf der Zahl von weniger als 1 Milliarde Euro Schaden. Ein Witz, meine Damen und Herren!
Offenbar gilt im Hause Steinbrück/Schäuble/Scholz auch heute noch das Motto: Besser vertuschen als aufklären. – So enthüllten gestern WDR und „Süddeutsche Zeitung“, dass das Finanzministerium falsche Angaben zu der Frage gemacht hat, wann das Finanzministerium von weiteren teuren Steuertricks, den sogenannten Cum/Fake-Geschäften, wusste:
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Nicht erst 2018 erfuhren Sie davon, sondern bereits 2012 und 2013. Gemacht haben Sie allerdings bis 2018 nichts dagegen. Stattdessen ließen Sie eine E-Mail schwärzen, und jüngst haben Sie das Informationsfreiheitsgesetz eingeschränkt. – So kann man damit nicht umgehen, meine Damen und Herren.
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Wir Grünen haben 2016 einen Untersuchungsausschuss initiiert. Wir wollten Licht ins Dunkel von Cum/Ex-Geschäften bringen, und wir wollten sehen, wo staatliche Strukturen versagt haben, um sie für die Zukunft zu verbessern. Sie wollten den Bericht einfach abheften – und fertig. So geht das nicht.
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Deshalb haben wir schon vor einem Jahr einen Zehn-Punkte-Maßnahmenplan vorgelegt. Der sieht unter anderem vor, erstens die drohende Verjährung der Cum/Ex-Straftaten durch eine konzertierte Aktion zwischen Bund und Ländern zu verhindern, zweitens Lobbyverflechtungen bei Gesetzgebungsverfahren durch einen legislativen Fußabdruck transparent zu machen und drittens eine systematische Analyse der Steuererstattungen auf illegale Praktiken einzuführen; denn es ist schon wirklich fahrlässig, trotz 30 Jahren Cum/Ex und Cum/Cum weder eine klare Statistik zu Kapitalertragsteuereinnahmen und ‑erstattungen zu haben noch Personal für eine systematische Analyse.
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Schließlich fordern wir drei wichtige gesetzliche Änderungen: Erstens fordern wir die Einführung eines effektiven Whistleblower-Schutzes in Deutschland; denn all das ist letztlich nur ins Rollen gekommen, weil es Whistleblower mit Gewissen gab. Aber die brauchen unseren Schutz, meine Damen und Herren.
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Zweitens fordern wir die Einführung von Unternehmenssanktionen bei Steuerhinterziehung. Drittens fordern wir, dass Berater ihre steuergetriebenen Gestaltungsmodelle anzeigen müssen.
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Aber bei allen drei Gesetzesvorhaben bremsen, blockieren oder verwässern Sie von der Koalition. Bezüglich der Unternehmenssanktionen hat Ministerin Barley im April 2019 angekündigt, zeitnah einen Gesetzentwurf dazu vorzulegen.
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Bis heute gibt es noch nicht einmal einen Kabinettsentwurf. Und bei Anzeigepflicht und Whistleblower-Schutz würde ohne die EU überhaupt nichts vorangehen.
Wir setzen deshalb jetzt auf eine öffentliche Anhörung zu unserem Zehn-Punkte-Plan im Finanzausschuss; denn bandenmäßige Steuertrickserei lässt sich nicht aussitzen. Dem Einhalt zu gebieten, das ist nicht nur die Aufgabe eines Rechtsstaates, das ist eine Frage der Demokratie.
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Vielen Dank, Lisa Paus. – Nächster Redner: Fritz Güntzler für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man kann fast sagen: Endlich wieder Cum/Ex! Ich habe es schon fast ein bisschen vermisst. Ich war in der letzten Legislaturperiode Mitglied des Untersuchungsausschusses, in dem wir uns anderthalb Jahre mit dieser Frage beschäftigt haben. Man hat schon ein bisschen Sehnsucht gehabt und gehofft, dass das Thema hier wieder auf die Tagesordnung kommt.
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Ich habe den Antrag der Grünen, der schon ein bisschen älter ist, und den der Linken aufmerksam gelesen. Bis jetzt habe ich aber noch nicht so ganz verstanden, was eigentlich der Anlass dafür ist, warum wir heute wieder darüber sprechen müssen.
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Wir können aber gerne die Zeit nutzen und noch einmal darstellen, was in diesem Untersuchungsausschuss herausgekommen ist. Es gibt einen über 1 000-seitigen Bericht; den kann man gerne lesen. Wir haben in den eineinhalb Jahren viele Zeugen vernommen und dabei auch Dinge erfahren, die man gar nicht geahnt hat; das gebe ich zu. Wir haben in dem Ausschuss aber festgestellt, dass die Finanzbehörden sachgerecht und pflichtgemäß gehandelt haben.
Hier wird immer wieder erzählt, wie viele Milliarden es sein sollen. Wir haben hier zig Sachverständige angehört, und keiner konnte uns darlegen, wie hoch der Schaden tatsächlich ist,
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insbesondere – Frau Paus, das wissen Sie auch – weil zahlreiche Kapitalertragsteuern gar nicht ausgezahlt worden sind, weil es gute Mitarbeiter beim Bundeszentralamt für Steuern gegeben hat und gibt, die das verhindert haben. Von daher sollten wir denen sehr dankbar sein.
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Wir haben in dem Bericht festgestellt, dass diese Cum/Ex-Geschäfte rechtswidrig waren. Wir haben aber auch darauf hingewiesen, dass das bis heute gar nicht höchstrichterlich entschieden ist. Wir sind aber zu der Auffassung gelangt, dass es keine Gesetzeslücke, sondern schlicht Steuerbetrug war,
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wie das Landgericht Bonn jetzt wohl auch entscheiden wird; denn es kann nicht sein, dass eine Steuer, die einmal gezahlt wird, zweimal erstattet wird. Von daher haben wir da für Klarheit gesorgt.
Die Grünen sagen jetzt: Wir müssen den Cum/Ex-Steuerskandal beenden. – Wir haben dem Cum/Ex-Handel bereits am 1. Januar 2012 durch das OGAW-IV-Umsetzungsgesetz den Garaus gemacht. Es gibt seitdem kein Cum/Ex mehr, und es ist gut, dass wir das damals mit dem Gesetz so geregelt haben.
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In diesem Zusammenhang wird immer gleich auch Cum/Cum angesprochen. Die Gemeinsamkeit besteht eigentlich nur in dem Wort „Cum“; denn Cum/Ex und Cum/Cum sind zwei völlig verschiedene Dinge. Bei Cum/Ex ist, wie gesagt, eine Steuer einmal gezahlt und zweimal erstattet worden. Bei Cum/Cum ist eine Steuer einmal gezahlt und dann erstattet worden. Es ist also ein Steuerarbitrage-Geschäft gemacht worden, und die Frage ist, ob man das will. Aber auch dem haben wir mit dem Investmentsteuerreformgesetz im Jahre 2016 einen Riegel vorgeschoben,
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indem wir mit § 36a Absatz 2 des Einkommensteuergesetzes eine 45-Tages-Frist eingeführt haben,
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wonach man das Wertpapier 45 Tage vor und nach dem Dividendenstichtag wirtschaftlich gehalten haben muss.
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Wenn Sie sich jetzt einmal die Zahlen angucken, wie der Handel bei den DAX-30-Unternehmen um den Dividendenstichtag herum aussieht, dann sehen Sie, dass auch diese Maßnahme wirkt. Also auch Cum/Cum haben wir den Garaus gemacht. Von daher waren wir auch da erfolgreich.
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Der Antrag der Grünen ist etwas älter. Frau Paus hat trotzdem wieder gesagt, wir müssten endlich die Anzeigepflicht umsetzen. Ich kann nur feststellen: Das haben wir gemacht, Frau Paus.
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Wir haben die Pflicht zur Mitteilung von grenzüberschreitenden Steuergestaltungen umgesetzt. Ich glaube, Sie waren dabei. Ich weiß nicht, ob Sie da zugestimmt haben.
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Wir haben das also umgesetzt, und wir finden das auch richtig.
Wir haben gesagt: Es gibt den veranlagungsunterstützenden Charakter der Anzeigepflicht. Das heißt, die Finanzverwaltungen sollen bei ihrer Arbeit, bei den Veranlagungen, unterstützt werden. Das Entscheidendste ist aber, dass wir einen rechtspolitischen Ansatz gewählt haben, weil wir genau durch die Mitteilung dieser Steuergestaltung Hinweise darauf haben wollen, ob wir als Gesetzgeber handeln müssen, sodass wir schnell reagieren können, wenn wir die Dinge zeitnah identifiziert haben. Im Übrigen wäre es klüger, parallel dazu teilweise auch die Betriebsprüfungen etwas zeitnaher zu gestalten. Dann würde man noch viel eher sehen, was in den Betrieben passiert.
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Von daher haben wir diesen wichtigen Punkt umgesetzt.
Sie werden gleich wieder sagen: Aber die nationale Anzeigepflicht, lieber Herr Güntzler, haben Sie noch nicht eingeführt.
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Die haben wir aus gutem Grunde noch nicht eingeführt. Wir wollen nämlich erst einmal abwarten, wie das bei der grenzüberschreitenden ist. Alle Fälle, die Sie hier angeführt haben, haben immer einen internationalen Bezug. Bei den Fällen, die Sie benannt haben, würde eine nationale Anzeigepflicht gar nichts bringen. Das ist einfach nur ein Phantom, das Sie hier an die Wand stellen.
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Wir sind also auf einem guten Weg. Ich finde, beide Anträge suggerieren, dass die Finanzverwaltung, die Finanzbehörden und der Gesetzgeber untätig sind. Das ist eben nicht der Fall. Ich hoffe, das konnte ich Ihnen darstellen. Von daher brauchen wir auch keine Gesetzesverschärfung.
Die Kollegin hat darauf hingewiesen: Am Landgericht Bonn geht es um Steuerhinterziehung in einem schweren Fall, und die Strafen sind sehr drakonisch; die haben wir auch schon erhöht. Von daher haben wir, glaube ich, alle gesetzlichen Hebel genutzt, und von daher sind wir gespannt, was da jetzt endgültig herauskommt.
Den Cum/Ex-Steuerskandal können wir gar nicht beenden. Der kann in unserem Rechtsstaat logischerweise nur von den Gerichten beendet werden. Ich hoffe, es gibt deutliche Urteile, die dann auch ihre abschreckende Wirkung haben.
Ansonsten möchte ich den Vorwurf in Richtung Finanzverwaltung, dass man dort untätig sei, zurückweisen. Dort reagiert man ziemlich schnell auf Dinge, die passieren. Von daher bin ich froh, dass wir in Deutschland eine so gute Finanzverwaltung haben.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Fritz Güntzler. – Nächster Redner für die AfD-Fraktion: Kay Gottschalk.
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Sehr verehrte Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Gäste und Zuschauer! Es ist schon ein starkes Stück, Herr Güntzler, dass Sie das alles hier mal so eben wegwischen. Ich muss Frau Paus zustimmen.
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– Das kommt vor. Wir sind auch da sehr realistisch. Ich muss da wirklich zustimmen.
Wenn Sie hier sagen: „Das ist seit 2018 alles ausgestanden“, dann zitiere ich einfach einmal mit Erlaubnis der Präsidentin den Herrn Zickler, der den angesprochenen Prozess führt. Auch Frau Lambrecht, die vorher bei uns im Finanzausschuss zu Hause war und jetzt das Justizministerium führt, seien die Worte von Herrn Zickler einmal genannt. Der Wortlaut der entsprechenden Gesetze, so sagt er nämlich, verbiete eine andere Auslegung – es geht hier um die Verjährungsfrage –, die Strafgerichte seien gehalten, den Gesetzgeber beim Wort zu nehmen. Ihn zu korrigieren, sei ihm verwehrt, schreibt der BGH-Richter. Die Problematik sei bekannt, hieß es gestern auf Anfrage aus dem Bundesjustizministerium. Derzeit werde geprüft, ob gesetzgeberischer Handlungsbedarf bestehe.
Wenn nun dieser 1000 Seiten starke Bericht vorliegt, Herr Güntzler, wenn diese ganzen Tatbestände seit Jahrzehnten offen auf dem Tisch des Hauses liegen, dann bleibe ich bei meiner Behauptung: Das ist schon vom Finanzministerium oder vom Justizministerium begleiteter Steuerbetrug.
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Ich komme aber nun zum eigentlichen Teil. Sie können das doch nicht wegwischen. Cum/Ex, Cum/Cum, Cum-Fake, die Geschäfte, um die es geht, entstammen einer Familie. „Mein Name ist Hase“ hilft an dieser Stelle nichts. Sie haben hier ganz nonchalant gesagt: Den Schaden können wir nicht beziffern. – Da muss ich sagen: Nur bei diesem einen Prozess in Frankfurt stehen über 400 Millionen Euro in Rede. Ich glaube, da werden noch viel, viel mehr auftauchen.
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Auf der anderen Seite sind Sie als Union nicht in der Lage, alle Menschen hier vom Solidaritätszuschlag zu befreien.
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Da sollten Sie sich vielleicht einmal Fragen stellen, wenn Sie sich hierhinstellen und so überheblich sagen, das sei nur gering.
Wenn ich dann zu den Sozialabgaben komme, die auch aufgebracht werden müssen, weil solche Steuerhinterziehungen in großem Stile möglich sind, dann sage ich ganz einfach: Wir haben immerhin die zweitgrößten Steuereinnahmen und Sozialabgaben. Die Belgier liegen noch vor uns. Aber die gehen dann auch mit 60 in Rente und nicht, wie von Ihnen hier in Deutschland diskutiert, mit 70.
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– Ja, das wird im April kommen. Darauf können Sie sich vorbereiten.
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Meine Damen und Herren, Sie schauen also wirklich seit Jahrzehnten zu, wie massenhaft Steuern hinterzogen werden, und lassen auf der anderen Seite den Verlust von Milliarden und Abermilliarden bei diesem Spielchen einfach zu. Genaue Zahlen können oder wollen Sie nicht vorlegen. Die Wahrheit könnte ja auch wehtun.
Wir als AfD begrüßen daher sehr, dass das Thema Cum/Ex noch einmal ausführlich im Finanzausschuss besprochen wird. Ich glaube, Herr Güntzler, das wird nicht das letzte Mal sein, so wie Sie sich in dieser Affäre anstellen. Trotz Untersuchungsausschuss und trotz eines immerhin über 1000 Seiten starken Berichts kommen immer noch viele, viele Fragen ans Tageslicht.
Offene Fragen – das muss ich sagen – gibt es allerdings auch beim Antrag der Grünen. Ich habe da auch schon bessere Anträge gesehen, aber auch schon schlechtere.
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Auch hier zitiere ich mit Erlaubnis der Präsidentin eine Forderung, nämlich:
eine mit europaweiten Ermittlungsbefugnissen ausgestattete Behörde zu schaffen, die europaweit organisierte Kriminalität bekämpft …
Hier sind wir auf die Diskussion gespannt, vor allem auf Ihre Argumente; denn wie Sie sicherlich wissen, sind wir an diesem Punkte sehr skeptisch. Wir sollten hier im Hohen Hause erst einmal vor der eigenen Tür kehren – ich glaube, das ist belegt –, bevor wir nationale Hausaufgaben auf die internationale Ebene schieben.
Es treten weitere Fragen unter Punkt 7 auf. Ich zitiere nochmals eine Forderung:
die Steuerzuständigkeit für große Konzerne und reiche Bürgerinnen und Bürger von den Ländern auf den Bund zu übertragen, für eine bessere Vernetzung ... innerhalb der zuständigen Behörden ...
Hier bin ich insbesondere darauf gespannt: Wer sind denn diese „großen Konzerne“? Wer sind die „reichen Bürger“? Meine Damen und Herren, das klingt mir schon wieder ein wenig nach Klassenkampf. An dieser Stelle machen wir als AfD allerdings nicht mit.
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Der Einrichtung einer Einsatzgruppe beim Bundeszentralamt für Steuern könnte ich aber sehr wohl etwas abgewinnen. Das ist ein sehr vernünftiger Vorschlag.
Zum Antrag der Linken kann und will ich nichts sagen; denn wer einem Antrag noch nicht einmal eine Begründung beifügen kann, meine sehr verehrten Kollegen von der Linken, den kann ich in Gänze wirklich nicht ernst nehmen. Sie nehmen es bei uns auch so genau.
Aber am Ende des Tages – würde ich mir wünschen – werden wir im Finanzausschuss vielleicht wirklich einmal ermitteln: Waren es 6, waren es 12, waren es 30 Milliarden Euro – wer bietet am Ende vielleicht mehr? –, die aus dem Staatssäckel, also Ihnen, verehrte Bürgerinnen und Bürger,
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gestohlen wurden und dann vielleicht bei der Abschaffung des Solidaritätszuschlages fehlen?
Vielen Dank.
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Nächster Redner in der Debatte: Michael Schrodi für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Uns liegen zwei Anträge von der Linken und den Grünen zu dem Steuerbetrugssystem Cum/Ex vor. Der Grünen-Antrag stammt dabei aus dem Jahr 2018. Das ist schade und unglücklich; denn inzwischen gibt es einige wichtige Maßnahmen des Bundesfinanzministeriums und ein Urteil des Finanzgerichts Köln vom 19. Juli 2019, die in die Beurteilung einfließen müssen. Drei wesentliche Aussagen hierzu:
Erstens. Mit den Worten des Richters des 2. Senats des Finanzgerichts Köln ist deutlich zu sagen: Cum/Ex war eine kriminelle Glanzleistung. Er verdeutlicht damit die Illegalität dieses Systems. Das ist eine wichtige Klarstellung.
Zweitens. Das System funktionierte so: Drei Investoren haben mit der Dividende einer Aktie zweimal die Rückerstattung der Kapitalertragsteuer beantragt und durch illegale Tricksereien rund um den Dividendenstichtag auch bekommen, auf Kosten des Staates, auf Kosten der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Auch dazu findet das Finanzgericht Köln deutliche Worte – es klingt ja komisch, zweimal die Rückerstattung der Kapitalertragsteuer zu beantragen –, die Annahme, dass es mehrere parallele wirtschaftliche Eigentümer ein und derselben Aktie geben könne, sei „logisch unmöglich“, und deswegen sei auch die doppelte Rückerstattung nicht möglich.
Drittens, meine sehr geehrten Damen und Herren, gibt es an dieser Stelle – das haben wir gehört – immer wieder die Erzählung, die Bundesregierung sei unter anderem mit dem Jahressteuergesetz 2007 nicht entschieden genug gegen diesen Betrug vorgegangen. Auch hier ein Zitat aus dem Urteil des Finanzgerichts Köln: Die Ansicht, der Gesetzgeber habe durch die neuen Regelungen im Jahressteuergesetz 2007 eine mehrfache Anrechnung der Kapitalertragsteuer bewusst in Kauf genommen und habe die negativen Auswirkungen auf das Steueraufkommen durch die Gesetzesänderung nur verkleinern wollen, ist nicht haltbar. – Ich glaube, auch Sie sollten zur Kenntnis nehmen, was im Finanzgericht Köln hierzu festgehalten wurde, meine sehr geehrten Damen und Herren.
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Übrigens, nicht nur die Bundesregierung, sondern beispielsweise auch der Ankauf von CDs durch die Steuerfahndung Wuppertal hat wichtige Hinweise zu Cum/Ex geliefert. Es war der damalige NRW-Finanzminister und heutige SPD-Bundesvorsitzende Norbert Walter-Borjans, der das gegen viele Widerstände gemacht hat. Auch das hat dazu beigetragen, dass wir endgültig 2012 die letzten Cum/Ex-Praktiken unterbinden konnten. Seitdem gibt es solche Fälle auch nicht mehr.
Zwei Anmerkungen zum Schluss. Erstens. Es ist ein klares Signal, das von der Politik, aber auch von der Justiz ausgehen muss – das tut es auch –: Alle müssen sich an Regeln halten, auch Banker, auch Zocker, auch Reiche.
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Es gibt auch keinen uns bekannten Fall einer eingetretenen oder drohenden Verjährung. Der Verjährungszeitraum wird beispielsweise durch eine erste Vernehmung des Beschuldigten unterbrochen. Alle sollen zur Rechenschaft gezogen werden. Das wollen wir auch unterstützen.
Zweitens. Die Cum/Ex-Betrügereien sind eigentlich nicht mehr möglich. Die kriminelle Energie an dieser Stelle ist aber hoch. Ausgeschlossen ist es nicht. Deswegen hat der Bundesfinanzminister eine Taskforce gegen Steuertrickserei eingerichtet, um frühzeitig von bestimmten Modellen zu erfahren und sofort reagieren zu können. Auch die Anzeigepflicht betreffend Steuergestaltungsmodelle ist umgesetzt.
Wir tun etwas, und wir laden alle ein, an der Erreichung des gemeinsamen Ziels, Steuerbetrug zu unterbinden, mitzuarbeiten. Lassen Sie uns das gemeinsam tun. Die in Teilen aber längst überholten Anträge tun das in diesem Sinne nicht. Deswegen lehnen wir sie auch ab.
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Danke schön. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Markus Herbrand.
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Güntzler, wenn alles so rosig wäre, wie Sie das ausgeführt haben, dann müssten wir uns in der Tat heute nicht mehr darüber unterhalten.
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Mehrfach wurde der deutsche Fiskus mit komplexen Börsenmanövern um gigantische Summen geprellt. Das muss für die Zukunft verhindert werden. Ich dachte eigentlich, da seien wir einer Meinung.
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In diesem Zusammenhang muss aber auch die Frage gestellt werden: Ist wirklich genug unternommen worden, die strukturellen und organisatorischen Defizite und Schwächen abzustellen, die erst dazu geführt haben, dass es diese Fälle überhaupt gegeben hat? Offenbar nicht; denn jüngsten Medienberichten zufolge wurden Hinweise zu Cum/Fake-Geschäften wohl vom BMF zensiert. Meine sehr geehrten Damen und Herren, auch dieser Vorgang muss nun schnellstens und auch lückenlos aufgeklärt werden.
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Noch vor wenigen Wochen hat die Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage von mir geantwortet, keinen personellen Handlungsbedarf bei der Aufarbeitung und Bekämpfung von Cum/Ex, Cum/Cum und anderen Missbrauchsfällen zu sehen. Heute sieht man das ganz offenbar anders. Man hat eine Spezialeinheit gebildet und dafür auch Haushaltsmittel zur Verfügung gestellt.
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Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, sosehr wir im Ziel übereinstimmen, so sehr bezweifeln wir, dass die vorgeschlagenen Maßnahmen hinreichend konkret und ausreichend sind. Der Antrag der Grünen bringt wenig Neues, Ihre Forderungen sind dünn und vage und zum Teil natürlich auch veraltet. Das wurde bereits angesprochen. Die Anzeigepflicht ist längst eingeführt.
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Sie fordern, „die Steuerzuständigkeit für … reiche Bürgerinnen und Bürger“ auf den Bund zu übertragen.
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Halten Sie das wirklich für einen produktiven Lösungsansatz für dieses Problem?
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Haben Sie das mit den Ländern abgesprochen?
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Wer ist „reich“? Wer bestimmt das? Wahrscheinlich Sie von den Grünen. Auch das halte ich für grüne Klassenkampfrhetorik. Aus Sicht der FDP ist das kein Weg, die Probleme zu lösen.
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Auf die Idee, zum Beispiel das Monitoring der Finanzverwaltung mittels digitaler Lösungen effizienter auszugestalten, kommen die grünen Antragsteller erst gar nicht; da sind die Linken in ihrem Antrag deutlich weiter.
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– Zum Teil.
Wir sehen vor allem in der technischen Ausstattung und auch in der Beseitigung organisatorischer Mängel den Schlüssel zu den Lösungen. Dafür muss aber zunächst lückenlos aufgeklärt werden, und hierzu sehen wir keine ernsthafte Bereitschaft beim BMF.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten den Cum/Ex-Skandal als Mahnung verstehen: Das Steuerrecht ist so komplex, dass der Staat selbst den Überblick verliert. Das kann nicht der Anspruch an uns als Gesetzgeber sein.
Seien Sie sicher: Wir werden im Finanzausschuss das Thema mit mehr inhaltlicher Tiefenschärfe versehen, als die vorliegenden Anträge das machen. Den aktuellen Vorwürfen werden wir gewissenhaft nachgehen, und wir fordern von der Bundesregierung auch da lückenlose Aufklärung.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Herbrand. – Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Fabio De Masi.
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Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! Der Cum/Ex-Skandal ist der größte Steuerraub der Geschichte. Durch das Herumschieben von Wertpapieren rund um den Dividendenstichtag war für den Staat nicht mehr nachvollziehbar, wer eigentlich Anspruch auf Erstattung der Kapitalertragsteuer hat, und diese wurde mehrfach erstattet, obwohl sie nur einmal gezahlt wurde. Professor Spengel von der Universität Mannheim schätzt die Kosten aus Cum/Ex- und den etwas anders gelagerten Cum/Cum-Geschäften auf 30 Milliarden Euro. Wir haben in Deutschland 30 000 Schulen. Das wären 1 Million Euro für jede Schule.
Die Politik hat versagt; zehn Jahre wurde das Schlupfloch offen gelassen, unter dem Einfluss der Bankenlobby sogar vergrößert. Wir haben jetzt ungefähr 2,4 Milliarden Euro eingetrieben. Es gibt Ermittlungen im Umfang von 5,5 Milliarden Euro. Wenn wir die Schätzung von Herrn Spengel zugrunde legen, betrifft das also erst rund ein Viertel des Schadens. Von daher, lieber Michael, weil du hier auch Gerichte zitiert hast, will ich ebenso die Staatsanwälte im Landgerichtsbezirk zitieren, die in diesen Fällen jetzt ermitteln und die du zu Recht gelobt hast. Sie haben nämlich gesagt, dass sehr wohl Verjährung droht. Insofern sollte man sich nicht eine Sache herauspicken, sondern bei den Tatsachen bleiben.
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Denn selbstverständlich unterbrechen Ermittlungen die Verjährung. Aber dort, wo eben noch keine Ermittlungen aufgenommen wurden, kommt es dann auch zu entsprechenden Schäden.
Meine Fraktion ist der Auffassung, auch wenn dies in Deutschland Gerichte entscheiden: Cum/Ex-Gangster gehören hinter schwedische Gardinen.
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Deswegen war es nicht die Politik, sondern es sind die Staatsanwälte und Richter in Bonn und in Köln, die hier wieder ein Stück weit Gerechtigkeit für die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler herstellen, die hoffentlich auch Haftstrafen verhängen und eben auch Vermögen abschöpfen werden.
Die Kollegin Paus hat es genannt: Gestern gab es neue Enthüllungen über den sogenannten Cum/Fake-Skandal. Seit dem 4. Juni 2012 wurden das Bundeszentralamt für Steuern und auch das BMF über Cum-ähnliche Geschäfte mit Phantomaktien informiert. Da läuft die Masche so, dass überhaupt gar keine Kapitalertragsteuer entrichtet wurde, ihre Erstattung aber trotzdem beansprucht wird. Sechs Jahre lang ist nichts passiert, und unsere entsprechenden Anfragen im Parlament wurden zumindest nicht im vollen Umfang der Wahrheit entsprechend beantwortet.
Die Linke will in ihrem Antrag einen automatisierten Datenabgleich einführen, mit dem tatsächlich gecheckt wird: Hat derjenige, der die Erstattung beantragt, auch wirklich gezahlt? Wir wollen die Justiz befähigen, Verjährung endlich zu stoppen. Wir wollen ein Unternehmensstrafrecht. Und wir wollen, dass systematisch Handelsmuster analysiert werden.
Lassen Sie mich zum Schluss sagen: In der Politik sind auch Symbole wichtig. Nicht dass hier noch der Eindruck entsteht, FDP und Linke seien sich ähnlich, will ich sagen: Auch wenn jeder in Deutschland Anspruch auf eine anwaltliche Vertretung hat, halte ich es durchaus für ein Problem, dass Herr Kubicki den Architekten von Cum/Ex Hanno Berger anwaltlich vertritt. Ich halte es auch für ein Problem, dass Herr Gabriel sich jetzt von der Deutschen Bank bezahlen lässt, die knietief in diesen Sumpf verstrickt war.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Sebastian Brehm für die Fraktion der CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um es an dieser Stelle noch einmal ganz deutlich zu sagen: Wir wollen jeglichen Steuermissbrauch bekämpfen und die Verantwortlichen selbstverständlich zur Rechenschaft ziehen. Das betrifft auch alle Cum/Ex-Geschäfte. Jeder, der in Deutschland einen Steuermissbrauch begeht, begeht auch einen Missbrauch gegenüber allen steuerehrlichen Bürgerinnen und Bürgern. Wir könnten mit diesem Geld natürlich, egal wie viel es ist, eine Modernisierung der Unternehmensbesteuerung vornehmen, eine Modernisierung der Einkommensbesteuerung. Da wären Sie wahrscheinlich auch dagegen. Aber trotzdem wäre es wichtig, wenn wir das tun würden. Insofern werden wir als CDU/CSU und auch die Bundesregierung mit Nachdruck alles tun, um Steuerhinterziehung und Steuermissbrauch in Deutschland zu bekämpfen.
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Aber Ihre Anträge, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken und der Grünen, helfen überhaupt nicht weiter.
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Sie sind veraltet
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und vor allem im Fall der Grünen gespickt mit unsachlicher Klassenkampfrhetorik
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und mit aus meiner Sicht – ich komme dann darauf – pauschalen Verurteilungen, mit einer falschen Analyse. Wir haben hier sehr differenzierte Fragestellungen. Sie vermischen da einiges. Ich glaube, dass die Anträge von Ihnen beiden einfach nur für die politische Auslage, für das politische Schaufenster sind, weil sie aus fachlicher Sicht falsch und weil sie längst schon erledigt sind.
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Ich zitiere aus dem Antrag der Grünen – das wurde auch schon zitiert –: Die Bundesregierung wird aufgefordert, „die Steuerzuständigkeit für große Konzerne und reiche Bürgerinnen und Bürger von den Ländern auf den Bund zu übertragen“. Eine reine Änderung der Zuständigkeit ist überhaupt keine Lösung.
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Das bringt ja auch keine steuerliche Lösung in differenzierten Fragestellungen; man verändert einfach eine Verwaltungseinheit. Toller Vorschlag, wäre aber aus meiner Sicht nicht notwendig.
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Sie vermischen – vielleicht sogar bewusst – alle Modelle: Cum/Ex, Cum/Cum, Cum/Fake, obwohl man für jedes einzelne Modell bereits unterschiedliche Maßnahmen ergriffen hat und ergreifen musste.
Was mich besonders ärgert: Sie sagen: Alle Steuerberater, Rechtsanwälte und Wirtschaftsprüfer sind per se erst mal schuldig.
({7})
Und Sie suggerieren mit Ihrem Antrag, der Rechtsstaat würde nicht funktionieren. Sie wollen auch den Eindruck erwecken – da haben Sie sich zum Lobbyismus geäußert –, dass alle Politiker – außer den Grünen natürlich – von Lobbyismus getrieben sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Argumentation ist unehrlich und unredlich. Deswegen müssen wir die Anträge per se schon ablehnen. Sie haben ja auch Zustimmung von der AfD gesehen; insofern wissen Sie auch, dass diese Anträge so nicht richtig sind.
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Herr Brehm, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dehm?
Ich würde jetzt erst mal fertig machen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, was uns weitergebracht hat – Sie haben dem leider nicht zugestimmt, aber es hat uns weitergebracht –, sind die gesetzlichen Maßnahmen, die bereits ergriffen worden sind.
Erstens. Die Bundesregierung hat auf die Cum/Ex-Problematik sofort reagiert. Dadurch sind diese Geschäfte in Deutschland nicht mehr möglich.
Zweitens. Neben dieser notwendigen Reaktion auf die Cum/Ex-Fälle war die Bundesregierung auch schnell bei der Sache, wenn es um neue Fälle und neue Modelle ging, um auch diese für die Zukunft auszuschließen.
Drittens. Es erfolgte eine lückenlose Aufklärung im Untersuchungsausschuss.
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Es ist auch dort festgestellt worden, dass die Verwaltung und die Bundesregierung richtig gehandelt haben; und es wird denjenigen der Prozess gemacht, die diese Geschäfte auf den Weg gebracht haben. Die Bundesregierung hat mit dem Jahressteuergesetz 2007 die ersten Maßnahmen ergriffen. Als die Bundesregierung gemerkt hat, dass es auch internationale Zusammenhänge gibt, hat sie sofort gehandelt, mit einem BMF-Schreiben des Jahres 2009. Mit dem Jahressteuergesetz 2011 bzw. 2012 ist das Kapitalertragsteuer-Abzugsverfahren neu geregelt worden.
Und weil Sie immer Cum/Cum und Cum/Ex vermischen: Cum/Cum – hat der Kollege Güntzler ja gesagt –: Mit der Einführung des § 36a Einkommensteuergesetz sind auch diese Modelle weg, seit 2016. So haben wir eine Vielzahl von Gesetzen auf den Weg gebracht, in einer Vielzahl von unterschiedlichen Gesetzgebungsverfahren, ob es die Anzeigepflichten sind oder anderes.
Aber Sie haben, glaube ich, keinem einzigen Gesetz, mit dem wir den Missbrauch bekämpfen, keinem einzigen Gesetz, mit dem wir genau gegen diese Steuerbetrügereien Cum/Ex und andere vorgehen, zugestimmt.
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Das gehört nämlich auch zur Wahrheit: Hier fordern Sie, man sollte etwas tun. Wir tun es. Und Sie stimmen alle nicht zu.
Deswegen will ich sagen: Ihre Anträge sind abzulehnen. Es ist erledigt, es ist aufgearbeitet. Jetzt geht es den prozessualen Weg, jetzt müssen die Gerichte entscheiden. Aber nach der jetzigen Steuergesetzgebung in Deutschland ist so etwas nicht mehr möglich.
Und sollten neue Entwicklungen „auf den Markt kommen“, werden wir selbstverständlich als Gesetzgeber sofort reagieren und diese Steuermodelle abstellen. Noch einmal: Jeder, der in Deutschland Steuern hinterzieht, wird von uns verfolgt und wird von uns gesetzlich so behandelt, dass er die notwendige Strafe dafür bekommt.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Der Kollege Diether Dehm erhält die Gelegenheit für eine Kurzintervention.
Herzlichen Dank, dass Sie meine Frage nicht zugelassen haben; damit kann ich diese Intervention jetzt bringen.
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Es ist nach dem, was der Kollege De Masi und die Kollegin Paus hier gesagt haben, schon kühn, zu sagen, dass Sie gesetzlich alles getan haben,
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sehr kühn, und trifft auch nicht, was die Menschen in unserem Land an den Werkbänken, an den Stammtischen und sonst wo empfinden. Sie empfinden es als eine maßlose Ungerechtigkeit, dass kleine Handwerker ihre Steuern entrichten müssen, hier aber gesetzlich nicht alles getan wurde.
Und dann sagen Sie jetzt, der grüne Antrag brächte keine Lösung. Da Sie das als klassenkampfgespickt bezeichnet haben, fühlte ich mich dann berufen, an die Seite der Grünen zu treten, auch wenn das vielleicht nicht allen Grünen angenehm ist.
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Sie sagten, es sei eigentlich kein Bedarf daran, den Ländern diese Steuerhoheit zu entziehen. Ich will Ihnen nur sagen – ich war in der Frankfurter Stadtregierung, ich habe als Unternehmer in Frankfurt gelebt –: Es ist ein Geschäftsmodell in Hessen gewesen, erstens die Deutsche Bank und andere Verbrecherorganisationen
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damit anzuwerben, dass man keine Großbetriebsprüfer hat. – Natürlich: Die Staatsanwaltschaft ist dort ein und aus gegangen. Das ist eine kriminelle Organisation, voller krimineller Energie. – Man hat damit geworben, dass es keine Großbetriebsprüfer gibt. Dort ist über Jahre nicht geprüft worden: Die Deutsche Bank ist sieben Jahre am Stück nicht geprüft worden – schauen Sie es nach! –, und das alles mit dem Hinweis: Wir haben nicht genug Großbetriebsprüfer; kommt zu uns, ihr Banken, kommt nach Frankfurt am Main, an den Bankenstandort. – Dass das die Menschen in diesem Land aufwühlt, können vielleicht am Ende auch Sie verstehen.
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Herr Brehm.
Lieber Herr Kollege Dehm, deswegen habe ich es auch gemacht: Damit Sie längere Ausführungen machen können, und damit ich noch antworten kann.
Aber Sie haben es eigentlich selber beantwortet: Sie haben gesagt, diese Modelle sind gewesen. Ich sage „gewesen“, weil das gesetzlich ausgeschlossen wurde durch Gesetze, die hier im Deutschen Bundestag mit unserer Zustimmung und Ihrer Ablehnung beschlossen wurden.
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Deswegen gibt es in Deutschland keine Cum/Ex-Geschäfte mehr und keine Cum/Cum-Geschäfte mehr; das ist gesetzlich erledigt, wir haben das umgesetzt.
Dass in der Öffentlichkeit immer wieder darüber berichtet wird – und dass es Aufregung gibt –, weil natürlich jetzt die Gerichtsverfahren laufen, ist völlig klar. Aber dass Sie mit Ihren Anträgen diese Aufregung noch weiter anheizen und den Deutschen suggerieren, wir hätten hier noch Problematiken und hier säßen lauter Menschen im Bundestag, die da nicht reagieren, das treibt die Menschen an die politischen Ränder, und das finde ich verantwortungslos. Sie sollten schon ehrlich sein und sagen, dass wir das erledigt haben. In Deutschland hat Steuerunehrlichkeit keinen Platz; dafür haben wir gesorgt.
Herzlichen Dank.
({1})
Vielen Dank. – Wir fahren fort in der Debatte. Als letzte Rednerin hat für die Fraktion der SPD die Kollegin Cansel Kiziltepe das Wort.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Cum/Ex war ein Raub am Steuerzahler von unvorstellbarem Ausmaß. Die Milliarden fehlen uns an jeder Ecke. Der größte Steuerraubzug in der jüngeren europäischen Geschichte, eine massive Umverteilung von der Allgemeinheit in die Hände weniger Reicher. Wir als SPD-Bundestagsfraktion sagen: Es ist ein Fall, der in diesem Land nicht mehr passieren darf, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Diese Fälle liegen jetzt bei der Justiz; das ist auch richtig. Die Verfahren laufen; das erste Urteil wurde diesen Monat veröffentlicht. Die Sprache des Gerichts könnte kaum deutlicher sein: Es ist „logisch unmöglich“, dass es mehrere Eigentümer einer Aktie gibt. – Das zeigt, dass die Rechtsauffassung, der vom Geldrausch besessenen Cum/Ex-Profiteure aus einem Land der Fantasie kommt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem Ende von Cum/Ex hat der Kampf gegen Steuerhinterziehung und Steuervermeidung allerdings erst begonnen; er geht erst richtig los. In dieser Legislaturperiode haben wir bereits einige Maßnahmen durchgesetzt; ich will diese nennen.
Wir haben mit dafür gekämpft, dass wir endlich eine Pflicht zur Anzeige grenzüberschreitender Steuergestaltungsmodelle haben.
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Wir haben uns mit dafür eingesetzt und durchgesetzt, dass wir endlich eine Plattformhaftung für den Onlinehandel haben.
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Und wir haben durchgesetzt und wollen, dass es endlich eine Taskforce, eine Spezialeinheit gegen Steuerbetrug in diesem Land gibt; die ist im Moment auch im Aufbau.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, das sind alles Maßnahmen, für die wir als SPD in den letzten Jahren gekämpft haben. Doch es gibt noch immer Baustellen, insbesondere bei der legalen Steuervermeidung. Eine jüngste Schätzung bezifferte den EU-weiten Schaden auf sage und schreibe 170 Milliarden Euro pro Jahr,
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davon 60 Milliarden allein durch Gewinnverschiebung von Unternehmen, 46 Milliarden Euro durch Vermögensverschiebung, 64 Milliarden Euro durch Umsatzsteuerbetrug. Angesichts solcher Zahlen wundere ich mich immer wieder über Steuererleichterungs- oder Steuersenkungsforderungen wie aktuell von Markus Söder, von der FDP oder eben gerade vom Kollegen Brehm.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen keine weiteren Steuererleichterungen für die Wohlhabenden in diesem Land.
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Wir brauchen Steuerregeln, die gleichermaßen für alle gelten. Wir brauchen Regeln, die sicherstellen, dass die, die viel haben, auch viel beitragen.
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Wir brauchen Regeln gegen die Tricksereien in diesem Land. Und ja, das ist eine Lebensaufgabe, die wir gerne annehmen. Dafür setzten wir uns als SPD-Bundestagsfraktion auch in Zukunft ein.
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Vielen Dank.
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Herr Gottschalk, ich habe Ihre Fragemeldung zu spät gesehen. Wollen Sie eine Kurzintervention beantragen? – Okay. Das ist nicht der Fall.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Dann beende ich die Debatte.
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– Nein, eine Kurzintervention muss der Parlamentarische Geschäftsführer anmelden; das hat er nicht gemacht.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wo wird dieses Jahr das international gefeierte Freiburger Barockorchester spielen? Wien, Paris oder Leer? Ja, tatsächlich in Leer, Ostfriesland, meiner Heimat.
Hand aufs Herz: Hätten Sie es gedacht?
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Zugegeben: Bei uns steht kein Konzerthaus, kein Staatstheater; die nächste Oper ist weit entfernt. Und trotzdem gibt es in der vermeintlichen Provinz Kultur auf Weltniveau.
Möglich macht das der Verein junger Kaufleute in Leer. 720 Mitglieder, eine Aboauslastung von 95 Prozent – davon kann so manche staatliche Bühne nur träumen. Die Karten kosten 22 Euro pro Konzert; Schüler und Studenten bekommen für 5 Euro Musikgenuss auf höchstem Niveau. Andere reden über Teilhabe, dieser Verein lebt sie. Dort spielten übrigens schon Weltstars wie Yehudi Menuhin oder Anne-Sophie Mutter.
Meine Damen und Herren, wie funktioniert das? Das Zauberwort heißt „Ehrenamt“. Die Mitglieder des Vereins junger Kaufleute schenken ihre Zeit, ihre Kraft und ihr Geld. Sie stehen stellvertretend für Abermillionen Menschen in Deutschland, die sich ehrenamtlich für die Kultur engagieren: in Chören, Amateurtheatern, Museen, Büchereien, Kulturvereinen – in der Stadt und auf dem Land. Allerdings gibt es einen wesentlichen Unterschied: In größeren Städten gibt es eine institutionalisierte Kultur, auf dem Land macht dagegen in der Regel der Bürger die Kultur.
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Um diese Kultur in ländlichen Räumen geht es heute. Für unsere Fraktion, die CDU/CSU, und für die Große Koalition ist dieses Thema ein Herzensthema. Deshalb zieht es sich auch wie ein roter Faden durch den Koalitionsvertrag.
Wir wissen: 60 Prozent der Menschen leben auf dem Land. Wir wissen: Der Staat kann dort keine flächendeckende Kulturversorgung leisten. Wir wissen: Die Kultur braucht dort zwingend das Ehrenamt. Deshalb stärken wir es, zum Beispiel durch das Bundesprogramm Ländliche Entwicklung. Dort ist das Projekt „Hauptamt stärkt Ehrenamt“ verankert. Morgen werden wir die Deutsche Ehrenamtsstiftung auf den Weg bringen; denn Vereine brauchen zum Beispiel Unterstützung bei komplexen Rechts- und Steuerfragen. Und wir müssen das Ehrenamt weiter entlasten: von Bürokratie, von Kosten, von organisatorischen Hürden. Deshalb wäre für uns ein Ehrenamtsstärkungsgesetz der richtige Weg.
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Wir wissen: Bürgerkultur ist unersetzlich, aber nicht unerschöpflich. Ehrenamt ist daher kein Ersatz für staatliche Kulturförderung. Auch Kultur in ländlichen Räumen braucht diese. Deshalb haben wir 2019 ein Soforthilfeprogramm für die Kinos im ländlichen Raum aufgelegt, und wir werden jetzt ein „Zukunftsprogramm Kino“ starten; denn die Filmtheater sind Kultur- und Begegnungsorte in der Fläche. Kino bietet Kultur für alle; deshalb muss die Förderung auch einem breiten Spektrum an Kinos offenstehen. Sie darf sich nicht auf ausgewählte Häuser beschränken. Gerade auf dem Land müssen Kinos ein breites Angebot abdecken können – auch in Zukunft.
Deshalb setzen wir das Bundesprogramm Ländliche Räume fort. Von den sogenannten Landmillionen haben im letzten Jahr Theater, Gedenkstätten und Literaturhäuser profitiert. In diesem Jahr stellen wir weitere 10 Landmillionen zur Verfügung. Damit sollen wichtige Kulturorte gerade auf dem Land gefördert werden. Hier sollten wir an ein Soforthilfeprogramm für Bibliotheken, an ein Soforthilfeprogramm für Heimatmuseen denken; denn es sind unverzichtbare Informations- und Bildungsorte.
Deshalb setzen wir das Förderprogramm TRAFO fort. Die Kulturstiftung des Bundes unterstützt damit Regionen, ihre Kulturangebote dauerhaft zu sichern; denn der demografische Wandel macht auch vor der Kultur nicht halt.
Deshalb werden wir auch in diesem Jahr wieder ein Denkmalschutzsonderprogramm auflegen. Damit fördern wir die Sanierung von Kirchen, von Parks, von historischen Gärten, von Orgeln. In Deutschland gibt es rund 1,3 Millionen Kulturdenkmäler. Ein Drittel davon ist gefährdet oder muss dringend saniert werden. Dieses kulturelle Erbe auch in der Fläche müssen wir erhalten.
Meine Damen und Herren, allein 2020 werden fast 80 Millionen Euro an Bundeskulturmitteln in die Fläche fließen. Das ist unser gemeinsames Bekenntnis zur Kultur in ländlichen Räumen – von Aurich bis Zingst, von Ahrenshoop bis Murnau. Wir wissen aber auch: Der größte Kulturförderer ist und bleibt der Bürger:
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als Marktteilnehmer, als Spender von Zeit und Geld. – Jeder Cent ist es wert; denn ohne Kultur wäre am Ende alles nichts.
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Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist für die Fraktion der AfD der Kollege Dr. Marc Jongen.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Abgeordnete! Wir sprechen heute von Kultur im ländlichen Raum, also von Gebieten, die der großstädtischen Arroganz einschließlich der Politik oft als kulturlos und rückständig gelten. Ich möchte daran erinnern, dass sich das Wort „Kultur“ von lateinisch „colere“ ableitet: bebauen, bestellen, urbar machen. – Kultur kommt also vom Land und vom Ackerbau. Auch wenn sich die städtische Kultur davon natürlich weit entfernt hat in abstraktere und komplexere Zonen hinein, so sollte sie doch ihren Ursprung nie vergessen und niemals die Bodenhaftung verlieren – im wahrsten Sinn des Wortes.
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Vor allem sollte nicht Metropolenkultur aufs Land exportiert werden mit der arroganten Haltung im Hintergrund: Jetzt führen wir euch tumbe Dorfleute von der Finsternis ins Licht. Jetzt bringen wir euch Diversity und Inklusion und Nachhaltigkeit bei, ohne die eure Kultur hinterwäldlerisch bleibt und eigentlich nichts wert ist oder – schlimmer noch – rechts ist. – Diese vor allem linke und grüne Attitüde ist das Letzte, was die Landbewohner nötig haben, meine Damen und Herren.
({1})
Im Antrag der Regierungskoalition steht vieles, was wir der Papierform nach unterschreiben können: regionale Besonderheiten, Brauchtum und Traditionen, Kunst und Kultur als geistige Heimat, Deutschland als Kulturnation. – Das klingt alles sehr gut und findet unsere Unterstützung. Wir sind auch sehr einverstanden, dass das Kulturleben auf dem Land ebenso wie in der Stadt staatlich gefördert werden soll. Wohlgemerkt: Das Kulturleben, das sich autonom entwickelt in bürgerschaftlichen Initiativen, und nicht ein solches, das mittels ideologischer Kulturprogramme von oben her implementiert wird.
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Wenn Sie nun aber eine Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ aus Bund, Ländern und Kommunen einrichten wollen und mittels Programmen wie „TRAFO – Modelle für Kultur im Wandel“ der notorisch linken Kulturstiftung des Bundes für eine Angleichung von Land und Großstadt sorgen wollen,
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dann befürchten wir eben genau das: Der Bund bootet die Kulturhoheit der Länder immer mehr aus, die vielgepriesenen regionalen Unterschiede werden nivelliert und gerade nicht bewahrt, und vor allem findet eine ideologische Gängelung statt,
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indem nämlich nur noch gefördert wird, wer die Gesslerhüte der politischen Korrektheit grüßt.
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Der ländliche Raum steht ja unter besonderem Naziverdacht gemäß der dominanten kulturlinken Ideologie und muss daher permanent überwacht und erzogen werden.
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Wenn Sie glauben, ich übertreibe, dann werfen Sie mal einen Blick in die kulturlinke Bloggerszene. Landwirtschaftsministerin Klöckner hat ja so eine Internetkampagne mit Bildchen und Texten gestartet unter dem Titel #Dorfkinder, um das Image des ländlichen Raums etwas aufzupeppen. Darüber hat sich viel Spott ergossen, teilweise nicht zu Unrecht; denn der ländliche Raum braucht nicht in erster Linie ein besseres Image, sondern dringend notwendige Investitionen. Aber mir geht es hier um etwas anderes, nämlich: Wie wird auf diese „Dorfkinder“, also auf eine positive Darstellung des Landlebens, seitens der Linken reagiert? Ich zitiere:
Diese Bilder sind nichts anderes als Heimatidylle, und bei mir als Betroffene rufen sie keine weiteren Assoziationen hervor außer Nazigewalt.
Das schreibt eine junge Autorin auf Twitter, und Tausende liken das.
({7})
Und da sage ich vor allem in Richtung CDU: Für diese Verheerung der Mentalität, für dieses Verrutschen aller Kategorien, die den ländlichen Raum und damit Heimat direkt mit Nazigewalt assoziiert, dafür sind Sie wesentlich mitverantwortlich.
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Dem linksradikalen Treiben, das diese Mentalität befördert, sehen Sie seit vielen Jahren tatenlos zu, und teilweise befördern Sie es kräftig mit. Da hilft dann auch keine Alibikampagne mehr und auch kein gutgemeinter Antrag zum ländlichen Raum. Die Geister, die Sie riefen, werden Sie schon nicht mehr los, und zwischen den vielen guten Ansätzen, die da auch stehen, finden sich in diesem aktuellen Antrag wieder ideologische Kuckuckseier, die Ihre Initiative in die falsche Richtung laufen lassen.
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Unterm Strich können wir daher leider nicht zustimmen, obwohl da viel Richtiges drinsteht; Frau Connemann hat darauf hingewiesen. Obwohl die ländliche Kultur eine angemessene staatliche Förderung verdient hätte, müssen wir leider dagegenstimmen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der SPD der Kollege Martin Rabanus.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Wir kommen am heutigen Abend zu einem vorläufigen Abschlusspunkt der Beratung über das Thema „Kultur im ländlichen Raum“, die wir im Ausschuss für Kultur und Medien im Herbst 2018 mit einem großen Fachgespräch zu dieser Thematik begonnen haben. Wir haben vor ziemlich genau einem Jahr hier im Deutschen Bundestag diesen Antrag, den wir heute abschließend beraten, schon einmal beraten.
Wir haben das Thema im Ausschuss für Kultur und Medien auch noch einmal im April debattiert, und wir haben fraktionsübergreifend sehr ernsthaft, wie ich finde, miteinander diskutiert, und wir waren uns einig darüber, dass wir Kultur und Förderung von Kultur als ermöglichende Kultur, nicht einengende, wie es gerade dargestellt worden ist, politisch vorantreiben wollen.
({0})
Das ist auch gut so, und es ist ja auch einiges passiert in der letzten Zeit. Dieses Thema ist für die Koalition – ich kann nur unterstreichen, was die Kollegin Connemann gesagt hat – eine Herzensangelegenheit. Wir haben in den letzten zwölf Monaten einiges dazu beigetragen, unsere Agenda für Kultur und Zukunft – so haben wir sie genannt – mit Leben zu füllen. Dazu komme ich gleich.
Ich will erst einmal zwei, drei Bemerkungen zu dem zugrundeliegenden Kulturbegriff machen, auf dessen Folie sich abspielt, was wir politisch gestalten. Ja, Bundeskulturpolitik ist Hauptstadtkulturpolitik. Ja, unsere Aufgabe in der Bundeskulturpolitik ist auch, herausragende Leuchttürme in den Regionen zu fördern. Aber für uns als Koalition ist Bundeskulturpolitik auch Gesellschaftspolitik in einem breiteren Verständnis. Es geht um die Vermittlung kultureller Werte, und es geht darum, Teilhabechancen für Menschen zu eröffnen.
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Wofür? Zur Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und zur Stärkung unseres demokratischen Gemeinwesens.
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Kunst und Kultur sind Ausdruck menschlichen Daseins. Kunst und Kultur zeichnen sich aus durch Vielfalt, bereichern uns durch Vielfalt und den Austausch in dieser vielfältigen Gesellschaft. Kultur ist ein öffentliches Gut. Wir wollen, dass alle Zugang zu kulturellen Angeboten haben, gleich wo sie wohnen, ob in der Stadt oder auf dem Land. Unser Motto ist „Kultur für alle“, unser Motto ist auch „Kultur von allen“. Wir wollen gerade auch im ländlichen Raum diese lebendigen Kulturlandschaften ermöglichen, um damit regionale Identitäten auszubilden, um die Lebensqualität von Menschen in Stadt und Land sicherzustellen.
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Kulturelle Grundversorgung ist tatsächlich Daseinsvorsorge.
An diesem Punkt setzt die Koalition an. Ausgehend davon haben wir vor einem Jahr diesen Antrag formuliert und eine Fülle von Forderungen eingebracht, von denen wir Teile bereits umsetzen konnten. Darüber bin ich sehr froh. Ich will ein paar Beispiele nennen: Die Kulturministerkonferenz hat Fahrt aufgenommen. Ich hoffe und bin mir auch sicher, dass sich die Bundesregierung in der Kommunikation mit den Ländern im Sinne eines kooperativen Kulturföderalismus engagieren und starkmachen wird.
Wir haben das Thema Kinoförderung mit dem Sofortprogramm Kino angepackt und im letzten Jahr 5 Millionen Euro bereitgestellt. Das Zukunftsprogramm Kino ist im Prinzip fertig. Es muss noch zwei, drei formale Hürden nehmen; aber ich bin ganz guter Dinge, dass wir mit diesem Zukunftsprogramm im Umfeld der Berlinale starten können und hiermit der Kinoförderung auch außerhalb der Metropolen einen besonderen Impuls geben können. Ein Anfang ist gemacht. Ich sage dazu und verhehle nicht: Ich wünsche mir, dass wir für das Jahr 2021 die Mittel dafür noch ein Stück weit aufstocken können. Wenn das gelingt, können wir die verschiedenen Interessen unterschiedlicher Gruppen möglicherweise noch besser berücksichtigen, als das im Moment möglich ist.
Wir haben die Mittel für die Bundeskulturförderung erhöht und sie auf früherem Niveau verstetigt. In der Tat werden wir auch in den Haushaltsberatungen für das Jahr 2021 zu prüfen haben, ob wir hier noch einen weiteren Impuls setzen können.
Frau Kollegin Connemann hat die Millionen für die Fläche angesprochen. Ja, 10 Millionen Euro stehen da im Jahr 2020 zur Verfügung – für Bibliotheken, für Heimatmuseen, für die Kulturzentren, die wir vor Ort haben, für Musik, Theater, für diesen Bereich insgesamt – in einzelnen Clustern. Die Mittel werden über die zuständigen Bundesverbände ausgerollt. Auch damit können wir einen wichtigen Impuls setzen.
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Das Denkmalschutz-Sonderprogramm des Bundes ist 2020 erneut aufgelegt worden. Ich bin den Haushälterinnen und Haushältern sehr dankbar, dass es wieder möglich war, das zu installieren, um auch hier bedeutsame Denkmäler in den Regionen fördern zu können.
Auch die TRAFO-Projekte sind genannt worden. Ich halte es für ganz wichtig, dass wir diesen Transformationsprozess, organisiert über die Kulturstiftung des Bundes, aber auch in der Verantwortung der Regionen – so sind diese Programme gestrickt –, voranbringen können. Das ist ein wichtiger Beitrag zur Schaffung von gleichwertigen Lebensverhältnissen, auch im Kulturbereich.
Ich will noch einen Punkt ansprechen, der mir besonders wichtig ist. Das ist die kulturelle Bildung. Auch die kulturelle Bildung stärken wir. Wir wollen sie weiter stärken und weiterentwickeln. Ich will bei dieser Gelegenheit das Programm „Kultur macht stark“ ansprechen, das ich für ein ausgesprochen erfolgreiches Programm halte und das auch bis zum Jahr 2022 sicher ist. Ich sage mal mit Blick auf die Regierungsbank, insbesondere in Richtung BMBF: Ich würde mir wünschen, dass wir das Programm „Kultur macht stark“ auch über das Jahr 2022 hinaus fortführen können. Ich halte das für ein sehr erfolgreiches Programm und fände es gut, wenn das gelänge.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie sehen also: Es ist einiges getan; es ist aber noch nicht alles erreicht. Es gibt weiterhin zu tun. Die Koalition wird das sehr ernsthaft angehen, und darauf freue ich mich.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Als Nächste spricht für die Fraktion der FDP die Kollegin Katja Suding.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kultur im ländlichen Raum ist vor Ort, dort, wo die Menschen leben – greifbar, erlebbar, nutzbar. Kultur im ländlichen Raum ist vielfältig, und das macht unser Land so reich.
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Es sind die zahllosen, oft ehrenamtlichen Initiativen, die die Regionen bunt machen, die die Menschen begeistern und zum Mitmachen animieren, die das Interesse für Literatur, Theater oder Musik wecken. Kultur aus der Gesellschaft für die Gesellschaft, eine Stärkung der Teilhabechancen für alle durch Kultur – das ist es, was wir Freie Demokraten unterstützen wollen.
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Kultur im ländlichen Raum ist jung und alt. Junge Menschen und Ältere schaffen die breiten Angebote für jede Generation, von Poetry-Slam bis zum Heimatfilm. Sie verbindet die Generationen, gibt Erfahrungen weiter und schafft Zusammenhalt. Diesen Zusammenhalt brauchen wir in allen Teilen unseres Landes.
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Kultur im ländlichen Raum braucht aber auch mehr Freiheit. Nur dann können die Projekte wachsen und sich weiterentwickeln. Diese Freiheit hat auch etwas mit Unterstützung und Wertschätzung zu tun.
Meine Damen und Herren, in 17 Punkten listen Sie auf, welche zahlreichen Unterstützungen jetzt schon vorhanden sind und wie zahlreich die zuständigen Stellen und Ministerien sind. Und in 17 weiteren Punkten erfahren wir, welche Projekte in Zukunft mit weiteren Ansprechpartnern und Behörden geplant sind. Das ist gut und schön. Diese Auflistung hilft den Engagierten vor Ort allerdings noch nicht so wirklich weiter. Ich finde, wir sollten uns besser auf das konzentrieren, was die Kulturschaffenden im ländlichen Raum tatsächlich brauchen, was ihnen wichtig ist. Dafür möchte ich Ihnen einige Beispiele geben.
Das sind einfachere Haftungsregelungen für Ehrenamtliche und weniger Bürokratie, wie sie die Datenschutz-Grundverordnung leider mit sich gebracht hat.
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Das ist eine gute Verkehrsinfrastruktur, damit die kulturellen Angebote für alle erreichbar sind.
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Das ist Netzabdeckung für Mobilfunk und Internet, damit sich jeder über die Angebote informieren kann.
Das sind einheitliche Ansprechpartner, damit die Kulturförderung transparent und leicht zugänglich ist.
Vor allem ist das Planbarkeit und Nachhaltigkeit in der Förderung. Die Mittel müssen leicht und unbürokratisch zu beantragen sein, damit sie auch schnell wirken können.
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Das ist es, was die Kulturinitiative im ländlichen Raum stärkt. Das schafft Freiräume, damit Bewährtes erhalten bleiben und Neues entstehen kann, und da sollten Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, noch ein bisschen nachbessern.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke die Kollegin Brigitte Freihold.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die soziale Struktur der ländlichen Regionen ist nicht mit der urbanen vergleichbar. Es treffen Menschen aufeinander, die nicht in homogenen Milieus aufgehen können wie in der Stadt. Hier sind die Menschen auf Nachbarschaft angewiesen, auch solche mit Differenzen. In Zeiten hoher gesellschaftlicher Mobilität und zunehmender Individualisierung von Lebensstilen liegen aber Möglichkeiten, neue Formen solidarischen Zusammenhaltes zu erproben. Dieses Potenzial sollte endlich anerkannt und unterstützt werden.
({0})
Kultur im ländlichen Raum darf nicht den Rechtspopulisten überlassen werden. In diesen Herausforderungen liegt die eigentliche Bedeutung kultureller Akteure, ohne die vielerorts kulturelle Teilhabe gar nicht möglich wäre. Das Spektrum reicht von Künstlerinnen, die ihr Atelier öffnen, über freie, mobile Theater- und Projektgruppen bis hin zu Menschen, die sich im Kulturverein zusammenschließen, die kulturelle Bildungsangebote organisieren, sich aber auch gegen Nationalismus, Antisemitismus und Antiziganismus organisieren.
({1})
Sie schaffen in den ländlichen Räumen Orte, an denen Menschen aktiv mitmachen: die Werkstatt für lebenslanges Lernen in Qualitz, Mecklenburg-Vorpommern, die Kulturinitiative „Baruther Bank“ in Kannawurf in Thüringen sowie den Arbeitskreis „Geschichte der Juden in Pirmasens“. Das sind nur einige Beispiele. Erwähnens- und begrüßenswert in diesem Zusammenhang ist, dass die Angriffe auf den Verein Treibhaus in Döbeln, Sachsen, tätig in der freien Jugendhilfe, maßgeblich von der AfD vorangetrieben, abgewehrt werden konnten. Die Förderung findet weiter statt. Das ist ein klarer Erfolg für die Zivilgesellschaft.
({2})
Doch diese kulturellen Akteure, die nicht in etablierten Einrichtungen eingebunden oder Teil der etablierten Infrastruktur sind, werden auch im vorliegenden Antrag der Koalition, der eine Wiederholung aus der vorangegangenen Legislaturperiode darstellt, primär nicht in den Blick genommen.
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Angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen ruht die Gewährleistung kultureller Teilhabe im ländlichen Raum zu einem nicht unerheblichen Teil auf den Schultern genau dieser Akteurinnen und Akteure. Wir müssen diese durch einen Bürgerkulturfonds, der dieses Engagement fördert, nachhaltig unterstützen. Deshalb fordert Die Linke, den Fonds Neue Länder auf alle ländlichen Räume auszudehnen und weiter auszustatten, statt ihn auslaufen zu lassen. Das wäre eine Stärkung dieser kulturellen Akteure.
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Wir brauchen nicht Teilförderungen und noch mehr Projektitis, sondern eine Anerkennung ihrer kulturellen Leistungen und gesellschaftlichen Rolle. Diese Förderung muss auf alle Regionen ausgeweitet werden. Deshalb fordern wir auch die Verankerung eines Staatsziels Kultur und die Möglichkeit eines Zusammenwirkens von Bund, Ländern und Kommunen zum Schutz und zur Förderung der Kultur, ohne die ländlichen Räume bei der kulturellen Teilhabe auf sich allein gestellt zu lassen.
Danke.
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Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Erhard Grundl für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kulturbegeisterte! „Nobody ’ s perfect“ – „Niemand ist vollkommen“ –, so heißt der letzte Satz in Billy Wilders Meisterwerk „Manche mögen ’ s heiß“. Der Burgtheaterverein Mitterfels aus dem vorderen Bayerischen Wald bringt jedes Jahr aufwendigste Produktionen auf die Bühne, so etwa vor zwei Jahren die Geschichte von Sugar Kowalczyk aus „Manche mögen ’ s heiß“. Der Theaterverein schafft das mit persönlichem Engagement der Beteiligten und – Sie werden es ahnen, meine Damen und Herren der Koalition – durch Crowdfunding; denn landauf, landab fehlen die Ideen für unbürokratische Förderungen. Auch in Ihrem Antrag sind sie leider nicht zu finden. Was uns hier vorgelegt wird, ist ein Schaufensterantrag, der vor Selbstlob strotzt und keinerlei neue Ideen und Konzepte aufzeigt,
({0})
wie Sie die Kultur im ländlichen Raum strukturell wirklich besser aufstellen wollen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und SPD, Sie fordern selbst, die Fonds für Soziokultur, Musik, darstellende Künste etc. weiter auszubauen. Unseren Haushaltsantrag, der genau das wollte, haben Sie aber abgelehnt. Dabei sind es gerade die Projekte der Fonds, die im ländlichen Raum wirken, die kulturelle Vielfalt erzeugen und die für alle zugänglich sind. Sie setzen Ihre eigenen Ankündigungen nicht um. Aber Billy Wilder hätte wohl auch dazu gnädig gesagt: Nobody’s perfect.
({1})
Die Realität ist, dass Sie zukunftsorientierte Konzepte und Projekte immer wieder in den Ausschüssen blockieren, und das ist nicht hinnehmbar. Stattdessen klüngeln Ihre Haushälter untereinander Prestigeprojekte aus, bei denen selbst Ihre Kulturstaatsministerin die Hände über dem Kopf zusammenschlägt. Die „Freunde der italienischen Oper“ aus „ Some Like It Hot“ würden es so bezeichnen: Das Problem des ländlichen Raums ist es, dass er nicht im Wahlkreis von Johannes Kahrs liegt.
({2})
Ich habe natürlich nichts gegen Denkmalschutz oder die Modernisierung von Orgeln oder ein Fotoinstitut, ganz im Gegenteil. Wenn aber intransparente Haushaltspolitik dazu führt, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, dass notwendige Mittel fehlen, um die Kultur im ländlichen Raum strukturell zu unterstützen, dann ist das unverzeihlich. Denn wenn es passieren würde, dass die Spießgesellen hier rechts außen an den Hebeln des Klüngels sitzen, dann wäre es längst nicht mehr mit einem „Nobody’s perfect“ abgetan. Das sollten Sie bei Ihrer ganzen Kirchturmpolitik bedenken.
({3})
Ich hoffe, dass die im Koalitionsvertrag angekündigte „Agenda für Kultur und Zukunft“ keine bloße Überschrift bleibt.
({4})
– Es stehen auch richtige Impulse in Ihrem Antrag. Das will ich gar nicht verschweigen.
({5})
Dennoch müssen jetzt konkrete Taten folgen. Legen Sie uns ein Gesamtkonzept für Kulturstärkung im ländlichen Raum vor, das finanziell angemessen unterlegt ist, und wir unterstützen es. Billy Wilder hat trotz seiner bewegten Biografie zeitlebens ganz fest an das Positive glaubt. Die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen tut das auch.
({6})
In diesem Sinne werden wir Ihren Antrag nicht ablehnen, sondern uns dazu enthalten, denn: Nobody’s perfect.
({7})
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Michael Frieser.
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Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ja, es ist wahr: Diese Gesellschaft fragmentiert sich. Wir erleben ein Auseinanderstreben aus urbanen Räumen und ländlichen Räumen. Das ist wahrlich nichts Neues. Wir müssen dafür sorgen, dass es eben nicht passiert, dass bestimmte Stellen in diesem Land abgehängt werden. Keine Frage, wir haben in vielen anderen Politikbereichen im Augenblick in der Tat den Eindruck, dass man gerne aus der Stadt heraus den Leuten auf dem Land erklärt, wie es funktioniert. Es hat überhaupt nur einen Sinn, über Kultur in ländlichen Räumen zu reden, wenn die Infrastruktur passt, wenn die Menschen, die dort leben, auch in der Lage sind, sich zu bewegen, wenn sie mobil sind, wenn sie angeschlossen sind, wenn sie digital empfangbar, gestaltbar an ihrem Leben teilhaben können. All das ist wahr.
Nur: Was wir heute gehört haben – jetzt, in der letzten halben Stunde –, ist alles, was nicht geht, was wir nicht wollen. Damit ist für die Kunst und Kultur im ländlichen Raum nicht ein Jota gewonnen.
Dieser Antrag ist es, der Räume schafft.
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Nur so können Kunst und Kultur in ihrer Ausprägung dort draußen, bis hinein ins Kleinteilige, bis hin zu Fragen der Tradition, des Brauchtums und des Ehrenamts, überhaupt ihre Wirkung entfalten. Aber diese Räume muss man schaffen.
Jetzt liegt es mir schon auf der Zunge, mal mit dieser moralischen Heuchelei der AfD aufzuräumen. Das tue ich normalerweise nicht; Sie wissen das. Aber sich hierhinzustellen und uns zu erklären: „Lasst doch die Kultur mal blühen, wie sie will; die Räume schaffen sich von selber“, das ist pure Heuchelei.
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Denn am Ende des Tages brauchen wir finanzielle Mittel, um dort diese Räume zu schaffen. Sich dann hinzustellen und zu sagen: „Niemand soll die Menschen dort bevormunden“, ist doch in der Konsequenz genau das Gegenteil: Sie lassen die kulturellen Impulse dort draußen sterben. Das ist die Folge.
Ob beim Tanz, ob beim Theater, ob bei der Kunst, ob bei ganz kleinen Museen, ob beim Brauchtum – wo auch immer –: Dort braucht es Rahmenbedingungen. Diese Rahmenbedingungen versuchen wir mit diesem Antrag zu stärken; nur das können wir tun. Man kann sich nicht dort hinstellen und bevormunden und sagen, was förderungswürdig ist und was nicht. Man braucht diese Strukturen. Diese Strukturen sollten auf Programme aufsetzen, bei denen der Bund den Ländern gerne hilft – nur so haben Kunst und Kultur im ländlichen Raum am Ende des Tages wirklich eine Chance –, ohne zu sagen, wie es vor Ort zu laufen hat, ohne Indoktrination und ohne moralische Überheblichkeit, wie sie bei Ihnen zum Ausdruck kommt, wenn Sie sagen: Ihr braucht gar keine Hilfe; irgendwas wird sich dort schon finden.
Die Menschen brauchen sehr wohl unsere Unterstützung, unsere Programmatik. Am Ende des Tages braucht es genau diesen programmatischen Ansatz, um zu wissen: Da muss auch Geld fließen. Eine Kulturnation identifiziert sich eben nicht nur über die Leuchttürme in der Stadt, sondern sie identifiziert sich gerade über die traditionsreiche, brauchtumsgebundene, kulturpolitisch und ehrenamtlich gestützte Kultur in ihren ländlichen Räumen. Dafür stellen wir diesen Antrag. Ich bin den Kollegen aus der Koalition sehr dankbar, dass sie an dieser Stelle mitwirken.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.