Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was ist das Problem, weswegen wir heute zusammengekommen sind, um es zu lösen? In Deutschland sterben jedes Jahr mehr als 1 000 Menschen, die auf der Warteliste für ein Spenderorgan stehen; mehr als 10 000 Menschen stehen auf dieser Warteliste. Das sind sehr hohe Zahlen. Was dagegen die Zahl der gespendeten Organe, der Spender angeht, muss man feststellen, dass diese nur ungefähr halb so hoch ist wie in unseren Nachbarländern. In den Nachbarländern werden – auf die Bevölkerung bezogen – zwei- bis dreimal so viele Organe gespendet. Wir liegen also zurück. Wir sind Schlusslicht in Europa.
Woran liegt das? Ist in Deutschland die Spendenbereitschaft nicht da? Nein, wir haben eine Spendenbereitschaft, die hoch ist. 85 Prozent der Menschen sind der Organspende gegenüber positiv eingestellt. Will man die Organe vielleicht nicht nehmen? Nein, auch das ist nicht so. 98 Prozent derjenigen, die auf der Warteliste sind, wollen auf dieser Warteliste sein, wollen ein Organ haben. Somit gibt es also die Bereitschaft, zu spenden, und es gibt die Bereitschaft, ein Organ zu nehmen.
Trotzdem kommt das nicht zusammen. Woran liegt das? Das liegt daran, dass nur sehr wenige, weniger als ein Drittel, einen Organspendeausweis verfügbar haben und dass dieser in weniger als 20 Prozent der Fälle bei einer Spende, nämlich dann, wenn der Hirntod eingetreten ist, eine Rolle spielt. In 80 Prozent der Fälle ist das eine Angelegenheit der Ärzte und der Angehörigen. Das war schon so, als ich noch gar nicht im Bundestag war. Vor mehr als 15 Jahren habe ich eine Studie mit mehr als 15 000 Dialysepatienten geleitet. Damals war das Problem genauso wie heute.
Seitdem haben zahlreiche Länder die Widerspruchslösung eingeführt, über die wir heute debattieren. 22 europäische Länder haben das gemacht. In den Ländern, die das gemacht haben, sind die Spendenzahlen hochgegangen, zum Beispiel in Schweden. Nachdem dort die Widerspruchslösung eingeführt wurde, hat sich die Spendenzahl verdoppelt. Wieso ist das so? Zu viele Menschen, die bereit sind, zu spenden, werden nicht zum Spender, weil die Angehörigen und die Ärzte in der Situation des Hirntodes überfordert sind, diese Entscheidung für den Verstorbenen zu treffen. Mehr als die Hälfte stimmt dann nicht zu. Das ist das eigentliche Problem.
Das Problem ist nicht die Organisation der Organspende. Die Organisation ist in Deutschland nicht schlechter als anderswo. Es ist ja ganz klar: Egal wie ich es organisiere – ich kann es gut machen oder schlecht –: Wenn ich das Organ nicht habe, macht die Organisation keinen Unterschied.
Es ist auch nicht so, dass es hier in Deutschland keine Bereitschaft gibt, zu spenden – die Bereitschaft ist da –, sondern es ist vielmehr so: Es fehlt eine einfache, unbürokratische Regelung, wie man zum Spender wird. Das ist das Problem. Hier gibt es nun die Widerspruchslösung. Die Widerspruchslösung ist nicht die Lösung aller Probleme; sie ist aber eine notwendige Bedingung dafür, dass wir das schaffen. Daher setzen sich fast alle von dem Thema betroffenen ärztlichen Organisationen, meine Kolleginnen und Kollegen, dafür ein, zum Beispiel die Deutsche Gesellschaft für Urologie, die Deutsche Gesellschaft für Nephrologie, die Deutsche Transplantationsgesellschaft, die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie, die Deutsche Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin. Wir alle setzen uns für die Einführung der Widerspruchslösung ein, weil wir wissen, dass es sonst nicht gehen wird. Wir werden es sonst nicht schaffen. Die Kollegin Schmidtke wird darüber nachher reden. Ich sage somit: Wenn wir es nicht schaffen, diesmal die Widerspruchslösung einzuführen – wir kämpfen an dieser Stelle seit mehr als zehn Jahren dafür –, dann wird sich erneut nichts ändern, dann werden wir in wenigen Jahren die Debatte, die wir heute haben, hier erneut führen, weil mit jeder Variante der Zustimmungslösung das Problem nicht zu lösen ist. Machen wir uns nichts vor!
Ich komme zu den ethischen Gegenargumenten. Immer wieder wird gesagt, die Widerspruchslösung möge effizienter sein, das stelle man nicht strittig, in den 22 europäischen Ländern, die die Widerspruchslösung haben, möge sie wirken, das stelle man nicht strittig, sie sei aber eine unethische Lösung. Übrigens, wenn wir so denken, dann dürften wir auch keine Organe nehmen, die aus den Ländern kommen, in denen die Widerspruchslösung praktiziert wird.
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Die Eurotransplant-Länder machen das ja alle. Dann müssten Sie alle auch konsequenterweise sagen: Wir wollen diese Organe nicht. – Diese nimmt aber jeder gerne an. Weshalb ist das so? Man muss natürlich vorsichtig sein. Es wird immer gesagt: Das ist dann eine Pflicht zur Spende. -
Das ist natürlich falsch. Das ist Unsinn. Es gibt keine Pflicht zur Spende. Es gibt eine Pflicht, Nein zu sagen, wenn ich zu den wenigen gehören will, die zwar nicht spenden wollen, aber gerne ein Organ bekommen wollen. Von diesen Menschen kann ich wenigstens verlangen, dass sie bereit sind, dass sie den Mut haben, Nein zu sagen. Das ist das Wenigste.
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Das ist aus meiner Sicht auch in der Tradition der christlichen Ethik. Das steht in dieser Form schon mehr oder weniger in der Bibel: Das, was ich will, was mir selbst zugutekommt, muss ich auch bereit sein anderen zu geben.
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Das ist in der Tradition der Aufklärung. Das hat Kant so ausgedrückt. Das ist die Goldene Regel. Es ist unethisch, ein Organ nehmen zu wollen, aber nicht bereit zu sein, zumindest Nein zu sagen, wenn man nicht bereit ist, zu spenden. Das ist eine unethische Haltung.
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Jetzt hat das Wort die Kollegin Hilde Mattheis.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt keinen signifikanten Zusammenhang zwischen der Wirkung einer Widerspruchsregelung und den Spendenzahlen. Den gibt es nicht.
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Das hier zu suggerieren, ist ein fatal falscher Ansatz. Wir, die wir einen Gesetzentwurf zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft einbringen, sagen: Eine Spende muss eine Spende bleiben,
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ein aktiver, freiwilliger und selbstbestimmter Akt von Menschen, die in einem Höchstmaß von Solidarität für andere Menschen etwas geben. Das ist die Grundlage von Solidarität: freiwillig, selbstbestimmt etwas zu geben.
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Das ist auch das Menschenbild, das von unserem Grundgesetz geprägt wird, nämlich die Würde nicht zu verletzen über den Tod hinaus.
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Alle Vergleiche, zum Beispiel mit einer Obduktion, verbieten sich hier; denn bei einer Organspende handelt es sich nicht um den Körper eines Leichnams.
Wir wissen – die Zahlen werden angeführt –: Ja, in Spanien gibt es eine höhere Spendenzahl. Selbst die DSO sagt: Wir bekommen gar nicht alle Spendenbereitschaften gemeldet. – Das liegt an den Strukturen.
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Wir setzen auf dem Gesetz, das wir im April letzten Jahres verabschiedet haben, auf, nämlich zu sagen: Man muss den Menschen die Möglichkeit geben, sich im Laufe ihres Lebens unter bestimmten Voraussetzungen und in bestimmten Situationen mit dem Thema Organspende zu befassen. Wir wollen, dass sich die Behörden da einbringen. Wir wollen, dass dieses Thema beim Erste-Hilfe-Kurs für den Führerschein behandelt wird. Wir wollen, dass die Hausärzte die Möglichkeit bekommen – mit einer Leistungshinterlegung –, in ihren Sprechstunden alle zwei Jahre mit ihren Patientinnen und Patienten darüber zu sprechen. Wir wollen aber nicht auf die Trägheit und den Unwillen von Menschen setzen, sich damit nicht zu befassen.
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Denn das schafft kein Vertrauen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Spendenbereitschaft bedeutet: Man hat ein Höchstmaß an Vertrauen in das, was da passiert, in die Ärztinnen und Ärzte, in die Menschen, die einen begleiten. Da sage ich: Das, was die Widerspruchslösung – sie nennt sich ja: doppelte Widerspruchslösung – suggeriert, ist nicht der Fall. Die Angehörigen haben kein Recht, Nein zu sagen. Vielmehr werden sie zu Zeugen degradiert.
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Ich nenne zwei Punkte aus einem Kommentar von Heribert Prantl, die mich besonders beeindruckt haben.
Das Erste ist: Menschen sind nicht nur Individuen; sie sind Beziehungsmenschen. Sie stehen in Beziehungen zueinander. Ich darf nicht außer Acht lassen, dass es hier auch Beziehungen gibt. Angehörige müssen mit dem, was da passiert ist, weiter leben, egal wie. Sie brauchen eine Möglichkeit, sich zu artikulieren; sie sollen nicht als Zeugen auftreten, sondern den Willen des Angehörigen entsprechend verkörpern und nicht dastehen als diejenigen, die im Prinzip keinen Einfluss haben.
Das Zweite, was Heribert Prantl zu Recht anspricht, ist der ökonomische Aspekt dieser doppelten Widerspruchslösung: Menschen werden degradiert, und die Würde des Menschen wird verletzt. Das ist ein zentraler Punkt. Da müssen wir Nein sagen. Das geht nicht an dieser Stelle und an anderen Stellen übrigens auch nicht.
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Von daher werben wir dafür: Schauen Sie genau hin, wenn Sie es nicht schon getan haben. Gucken Sie auf dieses Gesetz, das genau an dem Punkt ansetzt, den uns alle Untersuchungen bestätigen: Es geht darum, die Strukturen zu unterstützen, transparent zu machen, mit hohem Einsatz in den Kliniken arbeiten zu können. Darum geht es. Es geht auch darum, den Menschen ihre Selbstbestimmung nicht zu nehmen.
Vielen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Detlev Spangenberg.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Mehr Vertrauen in die Organspende – der Ansatz der AfD nennt sich Vertrauenslösung. Die Widerspruchslösung kann die Zielsetzung, mehr Spender zu erreichen, gefährden. Wir haben unterschiedliche Zahlen von Spendern, aber das liegt nicht bloß an dem System, sondern auch daran, wie der Tod festgestellt wird – denken Sie dabei an Spanien –, zum Beispiel Hirntod oder Herztod. Das sind große Unterschiede, die auch die Anzahl der Spender bzw. die Spendenmöglichkeit beeinflussen. Die Spendenbereitschaft wird nicht infrage gestellt, auch nicht von der AfD, wie das fälschlicherweise, wie üblich, in der Presse dargestellt wurde.
Wir alle haben in den letzten Wochen Post erhalten: Zustimmung für die Widerspruchslösung, aber auch Verweigerung, weiterhin Spender zu sein, wenn die Widerspruchslösung kommt. Auch das haben wir bekommen. Das haben Menschen geschrieben, die ihren Ausweis wieder abgeben wollen, wenn diese Art der Willenserklärung so formuliert wird. Vertrauen, meine Damen und Herren, ist das Wichtigste bei diesem hochsensiblen Thema. Ich erinnere an die Manipulationen von 2014 und 2015 in Großhadern, Berlin, Heidelberg, Bremen und Göttingen, dann ist das natürlich nicht hilfreich, Menschen dafür zu gewinnen, zu spenden. Das Mittel heißt Vertrauen, immer wieder Vertrauen.
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Die Widerspruchslösung, so sagen einige, ist die faktische Enteignung des menschlichen Körpers, das Vermissen jeglicher Sensibilität bei diesem hochemotionalen Thema, und sie ignoriert auch hartnäckig, dass bei einem Versäumnis, sich gegen die Widerspruchslösung zu erklären, dies auch eine Entscheidung über Leben und Tod bedeuten kann. Das kann man diesen Leuten nicht einfach wegnehmen. Diese Überlegung haben sie.
Ich gehe auf drei Themenbereiche ein.
Erstens: Einschränkung der persönlichen Freiheit. Minister Spahn hat, wenn ich das richtig gelesen habe, im „Spiegel“ die abenteuerliche Definition formuliert, dass wir an die Freiheit derer denken müssen, die das Organ erhalten möchten. Meine Damen und Herren, so weit kann es nicht gehen, dass sich jemand damit beschäftigen muss zugunsten anderer, weil einer etwas erreichen will. Die Freiheit des einen ist genauso viel wert wie die Freiheit des anderen.
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Es geht hier, meine Damen und Herren, um Menschen, die sich mit diesem Problem nie beschäftigt haben und sich damit auch nicht beschäftigen wollen. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass manche Menschen das nicht tun wollen. Das Zwingen zu einer Entscheidung ist der völlig falsche Weg. Spenden ja, aber nicht zu einer Erklärung gezwungen werden.
Der nächste Punkt: Rücksicht auf persönliche Ängste. Keine Sensibilität denen gegenüber, die vor diesem Thema Angst haben. Niemand ist am Leid der auf ein Organ Wartenden schuld. Es kann daraus auch keine Forderung an fremde Dritte abgeleitet werden, bei allem Verständnis für deren Leid. So weit geht es nicht.
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Wir haben auch kein Recht, über Ängstliche und Zaudernde den moralischen Zeigefinger zu heben bzw. eine moralische Keule zu schwingen. Dieses Recht steht keinem zu.
Als letzten Teil: die Rechtssystematik. Schweigen gilt nun einmal bei uns in Deutschland grundsätzlich als keine Willenserklärung; im Zweifel heißt es Nein.
Die Kritiker, die das bestreiten, führen dann immer § 416 Absatz 1 BGB – Umschreibung beim Grunderwerb – oder § 362 HGB, wo geregelt ist, dass Verträge auch durch Schweigen zustande kommen, oder das Testament an.
Meine Damen und Herren, ich sage das auch für die Bevölkerung deutlich: Diese Argumente ziehen nicht, weil dort immer eine Beziehung zwischen den Partnern besteht, bestanden hat. Dort steht also eine Willenserklärung nicht einfach im leeren Raum, sondern diese Willenserklärung ist ausgesprochen worden; sie ist vorhanden. Insofern passen diese Dinge nicht. Schweigen heißt grundsätzlich Nein. So ist das bei uns, in unserem Rechtssystem, nach wie vor.
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Es wird eine weitere Befürchtung ausgesprochen, dass diese Widerspruchslösung ein Einfalltor ist und am Recht des eigenen Willens vorbeigeht. Sie formuliert eine neue Rechtsfolge bzw. einen neuen Tatbestand. Eine Spende, so Professor Dr. Kluth von der Uni Halle, kann niemals als solidarisches Pflichtverhalten formuliert werden.
Auch die Deutsche Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, schreibt: Schweigen kann keine Zustimmung sein. – Nur Vertrauen ist hier die Lösung; das ist der Ansatz der AfD. Wir möchten gerne die Zustimmungslösung, aber mit den Ansätzen, die wir in unseren Antrag eingearbeitet haben. Dabei muss die Patientenverfügung immer Vorrang vor jeder anderen Entscheidung haben. Das ist unser Grundsatz.
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Lassen Sie mich noch eines sagen: Einen 16-Jährigen automatisch als Spender zu verpflichten, bringt auch gefährliche Interpretationen mit sich, meine Damen und Herren. Wir gehen sonst im Strafrecht teilweise bis 21 Jahre hoch. Hier wollen wir 16-Jährige verpflichten. Das, denke ich, meine Damen und Herren, sollte man nicht tun.
Ich schließe und sage eindeutig: Es geht nicht darum, die Meinung derer hervorzuheben, die dafür sind, meine Damen und Herren. Darum geht es nicht, sondern darum, um die zu werben, die einfach noch kein Vertrauen haben, diesen Schritt, Spender zu werden, zu gehen. Um diese Menschen müssen wir uns bemühen, meine Damen und Herren. Allein das ist unsere Aufgabe.
Vielen Dank.
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Dr. Claudia Schmidtke ist die nächste Rednerin.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! In der dritten, der abschließenden Debatte zur künftigen Ausrichtung der Organspende möchte ich über das sprechen, was im englischsprachigen Raum „elephant in the room“, hier sozusagen der Elefant im Plenarsaal, genannt wird, also über das, was das Thema eigentlich bestimmt, worüber wir aber ungern sprechen, weil es bequemer ist, es zu verdrängen: den Tod.
Damit meine ich nicht die Frage, ob der Hirntod der Tod ist – diese wissenschaftliche Tatsache wird von allen vorliegenden Entwürfen anerkannt –, sondern ich meine die Belastung der Organspendedebatte mit dem größten vorstellbaren Tabuthema: unserer Sterblichkeit.
Zivilisation begann mit der Bestattung der Leichname unserer Angehörigen. Es ist ein fester Bestandteil unserer Kultur, dass wir Abschied nehmen wollen von dem Menschen, der uns verlässt. Und es schmerzt uns, wenn dem – auch toten – Körper eines Angehörigen oder Freundes Schaden zugefügt wird. Diese Werte sind eine feste Grundlage unserer Gesellschaft, und es fällt schwer, sie verletzt zu sehen.
Doch seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist klar: Jeder Mensch kann dafür sorgen, dass mit seinem Tod andere Menschenleben gerettet werden. Zu Lebzeiten ist dies den wenigsten Menschen vergönnt. Heute aber kann man es als Erbe hinterlassen und, statistisch betrachtet, drei Leben von Menschen retten, die gemeinsam mit ihren Angehörigen und Freunden in tagtäglicher Anspannung teilweise über Jahre darauf hoffen.
Seit Bestehen der Transplantationsmedizin ist Folgendes gegeneinander abzuwägen: die Unverletzlichkeit eines Leichnams, den wir begraben, mit dem höchsten Gut, einem Leben, das gerettet werden kann. Jeder Mensch hat diese Abwägung für sich und seinen Körper zu treffen; auch daran will keiner der vorliegenden Gesetzentwürfe etwas ändern.
Die Widerspruchsregelung geht jedoch davon aus, dass der Wert des zu rettenden Lebens in unserer Gesellschaft so hoch ist, dass, solange der Widerspruch in jedem Einzelfall respektiert wird, von einer Zustimmung ausgegangen werden kann, ja sogar muss.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist alles, worum es geht.
Was diese einfache Frage der Abwägung jedoch kompliziert macht, ist die Überschattung durch das Thema, über das wir ungern sprechen: den Tod. Wenn wir nicht über ihn sprechen, ihn ignorieren, helfen uns die althergebrachten Wertesysteme, die uns jahrhundertelang begleitet haben, dabei, ihn ertragen zu können. Das verstehe ich gut.
Doch spätestens seit um uns herum fast ganz Europa – alles christliche Nationen, alle gehören zu unserer Wertegemeinschaft – den Schritt zur Widerspruchsregelung gegangen ist, muss Deutschland die Frage gestellt werden, ob man sich weiterhin in diese Verdrängung zurückziehen kann,
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ob wir Schicksale wie das von Marius Schäfer weiterhin ertragen wollen.
Marius ist heute hier auf der Tribüne mit seinem Vater. Er hat als Elfjähriger, vor acht Jahren, im Gegensatz zu den vielen Wartenden eine Spende erhalten. Allerdings: Es war die erste Lebendspende einer Lunge in Deutschland. Beide Eltern haben einen Teil von ihrer Lunge abgeben müssen, um ihm das Leben bis heute, jeden einzelnen kostbaren Tag, zu schenken.
Solch ein Schritt ist zuvor bei uns noch nie gewagt worden. Er gefährdet nämlich drei Betroffene. Doch waren Marius’ Zustand und seine Werte so schlecht, dass sich die mutigen Ärzte in Hannover in letzter Minute dazu durchringen mussten; denn in Deutschland gab es kein Organ für Marius. Er steht stellvertretend für so viele Patientinnen und Patienten, die uns in den vergangenen Wochen angeschrieben haben.
Wenn wir heute die Entscheidung über die künftige Ausgestaltung der Organspende treffen, entscheiden wir darüber, was uns wichtiger ist: mit minimalen Veränderungen keine spürbare Wirkung auf das Schicksal der Betroffenen zu entfalten und uns einzureden, dass das etwas mit solidarischen Werten zu tun hat,
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oder ihnen Hoffnung zu geben mit einer tatsächlichen Veränderung, die nahezu alle unsere europäischen Partner bereits vollzogen haben. Wollen wir das? Die Zahlen sagen Ja. Die Fachleute, auch die DSO, sagen Ja. Die Mehrheit der Deutschen sagt Ja. Die Patienten hoffen inständig auf ein Ja.
Ich bitte Sie: Gehen Sie den Schritt! Die Widerspruchsregelung respektiert die Entscheidung jeder Einzelnen und jedes Einzelnen ebenso wie die anderen Entwürfe, doch nur bei ihr hat das zu rettende Leben den Stellenwert, der unserer Gesellschaft guttut.
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Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Annalena Baerbock.
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Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Gäste auf der Tribüne! Wir sind heute hier, um Leben zu retten. Das eint beide Gesetzentwürfe. Beiden Gesetzentwürfen sind intensive Gespräche mit Betroffenen, mit Krankenhäusern, mit Ärztinnen und Ärzten, mit Angehörigen und mit vielen, vielen Menschen in diesem Land vorausgegangen. Aber diese Debatten haben uns allen eben auch noch mal verdeutlicht, dass das Leben und der Tod so vielfältig, so unterschiedlich sind wie wir Menschen selbst.
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Deswegen kann es aus unserer Sicht nicht nur diese eine Sichtweise auf die Organspende geben, die dann vielleicht auch noch der Staat verordnet.
Nein, es gibt vielfältige Sichtweisen. Eltern – das haben einige zu Recht angesprochen – warten jeden Tag händeringend auf dieses eine Organ für ihr Kind. Das kann man sich als Nichtbetroffene kaum vorstellen. Es gibt aber auch die Ehefrau, die Mutter, die jahrelang auf ein Herz wartet, die aber sagt: Wenn ich nicht weiß, dass dieses Herz freiwillig gespendet wurde, dann will ich gar nicht mehr auf der Transplantationsliste sein. – Da sind die Angehörigen. All diese Sichtweisen müssen wir respektieren, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen.
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Daher hat unsere Gruppe einen Gesetzentwurf zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft bei der Organspende vorgelegt, der zum einen die Spenderzahlen, zum anderen aber vor allen Dingen – das ist der entscheidende Unterschied – die De-facto-Transplantationszahlen in den Krankenhäusern in den Blick nimmt. Darum geht es am Ende doch: Es geht darum, Leben zu retten – und das Selbstbestimmungsrecht eines jeden Einzelnen zu wahren.
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Ich weiß: Wir versuchen hier heute alle unser Bestes, aber ich sage zu den Argumenten, die von Vorrednern vorgebracht wurden: Aus meiner Sicht verkennt die Widerspruchsregelung, dass man nicht einfach Regelungen aus anderen Ländern auf die deutsche Situation, auf die Rechtslage und die Situation in den Krankenhäusern, übertragen kann. Man verkennt damit die Realität hier bei uns in Deutschland, und darum geht es.
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Erstens. In anderen europäischen Ländern – darauf werden andere Rednerinnen und Redner noch eingehen – gilt der Herztod als ausreichend, in Deutschland nicht. Deswegen können Sie diese Zahlen nicht vergleichen. Niemand will daran hier im Hohen Hause etwas ändern.
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Zweitens. Herr Lauterbach, Sie verweisen immer auf Spanien. Sie wissen aber ganz genau: Die Situation in Spanien – der gesamte Gesundheitsausschuss war da – ist so anders,
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weil sich dort in den Krankenhäusern etwas verändert hat. Wissen Sie, was unser Problem in den Krankenhäusern ist, selbst wenn alle Menschen Spenderinnen und Spender wären? Nur von 8,2 Prozent derjenigen, die in Krankenhäusern für hirntot erklärt worden sind, wurden überhaupt Organe transplantiert – weil sie nicht gemeldet wurden. Da müssen wir ran. Wenn wir diese Zahlen verdreifachen, haben wir genug Organe, sehr verehrte Damen und Herren.
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Der dritte Punkt – darauf werden Kollegen aus unserer Gruppe noch eingehen – ist unser Grundgesetz, und das gilt nun einmal nicht in anderen europäischen Ländern. Die haben ihre eigene Geschichte. Die haben ihre eigene Verfassungsgeschichte. Unsere Verfassungsgeschichte schreibt in Artikel 1 und 2 zu Recht die aus unserer Geschichte hervorgegangene besondere Verantwortung in unser Grundgesetz.
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Da gilt es, das Selbstbestimmungsrecht eines jeden Einzelnen zu respektieren, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Deswegen muss man immer das mildeste Mittel wählen, um an das Ziel zu kommen. Wir haben das gleiche Ziel: Leben retten. Wir wählen aber ein anderes Mittel.
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Ich möchte deutlich machen – denn das wird sicherlich in der Debatte noch kommen –: Wir verteidigen hier nicht den Status quo. Wir verteilen nicht einfach mehr Infobroschüren. Nein! Unsere Gesellschaft ist solidarisch. 84 Prozent der Menschen wollen spenden,
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aber nur 40 Prozent haben einen Ausweis. Diesen 84 Prozent wollen wir ermöglichen, sich ganz einfach zu registrieren. Es ist ein großer Unterschied, ob ich einen Pappausweis im Portemonnaie habe, das ich nicht dabei habe, wenn ich ein Kleid trage, oder – das ist unser Vorschlag – ob ein Onlineregister geschaffen wird, in das sich jeder eintragen kann.
Ich weiß, dass gleich vom Bürgeramt die Rede sein wird. Ja, in manchen Bürgerämtern ist es nicht schön; in anderen ist es das aber. Da bekommt man alle Informationen. Man muss sich aber nicht vor Ort informieren. Man kann zum Hausarzt gehen, und man kann vor allen Dingen nach Hause gehen und sich nach intensiver Debatte online jederzeit, jede Minute, jede Stunde registrieren. Das ist der Dreh- und Angelpunkt unseres Vorschlages, sehr verehrte Damen und Herren.
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Er ist so wichtig, weil dieser Dreh- und Angelpunkt an der Situation in den Krankenhäusern etwas verändert, weil die Ärztinnen und Ärzte sofort auf das Onlineregister zugreifen können. Sie müssen nicht fragen: Hat der Patient einen Organspenderausweis? Sie müssen nicht die Angehörigen fragen: Wie war es denn noch mal? Sie können direkt darauf zugreifen. Damit ändert sich an dem Hauptproblem, nämlich dass zu wenig gemeldet und transplantiert wird, in der Realität wirklich etwas, sehr verehrte Damen und Herren.
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Wir stimmen hier heute über eine hochethische Frage ab: Wie kommen wir zu mehr Transplantationen? Wie retten wir mehr Leben? Wir stimmen aber auch darüber ab: Wem gehört der Mensch? In unseren Augen gehört er nicht dem Staat, nicht der Gesellschaft. Er gehört sich selbst,
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ungefragt, ohne Widerspruch. Daher bitte ich Sie um Zustimmung zur Entscheidungslösung, um mehr Menschenleben hier gemeinsam zu retten.
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hermann Otto Solms.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will gleich zu Anfang sagen: Wir streiten heute nicht über das Ziel der Verbesserung des Spendenverhaltens, wir streiten in den beiden Entwürfen allein über den Weg dorthin;
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denn heute wollen alle Mitglieder des Hauses die Situation jener Patienten verbessern, die seit Jahren dringend auf Spenden warten.
Die Organspendensituation zu verbessern, ist dringend geboten; darin sind wir uns einig. Ich muss an dieser Stelle die Zahlen und Fakten nicht wiederholen; die sind bekannt; der Kollege Lauterbach hat sie gerade aufgeführt. Das ändert nichts daran: Dieses Thema bewegt die Menschen. Eine Verbesserung der Lage ist wirklich überfällig, und Tausende von Patienten warten darauf.
Für mich wie für die Freien Demokraten zusammen steht in dieser Frage die Selbstbestimmung des Einzelnen im Vordergrund. Dementsprechend habe ich mich lange selbst geprüft, ob die Widerspruchslösung diesem fundamentalen Prinzip genügt. Ich persönlich denke: Ja, das tut sie. Es ändert sich doch nur eines: Man macht nicht mehr von seinem Recht auf Zustimmung Gebrauch, sondern von seinem Recht auf Widerspruch.
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Damit setzt die Widerspruchslösung auch nicht auf die Trägheit oder Entscheidungsunfähigkeit des Einzelnen, wie unter anderem behauptet wurde. Im Gegenteil: Sie ermutigt alle Bundesbürger, sich aktiv mit dieser drängenden Frage zu beschäftigen. Wer zu dem Ergebnis kommt, seine Organe nicht spenden zu wollen, muss das schließlich nur kundtun. Ich verwehre mich also gegen die Behauptung, die Widerspruchslösung würde die persönliche Entscheidungsfreiheit einschränken.
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Auch das Recht auf Widerspruch ist gelebte Freiheit. Mit einer Widerspruchslösung bei Organspenden fordert der Gesetzgeber die Bürger lediglich auf, von dieser Freiheit Gebrauch zu machen. Während der Entwurf für eine Stärkung der Entscheidungsbereitschaft natürlich auch die persönliche Freiheit wahrt, halte ich ihn zum Erreichen unseres gemeinsamen Ziels für unzulänglich.
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Von einer ursprünglich angedachten verbindlichen Abfrage sind lediglich ein zentrales Register und zusätzliche Informationskampagnen geblieben. Sie möchten unter anderem zukünftig die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Bürgerämtern in die Pflicht nehmen. Bei jedem Amtsvorgang soll auf die Organspende hingewiesen und vor Ort der Eintrag in das zentrale Register ermöglicht werden.
Damit zwingen Sie nicht nur die Angestellten der Bürgerämter, in einen extrem persönlichen Lebensbereich der Bürger einzudringen, Sie schaffen auch deutlich mehr Aufwand und Bürokratie. Ich kann mir im Übrigen gar nicht vorstellen, dass ich in dieser höchst persönlichen Frage mit den Verwaltungsangestellten in Bürgerämtern ins Gespräch kommen will. Das scheint mir äußert lebensfremd zu sein.
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Solch ein Gespräch führt man mit seinem Ehegatten, mit Familie, mit nahen Freunden und natürlich auch mit dem Arzt. Aber welcher Arzt hat diese Gespräche nicht heute schon immer wieder geführt? Ich kenne keinen solchen Arzt. Diese Gespräche werden geführt; aber sie haben eben nicht zu einer Verbesserung der Situation geführt. Das ist leider die fatale Situation. Ich befürchte, dass dieser Entwurf nicht zu einer tatsächlichen Erhöhung der Spenderzahlen führen wird.
Mit der doppelten Widerspruchslösung hingegen schaffen wir ein geeignetes Instrument, die Anzahl der Organspenden in diesem Land deutlich zu erhöhen. Deshalb noch einmal die entscheidende Frage an die Unterstützer des Gegenentwurfs: Glauben Sie wirklich, dass der geringfügige Unterschied, ob man für oder gegen eine Spende entscheiden muss, genug Gewicht hat,
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um die Chance zu gefährden, hier und jetzt eine deutliche Verbesserung des Spendenverhaltens herbeizuführen? Wollen Sie die Verantwortung dafür übernehmen, dass die Lösung des Problems, auf die Tausende Patienten seit Langem warten, nun wieder auf die lange Bank geschoben wird?
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine Aschenberg-Dugnus.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Solms hat es gerade schon gesagt, und ich finde, man kann es auch wiederholen: Was uns alle hier heute im Plenum eint, ist doch der Wunsch, dass die Zahl der Organspenden in Deutschland massiv steigt. Denn hinter jedem benötigten Organ steckt ein individuelles Schicksal. Wir alle haben uns in den letzten Monaten damit beschäftigt. Jeder kennt Fälle, auch ich persönlich aus meiner eigenen Familie. Als Mitinitiatorin der Entscheidungslösung trage ich selbstverständlich seit über 20 Jahren einen Organspendeausweis bei mir, weil ich mich freiwillig, selbstbestimmt und nach eingehender Befassung mit dem Thema ganz bewusst dafür entschieden habe.
Unsere Gruppe, die Gruppe der Entscheidungslösung, hat sich genau damit befasst und sich die Frage gestellt: Was hindert Menschen daran, sich zu entscheiden? Wenn wir dann hören, dass fast die Hälfte der Deutschen sich bei dem Thema Organspende und bei dem Thema Hirntod nicht ausreichend informiert fühlt, dann müssen wir auch selbstkritisch feststellen, dass wir in der Vergangenheit die falschen Informationen geliefert haben.
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Genau das wollen wir jetzt mit unserer Gesetzesvorlage ändern. Den Hausärzten kommt dabei eine ganz wichtige Rolle bei der Aufklärung zu. Herr Solms, nicht die Mitarbeiter der Bürgerämter sollen informieren – das steht in unserer Vorlage überhaupt nicht –, sondern wir fragen: Wer hat das Vertrauen in Deutschland? Das sind unsere Hausärzte. Diese werden für diese Information auch vergütet.
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In einer Situation, wo viele Bürger Unsicherheit verspüren, wo sie Ängste haben – das hat, Frau Schmidtke, nichts mit Bequemlichkeit zu tun; sie haben Angst; sie wissen nicht, wie sie sich entscheiden sollen –, kann man doch Schweigen nicht als Zustimmung werten, meine Damen und Herren.
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Das missachtet – ich rede gar nicht einmal von Paragrafen und Recht – unseren gesellschaftlichen Konsens, den wir alle haben, nämlich dass Schweigen niemals als Zustimmung gewertet werden kann.
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Wir setzen lieber auf die freiwillige und informierte Entscheidung; denn diese ist wesentlich nachhaltiger. Und – das wurde schon gesagt – wir ermöglichen den Bürgerinnen und Bürgern ein niederschwelliges Angebot, ihre dann getroffene Entscheidung auch in ein Onlineregister eintragen zu können, entweder auf den Ämtern oder online zu Hause. Das wird dazu führen, dass das in einer großen Anzahl passieren wird. Die Bürgerinnen und Bürger werden auch wesentlich mehr und regelmäßiger auf dieses Thema angesprochen.
Lassen Sie mich bitte noch auf einen Punkt zu sprechen kommen. Es wurde in letzter Zeit gerade in den Medien und auch hier wieder ein Zusammenhang zwischen den Ländern, die die Widerspruchslösung haben, und einer hohen Organspenderzahl bzw. Organtransplantationszahl hergestellt. Wir alle hier wissen doch, dass das überhaupt nicht stimmt.
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Die Kollegin Baerbock hat das schon gesagt: In vielen Ländern geht es nach dem Herztod. Natürlich hat man dann viel mehr Organspender. Außerdem: Spanien wendet die Widerspruchslösung doch überhaupt nicht an. Das haben wir doch gehört, und das wissen wir alle doch.
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Um noch etwas anzuführen: Bulgarien zum Beispiel hat die Widerspruchslösung und dennoch viel schlechtere Zahlen als wir. Diesen vermeintlichen Zusammenhang hier als Grund anzuführen, ist doch nun wirklich daneben.
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Wichtig sind die Organisationsstrukturen; das wurde schon gesagt. Auch die Zahl wurde schon genannt. Leider wurden in der Vergangenheit nur unter 10 Prozent der Hirntoten gemeldet. Da müssen wir ansetzen. Wir hoffen, dass unser Gesetz nach der Verabschiedung dort wirkt. Wenn es nicht wirkt, müssen wir eben da nachbessern.
Nun komme ich noch zu einem Argument, das mir sehr wichtig ist. Herr Spahn, Sie haben immer wieder betont, Ihre Widerspruchslösung zur Spende sei keine Pflicht, aber eine Verpflichtung, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Ja, das ist richtig. Aber was ist denn in der Zeit, in der man noch überlegt? Man braucht doch Zeit dafür. Ich selber konnte meine Entscheidung auch nicht innerhalb eines Tages treffen.
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Dazu braucht man Zeit. In dieser Zeit, wo man sich mit dem Thema beschäftigt und sich noch nicht endgültig entschieden hat, ist man nach Ihrer Widerspruchslösung automatisch Organspender, und das kann nicht sein.
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Warum ist mir das so wichtig? In dieser Woche hat ein Transplantationschirurg oft versucht, mich anzurufen. Ich habe ihn dann zurückgerufen und mit ihm gesprochen. Es war ihm sehr wichtig, mir Folgendes zu sagen – ich darf zitieren –:
Wenn die Widerspruchslösung kommt, müsste ich bei der Organentnahme einen mir unbekannten Willen umsetzen; denn ich weiß nicht, ob eine Zustimmung vorliegt. Dabei habe ich ein schlechtes Gefühl.
Meine Damen und Herren, genau das ist der Punkt.
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Wir finden, es gebietet der Respekt vor der individuellen Entscheidung eines jeden Einzelnen, dass gerade bei dem wichtigen Thema Organspende eine ausdrückliche Zustimmung Voraussetzung ist. Sonst nehmen wir den Menschen das Selbstbestimmungsrecht über ihren eigenen Körper und verstoßen gegen die Menschenwürde. Aber die Menschenwürde ist unantastbar.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Georg Nüßlein.
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Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! In meinem engsten Umfeld prüft gerade die zweite Ehefrau, ob sie ihrem Mann eine Niere spenden kann. Eine andere hat die Prozedur der Lebendspende bereits hinter sich. Sie werden jetzt wahrscheinlich denken: Ein grandioser Liebesbeweis! Ich sage Ihnen: Ja, ein Liebesbeweis, aber ein unnötiger. Denn Fakt ist: Wir haben in diesem Land zu wenige Spenderorgane. Uns alle eint der Wille, daran etwas zu ändern. Die einen sagen: Wir machen ein bisschen mehr an Information. Die anderen sagen: Wir wollen einen Paradigmenwechsel, wollen einen großen Schritt gehen, etwas komplett ändern.
Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren: Natürlich stimmt das, was hier vorgetragen wird. Die Misere in Deutschland hat mehrere Ursachen. Die organisatorischen Themen sind ein Teil davon. Diese haben wir in dieser Bundesregierung in der Tat adressiert und verändert. Ich bin guter Dinge, dass auch das etwas ändern wird. Aber ich weiß auch, dass es zu wenig sein wird; denn bei vielen, die in diesem Land leider den Hirntod erleiden, ist nicht zu ermitteln, ob sie tatsächlich als Spender infrage kommen. Im letzten Jahr waren es 24 Prozent, bei denen man in die Bredouille geraten ist, weil man einerseits nicht ermitteln konnte, was der Betroffene selber wollte, und weil die Angehörigen widersprochen haben.
Worum geht es uns also? Es geht darum, den eigenen Willen ordentlich zu dokumentieren, aber auch eine Entscheidung herbeizuführen. Angesichts dessen, was wir hier diskutieren und worum es auch den Betroffenen geht, nämlich um ihr eigenes Leben, wird man doch verlangen können, dass man sich in diesem Land entscheidet.
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Wenn ich Sie nun frage, meine Damen und Herren, wenn Sie selber betroffen sind oder eines Ihrer Kinder betroffen ist, wenn Sie nur noch durch eine Organspende überleben können: Was wollen Sie dann? Der Normalfall wird sein: Dann möchte ich ein Spenderorgan. – Wenn es der Normalfall ist, dass man dann ein Spenderorgan will, dann muss es doch auch der Normalfall sein, dass man spendebereit ist.
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Das ist ein Zusammenhang, den man bei keiner ethischen Betrachtung aufheben kann.
Dann macht es auch Sinn, von der Spendenbereitschaft aller als Normalfall auszugehen und nur den Widerspruch zu dokumentieren. Da hat der Kollege Solms vollkommen recht. Das ist ein Recht auf Widerspruch. Die Freiwilligkeit bleibt genauso erhalten. Ich kann überhaupt nicht erkennen, wie man den Menschen an dieser Stelle die Freiwilligkeit zur Spende abnimmt, im Gegenteil. Wir sagen nur: Du musst dich entscheiden. – Das halte ich für durchaus angemessen.
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Das entspricht übrigens auch – genauso wie das, was ich als Normalfall beschrieben habe – der Realität in Deutschland. Wir haben schon gehört: 83 bzw. 84 Prozent der Menschen sind grundsätzlich spendebereit. Es ist uns nur noch nicht gelungen, ein ordentliches Dokumentationssystem zu finden.
Wie geht das nun mit der Widerspruchslösung, über die wir diskutieren? Am einfachsten und am niedrigschwelligsten dadurch, dass Sie einem Familienmitglied sagen: Ich will das nicht. – Sie müssen sich noch nicht einmal registrieren. Das ist die doppelte Widerspruchslösung. Ich möchte ganz besonders herausstellen: Sie müssen nicht zum Amt. Sie können auch, Frau Kollegin Aschenberg-Dugnus, einem Verwandten sagen: Ich bin noch in der Überlegungsphase. Ich habe mich noch nicht entschieden. – Auch das geht. Sie können auch im Register anmelden, dass Sie es für sich selber nicht entscheiden können und dass im Ernstfall beispielsweise der Sohn entscheidet.
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– Natürlich können Sie das festlegen. Doch! Lesen Sie die Änderung dazu! Ich beschreibe gerade unseren Vorschlag. Da können Sie doch nicht sagen: Das geht gar nicht! – Das ist unser Vorschlag. Wenn Sie ihm zustimmen, werden Sie sehen, dass das auch geht.
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Ansonsten können Sie dort ein Ja vermerken. Sie können auch ein eingeschränktes Ja vermerken, bezogen auf bestimmte Organe, genauso wie im Organspendeausweis. Sie können natürlich auch ganz klar Nein sagen.
Ich sage den Juristen, die das alles ganz furchtbar finden: Ich zitiere hier nicht BGB und HGB. Das wäre unangemessen. Da gebe ich Ihnen vollkommen recht. Aber es gibt schon eine Parallele. Wenn Sie heute keine Patientenverfügung machen, meine Damen und Herren, dann müssen Sie mit der Folge klarkommen, gegebenenfalls lebenserhaltende Maßnahmen zu erdulden. Hier führt das Schweigen zu einer sehr weitreichenden Konsequenz.
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Das ist in der Tat ein Paradigmenwechsel. Ich sage den Statistikern unter Ihnen: Und wäre es nur ein Menschenleben, das wir mit unserer Entscheidung am heutigen Tage retten könnten, hätte sich die ganze Angelegenheit rentiert.
Ich bitte herzlich um Zustimmung.
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Jetzt hat das Wort die Kollegin Kathrin Vogler.
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Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ja, Herr Nüßlein, wenn ich die Sicherheit hätte, dass wir durch die Widerspruchsregelung auch nur ein einziges Menschenleben real retten würden, dann würden wir vielleicht eine andere Diskussion führen oder diese Diskussion auch nicht führen.
Ich beschäftige mich jetzt seit 2011 mit diesem Thema, und es ist mir persönlich auch sehr nahe; denn es ist ja kein abstraktes, theoretisches Problem, über das wir hier reden, sondern, weil es eben um Menschenleben und Gesundheit geht, ein sehr emotionales. Deshalb waren wir uns auch bisher hier in diesem Hause einig, dass wir Veränderungen sehr konsensorientiert und breit anlegen wollten. Ehrlich gesagt, Herr Spahn, es hat mich schon gewundert, dass Sie und wie Sie mit diesem Vorstoß von diesem Konzept, von diesem Weg abgewichen sind.
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Mich wundert außerdem, dass oft ein Widerspruch zwischen den Menschen konstruiert wird, die Organe spenden, und denjenigen, die auf ein Spenderorgan angewiesen sind; denn wir reden über dieselben Menschen.
Erst vorgestern habe ich mit einer guten Freundin telefoniert, die seit etwa einem Jahr nach einem Nierenversagen auf die Dialyse angewiesen ist. Für sie war das letzte Jahr wirklich das schlimmste in ihrem bisherigen Leben. Sie will unbedingt wieder arbeiten und auch politisch aktiv sein; aber all das ist im Augenblick nach mehreren gesundheitlichen Rückschlägen in weite Ferne gerückt. Es ist ganz klar: Sie braucht in absehbarer Zeit eine Organtransplantation, um überhaupt weiterzuleben.
Diese Freundin hat mein Engagement für die Verbesserung der Entscheidungsbereitschaft bei der Organspende von Anfang an kritisch verfolgt und ist inzwischen inhaltlich ganz auf meiner Seite. Sie hat mich gebeten, dass ich ihr als Betroffener hier eine Stimme gebe, damit Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, dies bei Ihrer Entscheidung berücksichtigen können.
Sie sagte zu mir: Ich bin selbst seit vielen Jahrzehnten Organspenderin, ich habe einen Ausweis. Das ist für mich selbstverständlich. Aber es ist für mich auch wichtig, dass ich das freiwillig entscheide. Ich will nicht dazu genötigt werden, irgendwohin zu gehen, um dort zu sagen, was ich nicht will. Für mich ist die Organentnahme etwas Respektvolles, Angesehenes, und ich möchte, dass das so bleibt.
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Mir behagt es nicht, sagte sie, dass unsere Körper als Warenlager für Organe betrachtet werden. Ich habe das Gefühl, sie werden so zu einer Ware, die genutzt und verwertet werden kann, und das bedeutet für mich, dass wir den Respekt verlieren.
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Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, sagt eine Frau, für die Organspende nicht nur eine Selbstverständlichkeit ist, sondern auch eine riesige Hoffnung. Sie hat einfach ein ungutes Gefühl bei der Vorstellung, dass Menschen keine freie Entscheidung über ihren Körper mehr treffen können, sondern sich bei einer Behörde als Nichtspender registrieren lassen müssen. Diese Skepsis teile ich vollkommen.
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Ich finde, sie hat auch ein feines Gespür für das, was viele Menschen empfinden, und dafür, warum die Widerspruchsregelung absolut keine Garantie dafür bietet, dass es am Ende mehr Spenderorgane gibt. Auch wenn Sie das sicherlich nicht wollen, sät sie doch Zweifel und verstärkt bereits vorhandene Ängste; denn wenn wir von den Menschen erwarten, dass sie der Organspende vertrauen, dann sollten wir doch auch ihnen das Vertrauen entgegenbringen, dass sie als soziale Wesen zur Solidarität und zur Uneigennützigkeit fähig sind.
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Aber verlangen oder gar anordnen dürfen wir das doch nicht.
Sie sagen uns nun, dass jeder auch ganz frei widersprechen könne. Das geht meiner Ansicht nach aber an der Lebensrealität vieler Menschen in diesem Land vorbei. Ich kenne eine Reihe von Leuten, die dazu nicht in der Lage sind oder die von Informationen nicht erreicht werden. Dabei denke ich etwa an wohnungslose Menschen. Wie sollen sie über ihre Pflichten und Rechte aus diesem Gesetz informiert werden? Oder ich denke an Menschen, die unsere Sprache nicht sprechen. Was ist mit den etwa 7 Millionen funktionalen Analphabeten oder gar mit den Menschen, die aus Angst vor Rechnungen, Mahnungen, Gerichtsvollziehern ihre Post überhaupt nicht mehr öffnen, mit Menschen, denen eine Depression vielleicht nicht ihre Fähigkeit zur Entscheidung geraubt hat, aber doch die Fähigkeit, die Entscheidung umzusetzen?
Ehrlich gesagt, in meiner Lebenswelt haben 16-Jährige
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– und auch 18-Jährige –, lieber Jens Spahn, ganz andere Dinge im Kopf, als sich mit ihrer eigenen Sterblichkeit auseinanderzusetzen. Sie haben auch das verdammte Recht darauf, das in dieser Phase nicht zu tun.
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Menschen, die ohnehin ständig Angst vor Diskriminierung, Ausgrenzung und Stigmatisierung haben, werden auch nicht zum Amt gehen und sagen: Hallo, ich möchte kein Organspender sein. Aber ich kann nicht lesen und schreiben. Können Sie mir mal bitte bei dem Formular helfen? – Das ist völlig lebensfremd. Deswegen meine ich, wir müssen Gelegenheiten zur positiven Entscheidung, zur positiven Information, zum Gespräch bieten, und das tun wir mit unserem Gesetz zur Förderung der Entscheidungsbereitschaft. Deswegen bitte ich Sie, dem zahlreich zuzustimmen.
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Dr. Robby Schlund ist der nächste Redner.
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Herr Präsident! Werte Kollegen! Liebe Gäste auf den Rängen! Die Freiheit der bewussten Entscheidung des Einzelnen zur Organspende ist ein hohes Gut in Deutschland, das es immer und immer wieder zu verteidigen gilt.
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Aber nicht nur das: Es erfordert vor allem eines: eine intensive Beschäftigung mit diesem Thema. Es muss das Für und Wider im ganz persönlichen, im familiären, im gesellschaftlichen, ja, auch im religiösen Kontext gesehen und immer wieder abgewogen werden. Diese Entscheidung kann und darf von keinem Dritten abgenommen werden, ob nun als Lebendspende oder als Organentnahme nach dem Hirntod.
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Deshalb, meine Damen und Herren, ist die Widerspruchslösung absolut inakzeptabel und ein Eingriff in die freiheitlichen Grundrechte unserer Bürger dieses Landes.
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Dem Menschen hier wird die selbstverantwortliche Bestimmung über sein Leben und seinen Körper nach dem Tod weggenommen und durch die Fremdverantwortung des Staates ersetzt.
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Otto von Bismarck sagte dazu einmal – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten –: „Die Scheu vor der Verantwortung ist eine Krankheit unserer Zeit.“
Deshalb, lieber Herr Spahn und lieber Herr Lauterbach – wir hatten gestern schon bei Phoenix darüber diskutiert –: Haben Sie doch Vertrauen in die gelebte Verantwortung unserer Menschen in Deutschland, dass sie diese Entscheidung selbst fällen können.
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Dazu müssen Sie aber vor allem eines machen: Sie müssen Regelungen schaffen, die Vertrauen in die Institution der Organspende wiederherstellen; denn die Menschen haben in der Vergangenheit das Vertrauen in die Organspende verloren. Ich möchte jetzt nicht all die Vorfälle wieder aufzählen. Wir haben sie auch schon gehört.
Eine Widerspruchslösung löst das Problem nicht, sondern sie verschärft es sogar. Das ist die Tatsache.
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Sie werden sehen, dass viele Menschen gerade aus Trotz, weil ihre Freiheiten beschnitten werden, einen Widerspruch einlegen, obwohl sie im Grunde nicht gegen eine Organspende sind. Und glauben Sie mir, ganz ehrlich: Wenn man einmal einen Widerspruch abgegeben hat, dann wird das Fass nie wieder aufgemacht. Fire and forget, meine Damen und Herren.
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Eine erweiterte, problemorientierte Entscheidungs- und Zustimmungslösung, in unserem Antrag auch „Vertrauenslösung“ genannt, meine Damen und Herren, gibt den Menschen die Sicherheit, sich klar selbstverantwortlich für eine Organspende zu entscheiden. Dazu muss wieder Vertrauen aufgebaut werden, erstens durch verbesserte einheitliche Qualitätsstandards in den Entnahmekrankenhäusern, zweitens durch einheitliche QM-Systeme für Transplantationsbeauftragte in der Weiterbildung und in der Verfahrensweise und drittens durch die Übertragung der Aufsichts- und Kontrollpflichten auf eine unabhängige öffentlich-rechtliche Institution.
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Last, but not least: Denken Sie bitte über die Schaffung eines Entscheidungsregisters, eines Dialyseregisters nach, und verknüpfen Sie sie mit dem Transplantationsregister. Motivieren Sie bitte die freiwilligen Organspender mit Aufklärungskampagnen und Extrabonuspunkten auf der Priorisierungsliste.
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Deshalb, liebe Kollegen, empfehle ich Ihnen dringend: Lehnen Sie beide Gesetzentwürfe ab – damit bleibt zunächst der Status quo der freien Entscheidung für die Bürger in Deutschland erhalten –, und stimmen Sie für unseren Antrag der Vertrauenslösung, der die unterdurchschnittliche Spendenbereitschaft in Deutschland an der Wurzel packt und das Problem direkt löst.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
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Nächster Redner ist der Kollege Thomas Oppermann.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Uns allen ist bewusst, dass wir heute eine Entscheidung von großer Tragweite zu treffen haben. Viele Menschen verfolgen diese Debatte mit großer Aufmerksamkeit: nicht nur die 10 000 Menschen, die auf ein Spenderorgan warten – schwerkranke Menschen, die zum Teil bereits in Lebensgefahr, in großer Not sind –, sondern auch ihre Angehörigen und Freunde, die jeden Tag das Leid unmittelbar erleben. Deshalb verbinden viele mit der heutigen Abstimmung eine große Hoffnung. Aber diese Hoffnung werden wir enttäuschen, wenn wir uns mit der Zustimmungsregelung für ein nur leicht verändertes Weiter-so entscheiden.
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Denn in fast allen Ländern, in denen es die Widerspruchsregelung gibt, darunter 22 EU-Länder, ist die Bereitschaft zur Organspende und damit die Chance, Leben zu retten, größer als in Deutschland. Es wird immer Spanien herangezogen. Aber schauen wir nur auf unser Nachbarland Österreich: 2018 gab es 24,5 Spenden pro 1 Million Einwohner; in Deutschland waren es dagegen nur 11,5. Im Eurotransplant-Verbund ist Deutschland das einzige Land ohne Widerspruchsregelung. Ich kann ja durchaus verstehen, dass es Menschen gibt, die bei der Widerspruchsregelung ein Unbehagen empfinden, weil sie sich dadurch mit ihrem eigenen Tod oder mit den Konsequenzen ihres eigenen Todes auseinandersetzen müssen. Dadurch wird aber nicht das Selbstbestimmungsrecht der Menschen verletzt oder beeinträchtigt, ganz im Gegenteil.
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Die Widerspruchsregelung will die Menschen ja gerade dazu bringen, das Selbstbestimmungsrecht auch tatsächlich auszuüben, zu entscheiden, ob sie Spender oder Nichtspender sein wollen; und das ist auch legitim. Wenn wir als Gesetzgeber denjenigen, die definitiv keine Spender sein wollen, einen einfachen, formlosen und unbürokratischen Widerspruch zumuten, der weder begründet noch gerechtfertigt werden muss, dann ist das kein Verstoß gegen die Grundrechte, sondern nach Auffassung unseres nationalen Ethikrates eine in jeder Hinsicht zulässige und verhältnismäßige Regelung.
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Denn der Staat schützt nicht nur diejenigen, die in Ruhe gelassen werden wollen. Der Staat hat die Pflicht, menschliches Leben zu schützen.
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Dazu muss er einen Rahmen schaffen, in dem die Möglichkeiten der freiwilligen Organspende auch tatsächlich ausgeschöpft werden können. Das tut er im Moment nicht. Wenn 84 Prozent der Deutschen eine positive Haltung zur Organspende haben, aber trotzdem jedes Jahr tausend Menschen, die auf der Warteliste für Spenderorgane stehen, sterben müssen, dann kann etwas mit unseren Regeln für die Organspende nicht richtig sein.
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Aus meiner Sicht ist der entscheidende Fehler im geltenden Recht der Ausnahmecharakter der Organspende. Genau das wird sich mit der Widerspruchsregelung ändern; denn sie macht die Organspende zum gesetzlichen Regelfall, zur gesellschaftlichen Normalität. Sie ist dann nicht mehr die Ausnahme, sondern ein ganz natürlicher Akt der Menschlichkeit. Ich bin davon überzeugt, dass der gesetzliche Paradigmenwechsel auch einen Mentalitätswechsel zur Folge haben wird.
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Dadurch entsteht eine Mentalität, bei der Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft und Solidarität im Vordergrund stehen.
Wer das Recht, in Ruhe gelassen zu werden, absolut setzt, gleichsam als Supergrundrecht, das sich gegen alle anderen Belange durchsetzt, der verhindert am Ende, dass sich bei uns eine Kultur der Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe entfalten kann.
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Deshalb gibt es nichts Absolutes, sondern es muss abgewogen werden: das Recht auf Schweigen, das Recht, in Ruhe gelassen zu werden, auf der einen Seite und die Bitte um lebensrettende Hilfe, das Recht auf Leben auf der anderen Seite. Für mich persönlich hat Letzteres einen höheren Stellenwert. Diese Bewertung steht übrigens auch im Einklang mit dem Menschenbild unseres Grundgesetzes. Darin steht nämlich nicht das auf sich selbst bezogene, egoistische Individuum im Mittelpunkt,
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sondern der gemeinschaftsbezogene, gemeinschaftsgebundene Mensch. So hat es das Bundesverfassungsgericht formuliert.
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Sie mögen das nicht gut finden; aber so hat es das Bundesverfassungsgericht formuliert. Das ist auch mein Menschenbild. Deshalb stimme ich für die erweiterte Widerspruchsregelung und bitte Sie, das auch zu tun.
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Nächster Redner ist der Kollege Thomas Rachel.
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Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Immer noch sterben in Deutschland drei Menschen pro Tag, weil sie vergeblich auf ein Spenderorgan warten. Deshalb sind wir uns im Ziel alle einig: Wir brauchen mehr Organspender in Deutschland. Was aber ist ethisch und politisch der richtige Weg, um die Zahl der Organspenden tatsächlich zu erhöhen? Die Antwort kann für mich nur in der Stärkung der freiwilligen Entscheidungsbereitschaft eines jeden Einzelnen liegen.
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Deshalb müssen wir die Bürgerinnen und Bürger noch intensiver aufklären, befragen und dazu ermutigen. Leider gibt es hierfür keine ethisch überzeugende Abkürzung.
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Es gibt keine Rechtfertigung dafür, das Recht auf körperliche Unversehrtheit unter Vorbehalt zu stellen.
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Gemeinsam haben die evangelische und die katholische Kirche gegen die vorgeschlagene Widerspruchsregelung erheblichste rechtliche, ethische und auch seelsorgerische Bedenken geäußert. Diese Bedenken teile ich. Denn im europäischen Vergleich zeigt sich, dass Staaten mit Widerspruchslösung nicht automatisch mehr Organspender haben als Länder mit Zustimmungslösung.
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Die eigentlichen Zugewinne bei Spenderzahlen in Spanien und Belgien wurden durch Struktur- und Organisationsverbesserungen erreicht.
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Dort wird jedoch auch nach dem Herztod explantiert. Die deutsche Rechtslage ist hier – wie ich finde: richtigerweise – anders.
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Zu Recht kritisieren unsere christlichen Kirchen, dass die Widerspruchsregelung die ganz wichtige Rolle der Angehörigen vernachlässigt, gerade im emotionalen Ausnahmezustand des Sterbeprozesses.
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Es ist ein eklatanter Wertungswiderspruch, wenn das Recht auf Selbstbestimmung über meine eigenen Daten künftig höher bewertet wird als mein Recht auf die körperliche Unversehrtheit.
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Es ist zutiefst problematisch, wenn die Verfügungshoheit über die eigene körperliche Unversehrtheit erst und nur durch einen Widerspruchsakt zurückgewonnen werden kann. Das verändert das Verhältnis zwischen Staat und Bürger grundlegend, meine Damen und Herren.
Die Organspende verdient aus christlicher Perspektive höchste Anerkennung als Akt der Nächstenliebe und Solidarität über den Tod hinaus. Nächstenliebe kann aber – das ist eigentlich jedem klar – nicht staatlich eingefordert werden, sondern sie gedeiht nur da, wo es auch Freiheit gibt.
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Wie der Begriff „Organspende“ schon sagt, sollte diese Entscheidung freiwillig getroffen werden. Eine Spende, die nicht dem freien Willen entspringt, ist keine Spende.
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Wissen Sie, die Entscheidung für oder auch gegen eine Organspende ist wahrlich eine sehr persönliche Entscheidung über das eigene Sterben. Da der Mensch seine Würde im Sterben und im Tod behält, darf die Freiheit bei dieser sensiblen Entscheidung durch den Staat eben nicht beschnitten werden.
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Die Würde des Menschen ist dadurch gekennzeichnet, dass sie jeder Verfügung durch andere Menschen oder staatliche Kräfte entzogen ist. Unsere kulturelle Prägung wie unsere Rechtsordnung sagen: Die Durchsetzung auch von nachvollziehbaren Interessen endet an der Grenze, die durch die Integrität und die Freiheit der anderen Person bestimmt ist. -
Insofern sind die Organentnahme und die Verlängerung des Sterbeprozesses nur dann gerechtfertigt, wenn sie dem ausdrücklichen Willen des Sterbenden entsprechen. Für seine Zustimmung dürfen und wollen wir werben, können sie aber nicht stillschweigend voraussetzen. Schweigen darf nicht als Zustimmung gelten.
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Ausgehend vom christlichen Bild des selbstbestimmten Menschen soll jeder und jede in Freiheit und in Verantwortung vor Gott und seinen Mitmenschen über sein oder ihr Leben, über seinen oder ihren Körper Entscheidungen treffen können. Deshalb setze ich mich für den Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft bei der Organspende ein und bitte hierfür um Ihre Zustimmung.
Herzlichen Dank.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Gitta Connemann.
Haben Sie schon einmal auf einen Anruf gewartet, der Ihr Leben verändern wird? Und Sie warten und warten und warten. Dann wissen Sie, dass Minuten zu einer halben Ewigkeit werden können.
Mein Mitarbeiter Wendt hat drei Monate gewartet, 130 000 Minuten, auf einen Anruf, auf den Anruf: „Wir haben ein Organ für Sie“. Wendt, 33 Jahre alt, gerade Vater geworden. Nur einen Monat nach der Geburt seines Kindes wurde eine lebensgefährliche Erkrankung festgestellt. Eine Transplantation war die einzige Hoffnung. Aber der Anruf kam nicht. Wendt starb am 17. Juli.
Meine Damen und Herren, wir entscheiden heute über Zeit – nicht nur über Wartezeit, wir entscheiden über Lebenszeit. In diesem Moment warten und hoffen 10 000 Menschen auf ein Organ. Uns alle hier in diesem Haus verbindet ein Ziel: Wir wollen ihnen helfen, wir wollen Leben retten.
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Deshalb kämpfe ich für die Widerspruchslösung.
Ohne Frage: Diese ist kein Allheilmittel. Transplantationsbeauftragte brauchen mehr Zeit, Entnahmekrankenhäuser mehr Geld; aber all das haben wir inzwischen auf den Weg gebracht. Jetzt ist noch eine Frage offen: Darf der Staat von seinen Bürgern eine Entscheidung für bzw. gegen eine Organspende verlangen? Nur darum geht es – nicht um einen Zwang zur Organspende. Dieser stand nie zur Diskussion, und diesen darf es niemals geben.
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Aber ist es nicht zumutbar, sich darüber Gedanken zu machen und sich zu entscheiden? Meine Antwort lautet: Ja, es ist zumutbar.
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Es gibt andere Bereiche, in denen wir als Gesetzgeber schon heute dem Bürger Entscheidungen abverlangen. Und hier geht es um Leben und Tod, und nichts ist wichtiger.
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Das Recht auf Selbstbestimmung bleibt unangetastet, auch die individuelle Freiheit. Wer eine Entnahme ablehnt, wer Zweifel hat, muss nicht spenden. Ein einfaches Nein reicht. Die Entscheidung kann jederzeit widerrufen werden, ohne Angabe von Gründen. In Zweifelsfällen werden die Angehörigen befragt, ob ihnen ein Widerspruch bekannt ist. Das ist die doppelte Widerspruchslösung.
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Diese Praxis wird in vielen anderen Ländern Europas schon gelebt, Länder, die uns über Eurotransplant lebensrettende Organe zur Verfügung stellen – bislang.
Ohne Frage: Am besten wäre es, wenn jeder von uns einen ausgefüllten Organspendeausweis in der Tasche hätte. Aber die Realität sieht anders aus. In Deutschland werden Jahr für Jahr Abermillionen Ausweise ausgegeben. Dort oben auf der Tribüne sitzt die Vorsitzende des Vereins Organtransplantierte Ostfriesland, Barbara Backer, die auf jedem Markt, auf jedem Fest steht und versucht, Menschen zur Organspende zu motivieren. Jeder Krankenversicherte erhält schon heute mit Vollendung des 16. Lebensjahres ein Exemplar. Sie liegen überall aus; aber die meisten werden nicht ausgefüllt. Sie werden verdrängt, sie werden vertagt, vergessen. Daran wird der Hinweis auf dem Bürgeramt bei der Abholung eines Personalausweises nichts ändern.
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Appelle reichen nicht. Hausärzten fehlen die Ressourcen. Nur die Widerspruchslösung wird dazu führen, dass es zu einem Mentalitätswechsel kommt.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben über dieses Thema auch im Sommer debattiert. Ich sprach damals über das Warten in Angst. Nach der Debatte meldete sich Wendt zum letzten Mal bei mir, wohl wissend, dass jede Regelung für ihn zu spät sein würde. „Liebe Frau Connemann, ich habe Ihre Rede gehört, Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen“, schrieb er mir aus seiner, wie er es nannte, Matratzengruft.
Deshalb bitte ich Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, inständig, heute für die Widerspruchslösung zu stimmen: für Wendt, für alle, die noch warten, für Lebenszeit.
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Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Dr. Kirsten Kappert-Gonther.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir tragen heute eine ganz besondere Verantwortung. Wir wollen das Organspendewesen verbessern, damit die Menschen, die händeringend auf ein Spenderorgan warten, auch eines bekommen. Wir entscheiden heute aber auch über das Verhältnis Staat/Bürgerin, Bürger/Staat.
Ich stehe für unseren Gesetzentwurf für eine freie Entscheidung. Es wäre ein Fehler, die Widerspruchsregelung einzuführen.
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Die Widerspruchsregelung ist keine Lösung. Die Widerspruchsregelung weckt Erwartungen, die sie nicht erfüllen kann.
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In Spanien, dem Organspendeweltmeister, gilt die Widerspruchsregelung formal seit 1979 – ohne Effekt. Erst als dort die Abläufe verbessert wurden, stieg die Organspenderate sprunghaft an.
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In Deutschland wurden 2018 von den 27 000 möglichen Organspenderinnen und Organspendern, also den Menschen, die einen Hirntod erlitten haben, nur 8,2 Prozent an die DSO gemeldet. Das ist viel zu wenig. Das ist der Punkt, wo wir ansetzen müssen.
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Das A und O für mehr Organspenden sind die Strukturen und Vertrauen. Für die Strukturverbesserung haben wir mit dem Gesetz vom letzten Jahr die Weichen gestellt. Wie schaffen wir nun Vertrauen? Durch Transparenz und Freiwilligkeit. Unser Gesetz für eine freie Entscheidung steht genau dafür: für Aufklärung, Beratung, Selbstbestimmung.
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Die Widerspruchsregelung hingegen setzt auf die Uninformiertheit und Trägheit der Bevölkerung. Das untergräbt Vertrauen.
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Schweigen darf nicht Zustimmung bedeuten. Wenn ich als Ärztin jemandem eine Spritze geben will, dann muss ich nach dem Einverständnis fragen – zu Recht. Wenn ich als Politikerin meinen Newsletter verschicken will, dann geht das nur mit Zustimmung – zu Recht. Und bei so etwas zutiefst Persönlichem wie der Frage, ob ich nach meinem Tod Organspenderin sein will, soll Schweigen auf einmal Zustimmung bedeuten? Das kann doch nicht sein.
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Jede Person muss das Recht haben, sich nicht zu äußern, ohne dass das körperliche oder rechtliche Folgen hat. Sie behaupten zwar, Herr Spahn, Frau Sitte, dass sich jede und jeder frei entscheiden könne, doch die erheblichen Zweifel, die auch in der Anhörung im Gesundheitsausschuss zum Tragen kamen, konnten Sie nicht ausräumen. Es gibt Menschen, die sich zu bestimmten Zeiten ihres Lebens aufgrund ihrer Lebensbedingungen eben nicht mit dem Tod konfrontieren können, die es nicht schaffen, rechtzeitig zu widersprechen. Was ist mit Obdachlosen, mit Menschen, die kein Deutsch sprechen, mit Menschen in einer psychischen Krise? Wir können doch nicht wollen, dass – bei Einführung der Widerspruchsregelung – gerade den Schwächsten der Gesellschaft nach ihrem Tod möglicherweise gegen ihren Willen Organe entnommen werden.
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Die Schwächsten in der Gesellschaft müssen wir schützen.
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Es ist unmöglich, alle Menschen, die sich aus verschiedenen Gründen nicht erklären können, zu identifizieren. In der Anhörung haben Sie wörtlich gesagt, Frau Sitte – ich zitiere aus dem Protokoll –, Sie würden „bei der Überarbeitung des Gesetzentwurfs genau in diese Richtung noch mal klären und präzisieren“.
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Doch es gibt keine Klärung, keine Präzisierung, keine Änderung Ihres Gesetzentwurfs, die verhindert, dass Menschen im Zweifel gegen ihren Willen Organe entnommen werden.
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Diese Logik der Nützlichmachung, diese Logik des Utilitarismus finde ich gefährlich.
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Mich hat sehr beeindruckt, wie ein Betroffener in der Anhörung geschildert hat, was für ein Geschenk es für ihn war, eine Niere zu bekommen, die ihm das Weiterleben ermöglicht. Es ist für ihn wichtig, zu wissen, dass diese Niere bewusst gespendet wurde.
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Die aktive Zustimmung ist die richtige Grundlage für die Organspende.
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Ich habe Menschen therapeutisch begleitet, die auf Spenderorgane warteten, die endlich Spenderorgane bekamen und weiterleben konnten, Menschen, die eingewilligt haben, die Organe ihrer verunfallten Angehörigen zu spenden – viele Schicksale, viele ganz unterschiedliche Menschen, bei denen es um Sterben, Tod und Leben ging.
Ich will, dass wir das Organspendewesen verbessern. Das wird durch die Verbesserung der Strukturen und mit Vertrauen gelingen. Die Widerspruchsregelung wird dem nicht gerecht. Sie gefährdet das Vertrauen. Ich bitte Sie, stimmen Sie für unser Gesetz, für die freie Entscheidung.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Dieter Janecek.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Gäste! Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod ist für viele von uns schmerzlich. Für mich ist sie zweifellos schmerzlich. Für viele Menschen ist sie eine Zumutung. Wir verdrängen den Tod lieber, als ihn uns vor Augen zu führen. Das ist menschlich; aber das ist wohl auch der wesentliche Grund, warum zwar über 80 Prozent der Menschen im Land einer Organspende positiv gegenüberstehen und sogar 90 bis 98 Prozent sagen, sie würden im Zweifelsfall eine Organspende annehmen. Aber nur ein gutes Drittel unserer Bevölkerung hat sich aktiv für einen Organspendeausweis entschieden, und deutlich weniger sind dann im Ernstfall als Organspender erkennbar. Weil das so ist – das kann man Ihnen, die die Entscheidungslösung befürworten, nicht ersparen –, sterben jährlich mehr als 1 000 Menschen in Deutschland, deren Leben durch eine Organspende hätte gerettet werden können,
({0})
ganz zu schweigen von Tausenden Schwerstkranken, die ohne optimale Therapie bleiben, deren Lebensqualität massiv beeinträchtigt ist.
Deshalb müssen wir uns als Gesellschaft die Frage stellen: Tun wir mit dem jetzigen System einer Entscheidungslösung – die gibt es ja schon heute – wirklich genug, oder sollten und müssen wir nicht den Schritt wagen, es jedem und jeder zuzumuten, sich mit der Organspende nach dem Tod auseinanderzusetzen?
({1})
Ich meine, ja; denn alle haben im Notfall auch einen Anspruch auf ein lebensrettendes Spenderorgan. Ist es für rund 70 Millionen Menschen im Land, die 17 Jahre oder älter sind, unzumutbar, nach dreimaliger Information, aufgefordert zu werden, eine Entscheidung für oder gegen die Organspende zu treffen? Ich meine, nein.
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Denn es kann einem in einer Solidargemeinschaft zugemutet werden, eine Entscheidung zu treffen, die das Leben und Überleben von Tausenden betreffen kann.
Wir brauchen auch deshalb Klarheit über die Entscheidung des Einzelnen, weil aktuell über 40 Prozent der Ablehnungen einer Transplantation allein auf Entscheidungen von Angehörigen beruhen. Gerade dann, wenn Angehörige den Willen des Verstorbenen nicht kennen, lehnen sie oft intuitiv ab. Wir bürden ihnen damit eine enorme Last auf. Diesen Zustand sollten wir beenden.
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Ich komme zur Frage der Evidenz. Ich muss sagen: Was das betrifft, bin ich aufgewühlt; denn ich finde, es ist eine Werteentscheidung, die man in die eine oder andere Richtung treffen kann. Ich habe hohen Respekt vor beiden Meinungen hier im Haus.
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Aber wir müssen schon zur Kenntnis nehmen, dass es in allen Staaten mit Widerspruchslösung – im Verhältnis zur Bevölkerung – mehr realisierte Organspenden gibt als bei uns.
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Der Hirntod wurde angeführt. Österreich ist unser Nachbarland, nicht Spanien. In Österreich ist die Anzahl der Organspenden doppelt so hoch wie bei uns: kulturell nahestehend, ähnliches System, doppelt so viele Organspenden. Es gibt aktuell eine Metaanalyse des „World Journal of Surgery“, die zeigt: Der globale Anstieg nach Einführung der Widerspruchslösung beträgt 21 bis 76 Prozent . Es gibt einen Zusammenhang. Einfach zu behaupten, es gebe keinen Zusammenhang, dafür braucht es schon ein gehöriges Maß Chuzpe.
({6})
Über 20 der aktuellen EU-Staaten machen von der Widerspruchslösung Gebrauch. Jüngst hat auch Großbritannien ein entsprechendes Gesetz verabschiedet. In all diesen Ländern ist die Erkenntnis gereift, dass Aufklärungskampagnen und verbesserte Strukturen in den Krankenhäusern zwar notwendig, aber nicht hinreichend sind, um die Zahl der Organspenden zu erhöhen.
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In all diesen Ländern ist die Erkenntnis gereift, dass wir den Menschen die Entscheidung zumuten müssen; denn wenn wir ihnen diese Entscheidung nicht zumuten, müssen wir auch weiterhin bereit sein, die Konsequenzen zu tragen. Ich bin das nicht.
({8})
Am 30. August 2019 habe ich im Klinikum Großhadern in München – das liegt in meinem Wahlkreis – den kleinen Daniel und seine Mutter Diana besucht. Damals wartete der Einjährige seit 281 Tagen auf ein Spenderherz. Wir sind seitdem in Kontakt. Heute sind es 420 Tage, die er mit unglaublicher Unterstützung seiner Familie, der Ärzte, der Pflegekräfte auf der Station in einem 2-Meter-Radius einer kühlschrankgroßen Herzunterstützungsmaschine lebt. Egal wie die Entscheidung heute ausgeht: Auf Daniels Schicksal wird sie keine Auswirkung mehr haben. Hoffentlich müssen er und seine Familie nicht mehr so lange auf eine Transplantation warten. Ich weiß, dass wir das alle wollen. Lassen Sie uns heute eine Entscheidung treffen, die dem ein Ende bereitet, dass Millionen Menschen Entscheidungen vermeiden, die Leben retten können.
Ich danke Ihnen.
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Nächster Redner ist der Kollege Otto Fricke.
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Geschätzter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir reden heute über etwas, über das wir in unserer Gesellschaft immer noch ungerne reden. Wir reden über den Tod, über das Sterben. Eigentlich reden wir über das Leben, das daraus erwachsen kann, über die Möglichkeit, mit einem letzten vorherrschenden Akt dafür zu sorgen, dass wir unseren Mitmenschen helfen können. Das müssen wir uns bewusst machen. Es ist übrigens auch unsere Aufgabe als Parlament, diese ethische Überlegung nach draußen zu tragen und allen, die heute zuhören und zuschauen, immer wieder zu sagen: Ihr, Mitbürger, Mitmenschen, seid es, die an dieser Stelle durch einen letzten Akt der Mitmenschlichkeit, der Nächstenliebe Verantwortung für euren Nächsten, für einen Übernächsten und eben auch für einen Unbekannten übernehmen könnt. Darum möchten wir euch bitten; dazu möchten wir euch anleiten und euch dafür die richtige Voraussetzung geben. Das ist die Aufgabe, die wir heute haben.
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Es ist uns – das bekomme ich als Anwalt immer wieder mit – unangenehm, über Testament, Patientenverfügung, aber eben auch über Organspende zu reden. Ja, das ist unangenehm, und ja, der erste Schritt, das zu tun, ist schwierig. Ich weiß von mir, dass es für mich der schwierigste Schritt war, meine Kinder zu fragen: Wie wäre das denn eigentlich bei uns? Denn eines vergessen wir doch immer wieder: Wir wissen nicht, ob wir den nächsten Abend noch erleben. Wir hoffen das, wir glauben das, und wir leben in einer Zeit, in der das häufig so ist; aber es kann jedem von uns passieren, dass es ganz schnell zu Ende ist. Wir haben die Aufgabe, das für uns Richtige zu entscheiden, Überlegungen anzustellen und Verantwortung zu übernehmen; aber wir müssen es für uns tun, in der Verantwortung vor uns selbst und, wenn wir glauben, auch vor Gott.
Meine Damen und Herren, es ist aber – das will ich deutlich sagen – die Aufgabe des Parlaments, dieses Schweigen zu durchbrechen, da Schweigen nicht dazu führt, dass man diese Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit vermeiden kann. Das ist für mich ein Problem, wobei ich allen, die die Widerspruchslösung unterstützen, zubilligen will, dass sie helfen wollen. Aber ich muss ausdrücklich sagen: Wenn ich im Ergebnis dafür sorge, dass Schweigen eine Lösung ist und es den Menschen leichter macht, zu sagen „Ich setze mich damit nicht auseinander; der Staat, die Gesellschaft regeln das schon“, dann widerspricht das meinem Menschenbild von Mitbürgern, die Verantwortung und Nächstenliebe übernehmen. Deswegen stimme ich für die Zustimmungslösung.
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Meine Damen und Herren, es ist unangenehm. Ja, man muss darüber nachdenken, man muss darüber reden, man muss darüber entscheiden. Ich will ausdrücklich sagen: Ja, unser Entwurf ist anstrengender, weil er zum Bürger sagt: Du musst dich damit auseinandersetzen. – Ja, das ist unangenehmer. Ich will aber ausdrücklich sagen: Entscheide dich doch wirklich! Es ist dein Körper; es ist das, wo du als Letztes noch einmal etwas tun kannst.
Die entscheidende Frage ist doch: Was ist, wenn ich mich trotz aller Anstrengungen noch nicht entscheiden kann? Wenn ich abgewogen habe – mein Verstand sagt Ja, mein Gefühl sagt Nein, meine Angst sagt: auf keinen Fall –, dann muss es möglich sein – und das ist für mich wichtig –, dass ich das Recht habe, zu schweigen, ohne dass es zur Folge hat, dass der Staat in meine Rechte eingreifen kann.
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Meine Damen und Herren, ich will noch auf einen Punkt unserer Rechtsordnung hinweisen. Ja, ich bin Jurist wie viele hier, und ja, manchmal sind juristische Argumente in einer ethischen Debatte schwierige Hilfsargumente. Aber ich möchte doch darauf hinweisen, dass wir vor einer fundamentalen Entscheidung über das Grundverständnis unserer Verfassung stehen. Es geht um die Fragen: Wie sehen wir Grundrechte? Sind die Grundrechte – in diesem Fall körperliche Unversehrtheit, Menschenwürde und bei genauer Betrachtung noch manch andere – Rechte, die aus uns selbst erwachsen und die wir dem Staat und der Gesellschaft geben? Oder sind es Rechte, die der Staat und die Gesellschaft geben und nehmen können? Das Verfassungsgericht sagt das deutlich:
Ohne Zweifel sind die Grundrechte in erster Linie dazu bestimmt, die Freiheitssphäre des einzelnen vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu sichern; sie sind Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat.
Eine Regelung aber, die sagt: „Der Staat greift pauschal erst einmal in deine Rechte ein; du kannst dich ja wehren“, verdreht genau das, was die Mütter und Väter der Verfassung gesehen haben. Das sollten wir heute nicht ändern.
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Zum Schluss: Mit Blick ins Plenum sage ich Ihnen und auch denen, die uns zuhören und zuschauen: Schauen Sie Ihren Nächsten an! – Das sage ich auch im Politischen: Schauen Sie Ihr Gegenüber an! – Brauchen Sie dann wirklich den Staat, der sagt: „Du bist grundsätzlich Spender für den“? Oder wäre es nicht sogar so, dass der, der politisch völlig entgegengesetzt zu dem jeweils anderen steht, sagt: „Obwohl ich dich politisch bekämpfe, bin ich als Akt meiner Nächstenliebe bereit, auch im Tode dir zu helfen“? Das muss aber aus dir selbst als Mensch kommen und nicht aus § 3 Absatz 1 des Transplantationsgesetzes.
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Paul Podolay.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir haben in dieser Legislaturperiode schon einmal zum Thema Organspende entschieden. Das Organspendegesetz trat am 1. April 2019 mit dem Ziel, die Zahl der Organspenden signifikant zu erhöhen, in Kraft. Aber es interessiert Herrn Spahn nicht, ob die Spenderzahlen dadurch erhöht werden, genauso wenig, wie ihn rückläufige Masernerkrankungen in Deutschland daran hindern, eine Impfpflicht einzuführen. Er will die Auswirkungen dieses Gesetzes nicht abwarten und möchte die Widerspruchslösung einführen. Die Initiatoren versprechen sich davon eine sehr viel höhere Zahl von Organspenden.
Dass die beiden großen Kirchen gegenüber diesem Entwurf aus einem CDU-geführten Ministerium erhebliche rechtliche, ethische und seelsorgerische Bedenken haben, interessiert Minister Spahn überhaupt nicht. So weit ist die ehemals christliche Partei schon gekommen. Bei der SPD wundert mich diese Position nicht.
Wissenschaftliche Studien bezweifeln einen Kausalzusammenhang zwischen der Widerspruchslösung und einer erhöhten Zahl von Organentnahmen. Sie belegen, dass die höheren Zahlen in anderen Ländern vor allem aufgrund einer besseren medizinischen Infrastruktur und einer anderen Kriteriologie bei der Todesfeststellung, wie zum Beispiel in Spanien, entstehen. Ich warne eindringlich vor einem solchen Vorgehen; denn der Staat würde damit tief in den Kernbereich der menschlichen Existenz und Würde, die der Mensch auch im Sterben und über den Tod hinaus behält, eingreifen.
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Die Entscheidung für eine Organspende ist deshalb eine sehr persönliche Entscheidung über das eigene Sterben. Ein Hirntoter ist höchstens ein Sterbender, aber keine Leiche. Was ihn wirklich tötet, ist die Organentnahme. Aus einem Akt von hohem moralischen Wert kann eine Spende aber nicht erzwungen werden. Es besteht keine moralische Pflicht, seine Organe posthum zu spenden.
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Eine rechtliche Pflicht dazu kann es aus diesem Grund erst recht nicht geben.
Die Autonomie über den eigenen Körper und die persönlichen Daten wird in Deutschland sehr großgeschrieben. Ohne explizites Einverständnis darf ein Arzt keine Spritze verabreichen – das haben wir heute schon gehört –, kein Werbetreibender darf einen Newsletter ohne Einwilligung des Empfängers versenden. Nein heißt nein, Ja ist ein wirkliches Ja – überall außer bei der Organspende, wenn es nach dem CDU-Mann Jens Spahn und dem SPD-Mann Karl Lauterbach geht. Dann wird ein Schweigen plötzlich ein Ja, juristisch ein Novum unseres Rechtssystems,
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welches selbst vor 16-jährigen Kindern keinen Halt macht – ein Wahnsinn. Es ist ein ethischer Abgrund, wenn sich der Staat anmaßt, über die Körper seiner Bürger verfügen zu können, und diese quasi enteignet.
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Der Sozialismus macht auch vor dem Totenbett nicht halt. Wer stirbt, soll gefälligst noch für das Kollektiv nützlich sein. Diese sozialistische Gängelung habe ich persönlich erlebt, bevor ich aus der sozialistischen Tschechoslowakei 1982 ausgesiedelt bin, damit es meinen Kindern und Enkeln erspart bleibt. Und nun wird mir dieser Sozialismusgedanke durch eine ehemals konservative CDU wieder präsentiert. Eine echte Zumutung!
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Das bekräftigt erneut meine richtige Entscheidung, die Union verlassen zu haben und der einzig bürgerlichen, konservativen und freiheitlichen Partei AfD beigetreten zu sein.
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Grundlage für ein funktionierendes Organspendesystem ist aber das Vertrauen der Bevölkerung in das Transplantationssystem. Das schafft nur eine transparente, rechtsstaatlich geprägte Organisation, wie es die AfD fordert; das schaffen keine Stiftungen oder Vereine. Das ist der richtige Weg.
Der staatlich-sozialistische Zwang führt nicht zu mehr Spenden. Ich vermute das Gegenteil und appelliere an Sie: Erteilen Sie der Widerspruchslösung eine klare Absage! Versuchen wir stattdessen gemeinsam, durch bessere Aufklärungskampagnen die Zahl der freiwilligen Spender zu erhöhen. Noch wichtiger wäre mir, durch mehr Prävention die Zahl der benötigten Spenderorgane zu senken. Lassen Sie uns in der Zukunft kein Ersatzteillager Mensch schaffen, sonst droht uns eine Kommerzialisierung des Körpers. Das ist der absolut falsche Weg in der Medizin.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Matthias Bartke.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin froh, dass wir uns für die schwierige Frage „Zustimmungs- oder Widerspruchslösung?“ so viel Zeit genommen haben. Mir kam das zugute; denn ich habe im Laufe der Debatte meine Meinung geändert. Ich war nämlich ursprünglich für die Zustimmungslösung.
Ich fand es ethisch geboten, dass man auf jeden Fall vor dem Tod seine Zustimmung zu einer Organentnahme erklären muss. Das Recht auf Unversehrtheit des Körpers müsse auch noch nach dem Tode gelten,
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alles andere sei ja wohl eher eine Organabgabepflicht als eine Organspende.
Doch dann habe ich immer mehr gelesen und viele Gespräche geführt. Langsam hat sich meine Meinung geändert. Und dann habe ich Lilly kennengelernt. Lilly ist ein neunjähriges Mädchen aus meinem Wahlkreis Hamburg-Altona. Lilly hat ein künstliches Herz und ist seit 19 Monaten im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Seit 19 Monaten wartet sie dort auf ein Spenderherz. Dieses Warten heißt: Das Leben von Lillys Familie findet in der Klinik statt. Jeden Tag warten Lilly und ihre Eltern auf den erlösenden Anruf, dass es ein Spenderherz gibt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Zustimmungslösung wird Lilly nicht helfen. Es lässt sich nicht wegdiskutieren: Länder mit Widerspruchslösung haben ein deutlich höheres Spenderaufkommen als wir, und über Eurotransplant profitieren wir davon. Die ganze Hoffnung von Lilly und ihrer Familie ruht daher auf Eurotransplant. Deutschland hat keine Widerspruchslösung, profitiert aber von den Ländern, die eine haben. Mit Verlaub, das ist kein Zustand.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland hat bekanntlich ein sehr geringes Organspendeaufkommen. Das Problem sind dabei nicht diejenigen, die sagen: Ich möchte nicht spenden. – Das ist ja eine klare Ansage, die man akzeptieren muss. Nein, das Problem sind die vielen, die eine Entscheidung über die Organspende scheuen und sie dann nicht treffen.
Es ist wohl so: Ob man will oder nicht, die Entscheidung, Organspender zu werden, beinhaltet eine Auseinandersetzung mit dem Tod. Ich glaube, das ist der wesentliche Grund, weswegen die überwiegende Anzahl der Menschen in unserem Land die Zustimmung zur Organspende scheut. Auch wenn sie eine Organspende eigentlich richtig finden: Die Menschen wollen sich nicht entscheiden, weil es eine Scheu gibt, sich mit dem eigenen Tod auseinanderzusetzen. Und an dieser Scheu würde die Zustimmungslösung nicht das Geringste ändern.
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Das Tragische dabei ist: Keine Entscheidung ist in diesem Fall eben doch eine Entscheidung, und zwar gegen die Organspende.
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Die Realität ist: Viele Menschen, die dringend ein Organ brauchen, müssen sterben, weil andere sich nicht entscheiden wollen. Ich finde, der Gesetzgeber darf das nicht zulassen.
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Er darf nicht zulassen, dass Menschen sterben müssen, weil sich potenzielle Spender nicht entscheiden wollen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn nicht vorher schon alles geklärt ist, müssten die Angehörigen sowohl bei der Zustimmungs- als auch bei der doppelten Widerspruchslösung gefragt werden. Ich muss gestehen, ich kann mir kein schwierigeres Gespräch vorstellen: Es ist gerade ein geliebter Mensch gestorben, und die Angehörigen sind in tiefer Trauer. In dieser absoluten Extremsituation werden sie mit der Frage nach einer Organspende konfrontiert.
Viele Menschen wehren sich in dieser Situation instinktiv und empfinden das Ansinnen verständlicherweise als pietätlos. Aber es gibt keinen anderen Weg. Das Gespräch muss aus medizinischen Gründen sofort nach dem Tod geführt werden.
In einer solchen Situation macht es einen großen Unterschied, wie die Ärzte fragen: Fragen sie, ob die verstorbene Person als Organspender zur Verfügung stehen wollte, oder fragen sie, ob sie der Organspende aktiv widersprochen hat? Ich finde, es liegt auf der Hand, dass die Frage für alle Beteiligten viel einfacher ist, wenn die Organspende der gesetzliche Regelfall ist, dass also die Antwort auf die Frage nach einem aktiv getätigten Widerspruch den Angehörigen leichter fällt als die Antwort auf die Frage, ob sie einer Organspende zustimmen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir entscheiden heute über eine schwierige ethische Frage. Nach intensiven Überlegungen habe ich mich für die doppelte Widerspruchslösung entschieden. Ich finde, das Recht auf Leben ist stärker zu bewerten als das Recht, sich nicht entscheiden zu müssen.
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Die kleine Lilly, die ich im Krankenhaus besucht habe und die so dringend auf ein Spenderherz wartet, sagte: Wenn man tot ist, braucht man doch seine Organe gar nicht mehr. – Ich muss Ihnen sagen: Ich finde, sie hat recht.
Ich danke Ihnen.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Heike Hänsel.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident! Wir diskutieren heute über ein lebenswichtiges Thema, angesichts von knapp 10 000 Menschen, die in Deutschland auf ein Spenderorgan warten müssen. Uns alle hier eint in dieser Debatte das Ziel, die Zahl der Organspenden in Deutschland deutlich zu erhöhen.
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Aber wir streiten über den Weg dahin. Ich muss sagen: Formulierungen wie „Supergrundrecht“, „das Recht, in Ruhe gelassen zu werden“ oder auch „egoistische Grundhaltung“ sollten wir hier nicht verwenden;
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denn bei dieser schwierigen Entscheidungsfindung gibt es keine moralische Überlegenheit.
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Ich selbst bin keine Gesundheitspolitikerin. Trotzdem habe ich mich persönlich und daraus folgend auch politisch mit dem Thema der Organspende auseinandergesetzt. Ich besitze seit vielen Jahren einen Organspendeausweis – eine Entscheidung, die ich bewusst, freiwillig und selbstbestimmt getroffen habe.
Gerade deshalb war ich sofort skeptisch, als ich von der Idee der Widerspruchslösung gehört habe. Ich sehe den Gesetzentwurf von Jens Spahn als nicht zulässigen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht des Menschen an. Organspende ist ein Akt menschlicher Solidarität, in der christlichen Ethik ein Akt der Nächstenliebe.
Es ist völlig klar, dass der Mensch, der eine wesentliche Entscheidung über die Integrität des eigenen Körpers trifft, dies aus freien Stücken machen muss.
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Mit dem Gesetzentwurf von Jens Spahn würde daraus de facto eine rechtswirksame Verpflichtung. Die Rechte, die uns das Grundgesetz zuschreibt, insbesondere das Recht auf körperliche Unversehrtheit, müssen wir aber nicht aktiv reklamieren, durch Widerspruch; sie wohnen uns von Geburt an inne.
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Mit der Widerspruchslösung laufen wir zudem Gefahr, uns nicht mehr mit den grundsätzlichen Defiziten in unserem Gesundheitssystem auseinanderzusetzen – zu wenig Personal, zu wenig Zeit für Patientinnen und Patienten und Angehörige –, die erheblich zu einer geringeren Zahl der Organspenden beitragen.
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So berichtete das „Deutsche Ärzteblatt“ bereits 2018, dass Organspenden von Verstorbenen seit 2010 um 30 Prozent zurückgingen. Ursache dafür seien jedoch nicht etwa weniger potenzielle Organspender und ‑spenderinnen. Die Zahl der Spender und Spenderinnen habe zwischen 2010 und 2015 sogar um fast 14 Prozent zugenommen. Vielmehr seien die Entnahmekrankenhäuser verantwortlich, weil diese Spender und Spenderinnen zu selten erkennen und melden würden. Diese Probleme müssen wir doch lösen.
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Würden alle Kliniken so arbeiten, wie es im Rahmen eines Modellprojekts der Deutschen Stiftung Organtransplantation geschah, hätte es in Deutschland im Jahr 2015 statt 877 etwa 2 780 Organspender und ‑spenderinnen gegeben. – Das sind die grundsätzlichen Fragen.
Deshalb unterstütze ich unseren Gesetzentwurf, der Folgendes vorsieht: Wir wollen Menschen regelmäßig bei Behördengängen ansprechen. Dort wollen wir Informationsmaterialien verteilen, und wir wollen die Möglichkeit zu einer Entscheidung und Registrierung bereits dort eröffnen. Wir wollen ein Onlineregister. Zusätzlich zu dem vielen schon bekannten Organspendeausweis soll durch ein onlinebasiertes Verfahren ein niedrigschwelliger Zugang zu einem selbstständigen Eintrag in das Register geschaffen werden, durch den Menschen ihre Entscheidung selbst dokumentieren und jederzeit ändern können.
Mit unserem Gesetzentwurf – das ist neu – wollen wir erstmalig auch die Möglichkeit einräumen, dass sich Menschen zu Fragen der Organspende durch die Hausärztinnen und ‑ärzte beraten lassen können. Es gibt offene und auch heikle Fragen, etwa die der Hirntoddiagnostik, über die sich die Menschen nicht anonym im Internet informieren sollten, sondern in einem vertrauensvollen Gespräch mit dem Hausarzt oder der Hausärztin.
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Dafür brauchen wir aber natürlich auch Ärzte und Ärztinnen mit besseren Kompetenzen in diesem Feld. Das Thema Organspende soll daher Teil der ärztlichen Ausbildung werden.
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Damit können Patientinnen ergebnisoffen beraten werden, um zu einer informierten Entscheidung – ein zentraler Begriff im Patientenrecht – zu kommen.
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Im Gegensatz zu Jens Spahn wollen wir den vertrauten Organspendeausweis als ein Mittel der Selbstbestimmung beibehalten.
Als Katholikin teile ich auch den Aufruf der Kirchen: Achten wir den Wert des Menschen vom Anfang bis zum Ende mit seiner Freiheit zu positiver Entscheidung und Selbstbestimmung! Daher bitte ich um Ihre Stimme für die Verbesserung der Entscheidungsbereitschaft bei der Organspende.
Vielen Dank.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Katja Suding.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenige Entscheidungen, die ich in meiner inzwischen neunjährigen Abgeordnetenzeit zu treffen hatte, haben mich so intensiv beschäftigt wie diese heute, weil sie eine riesige Tragweite hat. Jeden Tag sterben Menschen, weil sie kein lebensrettendes Organ erhalten.
Im letzten Jahr haben wir im Bundestag strukturelle Verbesserungen in den Krankenhäusern beschlossen, um bessere Voraussetzungen für die Organtransplantation zu schaffen. Das war notwendig und richtig; das bestreitet auch niemand. Aber das allein reicht nicht. Es fehlen potenzielle Spender. Deshalb müssen wir viel mehr dafür tun, um deren Zahl zu erhöhen.
Die Debatte hier zeigt noch mal, dass wir alle dieses Ziel teilen. Das ist schon mal ein sehr wichtiges Signal, das wir aussenden. Aber dieses Signal alleine hilft den Betroffenen eben nicht, die verzweifelt um ihr Leben bangen. Um ihnen zu helfen, müsste sich in Deutschland an der Einstellung gegenüber der Organspende etwas grundlegend verbessern. Deutlich mehr Menschen müssten Organspender werden, damit es Hoffnung für die vielen Menschen gibt, die dringend auf ein Spenderorgan angewiesen sind, um weiterleben zu können.
Doch was ist der beste Weg, um dieses Ziel tatsächlich zu erreichen? Ich bin überzeugt: Die hier vorgelegte Zustimmungslösung ist es nicht; denn an der bestehenden Praxis würde sich nur wenig ändern.
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Mit Information und Aufklärung, mit direkter Ansprache, mit Kampagnen haben wir es doch schon seit Jahren versucht – leider ohne Erfolg. Auf diesem Weg kommen wir nicht weiter. Die Zahl der Organspenden ist zuletzt sogar wieder gesunken, obwohl eine Mehrheit der Bevölkerung der Organspende positiv gegenübersteht.
Genau da müssen wir ansetzen. Wenn die Mehrheit der Menschen zu einer Spende bereit ist, aber nur eine Minderheit diese Bereitschaft auch dokumentiert: Wie lässt sich das ändern? Wie erreichen wir, dass diejenigen Menschen, die zu einer Organspende bereit sind, diese Bereitschaft auch mitteilen? Darum geht es.
Ich bin mir sicher: Wir müssen jetzt einen wirklich großen Schritt tun. Wir müssen jetzt einen mutigen Schritt gehen. Aus meiner Sicht ist die doppelte Widerspruchslösung dieser richtige Schritt.
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Als Freie Demokratin – wir tragen ja die Freiheit im Namen – habe ich mich natürlich besonders eingehend gefragt, wie es mit der persönlichen Freiheit zu vereinbaren ist, Menschen zu etwas zu zwingen: sie dazu zu zwingen, sich zu der Frage zu verhalten, ob sie Organspender sein wollen oder nicht. Das greife doch in die Freiheit und Selbstbestimmung des Menschen ein, habe ich hier heute oft gehört. – Ja, das stimmt, das tut es. Das tun allerdings auch viele Gesetze, die wir hier beschließen. Deshalb greift diese Frage zu kurz; denn wir dürfen nicht übersehen, um was es geht.
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Es geht um Menschen, die todkrank sind und die ohne eine Organspende nicht weiterleben können. Diese Menschen haben Angehörige: Ehepartner, Kinder, Eltern, Schwestern und Brüder. Für sie geht es um Leben und Tod.
Mag diese Debatte für viele von uns eine theoretische sein, wir sollten nicht vergessen: Es kann jeden von uns treffen – jederzeit. Wer in diese Situation gerät, als Betroffener oder als Angehöriger, der wird darauf hoffen, dass es Menschen gibt, die bereit sind, ihre Organe zu spenden. Schon alleine deshalb haben wir die Verantwortung, nicht nur über die Spender, sondern auch über die Empfänger nachzudenken.
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Für mich gehören persönliche Freiheit und Verantwortung untrennbar zusammen. Das bedeutet: Natürlich muss der Mensch die Freiheit haben, über sich und seinen Körper selbst zu entscheiden. Aber diese Freiheit nimmt die Widerspruchslösung ja gar nicht. Jeder kann der Organspende widersprechen. Sie bleibt selbstverständlich freiwillig.
Zur Verantwortung, die der Mensch in meinen Augen hat, gehört für mich aber auch, dass wir ihm zumuten können und dürfen, bei einer so existenziellen Frage eine Entscheidung zu treffen.
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Für mich war es damals eine einfache und glasklare Entscheidung: Ich trage seit Langem einen Organspendeausweis bei mir. Aber mir ist auch vollkommen bewusst, dass diese Entscheidung nicht für jeden so leicht zu treffen ist. Sie mag unbequem sein. Sie mag schwer auf jemandem lasten. Und manch einer wird sie als Freiheitseinschränkung wahrnehmen. Aber reicht das in Anbetracht der Dramatik, in Anbetracht dessen, dass es um das Überleben von Menschen geht, als Argument, eine Befassung mit dem Thema nicht verpflichtend einfordern zu dürfen, wenn genau das doch dazu dienen kann, dass mehr Menschen gerettet werden können? Das muss man sorgfältig abwägen. Aber ich komme zu dem Schluss: Nein, das reicht nicht.
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Wer seine Organe nicht spenden will oder wer auch nur einen Zweifel daran hat, der kann und der soll widersprechen. Wer nicht darüber nachdenken will, was nach seinem Tod passiert, der kann ebenfalls widersprechen. Die Widerspruchslösung ändert nichts daran, dass die Entscheidung für oder gegen die Organspende eine freie und persönliche Entscheidung bleibt, die auch niemand begründen muss.
Jede Entscheidung in dieser Frage verdient Respekt – eine gegen die Organspende genauso wie eine für die Organspende. Aber dass sich die Menschen mit dieser Frage beschäftigen, das können und das dürfen wir zur Pflicht machen, um den vielen Menschen zu helfen, die genau das für ihr Überleben brauchen. Ich bitte Sie daher ganz herzlich: Stimmen Sie für die doppelte Widerspruchslösung!
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Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Ulla Schmidt.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich finde es gut, dass wir jetzt seit Monaten über das Thema Organspende diskutieren.
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Denn ich glaube, eines ist gelungen: dass wir das Thema Organspende in der Gesellschaft wieder breiter diskutieren und dass das Thema in den Medien wieder den Platz gefunden hat, der ihm zukommt.
Das ist gelungen, weil uns alle – davon gehe ich aus – eines eint, egal ob wir für die Widerspruchslösung oder für die Zustimmungslösung sind: Unser Ziel ist, dass mehr Menschen dazu bereit sind, ein Organ zu spenden, bzw. dass die Bereitschaft zur tatsächlichen Organentnahme zunimmt und damit mehr kranke Menschen eine Chance haben, zu überleben.
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Trotzdem unterscheiden sich die vorliegenden Gesetzentwürfe bzw. der Antrag. Mir wäre es sehr wichtig, dass wir, egal wie die Entscheidung heute ausfällt, anschließend weiter zusammen intensiv daran arbeiten, die Strukturen zu verbessern, die Aufklärung zu verbessern und die Bereitschaft der Menschen zur Organspende zu wecken. Das wäre eine ganz wichtige Voraussetzung.
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Mich hat heute in der Frage der Entscheidung zwischen der Zustimmungslösung, die ja beim menschlichen Selbstbestimmungsrecht ansetzt, wie es auch in Artikel 2 des Grundgesetzes festgelegt ist und auch in medizinischen Fragen immer eine große Rolle gespielt hat, und der Widerspruchslösung etwas besorgt gemacht: Wenn wir nicht aufpassen, verschiebt sich etwas in der Debatte. Wenn die Widerspruchslösung und damit die Bereitschaft zur Organspende zur Norm werden, dann könnten die Menschen, die Nein sagen, sich in eine Ecke gedrängt fühlen.
Hier wird gesagt: Jeder kann sich frei entscheiden. Aber die Gefahr ist – auch wenn man die Debattenbeiträge heute hört –, ob dann nicht doch die Frage aufkommt, wie sich das „egoistische Individuum“ gegenüber der Gesellschaft verhält, und gesagt wird: In unseren Nachbarländern ist die Bereitschaft zum Geben vorhanden, während das in Deutschland nur rudimentär ausgebildet ist.
Ähnliches gilt auch für viele andere Punkte, die hier genannt wurden. Ich sage dazu: Das wird der Situation der Bürgerinnen und Bürger in diesem Lande nicht gerecht.
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Es wird der Tatsache nicht gerecht, dass tagtäglich Menschen daran arbeiten, anderen etwas zu geben, damit sie besser leben können. Aber es wird auch der Situation im Bereich der Organspende nicht gerecht. Wenn 86 Prozent der Bürgerinnen und Bürger sagen: „Ja, wir sind zu einer Organspende bereit“, dann müssen wir uns überlegen, wie wir es schaffen, dass diese 86 Prozent dann, wenn sie ins Krankenhaus eingeliefert werden und dort versterben, als potenzielle Spenderin oder Spender erkannt werden und ihre Organe tatsächlich auch spenden können.
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Wir sehen, dass 36 Prozent der Bürgerinnen und Bürger mittlerweile einen Organspendeausweis haben und trotzdem im Krankenhaus oft keiner fragt: Liegt ein Organspendeausweis vor? Oft werden auch die Angehörigen nicht gefragt. Ich habe viele Veranstaltungen erlebt, bei denen mir Menschen gesagt haben: Ich wurde gar nicht gefragt. Ich hätte ja zugestimmt.
Wenn wir wissen, dass bei den leider nur rund 1 450 gemeldeten Fällen potenzieller Organspender nur 24 Prozent der Angehörigen Nein gesagt haben, also 76 Prozent der Angehörigen sich positiv für die Organspende entschieden haben, dann müssen wir doch fragen: Woran liegt das? Von den Zahlen her können wir uns mit Ländern mit einer Widerspruchslösung vergleichen.
Aber es liegt daran, dass die Strukturen im Krankenhaus nicht so sind, wie wir es gerne hätten, und da ist der Dreh- und Angelpunkt,
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damit wir mehr Organspenden haben.
Das Zweite ist: Wir müssen dafür sorgen, dass wir die Angehörigen wirklich miteinbeziehen. Hier wird so getan, als sei das bei den Ländern mit Widerspruchslösung nicht der Fall. Die Spanier, um die mal zu nennen, wenden in der Realität die erweiterte Zustimmungslösung an.
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Die Österreicher: Gestern noch gab es in der „Süddeutschen Zeitung“ ein Interview mit dem Transplantationsbeauftragten für Westösterreich, der gesagt hat: Glauben Sie doch nicht, dass wir in unserem Land auch nur ein Organ entnehmen würden, auch wenn wir es dürften, wenn die Angehörigen dagegen sind. – Denn man weiß: Wenn man das macht, sinkt das Vertrauen in die Organspende.
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Die Frage, wie ich zum Tod stehe, ob ich Angst davor habe, die Frage, ob ich mich damit nicht beschäftigen will, die Frage, ob Angehörige auch in Würde Abschied nehmen wollen, all diese Dinge hängen sehr eng mit dem menschlichen Leben zusammen.
Meine Überzeugung ist: Mit der positiven Zustimmung erreichen wir viel mehr als mit einer Widerspruchslösung, und deshalb bitte ich Sie um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf.
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Nächster Redner ist der Kollege Matthias Birkwald.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das hier ist mein Organspendeausweis von 1978. Ich war 16 Jahre alt, ich fuhr Mokick und später Motorrad und war mir des Risikos, zu sterben, sehr bewusst. Und so habe ich mich bewusst dafür entschieden, im Falle meines Hirntodes Organe spenden zu wollen. Sich bewusst für die Organspende zu entscheiden, das machen leider viel zu wenige Menschen.
2018 kamen hierzulande auf 1 Million Einwohner nur circa 11,5 Organspender aller Geschlechter. In Frankreich waren es fast dreimal so viele. In Deutschland gab es 2019 nur 932 Menschen, die insgesamt 2 995 Organe spendeten. Gleichzeitig warten aber hierzulande mehr als 9 000 Menschen auf ein Spenderorgan, und das geht oft mit viel Leid und Verzweiflung einher.
Egal ob Menschen einen neuen Lungenflügel, ein Herz, eine Leber oder Nieren benötigen: Immer handelt es sich um schwerkranke Menschen, deren schlechte Lebensqualität ohne ein Spenderorgan oft ihre Menschenwürde verletzt oder deren Leben gar von einer Organspende abhängt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Leben dieser Menschen wollen wir retten, ihre Lebensqualität wollen wir steigern, und ihre Würde wollen wir sichern. Das sind unsere Ziele, und ich finde, es sind ehrenwerte Ziele.
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Wie viele Menschen sind betroffen? Im Jahr 2018 starben 901 Menschen in Deutschland, die vergeblich auf ein Spenderorgan gehofft hatten, und dazu kommen all jene, die es nicht auf die Warteliste schafften oder die schon zu krank für eine Transplantation waren. Die damit verbundenen seelischen Qualen für die Betroffenen und ihre Angehörigen sind immens, und darum müssen wir handeln.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie hoch ist denn die Wahrscheinlichkeit, dass jemand ohne eine Willensäußerung zum Organspender wird? Nun, sie ist extrem gering. In unserem Land leben 83,1 Millionen Menschen. Im Jahr 2018 starben 954 900 von ihnen, und nur bei 1 416 davon ist eine Organspende nach intensiver medizinischer Diagnostik überhaupt möglich gewesen. Das heißt: Die Wahrscheinlichkeit der Organentnahme ist für uns alle extrem gering.
955 Menschen haben dann schließlich Organe gespendet. Mit einer doppelten Widerspruchslösung hätten es mindestens zwischen 300 und 800 Organspender mehr sein können, und das wären immerhin bis zu 2 400 dringend von schwerkranken Menschen ersehnte Organe mehr gewesen.
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Sie hätten viel menschliche Not gelindert und Leben gerettet, und darum geht es.
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Meine Damen und Herren, die heutige Rechtslage sorgt dafür, dass 9 000 Patientinnen und Patienten hoffen, bangen und flehen müssen, ob und wie sie weiterleben dürfen. Hier gilt es abzuwägen. Im Ergebnis sage ich: Das Recht von kranken Menschen, die vom Tode bedroht sind, wiegt meines Erachtens schwerer als das ohne jeden Zweifel vorhandene Recht von gesunden Menschen, sich mit ihrem eigenen Tod und dem Thema Organspende nicht beschäftigen zu wollen.
Wer sich heute – aus welchen Gründen auch immer – nicht entscheidet, wird zum Teil mit gesunden Organen bestattet, die menschliches Leben retten könnten. Wenn die doppelte Widerspruchslösung eingeführt werden würde, würden von all den vielen Millionen Menschen, die sich nicht explizit für oder gegen eine Organspende entscheiden konnten oder wollten, letztlich nur 300 bis 800 pro Jahr posthum zu Organspendern. Sie retten dann Leben, sie verlängern Leben, oder sie sorgen dafür, dass die Lebensqualität von sehr kranken lebenden Menschen deutlich besser wird und sie ihr Leben in Würde fortführen können, ohne mehrmals in der Woche an Apparate gehängt werden zu müssen, die zwar ihr Leben erhalten, aber ihre Freiheit und Selbstbestimmung extrem einschränken.
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Ja, es geht um die individuelle Entscheidungsfreiheit, und darum sage ich: Die Freiheit der Lebenden ist wichtiger als die Freiheit der Toten.
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Die Selbstbestimmung der Lebenden ist wichtiger als die nicht genutzte Chance zur Selbstbestimmung Toter. Und ich füge hinzu: Die Solidarität mit den Lebenden ist mir wichtiger als die Solidarität mit den Toten, und die Würde der Lebenden ist wichtiger als die Würde der Toten.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, in 22 europäischen Ländern gibt es die Widerspruchslösung. Deutschland kann die Nummer 23 werden. Ich bitte Sie alle höflich, aber mit Nachdruck: Stimmen Sie im Interesse schwerstkranker Menschen für die Widerspruchslösung!
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Birkwald. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Hermann Gröhe.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir führen die Debatte heute mit großer Leidenschaft. Wir führen diese Debatte mit Leidenschaft nicht nur in diesem Haus, sondern in unserer Gesellschaft, und das ist gut und richtig so. Und noch etwas: In den Mittelpunkt dieser Debatte gehören selbstverständlich das Leid und die Not derjenigen Menschen, die dringend auf ein lebensrettendes Spenderorgan angewiesen sind. Viele von uns haben auch in den letzten Wochen mit den Menschen, um die es hier geht, und ihren Angehörigen gesprochen. Deswegen darf uns das alles nicht ruhen lassen, hier besser zu werden.
Ich verhehle nicht: Ich habe Respekt vor denen, die sagen: Müssen wir nicht angesichts dieser Situation auch über einen grundsätzlichen Wechsel rechtlicher Rahmenbedingungen nachdenken? – Ich halte dem aber entgegen: Gerade bei schweren Entscheidungen müssen sich unsere ethischen Grundprinzipien als Leitplanken bewähren, meine Damen, meine Herren.
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Ich halte es für unangemessen, wenn in der öffentlichen Debatte – nicht so sehr in diesem Haus, aber in der öffentlichen Debatte – gelegentlich der Eindruck erweckt wird, als seien diejenigen, die nicht für die Widerspruchsregelung sind, gleichsam der Meinung, es könne so bleiben wie bisher, und es interessiere sie nicht das Leid derer, die auf ein Organ warten. Das ist mitnichten der Fall.
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Ich nehme für uns alle in Anspruch, hier helfen zu wollen.
Aber meine Damen und Herren, wer einen Systemwechsel, geradezu einen Paradigmenwechsel – heute hier geschehen – einfordert, der sollte gleichzeitig nicht kleinreden, um was es hier geht. Hier geht es nicht darum, zu sagen: Man wird doch wohl sagen können „Entscheidet euch!“. – Es geht um die Frage, ob der Staat das Selbstbestimmungsrecht des Menschen unter eine Bedingung stellt.
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Ich wünsche mir, dass sich jeder Mensch mit der Organspende befasst und eine Entscheidung trifft.
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Aber am Ende geht es um die Frage, ob der, der aus welchen Gründen auch immer diese Entscheidung nicht trifft, sein Selbstbestimmungsrecht verliert oder nicht verliert.
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Diese Frage beantworte ich klar: Jeder Mensch hat ein Selbstbestimmungsrecht. Dies ist der Anker unserer medizinethischen Grundüberzeugung; dies ist der Anker unserer Patientenrechte.
Auch das Recht auf körperliche Unversehrtheit muss ich nicht durch eine Widerspruchserklärung aktivieren; ich habe es bedingungslos, und nur meine eigene Einwilligung kann es zurücktreten lassen.
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Das ist keine kleine Frage. Es geht um den Kern des Menschenbilds unserer freiheitlichen Rechtsordnung, um nicht mehr und nicht weniger.
Deswegen tue ich mich schwer mit denen, die sagen: Man muss da abwägen.
Aber selbst wenn ich mich auf den Gedanken des Abwägens einlasse, muss ich sagen: Die Widerspruchslösung ist ein untaugliches Mittel,
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und man wird von einem tiefgreifenden Eingriff doch wohl Tauglichkeit erwarten können. Die Lage im Ausland ist nicht so, wie immer leichthin dargestellt, als gäbe es einen klaren Zusammenhang. Die Schweizer schaffen mit einer Zustimmungsregelung sehr viel mehr Organspenden. Darum geht es nicht, die Beweislage ist da anders. In Spanien sind die Verbesserungen nicht durch die Rechtsregelung, sondern durch Veränderungen in der Krankenhausstruktur erreicht worden; darauf ist schon hingewiesen worden.
({7})
Aber ich will auch ausdrücklich zur Lage im eigenen Land etwas sagen. Nach den Skandalen 2012 hat sich die Zahl der Organspendeausweise von 22 Prozent auf fast 40 Prozent massiv erhöht. Wir sollten diese gemeinsamen Kraftanstrengungen auch nicht kleinreden.
({8})
Wenn bei 1 400 Fällen, in denen der Hirntod festgestellt und eine grundsätzliche Organspendemöglichkeit festgestellt wurde, in 75 Prozent der Fälle durch Organspendeausweis oder durch Angehörigenauskunft eine Zustimmung vorliegt, dann zeigt dies: Wir haben eine Kultur der Solidarität in diesem Land!
({9})
Sie muss nicht durch einen Paradigmenwechsel erst geschaffen werden, wir können dankbar feststellen: Es gibt sie.
Natürlich wünsche ich mir, dass wir von den 75 Prozent auf 80 Prozent, auf 85 Prozent kommen. Aber das Entscheidende ist, mehr Menschen zu identifizieren. Die Zahl der 1 400 oder mehr, bei denen eine Organspende möglich wird, ändert sich überhaupt nicht durch die Widerspruchslösung.
({10})
Deswegen: Lassen Sie uns beharrlich den Weg fortsetzen, den wir gegangen sind. Ich bin davon überzeugt: Wir können Stärkung der Organspende und Selbstbestimmungsrecht verbinden. Aber Spende muss Spende bleiben; Spende verträgt sich nicht mit Automatismus.
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Bitte stimmen Sie einer Stärkung der Entscheidungsbereitschaft zu.
({12})
Vielen Dank, Herr Kollege Gröhe. – Als letzter Redner in dieser Debatte erhält der Abgeordnete Jens Spahn das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In keinem anderen Bereich der Medizin in Deutschland ist die Versorgungslage schlechter als im Bereich der Organspende. Wir würden in keinem anderen Bereich solche Wartezeiten, solches Leid, so eine schwierige Versorgungslage für Patientinnen und Patienten akzeptieren – auch im Vergleich zu anderen westlichen Ländern –, wie wir es hier bei der Organspende seit Jahren tun.
({0})
Ja, eine solidarische und mitfühlende Gesellschaft, die Zusammenhalt stärken will, die lässt dieser Befund, wie dramatisch, wie desaströs in Teilen die Versorgungslage ist, nicht kalt. Deswegen ist es gut – und das zeigt ja auch diese Debatte –, dass wir uns damit beschäftigen.
Als wir vor eineinhalb Jahren mit dieser Debatte begonnen haben, war ja nicht absehbar, wie sie laufen würde. Aber was uns gemeinsam gelungen ist: In jeder Familie, in jeder Nachbarschaft, auf der Arbeit, an vielen Stellen ist in den letzten Monaten über dieses Thema diskutiert worden. Das Entscheidende ist, finde ich auch, dass die Patienten und ihre Angehörigen, diejenigen, die voller Hoffnung, Verzweiflung, Leid, Schmerz sind, sehen: Wir sind nicht vergessen, unser Leid wird gesehen. – Das haben wir durch diese Debatte gezeigt, und das ist schon ein Wert an sich.
({1})
Ja, die Widerspruchslösung ist kein Allheilmittel, keine Wunderwaffe; sie wird nicht alle Probleme lösen. Aber auch die Verbesserung der Abläufe in den Krankenhäusern, die wir schon gemeinsam beschlossen haben, wird nicht alle Probleme lösen. Aber auch das Onlineregister, das in beiden Gesetzentwürfen beschrieben wird – dass man online leichter seinen Willen dokumentieren kann –, wird nicht alle Probleme lösen. Es gibt nicht die eine Maßnahme, die alles sofort besser macht, sondern es braucht eine Kombination von Maßnahmen. Deswegen ist die Verbesserung der Abläufe in den Krankenhäusern kein Gegensatz zur Widerspruchslösung, sondern eine gute Ergänzung; auch das ist für die Debatte wichtig.
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Jenseits der Einzelfragen, die wichtig sind, ist mit der Widerspruchslösung – das zeigen die 22 Länder in der Europäischen Union, die eine Widerspruchslösung haben – eben auch eine Kultur der Organspende verbunden. Die Organspende ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Die Organspende als Regel macht es im Übrigen auch den Angehörigen leichter. Eins will ich schon sagen, wenn über Selbstbestimmungsrecht und Angehörige geredet wird: Es geht hier nicht um das Recht der Angehörigen auf Entscheidung, sondern es geht um den Willen des Verstorbenen – das muss das Entscheidende in der Debatte sein.
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Deswegen ist die doppelte Widerspruchslösung sozusagen eine gesellschaftliche Zustimmungslösung. Es ist die Ansage und Aussage der Gesellschaft: Ja, wir wollen eine Kultur der Organspende. – Das ist der entscheidende Unterschied, den sie macht und um den es uns in dieser Debatte geht.
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Dieser kulturelle Unterschied ist auch gerechtfertigt aus meiner Sicht, im Sinne von Solidarität in einer Gesellschaft, wo jeder nicht nur auf sich selbst bezogen ist. Denn jeder von uns ist potenzieller Organempfänger. Es gibt nur ganz, ganz wenige Menschen, die sagen: Für mich selbst oder für die Kinder, zum eigenen Überleben oder zum Überleben der Kinder würde ich im Fall der Fälle zum Beispiel auf ein Spenderherz verzichten; das sind nur sehr, sehr wenige. Die allermeisten sind potenzielle Organempfänger. Da stellt sich schon die Frage, ob man dann nicht davon ausgehen kann, dass jeder potenzieller Organspender ist, außer er sagt – begründungsfrei – ganz einfach Nein. Das ist die Frage, um die es geht. Ich finde: Ja, das lässt sich gut verargumentieren und rechtfertigen. Ist das eine Zumutung? Ja, es ist eine Zumutung – aber eine, die Menschenleben rettet.
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Das ist der Kern der Abstimmung heute: Ist das zumutbar? Ist diese Zumutung zumutbar? Hier war viel von Selbstbestimmung die Rede. Ja, es geht um die Selbstbestimmung des Einzelnen über die Frage: Was soll mit meinen Organen nach dem Tod passieren? Aber ich bitte, auch die Selbstbestimmung – das Beispiel ist genannt worden – etwa von Kindern zu sehen, von Patienten zu sehen, die über Monate, teilweise Jahre gezwungen sind, im Krankenhaus in einem Zimmer mit einer großen Maschine neben sich zu leben, weil es kein Spenderorgan gibt, zu sehen, was das für die Familien und die Patienten bedeutet. Auch um deren Selbstbestimmung und Freiheit geht es in dieser Debatte.
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Auch da ist das Wort „Selbstbestimmung“ gerechtfertigt. Im Kern geht es bei der Frage „Ist das zumutbar?“ genau um diese Abwägung. Da gibt es kein Richtig oder Falsch, kein absolut Gutes oder Böses. Es ist eine Abwägungsfrage: Wir wägen die Freiheit, nicht entscheiden zu müssen, ab gegen die Freiheit der Patientinnen und Patienten, ihrer Angehörigen, die stark eingeschränkt sind und denen im Extremfall dann der Tod droht.
Eins will ich abschließend sagen, Herr Präsident: Ich habe über Jahre mit den gleichen Argumenten, die gerade einige Kolleginnen und Kollegen vorgebracht haben, selbst für die Zustimmungslösung geworben, für das, was heute gilt, zum Teil mit den gleichen Argumenten. Wenn Hermann Gröhe, Ulla Schmidt sagen, auch sie wollen sich nicht abfinden mit der jetzigen Lage, wie sie ist: Die Wahrheit ist, der andere Gesetzentwurf ändert an der heutigen Lage nichts,
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außer dass die Hausärzte vielleicht noch ein bisschen Geld für das bekommen, was sie tun. Das ist die Wahrheit.
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Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.
Deswegen – das will ich auch sagen – werde ich im Fall der Fälle persönlich – und das gilt auch für den Kollegen Karl Lauterbach – – Ich sehe ja jeden Willen zur Verbesserung –,
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
– aber diesem Gesetzentwurf werde ich nicht zustimmen können. Einfach nur mehr Aufklärung – das haben die letzten Jahre gezeigt – löst das Problem nicht. Deswegen möchte ich Sie einfach bitten: Sagen Sie Ja zu einer Kultur der Organspende in diesem Land, in der Abwägung. Ja, das Leid der Patienten wiegt stärker als das Selbstbestimmungsrecht, sich nicht entscheiden zu wollen.
Herr Kollege Spahn, bitte kommen Sie zum Schluss.
In diesem Sinne bitte ich Sie um Zustimmung zur doppelten Widerspruchslösung.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege Spahn. – Damit schließe ich die Debatte.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Voraussetzung der Demokratie ist die vollständige Information der Bürger. Die AfD fordert, die Gesamtkosten der Migrationspolitik umfassend darzulegen. Viele Kosten fallen nicht auf Bundes-, sondern auf Landes- und kommunaler Ebene an, finden sich auf viele Etats verteilt. Was fehlt, ist eine jährliche Auflistung aller Kosten der Politik der offenen Grenzen als transparentes Gesamtbild für den Steuerzahler. Wenn bei zweistelligen Milliardenausgaben die Regierung tönt: „Niemandem wird etwas durch die Flüchtlinge weggenommen“, dann ahnt der Bürger, dass genau das nicht geschieht. Jeden Euro kann man nur einmal ausgeben.
({0})
Denn wer darf die ganze No-Nation-Orgie sponsern? Der ausgepresste Steuerzahler! Vor dem muss diese Regierung endlich detailliert Rechenschaft ablegen.
({1})
Die Willkommensparty kostet nämlich: Unterbringung und Verpflegung, Krankenkassen und später Rente, Deutschkurse und Dolmetscher, erfolglose Abschiebeversuche, nur wenige unfassbar teure erfolgte Abschiebungen, Wachpersonal und Polizeieinsätze, Hunderttausende Widerspruchsverfahren und dann die Verwaltung dieses ganzen Chaos. Das alles verschlingt Milliarden, und so fehlen diese Milliarden an anderer Stelle. Der Deutsche Beamtenbund schlägt Alarm. Die öffentliche Verwaltung liegt am Boden, kaputtgespart, Systemkollaps! Von Baugenehmigungen bis hin zu den Gerichten – absurde Wartezeiten, kein Personal, keine Ausstattung! Tatverdächtige müssen freigelassen werden. Die Infrastruktur zerfällt, Kitaplätze fehlen, Unterricht fällt aus.
Die Leistungsträger werden vom Staat ausgepresst und bekommen nichts mehr zurück. Laut Hans-Werner Sinn kostet schon die bisherige Migrationspolitik den Steuerzahler 1 000 Milliarden Euro, ähnlich Professor Raffelhüschen. Das Institut der deutschen Wirtschaft und das Institut für Wirtschaftsforschung kommen auf gut 50 Milliarden Euro pro Jahr. Mit einer solchen Summe müssen die Bundesministerien für Inneres, Bildung, Familien, Umwelt und Finanzen zusammen auskommen. Die Stiftung Marktwirtschaft stellt klar, dass Deutschland eben nicht profitiert. „Eine ungesteuerte Zuwanderung bringt dem Land keine fiskalische Rendite, sondern kostet dauerhaft“, sagt Stiftungsvorsitzender Eilfort. Die Masse der Zuwanderer, meine Damen und Herren, wird am Ende Grundsicherung im Alter bekommen, steuerfinanziert. Das ist die Realität der Zuwanderung, nicht geordnet und gesteuert, sondern angeordnet und steuerfinanziert, meine Damen und Herren.
({2})
Ein funktionierender Sozialstaat würde doch vor allem die Armut seiner Bürger reduzieren und die Belastung der Steuerzahler senken. Die inländerfeindlichen Ideologen dieser Regierung aber haben ganz andere Prioritäten: riesige Geldströme für eine absurde Energiewende, die Vollversorgung Hunderttausender Wirtschaftsmigranten, die Subventionierung anderer EU-Staaten und demnächst von ganz Afrika. Wir fordern Priorität für die Wohlfahrt unserer Bürger statt für Unberechtigte, statt Dauerwillkommensparty der Illegalität wieder Vorfahrt für Recht und Vernunft.
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37 Prozent der Hartz-IV-Leistungen gehen an Ausländer, die nur 13 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Seit 2007 haben sich Hartz-IV-Leistungen an Ausländer auf 13 Milliarden Euro jährlich verdoppelt. Die Hartz-IV-Quote der Zuwanderer ist mit 60 Prozent siebenmal höher als bei der Gesamtbevölkerung. Diese Regierung forciert Zuwanderung von Leuten in Millionenstärke, die, ohne je zu arbeiten und Steuern zu zahlen, die gleichen Sozialleistungen erhalten wie die, die diese Leistungen finanzieren müssen. Dabei weist eine Studie der Uni Princeton auf Basis dänischer Zahlen nach, dass eine Senkung der Sozialleistungen zu sinkender Zuwanderung führt, wie Hebung zu steigender. Na dann: Sofort Schluss mit der forcierten Sogwirkung!
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Was für absurde Zustände dabei: die horrenden Kosten unbegleiteter Minderjähriger, von denen über 40 Prozent tatsächlich volljährig sind. In Aachen: Tagesverpflegung für 13 Euro pro Asylbewerber, Hartz-IVer bekommen 5 Euro. Die Monatskarte in Hamburg für Migranten zu knapp 30 Euro, für normale Senioren über 60 Euro. Das ist nichts anderes als Politik gegen die eigenen Bürger.
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Zusätzlich zu alledem sind ja Ausgaben nötig für 180 000 neue Kitaplätze, 2 400 zusätzliche Grundschulen, 15 000 neue Polizistenstellen, 2 000 neue Richterstellen für die Asylklagewelle und die Rente. BAMF-Präsident Sommer warnt: „Viele der Flüchtlinge stehen heute in Jobs, allerdings die allermeisten im Niedriglohnsektor.“ Viele Migranten würden später in Altersarmut abrutschen. Ach, sieh an! Da ist es ja gut zu wissen, dass die Bundesbank dafür plädiert, das Renteneintrittsalter weiter anzuheben, auf 69 Jahre. Dabei rutschen immer mehr unserer Rentner, die zeitlebens gearbeitet haben, in Grundsicherung auf Hartz-IV-Niveau, alles, weil diese Regierung falsche Prioritäten setzt.
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Unbegrenzt Geld für Migration, aber der deutsche Arbeitnehmer, der Jahrzehnte einzahlt, bekommt nichts Anständiges mehr heraus! Das ist pure Abzocke. Das lassen sich die Bürger nicht länger gefallen.
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Die Krankenversicherung: Schon nach 15 Monaten erhalten Migranten die vollen Leistungen. Die Beiträge zahlt der Bund. Das deckt aber gerade einmal die Hälfte der Kosten. So entsteht trotz Rekordeinnahmen in 2019 ein Milliardendefizit. Nach einer Prognose im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung droht in 20 Jahren ein Minus von fast 50 Milliarden Euro. Der Bürger, wir alle dürfen dann die Zeche zahlen. Echt weltoffen! Das ist Raub mit Ansage.
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Und knapp 8 Milliarden Euro für die Bekämpfung von Fluchtursachen – komplett hinausgeschmissenes Geld. Der Lebensstandard in Afrika wird nie dem in Europa entsprechen können. Selbst Hängematte hier bringt mehr als Arbeiten dort. Aber von dem dorthin überwiesenen Geld können sich noch mehr den Migrationstrip hierher leisten. Nutzen null, Schaden gigantisch!
({9})
Städte und Gemeinden bleiben auf den Kosten sitzen. Der Bundeszuschuss deckt für Hamburg und Sachsen nur ein Viertel der echten Kosten. Die Altschuldendebatte bei den Kommunen soll auch deren totale Überlastung durch Migrationskosten verschleiern. Und all das wird den Bürgern komplett ohne Not aufgebürdet. Schon das Instrument des Selbsteintritts zeigt ja, dass man gar nicht zuständig ist. Das ist Raub von 50 Milliarden Euro pro Jahr. Migrationsforscher sagen uns, man könnte damit nahe der Heimatregion hundertmal mehr Migranten versorgen als in Europa. Die ganze humanitäre Verbrämung ist schlicht Nonsens.
({10})
Wir fordern: Endlich Steuern und Sozialabgaben der Zuwanderer den Ausgaben gegenüberstellen! Wir brauchen Auskunft über Langzeitkosten in Anbetracht des tatsächlichen Umfangs der Selbstversorgung der Migranten, über die Vervielfachung aller Kosten durch Familiennachzug und Nachkommen. Aber die Kosten trägt ja der Staat. Er wird für diese Herausforderung Geld in die Hand nehmen. Dumm nur für den Bürger, dass diese Hand, die da Geld in die Hand nimmt, vorher in seiner Tasche war, meine Damen und Herren.
({11})
Diese Politik, Deutschland mit Migranten zu fluten, den Sozialstaat durch Überdehnung zu zerstören, den Rechtsstaat in den Kollaps zu treiben, das ist gefährlicher politischer Extremismus. Die Wähler müssen handeln. Uns fehlt das Geld, von der Bildung über Polizei und Justiz bis zu Rente und Gesundheitswesen. Aber die selbstberauschten Gesinnungsfantasten verscherbeln diesen Staat, um sich ihr freundliches Gesicht bescheinigen zu lassen.
({12})
Wir brauchen endlich eine kohärente Darstellung und nicht, dass die Bürger vorher bestohlen werden, um Scheinüberschüsse zu deklarieren.
Nein, ich muss Ihnen sagen: Wenn beim Bäcker jede Semmel einen Bon braucht, dann sollten Milliardenprogramme nicht verschleiert werden. Zeit, die Bundesregierung in die Bonpflicht zu nehmen!
({13})
Nächster Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Eckhardt Rehberg.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Curio, wenn etwas extremistisch war, dann war es Ihre Rede. Das war Ihre Rede.
({0})
Als ich mich auf diese Rede vorbereitet habe, habe ich genau das und nichts anderes erwartet.
Sie sprechen davon, dass die Bürger betrogen werden,
({1})
dass die Bürger bluten müssen, dass sie für diejenigen ausgenommen werden müssen, die aus Not und Elend oder wegen Krieg zu uns kommen.
({2})
Sie wollen doch eine Rechtsstaatspartei sein. Sie halten doch den Rechtsstaat immer so hoch. Am 18. Juli 2012 hat das Bundesverfassungsgericht Recht gesprochen. Ich zitiere einmal die drei Leitsätze:
1. Die Höhe der Geldleistungen nach § 3 des Asylbewerberleistungsgesetzes ist evident unzureichend, weil sie seit 1993 nicht verändert worden sind.
({3})
2. Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG garantiert ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums … Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch als Menschenrecht. Er umfasst sowohl die physische Existenz des Menschen als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben.
({4})
Das Grundrecht steht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu.
Punkt.
({5})
3. Falls der Gesetzgeber bei der Feststellung des menschenwürdigen Existenzminimums die Besonderheiten bestimmter Personengruppen berücksichtigen will, darf er bei der konkreten Ausgestaltung existenzsichernder Leistungen nicht pauschal nach dem Aufenthaltsstatus differenzieren.
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Wenn Sie, Herr Curio, hier von Sozialleistungen sprechen: Ja, Deutschland hat sehr hohe Sozialleistungen für diejenigen, die zu uns kommen. So hat es das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2012 ausdrücklich festgelegt. Weil wir als Union eine Rechtsstaatspartei sind
({7})
– ich glaube, ich spreche hier für den gesamten Deutschen Bundestag außer der AfD-Fraktion –, haben wir unsere Politik und unsere Gesetzgebung entsprechend den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe auszurichten.
({8})
Sie haben hier ein Horrorszenario an die Wand gemalt, wonach es den Menschen in Deutschland über die Jahre – übrigens nicht nur in den Jahren 2015 und 2016, sondern über all die Jahre, in denen Flüchtlinge zu uns gekommen sind – schlechter gehe. Dazu will ich Sie einmal mit ein paar Zahlen konfrontieren.
Das letzte Jahrzehnt war das beste, was Deutschland erlebt hat. Wir haben eine Beschäftigung von 45,3 Millionen Menschen. 45,3 Millionen! Die Arbeitslosigkeit liegt im Schnitt bei 2,2 Millionen. In Deutschland wurde noch nie so viel investiert wie heute.
({9})
– Ja.
Ich könnte jetzt die Unterrichtung der Bundesregierung nehmen, in der die Länder berichten und wo aufgelistet ist, wofür welches Geld genommen worden ist. Ja, aber wir haben das nicht nur für Migranten gemacht. Vielmehr dient der Kitaausbau natürlich auch den Deutschen, ebenso der soziale Wohnungsbau. Na klar, das erfordert zusätzliches Geld. Aber dieser Herausforderung haben wir uns schlichtweg gestellt.
Lassen Sie mich zum Sozialbereich noch eines sagen. Ich stelle Ihnen einmal zwei Preisfragen: Welches Bundesland hat die niedrigste Altersarmut in Deutschland? Und wie hoch ist sie? – Herr Curio, wissen Sie das? Das ist der Freistaat Thüringen mit 1 Prozent. Bei mir zu Hause beziehen 1,62 Prozent Grundsicherung im Alter. Die Renten im Osten sind in den letzten fünf Jahren um 22 Prozent gestiegen. Ich kann Ihnen eines sagen: Keinem Deutschen geht es schlechter, weil zu uns Menschen aus Not gekommen sind.
({10})
Der Mist, den Sie hier erzählen, der Hass, den Sie hier predigen, das ist Extremismus.
({11})
Mehr kann ich Ihnen zu diesem Thema und an dieser Stelle nicht sagen.
Wenn Sie von Willkommensparty sprechen, dann kann ich Ihnen nur sagen: Vielleicht begeben Sie sich gelegentlich einmal dorthin, von wo diese Menschen kommen.
({12})
Begeben Sie sich einfach einmal dorthin, gucken Sie sich an, was da los ist, warum und weshalb. Die 8 Milliarden Euro, die wir für Fluchtursachenbekämpfung ausweisen – der Etat für Entwicklungshilfe ist ja noch ein bisschen größer –, sind meines Erachtens sehr gut angelegtes Geld.
({13})
Ich sage Ihnen auch, warum: Wenn wir da nichts tun würden,
({14})
wären dort Not und Elend noch viel größer. Würden wir dort im Bereich Klimaschutz nichts tun, wäre das Thema dort noch viel gravierender.
Nehmen Sie die Situation hinsichtlich der humanitären Hilfe in Syrien, in Libyen. Warum haben sich denn gerade im Jahr 2015 viele auf den Weg gemacht? Dies geschah, weil die täglichen Leistungen, verteilt über die entsprechenden Hilfsorganisationen, auf 10 Dollar im Monat pro Person heruntergegangen sind, wenn ich es richtig im Kopf habe; 30 Dollar sind normal.
Herr Kollege Rehberg, erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich erlaube keine Zwischenfragen. – Die Ursache für die Migration war, dass die Menschen dort in den Lagern Hunger und Not gelitten haben. Deswegen ist es nicht nur ein Zeichen von Humanität, sondern ist es auch ein Zeichen von Klugheit, dass wir es zu einer solchen Situation wie in den Jahren 2015/16 nicht mehr kommen lassen werden. Das hat nichts damit zu tun, wie Sie das eben gepredigt haben, dass wir Menschen in Deutschland betrügen würden, dass die Flüchtlinge auf Kosten der Deutschen leben würden. Das alles, was Sie erzählen, ist Quatsch.
({0})
Meines Erachtens sollte jeder Einzelne von uns auch noch einen humanitären Anspruch haben. Auch das Bundesverfassungsgericht hat davon gesprochen, dass dieser Anspruch ein Menschenrecht ist.
({1})
Was Ihren Antrag betrifft, kann ich Ihnen nur sagen: Da müssen Sie schon einmal 10 800 Kommunen fragen. Die Daten liegen nur dort vor. Oder Sie fragen bei den Finanzverwaltungen der Länder bzw. bei den Ländern selbst nach. Ich kann Ihnen nur dringend raten: Die Unterlagen, die mir zur Verfügung stehen – die Unterrichtung der Bundesregierung, der Bericht der Migrationsbeauftragten, der Bericht der Bundesagentur für Arbeit –, reichen mir aus.
Herr Curio, eine letzte Bemerkung: Sie sprechen hier in Ihrer Pressemitteilung davon, wie groß die „Verwertbarkeit“ der Migranten ist.
({2})
Verwertbarkeit, welch ein Begriff für Menschen. Wissen Sie, in Vorbereitung dieser Rede war ich wirklich positiv überrascht, wie viele Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten mittlerweile in Beschäftigung gekommen sind. Das ist eine sehr, sehr positive Entwicklung. Dass das schwierig wird, wussten wir wohl alle im Herbst 2015. Herr Curio, ich glaube, dass Sie sich wirklich einmal ganz in Ruhe überlegen sollten, welche Auswirkungen Ihre Rede im Netz und letztendlich möglicherweise auch auf der Straße hat.
({3})
Herzlichen Dank.
({4})
Vielen Dank, Herr Kollege Rehberg. – Nächster Redner ist für die FDP-Fraktion der Kollege Konstantin Kuhle.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Flüchtlingspolitik prägt die politischen Debatten in Deutschland seit dem Jahr 2015. Ja, die Flüchtlingspolitik hat zu administrativen und finanziellen Belastungen in Deutschland geführt, von denen wir nicht wollen, dass sie sich wiederholen.
Erstes Beispiel ist die Personalpolitik des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. Da sind gut ausgebildete Mitarbeiter vor die Tür gesetzt worden. Dann sind für die gleichen Aufgaben neue Mitarbeiter eingestellt worden; und am Ende hatte niemand mehr einen Überblick über die Personalsituation im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.
Zweites Beispiel sind die Vorleistungen, in die viele Kommunen gegangen sind. Da sind Ausgaben für die Unterbringung getätigt worden. Da sind Container angeschafft worden, die am Ende nicht gebraucht worden sind. Da sind Ausgaben getätigt worden, und danach mussten die Kommunen lange warten, bis sie erstattet worden sind. Meine Damen und Herren, wir wollen, dass auch das sich nicht wiederholt.
Ein drittes Beispiel ist eine finanzielle Situation, die sich nicht wiederholen soll: die intransparente Asylrücklage der Bundesregierung. Auch über dieses Thema wollen wir sprechen, müssen wir sprechen. Auch das darf nicht zum Regelfall werden.
Um all diese Situationen zu verhindern und das Vorgehen in Zukunft anders auszugestalten, brauchen wir eine geregelte Flüchtlings- und Migrationspolitik. Das muss die Antwort sein; das brauchen wir.
({0})
Dafür gibt es übrigens hier im Deutschen Bundestag eine große Mehrheit.
Es gibt allerdings, meine Damen und Herren, eine Fraktion im Deutschen Bundestag, die überhaupt kein Interesse an einer geregelten Migrationspolitik hat, und das ist die AfD-Fraktion. Denn die AfD-Fraktion braucht eine ungeregelte Migrationspolitik wie die Luft zum Atmen.
({1})
Damit Herr Curio sich hierhinstellen kann und seine Texte vorlesen kann, braucht die AfD eine ungeregelte Migrationspolitik. Es gab kaum ein Thema, das Sie angesprochen haben, das nicht mit dem Thema Migration zu tun haben soll. Sie haben Bildung erwähnt, Rente, Wohnen, Verkehr – da war nichts dabei, was nach Ihrer Auffassung, nach dem, was Sie hier vorgetragen haben, nicht die Schuld von Ausländern sein soll. Das ist doch absurd, wie das hier in Verbindung zueinander gesetzt worden ist.
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Das hat mit diesem Thema nichts zu tun. Deswegen werden wir mit einer großen Mehrheit im Deutschen Bundestag Ihnen diese Strategie nicht durchgehen lassen, meine Damen und Herren.
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Ich will Ihnen was sagen: Deutschland wird sich verändern. Deutschland wird sich verändern, egal ob Flüchtlinge kommen oder nicht. Deutschland wird in vielen Jahren anders aussehen, unabhängig davon, ob die Migrationspolitik auf die eine oder auf die andere Art und Weise gestaltet wird. Ja, wir brauchen eine andere Migrationspolitik, um eine Eskalation beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu verhindern. Wir brauchen eine andere Flüchtlingspolitik, um die Kommunen zu entlasten. Wir wollen keine erneute Asylrücklage. Aber am demografischen Wandel in Deutschland mit all seinen Implikationen für das Thema Pflege, für das Thema Wohnen ändert das Thema Flüchtlinge doch überhaupt nichts.
Am Thema Digitalisierung mit all seinen Implikationen – Veränderung der Arbeitswelt und Veränderung des Lernens – ändert das Thema Ausländer, das Thema Migration überhaupt nichts. Wie Sie versuchen, alle Veränderungen in der Gesellschaft auf das Thema Migration zurückzuführen: Da muss den Menschen früher oder später erkennbar werden, dass hier eine politische Strategie dahintersteht. Diese politische Strategie wird glücklicherweise von der Mehrheit des Deutschen Bundestages abgelehnt.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank, Herr Kollege Kuhle. – Nächster Redner ist für die SPD-Fraktion der Kollege Helge Lindh.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mir die schmerzhafte Tätigkeit zugemutet, mir die Pressekonferenz der AfD zur Vorstellung dieses Antrages anzuschauen. Dort trugen Sie, Herr Curio, Ihr Manuskript mit scheinbarer Nüchternheit vor. Heute haben Sie die Aggro-Version präsentiert. Ich stelle aber fest, dass dieser Goebbels-Verschnitt schlecht war.
({0})
Es tut mir leid; das ist leider nicht für ein Kompliment hinreichend gewesen.
Auf einem Plakat des Rasseamtes der NSDAP aus dem Jahr 1938, zu finden als Quelle im Deutschen Historischen Museum, findet sich, passend zu einer entsprechenden Abbildung, folgende Aufschrift – ich zitiere –: „60 000 RM kostet dieser Erbkranke die Volksgemeinschaft auf Lebenszeit“. Zweiter Satz – ich zitiere –: „Volksgenosse – das ist auch Dein Geld“. Wer solche Anträge stellt wie die AfD-Fraktion, wer solche Reden hält, weiß, in welche Tradition er sich einreiht, nämlich in diese Tradition.
({1})
Für uns demokratische Fraktionen hier im Parlament bemisst sich die Würde des Menschen danach, was er ist, egal wo er herkommt. Der Wert des Menschen ist begründet in ebendieser Würde. Für die AfD-Fraktion bemisst sich offensichtlich der Wert des Menschen, sofern er einen Migrationshintergrund hat, geflüchtet ist oder aus anderen Gründen hierhergekommen ist, an den Kosten, die er verursacht, und an seiner Nützlichkeit und Verwertbarkeit. Das ist der fundamentale Unterschied, von dem wir sprechen.
({2})
Des Weiteren stelle ich fest – der Applaus war im Übrigen durchaus berechtigt –, dass Sie in Ihrem Antrag in einem scheinbar klugen Manöver davon schreiben, dass diejenigen, die unter Verweis auf sogenannte humanitäre Gründe hierherkommen würden, von Ihnen nur noch „Migranten“ genannt werden. Das ist im Sinne der Transparenz, die Sie ja für sich beanspruchen, sehr transparent; es ist nämlich durchschaubar dämlich, dass Sie einfach Flüchtlinge in Migranten umbenennen wollen.
Eine dritte Eigentümlichkeit finde ich in Ihrem Antragspaket. Ich erinnere mich daran – ich habe selbst damals gesprochen –, dass Sie zum Beispiel in Ihrem Antrag zu Grenzkontrollen im März 2018 groß forderten, man solle viel mehr in die Fluchtursachenbekämpfung investieren. Und jetzt skandalisieren Sie die Kosten der Fluchtursachenbekämpfung. Lesen Sie doch wenigstens Ihre eigenen Anträge, um nicht solche Dummheiten und logischen Inkonsistenzen zu produzieren!
({3})
All das wäre Grund genug, diesen Antrag in den Orkus des Vergessens zu verdammen. Dann aber komme ich letztlich doch zu einem anderen Schluss. Ich habe nämlich die Zahlen gesehen. Ich sah, dass mittlerweile von denen, die in den letzten Jahren aus den Hauptherkunftsländern zu uns gekommen sind, 431 000 in Arbeit sind – es sind Zahlen von 2019 –, 357 000 davon in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung. Deutlich über 33 Prozent sind mittlerweile in Arbeit. Das ist weit mehr, als wir noch vor Jahren erwartet haben.
({4})
Ich stelle in vielen Projekten fest, wie Geflüchtete hoch engagiert sind, um Deutschland etwas zurückzugeben, wie sie es sagen.
Deshalb ist mein Schluss jetzt, dass ich Ihnen für Ihren Antrag dankbar bin und Sie auffordere, dass wir mal transparent und nüchtern eine Aufstellung machen.
({5})
Beginnen wir mit der Aufstellung! Da Sie mit Ihrem Antrag sämtliche Behörden auf Landes-, Bundes- und kommunaler Ebene für Monate beschäftigen würden, übertrage ich Ihnen die Aufgabe, weil Sie sich ja im Bereich Rechtsextremismus und Migration so gut auskennen, diese Aufstellung zu machen.
({6})
Was beinhaltet diese Aufstellung? Sie beinhaltet sämtliche Kosten, die durch rechtsextreme Täter, durch Verletzungen, durch Traumata bei Opfern von Rechtsextremismus und Rechtspopulismus in diesem Land verursacht wurden. Sie umfasst sämtliche Kosten, die rechtspopulistische Abgeordnete mit ihren Angehörigen und ihren Mitarbeitern in sämtlichen deutschen Parlamenten dem deutschen Staat verursachen.
({7})
Diese Aufstellung beinhaltet alles, was Migranten in diesem Land seit Gründung der Bundesrepublik als Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter, als Geflüchtete erarbeitet haben.
Ich erwarte von Ihnen auch, in dieser Aufstellung sauber aufgeschlüsselt, dass Sie sämtliche Leistungen von Ausländerinnen und Ausländern in deutschen Krankenhäusern, in Pflegeeinrichtungen aufzählen: Da waren es nämlich Vietnamesinnen und Vietnamesen, Südkoreanerinnen und viele andere aus unterschiedlichen Ländern, die sich gekümmert haben, die Menschen, auf Deutsch gesagt, den Hintern abgewischt haben und die das auch tun werden, selbst wenn Rechtspopulisten und Rechtsextreme im Krankenhaus und in den Pflegeeinrichtungen liegen.
Ich erwarte von Ihnen auch, dass Sie genau auflisten, was uns an Kosten entsteht für den Ausbau der Sicherheitsapparate, für die Stärkung des Verfassungsschutzes – alles nur verursacht durch Sie und die Gesinnung, die Sie in diesem Land verbreiten.
({8})
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.
Abschließend: Ich bin zutiefst überzeugt, dass dann, wenn wir diese Rechnung aufmachen und die Leistungen von Migrantinnen und Migranten in diesem Land den Opportunitätskosten zur Bekämpfung des Rassismus, die Sie verursachen, gegenüberstellen, das Ergebnis ganz eindeutig sein wird; und es wird für die Demokratinnen und Demokraten in diesem Haus sprechen, die die Würde des Menschen in seinem Dasein sehen, sie nicht nach seinem Migrationshintergrund bemessen und die den Menschen nicht „verwerten“ wollen gemäß seinen Kosten.
Vielen Dank.
({0})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch, Fraktion Die Linke, das Wort.
({0})
Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir als Linke fordern mehr Transparenz von der Bundesregierung. Wir wollen endlich konkrete Angaben zur Steuerhinterziehung der Vermögenden. Wir wollen wissen, wie es um die maßlose Verschwendung bei der Bundeswehr bestellt ist. Und wir wollen Auskunft darüber, wie der Verfassungsschutz illegal Geld dafür ausgegeben hat, rechtsterroristische Gruppen zu unterstützen. Da stoßen wir auf eine Mauer des Schweigens. Das nehmen wir nicht hin, meine Damen und Herren.
({0})
Ich glaube, die Öffentlichkeit sollte wissen, was die Bundesregierung nun selbst zu den sogenannten Flüchtlingskosten rechnet: die weltweiten Auslandseinsätze der Bundeswehr mit Personalausgaben, Verwaltungsausgaben, Erhaltung von Wehrmaterial, militärische Beschaffung. Wie absurd ist das denn! Selbst der Titel „Trennungsgeld, Fahrtkostenzuschüsse sowie Umzugskostenvergütungen“ fließt in die Berechnung der sogenannten Flüchtlingskosten mit ein. „Das kannste dir nicht vorstellen“, sagt man bei uns in Berlin. Ich finde das wirklich absurd. Damit lenkt man nämlich die Hetze und den Hass der Menschen auf die Geflüchteten, und das darf nicht sein, meine Damen und Herren.
({1})
Ich sage auch ganz deutlich: Die Bundeswehr bekämpft in Afghanistan keine Fluchtursachen. Sie ist mit dafür verantwortlich, dass Menschen aus Afghanistan nach Deutschland flüchten. Deshalb fordern wir den sofortigen Rückzug der Bundeswehr aus Afghanistan, meine Damen und Herren.
({2})
In diesen von der Bundesregierung selbst so bezeichneten Flüchtlingskosten sind also 8,3 Milliarden Euro für verdeckte Kriegsführung eingeplant, und das ist der größte Posten unter den öffentlich so genannten Flüchtlingskosten. Ich finde, Kosten für Auslandseinsätze dürfen da nicht eingerechnet werden. Das verhetzt die Bevölkerung in unserem Land, und dem stellen wir uns entgegen.
({3})
Ich kann nur sagen: Wenn die antragstellende Fraktion die Flüchtlingskosten drastisch senken will, dann muss sie im Bundestag nur konsequent gegen jeden Kriegseinsatz der Bundeswehr stimmen. Das wäre der richtige Weg.
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Meine Damen und Herren, das Problem ist nun – ich will das noch einmal ganz deutlich sagen –, dass die Bundesregierung selbst völlig überhöhte Flüchtlingskosten veröffentlicht. Das ist ein Spiel mit dem Feuer; denn Menschen mit geringem Einkommen fragen sich, warum die Bundesregierung kein Geld für armutsfeste Renten, für alleinerziehende Mütter und für preiswerte Wohnungen bereitstellt, aber Geld für Geflüchtete.
Darum fordern wir als Linke ehrliche Zahlen; denn mit den manipulierten Zahlen wird die Konkurrenz unter den armen Menschen verstärkt. Die Menschen sollen nicht sehen, dass die Bundesregierung die Vermögenden in unserem Land bevorzugt. Wir sagen: Mit diesen falschen Zahlen wird der soziale Friede zerstört und werden die Rechtsextremen, wie wir das gerade gesehen und gehört haben, gestärkt. Dem muss ein Ende gesetzt werden.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Lötzsch. – Als nächste Rednerin hat die Kollegin Luise Amtsberg, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als wenn es denen tatsächlich ums Geld ginge! Als wenn die Intention dieses Antrages tatsächlich von der Sorge um die richtige Verwendung von Steuergeldern getragen würde! Natürlich nicht. Nein, Ihnen von der AfD geht es nicht ums Geld, Ihr Antrag hat eine politische Intention.
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Sie wollen – dafür hätten Sie keine acht Seiten gebraucht – doch eigentlich nur sagen: Wir wollen keine Zuwanderung, wir wollen keine Flüchtlinge aufnehmen in diesem Land. – Das Kostenargument ist vorgeschoben.
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In dem Antrag nennt die AfD zum Teil ja selbst die Zahlen, nach denen sie fragt. Sie zitieren selbst die Quellen, in denen steht, was der Bund zahlt. Auch die Landeshaushalte weisen die unmittelbaren Kosten aus.
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Sie brauchen eigentlich nur nachzulesen. Das würde aber – das muss man erwähnen – natürlich nicht zu Ihrer Erzählung passen: „Der Staat vertuscht hier doch irgendwas!“, „Die Bundesregierung will doch gar nicht, dass der Bürger die echten Zahlen kennt!“ Im Übrigen – wir kennen diese Methode, sie ist nicht neu –: Das hat Alice Weidel schon 2018 in Bezug auf den EU-Haushalt versucht; aber das nur am Rande.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, worum es in dem Antrag eigentlich geht, sind die von der AfD so getauften indirekten Kosten der Migrationspolitik. Die neue Erzählung der AfD: die indirekten Kosten.
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Darunter sollen zum Beispiel auch die Kosten für die Abfallwirtschaft fallen. Im Ernst jetzt? Wollen Sie künftig dann auch, dass die Kosten für die Sanierung öffentlicher Gebäude, in die auch Geflüchtete gehen, anteilig angerechnet werden, oder die für die Sanierung von Gehwegen, weil auch diese von geflüchteten Menschen benutzt werden? Das kann ja wohl nicht Ihr Ernst sein.
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– Ich werde noch konkret, da machen Sie sich mal keine Sorgen. – Als indirekte Kosten führt die AfD übrigens auch Projekte an, die die Akzeptanz der Migration erhöhen sollen.
Da wir über Kosten, über Finanzen reden, fällt mir hier eine ganz konkrete Einsparmöglichkeit ein, nämlich wenn Sie aufhören würden, den ganzen Tag Stimmung gegen geflüchtete Menschen zu machen. Kosten für Demokratieprojekte sind nämlich Kosten, die Sie mit Ihrer Politik doch nur in die Höhe treiben.
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Und was ist eigentlich mit den Kosten, die durch Forderungen in Ihrem Antrag entstehen, für die Hunderten von Stellen und Tausenden Arbeitsstunden zur Erhebung von Daten, die zum Teil gar nicht messbar sind? Wissen Sie, keiner hält Sie davon ab, inhaltlich zu kritisieren, wenn Sie finden, dass in der Asylpolitik Geld falsch ausgegeben wird oder falsche Prioritäten gesetzt werden. Wir machen das auch, zum Beispiel in Bezug auf AnkER-Zentren, darauf, dass es zu wenig Sprachkurse gibt, dass Chancen verspielt werden – Arbeitsverbote, fehlender Spurwechsel –, oder wenn Kosten entstehen, die nicht notwendig sind, zum Beispiel bei den Verwaltungsgerichten aufgrund schlechter BAMF-Bescheide. Meine Liste ist lang!
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Aber die Mühe machen Sie sich gar nicht; denn Sie kritisieren – und das ist das Wichtige – einen politischen Grundsatz. Die Aufnahme von Geflüchteten lehnen Sie kategorisch ab. Die historische Verantwortung dieses Landes hin oder her: Sie lehnen das ab. Und mit diesem Antrag versuchen Sie, anhand von Kosten zu argumentieren, um das zu verwässern.
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Ich finde es aber eigentlich gar nicht so schlecht, dass wir mal über Kosten reden; denn das gibt mir die Möglichkeit, zu Ihrer Politik zwei Dinge zu sagen. Erstens. Keine Flüchtlings- und Integrationspolitik ist teurer als die der AfD. Zweitens. Es ist offensichtlich, dass Sie auf bestimmte Probleme in dieser Gesellschaft überhaupt keine Antworten haben. Rechnen Sie den Menschen doch mal vor, was passiert, wenn Ihre Forderung nach geschlossenen deutschen Grenzen Wirklichkeit wird, wenn wir nicht mehr Teil des EU-Binnenmarktes sind, was das für unser Land wirtschaftlich bedeutet.
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Wenn es nach Ihnen ginge, wären diese sogenannten indirekten Kosten noch viel, viel höher. Sie sind es doch, die Geflüchteten jede gesellschaftliche Beteiligung und Integration versagen, diesen Menschen und unserem Land die Chancen versagen, die damit einhergehen, denen Restriktionen wie Arbeitsverbote nicht weit genug gehen, denen die Aufwendungen für Sprachkurse zu hoch sind. Sie sind es, die geflüchteten Menschen absprechen, überhaupt echte Gründe zu haben, hier zu sein; das wird in Ihrem Antrag doch total klar.
Die größte Unverschämtheit aber ist, dass sämtliche Antworten auf drängende Fragen ausbleiben. Sie meckern, und Sie reden dieses Land schlecht; das tun Sie den ganzen Tag. Ich weiß, dass Sie von der AfD meine Generation und jünger nicht wirklich interessiert; das habe ich schon gelernt.
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Deshalb helfe ich Ihnen jetzt gern mal auf die Sprünge: Die direkten Auswirkungen Ihrer isolationistischen Politik würden doch vor allem die Jüngeren in diesem Lande zu spüren bekommen.
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Deshalb: Haben Sie verdammt noch mal den Hintern in der Hose, dann auch auszubuchstabieren, was Ihre Antworten sind und bedeuten. Sie lehnen Zuwanderung ab. Was ist denn Ihre Antwort auf den demografischen Wandel, auf die fortschreitende Überalterung unserer Gesellschaft, auf den Mangel an Fach- und Hilfskräften? Sorry, aber das ist genau das, was die jüngeren Menschen in diesem Land interessiert; denn für sie ist es existenziell.
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Sie zielen in Ihrem gesamten Antrag – das finde ich auch interessant – sehr auf Ballungsräume ab; er ist komplett fokussiert auf die wachsenden Städte. Sie vergessen den ländlichen Raum komplett. Es gibt Gegenden in Deutschland, denen es nicht gut geht. Da gibt es nicht nur keine Flüchtlinge, sondern da ziehen auch alle anderen, gerade die Jungen und insbesondere junge Frauen, weg. Geschäfte schließen, die soziale Infrastruktur geht verloren, und zurück bleibt große Frustration. Ich verstehe das. Zuwanderung ist in diesen Gebieten keine Frage des Wollens, sondern sie ist eine Notwendigkeit und eine Chance. Gute Politik, die alle mitdenkt, würde das erkennen.
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Mal abseits davon – und damit ende ich dann auch –: Ihr Antrag trieft ja nur so von Verwertungslogik. Ich finde, es ist, ehrlich gesagt, nicht mit Geld aufzuwiegen, Menschen vor dem Tod im Krieg zu retten.
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Aber das nur als abschließender Impuls; vielleicht kommt er ja an.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Amtsberg. – Nächster Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Alexander Throm.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Um was geht es der AfD eigentlich?
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Nach außen hin um Zahlen, um angebliche Transparenz. Aber in der Tat geht es Ihnen doch eigentlich nur darum, den Keil noch ein bisschen tiefer in unsere Gesellschaft hineinzuklopfen, die einen, die Inländer, gegen die anderen, die Ausländer, auszuspielen und damit Ihr politisches Spiel zu betreiben.
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In der Tat: Sie brauchen derartige Anträge, und Sie brauchen diese Spaltung in der Gesellschaft für Ihr Politikmodell.
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Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der AfD-Fraktion?
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Nein. Jetzt lassen Sie mich doch erst mal ein bisschen ausführen, und dann können wir darauf gerne zu einem späteren Zeitpunkt zurückkommen.
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Der Antrag spricht ausschließlich von den Lasten der Migration, nicht aber vom möglichen Nutzen, den die Migration durchaus auch hat. Und Sie schreiben nicht nur von den Kosten der Flüchtlingspolitik, sondern Sie schreiben ausdrücklich auch von den finanziellen Lasten der Migrationspolitik. Diese umfasst aber deutlich mehr als nur die Bereiche Asyl und Flucht, wie wir sie in den letzten Jahren erlebt haben. Deswegen sollten wir etwas differenzierter an die Sache herangehen, ohne die Scheuklappen, die Sie ganz offensichtlich aufgesetzt haben.
Migration ist nämlich in erster Linie Arbeitsmigration. Diese haben wir in den 70er-Jahren mit den sogenannten Gastarbeitern von uns aus, von Deutschland aus initiiert. In den letzten Jahren sind allein über 2,7 Millionen EU-Ausländer nach Deutschland gekommen und tragen hier mit ihrer Arbeit zur Sicherung und Stärkung unseres Wirtschaftsstandorts bei.
Egal auf welche Branche wir momentan schauen, wir hören immer vom Fachkräftemangel. Deswegen haben wir letztes Jahr das Fachkräfteeinwanderungsgesetz beschlossen. Auch das trägt zum Nutzen und zur Stärkung unserer Wirtschaft bei; denn nur, wenn wir entsprechende Fachkräfte in Deutschland haben, wenn wir eine gewisse Arbeitsmigration haben, auch im nicht ganz hochqualifizierten Bereich, können wir den Wohlstand für zukünftige Generationen sichern. Dann kommen die Menschen, die wir brauchen, und nicht nur die Menschen, die uns brauchen. Also, wir sollten das durchaus differenzierter betrachten.
Sie haben natürlich Ihre Klientel im Blick, deren Vorurteile Sie mit Ihrem Antrag bedienen. Sie sagen: Den Deutschen wird etwas genommen, weil sehr viele Flüchtlinge gekommen sind. – Das ist ein sehr durchschaubares Spiel. Ja, natürlich hat Migration auch Lasten zur Folge. Das sind aber keineswegs Lasten, die ausschließlich durch die Flüchtlinge, die kommen, schutzberechtigt oder nicht, entstehen; vielmehr werden Integrationskurse, Sprachkurse und vieles andere auch für Menschen aus den EU-Staaten angeboten, genauso für reguläre Arbeitsmigranten oder Spätaussiedler. Insofern lässt es sich nicht eins zu eins aufrechnen.
Dann gibt es diejenigen, die zu uns kommen, weil sie verfolgt werden, weil sie aus einem Kriegsland kommen, weil sie Schutz brauchen, Schutz suchen. Man kann, glaube ich, nicht alles in Euro und Cent ausrechnen, nicht überall eine Bilanz ziehen und den volkswirtschaftlichen Nutzen herausrechnen; vielmehr ist eines gefragt, was Ihnen offensichtlich komplett abgeht, und das ist Humanität.
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Ich glaube, wir, die übrigen Fraktionen hier im Parlament, haben diese Humanität, wenn auch in unterschiedlichen Ausprägungen, was Detailfragen betrifft. Aber wir sind uns im Grundsatz einig, dass wir denjenigen, die Schutz brauchen, diesen auch gewähren,
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ja, auch dann, wenn er für unseren Staat Lasten und Kosten verursacht.
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Viele derer, die in den letzten Jahren gekommen sind – das ist angesprochen worden –, tragen inzwischen durch ihre Arbeit zum volkswirtschaftlichen Nutzen bei. 40 000 junge Menschen aus den Hauptherkunftsländern der Asylbewerber machen eine Ausbildung. Rund 360 000 Schutzberechtigte gehen einer sozialversicherungspflichtigen Arbeit nach. Das ist mehr, als wir erwartet haben, aber – das sage ich ganz offen – noch nicht so viel, dass wir uns aufs Ruhekissen legen können. Es gibt noch knapp 600 000 Menschen, die erwerbsfähig sind, die als Flüchtlinge anerkannt sind, aber im SGB-II-System leben. Da müssen wir durchaus mehr machen. Diese müssen wir motivieren; wir müssen sie besser an die Arbeit heranführen, etwa auch, indem wir für diesen Personenkreis in einem gewissen Umfang verpflichtende praktische Einheiten einführen, wie es beispielsweise in ähnlicher Form in Schweden und anderswo auch schon gemacht wird.
Ich würde mir von Ihnen konstruktive Vorschläge wünschen und nicht eine solche Debatte, die Sie hier heute vom Zaun brechen, einfach nur, um den Zwiespalt in unserer Gesellschaft noch mehr zu schüren. Konstruktive Vorschläge sind von Ihnen nicht zu erwarten. Alles, was Sie hier schreiben, beantragen, aber und auch ausgeführt haben, ist ohne weiteren Erkenntniswert. Deswegen werden wir Ihren Antrag ablehnen.
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Herzlichen Dank. – Nächster Redner ist für die FDP-Fraktion der Kollege Christoph Meyer.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man Ihren Antrag zu Ende liest, dann stellt man sehr schnell fest, dass er von Fehlern, Falschdarstellungen und falschen Behauptungen nur so trieft und strotzt. Ich möchte das, Herr Curio, an einem Beispiel festmachen. Sie sind Abgeordneter aus Berlin. Sie sind noch nicht mal in der Lage, in diesen Antrag hineinzuschreiben, dass der viel diskutierte Mietendeckel, der vom rot-rot-grünen Senat eingeführt werden soll, nicht zum 1. Januar 2020 in Kraft getreten ist, sondern erst später in Kraft tritt. Ich glaube, das ist sehr bezeichnend. Wenn man sich die einzelnen Themenfelder, die die Kollegen hier schon angesprochen haben, anschaut, wird man, wenn man Fachleute aus den jeweiligen Fachgebieten hier im Haus befragt, bei jedem einzelnen Thema sehr schnell Fehler und Falschdarstellungen identifizieren. Das einzige Ziel von Ihnen ist – das wurde bereits häufiger gesagt –, weiter Angst zu schüren.
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Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. Ich bin Herrn Rehberg sehr dankbar dafür, dass er zum einen sehr deutlich formuliert hat, dass die Zahlen vorliegen, und zum anderen, was Sie mit diesem Antrag tatsächlich bezwecken. Wenn man sich die Diktion anschaut – hart arbeitende deutsche Bürger, keine Gegenrechnung von Migrationserfolgen –, stellt man fest: Überall da, wo Sie selbst nicht genau wissen, wie Ihre Behauptungen mit Zahlen unterlegt werden, kommen Sie mit Gutachteraufträgen daher, mithilfe derer Sie ein Zahlenwerk definieren wollen. Das ist für einen Haushälter – es haben hier sehr viele Innenpolitiker gesprochen – dann doch ein bisschen viel. Wir haben zwar durchaus das Gefühl, dass wir an der einen oder anderen Stelle etwas mehr Transparenz im Zahlenwerk benötigen, aber sicherlich nicht so.
Wir müssen darüber reden, dass der Kontrollverlust, der uns im Jahr 2015 alle bewegt hat, so nicht mehr stattfindet;
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aber das bedeutet nicht, dass wir im Jahr 2020 so einen Antrag ernsthaft beraten können, dessen Mehrwert gleich null ist.
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Deswegen werden wir diesen Antrag ablehnen.
Wesentlich wichtiger wäre, dass wir uns über die Flüchtlingsreserve oder ‑rücklage unterhalten und darüber reden, dass die Schatztruhe von Rot-Schwarz oder Schwarz-Rot im nächsten Jahr wieder praller gefüllt ist, als ursprünglich gedacht, und was damit gemacht werden soll. Das wäre konstruktive Arbeit; aber dazu sind Sie ja offensichtlich nicht in der Lage. Deswegen werden wir diesen Antrag ablehnen.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die SPD der Kollege Professor Dr. Lars Castellucci.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Migration ist erst mal ein ziemlich normaler Vorgang. Das kann man an dem Antrag der AfD auch erkennen; denn er wurde unter anderem eingebracht von Petr Bystron, geboren in der Tschechoslowakei, und Frau Cotar und Herrn Frohnmaier, geboren in Rumänien.
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Aber er kostet uns etwas, zum Beispiel kostet er uns hier gerade Lebenszeit wegen der immer gleichen, absurden und menschenverachtenden Anträge, die Sie hier einbringen.
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Dann gibt es noch andere Personen: Frau Petry, Herrn Mieruch und zuletzt auch Herrn Herrmann. Sie sind weitergewandert. Sie können also nicht mal Sekundärmigration in Ihrer eigenen Fraktion aufhalten.
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Das zeigt: Ja, Menschen suchen ein besseres Leben, und der erste Schritt zu einem besseren Leben ist ein Leben ohne die AfD.
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Jetzt kommen wir zum Ernst der Sache. Dieser Ernst kommt in einer Zahl zum Ausdruck: Die durchschnittliche Geburtenrate in Europa liegt bei 1,6. Das zeigt, wir sind in ganz Europa auf Einwanderung angewiesen.
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Wenn unser Kontinent vor sich hin schrumpft und altert, werden wir unseren Wohlstand nicht halten können, dann ist die Pflege, dann sind die Sozialversicherungen der künftigen Generationen nicht gesichert. Deutschland und Europa brauchen Einwanderung.
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Das ist die Wahrheit. Es kommt einzig und allein darauf an, dass wir sie gerecht und gut gestalten.
Herr Curio, Sie betreiben hier nicht nur Hetze, sondern Sie verbreiten auch die Unwahrheit. Das Hamburger Modell ist geradezu vorbildlich; denn hier werden nicht Menschen mit geringem Einkommen und Geflüchtete gegeneinandergestellt, sondern alle haben den gleichen Anspruch auf Mobilität, mit dem Unterschied, dass die Geflüchteten das von ihrem Taschengeld zwangsweise abgezogen bekommen. Ich halte das Hamburger Modell für ein gutes Modell. Sie sollten sich besser informieren, bevor Sie hier Falschbehauptungen verbreiten.
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„Wir sind auf Migration angewiesen, aber die Flüchtlinge …“, könnte man sagen. Ich bin sehr dankbar, dass Folgendes von meinen Vorrednern schon herausgearbeitet worden ist. Ich bin so erzogen: Wenn jemand Hilfe braucht und du kannst helfen, dann hilf. Ich bin stolz und froh, dass unser Land helfen kann, in den letzten Jahren viel geholfen hat und das noch weiter tun wird.
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Ich bin der Bevölkerung dankbar, die das unterstützt.
Gleichzeitig können wir auf Erfolge zurückblicken, dass von den Menschen, die zu uns gekommen sind, schon 435 000 auf dem Arbeitsmarkt erfolgreich sein können, zu fast 90 Prozent in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung. Das zeigt: Die Geschichten können mit Krieg, mit Leid beginnen, aber wir haben miteinander die Chance, dass wir sie zum Besseren gestalten können. Das ist unser Anspruch. Daran arbeiten wird. Dafür bitte ich das ganze Haus um Unterstützung.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke die Kollegin Gökay Akbulut.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der AfD über die sogenannten finanziellen Lasten der Migrationspolitik ist wie alle anderen Papierkorbanträge der AfD fachlich falsch
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und reine rechtspopulistische Hetze, die wir uns hier immer wieder anhören müssen. Sie kreieren mit Ihrer Hysterie falsche Bilder und wollen den Leuten damit Angst machen. Ich selber betreue zahlreiche Einzelfälle. Eine Frau hat sich vor Kurzem bei mir gemeldet, die wir seit längerer Zeit betreuen. Maryam kommt aus Syrien und hat einen großen Teil ihrer Familie während des Krieges verloren. Maryam ist eine von denen, die fliehen mussten, die Sie jetzt hier als finanzielle Last abstempeln wollen. Es ist der reinste Hohn gegenüber Maryam, ihrer verstorbenen Familie und allen Menschen, die aus Kriegsgebieten fliehen, dass Sie so über sie herziehen. Das ist schlichtweg eine Schande.
({1})
Maryam steht kurz davor, ihr Studium zu beenden, und wird anschließend anfangen, zu arbeiten. Im Gegensatz zur AfD ist sie eine Bereicherung für unsere Gesellschaft.
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Wir als Linksfraktion stehen an der Seite derer, die aus Kriegsgebieten fliehen und Unterstützung und Hilfe brauchen. Sie sprechen von einer Verschleierung der Kosten und fordern eine Offenlegung der Daten. Die Kosten sind weitestgehend zugänglich, wie auch hier erklärt worden ist. Deutschland hat die Aufnahme und Versorgung von Flüchtlingen mit einer schwarzen Null im Haushalt bewältigt. Die migrantische Bevölkerung in Deutschland arbeitet und leistet ihren Beitrag zur Finanzierung des Steuer- und Rentensystems. Wenn Sie in Ihrem Antrag von harter Arbeit sprechen, dann muss man sagen: Es sind in erster Linie Flüchtlinge, Migranten und Migrantinnen, die im Niedriglohnsektor unter schwierigsten Bedingungen arbeiten.
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Wer arbeitet denn im Baugewerbe, in der Gastronomie oder im Reinigungsgewerbe in Deutschland? Wer putzt den Bundestag? Das können Sie sich morgens hier anschauen. Es ist genau dieser rechtspopulistische Diskurs, der hier von Ihnen geschürt wird, der mitverantwortlich ist für die Restriktionen im Bereich Asyl- und Migrationspolitik der Bundesregierung der letzten Jahre. Das muss sich ändern.
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Wenn man von Kosten spricht, darf man auch die Kosten der Abschreckung nicht vergessen. Die Abschreckungspolitik der Bundesregierung kommt den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern teuer zu stehen. Die Unterbringung in AnkER-Zentren und anderen Lagern kostet beispielsweise ein Vielfaches mehr als eine dezentrale und integrationsfördernde Unterbringung in Wohnungen.
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Meine Damen und Herren, wenn wir wirklich über Verschleierung von Kosten sprechen, dann müssen wir auch über die AfD sprechen. Ihre Parteispitze hat vor wenigen Tagen ein Gerichtsverfahren verloren, bei dem es um Ihre illegalen Parteispenden ging.
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Sie stellen sich hier ernsthaft hin, fordern Offenlegung, und gleichzeitig weiß Ihre eigene Parteispitze nicht, wo plötzlich bei Herrn Meuthen zum Beispiel 90 000 Euro herkommen, und Sie erzählen: Es gab damals keine professionelle Organisation.
Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss.
Sie gönnen den anderen Menschen nichts, nicht einmal den Familiennachzug zu ihren Angehörigen, und wollen rechtfertigen, dass in Ihrem Laden Freundschaftsdienste von 90 000 Euro okay sind. Sie sind schlichtweg verlogen und einfach menschenfeindlich.
Vielen Dank.
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Als nächster Redner hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Florian Oßner.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben gerade erst das Jahr begonnen, und schon fühlt man sich bereits wieder an den Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“ erinnert; denn wir debattieren wieder einmal einen offensichtlichen Schaufensterantrag der AfD-Fraktion zur Flüchtlingspolitik. Der augenscheinliche Zweck dieses Antrages ist es, den falschen Anschein zu erwecken, die Bundesregierung könnte nicht mit Geld umgehen. Dabei hat der Bund im fünften Jahr in Folge erhebliche Haushaltsüberschüsse zu verzeichnen, in 2019 sogar eine Rekordsumme von 13,5 Milliarden Euro. Statt des ständigen Nörgelns der AfD verdient das vielmehr das große Lob für das verantwortungsvolle Handeln unserer Haushälter und Finanzpolitiker der Großen Koalition.
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So schreiben Sie in Ihrem einleitenden Satz:
Die direkten und indirekten Kosten der sogenannten Flüchtlingsmigration für den deutschen Steuerzahler sind bis heute nicht umfassend dargestellt.
Hier muss man sagen: Das ist schon deshalb falsch, weil sich die Länder die Kosten ihrer Kommunen und ihre eigenen Kosten vom Bund erstatten lassen. Wir lassen unsere Kommunen nicht im Stich bei diesen oft sehr schwierigen Aufgaben.
Zu diesem Zweck erstellt aber das Bundesfinanzministerium einen jährlichen Flüchtlingskostenbericht, der auch jedem im Bundestag als Drucksache zugeht. Im Bericht benennt das Ministerium auch die Flüchtlingskosten, die direkt beim Bund entstehen. Insbesondere – das wird interessant – im Kostenblock Fluchtursachenbekämpfung sind auch Titel des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung enthalten – meine Vorredner sind darauf eingegangen, dass die AfD das immer gefordert hat –, die ganz unabhängig von Flüchtlingen in Deutschland anfallen würden, sofern Deutschland es als wichtig erachtet, sich der weltweiten Armutsprobleme anzunehmen. Aus meiner Sicht ist dies ein absolut wichtiger Punkt. Bundesminister Gerd Müller macht hier eine hervorragende Arbeit.
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Wir haben als CDU/CSU-Fraktion zusammen mit unserem Koalitionspartner in den letzten Jahren viel dafür getan, die Fluchtgründe zu bekämpfen. Der Erfolg ist messbar. Die Zahl der Schutzsuchenden ist hierzulande kontinuierlich zurückgegangen. Kamen 2015 noch knapp 890 000 Asylsuchende nach Deutschland, sank die Zahl im Jahr 2016 auf rund 280 000 und im vergangenen Jahr auf 111 000 Personen. Damit liegt die Zahl der Asylanträge etwa auf dem Niveau von 2014, dem Jahr vor Ausbruch der Flüchtlingskrise. Das ist im Wesentlichen auf zahlreiche Maßnahmen des Asylpakets I zurückzuführen: Das Asylverfahren wurde beschleunigt. Wir haben den Vorrang von Sach- vor Geldleistungen in Erstaufnahmeeinrichtungen. Abschiebungen werden grundsätzlich nicht mehr angekündigt. Die Strafbarkeit von Schleusern wurde verschärft, und Änderungen im Baurecht erleichtern die Unterbringung von Asylbewerbern.
Und es geht weiter mit dem Asylpaket II. Um nur wenige Beispiele zu nennen: So wurde der Familiennachzug für bestimmte Gruppen eingeschränkt, es wurden Aufnahmezentren zur Verfahrensbeschleunigung für Migranten ohne Bleibeperspektive aufgebaut, einen Leistungsbezug gibt es nur mehr am Zuweisungsort, und – letzter Punkt – Abschiebehindernisse aus gesundheitlichen Gründe wurden minimiert.
Das zeigt: Die unionsgeführte Bundesregierung hat alles dazu getan, die mehrfach zitierte Flüchtlingskrise von vor fünf Jahren erfolgreich in den Griff zu bekommen.
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Die globale Flüchtlingsproblematik wird uns jedoch auch im Jahr 2020 noch intensiv beschäftigen. Nach Angaben der UN-Flüchtlingshilfe waren im Jahr 2018 weltweit 70,8 Millionen Menschen auf der Flucht. Anders als die AfD versuchen wir, nicht mit Polemik, sondern mit rechtsstaatlichen Mitteln den vielfältigen Anforderungen gerecht zu werden; denn die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bekennt sich in ihrer Politik zu den Grundsätzen des christlichen Menschenbildes. Wir sind deshalb aufgefordert, Menschen zu helfen, die, verfolgt oder durch einen Bürgerkrieg, in Lebensgefahr geraten sind. Gleichzeitig können wir aber nicht die wirtschaftlichen und sozialen Probleme weltweit lösen, sondern mit klugen Ansätzen Hilfe zur Selbsthilfe leisten und damit Linderung für den Einzelnen im Herkunftsland schaffen.
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Aber auch nach dem christlichen Menschenbild ist die Freiheit des Einzelnen nicht grenzenlos. Flüchtlinge, die in Deutschland Aufnahme gefunden haben – und sei es nur auf Zeit –, müssen sich wie alle Bürger hierzulande an Recht und Gesetz halten. Integration erschöpft sich nicht darin, Deutsch zu lernen und für seinen Lebensunterhalt selbstständig zu sorgen. Ein Bekenntnis zu unserer Werteordnung, zu unserem Fundament einer rechtsstaatlichen Gesellschaft, gehört ebenfalls dazu.
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Wer bereit ist, sich in diesem Sinne zu integrieren, bekommt eine faire Chance in unserem Land, sodass er auch in Zukunft seinen Beitrag zu einer positiven Entwicklung unseres Landes leisten kann. Dafür ein herzliches Dankeschön, ein herzliches „Vergelts Gott!“.
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Vielen herzlichen Dank, Florian Oßner. – Einen schönen guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir kommen zur letzten Rednerin in dieser Debatte. Das ist Gülistan Yüksel für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren vor den Bildschirmen und auf den Tribünen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die AfD will wieder einmal über Migrationspolitik sprechen. Ob Ausgaben für Integrationsleistungen, Fluchtursachenbekämpfung oder Registrierungsverfahren – im Bundeshaushalt sind die einzelnen Positionen bereits seit Jahren feinsäuberlich aufgelistet. Darüber hinaus fasst ein jährlicher Bericht die Maßnahmen des Bundes zur Unterstützung im Bereich der Flüchtlings- und Integrationskosten zusammen. Die AfD fühlt sich trotz all der Kostenaufstellungen nicht umfassend informiert. Das ist verständlich; denn ein wichtiger Aspekt wird übersehen oder vielmehr unterschlagen: der Wert der Migration.
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Gerne komme ich dem Anliegen Ihres Antrags nach und erkläre Ihnen, wie wertvoll Migration ist: Mein Vater kam Mitte der 60er-Jahre wie viele andere Gastarbeiter nach Deutschland. Deutschland wurde zu einem Einwanderungsland und gleichzeitig für viele zur neuen Heimat, so auch für mich. Als achtjähriges Mädchen reiste ich aus der Türkei zu meinem Vater in das damals für mich noch sehr fremde Land: Deutschland. Mittlerweile ist bereits die vierte Generation der Gastarbeiter herangewachsen. Die Kinder und Enkel sind ein fester Teil der Bevölkerung. Sie leben meist bewusst mit zwei Kulturen in der Bundesrepublik, die offener und vielfältiger geworden ist. Sie gestalten dieses Land auf vielen Ebenen und in vielen Bereichen mit. Das ist wertvoll.
({1})
Die Lebenssituation der Geflüchteten ist natürlich ungleich dramatischer, fliehen sie doch vor Krieg, Vertreibung und Klimakatastrophen. Aber auch Geflüchtete gehören zu unserer Gesellschaft und leisten ihren Beitrag. So waren Ende letzten Jahres bereits 345 000 Menschen aus Asylherkunftsländern sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Viele engagieren sich darüber hinaus für andere. Auch das ist wertvoll.
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Insgesamt sind Migrantinnen und Migranten übrigens überdurchschnittlich gründungsaktiv. Sie stellen in Deutschland jeden fünften Gründer. Sie schaffen damit viele Arbeitsplätze und leisten einen Beitrag für unsere Wirtschaft. Auch das ist sehr wertvoll, meine Damen und Herren.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei allem wirtschaftlichen Nutzen ihrer Innovations- und Arbeitskraft dürfen wir Menschen jedoch niemals nur als Kostenfaktor sehen.
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Wer so denkt, führt ein trauriges Dasein. Wer sich stattdessen zum Wert der Solidarität bekennt, kann seinem Leben Sinn geben.
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Um es mit den Worten des französischen Philosophen Albert Camus zu sagen: „Gegen die Absurdität des Lebens hilft nur die menschliche Solidarität.“
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Heute gehören zu unserer Solidargemeinschaft in Deutschland Menschen aus mehr als 150 Nationen mit unterschiedlichen Kulturen, Religionen und Erfahrungen. Diese Vielfalt und Solidarität ist ein Gewinn für unser Land und macht uns stark.
Ich selbst lebe nun seit 50 Jahren hier. Ich bin hier zur Schule gegangen, habe hier meine Ausbildung absolviert, habe mir ein Arbeits- und Privatleben aufgebaut und mich politisch und gesellschaftlich engagiert. Heute bin ich Abgeordnete im Deutschen Bundestag. Ich bin stolz, mich für unser Land einsetzen zu dürfen. Ich bin auch stolz, Ihnen hier den Wert der Migration näherzubringen.
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Auch wenn Sie das nicht gerne hören wollen: Wir demokratischen Kräfte werden nicht aufhören, Sie daran zu erinnern, wie wertvoll eine vielfältige und solidarische Gesellschaft ist.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank Gülistan Yüksel. – Damit schließe ich die Aussprache.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Ansprüche an Mobilität werden immer komplexer. Wir müssen die Grenzen unserer Verkehrsmittel überwinden. Wir müssen Stadt und Umland gerecht werden. Wir müssen den unterschiedlichen Bedürfnissen auf kurzen und langen Wegen gerecht werden. Wir müssen die Mobilitätswünsche junger und alter Menschen berücksichtigen. Wir müssen individuelle Mobilitätslösungen finden. Die Antwort heißt: Forschung und Innovation. Das ist das Ziel des Antrags, den wir hier beraten. Ich möchte drei Kernpunkte nennen: Technologieoffenheit, Wertschöpfung hier in Deutschland und Offenheit für verschiedene Verkehrsmittel.
Deutschland hat hier eine sehr gute Position. Wir haben einen starken, international anerkannten Forschungsstandort. Wir haben innovative Unternehmen in der Industrie, aber insbesondere auch im Mittelstand. Und wir haben eine Regierung, die bereits viele Dinge auf den Weg gebracht hat. Ich darf aus dem Verkehrsministerium, dem Zuständigkeitsbereich von Andi Scheuer, das Programm mFUND nennen, das wir auf den Weg gebracht haben. Ich darf die Forschungsagenda „Nachhaltige urbane Mobilität“ von Anja Karliczek, Bildungsministerium, nennen. Ich darf beispielhaft den Aktionsplan „Forschung für autonomes Fahren“ nennen. Und ich darf die Wasserstoffstrategie nennen, die wir kürzlich angestoßen haben. Es gibt viele gute Projekte. Jetzt geht es darum, diese zu bündeln und zu vernetzen. Das ist ein Kernpunkt dieses Antrags. Wir wollen eine ressortübergreifende Strategie entwickeln.
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– Danke, Herr Röspel.
Ein weiterer Kernpunkt dieses Antrags ist die Technologieoffenheit. Wir diskutieren vielfach darüber, dass wir E-Mobilität weiter fördern müssen. Aber wir müssen auch die anderen existierenden Mobilitätsformen offenhalten. E-Mobilität kann in der Stadt gut sein, wenn man kurze Wege überwinden muss;
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aber auf dem Land, wo man lange Wege überwinden muss, wenn man schwere Lasten transportieren muss, muss man sich über andere Dinge Gedanken machen. Auch diesbezüglich geben wir in diesem Antrag eine Antwort. Wir müssen auch in diesem Bereich weiter forschen und überlegen: Welche Antwort können wir anbieten? Was ist eine zielgenaue Lösung? Es geht darum, auch Lösungen mit hybriden Systemen nicht auszuschließen, sondern zu versuchen, hybride Systeme und die Wasserstofftechnologie als Antrieb weiterzuentwickeln. Dazu gibt es in unserem Antrag gute Vorschläge; diese wollen wir weiter vorantreiben.
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Ein weiterer Kernpunkt: Wir reden viel von neuen Mobilitätskonzepten. Wir reden viel davon, wie wir in der urbanen Stadt Lösungen für die Menschen anbieten, damit sie von A nach B kommen. Aber wir müssen auch darüber reden: Wie können Menschen im ländlichen Raum von A nach B kommen? Im ländlichen Raum gibt es vielfach dünnbesiedelte Gebiete. Da ist der ÖPNV nicht immer die Lösung Nummer eins.
Wenn ein Vater oder eine Mutter zur Arbeit fährt und mit öffentlichen Verkehrsmitteln 20 Minuten länger als mit dem Auto von A nach B braucht, dann wird er oder sie auch weiterhin den Individualverkehr bevorzugen. Wenn eine Mutter oder ein Vater einkaufen fährt und an verschiedenen Stellen halten muss, dann muss der Individualverkehr weiterhin gefördert werden. Wir müssen deshalb darüber nachdenken, welche Antriebssysteme wir dort verwenden. Wie kann auch da Nachhaltigkeit gewährleistet werden? Da gilt es, weiterhin gute Konzepte zu entwickeln. Die Forschung ist dabei zentral, um Lösungen zu finden. Auch diese Dinge betrachten wir in unserem Antrag. Dafür müssen wir unsere Kräfte in diesem Land weiterhin bündeln.
Aber wir sollten auch darüber nachdenken: Welche neuen Transport- und Mobilitätskonzepte haben wir? Ich bin jüngst in meinem Wahlkreis auf eine mögliche Lösung gestoßen. Ich wohne ja in Trier, einem engen Moseltal, wo man nicht einfach so bauen kann, wie man will, wo man auch nicht so tief graben kann, wie man will, wo man ein UNESCO-Kulturerbe berücksichtigen muss. Es gibt einen Lösungsansatz, der in Betracht zu ziehen ist, nämlich eine schöne Seilbahn, die von einem Berg zum anderen an der Porta Nigra vorbeiführt. Auch das sind Konzepte, über die wir uns unterhalten müssen. Das sind neue Mobilitätskonzepte, die wir weiterentwickeln müssen. Auch hierfür müssen wir Lösungen suchen. Das ist eine Aufgabe der Forschung. Dafür sollten wir auch gemeinsam kämpfen.
Wie Sie sehen, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen: Es gibt verschiedene Lösungsansätze, die wir hier bei uns schon angestoßen haben, bei Antriebssystemen etwa Wasserstoff, Elektromobilität, aber auch synthetische Kraftstoffe, die regenerativ hergestellt werden können und Wasser und Kohlendioxid erzeugen. Wenn Kohlendioxid regenerativ erzeugt wird, dann ist das eine Lösung, um für die Menschen Mobilität nachhaltig sicherzustellen.
Diese Lösungskonzepte gilt es mit der Bundesregierung zusammen weiter voranzutreiben. Wir müssen für die Zukunft denken. Wir müssen die Möglichkeiten und Ideen der Menschen in unserem Land – wir haben vor Ort viele schlaue Köpfe – weiter bündeln. Dafür bietet der Antrag entsprechende Lösungen.
Ich bitte Sie um Ihre Unterstützung für diesen Antrag. Wir haben hier einen guten Antrag vorliegen, mit dem die Voraussetzungen für die Forschung geschaffen werden können. Wir müssen die Forschung mit der Innovation verknüpfen. Dann können wir auch die Wertschöpfung hier in Deutschland halten.
Ich danke allen Arbeitsgemeinschaften, auch der SPD, die dazu beigetragen haben, diesen Antrag auszuarbeiten. Vielen Dank dafür. Ich bitte um Unterstützung.
Danke schön.
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Vielen Dank, Andreas Steier. – Wir mussten lachen, weil wir uns gerade die schöne Moselgegend vorgestellt haben.
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Sie haben uns dahin entführt, und da kam ein Strahlen ins Gesicht.
Nächster Redner in der Debatte: Dr. Michael Espendiller für die Fraktion der AfD.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Liebe Zuschauer im Saal und bei YouTube! Wir schreiten derzeit mit großen Schritten in Richtung „Große Transformation“. Für diejenigen, die diesen Begriff nicht kennen: Bei der „Großen Transformation“ geht es um das Erzwingen einer weltweiten, radikalen Umgestaltung unseres Lebens zu einer klimaverträglichen Gesellschaft ohne Nutzung fossiler Brennstoffe. Der Ausbau erneuerbarer Energien soll massiv vorangetrieben werden, und obwohl die Kernenergie klimaneutral ist, spricht man sich parallel auch gegen ihre Nutzung aus.
Das EEG samt seiner Folgen wie Strompreisexplosion, Kostenexplosion bei Lebensmitteln, Verspargelung der Landschaften durch Windräder, Netzinstabilität bei den Stromnetzen und die steigende Gefahr von Blackouts: All das verdanken wir der Idee der „Großen Transformation“. Die Idee von der „Großen Transformation“ ist aber eine pure Ideologie, die auf der geschickten Vermarktung einer Lüge beruht, der Lüge vom menschengemachten Klimawandel und dem daraus resultierenden Weltuntergang.
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– Ich kann das ausrechnen, Herr Röspel. – Was hat das nun mit Forschung im Allgemeinen und mit der Mobilitätsforschung im Konkreten zu tun? Einfach alles! Wer Fehler in der Analyse macht, der macht auch Fehler in der Strategie.
Ich würde nie behaupten, dass unsere heutige Form der Mobilität perfekt ist. Aber sie hat einer großen Anzahl an Menschen eine vorher nie dagewesene Vielzahl an Möglichkeiten geschaffen. Egal ob Flugzeug, Schiff, Auto, Bahn, Fahrrad oder in Zukunft vielleicht das Flugtaxi: Wir waren als Menschheit noch nie so frei, wie wir es jetzt sind.
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Diese Freiheit ist nicht nur ein Wert an sich, sondern sie ist die Grundlage unserer Volkswirtschaft und die Grundlage unseres Wohlstandes.
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Seit einigen Jahren erleben wir aber etwas anderes. Durch die Politik werden diese Freiheit, die Wirtschaft und unser aller Leben Schritt für Schritt eingeschränkt. Am Ende dieses Prozesses steht die Zerstörung unserer Lebensweise, wie wir sie jetzt kennen. Die Regierungsfraktionen haben hier einen Antrag vorgelegt, in dem es um Forschung gehen soll. Tatsächlich aber geht es neben ein bisschen PR für Regierungsforschungsprogramme um die Durchsetzung der „Großen Transformation“.
Nachdem man eigenhändig die Axt an die Mobilität und die Freiheit der Menschen gelegt hat, gibt man jetzt vor, sie erhalten und verbessern zu wollen. Das ist perfide. Man kann gar nicht bestreiten, dass hier seitens der Bundesregierung und des Forschungsministeriums im Bereich der Forschung durchaus beachtliche Summen bereitgestellt werden. Wenn allerdings die Forschung nicht mehr frei ist, sondern sich in den Dienst einer ideologischen Agenda stellen soll, dann ist das keine Forschung mehr. Dann ist das Planwirtschaft.
Die SPD hat in der Ausschussberatung zu diesem Antrag gesagt, dass es – Zitat – „ein Marktversagen in der Automobilbranche in den letzten Jahren gegeben habe“. Ich zitiere weiter:
Wenn der Staat nicht eingegriffen hätte, müsste man um die deutsche Automobilbranche ... bangen. Man habe in diesem Bereich mehr Geld ausgeben müssen, als es nötig gewesen wäre, wenn der Markt und die Unternehmen in den letzten Jahren klug gehandelt hätten.
Man muss sich das einmal vorstellen: Erst setzen sich die Politiker der Altparteien in Parlamenten, Regierungen und der Europäischen Union für die Verabschiedung absurd niedriger Grenzwerte ein, die unsere Automobilindustrie trotz modernster und sauberster Technik beim besten Willen nicht einhalten kann. Das führt dazu, dass deutsche Spitzenprodukte, die sparsam, effizient und beim Verbraucher gefragt sind, nicht mehr verkauft werden können, weil sie den erdachten Fantasiewerten von tyrannischen Bürokraten nicht entsprechen. Wenn die Erzeuger von diesen Produkten dann aufgrund absurd irrer, staatlicher Vorgaben ins Straucheln geraten, Leute entlassen müssen, vielleicht sogar pleitegehen, dann sagt die SPD dazu: Selber schuld!
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Liebe Genossen, Sie spucken damit auf jeden, der in diesem Land etwas leistet.
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Sie spucken auf diejenigen, die diesen Staat und jede Regierung mit ihrer Hände Arbeit überhaupt erst möglich machen.
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Ich gönne Ihnen wirklich jedes neue Ergebnis einer Wahlumfrage.
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Liebe Kollegen, was wir hier brauchen, ist keine staatlich gelenkte Forschung, sondern eine freie Marktwirtschaft. Deswegen lehnen wir Ihren Antrag ab.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Markus Paschke.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe seit November, als ich in den Bundestag nachgerückt bin, aus der rechten Ecke unseres Saals schon viel Absurdes gehört. Aber die letzte Rede hat dem Ganzen die Krone aufgesetzt. Man hatte gerade den Eindruck: Da hat jemand überhaupt noch nichts verstanden und überhaupt noch nicht mit den Menschen vor Ort gesprochen.
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Mobilität ist eines der entscheidendsten Zukunftsthemen unserer Gesellschaft, und zwar aus ökologischer, aus ökonomischer und aus gesellschaftlicher Sicht. Mobilität ist wichtig für die Menschen in der Stadt und auf dem Land, wenn auch mit völlig unterschiedlichen Ansprüchen.
In Städten wie Berlin ist der Transport von großen Menschenmengen eine der täglichen Herausforderungen. 2018 beförderte die BVG über 1 Milliarde Fahrgäste, Tendenz steigend. Damit der öffentliche Personennahverkehr für die Nutzerinnen und Nutzer attraktiv bleibt, braucht es andere Konzepte zur Aufteilung des zur Verfügung stehenden Verkehrsraums und den Einsatz neuer Technologien.
Völlig andere Voraussetzungen und Herausforderungen gibt es im ländlichen Raum. Das Auto ist für viele Menschen zentraler Bestandteil ihres Alltages. In vielen Orten gibt es wenig oder gar keine Infrastruktur, um den täglichen Bedarf zu decken. Ärzte, Apotheken, ja sogar Supermärkte, Bäcker, Fleischer sind nur noch in größeren Orten oder in den Kreisstädten konzentriert. Gleiches gilt für Ausbildungs- und Arbeitsstellen, Schwimmbäder, Theater und Kinos.
Der öffentliche Nahverkehr ist fast ausschließlich am Bedarf des Schülerverkehrs ausgerichtet. Diese Verkehrszeiten sind häufig überhaupt keine Alternative für den Weg zur Arbeit oder zur täglichen Versorgung. Ohne ausreichende Mobilitätsangebote im ländlichen Raum werden viele Menschen weiter das Auto nutzen oder in Städte und Ballungsräume ziehen.
Unsere Mobilitätsforschung braucht neue Impulse und muss nachhaltig werden, um auch den zukünftigen gesellschaftlichen Herausforderungen gerecht zu werden. Mal als kleinen Einschub – sehe ich den Redner noch? -
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– ja, da ist er doch –: Nach Ihrem Gutdünken würden wir uns immer noch mit Pferden und Pferdekutschen fortbewegen, weil wir uns nicht weiterentwickelt hätten.
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Denn neben technischen Innovationen gehören hierzu auch soziale Innovationen, das heißt: Wie verändert sich das Verhalten oder die Kommunikation in der Gesellschaft? Das alles spielt auch beim Thema Mobilität eine Rolle.
Es gibt viele kommunale und private Projekte und Angebote, die die Folgen fehlender Mobilitätsangebote und veränderter Ansprüche in der Gesellschaft abmildern sollen. Diese werden auch häufig von Bund, Ländern und Kommunen wissenschaftlich oder finanziell begleitet. Die Verbesserungen kommen punktuell bei einzelnen Zielgruppen an, werden aber in der Gesamtheit häufig nicht allen bekannt und nutzbar.
Beim Ziel der CO2-Einsparung wird es nicht reichen, nur den Verbrennungsmotor gegen den Elektromotor auszutauschen. Denn auch Verkehrsaufkommen und die Anforderungen der Menschen haben sich dramatisch verändert. Wie kann man Mobilität so organisieren, dass sie erschwinglich, umweltfreundlich und an die Bedürfnisse der Menschen vor Ort angepasst ist?
Ich komme jetzt zum Schluss. Mit dem vorliegenden Antrag wollen wir eine ressortübergreifende Strategie nachhaltiger Mobilitätsforschung entwickeln. Die Forschungsergebnisse müssen verbreitet und in die Fläche gebracht werden, damit wir sie schnell nutzen können und die Menschen das auch erleben.
Danke schön.
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Vielen Dank, Markus Paschke. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Mario Brandenburg.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mich aus gegebenem Anlass heute Mittag spontan entschieden, meine Rede auf einem Kassenbon vorzubereiten,
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da ich Optimist und der Meinung bin: Wir müssen alles zum Besten nutzen.
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Genau so möchte ich eben auch zum Thema Mobilität starten. Denn in beiden Anträgen stehen Dringe drin – wir hatten ja schon im Ausschuss die Chance, dazu zu sprechen –, die wir Freie Demokraten eindeutig unterstützen.
Ich möchte mit der Technologieoffenheit anfangen. Ich persönlich glaube, es ist weder richtig, eine Technologie zu überhöhen, noch ist es richtig, eine andere komplett auszuschließen. Es ist unsere Aufgabe, Ziele festzulegen. Wie auch immer diese erreicht werden: Es muss darum gehen, was am besten für Mensch und Klima ist – das muss der Weg sein –, und nicht darum, dass Politiker ihre Lieblingstechnologie in Gesetze gießen.
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Zustimmung gibt es auch bei den Experimentierklauseln. Alles, was unseren Start-ups und Forscherinnen und Forschern hilft, weiterzukommen, was Bürokratie abbaut und ihnen ein freies Handeln ermöglicht, wird von uns ausdrücklich unterstützt.
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Des Weiteren wird von uns auch die Bündelung der Aktivitäten im Antrag der Koalitionsfraktionen vollständig unterstützt. Sie haben ja aufgezählt, was alles gemacht wird. Das ist ziemlich viel, das ist auch monetär viel, und mit Sicherheit kommt es da zu Reibungsverlusten.
Was in Ihrem Antrag aber durchaus etwas zu Verwunderung führt, ist – es ist ja immerhin auch ein CDU/CSU-Antrag –, dass darin über zehnmal das Wort „Stadt“ oder „urban“ zu finden ist, aber nur zweimal „ländlich“. Jetzt steht hier ein Vertreter des ländlichen Raums, ein Dorfkind, und das wird es auch immer bleiben.
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An der Stelle muss man schon sagen, dass sich die Leute auf dem Land natürlich freuen, wenn wir unsere Forschung besser vernetzen, sie letztendlich aber mehr davon hätten, wenn wir die Kommunen vernetzen und sie besser von A nach B kommen würden.
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Wir sind jetzt bei einem Grundproblem in der deutschen Politik; denn oft beschäftigen wir uns eben mit dem Klein-Klein. Das mag mal das SUV-Verbot sein, oder es mag das Tempolimit sein. Wir machen dann Bahntickets ein bisschen günstiger, Flugtickets ein bisschen teurer; aber oft fehlt uns die große Linie, eben das Großdenken. Andere Länder sind da etwas besser. Wir sehen, dass bestimmte Länder versuchen, effizient an einem Hyperloop zu arbeiten, dass es Länder gibt, die ein Commitment haben, die sogenannten CO2-neutralen Senkrechtstarter; bis 2030 möchten die 25 Prozent des Verkehrs damit abdecken. Solche Dinge fehlen eben leider in diesen Anträgen.
Um das zu untermauern, noch einmal auf den CDU/CSU-SPD-Antrag eingehend: Es ist schade – es ist an vielen Stellen wirklich ein gut gemachter, ausführlicher Antrag –, dass darin nicht einmal das Wort „Europa“, weder „grenzübergreifend“ noch „Europa“, steht. Ich bin der Meinung: Wenn wir eine Strategie machen, wenn wir unser Handeln neu ordnen, dann sollten wir groß denken, groß tun, sofort vor Ort handeln, aber mittelfristig europäisch. Insofern wäre es schade, wenn Sie da nicht ein bisschen nachbessern würden.
Vielen Dank fürs Zuhören – und den Kassenbon.
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Vielen Dank, Herr Brandenburg. – Also, das war aber ein Großeinkauf, wenn Ihre ganze Rede auf diesen Bon draufging.
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Da haben Sie ordentlich zugeschlagen.
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Nächste Rednerin: Dr. Petra Sitte für die Fraktion Die Linke.
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Herr Brandenburg, den Bon jetzt nicht einfach wegwerfen, nicht? Das ist ökologisch schwierig.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Was soll Mobilitätsforschung in Zeiten des Klimawandels und der Klimaproteste erreichen? In einer turbomobilen Welt stellt sich doch die Frage: Wie kommen wir zu solidarischen Lebens- und eben auch zu gerechteren Wirtschaftsformen? Waren und Daten werden in immer kürzeren Intervallen umgeschlagen, und das birgt Risiken und Chancen. Alle und alles sollen verfügbar sein, überall und schnellstmöglich – heute bestellt, morgen vor der Tür. Was uns das gesellschaftlich und was es die Menschen kostet, muss kritisch hinterfragt werden.
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Hier liegen durchaus Aufgaben einer Mobilitätsforschung, die sich aus öffentlichen Geldern speist.
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Deshalb muss sie sich an den Alltagsbedürfnissen der Menschen in Stadt und Land ausrichten. Da fällt in diesem Land ein Fakt sofort auf: 11 Millionen Menschen bzw. 68 Prozent pendeln täglich mit dem Auto zur Arbeit. Das ist eine Rekordzahl, und wir sind uns sicher einig: Diese Zahl soll sinken, vor allem zur Entlastung von Mensch und Umwelt.
In dem Antrag steht nun aber, dass jeder individuell über seine Mobilität entscheiden soll. Na, das klingt ja super. Aber ich frage Sie dann: Wieso spielt bei Ihnen in diesem Antrag das Auto die größte Rolle?
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Wo liegt denn dann die freie Wahl? Wo liegt die Mobilitätswende?
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Mobilitätsforschung muss also insbesondere für Menschen auf dem Land attraktive und bezahlbare Mobilitätsangebote entwickeln.
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Von Mobilitätsforschung in den Städten wird wiederum erwartet, dass sie vor allem die Verzahnung von Angeboten des öffentlichen Personennahverkehrs untersucht, und sie muss dabei nicht einmal bei null anfangen. So wird in der City-Zone von Augsburg wie beispielsweise auch in Monheim am Rhein der ÖPNV ohne Fahrschein angeboten, und in Luxemburg – wir haben es gerade erst gelesen – wird das nun im ganzen Land eingeführt. Also, meine Damen und Herren: Anderes ist möglich, und Mobilitätsforschung soll zeigen, wie ökologisches und soziales Miteinander verbunden werden kann.
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– Ich habe nur drei Minuten.
Nun sagen die Skeptiker, das sei öffentlich nicht finanzierbar. Dabei gibt es allemal Einstiegsmodelle zur Entlastung von Kommunen. In Wien beispielsweise fließen die Parkgebühren alle in den ÖPNV
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– wunderbar; nehmt euch ein Beispiel –, und man kann für 1 Euro am Tag den ÖPNV nutzen. Also: Mobilitätsforschung muss auch sozioökonomische und finanzielle Lösungen erarbeiten.
Und schließlich – Herr Brandenburg hat es angesprochen –: Mit neuen technologischen Perspektiven muss sie sich beschäftigen. Insbesondere muss zu fortschrittlichen Wasserstofftechnologien viel intensiver geforscht werden. Wir wollen wissen, wo es sinnvolle Einsatzperspektiven gibt. Wir unterstützen allemal Forschungsprojekte zur Wasserstoffproduktion und ‑speicherung wie beispielsweise das HYPOS-H2-Netz aus meinem Bundesland Sachsen-Anhalt.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Schließlich brauchen wir endlich ein Modell, wie wir nach Jahren einer börsenfixierten und über Ländergrenzen expandierten Bahn AG wieder zu einer echten Bürgerbahn kommen.
In diesem Sinne: Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Nächster Redner: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Stefan Gelbhaar.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wissen Sie, was bei der Förderliste der Mobilitätsforschung auffällig ist? Das kreative Potenzial bei der Namensgebung. Das Projekt „LamA“ zum Beispiel steht für „Laden am Arbeitsplatz“.
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Und woran denken Sie, wenn Sie APEROL hören? Die Bundesregierung versteht darunter die „Autonome, personenbezogene Organisation des Straßenverkehrs und digitale Logistik“. Nice: APEROL. Die kuriosen Projektnamen können über eine Sache jedoch nicht hinwegtäuschen: Fast alles ist in dieser Forschungslandschaft dem Auto zuzuordnen. Das ist eine völlig einseitige Fehlentwicklung.
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Ich bin dem nachgegangen und habe das mal abgefragt. Die Bundesregierung musste diesen Verdacht bestätigen: In den letzten zehn Jahren wurden von der Bundesregierung fast 5 000 Forschungsprojekte im Fahrzeugbereich gefördert. Okay. Aber wissen Sie, wie viele Projekte sich davon explizit mit der Weiterentwicklung von Bus- und Bahnsystemen beschäftigt haben? Läppische 147 Projekte, das ist ein Dreiunddreißigstel. Das ist sichtbar viel zu wenig. Das muss sich ändern, und zwar dringend.
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Das noch mal in Euro: Das waren satte 2,2 Milliarden Euro, die die Bundesregierung seit 2009 für die Autoforschung ausgegeben hat. Für Forschungsprojekte zum ÖPNV waren es im gleichen Zeitraum gerade mal 112 Millionen Euro. Die Bundesregierung muss diese Zahlen umkehren, und zwar nicht nur mit hübschen Lippenbekenntnissen, sondern ganz real.
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Ich will noch einen Aspekt hinzufügen: Die deutschen Automobilhersteller konnten 2019 erneut Rekordgewinne verbuchen. Trotzdem forderte der Verband der Automobilindustrie, VDA, vor dem gestrigen Autogipfel im Kanzleramt mal eben 10 bis 20 Milliarden Euro vom Bund für Forschung und Entwicklung. Wie wäre es denn, wenn die Autoindustrie aus den enormen Gewinnen selbst mehr in Forschung und Entwicklung investieren würde? Dann könnten die öffentlichen Forschungsgelder den Unternehmen zur Verfügung stehen, die einen Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge übernehmen. Denn ÖPNV-Unternehmen können regelmäßig keine oder allenfalls marginale Gewinne erwirtschaften. Da fehlt es also massiv an Forschungsgeldern. Das muss die Bundeskanzlerin beim Autogipfel thematisieren, wenn es ihr Verkehrsminister schon nicht tut.
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Selbst der Verkehrsminister hat einen Erkenntnisgewinn. Auf der diesjährigen Busmesse BUS2BUS hat er festgestellt, dass viele E-Busse noch in der Studienphase stecken – aha! – und dass das alles ein bisschen spät ist. Aber da müsste man doch die Konsequenz ziehen und sagen: „Okay, da müssen Forschungsgelder in die Entwicklung von nachhaltigen Bussen investiert werden“, oder? Diese Konsequenz zieht der Verkehrsminister, zieht die Bundesregierung aber nicht, und das ist falsch.
Die Koalition hat nun einen eigenen Antrag vorgelegt und fordert darin eine ressortübergreifende Strategie zur Mobilitätsforschung. Okay. Zwei Sätze weiter wird das aber begründet – jetzt kommt es wieder – mit der „Vorreiterrolle des deutschen Automobilsektors“. Direkt wird klar, woher der Wind dieses Antrages weht: Weiter so, bloß nichts ändern. Da sage ich jetzt einmal kurz: Danke an SPD und CDU/CSU für so viel Transparenz.
Wir brauchen etwas anderes, wir brauchen endlich echte Experimentierräume für nachhaltige Mobilität in der Stadt, wir brauchen Experimentierräume mit Bus, Bahn, Rad auf dem Land, wir brauchen Reallabore in den Wohnvierteln, die Mobilität als Teil der Stadtplanung testen. Das alles steht in unserem bündnisgrünen Antrag.
Deswegen: Die Forschung zu Radverkehr sowie zu Bus und Bahn muss nach Jahren der Benachteiligung endlich Vorrang bekommen. Das ist das Ziel, und dem müssen wir zustimmen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Stefan Gelbhaar. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Norbert Altenkamp.
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Mario Brandenburg, schön, dass du versucht hast, das alles auf einen Bon herunterzubrechen. Aber wir haben inhaltlich eine ganze Kassenrolle geliefert; insofern: Das passt schon.
Durch unsere Verkehrsadern fließt die Energie, die unsere hochkomplexe Gesellschaft am Leben hält, die uns Freiheit und Wohlstand verschafft. Aber die Mobilität von heute hat keine Zukunft: zu viel Abgase, Staus, zu hohe Kosten. Wir brauchen künftig eine bedarfsgerechte Mobilität für alle in Stadt und Land – mit weniger Verkehr und weniger Energieverbrauch, umweltfreundlich und bezahlbar.
Wir haben bereits viele Maßnahmen auf den Weg gebracht, um das zu fördern. Aber wir brauchen mehr, um den Dynamiken und Chancen im Bereich Mobilität gerecht zu werden. Deshalb schlagen wir eine übergreifende Forschungsstrategie vor, um neue, überzeugende Antworten für die Mobilität der Zukunft zu finden.
Ich möchte den Fokus heute auf die Bereiche lenken, die ich für besonders wichtig erachte. Essenziell sind neue Antriebstechnologien und Kraftstoffe im Automobilbereich. In keinem anderen Land der Welt hat die Autoindustrie eine so hohe Kompetenz und einen so großen Anteil an der Wertschöpfung wie bei uns. Weltweit wird das Bedürfnis nach Mobilität mit dem Auto auch weiter ansteigen. Deshalb bleibt unser Geschäftsmodell grundsätzlich richtig. Es wird aber künftig eine Vielzahl von Antriebstechnologien nachgefragt. Dem muss man sich stellen, aller Kolbenromantik zum Trotz.
Ein wichtiges Element ist die Entwicklung von innovativen Elektrofahrzeugen auf Batteriebasis. Wir sind hier gut aufgestellt. Ein Drittel der Patente in diesem Bereich kommt aus Deutschland. Mit der neuen Batterieforschungsfabrik werden wir auch die Entwicklung neuer Batteriesysteme ohne Lithium anstoßen und damit China Paroli bieten.
Aber dabei dürfen wir nicht stehen bleiben. Batteriefahrzeuge sind ein wesentlicher Baustein der neuen Mobilität, aber sie sind nicht für alles geeignet. Gut für die Stadt, gut für kurze Wege. Für längere Strecken brauchen wir auch langfristig Hybridlösungen – und E-Fahrzeuge auf Brennstoffzellenbasis, die den Vorteil haben, dass sie leichter sind, schneller tanken und weiter fahren können. Deshalb eignet sich diese Technologie auch für Busse und Schwerlastverkehr, für Züge und Schiffe.
Um den Rückstand auf Asien aufzuholen, müssen wir die Produktion von Brennstoffzellen schneller industrialisieren. Daran arbeitet zum Beispiel eine Forschungsfabrik in Baden-Württemberg. Deshalb müssen wir unsere Forschungsstrategie auch mit der Nationalen Wasserstoffstrategie verknüpfen.
Für eine längere Übergangszeit sind wir zudem weiter auf Verbrennungsmotoren angewiesen, egal ob Benziner oder Diesel; wir können sie jedoch mit neuen synthetischen, umweltfreundlichen Kraftstoffen betanken, die wir aus Abfällen, Flüssiggas, Wasserstoff oder Methanol gewinnen. An der Wirtschaftlichkeit muss auch hier noch gearbeitet und geforscht werden.
Die Herausforderungen zeigen: Eine einzige Technologie ist nicht die Lösung. Technologieoffenheit ist daher die Grundlage für unsere Forschungsstrategie, und das nicht nur auf der Straße. Neue Antriebssysteme und E‑Fuels sind auch in der Luft- und Schifffahrt ein Muss.
Das Beispiel E-Auto zeigt: Wir müssen künftig noch stärker in Kreisläufen denken, das heißt: problematische Spezialrohstoffe für die Batterien wie Lithium und Kobalt systematisch recyceln – und eine Zweitnutzung der Autobatterien im stationären Bereich. Mit dem Forschungskonzept „Ressourceneffiziente Kreislaufwirtschaft“ unterstützen wir solche Ansätze und Geschäftsmodelle gezielt.
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Dafür brauchen wir auch neue, digitale Lösungen. Der Weg vom Abbau in der Mine bis zur Batterie im E-Auto ist lang. Wir können die Batterie nur dann optimal recyceln, wenn wir die Rohstoffkomponenten entlang der gesamten Lieferkette vollständig digital erfassen und alle Schritte von der Batterie bis zu den Recyclingprodukten digital simulieren, zum Beispiel unter Nutzung der sicheren Blockchain-Technologie.
Digital entspannt in die Zukunft, das gilt auch für das autonome und vernetzte Fahren. Die Potenziale dieser Technologie sind riesig. Besonders ältere und behinderte Menschen können dadurch mobiler werden. Automatisierte Busse könnten preiswerter als heute den ländlichen Raum bedienen. Weniger Staus und rationellere Warentransporte sparen Zeit und Geld.
Noch aber sieht fast die Hälfte der deutschen Autofahrer das autonome Fahren skeptisch. Die Akzeptanz der Menschen zu fördern, ist deshalb ebenso wichtig für die erfolgreiche Markteinführung wie die Optimierung der Technik.
Damit das autonome Fahren zuverlässig funktioniert, müssen während der Fahrt ungeheure Datenmengen gesammelt und ausgewertet werden. Deshalb müssen wir dringend den Ausbau von 5G, WLAN oder LTE flächendeckend vorantreiben.
Schnelle Datenautobahnen sind auch der Motor für innovative intermodale Mobilitätskonzepte, die den Verkehr optimal lenken, die die verschiedensten Verkehrsträger, Individualverkehr und ÖPNV effizient vernetzen und die mit bedarfsgerechten Angeboten Stadt und Land enger verbinden.
Wichtige Impulse dafür gibt nicht nur die Förderung des Bundes, sondern auch das House of Logistics and Mobility in Frankfurt am Main.
Alles in allem: Unser Antrag bietet gute Gründe, Lust auf Zukunft zu haben.
In diesem Sinne: Vielen Dank.
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Vielen Dank, Norbert Altenkamp. – Letzter Redner in dieser Debatte: René Röspel für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich lebe im Ruhrgebiet, übrigens gerne. Ich kann mich noch erinnern, dass ich als Kind oder Jugendlicher mit Smogalarm konfrontiert wurde. Das bedeutete Gesundheitsgefährdung, wir durften nicht raus – in Stuttgart und vielen anderen Städten gab es das übrigens auch –, weil die Abgasbelastung durch Kraftwerke und Autoverkehr so hoch war, dass es nicht erträglich war.
Leider brauchte es gesetzliche Maßnahmen, um das zu ändern und eine Situation herbeizuführen, die es uns jetzt wieder erlaubt, rauszugehen, und zwar tags wie nachts, weil Kraftwerke sauberer geworden sind und weil die Autos auch sauberer geworden sind. Das brauchte Regularien, und das war übrigens nicht zum Nachteil der Industrie, weil das immer wieder einen Technologieschub gebracht hat, der dazu geführt hat, dass deutsche Technologie weltweit nachgefragt und anerkannt wurde.
Also braucht es auch gesetzliche Regelungen. Wenn die deutsche Autoindustrie und namentlich VW den Clean Diesel so sauber gemacht hätte, wie sie in der Werbung geschrieben hat, hätte er in den USA auch verkauft werden können. Aber das ist leider tatsächlich ein Problem der Autoindustrie. Wenn die Unternehmen auf dem Markt so hätten weiterwirtschaften können, wie die nun einmal wirtschaften, wäre es nicht besser geworden. Also: Es braucht immer wieder Regulierung durch den Staat, um Besseres zu erreichen.
Aber wir reden in dieser Debatte gar nicht über Regulierung und Gesetze, sondern über Forschung, über Mobilitätsforschung. Das bedeutet, dass wir Geld all denjenigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, denjenigen Interessierten zur Verfügung stellen, die in bestimmten Bereichen arbeiten wollen: ÖPNV-Forschung, Elektromobilität, Wasserstoff. Ich bitte hier übrigens die Bundesregierung, bei der Nationalen Wasserstoffstrategie endlich Tempo vorzulegen.
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Wer sich hier für ein Programm, ein Projekt entscheidet, der wird gefördert, wenn es nur gut genug ist. Da geht es nicht um Vorgaben oder so etwas. Vieles ist im Antrag der Grünen beschrieben worden, es finden sich darin auch viele richtige Dinge – das will ich ausdrücklich sagen –, aber der umfassende Koalitionsantrag zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind, auch mit der Bundesregierung, in sehr großer Breite Mobilität zu fördern.
Ich will aber trotzdem grundsätzlich sagen: Würden wir hier über Krebsforschung reden, würden wir nicht nur darüber reden, wie Krebs diagnostiziert und therapiert werden kann, sondern auch darüber, wie Krebs eigentlich entsteht. Ein großer Bestandteil von Krebsforschung ist immer auch Ursachenforschung. Interessanterweise reden wir beim Thema Mobilitätsforschung eher darüber, wie Mobilität der Zukunft zu gestalten ist, aber nicht darüber, warum Mobilität entsteht, warum Mobilität in dieser Gesellschaft wichtig ist, warum Menschen auf das Auto angewiesen sind, um zur Arbeit zu kommen oder Lebensmittel einkaufen zu können oder andere Menschen zu treffen.
An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich an die Bundesregierung appellieren: Wir müssen uns in den Programmen stärker damit befassen, warum Mobilität entsteht und wie wir das Leben und die Städte so gestalten können, dass Mobilität nicht notwendig ist, dass man sich mit Lebensmitteln versorgen kann, ohne ein Auto besitzen zu müssen, oder dass man Menschen treffen kann, ohne von A nach B fahren zu müssen. Wir müssen breiter denken und dürfen uns nicht nur damit beschäftigen, wie Mobilitätsforschung aussieht, sondern auch damit, warum Mobilität entsteht. Ich bin mir sicher: Wenn wir die Notwendigkeit für Mobilität reduzieren können, wird unser aller Leben auch besser werden.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, René Röspel. – Damit schließe ich die Aussprache.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Warum müssen wir uns im Jahre 2020 mit den Nachwirkungen der Monarchie beschäftigen?
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Ja, das ist eine gute Frage, da wir ja alle wissen und das auch breit gefeiert haben, dass erfreulicherweise mit der Revolution von 1918 die Monarchie hinweggefegt wurde, wofür wir den Revolutionärinnen und Revolutionären heute noch dankbar sein können.
({1})
Denn Monarchie ist natürlich qua Konstitution das Gegenteil von Demokratie, das Gegenteil von Herrschaft der Bevölkerung.
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– Mit Lehren aus der Geschichte haben Sie es nun wirklich nicht. Das wissen wir. Deswegen sind Sie bei dieser Frage erst einmal grundsätzlich raus.
({3})
Aber es geht um Folgendes, um etwas ganz Handfestes:
Erstens. Die Familie, die sogenannte Erbengemeinschaft der Hohenzollern, möchte eine Entschädigung haben für Enteignungen, die es nach 1945 umfangreich gegeben hat. Denn damals schätzte die sowjetische Militäradministration – wie auch später die DDR – den deutschen Adel ein als zutiefst verstrickt in den Nationalsozialismus und sah in ihm mit eine der Hauptursachen dafür und hat ihn deswegen in ihrem Geltungsbereich vollständig enteignet. Diese Entscheidung, um es hier einmal klar auszusprechen, war historisch und moralisch durch und durch richtig, bei allen anderen Fehlentscheidungen, die es damals gegeben hat.
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Zweitens. Es geht – das wird alles gleich zusammengefasst – um noch etwas anderes. Die besagte Erbengemeinschaft möchte dazu eine Rückgabe sehr vieler Kulturgüter. Die bizarrste Forderung, die selbst der Staatsministerin, die auch anwesend ist, irgendwann zu bunt wurde, war die Forderung des sogenannten Hauses Hohenzollern nach einem unentgeltlichen Wohnrecht im Schloss Cecilienhof, im Schloss Lindstedt oder in der Villa Liegnitz.
({5})
Das ist natürlich so dermaßen abgedreht – wenn man sich das überlegt –, überhaupt so etwas zu formulieren. Deswegen muss ich leider feststellen, dass die Hohenzollern mental offenbar noch nicht in der Republik angekommen sind.
({6})
Herr Korte, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung des Kollegen Post von der SPD-Fraktion?
Bitte schön.
Danke, Herr Kollege Korte, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Sie haben gerade explizit die Haltung der damaligen DDR-Regierung angeführt und auch die ursprünglich erhobene Forderung der Hohenzollern genannt, ein Wohnrecht auf Schloss Cecilienhof zu erlangen. Diese Forderung wurde mittlerweile fallen gelassen, aber sie wurde – das stimmt – ursprünglich erhoben.
Meine Frage: Ist Ihnen bekannt, dass Erich Honecker am 3. Mai 1988 einen Brief unterzeichnet hat, in dem explizit steht, dass den Hohenzollern ein Wohnrecht auf Schloss Cecilienhof eingeräumt werden sollte, wenn im Gegenzug die Särge der verstorbenen Könige Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. wieder zurück nach Potsdam überführt würden?
({0})
Das ist ja eine katastrophale Fehleinschätzung. Das ist eine weitere der grundsätzlichen Fehleinschätzungen von Erich Honecker. Da sind wir doch völlig einer Meinung.
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Aber das macht die heutige Forderung doch nicht besser, dass es dort Fehlentscheidungen gegeben hat.
Nur, Herr Kollege Post, Sie müssen eines sehen – das ist noch die Antwort –: Ich habe von den Enteignungen nach 1945 gesprochen, und zwar von den flächendeckenden. Da stimmen Sie mir doch insbesondere als Sozialdemokrat zu, wenn ich das Stichwort „Revolution von 1918 und Ausrufung der Republik“ nenne, woran ja auch Ihre Partei einen gewissen Anteil hatte, wenn man so will.
({1})
Wir sind doch einer Meinung, dass das richtig gewesen ist. Wenn Honecker auch da völlig falsch entscheidet, kann ich nichts dafür, aber ich kann feststellen, dass das falsch ist, wenn es so ist, wie Sie sagen. Sorry, so sieht das aus.
({2})
Drittens. Gehen wir weiter und nähern uns dem Ganzen juristisch. Es gibt in dem Gesetz von 1994, in dem diese Entschädigungsfragen geregelt sind, folgenden Passus, dass nämlich Entschädigungszahlungen dann ausgeschlossen sind, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn, wie in diesem Fall, die Familie Hohenzollern dem Nationalsozialismus – wörtliches Zitat – „erheblichen Vorschub geleistet“ hat. Dazu gibt es jetzt alle möglichen Gutachten, die dank des Satirikers Böhmermann allgemein zur Verfügung gestellt wurden – da kann man auch einfach mal Danke sagen –, sodass alle das nachlesen können.
({3})
Juristisch und politisch stellt sich die Frage: Haben die Hohenzollern und besonders Kronprinz Wilhelm dem Nationalsozialismus Vorschub geleistet? Ich möchte Ulrich Herbert, einen, glaube ich, unumstrittenen, exzellenten Historiker, zitieren, der auf diese Frage Folgendes geantwortet hat:
Ja – gewiss nicht weniger, aber wohl auch nicht mehr als all die anderen hochrangigen Vertreter der vaterländischen Verbände, der deutschnationalen Parteien, der Clubs und „Ringe“ der rechtsradikalen Intellektuellen, der Großagrarier und der Großindustrie, die die Republik zerstören und das neue Reich der Rechten aufbauen wollten, ohne Parlament, ohne Gewerkschaften und ohne Juden – allerdings unter der Voraussetzung, dass sie selbst dabei irgendeine wichtige Rolle spielen durften.
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Aber wenn selbst die es nicht waren, die „Vorschub leisteten“, dann war es eben keiner. Wie gehabt.
Das ist der Kern der geschichtspolitischen Auseinandersetzung, die wir führen. Das macht übrigens – entgegen dem ganzen Humbug, der erzählt wurde – noch einmal deutlich, warum die Weimarer Republik zerstört worden ist, nämlich im Bündnis von Großindustrie, von Rechtsradikalen und den deutschnationalen konservativen Parteien. Das hat die Weimarer Republik zerstört. Das möchte ich hier angesichts all des Unsinns, der sonst erzählt wurde, klar aussprechen.
({5})
– Ja, das ist die Traditionslinie, in der Sie stehen.
({6})
Zum Vierten. Es geht hier natürlich auch ganz schlicht um Geld. Es geht hier nicht um Tradition – oder was weiß ich, was alles erzählt wird – von irgendwelchen Adelshäusern. Es geht schlicht um Kohle. Das kann ich auch belegen. Gucken wir einmal auf die Versteigerung der Hohenzollern im Jahre 2017 im Auktionshaus Sotheby’s.
Bevor wir uns dies angucken, darf ich noch mal fragen: Erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung, diesmal des Kollegen Hampel, AfD?
({0})
Nein. – Bei Sotheby’s wurde im Jahr 2017 Folgendes verscherbelt: ein vergoldetes Trinkgefäß von Friedrich I. im Wert von 2,6 Millionen Euro und fünf Gemälde, unter anderem mit Ansichten vom Berliner Stadtschloss, inklusive Einrichtungsgegenstände. – Das ist das Stadtschloss, für dessen Wiederaufbau mehr oder minder aufgeklärte bürgerliche Kreise wahnsinnigerweise sehr viel Geld gesammelt haben;
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aber das ist eine andere Diskussion. Diese Gegenstände wurden dort jedenfalls verscherbelt. Staatsministerin Professor Grütters hat natürlich durch und durch recht, wenn sie sagt, dass national wertvolle Kunstwerke – Zitat – natürlich in ein Museum gehören und der Allgemeinheit zugänglich gemacht und nicht auf den internationalen Kunstmärkten verramscht werden sollen.
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Fünftens. Jenseits der ganzen Frage der Verstrickung in den Nationalsozialismus gibt es noch einiges andere, was man mal aufarbeiten könnte; das will ich schon noch mal sagen. Ganz grundsätzlich: In der Geschichte des Adels und der Monarchie beruhte natürlich der wesentliche Teil des unermesslichen Reichtums der Adelshäuser darauf, dass sie die Bevölkerung oder, klassisch gesagt, das Volk ausgeplündert haben, und nicht auf eigener Hände Arbeit, um das hier auch mal klar zu sagen. Wer hat denn die Schlösser und Burgen gebaut? Das waren nicht die Monarchen, die mit der Maurerkelle Hand angelegt haben. Das waren die Arbeiterinnen und Arbeiter. Daran sollte man vielleicht mal ganz grundsätzlich erinnern.
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Im Übrigen: Wenn wir über die Familie Hohenzollern und die Geschichte reden, will ich auch noch mal an die Verbrechen der Kolonialzeit erinnern. Das wäre etwas, das Sie aufarbeiten sollten. Da wurde noch nie über Entschädigungen gesprochen.
Also: Ich kann namens der Fraktion Die Linke nur sagen: Es kann keine Geheimverhandlungen mehr geben, keine außergerichtlichen Absprachen. Hier müssen jetzt die Gerichte entscheiden. Forderungen der ehemaligen Adelshäuser sind für die Zukunft gesetzgeberisch auszuschließen. Denn das ist der Kernbestandteil der Demokratie: die Herrschaft der vielen, die Herrschaft der Bevölkerung und nicht die Herrschaft irgendwelcher selbsternannten Adeligen mit komischen Namen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Jan Korte. – Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Hampel von der AfD-Fraktion.
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Danke schön, Frau Präsidentin. – Herr Kollege Korte, ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, dass es in der Weimarer Republik demokratisch gewählte Parteien und demokratisch gewählte Regierungen waren, die der Familie Hohenzollern damals ihren Besitz aus rechtsstaatlichen Gründen gelassen haben, und zwar, weil es ganz einfach rechtlicher Besitz der Familie war. Man hat das damals nicht angerührt. Da war man demokratischer und rechtsstaatlicher, als Sie es je sein werden.
Zweitens verwahre ich mich dagegen, dass Sie eine Gruppe in unserem Lande diffamieren und ihr eine Mitschuld am Dritten Reich unterstellen.
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Sie haben es ja gerade selber ausgeführt: von Historikern belegt. Wie jede andere auch war auch jene gesellschaftliche Gruppe mal so oder mal so an der Entwicklung des Dritten Reiches beteiligt.
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Ich erinnere allerdings auch an das, dessen wir an jedem 20. Juli gedenken: Es war die adelige Familie von Stauffenberg, die gegen das Dritte Reich Leib und Leben eingesetzt hat, und das gilt es zu respektieren.
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Kurzintervention, ja?
Ja, letzter Satz, Frau Präsidentin. – Im Übrigen würde ich mich freuen, wenn Sie schon über das Vermögen und den Besitz der Familie Hohenzollern debattieren wollen, dass Sie sich dann auch überlegen, ob Sie im Gegenzug endlich anbieten, darüber zu sprechen, wo die verschwundenen SED-Milliarden geblieben sind,
({0})
und diese dem deutschen Staat zurückgeben.
Danke schön.
({1})
Würden Sie bitte stehen bleiben? – Herr Korte.
Herr Kollege, über dubiose Geldflüsse sollten ausgerechnet Sie von der AfD hier besser kein Wort verlieren.
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Sie werden ja offenbar von der Schweiz als fünfte Kolonne oder so gesteuert; der Eindruck entsteht, wenn man sieht, was da an Geld fließt.
({1})
Das sollten Sie also erst mal klären. Es gibt eine Bundestagsdrucksache, in der die Vermögensfragen der SED und der ehemaligen Massenorganisationen der DDR druckreif dargelegt werden, nämlich den Bericht der damaligen Kommission, die es dazu gegeben hat. Deswegen ging das schon mal voll daneben.
Das Zweite, um das es geht: Das ist ja ein Widerspruch, den Sie hier dem Plenum dankenswerterweise offenbaren. Die damaligen Entschädigungszahlungen und die Behandlung der ehemaligen Monarchen und ihrer Angehörigen wurden 1926 geregelt. Man kann sehen – ich hoffe, dass Sie das kennen –, dass damals mit den ehemaligen Monarchen, mit den Adelshäusern sehr nett und freundlich umgegangen worden ist.
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Aus diesem Grund haben wir heute überhaupt diese Debatten. Deswegen geht auch das ins Leere.
Eines will ich Ihnen schon noch mal sagen – ich hoffe, dass Sie das nicht wirklich so gemeint haben –: Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, Mitglieder der Bekennenden Kirche, Kommunistinnen und Kommunisten, Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter haben mit Sicherheit keinen Anteil an dem Sieg Hitlers und dem NS-Terrorregime, um das mal ganz deutlich zu sagen.
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Das ist ja geradezu absurd, aber das ist ganz in der Vogelschisslinie, die Ihr Chef vertreten hat.
Vielen herzlichen Dank. – Dann kommen wir zur zweiten Rednerin in der Debatte: Elisabeth Motschmann für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Herr Korte, ich darf Sie vielleicht zunächst an eines erinnern: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.
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Dieser Satz aus Artikel 3 unseres Grundgesetzes gilt auch für die Familie Hohenzollern. Punkt!
({1})
Georg Friedrich Prinz von Preußen ist ein Bundesbürger wie jeder andere auch. Er trägt keinen Adelstitel, sondern einen Namenszusatz.
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Die Monarchie gibt es seit dem 9. November 1918 nicht mehr; das haben Sie hoffentlich auch schon gemerkt. Seitdem hat der Adel keinerlei Privilegien mehr, und das ist gut so.
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Aber eines gilt für diese Familien wie für alle anderen auch: Sie können ihre Rechte wahrnehmen, verhandeln und einklagen. Ich hoffe nicht, dass Sie ihnen das absprechen wollen. Das ist das Allerletzte.
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Der Bund und die Länder Berlin und Brandenburg verhandeln seit 2014 mit den Hohenzollern. Ziel war und ist es, eine einvernehmliche und vor allem eine außergerichtliche Lösung zu finden, die für beide Seiten akzeptabel ist. Genau so ist es in anderen Bundesländern mit den Adelshäusern der Wettiner und der Wittelsbacher geschehen. Sie haben das erfolgreich vorgemacht. Die Rückgabeansprüche sind Sache der Verhandlungspartner. Der Deutsche Bundestag entscheidet darüber nicht, und das ist gut so.
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Wo kommen wir denn hin, wenn gesetzlich verbriefte Rechte zum Spielball parteipolitisch motivierter Debatten werden?
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Diese Haltung ist unverantwortlich.
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Als größter Leihgeber der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten stellt die Familie Hohenzollern bereits heute viele Kulturgüter der Öffentlichkeit zur Verfügung;
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das werden Sie ja wohl wissen. Die Gespräche mit den Hohenzollern wollen wir fortsetzen und nach Möglichkeit eine langjährige und aufwendige gerichtliche Auseinandersetzung vermeiden.
Sie plädieren in Ihrem Antrag für die Enteignung der Hohenzollern, selbst wenn ihnen die Gerichte Ansprüche zusprechen. Mit Enteignungen sind Sie, die Linken, immer schnell bei der Hand.
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Nur, damit verlassen Sie den Boden unserer Verfassung – auch in diesem Fall –,
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und das lehnen wir ab.
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Ein solches Verständnis von unserem Rechtsstaat ist unverantwortlich. Deutsche Gerichte werden am Ende, wenn es keine einvernehmliche Regelung gibt, entscheiden, und das sollten Sie bitte auch akzeptieren.
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Wir wollen an einer einvernehmlichen Lösung weiter arbeiten. Die Hohenzollern werden unsere Museen – das ist übrigens ein ganz übles Vorurteil – ganz sicher nicht ausräumen. Seien Sie gewiss! Wir wünschen uns, dass diese Verhandlungen zügig vorangetrieben werden. Dafür müssen sich beide Seiten aufeinander zubewegen.
Übrigens – jetzt komme ich auf die vom Kollegen Post schon angesprochene Tatsache zurück –: Das 1926 zugestandene und heute umstrittene Wohnrecht im Schloss Cecilienhof wurde schon in den 80er-Jahren von der DDR-Regierung, von Honecker persönlich, in Erwägung gezogen. Im Gegenzug sollte der Sarg Friedrich des Großen nach Potsdam zurückkehren. Louis Ferdinand von Preußen war bereit, den Sarg von der Burg Hohenzollern zu überführen; aber er hat die Bedingung gestellt, dies nur in einem wiedervereinigten Deutschland zu tun. Das war seine Bedingung. Deshalb ist der Sarg 1991 nach Sanssouci gekommen.
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Sie weisen in Ihrem Antrag jegliche Ansprüche der Hohenzollern zurück, und Sie wissen genau, dass die Voraussetzung dafür, dass sie keine Ansprüche haben, die Frage ist, ob sie dem Naziregime Vorschub geleistet haben. So sieht es das Ausgleichsleistungsgesetz von 1994 vor. Ob der Kronprinz den Nazis erheblich Vorschub geleistet hat, ist unter Historikern – das haben Sie vergessen zu sagen – hoch umstritten.
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Es gibt ein Patt der Gutachten. Ich zitiere jetzt Christopher Clark aus Cambridge, den viele kennen:
Kronprinz Wilhelm hat dem nationalsozialistischen System keinen erheblichen Vorschub geleistet. Seine Handlungen waren nicht dazu geeignet, die Bedingungen für die Errichtung, die Entwicklung oder die Ausbreitung des nationalsozialistischen Systems zu verbessern ...
Das ist eines der Gutachten, die infrage stehen. Die Linksfraktion maßt sich an, alles besser zu wissen als Historiker von höchstem Renommee.
({15})
Die in Rede stehenden Ansprüche der Hohenzollern sind allesamt bürgerlich-rechtliche Ansprüche, die auf einem Gesetz über die Vermögensauseinandersetzung zwischen dem Staat und dem Haus Hohenzollern aus dem Jahr 1926 sowie auf dem Ausgleichsleistungsgesetz von 1994 gründen. Der Antrag der Linken basiert auf einer zum Teil polemisch geführten Debatte. Ob Jan Böhmermann, „Der Spiegel“ oder die „taz“ – sie alle diskreditieren den Adel, und Sie haben es auch getan.
({16})
Das ist übel. Schauen Sie sich doch einmal an, wie viele Adlige in diesem Parlament sitzen,
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die gute Demokraten sind.
Ich lese ein Zitat aus dem „Spiegel“ vor:
Der Adel ist im Allgemeinen, die Hohenzollern ganz speziell ... eine Plage für Land und Leute. ... Dieses Land schuldet …
– den Hohenzollern –
keine einzige Kaffeetasse, von Kunstschätzen oder Immobilien ganz zu schweigen.
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Ich komme zum Ende. Genau in diesem populistischen Geist haben Sie den vorliegenden Antrag formuliert. Sie legitimieren die Enteignungen der DDR, übrigens ein undemokratischer Unrechtsstaat.
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Enteignungen, erst recht Enteignungen in einem Unrechtsstaat, entsprechen nicht unseren Grundrechten.
Frau Motschmann – –
Und das ist gut so. – Liebe Präsidentin, ich bin am Ende und bedanke mich sehr herzlich für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Elisabeth Motschmann. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Dr. Alexander Gauland.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zuerst einmal: Das deutsche Volk hat seine depossedierten Fürsten nach der Katastrophe von 1918 gut behandelt. Friedrich Ebert schickte dem pflichtvergessenen Kaiser 60 Güterwagen mit seiner persönlichen Habe ins holländische Exil nach. Im Haus Doorn kann man sie heute noch besichtigen. Auch bei der Fürstenabfindung 1926 – es ist darüber gesprochen worden – blieben die Herrscherhäuser im Besitz von Schlössern, Gütern, Wäldern und Äckern.
Erst die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges, die Maßnahmen der sowjetischen Besatzungsmacht und die Verluste der deutschen Ostgebiete an die Sowjetunion und Polen machten aus den nach 1918 immer noch sehr wohlhabenden Hohenzollern eine fast normale bürgerliche Familie. Für diese gilt – Frau Motschmann hat es gesagt – nach dem Einigungsvertrag wie für alle anderen Geschädigten auch: Rückgabe der beweglichen Habe und Entschädigung für endgültig verlorenen Immobilienbesitz. Wir leben Gott sei Dank in einem Rechtsstaat.
({0})
Die Gespräche zwischen dem Haus Hohenzollern, der Bundesregierung und den Ländern Berlin und Brandenburg laufen noch – sie laufen übrigens schon seit 2014 –, da beginnen sich plötzlich revolutionäre Töne in die Verhandlungen einzuschleichen.
({1})
Denn Entschädigung und Rückgabe entfallen, wenn der Geschädigte dem Nationalsozialismus in erheblicher Weise Vorschub geleistet hat.
Genau diesen eigentlich historischen Streit, der ohne Einigung am Ende wohl vor Gericht ausgetragen werden wird, möchte Die Linke vorab politisch entscheiden. Für Sie sind die Hohenzollern schuldig und verdienen keinen Cent Entschädigung.
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Nun besteht kein Zweifel, dass der letzte Kaiser in Doorn, sein ältester Sohn, der frühere Kronprinz, und einige seiner Brüder, besonders Prinz August Wilhelm, weder klug noch leidenschaftliche Demokraten waren, um das Mindeste zu sagen. Ja, und ich weiß: Es gibt die Bilder, auf denen der Kronprinz mit Hitler posiert, zum Beispiel am Tag von Potsdam. Ja, sie hofften auf eine italienische Lösung – Faschismus und Monarchie –, wenigstens einige, eine Lösung, die allerdings für Hitler nie infrage kam.
Da sind wir bei den intellektuellen Fähigkeiten der damaligen Hohenzollern. Sie waren doch sehr bescheiden. Die des Kronprinzen hat schon sein Vater nicht gerühmt.
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Sie waren sehr bescheiden, sodass viel für das Urteil von Christopher Clark spricht. Sie konnten mangels intellektueller und politischer Masse dem Nationalsozialismus nicht in erheblicher Weise Vorschub leisten.
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Ja, ich weiß, meine Damen und Herren: Man kann das alles auch kritischer sehen – regen Sie sich nicht auf! –, und andere Historiker sehen das auch kritischer. Dass aber ausgerechnet Die Linke sich hier zum Richter aufschwingen will, ist an Heuchelei nicht zu überbieten, Herr Korte.
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Denn es waren doch Ihre geistigen Väter, die Kommunisten, die mit dem Kampf gegen den Sozialfaschismus, also die Sozialdemokratie,
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eine Abwehrfront gegen die Nazis verhinderten. Und schlimmer noch: Beim BVG-Streik 1932 haben sie gemeinsame Sache mit den Nationalsozialisten gemacht.
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Im Streikkomitee zogen Walter Ulbricht und Joseph Goebbels, der Gauleiter von Berlin, gemeinsam die Fäden. Das ist die Vergangenheit Ihrer Partei, Herr Korte.
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Wer im Glashaus sitzt, meine Damen und Herren und,
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ich sage, liebe Kollegen von der Linken, sollte nicht mit Steinen auf die Hohenzollern werfen. Deshalb sollten diese Verhandlungen – Frau Motschmann hat es völlig richtig gesagt – mit dem Ziel einer Einigung fair zu Ende geführt werden.
Schließlich gibt es nicht nur den letzten Kaiser und seinen missratenen Sohn, sondern eine Familie, die nicht weit von hier aus der Streusandbüchse des Alten Reiches ein ästhetisch vollkommenes Arkadien geschaffen hat, an dem sich auch heute Millionen Besucher des In- und Auslands jedes Jahr erfreuen. Ja, ich kenne die Einwände des lesenden Arbeiters. Herr Korte hat es auch wieder versucht. Er hat Bertolt Brecht nicht zitiert, aber genau in die Richtung geht es.
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Nur, am Ende, meine lieben Kollegen von den Linken, war es Friedrich, der Sanssouci geschaffen hat, und nicht der Maurer mit der Kelle; denn er hat es entworfen.
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Seien wir also gnädig mit den Hohenzollern. Sie haben nur die Fehler gemacht, die leider viele unserer Großväter und Großmütter millionenfach auch gemacht haben. Insofern waren sie, was schon Walther Rathenau kurz nach der Niederlage von 1918 über Wilhelm II. festgestellt hat: ein fast perfektes Symbol für die Verirrungen eines Volkes, bei denen wir sie jetzt nicht alleine lassen sollten.
Ich bedanke mich.
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Nächster Redner in der Debatte: Helge Lindh für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein paar Meter von hier auf dem Balkon hat 1918 der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann die Deutsche Republik ausgerufen. Auf dieser Grundlage kann ich feststellen, dass die SPD-Bundestagsfraktion gewiss nicht die Entschuldigung und Entschädigung, Exkulpierung oder auch Rehabilitierung der Hohenzollern als ihre politische Aufgabe erachtet, und ich finde das auch gut so.
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Zum Zweiten hat hier an dieser Stelle auch Otto Wels damals die Würde aller Demokratinnen und Demokratinnen, der Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, letztlich auch der verfolgten Kommunistinnen und Kommunisten und aller anderen, die widerständig waren, verteidigt. Deshalb lege ich – im Namen unser aller – großen Wert darauf, dies als Form des Widerstandes gegen das NS-System zu kennzeichnen und einen deutlichen Unterschied zu machen zum Verhalten des damaligen monarchistischen Geschlechts.
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Es scheint notwendig zu sein, dies in den Debatten, die wir gegenwärtig erleben, deutlich zu machen, weil ich inzwischen dem medialen Diskurs entnehme, dass Formulierungen zu finden sind wie: „Die Rolle war umstritten“, und damit kann ich mich, ehrlich gesagt, nicht abfinden.
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Ich sage das sine ira et studio – nicht mit Zorn, sondern als nüchterne Analyse –: Es geht nicht darum, jetzt irgendwie revanchistisch die Hohenzollern abzustrafen. Mir geht es auch überhaupt nicht darum, mit Preußen oder mit dem Adel abzurechnen. Wie käme ich darauf? Ich bin ein großer Anhänger der preußischen Reform. Ich habe mit Begeisterung Wilhelm von Humboldt gelesen. Aber darum geht es nicht. Es geht hier um verschiedene Fragen, die in diesem ganzen Diskurs leicht durcheinandergebracht werden, die uns aber nicht dazu bringen sollten, auch die ethische Dimension des Ganzen zu vergessen.
Bevor ich zu den Detailpunkten komme, wage ich doch, darauf hinzuweisen, dass es ganz, ganz viele, letztlich Millionen Deutsche gab, die in dieses Land aus dem Osten flüchteten, die nicht große Entschädigungen erfahren haben, denen es deutlich schlechter ergangen ist als den Hohenzollern. Ich erinnere auch daran, dass wir uns alle relativ schwer damit tun, bestimmte Opfergruppen – ich nenne hier zum Beispiel die sogenannten Berufsverbrecher und Asozialen oder die Opfer der Euthanasie – überhaupt als Verfolgte des NS-Regimes anzuerkennen. Dieser Kontext steht nicht im unmittelbaren Zusammenhang mit dieser Debatte. Aber wir können doch nicht ausblenden, dass wir noch Erhebliches zu tun haben, um tatsächliche Opfer des NS-Regimes zu würdigen, und anderes, als uns allein damit zu beschäftigen, ob das Erbe der Hohenzollern hinreichend gewürdigt wird. Ich glaube, das muss man auch einmal deutlich formulieren.
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Jetzt kommen wir zu den einzelnen Ebenen. Einerseits ist da die rechtliche Ebene. Es wurde schon erwähnt: Es geht letztlich in den Ausgleichsverhandlungen, die jetzt auch keine Geheimverhandlungen waren – so geheim sind sie wahrlich nicht –,
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und die auf Basis der sogenannten Fürstenenteignung der 20er-Jahre stattgefunden haben, um die Vermögensauseinandersetzung, um den Vertrag von 1925/1926, und es geht um das Ausgleichsleistungsgesetz. Das ist eine rechtliche Frage. Wir haben parallel dazu interagierend – das muss man sagen – zum Beispiel in Brandenburg die Situation, dass dort ein Verwaltungsgerichtsverfahren aufgrund der Ausgleichsverhandlung ruhiggestellt wurde. Da geht es um die Rückgabe von Immobilien bzw., da das da nicht möglich war und abgelehnt wurde, um Entschädigungszahlungen. Die Hohenzollern haben gegen die Entscheidung des Landes Brandenburg geklagt. Das ist die Dimension, über die wir sprechen. Im Zusammenhang mit diesem Verfahren in Brandenburg kam es auch zu den schon genannten vier Gutachten von Historikern.
Die rechtliche Frage, die sich darstellt, ist letztlich keine moralische. Es geht da nicht um die Frage von Schuld, und es ist auch nicht die Frage eines großen historischen Werturteils; das wird an anderer Stelle entschieden werden. Es ist in der Formulierung die Frage – ich zitiere aus dem Ausgleichsleistungsgesetz –, ob jemand „erheblichen Vorschub geleistet hat“. Das ist auch klar von Gerichten definiert. Es wurde 2005 im Verfahren in Bezug auf Hugenberg vom Bundesverwaltungsgericht noch einmal bestätigt. Es geht da um stetige Handlungen, die die Bedingungen der Errichtung und Entwicklung des NS-Systems verbessert haben. „Erheblich“ bedeutet, dass das nicht ganz unbedeutende Beiträge waren. Ich bin nicht Jurist, und es steht mir nicht an, das zu entscheiden. Aber ich denke, es spricht sehr, sehr viel dafür, dass diese rechtlichen Kriterien in diesem Fall erfüllt waren. Deshalb vertraue ich auch da auf die womöglich letztlich kommenden juristischen Entscheidungen.
Es gibt aber auch noch eine andere Dimension – ich glaube, die muss man an diesem Tag erwähnen; sie kam bisher noch nicht zum Zug –: Es gibt auch so etwas wie eine geschichtspolitische Dimension des Ganzen. Ich stelle fest, dass hochbedeutende Historikerinnen und Historiker dieses Landes sich momentan in einer etwas schwierigen Situation befinden.
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Stephan Malinowski war konfrontiert mit einer Strafanzeige durch das Geschlecht der Hohenzollern.
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Das Verfahren wurde eingestellt. In diesem Augenblick gibt es Unterlassungsbegehren, einstweilige Verfügungen. Ich nenne als Beispiel Dr. Martin Sabrow, Dr. Winfried Süß, Dr. Karina Urbach, alles höchst anerkannte Historikerinnen und Historiker dieses Landes. Nicht zu Unrecht – ich bringe mich jetzt womöglich selbst in die Gefahr, verklagt zu werden; aber das stört mich nicht – muss darauf hingewiesen werden, dass im „Tagesspiegel“ Martin Sabrow von einer „Unkultur der Einschüchterung“ und von einer „Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit“ gesprochen hat. Sehr geehrte Damen und Herren, ich denke, als Parlament können wir diesen Umstand nicht ignorieren.
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Dabei steht es mir nicht an, groß Ratschläge zu erteilen. Ich kann nur sagen, was ich täte, wäre ich ein Mitglied des Geschlechtes der Hohenzollern. Ich würde die Chance ergreifen, mich als moderne, ehemalige Monarchenfamilie zu präsentieren, mit entsprechender Bescheidenheit. Ich würde deutlich machen, dass mir an allen Möglichkeiten gelegen ist und dass ich so souverän bin, die Geschichte meines Hauses aufzuklären,
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womöglich Expertenkommissionen oder Ähnliches einzuberufen; das sollte man entscheiden.
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Mir wäre daran gelegen, die Demokratie dieses Landes zu stärken und deutlich zu machen, dass ich zu dieser stehe, dass das die entscheidende Frage ist und dass es ein Unterschied ist, der einen Unterschied macht, ob man Opfer war oder Täter, und dass Kronprinz Wilhelm gewiss kein Gralshüter der Demokratie in diesem Lande war.
Das sage ich zum Schluss, und das sage ich als Sozialdemokrat in Bezug auf Otto Wels und Philipp Scheidemann: Wir haben als Sozialdemokraten nicht erlebt, dass die Hohenzollern uns damals unterstützt hätten. Nein, im Gegenteil: Es waren die Eliten, und dazu gehörte auch dieses Geschlecht damals – damit haben die heutigen Personen nichts zu tun; aber es war damals der geschichtliche Umstand –, die uns im Kampf gegen die Entstehung des Nationalsozialismus geschwächt haben. Das macht den Unterschied, und auf dieser Grundlage verhalten wir uns auch.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner: Hartmut Ebbing für die Fraktion der FDP.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Manche Anträge, die wir hier in diesem Haus diskutieren, verwundern mich schon sehr. Der hier vorgelegte Antrag der Linken besteht eigentlich nur aus simplifiziertem Klassenkampf und verfassungsrechtlich bedenklichen Kollektivierungsfantasien; das muss ich einfach so sagen.
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Die Tatsache, dass Sie behaupten, jegliche Entschädigungsansprüche aus Entscheidungen der sowjetischen Militäradministration seien grundsätzlich auszuschließen, offenbart einmal mehr Ihre ideologische Nähe zum sozialistischen Gedankengut der Sowjetunion.
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Noch viel grotesker ist aber der Forderungskatalog aus Ihrem Antrag. Darin fordern Sie zunächst den Abbruch der Verhandlungen mit der Familie Preußen und die Wiederaufnahme des gerichtlichen Prozesses. Das ist zwar nicht meine Meinung, aber durchaus noch vertretbar. Aber dann entlarven Sie sich; denn anstatt ein solches von Ihnen gefordertes Urteil zu akzeptieren, fordern Sie für den Fall, dass Ihnen das Urteil nicht passt, eine erneute umfängliche Enteignung der Familie Preußen.
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– Ja, das steht in Ihrem Antrag. – Da frage ich mich schon, ob Sie noch auf dem Boden der Verfassung stehen oder sich nicht insgeheim die Wiedererrichtung eines Unrechtsstaates wünschen.
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Die Bundesrepublik Deutschland ist jedoch zum Glück noch immer ein Rechtsstaat, und daher sind vor dem Gesetz alle Bürger gleich, egal ob sie Meyer, Müller, Wagenknecht oder Preußen heißen. Wer in der Bundesrepublik Deutschland einen rechtmäßigen Anspruch besitzt, kann diesen unabhängig von Alter, Geschlecht, Sexualität, Herkunft oder Namen geltend machen. Der Rechtsstaat schützt nicht nur das gesellschaftliche Miteinander, sondern auch den einzelnen Bürger vor potenziellen Übergriffen des Staates. Ein Grundpfeiler des Schutzmechanismus ist das Zugestehen eines fairen Verfahrens. Essenzieller Teil eines solchen rechtsstaatlichen Verfahrens sind auch Verhandlungen zwischen Konfliktparteien. Nur so ist es oftmals möglich, eine für beide Seiten akzeptable Lösung herbeizuführen. Dies gilt naturgemäß insbesondere für komplexe Sachverhalte, wie wir sie hier festgestellt haben.
Obwohl einige schon etwas dazu vorgetragen haben, möchte ich den Fall etwas genauer darstellen. Für Entschädigungen bei Enteignungen durch die sowjetische Militäradministration zwischen 1945 und 1949 verabschiedete der Bundestag 1994 das Ausgleichsleistungsgesetz. Dieses sah einen symbolischen finanziellen Ausgleich für den Verlust von Immobilien vor sowie die Rückgabe von Mobilien. Diese Ansprüche verfallen jedoch, wenn der Anspruchsteller oder derjenige, von dem der Anspruchsteller seinen Anspruch ableitet, dem nationalsozialistischen Regime „erheblichen Vorschub geleistet hat“. Im Fall Preußen streiten sich darüber seit Jahren namhafte Historiker. Das ist wirklich ein Streit. Hier ist keine eindeutige Meinung zu sehen, sondern es ist ein Streit zwischen Historikern und Juristen. Wie ein Gericht dieses Ausschlusskriterium bewerten würde – auch nach Vorlage weiterer Gutachten –, ist, finde ich, pure Hellseherei und vollkommen ungewiss.
Im Fall von Mobilien und Immobilien hingegen, die während der sowjetischen Besatzungszeit nicht zweifelsfrei enteignet wurden oder unter Sequestrationsgewalt gestellt worden sind oder erst nach Gründung der DDR enteignet worden sind, gilt nicht das Ausgleichsleistungsgesetz, sondern das Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen, besser bekannt als: Vermögensgesetz. Im Vermögensgesetz steht nichts davon, dass die Rückgabe ausgeschlossen ist, wenn dem Nationalsozialismus erheblich Vorschub geleistet worden ist. Wenn die Ansprüche nach Vermögensgesetz durchgehen, dann muss nach Gesetz zurückgegeben werden. Im Fall der Familie Preußen ist nach meiner Kenntnis noch nicht ansatzweise geklärt, welche Kunstgegenstände wann genau enteignet worden sind und ob sie somit unter das Ausgleichsleistungsgesetz fallen oder unter das Vermögensgesetz. Nachweispflichtig hierfür ist nach meiner Kenntnis der Staat. Sollten Kulturgüter unter das Vermögensgesetz fallen, müssten diese ohne Zweifel vollumfänglich zurückgegeben werden, und der Staat hätte grundsätzlich keinerlei Einfluss auf den öffentlichen Zugriff.
Der Fall ist also höchst komplex und würde die Gerichte über Jahre oder Jahrzehnte beschäftigen und könnte womöglich verheerende Auswirkungen für die öffentlichen Museen haben. Deswegen finde ich es richtig und auch gut, dass die Bundesregierung gemeinsam mit den Ländern Berlin und Brandenburg in Verhandlungen mit der Familie Preußen eingetreten ist und damit dem Beispiel aller anderen ostdeutschen Landesregierungen folgt. Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern haben allesamt gütliche Einigungen durch Verhandlungen mit den jeweiligen Adelsfamilien erzielt. Nur so war es möglich, dass wir heute alle weiterhin die Klassik Stiftung Weimar und ihren unschätzbaren kulturellen Wert öffentlich genießen können.
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Auch die Sammlung im Grünen Gewölbe in Dresden wäre ohne eine gütliche Einigung nicht denkbar. Welchen unschätzbaren emotionalen Wert diese Sammlung in Dresden hat, wissen wir seit dem tragischen Einbruch vor Kurzem.
Für die öffentlichen Museen kann ein Gerichtsverfahren zu massiven und unkalkulierbaren Verlusten führen, die nie mehr rückgängig zu machen wären. In Verhandlungen allerdings kann man sicherstellen, dass ein größtmöglicher Teil der Kulturgüter durch Nutzungsverträge weiterhin der Öffentlichkeit zugänglich bleibt und nicht meistbietend bei Christie’s und Sotheby’s im Ausland verkauft wird. Solche Verhandlungen erlauben es, die Familie von Preußen im Gegensatz zu Rückübertragungen vertraglich dazu zu verpflichten, die große Mehrheit der Kunstgegenstände sowohl aus West- als auch aus Ostvermögen über Dauerleihgaben und individuelle Vereinbarungen für die Öffentlichkeit zugänglich zu halten. Dies wäre nicht nur für die kulturelle Vielfalt der Bundesrepublik von enormer Bedeutung, sondern auch für die kulturelle Bildung nachfolgender Generationen; denn wenn wir dauerhaft den öffentlichen Zugang zu diesen Kulturgütern verlieren würden, wäre das ein kaum zu bemessender Verlust für unsere Gesellschaft.
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Gleichwohl fordern wir beide Seiten auf, die seit 2014 bestehenden Verhandlungen nunmehr zügig abzuschließen.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank, Kollege Ebbing. – Nächster Redner: für Bündnis 90/Die Grünen Erhard Grundl.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Anwesende! Es hat lange gedauert, bis Firmen, Sportvereine, Sportklubs, Ministerien und Behörden begonnen haben, sich mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit auseinanderzusetzen. In den allermeisten Fällen musste diese Auseinandersetzung lange und hart von der Zivilgesellschaft erkämpft werden. Abgeschlossen ist sie bis heute nicht. Aber diese Auseinandersetzung ist wichtig, vor allem dann, wenn das Wort von Adorno, „dass Auschwitz nicht sich wiederhole“, in Deutschland als Staatsräson gelten soll.
Was für Firmen und die Aufarbeitung ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit gilt, muss umso mehr für das Haus Hohenzollern gelten. Schließlich stellten die Hohenzollern Kurfürsten, preußische Könige, deutsche Kaiser und trugen über 500 Jahre politische Verantwortung in Deutschland. So steht es jedenfalls auf der Hohenzollern-Homepage. Auch wenn die Konfrontation mit Schuld in der eigenen Familie schwerfällt: Transparenz und Bereitschaft zur ergebnisoffenen Auseinandersetzung sind entscheidend für die Aufarbeitung dieses Teils der deutschen Geschichte.
({0})
Transparenz und Offenheit, genau das vermisse ich in der Auseinandersetzung mit den Fragen, die für die derzeit laufenden Entschädigungsverhandlungen entscheidend sind. Sicherlich ist es legitim, mit juristischen Mitteln gegen Behauptungen falscher Tatsachen vorzugehen. Aber wenn ich mir anschaue, wie Historikerinnen und Historiker, Journalistinnen und Journalisten und andere, die sich im Umfeld der jetzigen Diskussion äußern, reihenweise mit Unterlassungsklagen unter Druck gesetzt werden, frage ich Sie: Ist dieses Abmahn- und Klageverfahren im Sinn des Erkenntnisgewinns zielführend? Führt das zu mehr Transparenz, oder wirkt dieses Vorgehen nicht vielmehr wie ein Versuch, die Freiheit von Wissenschaft und Presse einzuschränken?
({1})
Die Frage, ob die Hohenzollern dem Nationalsozialismus in erheblichem Maße Vorschub geleistet haben, steht im Zentrum des Antrags von Bündnis 90/Die Grünen, und diese Frage steht im Zentrum der öffentlichen Anhörung am 29. Januar im Ausschuss für Kultur und Medien, wo viele der vorhin genannten Historikerinnen und Historiker zu Wort kommen werden. Diese Frage steht im Zentrum unseres Antrags, weil die derzeit laufenden Verhandlungen der Kulturstaatsministerin mit den Hohenzollern auf der Grundlage des Ausgleichsleistungsgesetzes von 1994 erfolgen. Das Gesetz schafft eine besondere Rechtslage angesichts neuerer deutscher Geschichte aus nachvollziehbaren Gründen, wie es Professor Christopher Clark aus Cambridge in einem „Spiegel“-Interview im Oktober 2019 formuliert, in dem er gleichzeitig seine früheren Äußerungen, die Sie, Kollegin Motschmann – genauso wie Herr Gauland –, heute zitiert haben, relativiert. Ich möchte darauf hinweisen, dass Sie veraltete Zitate gebracht haben. Denn der Gesetzgeber hat eigentumsrechtlichen Fragen ein historisches und politisch-moralisches Urteil vorausgestellt. Wenn die Hohenzollern auf Entschädigung nicht verzichten wollen, müssen sie historisch argumentieren. Es geht im vorliegenden Fall nicht um schlichte privatrechtliche Eigentumsfragen.
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Denn die letztlich von den Gerichten zu klärende Frage verlangt zunächst die Beantwortung einer Grundsatzfrage der deutschen Geschichte, der Frage nach der historischen Verantwortung der Hohenzollern für die Machtübernahme der Nationalsozialisten. Darüber kann nicht im Staatsministerium entschieden werden. Das ist eine Res publica, eine öffentliche Angelegenheit, die öffentlich debattiert werden muss.
({3})
Historikerinnen und Historiker, Journalistinnen und Journalisten sowie Politikerinnen und Politiker müssen hierbei einbezogen werden. Daher war unser erstes Ziel, Öffentlichkeit herzustellen, und ich danke speziell dem Fernsehmoderator Böhmermann, der es geschafft hat, diese Öffentlichkeit vehement auszuweiten.
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In unserem Antrag fordern wir Grüne den Deutschen Bundestag auf, sich analog zur Armenien-Entscheidung zu dieser Frage politisch-historisch zu äußern. Wir fordern den Bundestag dazu auf, die Auffassung zu teilen, dass die Hohenzollern dem Nationalsozialismus erheblich Vorschub geleistet haben, und auf der Grundlage dieses Beschlusses zu agieren, den Bundestag vor Vertragsabschluss einzubeziehen und ihn vollumfänglich zu informieren.
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Aus diesem Grund haben wir die Anhörung im Ausschuss für Kultur und Medien gefordert, die am 29. Januar stattfinden soll. Dabei ist entscheidend, den Anhörungsgegenstand nicht auf eigentumsrechtliche Fragen zu reduzieren.
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Es geht um die historische Frage der Vorschubleistung. Nach jetzigem Stand gehen wir davon aus, in der Anhörung den Nachweis führen zu können, dass Wilhelm Prinz von Preußen dem Nationalsozialismus in erheblichem Maße Vorschub geleistet hat.
Meine Damen und Herren, mir ist es wichtig, die Intention des Gesetzes von 1994 ernst zu nehmen; denn der Gesetzgeber hat hier bewusst Fragen zum Eigentumsrecht mit der Frage der historischen Verantwortung verbunden. Er wollte damit Gerechtigkeit gegenüber all denjenigen schaffen, die durch Krieg, Verfolgung, Vertreibung und Enteignung alles verloren haben. Der Gesetzgeber wollte gezielt nicht diejenigen entschädigen, die dem Nationalsozialismus zur Macht verholfen und der Diktatur den Weg bereitet haben, diejenigen also, durch die, wie es im Hugenberg-Urteil von 2005 heißt, deren Unrechtsmaßnahmen erst möglich wurden, also die Vernichtung der europäischen Juden und andere Verbrechen des Nationalsozialismus.
Es geht um deutsche Geschichte. Eine geleistete Ausgleichsleistung, ohne die Frage der Vorschubleistung zu klären, käme einem nachträglichen Freisprechen von Schuld gleich. Darum ist diese Frage des Leistens erheblichen Vorschubs die alles entscheidende.
Ich danke Ihnen.
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Vielen Dank. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Ansgar Heveling.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen!
Das Staatsministerium wird daher ersucht,
1. über die bisher stattgefundenen Verhandlungen mit den Hohenzollern bzw. ihren Vertretern dem Landtag Bericht zu erstatten;
2. jede weitere Verhandlung sofort einzustellen;
3. dem Landtage einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die entschädigungslose Enteignung des sogenannten Privateigentums der Hohenzollern zugunsten des Staates enthält.
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Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, das ist nicht der Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/14729, sondern das ist der Antrag von Wilhelm Pieck – ihn kennen wir alle aus der DDR – im Preußischen Landtag am 11. Oktober 1926. Das Zitat stammt aus dem Stenografischen Protokoll. Er ist in den Forderungen dem, was die Linke heute fordert, zum Verwechseln ähnlich, und man mag sich fragen: Wie viel Weimar steckt denn heute noch in unserer Berliner Republik?
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Schauen wir uns die historische Entwicklung doch einmal genauer an. Man muss festhalten, dass sich sowohl das Reich als auch das Land Preußen, letztlich die Politik, an der Aufteilung des Kronvermögens nach der Absetzung der Fürsten vielfach verhoben haben. Insbesondere eine Politik der damals linken Seite des politischen Spektrums, so wie sie sich im Oktober 1926 im Preußischen Landtag manifestiert hat, meinte, mit Stimmungsmache gegen die vormals regierenden Häuser Recht setzen zu können. Der entsprechende Volksentscheid ist seinerzeit krachend gescheitert. Die damalige extreme emotionale Aufladung des Themas dürfte dazu beigetragen haben, dass eben bis heute Fragen im Zusammenhang mit der Zuordnung von Eigentumspositionen zwischen den Nachfolgeländern Preußens, dem Bund und der ehemals regierenden Familie ungeklärt geblieben sind.
Den Fehler aus der Zeit der Weimarer Republik aus den Jahren 1925 und 1926 sollten wir jetzt nicht wiederholen.
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Es ist an der Zeit, Eigentumsverhältnisse rechtsstaatlich zu klären.
Aus dem republikanischen Geist ist eine Bundesrepublik hervorgegangen, in der Recht und Gesetz allgemein gelten und jedem Bürger, auch wenn er einem ehemaligen Herrscherhaus angehört, transparente und rechtsstaatliche Verfahren garantiert sind.
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Er kann Rechtspositionen einfordern, über die dann nach Recht und Gesetz entschieden wird oder die einer gütlichen Einigung zugeführt werden. Es wäre fatal, den Bürgern namens Preußen die Geltendmachung von Rechten aufgrund einer politischen Einzelfallentscheidung zu nehmen, so wie es die Linke fordert.
Es mag die Nähe zu den vorrepublikanischen Zeiten gewesen sein, die Weimar beim Thema Eigentumszuordnung in die Situation schlittern ließ, letztlich mit vorkonstitutionellen Gedanken an die Aufteilung in Staats- und Privateigentum herangegangen zu sein. Hinzu kommt, dass die weiteren Umwälzungen in unserem Land, die nationalsozialistische Gewaltherrschaft sowie die Enteignungen während der sowjetischen Besatzungszeit, die Sachlage nicht unbedingt vereinfacht haben.
Zum einen muss geklärt werden, welche Güter, welche Eigentumspositionen im Jahr 1926 tatsächlich Teil des Privateigentums der Hohenzollern geworden sind. Ja, natürlich ist die Auslegung von Recht besonders dann schwierig, wenn es Brüche in der Staatsform und Transformationsprozesse gegeben hat; denn dann verändern sich Kategorien von Recht. Selbstverständlich ist der Übergang von der Monarchie zur Republik bzw. der Wandel vom Feudalismus zur bürgerlichen Gesellschaft ein solcher Umbruchsprozess gewesen. Insofern hat sich der Gehalt des Eigentumsbegriffs fundamental gewandelt.
Während wir heute Eigentum als Privateigentum verstehen und auch öffentliches Eigentum den Rechtsregeln des Privateigentums folgt, ist die vorkonstitutionelle Zuordnung gerade mit Blick auf frühere Herrscherfamilien deutlich komplizierter. Fiduziarische Eigentumsverhältnisse, Kroneigentum, öffentliches Eigentum, Privateigentum – alles das zu sortieren, ist nicht einfach. Aber wir sollten es Vereinbarungen und im Streitfall eben auch Gerichten überlassen, zu entscheiden, welche der ehemaligen Eigentumsformen in unsere heutige Eigentumsordnung wie einzuordnen sind.
Fraglos wird die Situation auch durch die gesetzlichen Regelungen aus der Zeit der Wiedervereinigung komplizierter. Denn es ist auch unklar, ob das enteignete Privateigentum der Hohenzollern heute überhaupt noch zurückgefordert werden kann; denn der Deutsche Bundestag hat 1994 per Gesetz die Wertentscheidung getroffen, dass enteignetes Vermögen nicht zurückgefordert werden kann, wenn dem nationalsozialistischen System erheblich Vorschub geleistet worden ist.
Was aber unter der Formulierung „erheblich Vorschub leisten“ zu verstehen ist – damit ist es eben ein wirklich unbestimmter Rechtsbegriff –, ist ebenso schwierig rechtlich zu definieren wie tatsächlich festzustellen. Aus der öffentlichen Debatte wissen wir – das ist hier eben auch schon angesprochen worden –, dass renommierte Historiker hinsichtlich dieser Frage durchaus zu entgegengesetzten Ergebnissen kommen. Um hierüber nicht jahrelang vor Gericht zu verhandeln, lohnt es, zunächst einmal zu versuchen, auf dem Verhandlungswege zu einer Einigung zu kommen. Davon kann unter Umständen auch die Allgemeinheit profitieren.
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Denn der Weg der Linken, gerichtlich Zugesprochenes durch Vergesellschaftung gegebenenfalls wieder zu enteignen, ist jedenfalls kein schlüssiger Vorschlag; denn da beißt sich die Katze doch in den Schwanz. Enteignungen sind in der Bundesrepublik nach dem Grundgesetz natürlich zu entschädigen.
Als rheinischer Katholik und mithin „Beutepreuße“ stehe ich sicherlich nicht im Verdacht, Parteigänger der Preußen zu sein.
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Es geht mir vielmehr um den republikanischen Geist, das allgemeine Gesetz als Maßstab des politischen Handelns zu sehen, und nicht die möglicherweise willkürliche Einzelfallentscheidung aus überhöhter Emotion.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Heveling. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Dr. Marc Jongen.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir lernen aus der heutigen Debatte: Die Methode der Antifa, politisch missliebige Bürger als Nazis anzuschwärzen, um sie ins gesellschaftliche Abseits zu stellen und sie am Wahrnehmen ihrer Rechte zu hindern – diese Methode praktizieren die Linken und teils unterstützt durch die Grünen hier im Deutschen Bundestag genauso.
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Kein Wunder, wo Sie ja schon mit Antifa-Abzeichen hier aufgetreten sind.
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Betroffen von Ihrer Nazikeule ist heute das Haus Hohenzollern, also die Nachfahren der preußischen Könige und des letzten deutschen Kaisers, das dem nationalsozialistischen System angeblich in erheblicher Weise Vorschub geleistet haben soll. Lesen Sie doch bitte die Gutachten der Historiker
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Clark und Pyta, die explizit zum gegenteiligen Schluss kommen. Über den Kronprinzen Wilhelm, den Sie besonders auf dem Kieker haben, schreibt Professor Clark – Zitat –: „Kronprinz Wilhelm hat dem nationalsozialistischen System keinen erheblichen Vorschub geleistet.“
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Er war sicher kein vorbildlicher Demokrat; da sind wir uns einig. Aber er ist „eine der politisch zurückhaltendsten und am wenigsten kompromittierten Personen“ des deutschen Kaiserhauses gewesen, wie Professor Clark schreibt.
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Aber wenn es nach Ihrem geschichtsklitternden Antrag geht, dann soll es keine Verhandlungen der Bundesregierung mit den Hohenzollern über die Rückgabe von Kulturgütern mehr geben. Und nicht genug damit: Falls die Gerichte eine solche Rückgabe anordnen, dann will Die Linke diese umgehend vom Staat wieder enteignet sehen. Enteignen und den Besitz anderer Leute verteilen, das können Sie am besten.
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Ihr Antrag atmet nicht den Geist der Gerechtigkeit, wie Sie vorgeben, sondern den Ungeist des Ressentiments, und er ist verfassungswidrig.
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Interessant ist ja schon, dass Sie jetzt nicht nur dieselbe Begründung für die Enteignung anführen wie damals schon die sowjetische Militäradministration, sondern sich ausdrücklich zu deren Entscheidung bekennen, einer Entscheidung eines Unrechtsregimes, das Millionen Menschenleben auf dem Gewissen hat, meine Damen und Herren.
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Das ganze Vermögen der DDR und damit ja auch Ihr Parteivermögen ist durch Enteignungen zustande gekommen – daran muss man auch mal erinnern –, durch ein totalitäres, kleptokratisches System, das für Sie aber natürlich kein Unrechtsstaat war, wie wir wissen.
Im Kern geht es in diesem Antrag aber um etwas ganz anderes: Das Haus Hohenzollern symbolisiert Preußen und damit einen wichtigen Teil der deutschen Geschichte.
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Unsere Erinnerungskultur, meine Damen und Herren, braucht ein Preußenbild, das frei ist von unkritischer Verherrlichung, das aber auch nicht dem ideologischen Geschichtsbild des Sowjetkommunismus folgt, wie Sie es hier immer noch zu tun scheinen.
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Solange weite Teile der Politik, linkslastige Historiker und Medien wie auch sogenannte Spaßmacher vom Schlage eines Jan Böhmermann mit allen Mitteln antifaschistische Klischees und Ressentiments bedienen, ist ein solches differenziertes Preußenbild in weiter Ferne. Wir werden uns weiter dafür starkmachen, dass es zu einem Teil der deutschen Erinnerungskultur wird. Deshalb lehnt die AfD-Fraktion Ihren Antrag ab.
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Vielen Dank.
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Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Martin Rabanus.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir wollen zum Thema zurückkommen, nach diesem Versuch der romantischen Verklärung der Monarchie durch Herrn Kollegen Jongen.
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Da stelle ich für die SPD zunächst einmal fest – damit das am Anfang der Debatte auch klar ist –, dass wir als Fraktion im Deutschen Bundestag freiwilligen Entschädigungszahlungen nicht zustimmen werden. – Erste Bemerkung.
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Zweite Bemerkung, mit Blick auf die Kolleginnen und Kollegen der Linken: Es ist natürlich ein besonderer Husarenritt, uns jetzt in dieser Stunde mit dem dürren Antrag vom letzten November zu befassen, wo wir doch eine in zwei Wochen stattfindende Expertenanhörung im Ausschuss verabredet haben, übrigens ganz maßgeblich auf Wunsch der Fraktion Bündnis 90/Grüne und des Kollegen Grundl, weniger auf Betreiben der eigenen Fraktion. Jedenfalls werden wir eine Expertenanhörung durchführen. Es wäre der Sache wahrscheinlich dienlicher gewesen, sich nun erst mal in dieser Anhörung mit den neun Experten schlauzumachen, dann in Ruhe das Ergebnis auszuwerten und zu schauen, wie man parlamentarisch initiativ wird. Also, liebe Kollegen der Linken, mit Ihrem parlamentarischen Vorgehen werden Sie diesem Thema nicht gerecht.
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Aber dass wir uns nicht missverstehen und dass das auch klar ist: Das, was die Familie Hohenzollern hier veranstaltet, ist, mit Verlaub, schon Chuzpe. Für alle diejenigen, die den Begriff „Chuzpe“ nicht kennen: Chuzpe ist in etwa, Vater und Mutter erschlagen und anschließend Waisenrente beantragen.
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Das ist das, was eigentlich passiert.
Der Gipfel ist dann tatsächlich die Forderung nach dem lebenslangen Wohnrecht im Schloss Cecilienhof. Erstaunlicherweise – nein, ich korrigiere: erfreulicherweise – hat die Familie Hohenzollern selber gemerkt, dass sie damit über das Ziel hinausgeschossen ist. Aber genau diese Maßlosigkeit ist das, was zu der öffentlichen Empörung geführt hat. Und mal ehrlich: Man kann ja auch verstehen, dass man sich darüber öffentlich empört.
Ich hätte wahrscheinlich persönlich nicht die Worte gewählt, die Bernd Stegemann im Magazin „Cicero“ gewählt hat. Er hat vom „Familien-Clan“ der Hohenzollern gesprochen, der „über tausend Jahre die mitteleuropäische Geschichte mit Kriegen, Vetternwirtschaft und Katastrophen heimgesucht“ habe und „nach den letzten beiden totalen Niederlagen wieder angelaufen“ komme, um nun auf die Aushändigung seines kriminell zusammengerafften Reichtums zu klagen.
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Ich hätte, wie gesagt, diese Worte so nicht gewählt.
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Aber ganz ehrlich: Ich habe sie gerne gelesen. Und man hat dabei den Gedanken: So ganz unrecht hat der Herr Stegemann bei seiner Bewertung nicht.
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Das ist aber sozusagen nur die eine Seite. Die vielleicht moralische, die, wie ich mal sagen will, emotionale, die andere Seite will ich hier auch ansprechen: Wir leben hier in einer Demokratie und in einem Rechtsstaat. In dieser Demokratie und in diesem Rechtsstaat, in dem wir leben, ist es völlig in Ordnung, wenn auch die Familie Hohenzollern für ihr Recht kämpft oder für das kämpft, was sie für ihr Recht hält. Das ist völlig in Ordnung. Darum geht es in den Gesprächen, die übrigens tatsächlich nicht geheim waren, aber nicht so im Fokus der Öffentlichkeit standen, und darum geht es auch in den anhängigen Prozessen vor Gericht. Das ist richtig so. Dass das auch für die Familie Hohenzollern möglich ist, das werde ich persönlich und das wird die SPD-Fraktion auch immer verteidigen. Das heißt nicht, dass wir uns damit zu Interessenvertretern von ehemaligem Hochadel machen. Nein, wir machen uns damit zu Interessenvertretern unserer Demokratie und unseres Rechtsstaats.
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Für diese öffentliche Klarstellung hat sich die Debatte dann wiederum gelohnt. Tatsächlich führen wir die Anhörung in knapp 14 Tagen im Kulturausschuss durch, um für uns als Parlamentarier die Fakten klarzubekommen, aber auch, um die Fakten noch einmal öffentlich breit zugänglich machen zu können; denn die Debatten laufen seit Anfang der 90er-Jahre, das ist hier in der Parlamentsdebatte ein paarmal erwähnt worden. Wir wollen die öffentliche Wahrnehmung weiter stärken. Wir wollen, dass das Verfahren transparent weitergeführt wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zu entscheiden – das habe ich bereits gesagt – haben aus meiner Sicht jetzt Gerichte. Das heißt im Umkehrschluss auch, dass Vergleichsverhandlungen, solange Gerichtsverhandlungen laufen, keinen Sinn machen. Wenn es letzte Entscheidungen der Gerichte gibt, werden wir sehen, was überhaupt zum Schluss an Handlungsbedarf noch übrig bleibt.
Abschließend kann ich nur noch einmal unterstreichen: Die SPD jedenfalls wird freiwilligen Zahlungen nicht zustimmen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Martin Rabanus. – Wir kommen zur letzten Rednerin in dieser Debatte – ich bitte um Aufmerksamkeit, liebe Kolleginnen und Kollegen –: Das ist Melanie Bernstein für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir über den vorliegenden Antrag diskutieren, lohnt es, noch einmal einen Blick in seine Entstehungsgeschichte zu werfen.
Im Jahre 1991 beantragte Louis Ferdinand von Preußen die Rückgabe der Immobilien, die während der sowjetischen Besatzungszeit bis 1949 enteignet wurden. Diesen Weg sind auch über 2 Millionen andere Betroffene gegangen, in aller Regel mit einem abschlägigen Bescheid.
23 Jahre hatte es gedauert, bis das zuständige Amt zur Regelung offener Vermögensfragen den Antrag bearbeitet hatte. 2014 wurde entschieden, dass dem Haus Hohenzollern nach dem Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz von 1994 1,2 Millionen Euro zustehen. Wohlgemerkt: Das Amt hat entschieden, nicht die Familie dies gefordert. Das ist ein winziger Bruchteil des Gesamtwertes der 64 Immobilien und Ländereien, um die es 1991 ging.
Nach dem Entscheid trat die brandenburgische Landesregierung in Verhandlungen ein, weil man befürchtete, ein Gerichtsurteil könne dazu führen, dass Gegenstände von materiellem und historischem Wert an die Familie zurückgegeben werden müssen. Diesen Verhandlungen hat sich der neue Chef des Hauses Hohenzollern, Georg von Preußen, in keiner Weise verweigert.
Fünf Jahre später, vier Wochen vor der Landtagswahl in Brandenburg, fiel der Partei Die Linke dann ein, dass der Rechtsentscheid „ungeheuerlich und geschichtsvergessen“ sei. Nun wurde die Familie als unverschämt bezeichnet und in die Nähe des Nationalsozialismus gerückt. Sogar eine Volksinitiative wurde gegründet, freilich weniger vom Volk als vielmehr von der Linkspartei. Eine bis dahin sachlich geführte Diskussion wurde somit aus wahlkampftaktischen Gründen zu einer Neid- und Missgunstdebatte, in der Recht und Gesetz offenbar nicht mehr für alle gelten sollten.
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Dabei wird natürlich gern verschwiegen, dass es weder mit dem Hause Bayern, das sich mit dem Freistaat auf die Gründung eines Ausgleichsfonds einigte, noch mit dem sächsischen Haus Wettin, das sich in vier Vergleichen bis 2014 mit dem Freistaat Sachsen einigen konnte, irgendwelche Probleme gegeben hat. Nur eben die Preußen sehen sich als Zielscheibe einer Kampagne, die mittlerweile jegliches Maß verloren hat.
Nun kann man argumentieren, Georg von Preußen als Chef des Hauses sollte auf sein Recht verzichten, um diese etwas unglückliche Debatte schnell zu beenden. Dafür, dass er das nicht tut, hat niemand anders gesorgt als Die Linke. Denn durch den Vorwurf, Steigbügelhalter der Nazis gewesen zu sein, käme ein Rückzug einem öffentlichen Schuldeingeständnis gleich.
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Zugleich wäre damit Ihr Antragstext legitimiert, der voller irrationaler Polemik und Falschaussagen ist:
Zum einen vergleichen Sie das Schicksal der Hohenzollern mit dem anderer ehemaliger Herrscherhäuser in Europa. Wen meinen Sie da? Doch hoffentlich nicht die russische Zarenfamilie, die mitsamt den Kindern von den Kommunisten erschossen wurde. Im Übrigen ist Ihre Aussage falsch, wie ich mit Verweis auf Sachsen und Bayern bereits ausführte.
Zum anderen rufen Sie dazu auf – das ist ein starkes Stück –, die mögliche Entscheidung eines ordentlichen Gerichts der Bundesrepublik durch Enteignung und Vergesellschaftung rückgängig zu machen, wenn sie nicht das von Ihnen gewünschte Ergebnis bringt. Ich muss schon sagen: Ihr Rechtsverständnis sucht wirklich seinesgleichen.
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Die Familie Hohenzollern hat mehrfach klargemacht, dass sie sich zum offenen Umgang mit ihrer Geschichte bekennt. Das schließt eine kritische Auseinandersetzung ausdrücklich ein. Es gibt keinen Anhaltspunkt, dass sich ein Mitglied der Hohenzollern-Familie außerhalb von Recht und Gesetz bewegt. Unser Rechtssystem kennt keine Erbschuld. Das gilt für jeden Bürger unseres Landes, ob er nun adlig ist oder nicht.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Melanie Bernstein. – Damit schließe ich die Aussprache.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist guter Brauch, dass am Ende einer Wahlprüfung – jetzt geht das Wahlprüfungsverfahren zur Europawahl zu Ende – der Vorsitzende des Wahlprüfungsausschusses kurz über die Prüfungen und über die Einsprüche Bericht erstattet, sodass wir das Wahlprüfungsverfahren hier im Plenum abschließen können.
Wir haben mit 100 Wahleinsprüchen gegen die Europawahl heute die letzte Tranche dieser Einsprüche zu beschließen. Damit ist die Wahlprüfung zur Europawahl abgeschlossen. Für diejenigen, die sich jetzt fragen, warum der Deutsche Bundestag über Einsprüche gegen die Europawahl entscheidet: Das liegt daran, dass wir eben kein einheitliches Europawahlgesetz haben und nicht einheitlich in Europa vorgehen, sondern dass die Mitgliedstaaten dies selber regeln; das trifft auch auf die Wahlprüfung zu. Deswegen führen wir die Wahlprüfung der deutschen Einsprüche gegen die Europawahl durch.
Sie erinnern sich alle an die Europawahl – das Datum hat die Präsidentin gerade genannt – und daran, wie erfolgreich sie war, was die Wahlbeteiligung anbetrifft: 61 Prozent der Wahlberechtigten haben in Deutschland an der Wahl teilgenommen; das sind 13 Prozentpunkte mehr als bei der Wahl 2014. Das ist eine starke demokratische Legitimierung für das Europaparlament, und es zeigt auch die gestiegene Bedeutung Europas und die neue Position des Europaparlaments.
Besonders danken möchte ich an dieser Stelle den 600 000 – Sie hören richtig – Wahlhelferinnen und Wahlhelfern, die bei der Europawahl diese demokratische Legitimierung mit erreicht haben. Ihnen gilt der Dank des Bundestages, meine Damen und Herren.
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Aber – das ist auch klar – wenn so ein großer Wahlakt stattfindet, wenn die Wahlbeteiligung so zunimmt, dann kann es auch zu Problemen und Fehlern kommen, und die prüfen wir natürlich. Die deutlich gestiegene Wahlbeteiligung hat in dem einen oder anderen Wahllokal dazu geführt, dass nicht ausreichend Stimmzettel vorhanden waren, dass Stimmzettel nachbestellt werden mussten. Dadurch ist es zu langen Wartezeiten gekommen. Es hat vor einigen Wahllokalen sogar lange Schlangen gegeben, bis dann endlich gewählt werden konnte. In einzelnen Fällen war die Schlange bis zur Schließung des Wahllokals so lang, dass dementsprechend gar keine Wahl mehr vorgenommen werden konnte. Wir haben natürlich intensiv den Dialog mit dem Bundeswahlleiter und den entsprechenden Wahlleitern gesucht, damit dies auf jeden Fall nicht mehr vorkommt.
Ein weiterer Punkt ist, dass die Wahlzettel aufgrund der größeren Anzahl der Parteien sehr lang bzw. deutlich länger waren. Teilweise ist es bei der Auszählung dazu gekommen, dass die Wahlhelfer das erste Kreuz auf dem langen Wahlzettel gesehen haben, ihn aber nicht vollständig ausgefaltet haben und so ein zweites Kreuz übersehen haben, das die Wahl ungültig gemacht hat. Von daher ist es zu der ein oder anderen Situation gekommen, die uns veranlasst hat, hier nachzusteuern und die Schulung der Wahlhelfer noch einmal zu intensivieren.
Auch gab es bei der Europawahl Parteien, insbesondere im Bereich des Tierschutzes, die sehr ähnliche Namen haben. Eine Partei nannte sich beispielsweise „Allianz für Menschenrechte, Tier- und Naturschutz“; es gab aber auch die „Aktion Partei für Tierschutz“ oder die „Partei für die Tiere Deutschland“. Da kann der Wahlprüfungsausschuss nichts machen; aber wir werden noch mal den Dialog darüber anregen, wie wir so etwas lösen können.
Insgesamt kann man sagen: In der Wahlprüfung gibt es zwei Kriterien, die zu beachten sind: Erstens. Es muss ein Wahlfehler vorliegen, um eine Wahl zu beanstanden. Der zweite Punkt ist, dass dieser Fehler auch wirklich relevant sein musste für die Verteilung der Mandate. Das ist also eine sehr hohe Hürde.
Wir haben bei allen Einsprüchen nur viermal subjektive Wahlrechtsverletzungen festgestellt. Alle diese subjektiven Wahlrechtsverletzungen haben aber nicht dazu geführt, dass es auf die Verteilung der Mandate einen Einfluss gehabt hätte, dass es relevant war. Daher haben wir alle Wahlprüfungseinsprüche zurückgewiesen. Das haben wir einstimmig gemacht.
Es gibt zwei große Bereiche, die wir als besonders relevant herausstellen wollen. Das ist erstens die Frage des Wahlalters. Es gab allein 30 teilweise wortgleiche Einsprüche von Minderjährigen, die gesagt haben: Wir erheben Einspruch gegen die Europawahl, weil man erst mit 18 wählen darf. – Es gibt Länder in Europa, beispielsweise Österreich und Malta, in denen das Wahlalter bei 16 Jahren liegt. Es gibt aber auch gute Argumente dafür, das Wahlalter bei 18 Jahren zu belassen. In 25 der 28 EU-Staaten liegt das Wahlalter bei 18 Jahren. Aber das ist eine politische Entscheidung; es ist keine Entscheidung, die man über den Wahlprüfungsausschuss anfechten kann. Diese politische Entscheidung muss der Bundestag treffen. Wahleinsprüche dagegen sind dementsprechend zurückzuweisen. Ich möchte ergänzen, dass in Deutschland die Verfassungsgemäßheit nicht vom Wahlprüfungsausschuss geprüft wird, sondern selbstverständlich vom Bundesverfassungsgericht.
Der zweite und letzte Block – dann komme ich auch schon zum Ende – sind die Einsprüche gegen die Briefwahl. Das ist ein Thema, mit dem wir uns im Zusammenhang mit dem Wahlrecht sicherlich beschäftigen müssen. Der Briefwahlanteil nimmt immer mehr zu. Das ist gut so. Aber gleichzeitig müssen wir auch wissen, dass bei einem Briefwahlanteil von fast 30 Prozent in einem Zeitraum von vier bis acht Wochen jeden Tag Wahltag ist. Darauf wird man in Zukunft auch bei der Änderung des Wahlrechts zum Beispiel für die Bundestagswahlen sicherlich das Augenmerk legen müssen. Aber auch hier waren die Einsprüche zurückzuweisen.
Alles in allem beendet der Wahlprüfungsausschuss damit seine Prüfung der 100 Einsprüche gegen die Wahl zum Europäischen Parlament. Schlussfolgerungen werden wir in der nächsten Sitzung des Wahlprüfungsausschusses treffen, nämlich für die Personen, auf denen unser besonderes Augenmerk liegt, für die wir den Zugang zur Wahl erleichtern wollen. Das sind zum Beispiel Obdachlose. Es geht um Barrierefreiheit in Wahllokalen. Es geht aber zum Beispiel auch um die Frage: Können unsere Soldatinnen und Soldaten in Auslandseinsätzen wirklich ungehindert an einer Wahl teilnehmen, auch wenn zum Beispiel der Flieger zurück mal drei Wochen später als geplant geht? Es geht auch um die Fragen: Wie ist es bei den Insassen einer JVA? Ist da der ungehinderte Zugang zur Wahl möglich? Damit beschäftigen wir uns in sogenannten Prüfbitten in der nächsten Sitzung des Wahlprüfungsausschusses. Wir werden dann zu diesen Fragen zu weiteren Empfehlungen kommen.
Zum Abschluss danke ich allen Kolleginnen und Kollegen des Wahlprüfungsausschusses für die sehr konsensuale, kooperative und kollegiale Zusammenarbeit. Wir haben alle Einsprüche einstimmig beschieden. Ich danke außerdem den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Sekretariats des Wahlprüfungsausschusses, die alle Einsprüche exzellent für uns vorbereitet haben. Ich bitte alle Kolleginnen und Kollegen, der Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsausschusses zuzustimmen.
Danke schön.
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Vielen Dank, Kollege Sensburg.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Sie sehen mich hier als Vertreter meines geschätzten Kollegen Manfred Todtenhausen, der, wie viele wissen, nicht auf den Mund gefallen ist, aber aufgrund einer Erkältung stimmlos ist.
Als Petitionsausschuss haben wir die Möglichkeit, pragmatische Entscheidungen zu treffen und, wenn sie einstimmig sind, diese hier auch vorzutragen. Wir erhalten circa 12 000 Petitionen pro Jahr. Des Öfteren erhalten wir Vorschläge von Bürgerinnen und Bürgern, die eigentlich keine politischen Vorschläge sind, sondern lediglich darauf hinweisen, dass bei der Umsetzung von Gesetzestexten kleine Lücken oder Schwächen entstanden sind. Ich persönlich würde mich freuen, wenn wir im Petitionsausschuss – wenn es sich nicht um politische Entscheidungen handelt – des Öfteren pragmatische Entscheidungen treffen und diese dann auch einstimmig bekräftigen.
Eine Petition möchte ich Ihnen kurz vorstellen. Ein Bürger aus Baden-Württemberg hat sich an den Petitionsausschuss gewandt mit einem Vorschlag zur Senkung der Wohnnebenkosten. Er schlägt vor, die Eichfristen für Wasserzähler deutlich zu verlängern und zu vereinheitlichen. Laut Mess- und Eichgesetzverordnung, eine bundesrechtliche Regelung, müssen Kaltwasserzähler derzeit alle 6 Jahre geeicht werden, Warmwasserzähler alle 5 Jahre und Kondensatwasserzähler alle 8 Jahre. Mit der Petition sollte erreicht werden, dass die Eichfrist auf mindestens 10, wenn nicht sogar auf 15 Jahre verlängert wird.
Wir als Petitionsausschuss haben im Zuge der Beratung Vertreter des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie und des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz gebeten, das Anliegen des Petenten zu prüfen. Dabei erfuhren wir, dass bereits seit Januar 2019 Stichproben in Bezug auf die Funktionalität der Zähler durchgeführt worden sind. Es stellte sich dabei heraus, dass die Eichfrist verlängert werden kann, wenn die Messgeräte noch einwandfrei funktionieren.
Im August letzten Jahres wurden bundesweit 700 000 Wasserzähler bei solchen Stichprobenkontrollen überprüft. Das Erstaunliche ist, dass es bei einem Drittel dieser Zähler zu Beanstandungen gekommen ist. Die Zähler sind teilweise unter fünf bzw. sechs Jahre alt. Das macht mich schon ein bisschen stutzig; denn eigentlich – davon gehe ich aus – könnte man eine längere Laufzeit erwarten. Ich habe daher den Anspruch an die Hersteller, dass sie vielleicht etwas langlebigere Geräte produzieren.
Dem Wunsch des Petenten nach einer pauschalen Verlängerung der Eichfrist haben wir aufgrund der hohen Fehlerquote nicht entsprechen können; aber wir glauben, dass es kontraproduktiv ist, Warmwasserzähler, Kaltwasserzähler und andere Wasserzähler innerhalb unterschiedlicher Fristen zu überprüfen. Wir würden deshalb die Angleichung der Fristen vorschlagen. Damit würden wir bürokratischen Doppelaufwand vermeiden.
Der Petitionsausschuss hat sich zu dieser Petition daher einstimmig für eine solche Vereinheitlichung ausgesprochen. Nun müssten die Bundesländer und die Bundesregierung dem zustimmen. Prozessual schlagen wir vor, die Petition dem Bundesministerium für Wirtschaft und Energie zur Erwägung zu überweisen und den Landesvolksvertretungen zuzuleiten, soweit mit der Petition eine Angleichung und Vereinheitlichung der Eichfristen für Kalt- und Warmwasserzähler gefordert wird, und das Petitionsverfahren im Übrigen abzuschließen. Dieser formale Vorgang ist bei uns im Petitionsausschuss so üblich. Ich bitte daher hier um Ihre Zustimmung für dieses Verfahren.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Ebbing.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! „Gemeinden sind wichtiger als der Staat …“ – diese Einschätzung hat niemand Geringeres als Theodor Heuss, der erste Präsident unserer Bundesrepublik, im Jahr ihrer Gründung getroffen. Die vielleicht zugespitzte Feststellung macht deutlich, dass die kommunale Politik das Fundament unserer Demokratie ist und dass die Politik und die Politiker vor Ort unverzichtbar sind für das Funktionieren und den Zusammenhalt unseres Gemeinwesens. Kommunalpolitik ist wirklich die Keimzelle unserer Demokratie.
In den letzten Jahren erleben wir indes eine Zunahme von Angriffen auf kommunale Verantwortungsträger. Immer häufiger erfahren wir von Beschimpfungen, aber auch von tätlichen Attacken und teils brutalen Anschlägen gegen Lokalpolitiker. Henriette Reker, die Oberbürgermeisterin von Köln, entrann 2015 nur knapp dem Tod; einen Tag vor ihrer Wahl stach ihr ein fanatisierter Rechtsradikaler in den Hals. Andreas Hollstein, Bürgermeister der Stadt Altena, wurde 2017 von einem aufgebrachten Flüchtlingshasser ebenfalls ein Messer in den Hals gestoßen. In diesen Zusammenhang gehören auch die aktuellen Drohungen aus der rechten Szene gegen den Bürgermeister Christoph Landscheidt aus meiner niederrheinischen Heimatregion.
Solche Angriffe beschränken sich aber auch nicht auf Kommunalpolitiker und Bürgermeister – das haben Sie, Herr Präsident, gerade schon deutlich gemacht –: Auch Landes- und Bundespolitiker werden zur Zielscheibe von Hass, von Gewalt. Ich nenne nur den mutmaßlich von Linksextremisten begangenen Angriff auf den Hamburger Innensenator Andy Grote Ende des vergangenen Jahres und – Sie haben darauf hingewiesen – die Schüsse auf das Wahlkreisbüro unseres Bundestagskollegen Karamba Diaby, der ja gleich noch zu uns spricht, vom gestrigen Tag. Der traurige Tiefpunkt dieser schlimmen Entwicklung ist wohl der feige Mordanschlag auf Dr. Walter Lübcke am 2. Juni 2019 – nicht der erste Mord aus der rechtsextremen Szene, aber der erste Mord von offenbar Rechtsextremen an einem deutschen Politiker seit dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland.
Dem Bundeskriminalamt wurden für das gerade zu Ende gegangene Jahr 2019 bislang 1 241 politisch motivierte Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger gemeldet, und wir fürchten sogar, dass hier noch einige dazukommen. Bislang konnten 440 Übergriffe Rechtsextremisten und 246 Taten Linksextremisten zugeordnet werden. Das sind, meine Damen und Herren, erschreckende Zahlen, die für uns zugleich Mahnung und Aufforderung zum Handeln sind.
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Denn unsere Demokratie lebt ja davon, dass sich Politiker hauptamtlich, aber eben mehr noch ehrenamtlich in den Dienst der Allgemeinheit und ihrer Mitmenschen stellen. Jeder Anschlag auf einen Repräsentanten unseres Staates ist daher zugleich ein Angriff auf unsere gemeinsamen demokratischen Werte. Er ist ein Angriff auf uns alle!
Zugleich ist unser Rechtsstaat in besonderem Maße auf diejenigen angewiesen, die täglich für Sicherheit, Ordnung und Recht sorgen. Insbesondere Polizeibeamte werden aber immer wieder Ziel von gewalttätigen Angriffen – und mit ihnen auch andere Einsatzkräfte und Rettungskräfte. Respektlosigkeit, Pöbeleien und sogar körperliche Gewalt gehören inzwischen zur polizeilichen Alltagserfahrung. Allein in Berlin werden nach Angaben der Berliner Polizei im Schnitt jeden Tag 19 Beamte angegriffen. Im Jahre 2018 wurden 85 604 Vollstreckungsbeamte sowie andere Einsatzkräfte bei Ausübung ihres Jobs Opfer von Gewaltdelikten – ein Anstieg im Vergleich zum Jahr davor von 10 Prozent. Diejenigen, die Tag für Tag, meine Damen und Herren, ihren Kopf für unser aller Sicherheit hinhalten, ob als Polizisten, als Feuerwehrleute, als Rettungskräfte, haben den Anspruch darauf, dass die Politik ihnen auch den Rücken stärkt.
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Ich will aber auch hinzufügen, dass ich die Proteste des Personalrats bei der Berliner Polizei durchaus gut verstehen kann, in denen er darauf hinweist, dass es nicht sein kann, dass ein Antidiskriminierungsgesetz eine Art faktische Beweislastumkehr statuiert und sich Polizisten für ihre Arbeit sozusagen einem Generalverdacht ausgesetzt sehen, weil sie bei Vorwürfen, sie hätten diskriminiert, ihrerseits faktisch die Beweislast tragen müssen. Auch das haben unsere Polizistinnen und Polizisten nicht verdient.
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Die Attacken, von denen ich eben gesprochen habe, und zwar jede einzelne, verurteilen wir aufs Schärfste. Wir als Bundesregierung ergreifen auch konkrete Gegenmaßnahmen. Bereits 2017 haben wir mit dem Gesetz zur Stärkung des Schutzes von Vollstreckungsbeamten und Rettungskräften die Strafdrohung für Angriffe auf Polizei und Rettungskräfte bei jeder Diensthandlung – vorher waren es nur Vollstreckungshandlungen – auf bis zu fünf Jahre Freiheitsstrafe verschärft.
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Mit der aktuellen Umsetzung des von der Bundesregierung beschlossenen Maßnahmenpakets zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität werden wir gezielt auch den Schutz von Kommunalpolitikern verbessern. Nicht mehr werden wie bisher, jedenfalls in der Auslegung der Gerichte, nur hauptamtliche Abgeordnete wie wir alle, sondern eben auch endlich Kommunalpolitiker vor übler Nachrede und Verleumdung durch die verschärfte Strafdrohung des § 188 Strafgesetzbuch geschützt sein.
Meine Damen und Herren, da aus Worten des Hasses nicht selten Taten der Gewalt werden, müssen wir uns auch mit Beleidigungen oder Anfeindungen unter dem Schutz der Anonymität im Internet beschäftigen. Ich persönlich bin nicht der Auffassung, dass wir eine generelle gesetzliche Rechtspflicht zur Offenlegung von Klarnamen oder zur Aufhebung von Anonymität brauchen. Aber was wir meines Erachtens brauchen, ist eine Kultur der Offenheit, des offenen Umgangs miteinander im Netz. Ich finde, eine ernsthafte politische Streitkultur verträgt sich in einer freiheitlichen Gesellschaft nicht mit Anonymität oder oftmals sogar mit Duckmäusertum, was wir in manchen Foren im Netz auch feststellen müssen.
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Wir werden die Regelungen des Strafgesetzbuchs mit Bezug zur Hasskriminalität ergänzen. Das betrifft zum Beispiel die Aufforderung zu Straftaten oder Billigung oder Verharmlosung von Straftaten. Ferner wollen wir als Bundesregierung eine Meldepflicht für Diensteanbieter nach dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz einführen, etwa für Morddrohungen und Volksverhetzung. Und Diensteanbieter müssen zur Bekämpfung und Aufklärung von Hasskriminalität auch einer Auskunftsverpflichtung, etwa gegenüber dem Bundeskriminalamt, unterfallen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir setzen weiterhin, aber nicht nur auf polizeiliche Maßnahmen und nicht nur auf repressive staatsanwaltschaftliche, gerichtliche Maßnahmen. Nein, es geht auch um Prävention, und es geht auch um Bewusstseinsbildung. Die im letzten Jahr begonnene Kampagne „Für ein sicheres Deutschland“ werden wir fortführen. Mit ihr zeigen wir, dass in jeder Uniform von Polizei, Feuerwehr oder anderen Einsatzkräften immer auch ein Mensch steckt, der nicht nur als Repräsentant des Staates, sondern auch ganz persönlich Anspruch auf Achtung seiner Würde hat.
Für unsere Kommunalpolitiker, meine Damen und Herren, können wir alle gemeinsam, innerhalb und außerhalb dieses Hauses, selbst wohl das beste Signal setzen. In diesem Jahr finden in Bayern und in Nordrhein-Westfalen Kommunalwahlen, in Hamburg neben der Bürgerschaftswahl auch Bezirkswahlen statt. Ich werbe auch vor dem Hintergrund der heutigen Debatte dafür, dass die Bürgerinnen und Bürger in diesen Ländern mit einer hohen, hoffentlich sehr hohen Wahlbeteiligung gerade den ehrenamtlichen Politikern den Rücken stärken und damit ein deutliches Zeichen gegen Hass, Hetze und Gewalt setzen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Martin Hess für die Fraktion der AfD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Damen und Herren! Auf Antrag der Koalitionsfraktionen befassen wir uns heute wieder einmal, möchte man sagen, mit Drohungen und Gewalt gegen Kommunalpolitiker, gegen Polizei- und Rettungskräfte. Ich möchte zunächst die Gelegenheit nutzen und mich auch im Namen meiner Fraktion bei allen Kollegen der Sicherheitsorgane des Bundes und der Länder, der Feuerwehren und der Rettungsdienste bedanken: Ihr leistet unter widrigsten politischen Rahmenbedingungen hervorragende Arbeit. Dafür herzlichen Dank!
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Die Gewalt gegen Einsatz- und Rettungskräfte nimmt zu. Diese Entwicklung ist nicht nur besorgniserregend, sie ist für einen Rechtsstaat schlicht inakzeptabel. Verantwortlich hierfür sind Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren von den Altparteien. Sie praktizieren seit Jahrzehnten eine Sicherheitspolitik, die zum Rückzug des Rechtsstaates und zum Vormarsch von Schwerstkriminellen und Gewaltverbrechern führt.
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Diese Kriminellen zeigen ihre tiefe Staatsverachtung durch massive Angriffe gegen unsere Sicherheits- und Rettungskräfte. Dass Sie das zulassen, zeigt: Sie sind weder willens noch in der Lage, die Polizei- und Rettungskräfte unseres Landes effektiv zu schützen. Sie lassen diejenigen alleine, die tagtäglich für unser aller Sicherheit sorgen. Und damit muss endlich ein für alle Mal Schluss sein!
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Wenn es einen Grundkonsens unter Demokraten geben muss, dann den: Gewalt gegen den Staat und seine Repräsentanten ist kategorisch abzulehnen und zu verurteilen. Es darf keine wie auch immer geartete Legitimation für Gewalt gegen den Staat und seine Vertreter geben. – Aber diesen Grundkonsens darf man nicht nur als hohle Phrase verwenden, man muss ihn auch aktiv leben, und genau hier versagen Sie, die Altparteien, jeden Tag aufs Neue.
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Sie tun alles im sogenannten Kampf gegen rechts, sind aber auf dem linken Auge blind. Dabei sind es gerade Linksextremisten, die permanent unsere Polizei angreifen.
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Weit mehr als die Hälfte der linksextremistisch motivierten Gewalttaten sind gegen die Polizei und die Sicherheitsbehörden gerichtet.
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In unserem Land sind menschenverachtende linksextremistische Angriffe gegen die Polizei mittlerweile Alltag. Ein aktueller Fall: An Silvester entrissen Linksextremisten in Leipzig-Connewitz einem Polizeibeamten den Helm und verletzten ihn dabei am Kopf. Der Kollege wurde sogar bewusstlos und musste noch in der Nacht operiert werden. Ich wünsche ihm auch im Namen meiner Fraktion von hier aus schnelle Genesung.
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Wie reagieren Sie auf diese ganzen Vorfälle? Obwohl jeder Bürger klar erwartet, dass sich zumindest bürgerliche Kräfte eindeutig von solchen Extremisten distanzieren, tun Sie genau das Gegenteil. Sie, meine Damen und Herren von der Union, kooperieren offen mit den politischen Feinden unserer Polizei, mit den Grünen,
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und, wie neuerdings in Thüringen zu sehen, auch mit der Linkspartei. Wer vom Schutz unserer Einsatzkräfte redet, aber mit dem politischen Arm der Linksextremisten zusammenarbeitet, der macht sich nicht nur unglaubwürdig, der liefert Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienste sehenden Auges Gewaltverbrechern aus.
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Wir müssen Linksextremisten endlich in die Schranken weisen. Wir müssen diesen Gewaltverbrechern klarmachen, dass der Staat sich nicht mehr auf der Nase herumtanzen lässt.
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Ein erster und wichtiger Schritt besteht darin, keine rechtsfreien Räume wie in der Rigaer Straße 94 in Berlin oder die Rote Flora in Hamburg mehr zu dulden.
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Der Rechtsstaat muss Stärke zeigen und diese Objekte endlich dauerhaft räumen. Das wäre ein wahres Signal der Stärke unseres Rechtsstaates, und genau das brauchen wir.
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Aber nicht nur Linksextremisten haben wegen Ihrer desaströsen Sicherheitspolitik freie Bahn. Die Regierung hat auch keine effektiven Mittel gegen Parallelgesellschaften und Clans, aus deren Reihen unsere Polizeibeamten, Rettungskräfte und Feuerwehrleute ständig angegriffen werden. Vor wenigen Tagen erst hat eine Jugendbande in Berlin-Kreuzberg einen Feuerwehrmann auf dem Weg zur Nachtschicht krankenhausreif geschlagen. Rund 200 Gewalttaten gegen Feuerwehrleute kamen letztes Jahr in Berlin zur Anzeige. Laut Landesbranddirektor hat die Intensität der Angriffe deutlich zugenommen.
Angehörige krimineller Clans verletzen und bedrohen Polizisten sogar im privaten Umfeld und stürmen Notaufnahmen. Um Ärzte, Pfleger und Retter vor Clans zu schützen, beschäftigen Krankenhäuser in Berlin schon jetzt private Sicherheitsdienste. Sie können die Lage nicht mehr schönreden. Wenn wir jetzt nicht gegensteuern, dann hat unser Rechtsstaat verloren.
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Wir müssen Clankriminellen die deutsche Staatsangehörigkeit entziehen, das Vermögen viel stärker als bisher abschöpfen und vor allem konsequent abschieben. Das ist die einzige Sprache, die diese Schwerkriminellen verstehen. Deshalb muss dies auch ab sofort umgesetzt werden.
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Linksextremisten und Clankriminelle haben eines gemeinsam: Sie greifen Einsatzkräfte an, weil sie unseren Staat und sein Gewaltmonopol ablehnen. Deshalb hilft hier keine Deeskalation. Gegen Staatsfeinde hilft nur Nulltoleranz und robustes Vorgehen.
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Aber man darf nicht nur darüber reden, wie Sie das ständig tun, sondern man muss das auch konsequent umsetzen. Wir dürfen nicht länger zulassen, dass Verfassungsfeinde sich unseren Staat zur Beute machen,
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sondern wir müssen dem endlich entschlossen entgegentreten.
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Hören Sie damit auf, sich unseren sicherheitspolitischen Forderungen zu verweigern! Setzen Sie unsere Vorschläge zur Verbesserung der Sicherheitslage endlich um! Dann wird Deutschland auch wieder sicherer, und unsere Polizei- und Rettungskräfte sind bestmöglich geschützt.
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Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der SPD der Kollege Bernhard Daldrup.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gewalt und Drohungen gegenüber Mandatsträgern, gegenüber Polizisten und Rettungskräften nehmen in erschreckender Weise zu. Ja, selbst politischer Mord wie an Walter Lübcke gehört zur Bilanz des abgelaufenen Jahres. Deshalb gehört der Kampf gegen Hetze, Rechtsextremismus und Hasskriminalität auf die Tagesordnung des Deutschen Bundestages.
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Bevor ich dazu im Einzelnen komme, wende ich mich an dich, lieber Karamba Diaby. Die Schüsse auf dein Wahlkreisbüro sind nicht nur ein Anschlag auf dich, deine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sondern auch, wie der Präsident gerade gesagt hat, ein Anschlag auf unsere Demokratie.
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Deshalb darf ich dir versichern: Wir stehen an deiner Seite, an der Seite deiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, und wir hoffen, dass du dich in deinem Engagement für Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität in unserem Land nicht beirren lässt. Und weil du nicht der Einzige bist, gilt diese Solidarität auch unserem Kollegen Carsten Träger, der beispielsweise zum Jahreswechsel einen anonymen Brief mit einer Patronenhülse bekommen hat.
Wir stehen aber nicht nur an eurer Seite. Die Zeit ist überfällig, mit weiterer Entschiedenheit die Grenze zu den Feinden unserer Demokratie ziehen zu müssen. Der Anlass für diese Aktuelle Stunde besteht genau in der offensichtlichen Eskalation der Gewaltbereitschaft, die auch vor ehrenamtlich und hauptamtlich tätigen Kommunalpolitikern und ebenso vor Rettungskräften oder Polizeibeamten nicht haltmacht, denen selbstverständlich unser Dank und unsere Anerkennung gelten.
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Die Zahlen sind erschreckend und die Beispiele mittlerweile zahlreich; Staatssekretär Krings hat einige genannt. Bedauerlicherweise steigt die Summe in der Bundesrepublik insgesamt bald auf eine vierstellige Zahl. Ich bin besonders unserem Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier dankbar, der sich mehrfach – zuletzt auf seinem Neujahrsempfang – an die Seite der Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker, an die Seite der ehrenamtlich Tätigen in unserer Gesellschaft gestellt hat und mehr Schutz gegen ein Klima des Hasses und der Menschenverachtung gefordert hat.
An uns richtet sich aber nicht nur die Pflicht zu Solidarität mit den Bedrohten, sondern gleichermaßen müssen wir Antworten auf die Frage finden, was denn eigentlich zu tun ist. Es ist deshalb gut, dass unsere Justizministerin Christine Lambrecht dem Nährboden für Hetze und Rechtsextremismus im Netz mit einem Aktionsplan entgegenwirkt, unter anderem – ein Beispiel – durch das Netzwerkdurchsetzungsgesetz, das es ermöglicht, Morddrohungen und Volksverhetzungen besser zu verfolgen, und durch die Verschärfung des § 188 Strafgesetzbuch sowie des § 113 Strafgesetzbuch, wodurch Notärzte, Sanitäter und die kommunale Ebene vor Nachrede, Verleumdung und Ähnlichem stärker geschützt werden.
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Das Waffen- und Sprengstoffrecht zu verschärfen, ist die bessere Alternative zur Bewaffnung von Bürgermeistern, auch wenn ich persönlich Christoph Landscheidt verstehe. Allerdings dürfen all die Verschärfungen im Strafrecht nicht davon ablenken, dass auch Gerichtsverfahren zu Ergebnissen, zu Ende geführt werden müssen und nicht, wie gegenwärtig bisweilen der Eindruck entsteht, allzu sehr ins Leere laufen bzw. eingestellt werden dürfen. Auch das ist eine berechtigte Forderung der kommunalen Ebene an unsere Justiz.
Sosehr dieses Handeln notwendig ist, kann es nicht darüber hinwegtäuschen, dass die zunehmende Gewalt und der Hass Ursachen haben, soziale und kulturelle. Darüber müssen wir reden. Demokratie muss immer wieder neu gelernt, neu erkämpft, neu gelebt werden. Deshalb ist Prävention wie im Programm „Demokratie leben!“ so wichtig; das wurde eben angesprochen.
Damit bin ich bei einem weiteren Punkt. Wir diskutieren zu Recht die Rolle der sozialen Medien. Aber das ist nicht das Einzige. Dieser Missstand ist nicht allein mit schärferem Recht zu bekämpfen. Carlo Schmid, einer der Väter unseres Grundgesetzes, hat einmal das Merkmal der Rechtsstaatlichkeit unseres Grundgesetzes durch den Satz gekennzeichnet, es orientiere sich an der sittlichen Idee der Gerechtigkeit. Daran dürfen die Menschen ebenso wenig Zweifel haben wie am Ringen um politische Ziele mit der Bereitschaft zum Kompromiss im demokratischen Staat.
Der faule Kompromiss war die diffamierende Formel der Nazis gegenüber dem Ringen um die Demokratie in der Weimarer Republik. Diese Haltung verspottet die Diskussion als Gerede und das Parlament als Schwatzbude. Wo sich die Unfähigkeit zum Kompromiss mit Macht verbindet und auf Minderheiten zielt, entsteht Brutalität. Das hat uns unsere Geschichte gelehrt.
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Jeder muss wissen, dass hetzerische Sprache, Herr Hess, die Vorhut der Gewalt ist.
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Und bei nicht wenigen von Ihnen habe ich den Eindruck, dass Sie nicht dennoch so reden, sondern deshalb so reden. Sie sind die Hetzer in diesem Land.
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Demokratie, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist und bleibt ein Wagnis, weil sie sich völlig ihren Bürgerinnen und Bürgern anvertraut. Jeder, der sich abwendet, fehlt der Demokratie. Deshalb dürfen wir niemanden achselzuckend ziehen lassen; so sagt Frank-Walter Steinmeier, und er hat recht.
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Wir müssen das öffentliche Bewusstsein für unsere Demokratie und ihre Geschichte stärken. Dazu gehört auch die politische Bildung. Wenn wir wirksam gegen Hass und Hetze, Ausländerfeindlichkeit und Gewalt vorgehen, ist die Stärkung einer der Säulen der Demokratie, nämlich der Städte und Gemeinden, nicht nur unverzichtbar, sondern geboten. Wer die Kommunen stärkt, macht unsere Gesellschaft stark. Demokratie, Toleranz, Menschenfreundlichkeit: Das ist eine Lebensform, von der Sie nichts verstehen hier auf der rechten Seite.
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Sie entsteht nicht von selbst, sondern fordert unseren täglichen Einsatz.
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Denn – letzter Satz – sowenig der Demokratie vor 100 Jahren ihr Scheitern vorherbestimmt war, so wenig ist heute ihr Gelingen garantiert;
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so mahnt zu Recht der Bundespräsident in seiner Erinnerung an die Weimarer Republik.
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Und wer Sie reden hört, soll denken an die Mahnung Brechts im „Arturo Ui“: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Als Nächstes spricht für die Fraktion der FDP die Kollegin Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dass Frauen und Männer, die sich in unserem Land politisch engagieren, bedroht und angegriffen werden, ist ein nicht hinnehmbarer Zustand. Ich spreche jetzt auch meine Kollegin Judith Skudelny an, die auch bedroht wurde; wir sprachen gerade darüber. Ob das von links, von rechts, von der Mitte, von hinten oder von vorne kommt, ist egal. Es ist empörend, es ist widerwärtig,
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und dass wir überhaupt gezwungen werden, heute im Bundestag über dieses Phänomen der Respekt- und Distanzlosigkeit zu diskutieren, ist wirklich ernüchternd.
Meine Damen und Herren, Kommunalpolitik – es wurde gesagt; es ist wichtig, das immer zu wiederholen – ist der Stoff, aus dem die wahre Demokratie gemacht wird. Vor der eigenen Türe wird nämlich nicht nur gefegt, sondern es werden die Dinge entschieden, die unmittelbar das Leben der Menschen im Alltäglichen prägen und beeinflussen. Welcher politische Weg der richtige ist, darüber wird gerungen und letztlich demokratisch abgestimmt.
Dies betrifft uns, die wir hier sitzen, die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes und damit den Staat, unsere Kommunalen vor Ort und natürlich auch die Rettungskräfte und die Polizistinnen und Polizisten. Wie bekloppt ist es eigentlich, Leute anzugehen, die ihr Leben einsetzen, um uns zu schützen? Das ist wirklich unglaublich.
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Wer das macht, der legt die Axt an das soziale Miteinander und an die Wurzel unserer Demokratie. Damit wird die größte Errungenschaft dieser Bundesrepublik Deutschland, nämlich frei von Angst seine Meinung zu äußern und für seine Sache einzustehen, zerstört. Die Angriffe starten oft verbal, meist im Netz, manchmal ganz subtil, und enden immer häufiger, wie wir gerade erleben, in körperlichen Übergriffen, um missliebige Politiker zu verängstigen, sie mundtot zu machen und sie letztlich zu nötigen, sich wieder ins Private, fern vom Allgemeinwohl, zurückzuziehen.
Meine Damen und Herren, wir müssen uns nicht wundern, dass es immer schwieriger wird, engagierte Menschen zu finden, die sich kommunalpolitisch engagierten. Wer soll sich diese respektlosen Anfeindungen noch antun und übrigens auch seiner Familie zumuten?
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Das geht ja so weit, dass kommunalpolitische Mandate in einigen Gemeinden inzwischen schon ausgeschrieben werden müssen. Natürlich ist man als kommunaler Mandatsträger Kritik ausgesetzt. Ich meine, wer damit nicht umgehen kann, sollte ein solches Engagement nicht übernehmen. Salopp gesagt: Wer in die Küche geht, sollte auch Hitze abkönnen. – Aber keine Diskussion rechtfertigt Übergriffe.
Dass betroffene Mandatsträger Waffen tragen – es wurde gerade gesagt – oder sich wünschen, ist natürlich keine Lösung. Wir sind hier nicht im Wilden Westen.
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Es ist, meine Damen und Herren, die Aufgabe der Polizei, einzuschreiten, wo nötig auch die Aufgabe der Staatsanwaltschaft, Bedrohungen ernst zu nehmen und entsprechend zu ahnden. Leider werden Verfahren bei verbalen Bedrohungen viel zu schnell eingestellt. Sie werden relativiert, und sie werden leider oft verharmlost.
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Ich wende mich an unsere Kollegin Renate Künast. Frau Künast und ich, wir können an vielen Stellen streiten, ganz sicher. Aber die verbalen Ausdrücke, denen Sie ausgesetzt waren, sind unerträglich.
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Aber mindestens genauso unerträglich war das Urteil des Berliner Landgerichts. Der Straftatbestand der Beleidigung wurde durch dieses Urteil – bei allem Respekt vor dem Gericht – ad absurdum geführt. Das ist meine Meinung. So geht das nicht.
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Was wir umgehend brauchen, ist eine zentrale Ansprechstelle, an die sich die Betroffenen sofort wenden können, eine Stelle, in der die Bereiche Prävention, Staatsschutz, Strafverfolgung gebündelt sind, damit effektive bereichsübergreifende Maßnahmen ergriffen werden können.
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Es macht Sinn, dass § 188 Strafgesetzbuch, der üble Nachrede und Verleumdung unter Strafe stellt, auch bei ehrenamtlich tätigen Politikerinnen und Politikern und nicht nur bei Bundestagsabgeordneten und Landtagsabgeordneten Anwendung findet.
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Meine Damen und Herren, zum Schluss. Es wurde Zeit, dass wir hier diese Debatte führen, nicht nur weil viele Mitglieder des Deutschen Bundestages ein kommunales Mandat haben. Es wurde Zeit, weil es nicht hinnehmbar ist, dass die Menschen, die anderen helfen – Polizei und Rettungskräfte –, angegriffen werden. Und, meine Damen und Herren, es wird Zeit: Jeder Hetzer, jeder dumpfe Heini in diesem Land und im Netz muss sich klar sein, dass wir alle, losgelöst von der jeweiligen politischen Meinung, so etwas nicht länger dulden und uns gemeinsam entschieden vor unser Wertesystem stellen und es verteidigen. Es ist Zeit, dass der Deutsche Bundestag gemeinsam aufsteht und sich dies nicht mehr gefallen lässt.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke die Kollegin Petra Pau.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Hass, Drohung und Gewalt nehmen zu, gegen Politikerinnen und Politiker, gegen Journalistinnen und Journalisten, gegen Helferinnen und Helfer, überhaupt und alltäglich. Das ist doppelt schlimm für die betroffenen Menschen und für die bedrohte Demokratie. Die Fraktion Die Linke lehnt Gewalt als Mittel gesellschaftlicher und politischer Auseinandersetzung strikt ab, namens der Betroffenen und namens der Demokratie.
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Allein der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, CDU, und der aktuelle Anschlag in Halle auf das Büro unseres MdB-Kollegen Dr. Karamba Diaby, SPD, zeigen: Diese Hassattacken machen um keine Partei einen Bogen, und sie taugen daher auch nicht für parteipolitische Scharmützel.
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Glauben Sie mir: Viele Linke, ob Mitglieder des Bundestages, von Landtagen oder als Kommunalpolitikerinnen oder Kommunalpolitiker, können aus eigenem Erleben und aus eigener Bedrohung viel zu dieser Debatte beitragen. Wir alle sind betroffen und alle verantwortlich, etwas dagegen zu tun.
Die ganze Absurdität dieser schlimmen Entwicklung – davon war hier schon die Rede – zeigt sich, wenn Helfer wie Feuerwehrleute oder Sanitäter Opfer werden. Menschen, die sich für andere Menschen engagieren, werden dafür mit Hass und Gewalt bedacht. Das ist zusätzlich unmenschlich. Es trifft unsere Gesellschaft grundsätzlich und ist nicht hinnehmbar.
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An den laufenden Debatten, ob etwa Kommunalpolitiker sich bewaffnen sollten oder wie Privatadressen besser zu schützen seien, will ich mich hier in dieser Aktuellen Stunde nicht beteiligen; dazu reicht die Zeit nicht. Aber eine Mahnung muss sein. Allzu oft bleiben Gewalttaten ungesühnt, und die Täter kommen unbehelligt davon. Kurzum: Der Rechtsstaat versagt viel zu oft, und das darf nicht sein.
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Gleichwohl kommen wir um eine weiterführende Debatte nicht umhin; der Kollege Daldrup hat das schon angesprochen. Ich kann sie hier nur anreißen. Die gesellschaftlichen Entwicklungen, über die wir heute reden, sind nicht vom lichten Himmel gefallen. Bereits 2011 haben Professor Heitmeyer und sein Wissenschaftsteam von der Uni Bielefeld die Ergebnisse der Langzeitstudie „Deutsche Zustände“ vorgestellt. Das Fazit: Die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit nimmt zu, ebenso die Akzeptanz von Gewalt als Politikersatz. Zu den Ursachen ebenso kurz: Das Soziale wird ökonomisiert, die Demokratie entleert. Auf Politdeutsch nennt man das: neoliberal.
Es ist richtig: Wir müssen uns mit diesen Dingen hier befassen. Deswegen erweitere ich einen Vorschlag der Fraktion Die Linke aus dem Jahr 2017, als wir damals eine Enquete-Kommission, welche sich dem Thema Rassismus zuwendet, forderten. Ich denke, wir als Bundestag müssen uns mit dem Thema „Hass und Gewalt“ als gesellschaftliches Problem befassen – und dies als Querschnittsaufgabe – und es jeden Tag mit geeigneten Maßnahmen angehen.
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Vielen Dank. – Als Nächstes spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Dr. Irene Mihalic.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor ungefähr zwei Monaten hatten wir hier schon einmal eine Aktuelle Stunde zum Thema „Hassrede und Hasskriminalität“. Anlass waren damals unter anderem die Morddrohungen gegen zwei Mitglieder des Deutschen Bundestages. Gestern wurde unser Kollege Dr. Karamba Diaby, der gleich noch sprechen wird, durch Schüsse auf sein Bürgerbüro Opfer eines perfiden Einschüchterungsversuchs. Solche Angriffe sind direkte Angriffe auf unsere Demokratie, und dem müssen wir uns entschlossen entgegenstellen.
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Aber Hass und Gewalt treffen vor allem diejenigen, die sich vor Ort, in den Kommunen für das Gemeinwohl engagieren. Ich möchte dabei auch an den schrecklichen Mord an Walter Lübcke und an die Anschlagsversuche gegen Henriette Reker und weitere Personen erinnern. Denn eines ist ganz klar: Es ging bei all diesen Taten darum, ein Exempel zu statuieren. Wer sich wahrnehmbar für einen humanitären, menschenrechtsorientierten Umgang mit Geflüchteten ausspricht, der muss mit dem Schlimmsten rechnen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen uns davon nicht einschüchtern lassen.
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Wir, die Fraktionen des Verfassungsbogens von der Linken bis hin zur CDU/CSU, müssen zusammenstehen und alles tun, um engagierte Menschen in der Zivilgesellschaft, in der Kommunalpolitik, in den Verwaltungen und Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren, besser zu schützen, und das ist bitter nötig.
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Laut einer Umfrage des Magazins „Kommunal“ vom Juni letzten Jahres haben 40 Prozent der Rathäuser schon mit Stalking, Beschimpfungen und Drohungen zu tun gehabt. In jeder zwölften Kommune wurden entweder die Bürgermeister, Verwaltungsmitarbeiter oder Mitglieder des Rates angegriffen. Das sind unhaltbare Zustände. Die Kommunalpolitik, das zivilgesellschaftliche Engagement in den Regionen sind das Rückgrat unserer Demokratie.
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Eines ist dabei auch klar: Nötigung ist Nötigung, Drohung ist Drohung, Gewalt ist Gewalt, und Mord ist Mord, egal aus welchen politischen Motiven heraus sie begangen oder wie auch immer sie begründet werden. Das müssen wir auch so klar benennen.
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Die Zahlen aus der genannten Umfrage sagen uns aber auch, dass die Welle aus Hass und Gewalt zu einem großen Teil rechtsextrem motiviert ist. Über 40 Prozent der Anfeindungen und Taten stehen eindeutig im Zusammenhang mit flüchtlingsfeindlichen Motiven; das ist kein Zufall. Rechtsextreme Strategien und Kampagnen mit ihren Resonanzböden im Internet und auch in den Parlamenten wollen diese Verrohung. Sie wollen diese Gewalt. Aus Worten sollen Taten werden. Es soll ein Klima der Verunsicherung ins Land getragen werden, das eben diejenigen zermürbt, die sich positiv für unsere Gesellschaft engagieren: Menschen wie der Polizeipräsident von Oldenburg, der dem braunen Geist in der AfD mit klarer rechtsstaatlicher Kante begegnet, oder auch Menschen wie der ehemalige Präsident des Feuerwehrverbands, Hartmut Ziebs, der vor der rechten Gefahr gewarnt hat. Solche Menschen werden angefeindet und erhalten sogar Morddrohungen. Das darf nicht sein, liebe Kolleginnen und Kollegen. Diese Menschen haben unseren Dank und unseren Respekt verdient.
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Daher ist es richtig, dass diese Aktuelle Stunde auch Berufsgruppen wie Rettungskräfte und die Polizei zum Thema hat.
Wir dürfen allerdings auch andere Berufsgruppen und Personenkreise nicht vergessen. Was ist mit den Sozialarbeitern, was ist mit den Lehrern, was ist mit den Menschen, die sich für Minderheiten einsetzen, in den Kirchen, Vereinen und Initiativen? Diese Aufzählung ließe sich mühelos fortsetzen. All diese Menschen brauchen ganz dringend ein besseres Schutzniveau, und politische Maßnahmen müssen sich eben auch daran messen lassen.
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Deshalb werden wir uns Ihre Vorschläge, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, wenn sie denn mal konkret auf dem Tisch liegen, auch ganz genau anschauen. Bei manchen Dingen schießen Sie nämlich auch meilenweit am Ziel vorbei. So wäre zum Beispiel die Klarnamenpflicht doch das genaue Gegenteil dessen, was von Hass und Hetze Verfolgte brauchen.
Was wir stattdessen brauchen, ist eine echte Reform zum Beispiel des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes, sind ein verändertes Melderecht und damit ein viel besserer Schutz auch von Privatadressen. Wir brauchen eine Stärkung der Extremismusprävention und Demokratieförderung vor Ort. Es muss endlich Schluss damit sein, dass über allen wichtigen Initiativen das Damoklesschwert der Mittelstreichung schwebt.
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Außerdem brauchen wir endlich eine Taskforce Rechtsextremismus beim Bundesinnenministerium als Anlaufstelle für die vielen zehntausend Menschen, die auf sogenannten Feindeslisten stehen, die im Alltag bedroht werden, die ganz dringend unseren Schutz brauchen, weil sie sich anders nicht helfen können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die vielen engagierten Menschen in unserer Gesellschaft erwarten, dass wir dem Hass, den Einschüchterungen, den Drohungen und der Gewalt entschieden und vor allen Dingen auch wirksam begegnen. Als Fraktion Bündnis 90/Die Grünen treten wir dafür ein, die konkreten Vorschläge in einem guten, konsensorientierten Geist zu diskutieren. Lassen Sie uns das bitte gemeinsam tun und damit auch glaubwürdig für einen anderen Stil der Auseinandersetzung in unserer Gesellschaft werben.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Josef Oster für die Fraktion der CDU/CSU.
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Verehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Allein die Tatsache, dass wir uns heute im Rahmen einer Aktuellen Stunde mit dem Thema „Gewalt gegen Kommunalpolitiker, Polizisten und Rettungskräfte“ beschäftigen müssen, ist beschämend. Die Anzahl an körperlichen und verbalen Übergriffen wirft gewiss kein gutes Licht auf den Zustand unserer Gesellschaft. – Herr Hess, Reden wie die Ihre von eben tragen ganz bestimmt nicht zu einem besseren Klima in unserer Gesellschaft bei.
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Worüber, meine sehr geehrten Damen und Herren, reden wir? Wir reden über die Basis, über das Fundament unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Es geht um diejenigen Menschen, die sich oft ehrenamtlich für unsere Demokratie und für unsere Sicherheit einsetzen. Dass Amtsträger persönlich angegriffen, verletzt oder gar getötet werden, dass Angriffe auf Büros von Kollegen verübt werden, dass Bürgermeister aus Angst ihr Amt abgeben, dass ein Bürgermeister jetzt sogar einen Waffenschein beantragt, all das sind Alarmsignale, die wir ausgesprochen ernst nehmen müssen.
In meinem Wahlkreis ist Freiherr vom Stein begraben. Er gilt ja als der Vater der kommunalen Selbstverwaltung und hat schon vor vielen Jahren deutlich gemacht, dass die unterste staatliche Ebene die wahrscheinlich wichtigste ist. Warum ist das so? Auf dieser Ebene bekommt der Staat ein Gesicht. Hier wird der Staat persönlich. Die Bürgermeister, die Ratsmitglieder sind ansprechbar, sie sind greifbar. Gerade diese Nähe ist so wichtig, und gerade diese Nähe darf nicht verloren gehen, meine sehr geehrten Damen und Herren.
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Dass sich gerade auf dieser Ebene zunehmend Angst breitmacht, darf uns nicht ruhen lassen. Unsere Demokratie ist ohne das Engagement vor Ort schlicht nicht denkbar. Daher ist es gut, dass wir dieses größer werdende Problem heute auch in dieser Aktuellen Stunde thematisieren. Es ist gut, dass Kommunalpolitiker künftig auch unter den besonderen Schutz des Strafgesetzbuches fallen und besser vor übler Nachrede und Beleidigung geschützt werden. Ein verbesserter rechtlicher Rahmen – Staatssekretär Krings hat das deutlich gemacht – ist wichtig.
Der Staat muss die Menschen, die sich für ihn einsetzen, bei Bedarf aber auch schützen. Dafür brauchen wir eine starke Polizei. Mit einem deutlichen Stellenaufwuchs im Rahmen des „Paktes für den Rechtsstaat“ zeigt diese Bundesregierung auch an dieser Stelle eine klare Haltung. Gleiches gilt für die Bekämpfung extremistischer Tendenzen. Mehr Möglichkeiten bei BKA und Verfassungsschutz sind hierbei der richtige Ansatz. – Frau Mihalic, das ist ja sozusagen das, was Sie eben als Taskforce bezeichnet haben.
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Aber das alleine, meine sehr geehrten Damen und Herren, wird das Problem natürlich nicht lösen. Es ist eine große gesellschaftliche Aufgabe, die da vor uns liegt. Dabei ist mir ein Aspekt wichtig: Gerade in Zeiten der Digitalisierung müssen wir aufpassen, dass wir die unterste staatliche Ebene, die kommunale Ebene, nicht weiter weg von den Menschen organisieren, dass wir sie nicht weiter schwächen. Das kommunale Ehrenamt braucht eben auch eine starke Verwaltung als Unterstützung im Hintergrund. Das sage ich als ehemaliger Bürgermeister aus tiefster Überzeugung.
Deshalb halte ich auch so manche Verwaltungsreform wie die bei uns in Rheinland-Pfalz für den falschen Weg. Die Politik, der Staat, beides muss eben möglichst nahe bei den Menschen sein.
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Das gilt für die Kommunalpolitik, und das gilt nach meiner Überzeugung übrigens auch für die Bundestagswahlkreise. Aber das ist ein ganz anderes Thema.
Was ist zu tun? Da, wo notwendig, muss der rechtliche Rahmen angepasst werden; das ist hier bereits mehrfach erwähnt worden. Übergriffe jedweder Art müssen schnelle Konsequenzen haben. Dafür brauchen wir eine starke Justiz mit spezialisierten Staatsanwaltschaften und Gerichten. Hierbei sehe ich großen Handlungsbedarf. Nur schnelle und konsequente Ahndung schafft Vertrauen in unseren Rechtsstaat.
Wir brauchen eine umfassendere Wertschätzung der Arbeit unserer Kommunalpolitiker. Die Arbeit, die vor Ort oft ehrenamtlich geleistet wird, braucht bestmögliche Unterstützung, und wir brauchen da, wo nötig, einen umfassenden Schutz von gefährdeten Personen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, für mich sind die Kommunalpolitiker, die Polizisten, die Rettungskräfte die wahren Helden des Alltags. Ohne ihre Arbeit könnte unser Staat nicht funktionieren. Deshalb haben gerade sie in besonderer Weise unseren Dank, unsere Anerkennung und auch unseren Schutz verdient.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Christian Wirth für die Fraktion der AfD.
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Herr Präsident! Werte Kollegen! Immerhin 92 Prozent der deutschen Kommunalpolitiker haben keine körperliche Gewalt selbst oder im Umfeld erlebt. Das ist aber auch ziemlich der einzige Lichtblick für unsere Kommunalpolitiker. Gewalt mag noch kein Alltag in ihrem beruflichen oder privaten Leben sein, aber das Klima aus Angst und Bedrohung verstärkt sich stetig.
Schaut man in die Statistik, so wurden nach Auskunft der Bundesregierung Politiker der CDU 161-mal, die der SPD 118-mal im Jahre 2019 Opfer eines Angriffs. Dazwischen liegen mit 143 Angriffen die Politiker der AfD. Der unsägliche Anschlag auf das Büro des Kollegen Diaby wurde erwähnt. Ich mag noch an den Kollegen Magnitz aus meiner Fraktion erinnern, der in Bremen mit einem Gegenstand hinterrücks niedergeschlagen und schwerstverletzt wurde. Ich möchte an den Mordanschlag auf meinen Kollegen Friesen erinnern, der nach einer Veranstaltung in einem vollbesetzten Fahrzeug auf der Autobahn gerade noch bemerkte, dass sämtliche Radmuttern seines Fahrzeugs gelöst waren.
Wenn Sie einmal vergleichen, auf welche absoluten Zahlen von Amtsträgern sich diese Angriffe verteilen, erkennen Sie vielleicht widerwillig einen gewissen Trend. Solche Hassreden wie eben vom Kollegen Daldrup können nur ein Indiz sein, woher das kommt.
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Geht es um Angriffe auf Parteibüros, Wahlstände, Wahlplakate usw., ist die AfD bereits einsamer Spitzenreiter. Hierbei reden wir nicht nur von relativ harmlosen, wenn auch teuren Farbattacken, sondern mittlerweile auch von Bombenanschlägen. Nicht nur bei der AfD bleibt lediglich eine Anzeige gegen Unbekannt oder gegen Internetpseudonyme, die mit trauriger Gewissheit im Sande verlaufen werden.
Ein breiter gesellschaftlicher und medialer Aufschrei folgt in der Regel nur bei ausgewählten Opfern. Die Täter mögen individuell zu oft davonkommen oder unerkannt bleiben; die Milieus sind aber uns allen bekannt. Ich nenne hier beispielhaft Reichsbürger und die Antifa.Reichsbürger – das zeigt die Statistik – sind der neue traurige Trend in den Bedrohungsszenarien der Kommunen. Die Antifa ruft ungeniert auf Indymedia zu Mord und Totschlag auf. Beide haben das Ziel, die Handlungsfähigkeit des Staates zu zerstören.
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Der Kampf richtet sich gegen unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung. Neonazis und Linksfaschisten haben unserem Staat den Krieg erklärt. Wer unsere Demokratie und unseren Rechtsstaat ablehnt und mit Gewalt bekämpft, ist ein Feind von allem, wofür die Bundesrepublik Deutschland steht.
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Gegen diese Feinde dürfen wir alle die Kommunalpolitiker, die dem Bürger am nächsten stehen, die die Grundessenz des demokratischen Lebens bilden, nicht alleinlassen. Wir alle – alle Parteien – sollten einmal in sich gehen und das Miteinander überdenken.
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Denn wir senden Botschaften des Miteinanders an die Bevölkerung; und viele Botschaften können auch missverstanden werden. Wenn in diesem Hause einer gewählten Partei wie der AfD abgesprochen wird, dass es sich bei ihr um eine demokratische Partei handelt, was täglich der Fall ist, so muss man sich nicht wundern, wenn Wirrköpfe auf der Straße Gewalt für ein legitimes Mittel halten.
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Wenn bürgerliche Parteien mit der Antifa demonstrieren, mögen sie zwar hoffen, von deren Angriffen verschont zu werden. Aber deren Politiker werden, wenn es nicht schon der Fall ist, das nächste Ziel sein.
Und hier kommt die GroKo ins Spiel. Sie berufen eine Aktuelle Stunde ein – immerhin. Aber was ist heute wieder die Botschaft? Verlangt die GroKo etwa, dass endlich gehandelt wird? In so gut wie jeder Kommune, in jedem Bundesland regiert eine Partei der Großen Koalition zumindest mit – noch. Auf Bundesebene waren Sie in diesem Jahrtausend durchgehend an der Macht, die meiste Zeit davon zusammen. Wie lange muss man eigentlich auf allen Ebenen regieren, bis man zumindest ein bisschen Verantwortung für die aktuelle Situation eingesteht, in der sich ein Land befindet?
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Sicher ist: Politik muss eine klare Sprache sprechen. Wer um Tatsachen, Probleme und Ideen herumredet oder diese verschweigt, der kann nicht an ihnen arbeiten. Auch eine in einzelnen politischen Fragen gespaltene Gesellschaft muss eine Demokratie aushalten. Diese Polarisierung überschreitet allerdings eine rote Linie, wenn Politiker oder ganze Parteien von der einen oder anderen Seite außerhalb des politischen Diskurses gestellt werden. Denn gegen jemanden, den man nicht als Teil der demokratischen Debatte akzeptiert, kann man sich, so die implizite Botschaft, nur mit Gewalt wehren.
Es liegt also eine Verantwortung bei uns allen, die Kultur des Streites mit der Zunge und nicht mit der Faust zu pflegen und vorzuleben. Es liegt aber eine besondere Verantwortung auch immer bei denen, die diese Verantwortung gesucht haben, nämlich bei den Regierenden. Zum Schutz der Kommunalpolitiker, dort, wo Politikfolgen und Politikverdrossenheit am unmittelbarsten zu spüren sind, muss jeder mögliche Schritt unternommen werden. Dazu gehört aber, das Vertrauen in Politik und Rechtsstaat zurückzugewinnen. Und dies gelingt nur, wenn die Regierenden der Polizei, den Sicherheitsbehörden und der Justiz ein klares Signal geben, nämlich, das Gewaltmonopol des Staates ohne Wenn und Aber und ohne vorauseilenden Generalverdacht denen gegenüber durchzusetzen, die unsere Demokratie nicht respektieren.
Vielen Dank.
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Danke sehr. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Karamba Diaby.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Auch wenn ich nicht aus Ihrem Wahlkreis komme und mich einer anderen Partei zugehörig fühle, ist der Anschlag auf Sie auch ein Angriff auf mich und auf das gemeinsame Werteverständnis und das Versprechen, einander zu respektieren.
In einer anderen Nachricht an mich heißt es:
In unseren Gemeinde-Gottesdiensten beten wir fast jeden Sonntag für die, die in unserem Land Verantwortung tragen. Ich würde mir sehr wünschen, dass Sie sich besonders eingeschlossen fühlen von unserer Hoffnung, dass Gewalt niemals das Klima unserer Gesellschaft prägen darf.
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In einer anderen Mail steht:
Trotz der anhaltend unerträglich hohen Frequenz solcher Taten gewöhne ich mich nicht daran, will es auch nicht; insbesondere wenn man bedenkt, dass manche Bürgermeister sich bereits zu ihrer Sicherheit und der ihrer Familie aus der Öffentlichkeit zurückgezogen haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das sind nur einige der Tausenden von Nachrichten, die ich gestern und heute erhalten habe. Für diese Nachrichten und für die gestern angelaufene interfraktionelle Solidaritätsaktion möchte ich mich an dieser Stelle ganz herzlich bedanken.
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Sie bestätigen für mich zwei Dinge: Erstens. Die überwältigende Mehrheit der Menschen will eine offene und solidarische Gesellschaft. Zweitens. Wir leben nicht in einem Zeitalter des Zorns, sondern in einem der Solidarität und des Mitgefühls.
Ich bin für jede einzelne Nachricht zutiefst dankbar. Sie alle geben mir und meinem Team Kraft und Mut.
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Sie alle zeigen mir, dass wir uns gegenseitig unterstützen müssen. Das heißt: Respekt und Solidarität für alle Menschen, die vor Ort und im Alltag das Land am Laufen halten. Dazu gehört unter anderem die Arbeit in Krankenhäusern, Beratungsstellen, Bahnhofsmissionen, bei der Polizei, beim THW und bei der Feuerwehr und in der Kommunalpolitik.
Fest steht: Wir Demokratinnen und Demokraten stellen die überwiegende Mehrheit in diesem Land, und es ist wichtig, dass wir die Demokratie verteidigen. Wir alle können dazu etwas beitragen, jeden Tag.
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Meine Damen und Herren, es muss klar sein, dass das Band zwischen Mensch und Mensch nicht zerreißen darf und Hass und Hetze nicht das Mittel unserer Zeit sein können.
Kolleginnen und Kollegen, wir müssen jetzt aktiv werden, wie ich es hier im Plenum auch schon öfter gesagt habe: Wir brauchen natürlich auch im Osten bessere Strukturen der Engagement- und Demokratieförderung. Wir brauchen eine Stärkung der politischen Bildung und Medienbildung in Schulen und Jugendeinrichtungen. Wir brauchen eine bessere Präventionsarbeit. Und wir brauchen endlich ein Demokratiefördergesetz.
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Denn, meine Damen und Herren, Daueraufgaben gehören dauerhaft gefördert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle, die wir hier sitzen, haben eine große Verantwortung. Wir haben es mit in der Hand, in welche Richtung sich unsere Gesellschaft bewegt. Die Sehnsucht nach Zusammenhalt ist größer denn je. Ich lade deshalb alle demokratischen Fraktionen dazu ein, dieses Ziel zu verfolgen; meine Fraktion ist voll dabei.
Danke schön.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Christian Haase.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich spreche heute zu Ihnen unter dem Eindruck von drei Lebenserfahrungen: zuerst vor dem Hintergrund meines ehemaligen Berufes als Bürgermeister. Dann bin ich kommunalpolitischer Sprecher meiner Fraktion und vertrete die Kommunen damit insgesamt. Schließlich spreche ich zu Ihnen als Politiker. Die Hauptaufgabe eines Politikers, egal auf welcher politischen Ebene, sehe ich darin, Ausgleich zu schaffen und zu vermitteln.
Meine Damen und Herren, es gibt zahlreiche Situationen und Themen, in denen sich auch Kommunalpolitiker Hass, Hetze und Gewalt ausgesetzt sehen. Das hat unterschiedliche Gründe: Viele Diskussionen werden vor Ort leidenschaftlich, mitunter auch hart in der Sache geführt. Als Bürgermeister war ich seinerzeit gezwungen, eine Kita zu schließen; es waren schlichtweg zu wenige Kinder da. Sie können sich vorstellen, was da los war: eine hitzige, lautstarke Debatte, abendliche Besuche besorgter Eltern – emotional in der Sache, aber ohne persönliche Angriffe. Das war 2009.
Seitdem hat sich viel getan. Heute gibt es wieder mehr Kinder; das ist positiv. Aber das gesellschaftliche Klima hat sich verändert. Heute polarisieren vor Ort Themen wie der Ausbau der Windenergie, die Erhöhung von Steuern oder die Verteidigung von Straßenausbaubeiträgen. Es sind Themen, die die Menschen ganz konkret in ihrem Lebensalltag tangieren, sei es auf dem Gehaltszettel, in ihrer Straße oder in ihrer Aussicht.
Aufgabe von Politik, auch von Kommunalpolitik, ist es, faktenorientiert und sachlich Zusammenhänge zu erklären und zu entscheiden, immer mit der Frage im Hinterkopf: Wie schaffen wir das alles, ohne die Gesellschaft zu spalten, ohne die Wirtschaft und die Bürger zu überfordern? Denn so stelle ich mir eine Politik der Vernunft vor.
Manche Kritiker und Aktivisten hingegen machen es sich sehr einfach, zum Beispiel beim Klimaschutz. Es wird bewusst emotional aufgeladen, mit Aussagen gearbeitet wie: „Hier herrscht Notstand“, „Das Haus brennt“ oder „Ich will, dass ihr in Panik geratet“. Wer will das eigentlich ernsthaft, eine Gesellschaft in Panik? Das ist unseriös und weit weg von der sachlichen und lösungsorientierten Problemfindung.
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Solche Auseinandersetzungen, meine Damen und Herren, polarisieren. Diskussionen werden viel zu oft mit Häme, mit Vorwürfen und sogar mit persönlichen Attacken geführt. Die Hemmschwelle von der verbalen Attacke zum tatsächlichen Drohszenario oder zu einem Anschlag wie dem, dem das Büro von Karamba Diaby ausgesetzt war, ist dann kleiner, als viele denken.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang eines sagen: Hetze und Gewalt gegen Kommunalpolitiker, Polizisten und Rettungskräfte sind im Grunde nur die Spitze des Eisbergs. Es fängt doch schon im Ehrenamt insgesamt an. Fragen Sie mal die Schiedsrichter, die jede Woche in den Amateurklassen unterwegs sind!
Was ist die Folge? Einige Kommunalpolitiker wollen sich bewaffnen. Andere führen Sicherheitsüberprüfungen ihrer Häuser durch. Die stillste, aber häufigste Entscheidung ist: Ich trete nicht wieder an. – Ist das unsere Vorstellung von Demokratie? Nein. Wir brauchen eine wehrhafte Demokratie.
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Wir brauchen Politiker, die sich unliebsamen Themen öffnen, und das im täglichen Eins-zu-eins mit den Bürgern, wie es unsere Kommunalpolitiker erleben.
Meine Damen und Herren, die Verrohung der Gesellschaft ist nicht plötzlich vom Himmel gefallen. Sogenannte soziale Medien haben ihren Anteil daran und sind Treiber dieser gesellschaftlichen Entwicklung. Hier lässt sich unter dem Deckmantel der Anonymität leicht herumpöbeln. Wir müssen also dafür sorgen, dass die Bereitschaft, Kommunalpolitiker und andere Betroffene zu bedrohen, wieder sinkt.
Wir Kommunalen fordern daher eine Klarnamenpflicht im Internet und in sozialen Netzwerken; denn wir brauchen eine klare und einfache Identifizierungsmöglichkeit, um den Ermittlungsbehörden die Arbeit zu ermöglichen. Wir fahren ja schließlich auch alle mit einem Autokennzeichen: weil jeder Verantwortung für das übernehmen muss, was er im Straßenverkehr macht oder auch falsch macht. Wenn die Identifizierung im Internet so einfach wie am Stammtisch ist, dürfte auch digital die soziale Kontrolle funktionieren und Hass, Hetze und Gewalt im Zaum halten.
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Was wir noch brauchen, sind gut ausgestattete Schwerpunktstaatsanwaltschaften, aber auch entsprechend sensibilisierte Ermittlungsbeamte. Bisher passiert außer der Einstellung von Verfahren leider recht wenig.
Abschließend will ich sagen: Solange der Eindruck entsteht, einen Kommunalpolitiker, Rettungskräfte, Polizisten oder andere zu beleidigen oder zu bedrohen, sei ein Kavaliersdelikt, wird sich nichts ändern. Schweigen wir nicht!
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist für die SPD-Fraktion der Kollege Helge Lindh.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Karamba, wenn du – und das war nicht das erste Mal – bedroht, beschimpft und angegriffen wirst, ist das ein Angriff auf uns alle ganz persönlich. Es ist ein Angriff auf deine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wie auf unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Deshalb, glaube ich, ist es auch ganz wichtig, dass wir nicht nur im übertragenen Sinne unsere Solidarität aussprechen. Vielmehr sollten wir uns im Grunde buchstäblich vor deinem Büro zu einer Art Menschenkette und als Bollwerk versammeln, um ein Zeichen zu setzen, dass wir parteiübergreifend gegen das Andere stehen, dieses Andere, das die Bedrohung und den Hass verkörpert. Ich danke dir und deinem Team für die Größe, mit der ihr damit umgeht, und für die Haltung, die ihr zeigt. Vielen Dank dafür!
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Das bedeutet aber auch – und du hast ein Beispiel gegeben, wie man es macht –, dass wir eben gerade nicht instrumentalisieren sollten. Eben wurde in der Rede von Herrn Wirth der Fall des AfD-Abgeordneten mit den gelösten Muttern angesprochen. Er vergaß aber, darauf hinzuweisen, dass dies keineswegs Ermittlungsergebnis ist. Es wurde ganz schnell der Eindruck erweckt, es handele sich um eine linksextremistische Straftat. Das haben aber die Ermittlungsbehörden so nicht festgestellt, und es gibt ein Gutachten, das sehr wohl auch die Möglichkeit zulässt, dass es sich nicht um Sabotage handelte, sondern um ein technisches Versagen.
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Ich finde, gerade in solchen Zusammenhängen sollten wir äußerst vorsichtig sein, entgegen Ermittlungsergebnissen den Eindruck zu erwecken, es handele sich um linksextremistische Straftaten.
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Denn genau damit fehlt die Ernsthaftigkeit, die diese Debatte erfordert. Damit diskreditieren wir letztlich jeden ernsthaften Vorfall, und davon gibt es viel zu viele.
Oft ist dann die Rede davon, es handele sich um einen Angriff auf die Demokratie. Das ist auch richtig. Aber ein Angriff auf die Demokratie ist letztlich ein Angriff auf ganz konkrete Menschen. Und wenn wir sagen – auch das ist zutreffend –: „Wir, unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Kommunalpolitiker, die Polizisten und die Rettungskräfte, sollten uns nicht einschüchtern lassen“, dann ist das leichter gesagt als getan.
Deshalb möchte ich in der Redezeit, die mir noch bleibt, einmal darauf hinweisen, was es mit Menschen macht, wenn sie so etwas erfahren. Ich habe das selber erlebt, habe wiederholt Morddrohungen erhalten. Ich weiß noch genau – ich könnte es auf die Sekunde genau schildern –, was es bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in meinem Büro und bei meinen Eltern auslöste, als ich Opfer einer Hacking-Attacke wurde, als bei mir zu Hause Urinbeutel, Hundekotattrappen und Korane geliefert wurden, als vermeintlich in meinem Namen rassistisch gepostet wurde. Das kann man nicht schildern, das muss man erlebt haben. Das trifft andere viel mehr als mich selbst; ich bin da ziemlich unempfindlich und habe mir einen guten Panzer aufgebaut. Aber was, meinen Sie, macht es mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die tagtäglich solche Hassschreiben, Morddrohungen und Ähnliches lesen, die es viel mehr abbekommen als ich? Ich finde, wir sollten uns vor all denen verneigen, die für uns arbeiten und die unser alltägliches Bollwerk sind.
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Ihnen, gerade ihnen, möchte ich diese Ausführungen widmen. Bei mir konkret waren es die Mitarbeiter meines Teams – in vielen anderen Teams ist das auch oft der Fall –, die als Erste – es war ungefähr drei Uhr nachts – davon erfuhren, dass auf einer digitalen Plattform eine Morddrohung gegen mich veröffentlicht wurde, weil ich mich mit dem schwulen afrodeutschen Blogger und ZDF-Mitarbeiter Tarik Tesfu unterhalten hatte. Ich hatte das gar nicht gemerkt, sie hatten es aber gelesen, weil sie teilweise nicht schlafen konnten und auch nachts die Nachrichten lesen. Auch ich konnte tagelang nicht schlafen; aber bei meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern war das viel deutlicher. Das ging so weit, dass sie buchstäblich Angst hatten, dass ich zu einer weiteren Fernsehsendung gehe, in der Furcht, dass mir etwas passieren könne.
Ich denke, das macht deutlich – bei vielen anderen wird es noch viel schlimmer und viel dramatischer sein –, dass dies keine Zustände sind, an die wir uns einfach gewöhnen können.
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Und wenn Herr Dr. Curio heute Morgen von „Migrationstrip“, von einer „Willkommensparty“ und von einer „Hängematte“ für Migrantinnen und Flüchtlinge sprach, dann ist das keine einfache Brandstiftung, sondern dann werte ich das als Einladung an Menschen in diesem Land, verbal und sogar physisch gewalttätig zu werden.
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Das aber können wir nicht akzeptieren. Ich denke, wenn wir begreifen, was verbale und physische Gewalt mit Menschen macht, was sie mit Rettungskräften macht, was sie mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in unseren Büros macht, was sie mit Kommunalpolitikern macht, dann verbietet es sich, künftig jemals wieder solche Worte zu verwenden –
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.
– oder zu versuchen, Anschläge parteipolitisch zu instrumentalisieren.
Vielen Dank.
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Herzlichen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Marc Henrichmann, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Diese Aktuelle Stunde ist ein schöner Anlass, einmal mit denen zu sprechen, die es betrifft, nämlich Kommunalpolitiker, aber auch Rettungskräfte, Polizisten und Feuerwehrleute. Ich habe das in meinem Wahlkreis getan, und letzten Endes bilden sich zwei Handlungsfelder heraus.
Zum einen haben wir – alle wissen das – eine Verrohung der Sprache, fehlenden Respekt und steigende Gewaltbereitschaft zu beklagen. Das ist mehr als eine Prügelattacke. Es geht schon in Facebook-Gruppen los, wenn es nur um Ankündigungen von Blitzerstationen der Polizei geht – entsprechende Beispiele habe ich zuletzt zugespielt und geschickt bekommen –, da heißt es dann: „Die Affen stehen da“, „die Bullen“, „die Schweine“. Was sollte uns das sagen? Vielleicht sollten wir darauf auch einmal ein Auge haben; denn im Kleinen fängt es an.
Zum anderen müssen wir die Frage stellen, ob wir als Gesellschaft insgesamt genug tun, diejenigen, die uns jeden Tag helfen und schützen, nicht alleine zu lassen. Aber der Reihe nach: Ein Rettungsdienst schildert mir, dass auf der A 43 ein Rettungswagen mit Blaulicht auf dem Weg zum Einsatz über viele Kilometer blockiert und ausgebremst wird. Retter der Feuerwehr erzählen mir, dass sie beschimpft und angespuckt werden. Sie wünschen sich nichts mehr als eine zeitnahe und wirkungsvolle, schnelle, effektive Bestrafung. Ein Polizist einer Einsatzhundertschaft erzählt mir, dass Verstöße gegen das Vermummungsverbot nicht verfolgt, Steinwürfe nicht sanktioniert werden. Er beklagt fehlenden Rückhalt – auch politischen – in seinem Bundesland und sagt, es gebe auch in diesem Bereich erhebliche Unterschiede zwischen den Bundesländern. Deswegen ist für den polizeilichen Bereich ganz klar: Wir brauchen ein Musterpolizeigesetz mit gleichen Maßstäben und Rückendeckung für unsere Beamten.
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Unterstützen wir genug? Wenn wir zurückblicken, sehen wir: Wir haben gesetzlich viel auf den Weg gebracht. Letzten Endes bleibt eines immer der Auftrag: Polizeibeamte, Feuerwehrleute, Sanitäter gehören auf die Straße, nicht an den Schreibtisch. Wir müssen im Hinblick auf Bürokratie und Datenschutz alles im Blick behalten und auch bei Software und anderer technischer Ausstattung schauen, dass wir auf dem neuesten Stand sind. Wir brauchen Anlaufstellen für die Opfer von Übergriffen. Wir brauchen psychologische Betreuung, Fortbildung etc.
Wir müssen aber auch die Familien schützen. Wenn mir berichtet wird, dass Polizeibeamten, nachdem ein Täter wieder auf freien Fuß gesetzt wurde, beispielsweise gesagt wird: „Wir wissen, wo deine Familie wohnt“, oder im Supermarkt Beamten hinterherspioniert wird und der Familie Angst gemacht wird, dann ist das nicht zu dulden. Auch die Dienstherren dieser Beamten, der Rettungskräfte müssen da, wo es möglich ist, konsequent Strafanträge stellen, und die Justiz muss schnell und effektiv urteilen.
Zum Thema Rückendeckung. Diese zu stärken, ist, glaube ich, das Signal, das wir heute mit dieser Aktuellen Stunde senden wollen. Herr Hess, Sie haben eingangs mit dem Blick nach links und dem etwas zugekniffenen rechten Auge gesagt, das alles sei ein linkes Phänomen. Ich habe mir gerade den Spaß gemacht und kurz gegoogelt. Ich habe „Polizei, AfD, Verletzung“ bei Google eingegeben. Der erste Treffer war ein Vorfall vom letzten Sonntag in Dresden: Ein Kabarett wurde gestürmt, Rechtsextreme haben ein Bierglas als Waffe verwendet und „Scheiß Asylanten“ gebrüllt und „Wählt doch die AfD!“ gerufen. Sie glauben, das alles habe nichts mit Ihrer Arbeit hier und der Hetze vonseiten der entsprechenden Zeitungen und Portale zu tun. Ich glaube, schon.
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Aber es gibt auch die andere Seite. Natürlich haben wir ein Linksextremismusproblem. Schauen wir nach Connewitz. Mir schwillt der Kamm – ich sage das ganz offen –, wenn ich lese, dass von einigen zuerst einmal die Taktik der Polizei infrage gestellt wird. Dann frage ich mich schon: Ist das Rechtsstaat, denjenigen in den Rücken zu fallen, die uns schützen,
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und die bloße Anwesenheit der Polizei als Fehler zu bezeichnen? Ich glaube, auch darüber sollte man schleunigst nachdenken.
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Der Rechtsstaat braucht Sicherheitskräfte. Die meisten kommen ihrer Arbeit mit großer Leidenschaft nach, wie ich in den vielen Zuschriften lesen konnte. Wir brauchen Regeln, die für jedermann gelten. Es ist ein Erfolg der Demokratie in Deutschland, dass jeder, der sie nicht akzeptieren will, rechtliche Einspruchsmöglichkeiten und Klagemöglichkeiten hat. Aber es muss einen gesellschaftlichen Konsens geben, dass es keine gute Gewalt gibt und dass es Gewalt gegen Polizei und Rettungskräfte erst recht nicht geben darf.
Das ist auch eine Aufforderung an die Politik: Wir müssen schützen, wer uns schützt, wer sich für uns mit Leidenschaft einsetzt. Es ist richtig, den Strafrahmen für Übergriffe auf Rettungskräfte zu verschärfen und zu erweitern. Es ist auch richtig, gegen Beleidigungen im Netz vorzugehen. Aber: Ich habe eine dringende Bitte an die Rettungskräfte, an die Feuerwehrleute, an die Polizisten, die mir ihre Erlebnisse erzählt haben: Erzählen Sie Ihre Geschichte bitte auch allen Menschen da draußen. Erzählen Sie es den politischen Vertretern. – Wir müssen dahin kommen, dass wir über solche Vorfälle offen reden, dass niemand schmollt, dass wir miteinander in den Dialog treten. Die Gesprächskultur in diesem Land muss sich wieder ändern, auch in Bezug auf Rettungskräfte.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Letzter Redner in der Aktuellen Stunde ist der Kollege Alois Karl, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin den Koalitionsfraktionen dankbar, dass wir uns heute mit diesem Thema befassen, das in den letzten Wochen eine starke Virulenz in den Medien hatte, und dass wir ganz dezidiert über den Schutz von Kommunalpolitikern, Polizisten und Rettungskräften und denjenigen, die ehrenamtlich in unserem Land tätig sind, sprechen.
Wenn man sich in das Thema einliest, dann könnte man fast ein wenig Gänsehaut bekommen. Es überkommt einen ein beklemmendes Gefühl, und man fragt sich: Ja, ist es denn wirklich schon so weit, dass diejenigen, die es sich heute noch als Ehre anrechnen, für diesen Staat und in dieser Gesellschaft zu agieren, die ein Ehrenamt bekleiden, jetzt vom Staat geschützt werden müssen, damit sie für den Staat arbeiten können? Es scheint in der Tat so zu sein, dass die erschreckenden Zahlen nicht wegdiskutiert werden können. Mehr als 1 200 Kommunalpolitiker – so ist es jedenfalls registriert – mussten im letzten Jahr politisch motivierte Straftaten erleiden. Von den Tausenden Polizeivollzugsbeamten, den Rettungskräften, Feuerwehrleuten, den Mitarbeitern des Technischen Hilfswerks und anderen haben wir ja gerade gehört. Für mich persönlich ist das mehr als ein Alarmzeichen, mehr als ein bloßer Weckruf. Ich glaube, es ist allerhöchste Zeit, dass wir unsere politischen und auch gesetzgeberischen Möglichkeiten deutlich aufzeigen und diesen Umtrieben in unserem Lande entgegensetzen.
Wir haben hier von allen Fraktionen gehört, dass wir diesen Umtrieben entgegentreten wollen. Wir haben dazu in den letzten Wochen viele Wortmeldungen gehört. Frau Kramp-Karrenbauer, Julia Klöckner, Horst Seehofer, Christine Lambrecht – alle haben tiefe Betroffenheit ausgedrückt. Aber – wenn Sie mich fragen – ich habe ein wenig die tiefgreifenden Vorschläge vermisst, die notwendig sind, um dem jetzigen Treiben ein Ende zu bereiten.
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– Zu Ihnen komme ich noch.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich glaube, die Therapie muss früher ansetzen. Ein Kollege aus Kamp-Lintfort hat einen großen Waffenschein beantragt, um sich zu schützen. Da klingeln natürlich alle Alarmglocken; das ist klar. Die Verwaltung bearbeitet diesen Vorgang. Der Antrag auf den Waffenschein ist, glaube ich, abgelehnt worden. Die Verwaltungsgerichte werden sich damit befassen. Ich glaube nicht, dass es der richtige Weg ist, dass Kommunalpolitiker – etliche von ihnen haben wir schon gehört, und viele sitzen unter uns, die nicht zu Wort gekommen sind – bewaffnet werden müssen. Ich glaube, dann würden wir in der Tat weit über das Ziel hinausschießen. Dennoch ist richtig, was wir gehört haben. Unsere Forderung nach Klarnamen im Netz muss aufgegriffen werden. Es geht nicht, dass man in der Anonymität des Netzes beleidigt und herabsetzt und andere in ihrer Ehre verletzt.
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Dieses Unwesen, das im Augenblick herrscht, können wir nicht und niemals dulden.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich habe allergrößten Respekt vor denjenigen, die freiwillig für unsere Gesellschaft arbeiten, die etwas davon hergeben, von denen andere sagen, sie hätten es nicht, die etwas von ihrer Zeit, von ihrer Freizeit hergeben, um unseren Staat in unserem Land, in unseren Städten und Gemeinden aufrechtzuerhalten, und die sich nicht zu schade sind, dafür viel Zeit aufzuwenden. Wir leben in einem blühenden Land. Dies haben wir all denen mit zu verdanken, die mehr als bloß ihre Pflicht tun.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, begehen Amtsträger Straftaten, sind sie häufig Strafschärfungen ausgesetzt: Freiheitsberaubung im Amt, Körperverletzung im Amt. Ich frage mich, ob nicht auch einmal darüber nachgedacht werden könnte, dass unsere Mitarbeiter im öffentlichen Bereich, in den Ehrenämtern in den Genuss kommen, dass Beleidigungen gegen Amtsträger, Beleidigungen gegen ehrenamtlich Tätige stärker bestraft werden.
Meine Damen und Herren, ich glaube, der Reichtum unserer Städte und Gemeinden liegt auch in der ehrenamtlichen Tätigkeit. Der Reichtum unserer Städte und Gemeinden liegt nicht unbedingt in den Soll-und-Haben-Rechnungen der Stadtkasse.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Der Reichtum liegt bei denen, die sich hergeben und mehr tun, als von ihnen gefordert wurde. Ihnen gilt unser Respekt. Ihnen sage ich, auch in Ihrem Namen: Allerherzlichsten Dank dafür, dass Sie sich hergeben, dass Sie von Ihrer Zeit geben und unseren Staat, unsere Gesellschaft und damit unsere Demokratie aufrechterhalten.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit ist die Aktuelle Stunde beendet.
Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich sehr über den heutigen Beschluss. Wir werden heute im Deutschen Bundestag endlich ein Gesetz über die Wohnungslosenberichterstattung beschließen. Über viele Jahre, fast Jahrzehnte, wurde darüber diskutiert, ob es eine offizielle Statistik überhaupt braucht und, wenn ja, wer sie überhaupt zu erheben hat. Zuletzt ist bei der Diskussion über den Armuts- und Reichtumsbericht deutlich geworden, wie wenig wir über sehr reiche und sehr arme Menschen wissen. Wir wissen so gut wie gar nichts über Menschen, die in Deutschland wohnungslos sind: ob sie in einer Unterbringung sind, ob sie auf der Straße leben müssen oder ob sie bei Familie oder Verwandten untergekommen sind. Heute endlich ziehen wir einen Schlussstrich unter diese Debatte. Ja, es braucht eine solche Statistik. Ja, es braucht eine Berichterstattung über Wohnungslosigkeit. Das ist anhand der sich zuspitzenden Lage, die wir sehen, ganz offensichtlich notwendig. Sinnvollerweise erstellt diese Berichterstattung der Bund.
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Ich freue mich auch über die breite Mehrheit, die wir bei diesem Gesetzentwurf im Deutschen Bundestag sehen werden. Aber es ist kein Schlussstrich unter das Thema, sondern nur unter die Debatte zu einer Berichterstattung. Es ist vielmehr der Beginn, dass wir uns endlich viel intensiver mit dem Thema Wohnungslosigkeit in Deutschland auseinandersetzen können.
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Vor uns liegt noch viel Arbeit, und zwar zuerst einmal beim Statistischen Bundesamt. Das soll zukünftig die Berichterstattung übernehmen. Es hat die große Aufgabe, ab 2022, am 31. Januar eines jeden Jahres, jede Stelle, die wohnungslosen Menschen Wohnraum überlässt, zu melden und festzustellen, wie viele Menschen untergebracht werden. Alle Stellen müssen entsprechend informiert, müssen gebrieft sein und in die Lage versetzt werden, genau diese Zahlen zu liefern. Es wird für uns auch spannend sein, zu sehen, wer überhaupt wohnungslosen Menschen Wohnraum überlässt.
Aber das ist nur ein erster Schritt. Genau dieser erste Schritt ist in diesem Gesetzentwurf angelegt. Die Erweiterung auf weitere Formen der Wohnungslosigkeit ist in diesem Gesetzentwurf ebenso angelegt. Das war uns als Koalitionsfraktion auch ganz besonders wichtig. Es wird Begleitforschungen geben. Menschen, die auf der Straße leben müssen oder die bei Familie oder Bekannten als sogenannte Couchsurfer unterkommen, werden im besonderen Fokus stehen. Und es wird einen Bericht und eine Prüfung darüber geben, diese Berichterstattung auszuweiten und nicht nur zu erfassen, wie vielen Menschen Wohnraum überlassen wird, sondern – das finde ich ganz plausibel – auch zu erfassen, wie viele Menschen klassisch auf der Straße leben müssen, ohne dass sie beispielsweise Hilfen annehmen wollen oder können. Genau das ist in diesem Gesetzentwurf angelegt.
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Natürlich ändert eine Statistik an sich nichts. Aber wenn man in einem reichen Land wie Deutschland jährlich die Zahlen um die Ohren gehauen bekommt, wie viele Menschen in diesem reichen Land wohnungslos sind, dann ändert das hoffentlich eine ganze Menge in den Köpfen und Herzen von uns politischen Entscheiderinnen und Entscheidern.
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Ich hoffe dann auf noch beherztere Maßnahmen.
Klar ist auch, dass wir natürlich nicht erst 2022 anfangen, etwas gegen Wohnungslosigkeit zu tun. Deswegen danke ich am Schluss meiner Rede all denjenigen Menschen und Institutionen, die schon jetzt aktiv sind, etwas gegen Wohnungslosigkeit zu unternehmen und den Betroffenen Hilfe zu geben. Ich danke denjenigen, die eine gute Wohnungspolitik machen, den Menschen in den Wohlfahrtsverbänden, die eine gute Arbeit machen, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Behörden, die nicht ignorieren, wenn irgendwo Wohnungslosigkeit droht oder eingetreten ist, den Nachbarn, die helfen, wenn Wohnungslosigkeit droht, und all jenen Menschen, die mit Achtsamkeit durch unsere Straßen gehen und darauf achtgeben, dass niemand in den kalten Nächten jetzt zu Schaden kommt. Ihnen ganz herzlichen Dank! Ich hoffe, dass wir ihnen und den wohnungslosen Menschen mit dieser Statistik den Rücken stärken und für eine bessere Politik in diesem Feld sorgen werden.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Uwe Witt, AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste des Hohen Hauses! Werter Herr Minister Heil! Wir freuen uns, dass die Regierung heute einen Gesetzentwurf zur Abstimmung bringt, der unseren Antrag vom November 2018 aufgegriffen hat.
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– Haben Sie etwas zu sagen? Bitte melden Sie sich doch.
In der öffentlichen Anhörung am Montag wurde von allen sachverständigen Organisationen die Wichtigkeit einer zentralen Statistik zur Wohnungslosigkeit hervorgehoben und eine zeitnahe Einführung begrüßt. Zeitnah, Herr Heil, bedeutet aber nicht, dass die Erfassung – sprich: Zählung – der Betroffenen erst in der nächsten Legislaturperiode beginnen soll. Da kann sich die Regierung ein Beispiel nehmen.
Warum Januar 2022? Eine Einführung im Januar 2021 hätte ja schon Ergebnisse vor der nächsten Bundestagswahl zur Folge und würde das völlige Versagen der Großen Koalition im Wohnungsbau und in der Sozialpolitik offenbaren. Aber das kann keiner der aktuellen Regierungsverantwortlichen gebrauchen.
Liebe Großkoalitionäre, warum arbeiten Sie nur so halbherzig? Wir brauchen in Deutschland eine Statistik zur Erfassung aller – ich betone: aller – Menschen, die wohnungslos oder obdachlos sind. Es reicht nicht, eine umfangreiche Berichterstattung einzuführen, die eigentliche Statistik aber nur auf untergebrachte wohnungslose Personen zu beschränken. Gerade die Menschen in unserer Gesellschaft, die am stärksten betroffen sind, die auf der Straße leben, haben Anspruch auf Unterstützung. Diese kann man aber erst dann zielgerichtet gewähren, wenn klar ist, wie viele Personen überhaupt betroffen sind.
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Die Regierung kann sich einmal ein Beispiel an den Ländern Berlin, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg nehmen, wo derartige Zählungen durchgeführt werden. Auch Paris und New York erfassen ihre Obdachlosen statistisch.
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Auf Basis von aktuellen Zahlen sind konkrete Maßnahmen möglich, so wie in der kanadischen Kleinstadt Medicine Hat, die es nach der Erfassung aller Obdachlosen mit der Strategie des Housing First geschafft hat, innerhalb von sechs Jahren allen Obdachlosen eine Unterkunft zur Verfügung zu stellen.
Kommen wir zum Antrag der FDP. Wohnungs- und Obdachlosigkeit kann man nicht mit einem schnell gestrickten Maßnahmenpaket bekämpfen. Einige Ihrer Ansätze sind begrüßenswert, andere unausgegoren, wie zum Beispiel Ihr Liberales Bürgergeld.
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Das bedeutet eine komplette Umstrukturierung des Sozialsystems
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und kann nicht Thema einer Debatte zu einer Statistik über Wohnungslosigkeit sein. Maßnahmen wie das schon erwähnte Housing First, One-Stop-Shops oder intensivierter sozialer Wohnungsbau sind gute Ansätze, aber erst Schritt zwei beim Thema Wohnungslosigkeit. Davor muss Schritt eins erfolgen. Folgerichtig lehnen wir Ihren Antrag ab.
An unsere Kollegen von den Linken zu ihrem Antrag, das Grundgesetz ändern zu wollen: Ich zitiere auszugsweise: „Jeder Bürger … hat das Recht auf Wohnraum für sich und seine Familie …“ Ach, Entschuldigung, jetzt habe ich doch tatsächlich Artikel 37 I der Verfassung der DDR vom 7. Oktober 1979 verlesen.
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Ihre Vision vom Grundrecht auf Wohnen und die damit verbundenen Vollmachten für den Staat lesen sich wie bei Marx, Engels und Mao abgeschrieben. Wann hören Sie endlich auf, jedes Mal Zustände wie in der DDR heraufzubeschwören?
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Deutschland ist froh, kommunistische Errungenschaften wie Zwangsenteignung und totale Staatskontrolle lange hinter sich gelassen zu haben. Deswegen können wir Ihren Antrag nur ablehnen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Einführung einer vollständigen Statistik über von Wohnungs- und Obdachlosigkeit betroffene Personen liefert die Grundlage für weitere Maßnahmen, um dieses soziale Übel an der Wurzel zu packen. Wir benötigen daher sofort eine Umsetzung, wie wir, die AfD, sie fordern.
Herr Heil, leider haben Sie unsere gute Vorlage nicht ganz verwandelt. Ihr Änderungsantrag hat jedoch einige meiner Kritikpunkte ausgeräumt, sodass wir nicht gegen Ihren Gesetzentwurf stimmen werden.
Vielen Dank.
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Herzlichen Dank. – Nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion ist der Kollege Frank Heinrich.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! Viele von uns tragen eine Brille, die einen wegen einer Kurz-, die anderen wegen einer Weitsichtigkeit. Manche müssen einfach nur schärfer sehen, um das Kleingedruckte besser wahrnehmen zu können. Schärferes Sehen – klarere Wahrnehmung: Insofern ist dieser Gesetzentwurf richtig. Wir wollen klarer wahrnehmen, und zwar durch eine Wohnungslosenberichterstattung sowie eine Statistik untergebrachter wohnungsloser Personen.
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Wir wollen das Kleingedruckte lesen. Wir wollen die von vielen nicht so stark wahrgenommenen Bereiche unserer Gesellschaft besser zur Kenntnis nehmen.
Ich freue mich ebenso wie meine Kollegin von der SPD über den breiten Konsens in diesem Gesetzgebungsverfahren. Ich bin überzeugt: Wir haben etwas Gutes auf den Weg gebracht. Ein großes Dankeschön an alle, die dazu beigetragen haben, den Kolleginnen und Kollegen hier im Bundestag, den Fraktionsreferenten, den Mitarbeitern, den Vertretern der Verbände, die in diesem Bereich arbeiten – sie haben uns mit ihren Einschätzungen bereichert –, und dem BMAS, Herr Minister Heil, für die konstruktive Zusammenarbeit.
Aber die eigentliche Arbeit beginnt natürlich erst jetzt. Es handelt sich um eine neue bundesweite Statistik. Die auskunftgebenden Stellen müssen bestimmt und gegebenenfalls ertüchtigt werden: Software, Erhebungsdurchführung, Konzeption, Entwicklung. Prinzipiell kommt diese Aufgabe auf 10 800 Gemeinden in Deutschland zu. Das Statistische Bundesamt plant eine sehr intensive Vorbereitung. Ich bin sehr gespannt auf die erste Erhebung im Jahr 2022.
Wie schon öfter hier erwähnt, habe ich selber in diesem Bereich als Sozialarbeiter gearbeitet, als Heilsarmeeoffizier, habe Menschen unter Brücken besucht, wie die Stadtmissionen hier in Berlin mit dem Kältebus. Ich habe Menschen in den kältesten Nächten Tee oder Kaffee gebracht. Ich erinnere mich an Otto. Eines Nachts fand die Polizei ihn tot unter seiner Brücke. Er hatte, weil es eine besonders kalte Nacht war, besonders viel von etwas Härterem getrunken, um sich neben dem guten Schlafsack bestens auszustatten. Wegen des Mehr-Trinkens musste er aber einmal mehr raus. Und wegen des Mehr-Trinkens hat er es nicht geschafft, wieder hundertprozentig in seinen Schlafsack zu schlüpfen. In der Nacht starb er. – Ich möchte, dass die Ottos dieser Gesellschaft besser wahrgenommen werden.
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Ich möchte, dass wir nicht nur Flickschusterei betreiben. Natürlich machen wir gute Arbeit, empfangen die Menschen und besuchen sie; aber wir müssen reinleuchten, wir müssen wahrnehmen, neben dem Unter-die-Brücken-Gehen. Es bedarf möglicherweise struktureller Veränderungen, wenn wir diesen Menschen besser gerecht werden wollen. Dafür brauchen wir diese Datengrundlage. Ich freue mich, dass wir die jetzt in Auftrag geben.
Wir haben auch eine umfangreiche ergänzende Berichterstattung in Auftrag gegeben. Sie umfasst die sogenannten Couchsurfer, Menschen ohne jede Unterkunft, also auch Obdachlose. Ebenso wichtig ist das, was wir im zweiten Schritt in den Änderungsantrag hineingeschrieben haben, die Revisionsklausel: Wenn die ersten Daten vorliegen, wollen wir herausfinden, was wir noch besser machen können. Müssen wir die Statistik möglicherweise erweitern und andere Bereiche hinzunehmen?
Wir haben noch drei weitere Aspekte in den Gesetzentwurf aufgenommen. Einen finde ich sehr charmant. Das ist nah an dem, was ich „von der Stadtmission zur Seemannsmission“ genannt habe. Wir haben im Rahmen der letzten Haushaltsberatungen dafür gesorgt, dass 500 000 Euro mehr für Seemannsklubs und Seemannsheime zur Verfügung gestellt werden, die sich in kirchlicher Trägerschaft um Seeleute kümmern, die gestrandet sind. Das nehmen wir ins Gesetz auf.
Ich danke Ihnen für die konstruktive Zusammenarbeit bei der Formulierung dieses Gesetzentwurfs. Für mich ist dies ein guter Tag.
Danke schön.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist der Kollege Hagen Reinhold, FDP-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ja, es gibt eine breite Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf, und das Gesetz ist ein wichtiger Schritt – das ist keine Frage –, aber eine Statistik kann kein Schlussstrich sein. Das sollte uns klar sein. Selbst wenn wir, wie von der AfD gerade so schön angemahnt, die Statistik auf andere Gruppen ausweiten, was begrüßenswert wäre, bleibt es bis jetzt bei der bloßen Zählung derer, die keine Wohnung haben oder kein Obdach finden. Das allein hilft uns aber nicht weiter.
Wenn wir ein ernsthaftes Interesse daran haben, Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit in Deutschland zu bekämpfen, ist es viel wichtiger, zu erfahren, welche Hilfeleistungen in Deutschland funktionieren. Ich prügle ja oft zu Recht auf Berlin ein – ich muss nur an den Mietendeckel denken –: Warum ist denn zum Beispiel trotz der hohen Reintegrationsrate bei Obdachlosen in Berlin – bei 60 bis 75 Prozent der Träger – nicht zu merken, dass es weniger Obdachlose in Berlin gibt? Liegt das daran, dass die Hilfsmaßnahmen in Berlin so gut sind? Was für Wanderungsbewegungen haben wir? Das sind Fragen, die uns beschäftigen müssen, damit wir Konsequenzen daraus ziehen können. Die blanke Erfassung der Zahlen ist nicht der Weisheit letzter Schluss.
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Die Zahlen sollen in den Armuts- und Reichtumsbericht einfließen. Den legt man immer zur Mitte der Legislaturperiode vor. So hat man sich das zumindest 2001 vorgenommen. Schon in der letzten Legislaturperiode hat das nicht funktioniert. Er wurde erst am Ende der Legislaturperiode vorgelegt und dann auch noch in einer geschwärzten und schöngeschriebenen Variante. Die Zahlen sollen nicht in den nächsten, sondern in den übernächsten Armuts- und Reichtumsbericht einfließen. Ich hoffe, dass die Zahlen nicht dazu führen, dass ein weiterer Bereich geschwärzt und geschönt wird; denn wir brauchen die Zahlen selbstverständlich in ihrer Klarheit.
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Es ist gut, dass hier keiner allzu sehr auf den anderen zeigt und sagt: Warum haben wir diese Statistik bis jetzt nicht erhoben? 1998 haben wir immerhin schon eine Machbarkeitsstudie zur statistischen Erfassung der Wohnungslosigkeit erstellt. 1998! Viele von uns waren danach in Verantwortung und hätten das umsetzen können. Verwunderlich ist, warum wir damals auf eine laufende Datenerhebung gesetzt haben und nicht auf eine Stichtagserhebung. Die Machbarkeitsstudie hat damals übrigens das Statistische Bundesamt erstellt. Jetzt sind wir bei einer anderen Art und Weise der Erhebung. Ich hoffe, dass das Gesetz diesbezüglich im Laufe der Zeit noch verändert wird und die Datenerhebung angepasst wird.
Ich habe gesagt, warum es mir wichtig ist, zu erfahren, welche Hilfen greifen und welche nicht. Für diejenigen, die die Sache mit dem Liberalen Bürgergeld nicht verstanden haben, die leichte Kost brauchen, gibt es schöne Trickfilme. Die kann man sich ansehen; das muss man nicht auf Papier lesen.
Jeder, der sich mit Sozialleistungen auseinandersetzt, sagt: Wenn wir diese zusammenfassen und leichter für die zugänglich machen, die eine niedrige Schwelle zur Erreichung von Sozialleistungen brauchen, als Bürgergeld oder wie auch immer das heißt, dann hilft das. Selbst wenn es Gute-Bürger-Gesetz hieße: Irgendwann ist mir das völlig egal. Sobald wir die Sozialleistungen zusammenfassen und den Leuten einen einfachen Zugang gewähren, haben wir schon einen großen Schritt getan.
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Ich will – deshalb ist es mir so wichtig, zu erfahren, was wirkt und was nicht – einmal erfahren: Warum ist es vielleicht so, dass eine Mietrechtsänderung, mit der die Frage von Mietschulden aufgegriffen und dafür gesorgt wird, dass auch ordentliche Kündigungen zurückgezogen werden können, gar nicht das adäquate Mittel ist? Wir wissen, dass zum Beispiel 75 Prozent der Obdachlosen – Studien aus anderen Ländern zeigen das – psychische Erkrankungen haben. Wir wissen, dass Leute, selbst wenn sie Geld haben, Mietschulden aufbauen und auch die Begleichung der Mietschulden bei ihnen nicht verhindern wird, die nächste Räumungsklage zu erhalten und die nächste Wohnung zu verlieren.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.
Ich sehe das, Herr Präsident, und beeile mich jetzt ganz doll. – Deshalb ist es so wichtig, zu schauen: Welche Hilfsmaßnahme passt? Dann können wir mit der Mär – es reicht eine einfache Änderung im Mietrecht, die Kündigung wird zurückgenommen, und alle sind froh – einmal aufräumen.
Herr Kollege.
Es ist deutlich umfangreicher, diese Aufgabe zu bewältigen. Unser Antrag und auch die Anträge von vielen anderen in dieser Legislaturperiode waren dabei schon hilfreich.
Herr Kollege, ich entziehe Ihnen gleich das Wort. Letzter Satz. Ein Satz nur noch.
Ich bedanke mich bei dem Präsidenten und bei dem Rest der Zuhörer.
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Okay. Vielen Dank. – Als nächste Rednerin erhält das Wort die Frau Senatorin Elke Breitenbach.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich freue mich, dass der Bundesgesetzgeber endlich eine bundesweit einheitliche Wohnungslosenstatistik einführen möchte.
Herr Reinhold, ich weiß nicht, wie Sie auf die kühne Idee kommen, dass es in Berlin oder anderswo in diesem Lande weniger Obdachlose als früher gibt. Das stimmt nicht.
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Ich kann Ihnen sagen: In Berlin haben wir allein 36 000 Menschen staatlich untergebracht.
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Das ist die Zahl, die ich Ihnen nennen kann.
Wir brauchen Daten. Wir brauchen Studien. Wir brauchen Grundlagen, um die Wohnungslosenhilfe zu verbessern und zu verändern. Deshalb brauchen wir eine Wohnungslosenstatistik.
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Gleichzeitig sage ich aber auch: Das, was jetzt vorgeschlagen wurde, kann nur ein Einstieg sein. Die Zahlen – ich habe jetzt für uns die Zahl von 36 000 Menschen genannt; das ist eine der Zahlen, die Sie erfassen wollen –, die Sie nicht erfassen, sind die Zahlen der Menschen, die auf der Straße leben, darunter sehr, sehr viele EU-Bürgerinnen und -Bürger. Sie kennen das Problem, dass ganz viele von ihnen keinen Anspruch auf Leistungen haben. Die Bundesregierungen der letzten Jahre haben hier die Daumenschrauben immer weiter angezogen; eine große Herausforderung für uns.
Wir erfassen auch nicht diejenigen, die in der Kältehilfe sind; das wurde gerade genannt. Das ist tatsächlich ein Problem. Es wird uns auch in Schwierigkeiten bringen, wenn wir das nicht angehen. Also, ich wünsche mir hier tatsächlich eine zügige Weiterentwicklung von einer Wohnungslosenstatistik hin zu einer Wohnungsnotfallstatistik. Das ist, glaube ich, die Herausforderung, vor der wir in den nächsten Jahren alle stehen.
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Wir in Berlin versuchen, mit gutem Beispiel voranzugehen. Wir werden nämlich das erste Mal in Deutschland eine Nacht der Solidarität durchführen. Das heißt, wir werden in der Nacht vom 29. auf den 30. Januar mit fast 4 000 freiwilligen Zählerinnen und Zählern durch Berlin ziehen, und zwar durch die ganze Stadt. Wir werden Menschen auf der Straße zählen. Wir werden sie befragen, und wir werden sie über das Hilfssystem informieren.
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Dann haben wir irgendwann die Ergebnisse. Diese Ergebnisse stellen wir der Bundesebene sehr gerne zur Verfügung. Ich hoffe – ich freue mich, dass wir auch Zählerinnen und Zähler von den Behörden aus München und aus Hamburg dabeihaben –, dass wir den ersten Schritt machen und dass viel mehr Menschen in diesem Land diesen Weg mitgehen und wir gemeinsam zu einer vernünftigen Wohnungsnotfallstatistik kommen und uns um die Menschen auf der Straße kümmern.
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Ich sage zum Schluss noch einen Satz. Zentral ist tatsächlich, dass wir bezahlbaren Wohnraum haben. Wir brauchen sehr viele präventive Maßnahmen. Wenn jemand eine Wohnung verloren hat und nicht unglaublich viel Geld verdient, findet er oder sie auch keinen neuen Wohnraum. Das ist in Berlin so, aber auch in anderen Orten. Deshalb ist es natürlich sinnvoll, ein Grundrecht auf Wohnraum im Grundgesetz zu verankern.
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Ja, weder eine Statistik noch eine Verankerung im Grundgesetz führt automatisch dazu, dass sich irgendwas von jetzt auf gleich verändert. Aber es ist ein Zeichen. Es ist für uns alle ein Maßstab, diese Veränderungen herbeizuführen. Das würde ich mir wünschen.
Wohnungslose und obdachlose Menschen sind Teil dieser Gesellschaft. Genau so sollten wir sie alle behandeln. Da haben wir die Verantwortung, sie zu unterstützen, ihnen zu helfen. Dafür brauchen wir die Daten. Ein erster Schritt ist gemacht. Ich hoffe, wir gehen die weiteren Schritte gemeinsam.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Senatorin. – Als nächster Redner hat der Kollege Christian Kühn, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der erste Antrag der grünen Bundestagsfraktion zur Einführung einer Wohnungslosenstatistik ist aus dem Jahre 1995. Es hat jetzt über 20 Jahre gebraucht, bis wir hier im Deutschen Bundestag einen Beschluss zur Einführung einer bundesweiten Wohnungslosenstatistik bekommen werden. Es ist ein erster Schritt, der zeigt, dass wir als Gesellschaft Wohnungslosigkeit in Deutschland in Gänze überwinden wollen. Ich finde, es ist ein guter Tag für die Menschen da draußen, wenn der Deutsche Bundestag sagt: Wir schauen in Zukunft hin.
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Das ist ein Riesenerfolg all derjenigen, die in den letzten Jahrzehnten innerhalb und außerhalb dieses Parlaments dafür gearbeitet haben, dass es endlich eine bundesweite Wohnungslosenstatistik gibt. Mein Respekt gilt heute vor allem auch denjenigen innerhalb der CDU/CSU-Fraktion, die die Widerstände überwunden haben, die jahrelang dazu geführt haben, dass solche Initiativen blockiert wurden. Danke dafür und auch für den Mut, sich hier durchzusetzen. Wir Grünen sind heute glücklich darüber, dass wir diesen Schritt gemeinsam gehen und hier wirklich einen Fortschritt erreichen.
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Wir als Parlament machen die Augen auf und sagen: Wir schauen in Zukunft hin. Wir wollen genau hinschauen; denn eines ist klar: Wer keine Zahlen kennt, kann nicht handeln. Aber wir müssen dringend handeln angesichts der dramatischen Situation auf den Wohnungsmärkten, angesichts der dramatischen Zahlen, die wir von der BAG W kennen, angesichts der Situation vieler Menschen in unserem Land.
Es gibt Statistiken für alles in diesem Land: Autos, Straßenkilometer, Brücken. Wir wissen alles. Aber dass wir nicht wissen, wie viele Menschen obdachlos auf der Straße leben, dass wir nicht wissen, wie viele Menschen auf einer Couch übernachten müssen, dass wir nicht wissen, wie viele Menschen eigentlich keine Wohnung haben, ist ein Missstand, den wir nun endlich beenden. Das ist gut so.
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Aber diese Statistik alleine wird nicht reichen. Wir brauchen eine begleitende Berichterstattung, die sich eben nicht nur mit absoluter Wohnungsarmut beschäftigt, sondern auch mit relativer, die darüber informiert, wie man Menschen zahlenmäßig erfassen kann, die arbeiten, aber keine Wohnung haben. Auch das muss abgebildet werden. Die Zwangsräumungen müssen abgebildet werden, weil sie am Ende ein wichtiger Indikator für die Prävention sind. Es muss auch abgebildet werden, wie viele Kinder in Deutschland unter Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit leiden. Ich glaube, das sind wir diesen kleinen Menschen schuldig.
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Wir brauchen Prävention. Diese muss rechtzeitig ansetzen. Aber wir brauchen auch endlich einen bundesweiten Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit. Ich hoffe, dass dies der nächste Schritt ist, den wir mit einer ähnlich großen Einigkeit in diesem Parlament beschließen werden; denn wir müssen eben nicht nur hinschauen, sondern in Zukunft auch handeln.
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Wir brauchen Maßnahmen beim Mietrecht. Kollege Hagen Reinhold, wir werden da um den Kündigungsschutz nicht herumkommen. Natürlich ist es ein Problem, dass der Kündigungsschutz so ist, wie er heute ist, weil er Menschen eben nicht schützt und eben keine Heilungsmöglichkeiten hat. Diesen Kündigungsschutz braucht es dringend; das wurde bei der Anhörung deutlich. Das höre ich auch in jedem Gespräch, wenn ich bei einer Obdachloseninitiative bin. Das ist immer ein Thema. Deswegen hoffe ich, dass die FDP sich in Zukunft da anders positionieren wird.
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Zum Schluss will ich sagen: Das Phänomen der Obdach- und Wohnungslosigkeit ist kein Randphänomen dieser Gesellschaft mehr.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Es ist ein Phänomen der Mitte der Gesellschaft. Es hat längst die Mittelschicht erreicht. Es ist ein Phänomen, das in der Stadt wie auf dem Land zu beobachten ist. Deswegen ist es gut, dass wir heute gemeinsam die Augen aufmachen.
Herr Kollege, bitte kommen Sie zum Schluss.
Lassen Sie uns nun auch gemeinsam handeln.
Danke schön.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich die nächste Rednerin aufrufe, vielleicht ein kleiner Hinweis, weil wir als Präsidium Dienstleister gegenüber den Abgeordneten sind: Das Pult hat mehrere Gestaltungsmöglichkeiten. Sie sehen dort die Uhrzeit, die für Sie läuft. Dann blinkt es gelegentlich; da steht „Präsident“ drauf. Das bin ich dann mit der Bitte, doch zum Ende zu kommen, bevor ich das verbalisieren muss. Und links davon sind zwei Knöpfe, einer für oben, einer für unten. Damit können Sie das Pult selbstständig rauf- und runterfahren. Die Redezeit beginnt erst zu laufen mit Ihrem ersten Wort. Also, Sie können da vorne auch trinken und alles Mögliche machen – Blätter sortieren, das Pult rauf- und runterfahren –,
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die Redezeit wird davon nicht berührt.
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Als nächste Rednerin hat die Kollegin Ulli Nissen das Wort für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Herzlichen Dank noch mal für den Hinweis.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wohnungs- und obdachlos zu sein, ist furchtbar. Wohnungslosigkeit gehört zu den schlimmsten Formen der Armut.
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In meinem Frankfurter Wahlkreis ist seit November wieder die B-Ebene einer U-Bahn-Station geöffnet. Auch der Kältebus ist wieder unterwegs, um Menschen in Not zu helfen.
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Den vielen Menschen, die eine großartige Arbeit – –
Frau Kollegin Nissen, ich halte die Zeit kurz an. Fahren Sie das Pult etwas hoch; die Zeit ist jetzt gestoppt. – Okay, jetzt.
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Auch der Kältebus ist wieder unterwegs, um Menschen in Not zu helfen. Den vielen Menschen, die eine großartige Arbeit für Obdachlose leisten, sage ich Danke.
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Wir beraten heute den Regierungsentwurf zur Einführung einer Wohnungslosenberichterstattung sowie einer Statistik untergebrachter wohnungsloser Menschen. Der Bundestag kommt damit einer langjährigen Forderung sozialpolitischer Verbände und der Länder nach. Wie dringend wir verlässliche Daten und Statistiken brauchen, zeigen uns die heutigen Anträge der Oppositionsfraktionen. Da herrscht ein buntes Sammelsurium von Daten über Wohnungslosigkeit, die von 237 000 betroffenen Personen laut FDP bis zu 1,2 Millionen laut AfD reichen. Ich halte diese Zahlenspielereien in der Sache für wenig hilfreich.
Bislang gibt es keine verlässlichen Daten und Statistiken, wie viele Menschen tatsächlich von Wohnungslosigkeit betroffen sind. Der vorgelegte Gesetzentwurf sieht den Einstieg in eine bundesweit einheitliche Statistik vor. Wir schaffen damit erstmals eine solide Datengrundlage. Alle zwei Jahre, erstmals 2022, soll darüber berichtet werden. Eine aussagefähige Statistik soll dazu beitragen, vor Ort passende Maßnahmen und Präventionsprogramme zur Vermeidung und zur Bewältigung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit auf den Weg zu bringen. Die Einführung einer Statistik kann nur ein erster Schritt sein, um weitere Maßnahmen zu veranlassen. Wir müssen und wollen bis 2030 die SDGs, die Nachhaltigkeitsziele, erreichen. Dazu gehört auch das Ziel, alle Menschen mit Wohnraum zu versorgen.
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Wir brauchen mehr bezahlbaren Wohnraum. Bund, Länder und Kommunen sind hier gemeinsam gefordert. Wir haben einiges auf den Weg gebracht. Besonders freut mich, dass Vermieter jetzt nur noch maximal 3 Euro pro Quadratmeter innerhalb von sechs Jahren nach Modernisierung umlegen können. Außerdem bringen wir die Verlängerung und Verschärfung der Mietpreisbremse auf den Weg. Künftig bekommen Mieterinnen bis zu 30 Monate rückwirkend zu viel gezahlte Miete zurück. Beides sind Beschlüsse, liebe Kolleginnen und Kollegen, die über unsere Koalitionsvereinbarungen hinausgehen, was ich großartig finde. Verbesserungen beim Kündigungsschutz sind dringend notwendig; denn Wohnungsverlust steht oft am Ende einer Verkettung vielfacher Problemlagen. Mietschulden gehören zu den wichtigsten Auslösern.
Auch Notunterbringungen müssen wir in den Blick nehmen, das fordert das Deutsche Institut für Menschenrechte in seinem jüngsten Bericht. Bund und Länder sollen Empfehlungen für Mindeststandards entwickeln.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns das Problem der Wohnungslosigkeit gemeinsam angehen. Ein erster Schritt ist der heutige Gesetzentwurf zur Einführung einer Wohnungslosenstatistik. Ich bitte Sie um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Nissen. – Nächster Redner ist der Kollege Karsten Möring, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Wohnungslosenstatistik, über die wir heute beraten und deren Einführung wir heute beschließen, folgt einem breiten und, wie wir gehört haben, auch einem seit vielen Jahren bestehenden Wunsch. Gleichwohl hat die Beratung zur zweiten und dritten Lesung gezeigt, wie methodisch schwierig das ist und was man dabei beachten muss. Die Tatsache, dass wir bisher nur in drei Ländern solche Statistiken haben, ist, denke ich, nicht nur auf bösen Willen zurückzuführen, sondern auch auf durchaus vorhandene Schwierigkeiten bei der Anlage einer solchen Statistik.
Deswegen ist es richtig, dass in dem § 8 eine Formulierung gefunden worden ist, die sehr deutlich macht, dass das, was wir heute beschließen wollen, nicht abschließend und auf Dauer ist, sondern dass wir über Erweiterungen, Veränderungen nachdenken und auch andere Kategorien in den Blick nehmen müssen. Das ist richtig, und das ist wichtig.
In der ersten Lesung ist sehr oft darauf hingewiesen worden, dass ein entscheidender Punkt der Mangel an Wohnraum ist. Da möchte ich allerdings ein bisschen vorsichtig sein. Die Frage, ob es genug Wohnraum gibt oder nicht, ist für das Thema der Wohnungslosigkeit und vor allen Dingen der Obdachlosigkeit zwar eine wichtige, die Antwort darauf ist aber kein Allheilmittel. Denn wir haben beispielsweise vorhin von Frank Heinrich gehört, welche Probleme individuell bei Obdachlosen bestehen, wenn es um die Frage geht: Wo können sie untergebracht werden? In einer Wohnung, in einem Wohnheim? Mit Betreuung, ohne Betreuung? Psychische Probleme, materielle Probleme, soziale Verhaltensweisen als Problem – alles das gibt es dort.
Deswegen werden wir mit einer Statistik über die Zahl derjenigen, die wohnungslos, die obdachlos sind, natürlich mehr Erkenntnisse gewinnen. Aber die Lösungsansätze, die wir für die Schritte danach brauchen, können wir erst dann wirklich gewinnen, wenn wir etwas mehr über die Gründe des einzelnen Betroffenen wissen.
Es ist natürlich klar, dass es am besten ist, wenn wir das Problem von entstehender Wohnungslosigkeit durch Kündigung bei Mietrückständen schon bearbeiten, bevor es eintritt. Die Frage, ob das mit einer Rücknahme fristloser Kündigungen möglich ist oder nicht, will ich heute gar nicht erörtern. Ich möchte aber nur zu bedenken geben: Das Problem, das wir auch jetzt schon bei Wohnungsmangel haben, ist: Wen sucht sich ein Vermieter aus? Wenn ein Vermieter zu der Auffassung kommt, er will einen Mieter loswerden, mit dem er ständig Ärger hat, und wenn dieser Mietschulden hat und das Anlass für eine fristlose Kündigung gibt, dann ist die Frage, ob den Betroffenen geholfen ist, wenn man den Vermieter sozusagen durch Übernahme der Mieten zwingt, beim Mietverhältnis zu bleiben. Das ist aber nur eine Frage unter vielen. Aber grundsätzlich meine ich: Bevor Wohnungslosigkeit wegen Mietrückständen eintritt, muss der Kommune Gelegenheit gegeben werden, an dieser Stelle einzuschreiten, damit die Situation nicht eintritt.
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Bei der Frage der Obdachlosen bin ich der Auffassung, dass wir in der Tat die Möglichkeiten nutzen sollten, die schon in vielen Kommunen bestehen. Bei mir in Köln haben wir neben den Zahlen, die wir über die NRW-Statistik erreichen, eine ganze Reihe niederschwelliger Angebote, die im Gesundheitsbereich vom Gesundheitsamt vorgehalten werden oder die über ehrenamtliche Betreuung laufen. Die Bedeutung der Ehrenamtlichen kann man gar nicht hoch genug einschätzen; bei denen haben wir uns wirklich zu bedanken, weil wir das Personal, das wir im Moment brauchen, gar nicht bezahlen könnten. Niederschwellige Angebote sind zum Beispiel die Station GULLIVER, die sich am Bahnhof befindet, oder der Sozialdienst katholischer Männer, der auch so eine Station unterhält; die Mitarbeiter dort wissen, was bei den Einzelnen die Gründe sind, auf der Straße zu leben.
Wir hatten vor ein, zwei Jahren einen spektakulären Fall. Die Zeitung berichtete über einen Obdachlosen, der mit seiner Partnerin in einem Erdloch wohnte. Die Folge dieses Berichts waren massenhafte Wohnungsangebote. Das Paar ist in eine Wohnung eingezogen, und es dauerte wenige Wochen, da stellte sich heraus: Sie sind nicht sozialverträglich für ihre Umgebung. Das Mietverhältnis wurde wieder aufgelöst. Solche Fälle gibt es.
Das ist jetzt ein krasses Beispiel. Ich will das nicht als Abschreckung nennen; ich will das nur zur Betonung nehmen, dass wir uns um die individuellen Ursachen kümmern und da eingreifen müssen. Das schafft diese Statistik natürlich nicht; aber sie ist ein wichtiger Schritt dahin. Deswegen denke ich: Die Diskussion ist eröffnet, aber nicht beendet. Wir werden an diesem Thema weiterarbeiten müssen.
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Vielen Dank Herr Kollege. – Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Peter Aumer, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir bringen heute eine Berichterstattung für Wohnungslosigkeit in unserem Land auf den Weg – eine wichtige Entscheidung, dass wir die Menschen, die von Wohnungslosigkeit betroffen sind, und die Formen von Wohnungslosigkeit statistisch erfassen.
Wir sehen, wie schwierig es ist, alle Formen von Wohnungslosigkeit zu erfassen. So vielfältig die Formen der Wohnungslosigkeit sind, so vielfältig sind auch die Gründe, die zur Wohnungslosigkeit führen: Trennung, Krankheit, unerwartete Kündigungen, plötzlicher Jobverlust oder Gewalterfahrungen. Es sind Schicksalsschläge, wie sie jeden von uns treffen können.
Mit dieser Wohnungslosenberichterstattung schärfen wir den Fokus; denn für künftige politische Entscheidungen sind verlässliche Zahlen wichtig. Es ist wichtig, dass aufgezeigt wird, wie viele Menschen und in welcher Form diese von Wohnungslosigkeit betroffen sind. Wie notwendig valide Zahlen sind, zeigt ein Blick auf die aktuell kursierenden Schätzungen – es ist vorher schon angesprochen worden –: Die Bandbreite reicht von 620 000 bis zu 1,1 Millionen Menschen, die in Deutschland wohnungslos sein sollen. Mit diesen Zahlen, meine sehr geehrten Damen und Herren, können wir nicht arbeiten. Deswegen ist eine valide Berichterstattung notwendig. Sie ist aber auch nur ein erster Schritt: Sobald die Zahlen vorliegen, werden die Herausforderungen und Aufgaben deutlich.
Die Kompetenzen des Bundes für die Hilfestellung für die betroffenen Menschen sind aber begrenzt, Frau Senatorin. Die Aufgaben haben vor allem auch die Kommunen und die Länder. Wir als Bund haben unsere Hausaufgaben zumindest gemacht. Wir haben in der Großen Koalition für den sozialen Wohnungsbau Bundesfinanzhilfen von 5 Milliarden Euro bis 2021 zur Verfügung gestellt. Mit diesen Mitteln und den Mitteln, die von Ländern und Kommunen dazukommen, können über 100 000 zusätzliche Sozialwohnungen geschaffen werden. Das ist sicherlich ein wichtiger Schritt. Es gibt viele andere Maßnahmen – der Herr Kollege Möring hat das vorher angesprochen –, aber der notwendige Wohnraum ist natürlich auch Voraussetzung.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, stimmen Sie bitte diesem Gesetzentwurf zu, sodass mit den Zahlen in Zukunft zielgerichtete politische Entscheidungen für wohnungslose Menschen in unserem Land getroffen werden können.
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Herzlichen Dank, Herr Kollege Aumer. – Damit schließe ich die Aussprache.
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sie alle kennen die Meinung der Freien Demokraten zum Netzwerkdurchsetzungsgesetz, dem NetzDG: Wir lehnen es ab. Aus unserer Sicht ist das NetzDG absolut wirkungslos, kann Gift für die Meinungsfreiheit sein, ist eine Bankrotterklärung des Rechtsstaats. Ich glaube, es ist darüber hinaus auch verfassungswidrig. Ich glaube nämlich, dass die Gesetzgebungskompetenz des Bundes gefehlt hat. Das muss man einfach vorweg mal sagen bei diesem Tagesordnungspunkt.
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Heute hat Frau Ministerin Lambrecht gesagt, sie arbeite jetzt an einer neuen Fassung des NetzDG. Sie hat unter anderem gesagt – Zitat –, das NetzDG habe sich bewährt, grundsätzlich bewährt. Ehrlich gesagt, meine Damen und Herren, macht mich das ein wenig fassungslos. Fragen Sie doch mal herum, wie es aussieht mit Hass und Hetze im Internet in den letzten drei Jahren. Sind denn Hass und Hetze wirklich weniger geworden in der letzten Zeit? Das wäre ja die Voraussetzung, um zu behaupten, das NetzDG habe sich bewährt. Ich finde jedenfalls, das ist nicht der Fall, meine Damen und Herren. Nein.
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Es ist nicht so, dass das NetzDG fortentwickelt werden kann, indem man weitere Kleinigkeiten daran ändert oder ein bisschen die Größe des Meldebuttons verändert; es wäre sehr naiv, zu glauben, dass man damit weiterkommt.
Das Kernproblem ist, glaube ich, der Umgang in der Gesellschaft. Darüber reden wir viel zu wenig. Das ist aber die zentrale Herausforderung für unsere Demokratie. Die Demokratie lebt doch von einem freien und unbefangenen Wettstreit der Meinungen. Auch zugespitzte Meinungen müssen zulässig sein. Auch in einer Sachdebatte kann diese Zuspitzung – das wollen viele nicht – gerechtfertigt sein. Sie darf natürlich nicht die Grenze des Strafbaren überschreiten. Aber genau um den Punkt geht es: Wir wollen auf der einen Seite Meinungsfreiheit, eine lebhafte gesellschaftliche Debatte, und auf der anderen Seite wollen wir, dass Rechtsstaatlichkeit gewahrt wird. Dazu muss man auch die richtigen Maßnahmen ergreifen. Das Bundesverfassungsgericht hat zu Recht die Hürden für eine Beschneidung der Meinungsfreiheit sehr hoch gesetzt. Das finde ich gut so.
Der – na ja, ich will sagen: hilflose – Ansatz der Bundesregierung war vor drei Jahren, unter der Vorgängerregierung, die Einführung des NetzDG. Außer ein paar Zahlen mehr, ein paar uneinheitlichen Statistiken und Bewertungen der sozialen Netze hat es eigentlich nichts gebracht.
Ich finde, wir müssen es neu denken. Deswegen legen wir heute auch unseren eigenen Entwurf vor zum Thema Meinungsfreiheit und Rechtsdurchsetzung gegen strafbare Handlungen im Netz. Wir schlagen einen Regulierungsmix vor.
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Der besteht erstens aus der Stärkung des Rechtsstaates beim Durchsetzen gegen Hass und Hetze, um gegen Beleidigungen effektiv vorgehen zu können. Damit meine ich nicht irgendwelche Ausleitungen an die Polizei oder gar irgendwelche Abteilungen bei Facebook und Google, die in Zukunft entscheiden sollen – einer staatsanwaltschaftlichen und polizeilichen Ermittlung vorgelagert –, was im Einzelfall infrage kommt, sondern eben gute Wege. Da müsste man, meine Damen und Herren, auch mit den Ländern sprechen, weil nach dem Medienrecht die Länder dafür maßgeblich zuständig sind; darum kommt man nicht herum.
Zweitens wollen wir das NetzDG aufheben. Ich erwähnte es bereits: Transparenzberichte können sinnvoll sein – die können wir auch übernehmen –, wir müssen aber ansonsten auch eine einheitliche Form haben. Das Problem war doch, dass wir unterschiedliche Bewertungen in den einzelnen Netzen hatten. Man konnte gar nicht vergleichen, was dort gemeldet wurde oder nicht gemeldet wurde. Wir brauchen also ein einheitliches Meldeverfahren für die sozialen Netze, damit wir da auch einen Überblick bekommen.
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Drittens wollen wir die Betroffenen in die Lage versetzen, auch selbst gegen Beleidigungen, Drohungen und Persönlichkeitsverletzungen vorzugehen. Dazu haben wir ein paar Ideen in den Antrag geschrieben, zum Beispiel ein Onlineverfahren. Es ist ja absurd, dass man Onlinehass und ‑hetze nicht online melden kann. Persönlichkeitsverletzungen dort muss man schnell melden können. Man braucht einen wirksamen Auskunftsanspruch gegenüber sozialen Netzen. Es geht ferner um digitale Beweissicherung.
Meine Damen und Herren, ich glaube, es geht im Kern um den gesellschaftlichen Umgang miteinander in der digitalen Zeit, darum, dass man frei seine Meinung überall äußern kann und dass Strafbares strafbar bleibt und der Staat das ahndet, aber nicht irgendwelche Abteilungen von sozialen Netzwerken. Dafür möchten wir um Diskussion und Zustimmung bitten.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Höferlin. – Nächster Redner ist der Kollege Carsten Müller, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Um es vorwegzunehmen, Herr Kollege Höferlin: Wir werden Ihrem Antrag nicht zustimmen können,
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und zwar aus einer ganzen Reihe von Gründen.
Die Wichtigkeit, die Sie dem Thema einräumen, zeigt sich an der Genese der Tagesordnung für heute: Sie haben sich erst überlegt, dass Sie hier das Thema diskutieren wollen. Dann war Ihnen ein anderes Thema wichtiger,
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und Sie haben noch mal umdisponiert. Und dann kamen Sie mit diesem etwas hilflosen Antrag. Das ist übrigens ein Gemisch von Ideen, die von uns kommen,
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die Sie übernommen haben –
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ich werde im Einzelfall darauf eingehen –, und von überkommenen Positionen. Sie sind witzigerweise – offensichtlich auch in Ihrer Fraktion – der Letzte, der noch sagt, dass das NetzDG gar kein Erfolg war.
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Da hätte ich Ihnen die Anhörung im Rechtsausschuss sehr ans Herz gelegt. Tatsächlich war Ihre Fraktion über weite Strecken der Anhörung gar nicht vertreten. Also, Ihr Interesse ist oftmals leider nur vorgeschoben.
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Meine Damen und Herren, kommen wir zur Sache. Hass und Hetze sind natürlich Erscheinungen, denen wir im Netz mit großer Entschlossenheit entgegentreten wollen.
Zum Thema „Weiterentwicklung des NetzDG“. Das NetzDG ist im Übrigen, auch nach Ansicht der Stakeholder in der Diskussion, ein wirklicher Erfolg – einige reden von einem Überraschungserfolg – geworden.
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Dieses wollen wir weiterentwickeln. Wir wollen Gutes besser machen und haben dazu eine Reihe von Vorschlägen auf den Tisch gelegt.
Sie haben heute wahrscheinlich die Tagespresse verfolgt. Die „Süddeutsche Zeitung“ berichtet über einen Referentenentwurf. Wir sind guten Mutes, dass sich in diesem Referentenentwurf die vielen klugen Vorschläge, die die Unionsfraktion in dieser engagierten Debatte auch schon in einem Positionspapier niedergelegt hat, wiederfinden werden.
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Wir haben die Strafverfolgungsbehörden gestärkt. Es gibt Gespräche mit den Ländern. Das Thema Schwerpunktstaatsanwaltschaften wollen Sie uns hier tatsächlich als neu verkaufen. Abenteuerlich! Darüber diskutieren wir hier in diesem Hause schon seit über einem Jahr. Sie haben es jetzt mitbekommen. Glückwunsch dazu!
Auch das Thema „regulierte Selbstregulierung“ – das ist übrigens ein Thema, das sich jetzt, glaube ich, erstmals in einem FDP-Antrag findet – ist eigentlich erledigt. Wir sind da schon deutlich weiter; Sie fangen gerade an. Bewegen Sie sich ein bisschen schneller, dann kommen Sie hinterher.
Ich will nun auf einige Punkte Ihres Antrages eingehen, die schlicht falsch sind oder einfach auch nur widersprüchlich. Schlicht falsch ist die Behauptung, es würde eine Klarnamenpflicht angestrebt werden. Das hatte ich Ihnen hier schon mal berichtet: Nach intensiver Debatte ist mit der Unionsfraktion eine Klarnamenpflicht nicht zu machen.
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– Wissen Sie, Frau Künast, bei uns ist es vielleicht ein bisschen anders als bei der Fraktion der Grünen. Bei uns dürfen einzelne Mitglieder natürlich auch abweichende Meinungen haben.
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Die werden nicht gleich niedergebrüllt.
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Insofern, meine Damen und Herren: Klarnamenpflicht wird es mit uns nicht geben.
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– Nun reden Sie mal bitte nicht dauernd dazwischen. – Eine Verpflichtung wird es mit uns nicht geben. Wir gehen den Weg der Anreize: Wir wollen durchaus die Netzwerkbetreiber ermutigen, Anreize für die Klarnamenverwendung einzuführen, weil wir festgestellt haben, dass die Klarnamenverwendung durchaus die eine oder andere Hemmung gegenüber der üblen Beschimpfung und Herabsetzung von Personen darstellen kann. Sie ist allerdings nicht der einzige Schlüssel zum Erfolg. Anonymität ist eben auch ein Bestandteil der Meinungsfreiheit, und die Meinungsfreiheit ist uns wichtig. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass das NetzDG die Meinungsfreiheit schützt.
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Sie schlagen in Ihrem Antrag beispielsweise auch eine effektivere Strafverfolgung vor und fordern – lustigerweise – die Einrichtung einer Zentralstelle für solche Hinweise. Wenn Sie Ihren Antrag auch nur in Ansätzen sorgfältig gelesen hätten,
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dann wäre Ihnen aufgefallen, dass Sie sich eine halbe Seite vorher gegen die Einrichtung einer zentralen Stelle beim BKA ausgesprochen haben. Also: Beseitigen Sie die Widersprüche in Ihrem eigenen Antrag!
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Und, meine Damen und Herren – das will ich gegen Ende der Rede doch noch erwähnen; das hat mich dann schon verwundert –: Dass Sie von der FDP, auch wenn Sie so einen Antrag – der im Übrigen erst gestern Abend vorgelegt worden ist –
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schnell zusammenstoppeln mussten, auf die Idee kommen, Kommunikation auf Messengerdiensten, beispielsweise WhatsApp-Kommunikation, unter den materiellen Geltungsbereich dessen zu stellen, was heute im NetzDG geregelt ist, ist ein starkes Stück. Das ist im Übrigen ein echter Anschlag auf die Meinungsfreiheit. Dass dieser Vorschlag ausgerechnet von der FDP kommt, nimmt doch wunder. Sie würden damit einen Wechsel der Parameter vornehmen. Sie würden nämlich nicht das Netz überwachen und gegen Einzelne vorgehen, sondern Sie würden Endgeräteüberwachung etablieren wollen. Das ist mit der Union nicht zu machen.
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Wir sind mit dem NetzDG zufrieden. Es hat sich bewährt. Wir machen Gutes besser. Es liegt in Kürze ein Entwurf der Bundesregierung auf dem Tisch. Wir haben ihn sorgfältig vorbereitet, haben eine engagierte Diskussion geführt. Ich bin außergewöhnlich optimistisch, dass wir das mit einem besonders guten Ergebnis Ende des ersten Quartals dieses Jahres abschließen werden.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist der Kollege Stephan Brandner, AfD-Fraktion.
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Ich? Frau Künast, ich habe noch gar nichts gesagt. Da gibt es noch gar nichts, um dazwischenzureden.
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Ich glaube, Sie haben schon Visionen, Brandner-Visionen, oder?
Meine Damen und Herren, der Kollege Müller hat ja gerade schon einiges erzählt; ich kann daran anschließen. Denn mit dem vorliegenden Antrag beweist die FDP, dass sie genau das Gegenteil der von ihr immer so genannten Serviceopposition ist und dass sie von parlamentarischer Arbeit in etwa genauso viel Ahnung hat wie von eigenen Medienbeteiligungen – beispielsweise am „Cicero“ –, nämlich gar keine. Herr Martens – wo ist Herr Martens? – kennt sich da ja besonders aus.
Exemplarisch dafür ist dieser Tagesordnungspunkt: erst auf der Tagesordnung – ohne Text und Drucksachennummer –, dann wieder weg, stattdessen ein neues, populistisches Thema –
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ein neuer Antrag zur Bonpflicht, auch ohne Text und ohne Drucksachennummer –, dann das wieder runter von der Tagesordnung und stattdessen dieses Thema – wieder ohne Text und ohne Drucksachennummer. Und gestern Abend dann dieser sogenannte Antrag. Meine Damen und Herren, so sieht die Parlamentsarbeit der Freien Demokraten hier im Haus aus:
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Hektisch ein bisschen hier, hektisch ein bisschen da, ein bisschen von der AfD abschreiben, viel von den anderen abschreiben, daraus einen vermeintlichen Digitalcocktail mixen und auf Beifall hoffen. Alleine: Der kam nicht, ihr Liberalalas, und der wird für einen so wurschtigen Antrag, wie ihr ihn hier vorgelegt habt, auch nicht kommen. Ihr könnt froh sein, dass keiner darüber berichtet und keiner draußen merkt, was ihr hier so zusammengestückelt habt.
Damit, meine Damen und Herren, ist eigentlich alles zum gelben Murks gesagt, und ich könnte meine Rede hier tatsächlich beenden – wenn ich nett wäre.
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– Wenn schon die eigenen Abgeordneten nicht klatschen, dann muss man die anderen dazu bekommen; so funktioniert das. – Nett bin ich aber nicht. Deshalb noch einiges zum sogenannten Inhalt dieses sogenannten Antrags, meine Damen und Herren.
„Das NetzDG abschaffen“ in den Antrag reinschreiben – eine gute Idee, leider von der AfD abgeschrieben und abgekupfert, nachgemacht.
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Meinen Sie, das merkt draußen in der Öffentlichkeit keiner? Für wie blöd halten Sie die Öffentlichkeit?
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Zumal „das NetzDG abschaffen“ am Anfang im Antrag steht, aber wenn man weiterliest, merkt man, dass Sie es gar nicht abschaffen wollen; Sie wollen es einfach nur zerstückeln und in andere Gesetze implementieren.
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Was ist das denn für eine komische Idee?
Meine Damen und Herren, weiter im Antrag. Die Zunahme von Hass und Hetze sei eine zentrale Herausforderung für unsere Demokratie, heißt es da in guter DDR-Diktion im ersten Satz und zeigt gleich, wohin die Reise geht. Ich behaupte mal, es gibt noch zentralere Herausforderungen für unsere Demokratie, nämlich den Rechtsstaat wiederherzustellen, das Gewaltmonopol durchzusetzen, die Gewaltenteilung umzusetzen und sichere Grenzen einzurichten. Das sind die wahren Herausforderungen; aber das interessiert Sie offenbar nicht.
Sie zeigen weiter, dass Sie thematisch das aufgreifen, was Antifa, Links-Grüne, Staatsfunk, Regierungsfraktionen und Bundesregierung vorgeben. Sie machen sich hübsch für Koalitionsverhandlungen, wahrscheinlich wieder egal, mit wem.
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Jeder mit jedem, alles und immer – das ist Ihr Motto. Hauptsache: gut dotierte Pöstchen, im Krampf gegen rechts irgendwas machen. Die FDP wieder mal als klassischer inhaltsleerer Wurmfortsatz der anderen.
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Keine Ideen und keine Ideale, und genau das als Ideen und Ideale verkaufen. Es ist wirklich peinlich mit Ihnen, liebe Freunde von der FDP.
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Hass und Hetz bekämpfen, dagegen kann man natürlich nichts haben. Aber Sie wollen eben was ganz anders – klassisch Altparteien! –: Sie wollen massive Eingriffe in die Meinungsfreiheit. Sie wollen Zensur. Sie wollen Internet-Stasi. Sie wollen gegen alles Vernünftige, gegen alles Bürgerliche vorgehen. Aber genau das wird mit der AfD nicht zu machen sein. Denn wir stehen inzwischen leider fast alleine für einen liberalen, demokratischen, meinungspluralistischen Rechtsstaat.
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Alleine wir sind in der Lage, vernünftige, bürgerliche Politik zu machen.
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Genau deshalb hassen Sie von den Altparteien uns so sehr: weil wir Ihnen jeden Tag hier vorne und draußen auf den Straßen den Spiegel vorhalten, jeden Tag zeigen, dass Ihre Politik falsch ist und Deutschland schadet, meine Damen und Herren.
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Genau das wollen Sie schrittweise verbieten und einschränken; aber genau das wird mit uns nicht gelingen.
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Meine Damen und Herren, dieser FDP-Antrag hat, anders als es im Titel steht, nichts mit der Meinungsfreiheit zu tun. Im Gegenteil: Sie wollen mit neuen Verboten mehr Meinungsfreiheit schaffen.
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Wie krude ist das denn? Merken Sie, wie absurd das ist?
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.
Ihr Antrag wird also mitnichten etwas für die Meinungsfreiheit tun. Er will spalten, er will aufhetzen und einschränken.
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Nennen Sie das Kind beim Namen. Ziehen Sie Ihren Antrag zurück, kloppen Sie ihn in die Tonne, und belästigen Sie uns hier nicht mit solch einem Mist.
Danke schön.
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Herr Kollege Brandner, ich gehe davon aus, dass das kleine Scharmützel, das Sie mit Frau Künast am Anfang hatten, Sie daran gehindert hat, das Präsidium ordnungsgemäß anzureden. Zu Ihren Gunsten gehe ich davon aus; es hat Sie sehr beschäftigt. Ansonsten müsste ich Ihnen einen Ordnungsruf erteilen. Davon sehe ich noch einmal ab.
Als nächster Redner hat der Kollege Florian Post, SPD-Fraktion, das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Herrn Brandner kein Wort – ich glaube, seine Rede hat für sich selbst gesprochen.
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Wir haben hier schon sehr oft über Verrohung und Hass und Hetze im Internet gesprochen, die wir bekämpfen wollen. Fast alle Fraktionen hier im Haus – bis auf eine – sind sich wahrscheinlich einig, dass bei uns die Meinungsfreiheit dort aufhört, wo das Strafrecht beginnt. Natürlich liegt genau hier das Problem begraben: Es geht auch um die Durchsetzbarkeit von Strafrecht, aber auch von zivilrechtlichen Ansprüchen bei Beleidigungen im Netz oder sonstiger Hetze. Auch deshalb ist das NetzDG eingeführt worden.
Herr Kollege Höferlin von der FDP, ich kann Ihre Argumentation hier wirklich beim besten Willen nicht nachvollziehen. Sie sagten in Ihrer Rede, Hass und Hetze im Internet nähmen jeden Tag zu, deshalb habe sich das NetzDG nicht bewährt. Das wäre ungefähr so, als wenn ich sagen würde: Weil nach wie vor irgendwelche Häuser abbrennen, schaffe ich die Feuerwehr ab.
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Das kann ja nicht konsequent sein.
Sie lehnen in Ihrem Antrag im Übrigen ausdrücklich die Meldepflicht ab. Bisher ist es so, dass Plattformbetreiber im Bereich der sozialen Medien Morddrohungen freiwillig den Strafverfolgungsbehörden melden. Es ist doch viel besser, wenn wir uns hier auf ein Verfahren einigen, das eine gesetzlich reglementierte Pflicht zur Weitergabe etabliert, damit die Entscheidung darüber nicht jedem selbst überlassen bleibt oder im Ermessensspielraum von Mitarbeitern liegt. Ich finde schon, dass wir hier ein Regularium brauchen. Auch aus diesem Grunde wird das NetzDG weiterentwickelt.
Alles, was Sie hier gesagt haben, Herr Kollege Höferlin, war nach dem Motto: Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass. – Ich gehe einmal davon aus – ich bin fest davon überzeugt –, dass es auch in der FDP niemand gutheißt, wenn im Internet Morddrohungen ausgesprochen oder sonstige strafbare Handlungen begangen werden. Aber wie wollen Sie denn diese Straftaten verfolgen, wenn sie gegenüber den zuständigen Behörden nicht kenntlich gemacht werden? Insofern brauchen wir diese Weiterentwicklung des NetzDG und auch die Meldepflicht, meinetwegen auch – ich weiß, man kann über den Namen streiten – eine zentrale Meldestelle, die Sie in Ihrem Antrag explizit ablehnen. Hier erkenne ich bei Ihnen einen eklatanten Widerspruch. Ich weiß nicht, wie Ihr Antrag dazu dienen soll, das NetzDG weiterzuentwickeln. Sie gehen ein bisschen in die Richtung: Sie wollen das NetzDG zwar immer noch abschaffen, aber einzelne Punkte finden Sie doch wieder nicht so schlecht und wollen sie ins Telemediengesetz überführen.
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Insofern halte ich Ihnen jetzt zugute, dass Sie sich auf dem richtigen Weg befinden. Wenn wir jetzt noch ein bisschen diskutieren und konstruktiv zusammenarbeiten, dann wird das schon – davon bin ich fest überzeugt.
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Unsere Tür steht offen. Wir sind gerne bereit, hier mit der Opposition konstruktive Vorschläge zu erarbeiten. Ich freue mich auf die weitere Zusammenarbeit.
Danke schön.
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Vielen Dank, Herr Kollege Post. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Anke Domscheit-Berg, Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Meinungsfreiheit ist wie alle Verfassungsgrundrechte ein Schutzrecht gegen den Staat. Das heißt, niemand soll aufgrund seiner Meinungsäußerungen staatlich verfolgt werden. Aber rote Linien im Strafrecht setzen ihr Grenzen. Holocaustleugnungen und Bedrohungen sind zu Recht strafbar.
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Sorgt der Staat aber nicht ausreichend dafür, dass solche Rechtsbrüche bestraft werden, ist auch das ein Angriff auf die Meinungsfreiheit. Denn wer digitaler Gewalt ausgesetzt ist und dann nicht auf ausreichenden staatlichen Schutz vertrauen kann, der leidet nicht nur, der droht auch zu verstummen.
Nun plant die Bundesregierung in ihrem Maßnahmenpaket zur Bekämpfung der Hasskriminalität Strafverschärfungen und eine quasi automatisierte Anzeigepflicht für soziale Netzwerke, die die Anzahl von Anzeigen sehr stark steigern würde. Das löst aber nicht das größte bestehende Problem, nämlich den eklatanten Mangel an qualifizierten Fachkräften bei Polizei und Justiz, und wird die Folge haben, dass noch mehr Anzeigen ohne Urteil im Sande verlaufen und das Vertrauen in unser Rechtssystem noch mehr erschüttert wird.
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2018 waren 77 Prozent der strafbaren Hasspostings – mehr als 1 000 Fälle – politisch motivierte Kriminalität von rechts, mit rassistischen, frauenfeindlichen, antisemitischen, homophoben oder transfeindlichen Inhalten. Von dieser Art Hass Betroffene sind aber ohnehin schon in unserer Gesellschaft marginalisiert. Ihr Schutz wird dennoch nicht ausgebaut, Beratungsstellen werden nicht besser ausgestattet, und über die Melderegisterauskunft kann weiterhin viel zu leicht die private Adresse fast aller Personen erfragt und dann im Netz verbreitet werden. Prävention wird angekündigt, aber null konkretisiert. Soziale Netzwerke werden nach wie vor nicht gezwungen, in Deutschland Zustellungsbevollmächtigte für jegliche gerichtliche Post einzurichten. Und statt Schwerpunktstaatsanwaltschaften wird eine Zentralstelle im BKA geplant. All die Dinge, die ich gerade genannt habe, würden Betroffenen helfen. Alles das fordern wir von der Linksfraktion.
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Verteidigungsministerin AKK, immerhin ein Mitglied der Bundesregierung, aber auch Bundestagspräsident Schäuble und andere fordern stattdessen die Klarnamenpflicht in sozialen Netzen, die nicht nur verfassungswidrig ist, sondern die Bedrohungslage für Betroffene sogar noch verschärfen würde; denn wie die Melderegisterauskunft erleichtert sie den Übergang von digitaler zu physischer Gewalt. Der Bundesgerichtshof urteilte aber schon vor elf Jahren – ich zitiere –:
Eine Beschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit auf Äußerungen, die einem bestimmten Individuum zugeordnet werden können, ist mit Art. 5 … GG nicht vereinbar.
Im Namen der Linksfraktion fordere ich die Bundesregierung daher auf, den Schutz Betroffener in den Vordergrund zu stellen und keine neuen Anlässe zu suchen, Verfassungsgrundrechte für alle zu beschneiden.
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Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Informationen zu Schwangerschaftsabbrüchen nichts im Strafgesetzbuch verloren haben. § 219a gehört endlich abgeschafft.
Vielen Dank.
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Als nächste Rednerin erhält das Wort die Kollegin Renate Künast, Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Rassismus, Antisemitismus, Frauenfeindlichkeit, Homophobie – das sind alles keine Randerscheinungen; das wissen wir. Wir wissen allerdings auch, dass es keine ganz neuen Erscheinungen sind. Ich muss das vorausschicken, damit ich auch sagen kann: Ich bin froh, dass wir inzwischen begonnen haben, das Problem des Rechtsextremismus zu erkennen, und auch heute hier darüber reden – obwohl wir viel früher hätten darüber reden sollen. Warum? Es hat schon lange, bevor die, die dafür bezahlt werden, Politik zu machen, Opfer geworden sind, lange bevor wir von Hass, verbaler und tatsächlicher Gewalt und von Angriffen – wie zuletzt der Kollege – betroffen waren, nämlich schon seit Mitte der 90er, neue Strategien im Rechtsextremismus gegeben. Es hat Ermordungen wie die von Amadeu Antonio in Eberswalde kurz nach der Wiedervereinigung gegeben. Denken Sie an die Fußballweltmeisterschaft 2006: Da gab es No-go-Areas. Ausländer, die zu Besuch kamen, People of Colour, wurden quasi aufgefordert: Begebt euch nicht ins Umland. – Hunderte Menschen sind seit damals getötet worden oder haben schwere Gewalt erlebt. Ich finde, wir sollten derer heute respektvoll gedenken und in aller Demut sagen: Wir hätten früher sein können.
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Ich möchte auf zwei Ebenen eingehen, meine Damen und Herren, und etwas klarstellen: Es geht um Rechtsextremismus im Netz, der dort organisiert praktiziert wird, aus dem Bürgertum noch unterstützt, damals von Herrn Henkel, von Herrn Sarrazin, von Herrn Gauland. Aber es geht nicht nur um diesen organisierten Rechtsextremismus. Es geht in Wahrheit – neben diesem gezielten Angriff auf unsere Demokratie – auch darum, dass im privaten Bereich immer mehr Hass und Onlinestalking im Netz auftauchen, zum Beispiel, wenn Menschen sich trennen, dass es von ehemaligen Partnern Angriffe auf Frauen gibt, dass dort Stalking und Bedrohung stattfinden.
Wir müssen auch über Cybergrooming reden. Wir müssen das Thema NetzDG in die Debatte aufnehmen.
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Es geht zum Beispiel um Spiele, die von Kindern gespielt werden, die Möglichkeiten für Anbahnungsversuche bieten.
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Was ist die Antwort der Regierung? Sie führen mehrere Gesetzesverfahren gleichzeitig durch. In Richtung der Ministerin muss ich sagen: Sie kommen mit einer überfälligen Reform des NetzDG, das schon falsch war, als es 2017 verabschiedet wurde. Sie haben dann gesagt: Wir warten die Evaluierung ab. – Nun machen Sie Pressearbeit, rücken aber weder den entsprechenden Gesetzentwurf noch die Ergebnisse der Evaluierung heraus. Wer gegen die Anfeindungen gegenüber unserer Demokratie kämpfen will, der sollte sich ein besseres Verfahren überlegen.
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Es gibt also zwei Verfahren: zum einen die Überarbeitung des NetzDG – wer auch immer sich die Maßnahmen überlegt hat –, zum anderen gibt es einen Antrag der Grünen aus dem Herbst 2018, Herr Müller, in dem das alles schon drinsteht. Aber eine Debatte darüber vertagen Sie regelmäßig. Dann gibt es Ihr Neun-Punkte-Paket gegen Rechtsextremismus, das eine Meldepflicht und Ähnliches enthält. Ich kann an dieser Stelle nur eines sagen: Wir müssen über die Entwürfe, wenn sie denn irgendwann einmal vorliegen, sehr sorgfältig diskutieren. Warum? Wir müssen darüber diskutieren, weil man die Grundrechte, die Würde, den Respekt und die körperliche Unversehrtheit nicht dadurch wahrt, indem man sie auf der anderen Seite schleift, meine Damen und Herren.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ja. – Meinen Kollegen von der FDP sage ich: Man muss sich schon überlegen, ob man das NetzDG abschaffen oder reformieren will. Aber Sie haben noch Zeit.
An die Koalition gerichtet sage ich: Ich möchte die Gesetzentwürfe haben, und ich möchte endlich ein Gesamtpaket, das analog und digital verbindet, das tatsächlich eine Taskforce Rechtsextremismus beinhaltet und das die Institutionen, die Zivilgesellschaft und die Beratungsangebote unterstützt –
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen, bitte.
– und nicht nur das Recht ausweitet. Das wird nämlich nicht reichen.
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Nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion ist der Kollege Alexander Hoffmann.
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Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Frau Kollegin Künast, ich nehme Ihren Vorschlag ernsthaft auf. Sie wollen über Cybergrooming reden. Das können wir morgen früh, 9 Uhr, machen.
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Bis dahin hat Ihre Fraktion noch Zeit, sich zu überlegen, ob sie der Strafbarkeit des untauglichen Versuchs zustimmt, wofür ich ausdrücklich werben möchte. Sie können morgen Ihren Ankündigungen von heute Taten folgen lassen.
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Wir haben in diesem Haus schon oft über das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit gesprochen. Auch in der digitalen Welt ist es so, dass sich Freiheit und Sicherheit gegenseitig nicht ausschließen. Sie bedingen einander. Es wird im Netz Freiheit nicht ohne Sicherheit geben, und es kann keine Sicherheit ohne die Freiheit geben.
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Es ist immer wichtig, beide Aspekte in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander zu stellen. Dort, wo das eine auf der Strecke bleibt, kann es das andere nicht geben. Aber genau an dieser Stelle weist der vorliegende Antrag Schwächen auf.
Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. Sie haben in Ihrer Rede gesagt, Sie wollen nicht, dass Plattformen löschen. Das wird von der einen oder anderen Fraktion noch garniert, indem man sagt, das wäre eine Privatisierung der Rechtsdurchsetzung. Ganz ehrlich, ich glaube, dass keine Fraktion, die das behauptet, das tatsächlich ernst meint. Wenn das so wäre, hätten Sie nämlich vom ersten Tag an, seitdem es Facebook gibt, Sturm gegen Facebook laufen müssen; denn vom ersten Tag an löscht Facebook selbstständig anhand eigener Standards. Man muss ehrlich sagen: Das hat Sie über die Jahre nie wirklich interessiert, bis wir über das NetzDG diskutiert haben.
Ein zweites Beispiel: Es war doch früher schon so und es ist auch heute so, dass zum Beispiel ein Zeitungsverlag einen Leserbrief, der eine Beleidigung enthält, nicht veröffentlichen darf. Wenn wir einen solchen Vorgang in die digitale Welt transferieren, dann tun Sie so, als wäre das das Ende der Meinungsfreiheit. Hinzu kommt, dass der Schaden, der angerichtet wird, in der digitalen Welt ein ganz anderer ist. Die Zeitung wird gelesen, dann liegt sie einen Tag auf dem Küchentisch, und dann kommt sie ins Altpapier. Eine Beleidigung, die in die digitale Welt entsandt wird, zum Beispiel auf einer Plattform wie Facebook, wird einmal, zehnmal, hundertmal geteilt, und irgendwann ist sie tausendfach unrückholbar im Netz. Das heißt, es gibt dort einen ganz anderen Ausbreitungsgrad und damit einen ganz anderen Gefährdungsgrad für den Einzelnen, und dann reden wir doch wieder über Sicherheit.
Schauen Sie sich einzelne Beispiele an. Menschen sind in den Suizid getrieben worden, weil bestimmte Mobbingmaßnahmen nie wieder aus dem Internet gelöscht worden sind. Es gab Menschen, die YouTube angefleht haben, im Interesse ihrer Familie bestimmte Falschbehauptungen aus dem Netz zu nehmen, aber nichts ist passiert. Daran wird, glaube ich, sehr deutlich, dass es gar nicht anders geht, als Plattformbetreibern Manschetten anzulegen.
Ich möchte betonen – ich glaube, auch das eint uns –: Wir merken doch alle, dass wir uns den Weg zum NetzDG nicht leicht gemacht haben. Wir alle haben frühzeitig erkannt, dass wir absolutes Neuland betreten. Es ist tatsächlich ein hoher Anspruch, den wir haben, Meinungsfreiheit und die Sicherheit des Einzelnen ausgewogen in Einklang zu bringen. Es wäre mir deswegen wichtig, dass wir in den Debatten die Komplexität der Herangehensweise wechselseitig nicht ignorieren und so tun, als ob wir mit dem Rasenmäher über das Grundrecht der Meinungsfreiheit gehen und ihm an keiner Stelle zur erforderlichen Geltung verhelfen.
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Genau deswegen haben wir eine Evaluierung vereinbart. Wir haben gute Erkenntnisse daraus gewonnen. Kollege Müller hat aus der Anhörung berichtet. Er hat auch berichtet, dass bei den Fachleuten ein Umdenken stattgefunden hat, was den Umgang mit dem NetzDG angeht. Seien wir doch ehrlich zueinander: Wir stehen vor einer umfassenden Herausforderung. Das bedeutet, wir müssen uns dabei Zeit lassen. Wir müssen wirklich tiefgehend arbeiten, um die Herausforderungen anzugehen. Sie haben mitbekommen, dass wir dabei sind, ein umfassendes Paket zu schnüren. Ich kann Sie nur einladen: Beteiligen Sie sich an diesem Dialog.
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Dann kommt am Ende mit Sicherheit etwas Gutes dabei heraus.
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Da Frau Künast so lebhaft ist, komme ich auf das Thema Cybergrooming zurück. Wir rechnen morgen fest mit Ihrer Unterstützung. Ich werde darauf zurückkommen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Hoffmann. – Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dr. Jens Zimmermann, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gewalttaten, Hetzkampagnen, Hasskommentare bedrohen unser Zusammenleben. Sie machen mich und viele betroffen, und sie verlangen unser Handeln. Wir alle kennen die Weisheit „Auf Worte folgen Taten“. Wenn ich mir anschaue, was gestern unserem Kollegen Karamba Diaby passiert ist, dann wird klar: Das ist Ausfluss dieser alten Weisheit. Sie hat sich wieder einmal bewahrheitet. Ich will betonen: Wir stehen fest an der Seite unseres Kollegen.
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Als SPD-Fraktion verurteilen wir jede Art der Gewalt. Wir brauchen einen starken Staat, wir brauchen klare Regeln, und wir brauchen auch eine konsequente Strafverfolgung. Nur so können wir friedlich zusammenleben.
Frau Künast, ich stimme vielem zu, was Sie gesagt haben, aber im Kampf gegen rechts würde ich mir wünschen, dass in Hessen zum Beispiel die NSU-Akten zugänglich gemacht werden und nicht mit Geheimhaltung belegt und 30 Jahre unter Verschluss gehalten werden. Das würde sehr viel helfen.
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Jeder, der in Verantwortung steht, kann etwas dazu beitragen. Das ist mir wichtig an dieser Stelle.
Die FDP hat für den vorliegenden Antrag die Überschrift „Meinungsfreiheit verteidigen – Recht im Netz durchsetzen“ gewählt. Dem können wir zustimmen. Doch wenn man sich den Antrag anschaut, stellt man fest: Es sind viele Widersprüche drin. Auf der einen Seite soll im Netz Recht durchgesetzt werden, auf der anderen Seite soll das Netzwerkdurchsetzungsgesetz abgeschafft werden. Sie wollen das dann zwar irgendwo im Telemediengesetz verankern, aber warum das besser sein soll, das lässt der Antrag offen.
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Dann sollen es wieder die privaten Unternehmen mit ihren Hausregeln richten, aber eine richtig harte Verpflichtung der Unternehmen, zu handeln, ist im vorliegenden Antrag nicht enthalten.
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Das ist unserer Meinung nach inkonsequent.
Das, was die Bundesjustizministerin zur Weiterentwicklung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes vorgelegt hat, ist der richtige Weg. Wir greifen die Erfahrungen, die in den letzten Jahren mit dem Gesetz gemacht wurden, auf. Die Meldewege müssen einfacher auffindbar sein. Der Widerspruch gegen eine unberechtigte Löschung muss erleichtert werden. Wir sind, was diese Intention Ihres Antrags betrifft, ganz bei Ihnen. Aber wir brauchen auch bessere Auskunftsansprüche für Opfer von Beleidigungen und Drohungen. Das Thema des Zustellungsbevollmächtigten, den Sie auch wollen, muss noch besser geregelt werden, sodass es an allen Stellen klar ist. Ich glaube, der Weg, das Netzwerkdurchsetzungsgesetz weiterzuentwickeln, folgt eigentlich ganz genau der Intention – zumindest der Überschrift – Ihres Antrags.
Lassen Sie mich zusammenfassen, meine Damen und Herren: Als SPD-Fraktion schützen wir die Meinungsfreiheit und arbeiten für ein freies und solidarisches Zusammenleben. Doch dafür braucht es konkrete Regeln. Deswegen ist es der richtige Weg, das Netzwerkdurchsetzungsgesetz weiterzuentwickeln.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Dr. Zimmermann. – Mit diesen Worten schließe ich die Aussprache.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute debattieren wir einen Gesetzentwurf zur Umsetzung der technischen Säule des vierten Eisenbahnpakets der Europäischen Union. Wir sprechen hier über EU-Recht, das wir sowieso zwingend in nationales Recht umsetzen müssen, also einen vergleichsweise technischen Vorgang. Mich freut es trotzdem, heute darüber sprechen zu können; denn dieser Gesetzentwurf ist ein weiterer wichtiger Mosaikstein im Bild unseres vereinten Europas.
Nur mit einem über die einzelnen EU-Mitgliedstaaten hinweg funktionierenden Schienenverkehr werden wir es schaffen, die Europäische Union möglichst ohne technische und betriebliche Hindernisse bereisen und vernetzen zu können. Das freut mich als Verkehrspolitiker. Das freut mich aber auch gleichermaßen als Tourismuspolitiker, da eine enge Verzahnung und einheitlichere Regeln und Standards im Schienenverkehr auf EU-Ebene zu einem besseren Transitverkehr zwischen den Staaten führen werden und somit Güter und Personen schneller und auch wirtschaftlicher transportiert werden. Dabei sollte jedem echten Europäer das Herz aufgehen.
Wir kommen unserem Ziel immer näher, den europäischen Verkehr nachhaltiger und grenzenloser zu machen. Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung hat dies für diesen jetzt zu beschließenden Gesetzentwurf gutachterlich bestätigt. Wie schaffen wir das konkret?
Erstens. Wir vereinfachen den grenzüberschreitenden Schienenverkehr. Durch die Harmonisierung der Sicherheitsbescheinigungen der Eisenbahnverkehrsunternehmen kann jedes Unternehmen mit einer einzigen Bescheinigung am gesamten europäischen Schienenverkehr teilnehmen.
Zweitens. Wir entschärfen Nadelöhre. Künftig haben die Eisenbahnverkehrsunternehmen ein Wahlrecht, ob sie ihre für den Betrieb notwendige Sicherheitsbescheinigung beim Eisenbahn-Bundesamt, dem EBA, oder bei der Europäischen Eisenbahnagentur beantragen wollen.
Drittens. Wir entbürokratisieren im Bereich der Instandhaltung von Güterwagen. Das EBA wird als neue Aufgabe die Anerkennung und Überwachung der Zertifizierungsstellen erhalten und nicht mehr, wie bisher, die Instandhaltungsstellen-Bescheinigungen und die Bescheinigungen für die Instandhaltungsfunktion selbst ausstellen müssen.
Viertens. Wir schaffen einen einheitlichen Sicherheitsstandard. Der Gesetzentwurf regelt nämlich eine engere Zusammenarbeit der Bahnsicherheitsbehörden in Europa, und auch das ist unerlässlich. Wir wollen doch, dass Bahnreisende an jedem Bahnhof in Europa jeden Zug von jedem Eisenbahnunternehmen in dem Wissen nutzen können, dass überall dieselben hohen Sicherheitsstandards gelten.
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Wir steigern damit die Attraktivität und Verlässlichkeit des europäischen Schienenverkehrs. Wenn heute der Zug von Stuttgart nach Paris wegen eines technischen Defekts – was ja passieren soll – ausfällt,
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kann er womöglich nicht durch einen anderen Zug ersetzt werden, weil dessen Sicherheitstechnik vielleicht nur für eines der beiden Länder zugelassen ist.
Durch diese nun festzulegenden einheitlichen Zulassungskriterien in den nationalen Netzen schaffen wir die Möglichkeit für einen attraktiveren, umsteigefreieren und vielleicht auch günstigeren europäischen Eisenbahnverkehr. Dann wird es interessanter, das Auto einmal stehen zu lassen oder sich die Sicherheitskontrollen an den Flughäfen zu ersparen und ganz entspannt im Zug Platz zu nehmen.
Das deutsche wie auch das europäische Eisenbahnrecht sind voll von technischen Feinheiten, die angeglichen werden müssen, wenn wir den Umstieg auf die klimafreundliche Bahn europäisch denken wollen. Auch wenn das Thema vielleicht nicht so sexy ist wie eine Mehrwertsteuersenkung: Wenn die Bahnkundinnen und Bahnkunden dann hoffentlich in einigen Jahren mit möglichst wenigen Umstiegen im Zug von Reutlingen nach Marseille sitzen und sich fragen, ob das irgendwann einmal anders war, dann haben wir unser Ziel erreicht. Mit dem Gesetzentwurf, um dessen Zustimmung ich Sie heute bitte, werden wir dazu beitragen.
Aber wir müssen noch mehr tun. Wir müssen, wenn wir einen möglichst grenzenlosen Eisenbahnverkehr haben wollen, im Rahmen von ERTMS eine einheitliche Zuglenkungs- und Steuerungstechnik flächendeckend verbauen und die geplanten europäischen Trassen im Rahmen von TEN, also die Hauptachsen auf dem Kontinent, fertigstellen. Hier sehe ich unsere Initiative im Bereich der Planungsbeschleunigung als unerlässliches Mittel, um national hier bei uns unseren Beitrag schneller leisten zu können.
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Kurz: Es ist die Gesamtheit der Mosaiksteine, die das Bild entstehen lässt. Mit diesem schon angesprochenen weiteren Steinchen, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, arbeiten wir heute Abend weiter an diesem Bild des vereinten Europas. Deshalb bitte ich Sie: Stimmen Sie dem zu.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Donth. – Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Wiehle, AfD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Auch ein zunächst sehr spröde klingender Gegenstand kann eine ernsthafte Debatte auslösen. So ist es mit dem Gesetz zur Umsetzung der technischen Säule des vierten Eisenbahnpakets der Europäischen Union. Die AfD begrüßt es, wenn in Europa und darüber hinaus der grenzüberschreitende Bahnverkehr erleichtert wird. Hier geht es darum, Wettbewerbsnachteile der Eisenbahn abzubauen.
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Auf diesem Weg kann der Anteil der Bahn am Verkehrsaufkommen steigen, ganz ohne die Mittel eines „Nanny-Staates“ auszupacken. Warum also nicht?
Für Eisenbahnfahrzeuge braucht man eine Sicherheitsbescheinigung, und diese soll künftig in der EU einheitlich gestaltet sein. Gemeinsame technische Standards sind sinnvoll, wenn sie im Sinne aller praktikabel gestaltet sind.
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Mit dem Wort „praktikabel“ ist aber auch die kritische Stelle beschrieben, die hier zu Bedenken führt. Große, komplexe und bürokratische Organisationen, wie die EU eine ist, schaffen Regelungen, die für sie selbst und ihresgleichen günstig sind, also beispielsweise für große Konzerne mit umfangreichen Rechtsabteilungen und gewaltigen Archiven.
Kleine und mittelständische Unternehmen sind mit hochkomplexen EU-Regulierungen häufig überfordert. Das hat durchaus einen systemischen Hintergrund, wie ich eben angedeutet habe. Also sollte man dem – jedenfalls nach Ansicht der AfD – auch systematisch entgegenwirken. Das fordere ich an dieser Stelle ein.
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Konkret heißt das: Die bürokratischen Anforderungen bei der Sicherheitsbescheinigung sind sehr hoch. Vor allem bei technischen Änderungen an Lokomotiven schlägt der Amtsschimmel zu. Dann müssen nämlich sämtliche technischen Änderungen im Lebenslauf der Maschine nachgewiesen werden. Was zunächst vielleicht einfach klingt, kann auf den zweiten Blick eine schwer überwindbare Hürde werden.
Stellen Sie sich vor: Sie stehen einem kleinen oder mittelständischen Bahnunternehmen vor und erweitern Ihren Lokomotivpark um ein paar ältere Maschinen, die Sie von einem anderen Unternehmen kaufen. Jetzt möchten Sie die Loks renovieren oder zusätzliche Einrichtungen einbauen. Wenn Sie nun die vorgeschriebene neue Sicherheitsbescheinigung einholen wollen, müssen Sie also sämtliche technischen Änderungen im Lebenslauf der Maschine nachweisen.
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Aber wenn Sie die Lok aus zweiter Hand haben, werden Sie dafür wahrscheinlich nicht über alle Unterlagen verfügen.
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Selbst wenn die Lok schon lange zu Ihrem Bestand zählt, haben Sie vielleicht Lücken in den archivierten Nachweisen für deren Umbauhistorie. Vor 30 Jahren wusste ja noch niemand, was sich die EU-Bürokratie im Jahre 2020 ausdenken würde.
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Was passiert ohne die Sicherheitsbescheinigung? Muss am Ende das Fahrzeug stillgelegt werden? Mit Nachhaltigkeit hat das gewiss nichts mehr zu tun. Genau das meine ich mit überbürokratischen und praxisfremden Auflagen. So etwas entsteht im Brüsseler Elfenbeinturm, wenn die Rückkopplung an die Praxis fehlt.
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Meine Damen und Herren, unter dem Strich ist hier eine gute Grundidee, nämlich die EU-weite Angleichung der Sicherheitszertifikate, durch eine falsche Umsetzung entwertet worden. Die AfD-Fraktion kann dem Gesetzentwurf in der vorliegenden Form daher nicht zustimmen.
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Vielen Dank. – Als Nächstes rufe ich einen Kollegen auf, der, wenn ich richtig informiert bin, heute seine letzte Rede im Hohen Haus halten wird, den Kollegen Martin Burkert. Lieber Martin.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Ich darf zu Beginn sagen: Wir begrüßen ausdrücklich die Umsetzung der technischen Säule des vierten Eisenbahnpakets der Europäischen Union. In Ergänzung zur zweiten Säule des Pakets, zum sogenannten Marktpfeiler, wird diese technische Säule dafür sorgen, dass nationale Vorschriften und vor allem Sicherheitsstandards im grenzüberschreitenden Eisenbahnverkehr angeglichen werden. Sicherheit hat im Übrigen im europäischen Eisenbahnverkehr zu jeder Zeit oberste Priorität. Die Eisenbahn ist bei uns in Europa bereits heute im Vergleich zu Pkw und sogar zum Bus das mit Abstand sicherste Verkehrsmittel.
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Heute möchte ich in meiner letzten Rede hier im Deutschen Bundestag, wie der Herr Präsident schon erwähnt hat, unsere Eisenbahnbranche beleuchten. Nach fast 15 Jahren als Bundestagsabgeordneter kann ich rückblickend feststellen, dass es im aktuellen Koalitionsvertrag gelungen ist, der Schiene endlich den hohen Stellenwert in Deutschland einzuräumen, den sie verdient. Dies hat das Parlament im vergangenen Jahr mit unserem Antrag an die Bundesregierung „Der Schiene höchste Priorität einräumen“ noch einmal deutlich untermauert, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Die Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung, die sogenannte LuFV II, war bereits erfolgreich; ich will das noch einmal deutlich sagen. Jetzt haben wir, seit dieser Woche unterschrieben, die LuFV III, die diesen positiven Trend qualitativ und vor allem finanziell für zehn weitere Jahre fortsetzt und sichert. Wie auch die Vorgängerverträge wird sie dazu beitragen, dass die Qualität der Bahn bei uns in Deutschland immer besser wird.
Weitere Meilensteine sind die Halbierung der Trassenpreise für den Schienengüterverkehr – das ist ein Riesenmeilenstein – und die Senkung des Mehrwertsteuersatzes im Fernverkehr. Die Erfüllung dieser Forderung, die so lange erhoben wird, wie ich dabei bin, nämlich seit 2005, ist endlich gelungen.
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Erst vor Kurzem wurden die Bahntickets für Kundinnen und Kunden durch die Senkung des Mehrwertsteuersatzes im Fernverkehr von einem Tag auf den anderen um 10 Prozent günstiger. Es ist damit zu rechnen, dass dadurch 5 Millionen mehr Fahrgäste im Fernverkehr auf den Zug umsteigen werden.
Seit Jahren beschäftigen wir uns mit den Themen Barrierefreiheit und Lärmschutz. Davon hat nicht nur mein Wahlkreis profitiert, sondern unser ganzes Land – um es deutlich zu sagen. Auch das ist eine große Errungenschaft. In den kommenden Jahren werden Milliarden in die Eisenbahninfrastruktur in unserem Land investiert. Es gibt viele positive Entwicklungen, und ich begrüße ausdrücklich, dass endlich auch grundlegende Überlegungen zur Neuaufstellung der Struktur kein Tabuthema mehr sind. Ich sage aber auch – nicht rückwärtsgewandt –: Ich kann den Grünen und der FDP heute nicht ersparen, darauf hinzuweisen, dass es keine Trennung von Netz und Betrieb geben wird. Dafür werde ich weiterhin stehen.
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Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, ich möchte an Sie aber ebenso appellieren, sich auch künftig um die Beschäftigten in der Bahnbranche zu kümmern, die trotz aller Herausforderungen jeden Tag aufs Neue ihr Bestes für die Fahrgäste geben. Ihnen gehört heute unser Dank.
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In Zeiten, in denen hier in Deutschland, aber auch in der ganzen Welt der Klimawandel immer stärker zu spüren ist – aktuell mit seiner ganzen Härte in Australien –, möchte ich ein klares Plädoyer für die Bahn aussprechen, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen; denn klimafreundliche Mobilität und die Erreichung unserer Klimaziele gelingen nur mit der Bahn und einem weiter ausgebauten ÖPNV. Das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz, das sogenannte GVFG, steht – darüber freue ich mich sehr – vor einem erfolgreichen Abschluss. Auch das ist ein Meilenstein.
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Ich möchte in diesem Zusammenhang auch einmal den Busfahrerinnen und Busfahrern unsere Wertschätzung ausdrücken. Sie werden nämlich gebraucht im ÖPNV. Auch da haben wir einen Fachkräftemangel, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Es gibt noch vieles in der Zukunft für die Schiene zu erreichen: vom Deutschland-Takt bis hin zur Elektrifizierung, von der Anerkennung der Altersvorsorge für deutsche Reichsbahner, liebe Katja, und andere Berufsgruppen bis hin zu einer Lösung beim Brenner-Basis-Tunnel – das sage ich hier auch für die Bayern –, vom Fachkräftemangel in der Schienenbranche bis zum WLAN-Ausbau. Am Ende geht es darum, mit all diesen und weiteren Maßnahmen die Schiene voranzubringen, insbesondere was Qualität, Pünktlichkeit und Personal angeht.
Ich bedanke mich heute bei meiner Fraktion, Rolf Mützenich, Sören Bartol, Katja Mast, insbesondere bei der Arbeitsgruppe „Verkehr“, liebe Kirsten, stellvertretend bei dir, und bei der AG „Tourismus“, liebe Gabriele Hiller-Ohm. Das war eine tolle Arbeit. Da haben wir viel geschafft, auch im Verkehrsbereich. Besonderer Dank gilt meiner Landesgruppe, der Landesgruppe Bayern, stellvertretend meiner Nachfolgerin als Vorsitzende, liebe Marianne Schieder.
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Vielen Dank auch unserem Koalitionspartner für die gute Zusammenarbeit besonders in dieser Wahlperiode, lieber Michael Donth, lieber Ulrich Lange und lieber Reinhold Sendker.
In der vergangenen Wahlperiode war ich Vorsitzender des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur. Ich erinnere mich an die oft nervenaufreibenden, aber schlussendlich erfolgreichen Diskussionen mit der Opposition zum Bundesverkehrswegeplan. Mein Dank gilt deshalb auch der Opposition, der FDP und den Grünen sowie der Fraktion Die Linke. Gemeinsam haben wir vieles erarbeitet. Es waren immer gute Diskussionen. Herzlichen Dank!
Lieber Enak Ferlemann, wir versuchen seit 2005, die Schiene voranzubringen, gemeinsam damals im Verkehrsausschuss, manchmal hart in der Sache, aber immer freundlich im Ton. Ich danke dafür. Ein kleiner Hinweis von mir: Es werden weitere Forderungen und Briefe kommen, aber zukünftig mit einem anderen Briefkopf.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich verlasse das Herz der Demokratie, das es auch in Zukunft zu erhalten gilt. Die Abgeordneten machen einen sehr guten Job hier im Parlament, trotz anonymer Beleidigungen und Drohungen. Abgeordnete sind keine Fußabtreter, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Als Vorsitzender der Nürnberger Herzhilfe weiß ich, dass das Herz nicht rechts schlägt, sondern Mitte-links. So soll es auch bleiben.
Sehr geehrter Herr Präsident, ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. Es war mir eine Ehre, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Lieber Martin Burkert, alles Gute für die Zukunft. – Der nächste Redner ist der Kollege Torsten Herbst von der FDP.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch ich möchte mit einem Dank an Martin Burkert für manch spannende Debatte, die wir geführt haben, beginnen und ihm alles Gute für die zukünftige Herausforderung wünschen.
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Wie schon meine Vorredner betont haben, geht es mit dem vorliegenden Gesetzentwurf um die nationale Umsetzung der technischen Säule des vierten Eisenbahnpakets der EU. Es geht der EU darum, dass der Schienenverkehr in Europa attraktiver, innovativer und wettbewerbsfähiger wird. Dafür brauchen wir in Europa selbstverständlich einheitliche Regeln bei Sicherheit, Zulassung, Technik und Zertifizierung. Deshalb stimmen wir als Fraktion diesem Gesetzentwurf zu.
Entscheidend, meine Damen und Herren, sind aber gar nicht so sehr die technischen Details, die auch geregelt werden müssen; entscheidend ist die Grundidee hinter dem vierten Eisenbahnpaket. Die EU hat angestrebt, dass man den Wettbewerb auf der Schiene in den einzelnen Mitgliedsländern und auch grenzüberschreitend fördert. Das beschränkt sich nicht auf Fragen der technischen Zulassung.
Wettbewerb ist aus Sicht der Freien Demokraten der wesentliche Schlüssel zu einer höheren Attraktivität der Schiene. Was bedeutet Wettbewerb? Ganz einfach: Man hat die Auswahl zwischen verschiedenen Anbietern. Es gibt einen intensiven Wettbewerb um den besseren Service und die attraktiveren Preise. Davon, meine Damen und Herren, sind wir im Personenfernverkehr in Deutschland leider noch sehr weit entfernt. Wir brauchen hier mehr Wettbewerb.
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Es ist bedauerlich, dass das ursprüngliche Ansinnen der EU-Kommission von Mitgliedstaaten, die einen starken Bahnprotektionismus betreiben, konterkariert wurde. Es ist schade, dass dazu neben Frankreich eben auch Deutschland gehört. Ich glaube, wir hätten alle von mehr Wettbewerb profitieren können.
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Nun hat der Verkehrsminister dazu eingeladen, dass wir das Thema Bahn neu denken.
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– Der bisherige Verkehrsminister. Es liegt ja nicht in unserer Hand, wie lange er noch Verkehrsminister ist. – Aber wenn wir neu denken, meine Damen und Herren, dann müssen wir auch über Strukturen diskutieren. Selbstverständlich hätte ich es als sinnvoll empfunden, wenn wir, bevor wir diese Offensive zur Investition in das Schienennetz ausrollen, Strukturfragen geklärt hätten, weil dann dieses Geld viel effizienter eingesetzt worden wäre.
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– Die Trennung von Netz und Betrieb als ein Beispiel. Wir wollen Zugangsbedingungen für private Wettbewerber verbessern.
In anderen Branchen haben wir uns daran völlig gewöhnt. Glaubt denn heute jemand ernsthaft, dass wir uns noch einen Mobilfunkmarkt mit einem einzigen Anbieter vorstellen können? Das glaubt niemand mehr. Deshalb macht auch Wettbewerb beispielsweise im Personenfernverkehr Sinn.
Ich hoffe sehr, dass Deutschland die anstehende EU-Ratspräsidentschaft nutzt, das Thema „Wettbewerb auf der Schiene“ dorthin zu setzen, wo es hingehört, nämlich auf die Tagesordnung der Europäischen Union.
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Für die Fraktion Die Linke hat als Nächste das Wort die Kollegin Sabine Leidig.
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Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Ganz im Gegensatz zur FDP setzt sich Die Linke europaweit dafür ein, dass Eisenbahnen als öffentliche Infrastruktur organisiert werden und dass die verschiedenen Bahnunternehmen in guter Zusammenarbeit mehr und bessere Züge in alle Städte Europas bringen.
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Die Eisenbahnpolitik der Europäischen Kommission aber folgt dem neoliberalen Glauben, dass Privatisierung auf jeden Fall die beste Lösung sei, und will möglichst viel Konkurrenz und Wettbewerb auf den Schienen Europas durchsetzen – auf Kosten der Beschäftigten, weshalb sich auch in vielen europäischen Ländern die Gewerkschaften dagegen wehren, und keineswegs zum Nutzen der Fahrgäste. Wir Linke lehnen diesen Kurs ab.
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Nun wird heute hier aber über einen Teil, die sogenannte technische Säule des vierten europäischen Eisenbahnpakets, abgestimmt. Darin geht es um gemeinsame technische Standards. Schienenfahrzeuge sollen zukünftig bei der europäischen Behörde European Railway Agency zugelassen werden, sodass sie in allen Ländern Europas zum Einsatz kommen können, ohne dass gesonderte Genehmigungsverfahren in den einzelnen Ländern notwendig sind.
Das ist aus unserer Sicht kein Problem, im Gegenteil. Auch für unsere Idee der United Railways of Europe, der Vereinten Europäischen Eisenbahnen, braucht es solche technischen Vereinheitlichungen, damit der Zugverkehr auch über Ländergrenzen hinweg gut funktioniert. Aber wir haben ein Problem damit, dass Behörden, Parlamente und politische Institutionen immer noch damit beschäftigt sind, einen Eisenbahnmarkt durchzukämpfen, auf dem Konkurrenz und der Kampf um Marktanteile ein Schienenunternehmen gegen das andere in Stellung bringen. Wir fordern stattdessen eine Strategie für klimagerechte Reisealternativen in Europa.
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Ein Netz von Nachtzugverbindungen zum Beispiel müsste systematisch gemeinsam ausgebaut werden. Der LunaLiner könnte Großstädte in Europa im Schlaf verbinden. Die europäische Bürgerinitiative „Back on Track“ engagiert sich dafür, und ich meine, sie braucht Unterstützung, auch vom Deutschen Bundestag.
Wer ernsthaft probiert, mit Bus, Bahn und Fähre zum Beispiel nach Mallorca zu reisen, der wird feststellen, dass es möglich ist, nach 24 Stunden ausgeschlafen dort anzukommen. Aber erstens ist es zu teuer, und zweitens ist es unglaublich zeitaufwendig, herauszufinden, was man braucht, wo man was buchen kann, welches Bahnunternehmen bzw. welches Busunternehmen zuständig ist und wie die Tickets besorgt werden können. An beidem müssen wir dringend etwas ändern.
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Wir wollen zum Beispiel eine öffentlich finanzierte europäische Mobilitätsplattform, auf der alle Verkehrsmittelangebote des Umweltverbundes, also auch Leihfahrräder, ÖPNV, Bahn und Fernbus, europaweit gebündelt werden. Dann braucht man nicht mehr x verschiedene Apps und Tickets, um klimafreundlich voranzukommen. Das wäre ein tolles EU-Projekt.
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Dafür ist die Kooperation der Länder und der Bahnunternehmen notwendig, aber kein weiteres Privatisierungspaket.
Danke.
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Der nächste Redner: für Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Matthias Gastel.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Stellen Sie sich einmal vor: Wenn Sie die 26 Bahnländer in der EU bereisen wollen, müssten Sie 26 Sprachen sprechen können, 26 Währungen mitführen, und wenn Sie Auto fahren wollten, benötigten Sie 26 verschiedene Führerscheine. Unvorstellbar? Ja, zum Glück ist das unvorstellbar. Aber bei der Bahn ist es im übertragenen Sinne leider die Realität.
Es gibt fünf Spurweiten, fünf Stromsysteme, 15 unterschiedliche Zugsicherungssysteme und 26 nationale Aufsichts- und Genehmigungsbehörden in den EU-Bahnländern. Ein Lkw, der irgendwo in der EU zugelassen wurde, darf überall in Europa fahren. Um einen Zug überall in Europa fahren zu lassen, bedarf es hingegen eines riesigen technischen und personellen Aufwands, und dies ist nicht hinzunehmen.
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Der heute vorliegende Gesetzentwurf löst nicht alle historisch gewachsenen Probleme. Zumindest einige davon werden aber angepackt, so beispielsweise durch einheitliche Sicherheitsvorgaben und ‑bescheinigungen sowie einheitliche Zulassungsverfahren für neue Züge, damit es in Zukunft weniger Kleinstaaterei im europäischen Eisenbahnwesen geben wird.
Die technische Säule des vierten Eisenbahnpaketes kam leider in Deutschland nur im Dampfzugtempo voran. Ich habe hier einen Sprechzettel von mir aus dem Jahr 2015: Januar 2015, Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestages. Darauf habe ich die handschriftliche Notiz einer Äußerung von Staatssekretär Ferlemann: Die Bundesregierung will die technische Säule schnell verabschieden. – Seither sind fünf Jahre vergangen. So viel Zeit können wir uns nicht lassen, meine Damen und Herren, um die Bahn in Europa und in Deutschland so stark zu machen, wie sie es sein muss, um Mobilitäts- und Klimaschutzziele erreichen zu können.
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Die Kommission von Ursula von der Leyen hat in dieser Woche ihre Vorschläge für einen Green Deal auf den Tisch gelegt: Europa soll sich auf den Weg zur Klimaneutralität machen. – Dafür braucht es konkrete Maßnahmen, dafür braucht es eine starke Bahn in den Regionen, in den Ländern und auch grenzüberschreitend in Europa.
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Es stehen viele zu lösende Aufgaben vor uns, die wir besser im ICE-Tempo angehen sollten. Warum beispielsweise bestehen immer noch Lücken aus dem Zweiten Weltkrieg im europäischen Schienennetz, zum Beispiel Freiburg–Colmar oder von Cottbus nach Polen oder von Trier ins französische Metz? Warum kommt das europäische Zugsicherungssystem ETCS nur so langsam voran? Warum kann man heute noch immer nicht online ein Bahnticket von Frankfurt nach Rom buchen? Und warum gibt es trotz hoher Fahrgastnachfrage noch immer kein ausreichendes europäisches Nachtzugangebot?
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Dieses Gesetz ist ein richtiger und wichtiger Schritt, um Europa wirklich mit der Bahn im wahrsten Sinne des Wortes erfahrbar zu machen; aber es sind noch viele weitere Schritte notwendig, die angegangen werden müssen. Lassen Sie uns keine weitere Zeit verschwenden auf dem Weg hin zu einem europäischen Eisenbahnraum, für mehr Fahrgäste und Güter auf der Schiene statt im Auto, im Lkw oder im Flugzeug.
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Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Karl Holmeier, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir stimmen heute über die Umsetzung einer europäischen Richtlinie ab. Sie ist Teil des vierten Eisenbahnpakets der Europäischen Union. Im Ausschuss waren wir uns eigentlich alle einig und haben bis auf eine Fraktion, die sich enthalten hat, parteiübergreifend zugestimmt.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir alle freuen uns über die vielen Errungenschaften der Europäischen Union; Kollege Gastel hat es gerade schon angesprochen. Einiges ist für uns zur Selbstverständlichkeit geworden, beispielsweise das uneingeschränkte Reisen im Schengen-Raum. An den nationalen Grenzen stoppt einen kein Schlagbaum. Am Flughafen brauchen wir kein Visum oder einen Pass. In den Zügen kontrollieren keine Grenzer mehr die Personalien. Die Europäische Union sorgt aber nicht nur für mehr Freiheit beim Reisen; die Europäische Union sorgt auch für mehr Sicherheit beim Reisen.
Mit diesem gesteckten Ziel setzt der vorliegende Gesetzentwurf die technische Säule des vierten Eisenbahnpakets in nationales Recht um. Den Kern des Gesetzes bilden drei Maßnahmen: erstens die europäische Harmonisierung von Sicherheitsstandards, zweitens die Stärkung der Kompetenzen des Eisenbahn-Bundesamtes und drittens die Vernetzung europäischer Sicherheit im Bahnsektor.
Mit der ersten Maßnahme vereinheitlichen wir die Ausstellung der Sicherheitsbescheinigungen für die Bahnunternehmen. Die Bescheinigungen stellt künftig die Eisenbahnagentur der Europäischen Union aus. Das gilt verpflichtend für alle Unternehmen, deren Züge grenzüberschreitend fahren. Für allein in Deutschland tätige Bahnunternehmen erteilt das Eisenbahn-Bundesamt allerdings auch weiterhin die Sicherheitsbescheinigungen. Damit bauen wir bestehende bürokratische Hürden im Eisenbahnsektor ab. Das Verfahren wird zentralisiert und europaweit harmonisiert.
Zusätzlich zu dieser Harmonisierung stärken wir die Kompetenzen des Eisenbahn-Bundesamtes. Gleichzeitig entlasten wir aber auch die Behörde. Die Zertifizierung der Instandhaltungsstellen für Güterwägen verteilen wir auf mehrere Akteure. Bisher war das Eisenbahn-Bundesamt die einzige Zertifizierungsstelle in Deutschland. Künftig geben mehrere eigenständige Zertifizierungsstellen die nötigen Bescheinigungen aus. Das Amt überwacht die ausgebenden Stellen. Außerdem erteilt das Eisenbahn-Bundesamt künftig die Genehmigungen für das Inverkehrbringen von Eisenbahnfahrzeugen und von Fahrzeugtypen. Das Amt erhält neben neuen Aufgaben und Kompetenzen auch neue Pflichten zur Kooperation mit den Sicherheitsbehörden der europäischen Mitgliedstaaten.
Die europäischen Sicherheitsbehörden im Eisenbahnsektor arbeiten künftig enger zusammen. Das Eisenbahn-Bundesamt gibt sicherheitsrelevante Informationen über die in Deutschland grenzüberschreitend tätigen Eisenbahnunternehmen an die Sicherheitsbehörden der anderen europäischen Staaten weiter. Der Austausch sorgt für ein höheres Sicherheitsniveau im europäischen Schienenverkehr.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die europäische Harmonisierung von Sicherheitsstandards, die Kompetenzerweiterung des Eisenbahn-Bundesamtes und die Vernetzung europäischer Sicherheit im Bahnsektor sind ein Gewinn für den europäischen Schienenverkehr.
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Gleichzeitig stärken wir mit diesem Gesetz aber auch die Konkurrenzfähigkeit der Eisenbahn; wir steigern die Attraktivität des Verkehrsträgers Schiene, und wir gehen einen weiteren Schritt in Richtung europäischer Eisenbahnraum, einen Schritt in Richtung mehr klimafreundliche Mobilität und mehr Sicherheit in Europa. Wir schaffen also mit diesem Gesetz nicht nur Bürokratie ab, sondern mit einer Stärkung der Schiene in Europa schonen wir auch das künftige Klima. Eine gute Woche für die Bahn: neben der Unterzeichnung der LuFV diese Woche im Verkehrsministerium ein zweiter wichtiger Schritt für die zukünftige positive Entwicklung der Bahn. Auch hier vielen Dank an unseren Minister!
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Deshalb bitte ich Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren: Stimmen Sie dem Gesetz zu! Ich möchte aber auch die Gelegenheit nutzen, mich im Namen der Arbeitsgruppe „Verkehr“ der Union bei Martin Burkert recht herzlich für die gute Zusammenarbeit in den vergangenen Jahren zu bedanken. Ich wünsche dir für die Zukunft alles Gute.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Holmeier. – Ich schließe die Aussprache.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach der Wahl 2017 war die Bestürzung groß: Der Anteil der Frauen im Bundestag war seit Langem wieder gesunken, und das nicht zu knapp. Der bisherige Aufwärtstrend erfolgt nicht automatisch, wie viele vielleicht gedacht haben. Mehr Frauen im Bundestag kommen eben nicht von alleine.
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Wenn Sie hier in diese Runde gucken, dann wird offenbar, wer das Problem darstellt: Das ist die Union, das ist die FDP und natürlich die AfD.
Von den demokratischen Parteien kamen viele Ankündigungen, aktiv werden zu wollen. Im Jubiläumsjahr zu 100 Jahre Frauenwahlrecht sorgten gerade Union und SPD für viele Schlagzeilen dazu. Kanzlerin Merkel sprach sich für mehr Frauen in Parlamenten aus. AKK machte laute Ankündigungen dazu. Ministerin Giffey meinte, sie habe keine Lust mehr, so lange wie beim Frauenwahlrecht zu warten; sie unterstütze die fraktionsübergreifende Initiative der weiblichen Abgeordneten.
Im 100. Frauenwahlrechtsjahr haben es alle aufgegriffen. Die SPD hat keine Veranstaltung ausgelassen, ohne den Mut von Marie Juchacz zu erwähnen. Aus dieser Dynamik hat sich nach einem Termin mit dem Deutschen Frauenrat vor gut einem Jahr eine interfraktionelle Frauengruppe aus den Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP, der Linken und der Grünen gebildet.Für uns Grüne kann ich sagen: Wir haben uns aus Überzeugung mit den Frauen interfraktionell zusammengeschlossen, gemeinsam für einen Vorstoß aus der Mitte des Parlaments mit dem erklärten Ziel: mehr Frauen in die Parlamente.
({1})
Wir haben in dieser interfraktionellen Frauengruppe einen Kompromiss gefunden. Die progressiveren Fraktionen wären hier sicher gerne weitergegangen, Union und FDP nicht. Aber die Frauen dieser Fraktionen haben sich am Ende geeinigt: Als erster wichtiger Schritt soll eine Kommission aus Expertinnen und MdBs eingesetzt werden, die Vorschläge für gesetzliche Regelungen und Maßnahmen für Listen und Wahlkreise erarbeiten soll. Verbesserungen der Rahmenbedingungen dafür, dass mehr Frauen kandidieren, sollen dazugehören. Wir wissen: Das ist zentral.
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Darum liegt dieser Gruppenantrag jetzt so auf dem Tisch.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir Frauen haben diesen Kompromiss interfraktionell ausgearbeitet, und nun, auf den letzten Metern, zucken Union und SPD-Fraktion zurück. Sie machen stattdessen nichts und bremsen als Regierungsfraktionen selbst den Minimalvorschlag einer Kommission aus.
({3})
Das kann nicht Ihr Ernst sein.
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Die Frauenverbände und die Frauen erwarten, dass Sie als GroKo hier mitgehen, nachdem Sie vollmundige Ansagen gemacht haben, den Frauenanteil in den Parlamenten erhöhen zu wollen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir Grünen wollen nicht, dass am Ende gar nichts in Richtung Parität und für die Frauen herauskommt. Nicht nur ankündigen, sondern konkret werden: Das ist überfällig.
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Die Einsetzung einer Kommission ist der erste wichtige Schritt dazu.
Den Vorschlag der Frauengruppe tragen wir Grünen mit den Linken weiter, ein Vorschlag, der die Türen für mehr Repräsentanz von Frauen im Parlament öffnen kann. Ich sage Ihnen: Sie sollten dem folgen; denn die Frauen wissen, wo es langgeht.
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Wenn es einen weiter gehenden Vorschlag geben sollte, sind wir natürlich gerne dabei. Aber was ist, wenn der nicht kommt, liebe SPD? Gestern noch keine Position zum Wahlrecht und jetzt auf einmal die Ankündigung, Sie wollen, dass durch eine Änderung des Wahlrechts mehr Frauen ins Parlament einziehen.
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Das finde ich nicht sehr glaubwürdig.
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Wir haben uns sehr bewusst für einen Gruppenantrag entschlossen; denn wir glauben – und wir sind dabei geblieben –, dass uns ein gemeinsames Vorgehen weiterbringt, wenn auch langsamer. Aber es ist unsere Verantwortung. Wir haben alle den politischen Auftrag, durch das Grundgesetz dafür Sorge zu tragen, dass Frauen gleichberechtigt an gesellschaftlichen und politischen Debatten teilhaben.
Ich appelliere an Sie, die Spitzen von Union und SPD, diesen Antrag zu unterstützen. Was hält Sie davon ab? Er schadet niemandem. Wem nutzt er? Allen. Denn mehr Parität von Frauen ist nicht nur eine politische Antwort auf die Anforderungen aus Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes, sie stärkt auch unsere Demokratie.
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Gehen Sie mit auf diesen Gruppenantrag. Das wäre 101 Jahre nach der Einführung des Frauenwahlrechts kein großer, aber zumindest ein kleiner Meilenstein.
Vielen Dank.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort die Kollegin Yvonne Magwas.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für die gesamte CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist die Steigerung des Frauenanteils im Deutschen Bundestag ein sehr wichtiges Thema, welches wir entschlossen angehen und wofür wir konkrete Lösungsvorschläge erarbeiten wollen; denn der Blick ins Plenum, aber auch der Blick in meine eigene Fraktion stimmt diesbezüglich traurig. Mit 31,3 Prozent ist der Frauenanteil in unserem Parlament auf dem niedrigsten Stand seit 1998. Der niedrige Frauenanteil in den Parlamenten wird so auch zu einer Demokratiefrage.
({0})
Frauen machen mehr als die Hälfte der Bevölkerung aus, und dies sollte sich auch im Parlament widerspiegeln.
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Darum ist es gut, dass wir heute hier im Parlament darüber diskutieren. Der Deutsche Bundestag befasst sich jetzt offiziell mit dem Thema Parität. Dieses Ziel ist erreicht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben uns gemeinsam – liebe Ulle Schauws, du hast es gesagt – mit Frauen anderer Fraktionen auf den Weg gemacht, das Thema Parität zu bearbeiten. Die Zusammenarbeit in der interfraktionellen Frauengruppe war hervorragend. Dafür ein herzliches Dankeschön an alle, die dabei waren.
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Ich bin der Meinung: Unsere Arbeit sollte unbedingt fortgesetzt werden. Ja, nun geht es an die Umsetzung, und für uns alle in der Gruppe war klar, dass wir dafür auch die Mehrheiten in unseren Fraktionen brauchen.
Unterschiedliche Vorschläge liegen nun vor. Als Unionsfraktion sprechen wir uns für die Einsetzung einer zeitlich befristeten Enquete-Kommission aus, die bis Ende 2020 tagt, mit einem klaren, eng definierten Auftrag, gesetzliche Regelungen und konkrete Maßnahmen zu erarbeiten, die sicherstellen, dass zukünftig mehr Frauen im Deutschen Bundestag vertreten sein werden.
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Wir befürworten die Einsetzung einer Enquete-Kommission, weil sie ein bewährtes Instrument ist, das in der Geschäftsordnung des Bundestages bereits verankert ist und mit allen organisatorischen Rahmenbedingungen ausgestattet ist. Sie bietet deshalb die Chance, mit einem klar definierten, zeitlich begrenzten Arbeitsauftrag kurzfristig an die Arbeit zu gehen und schnell konkrete Ergebnisse zu erzielen. Wir haben bereits einen Einsetzungsbeschluss formuliert, und ich lade alle Fraktionen dazu ein, daran mitzuwirken.
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Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, abschließend drei zentrale Punkte:
Erstens. Der Gruppenantrag hätte die Mehrheit des Hauses gebraucht. Diese hätten wir so nicht bekommen. Das ist zu akzeptieren. Für uns als Union ergibt sich daraus die Schlussfolgerung, weiter nach mehrheitsfähigen Umsetzungsmöglichkeiten zu suchen.
Zweitens. Die Wahlrechtsreform ist eine Glaskugel. Nur darauf zu bauen, wird dem Thema in keiner Weise gerecht, ganz im Gegenteil.
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Wer nur diesen Weg geht, nimmt die Gefahr in Kauf, am Schluss gar keine Verbesserungen für die Frauen erzielt zu haben. Ich meine: Dieser Weg ist die schlechteste aller Alternativen.
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Drittens. Lassen Sie uns – das wäre meine Bitte – die heutige Debatte dazu nutzen, weiter für eine mehrheitsfähige Umsetzung zu ringen: für mehr Frauen im Deutschen Bundestag, für mehr Gleichberechtigung.
Vielen herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Die nächste Rednerin: die Kollegin Nicole Höchst, AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Werte Kollegen! Werte Antragstellerinnen! Es braucht keine Kommission. Hand aufs Herz: Was macht einen guten Politiker aus? Glaubwürdig, authentisch, kenntnisreich, Liebe zu Land, Kultur und Volk, Dienst am Bürger.
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Das Geschlecht spielte bislang zu Recht eine untergeordnete Rolle. Schließlich lautete das Credo der Feministinnen über die Jahre, dass sie nicht auf ihre Geschlechtsorgane reduziert werden wollten. Ihr Ansinnen, meine Damen – das müssen Sie sich leider sagen lassen –, ist ein zutiefst sexistisches,
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weil es vor die Dämmerung der Frauenbewegung zurückmöchte und Menschen zunächst danach beurteilt, ob sie Holz vor der Hütte haben oder eben nicht.
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Sie wollen Sexismus in den Stein der Gleichstellungspolitik meißeln.
Damit müsste die Diskussion über dieses Thema eigentlich schon beendet sein,
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weil doch niemand hier im Ernst dem Wiedererstarken des Sexismus den Steigbügel halten möchte, oder?
Wer will, dass mehr Frauen in politische Mandate oder Ämter kommen, muss dafür werben, dass mehr Frauen freiwillig in die Politik drängen, weil sie sich berufen oder geeignet fühlen. Sie müssen es wollen. Derzeit sind eben nur knapp über 30 Prozent aller Parteimitglieder in Deutschland weiblich, weil die anderen offensichtlich nicht wollen.
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Es ist nicht die Aufgabe des Bundestages, sich über diese Tatsache hinwegzusetzen. Es ist die Aufgabe der Parteien, sich um fähigen Nachwuchs zu kümmern.
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Wir sind mit dem Juraprofessor Martin Morlok der Ansicht, dass ein Paritätsgesetz die Wahlrechtsfreiheit einschränkt, da die Hälfte der Kandidatenplätze für das jeweils andere Geschlecht versperrt bleibt. Meine Herren, wie lange wollen Sie sich eigentlich den Quatsch der neid- und machtgetriebenen Quotenpolitik allein zu Ihren Lasten noch gefallen lassen?
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Warum fordern Sie nicht zum Beispiel Quoten für Frauen, die erfüllt werden müssen, äquivalent zu den Quoten in den Vorständen, nämlich bei Kanalarbeitern, auf dem Bau, bei der Müllabfuhr?
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Meine Damen Antragstellerinnen, ich bewundere Ihren Humor. Versammelt unter dem Banner der Regenbogenfahne des „anything goes“ bringen Sie hier die Rückführung des Geschlechterspektrums auf Mann und Frau allein zu Ihrem eigenen Vorteil.
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Sie benachteiligen schamlos die Diversen und alle anderen Geschlechtsidentitätler.
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Sie sind somit herrlich konsequent inkonsequent.
Meine Damen, denken Sie doch mal weiter. Wenn Sie jetzt diese Paritätsbresche für Frauen schlagen, weg von repräsentativer Demokratie, zurück in vordemokratische Zeiten, weil Sie vorgeben, dass nur Frauen Politik für Frauen machen können: Wie wollen Sie das denn für die anderen Merkmale aus Artikel 3 paritätisch lösen? Da wären – ich darf Sie erinnern – auch noch solche Dinge wie Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat und Herkunft, Glauben und Behinderung zu berücksichtigen. Wissen Sie was? Bis Sie das alles quotiert haben, haben Sie die freie Wahl komplett und gänzlich abgeschafft. Bravo!
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Warum müssen ausgerechnet in den Parlamenten mehr Frauen sein?
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Weil sie bessere Politik für Frauen machen? Meine Damen, Sie machen sich lächerlich. Überwiegend Herren haben all dem zugestimmt, was wir heute als Errungenschaften für Frauen feiern.
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Und obwohl viele Frauen im Bundestag vertreten sind, wird die Lage für Frauen in Deutschland immer prekärer, weil viele von Ihnen nicht bereit sind, zu sehen, dass zuwanderndes Steinzeitpatriarchat für Frauen in Deutschland nicht zu mehr Gleichberechtigung und Chancen führt, sondern zu mehr Unterordnung, Vergewaltigungen, Beschneidungen, Kinderehen, Polygamie, Ehrenmorden usw.
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Die Alternative für Deutschland möchte die demokratischen und freiheitlichen Werte unseres Grundgesetzes bewahren,
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und die sind nicht durch eine speziell weibliche Form des diktatorischen Quotensozialismus zu ersetzen. Wir lehnen Ihre Anträge ab.
Vielen Dank.
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Für die Fraktion der SPD hat als Nächstes das Wort die Kollegin Josephine Ortleb.
({0})
Das freut mich. – Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Anfang letzten Jahres hat der Deutsche Frauenrat, also der größte Interessenverband von und für Frauen in Deutschland, weibliche Abgeordnete zu einem Parlamentarischen Frühstück eingeladen. Der Deutsche Frauenrat stellte fest, was wir hier täglich sehen: Es gibt mehr als doppelt so viele Männer wie Frauen im Deutschen Bundestag, und das 100 Jahre nach der Einführung des Frauenwahlrechts. Das will der Deutsche Frauenrat mit seinen 60 Mitgliedsverbänden nicht hinnehmen, genauso wenig wie ich, meine Fraktion und meine Partei.
({0})
Die gleichberechtigte politische Teilhabe und Repräsentanz von Frauen ist ein Herzensthema für mich, das auch viele andere Menschen bewegt, innerhalb und außerhalb des Parlaments. Umso mehr hat es mich gefreut, dass nach dem besagten Parlamentarischen Frühstück ein Konsens aller Frauen zu spüren war, dass wir in Sachen Parität gemeinsam etwas bewegen können.
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Die Position der SPD-Fraktion war dabei immer klar: Wir stehen zu gesetzlichen Maßnahmen zur Erreichung von Parität.
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Mehrere interfraktionelle Treffen haben uns dann gezeigt: Mit den Grünen und den Linken eint uns das Ziel, Parität gesetzlich zu regeln.
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Mit der Union eint uns der Koalitionsvertrag und die Vereinbarung, immer gemeinsam abzustimmen. Die Einrichtung einer Kommission, etwa angesiedelt beim Bundestagspräsidenten, hätte eine Brücke und ein Kompromiss sein können. Eine langatmige Enquete-Kommission war für uns schnell vom Tisch.
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Eigentlich wollte ich es nicht sagen, aber nach dieser Rede von Frau Höchst kann man sich nicht vorstellen, dass die AfD den Vorsitz einer solchen Enquete-Kommission bekommt.
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Für uns war aber auch klar: Das Einsetzen von Kommissionen birgt die Gefahr, den Anschein zu erwecken, es gäbe ein Erkenntnisdefizit. Das haben wir aber nicht;
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wir haben ein Handlungsdefizit. Studien belegen: Frauen werden bei Nominierungen, insbesondere für aussichtsreiche Direktkandidaturen, systematisch benachteiligt.
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Auch da, wo Listen nicht nach Reißverschlussverfahren aufgestellt werden, sind mehr Männer auf den aussichtsreichen vorderen Plätzen.
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Der Reißverschluss wirkt; das zeigt auch die SPD-Fraktion.
Wir dürfen die Parteien bei der Herstellung der gleichberechtigten Teilhabe aber nicht alleinlassen. Den strukturellen Benachteiligungen von Frauen müssen wir strukturell entgegnen.
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Damit beauftragt uns auch das Grundgesetz.
Der Weg zur Parität ist möglich. Das zeigen uns 21 Mitgliedstaaten der Europäischen Union, und auch in Deutschland zeigen Brandenburg und Thüringen, dass es geht. An Vorbildern und Beispielen, wie die gleiche Repräsentanz von Frauen und Männern in Parlamenten erreicht werden kann, mangelt es uns also nicht.
Aber klar war auch: Ein Kompromiss funktioniert nur, wenn alle mitmachen. Wir haben jetzt Beiträge aus einigen Fraktionen gehört; sie zeigen: Das ist einfach nicht der Fall. Einige Unionsfrauen – ich hatte immer das Gefühl, dass sie unsere Haltung teilen – bringen immer wieder die Enquete-Kommission ins Spiel. Hier fehlt es leider an der notwendigen Geschlossenheit.
Liebe FDP, man könnte fast meinen, es wird zur liberalen Tradition, sich oft zu treffen, Verantwortung dann aber nicht anzunehmen. Heute lehnen Sie mit Ihrem Antrag gesetzliche Maßnahmen zur Erreichung von Parität sogar gänzlich ab.
({10})
Das ist wirklich sehr bedauerlich.
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Wie lange wollen Sie eigentlich noch warten, bis Gleichstellung in diesem Haus Wirklichkeit wird?
Sehr geehrte Damen und Herren, ein Kompromiss ist nicht zustande gekommen. Inzwischen hat die Debatte um eine Wahlrechtsreform wieder voll an Fahrt aufgenommen. Und weil wir Frauen alles können, sogar Fußballrhetorik bedienen, sage ich es mal so: Die Debatte um die Wahlrechtsreform wurde jetzt angepfiffen. Der Ball liegt jetzt auf dem Spielfeld. Ich glaube, wir Frauen tun nicht gut daran, auf der Ersatzbank auf unseren Einsatz irgendwann zu warten. Wir sollten jetzt unsere Schuhe schnüren und das Spiel mitgestalten.
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Frau Kollegin Ortleb, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Haßelmann?
Nein. – Denn viel zu oft mussten Frauen zuschauen, wie Männer die Spielregeln festlegen, wie Männer über Lebensrealitäten entscheiden und wie Männer Frauen auf irgendwann vertrösten. 100 Jahre nach Einführung des Frauenwahlrechts geht es nicht mehr um ein Irgendwann. Es geht um das Hier und Jetzt. Parität und Wahlrecht sind zwei Seiten derselben Medaille, einer Medaille, die den echten gleichberechtigten Zugang zur politischen Macht für Frauen sicherstellt.
Für uns von der SPD-Fraktion ist klar: Wir legen beim Thema Parität unsere ganze Kraft in die Debatte um die Wahlrechtsreform.
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Uns bietet sich noch mal ein kleines Zeitfenster und somit die Chance, in dieser Legislaturperiode etwas Historisches zu vollbringen.
Liebe Grüne, liebe Linke, ich merke schon, es entsteht Unruhe. Im November letzten Jahres gab es einen gemeinsam getragenen Gesetzentwurf zur Änderung des Bundeswahlgesetzes. Darin habe ich nicht einen Vorschlag zur Erhöhung des Frauenanteils im Deutschen Bundestag gefunden. Da habe ich mich auch gefragt: Warum nicht?
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Denn die Frage der Parität wird im Wahlrecht entschieden und nicht in einer Kommission.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns die Reform des Wahlrechts und die sich uns bietende Chance nutzen. Wir wollen gleichberechtigte Parlamente; wir brauchen gleichberechtigte Parlamente, und wir Frauen lassen uns bei diesem Spiel nicht auf die Ersatzbank schicken.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Ich erteile das Wort zu einer Kurzintervention der Kollegin Britta Haßelmann.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Josephine Ortleb, schade, dass Sie eine Zwischenfrage nicht zugelassen haben. Sie haben gerade gesagt, die Diskussion um die Wahlrechtsreform gehe gerade los: Sorry, in welchem Land und in welcher Zeit leben wir denn? Wir diskutieren seit 2013, seit dem Vorschlag des Bundestagspräsidenten Lammert, über die Frage einer dringend notwendigen Wahlrechtsreform. Und alle hier im Haus wissen und wussten – die SPD hat niemals eine andere Position vertreten –, dass diese komplizierte Wahlrechtsreform keine Mehrheit kriegt, wenn sie auch noch die Parität in sich vereint. Deshalb haben wir Frauen ganz offen darüber gesprochen, auch mit dem Bundesfrauenrat, dass wir versuchen, in einer Kommission, die mit einem ganz klaren zeitlich eng gefassten Auftrag arbeitet, das Thema Frauenförderung und Parität zu setzen. Und dann heute als SPD so zu tun, als hätte die SPD an irgendeinem Punkt durch diejenigen, die das Wahlrecht verhandeln, zum Ausdruck gebracht, dass es eine Wahlrechtsreform der SPD nur mit der Parität im Gesetz gibt, so viel Chuzpe muss man erst mal haben, meine Damen und Herren.
({0})
Ich finde, das muss man auch offenlegen.
Ja, ich hätte mir gewünscht, wir wären bei unserer gemeinsamen Linie geblieben und hätten gesagt: Die Frauen hier im Haus versuchen, diese Kommission durchzusetzen, um am Ende dieser Legislatur noch zu einem Ergebnis zu kommen, wie man Frauenförderung und Parität verankern kann.
Frau Kollegin Haßelmann, die zwei Minuten sind um.
Gestern noch erklärte die SPD im „Morgenmagazin“, sie habe keine Position zum Wahlrecht, und heute tut man so, als habe man immer schon gesagt: Wahlrecht und Parität gehören zusammen.
Frau Kollegin Haßelmann, kommen Sie jetzt bitte zum letzten Satz.
So geht es nicht.
({0})
Sie können antworten, Sie müssen nicht. – Bitte schön.
Danke für Ihre Kurzintervention. Sie hätten vielleicht auch die Redezeit Ihrer Fraktion bekommen können.
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Ich finde es nicht fair, die Situation jetzt so darzustellen, als wäre die SPD-Fraktion diejenige gewesen, die sich von diesem Kompromiss als Erste verabschiedet hat.
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Das ist nicht so, und das wissen Sie, Frau Haßelmann. Wir haben ja, glaube ich, immer gut und fair zusammengearbeitet. Deswegen sollten wir dies hier auch weiterführen.
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Wir haben immer gesagt: Wir haben in der Fraktion einen Beschluss, dass Paritäten mit gesetzlichen Maßnahmen zu erreichen sind. Ich habe in meiner Rede gesagt, dass die Debatte zur Wahlrechtsreform jetzt wieder an Fahrt aufnimmt. Ich habe nie gesagt, dass sie jetzt erst begonnen hat.
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Das möchte ich noch mal betonen.
Für uns kann es viele Instrumente zur Parität geben. Genau dafür müssen wir die Debatten jetzt nutzen. Wir brauchen natürlich alle Fraktionen im Haus, um am Ende ein Wahlrecht durchzusetzen, das mit Parität funktioniert. Das ist unser Ziel.
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Vielen Dank. – Die nächste Rednerin: die Kollegin Nicole Bauer für die FDP-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielfalt ist kein Akt der Nächstenliebe, sondern ein Motor für Exzellenz: So formulierte es Barack Obama kürzlich, und ich stimme ihm voll und ganz zu. Vielfalt beginnt mit der Ausgewogenheit der Geschlechter.
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Schauen Sie sich doch um: 30 : 70. So sitzen wir hier. Daran müssen wir etwas ändern. Davon bin ich zutiefst überzeugt. Wir als nationales Parlament haben eine Vorbildfunktion. Genau deshalb haben wir uns zur interfraktionellen Frauengruppe zusammengeschlossen; eine tolle, eine klasse Initiative, mit einem klaren gemeinsamen Interesse: mehr Frauen in den Deutschen Bundestag. Es ist uns auch gelungen, dieses Thema heute Abend auf die Tagesordnung zu bekommen. Das ist großartig, meine Damen.
({1})
Nichtsdestotrotz ist im Zuge dieser Diskussion auch aufgekommen, dass unterschiedliche Wege zum Ziel führen. Genau deshalb bringen wir Freien Demokraten heute einen eigenen Antrag ein.
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Uns muss klar sein, dass die Herausforderungen viel früher, viel weiter vorne anfangen. Ich erlebe es gerade selbst. Wir stellen in Bayern Kommunalwahllisten auf, und Frauen von einer Kandidatur zu überzeugen, ist nicht leicht. Deshalb müssen wir viel früher anfangen, viel weiter vorne. Wir müssen groß denken. Dafür brauchen wir eine fundierte Analyse. Genau deshalb muss die Kommission klären: Welche Hürden gibt es, wenn sich Frauen politisch engagieren oder ein politisches Amt ausüben wollen?
({3})
Wie können wir die Rahmenbedingungen verbessern, damit die Vereinbarkeit von politischem Mandat und Familie wie in Neuseeland gang und gäbe wird? Und wie kann die Kommission prüfen, dass die Chancen der Digitalisierung hierzulande stärker angewandt werden?
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Ich bin froh und stolz, Teil der FDP-Fraktion zu sein; denn bei uns spielt virtuelle Präsenz schon lange eine große Rolle: bei längerer Krankheit oder für frisch gebackene Eltern. Das Bewusstsein für dieses Thema geht uns alle an, nicht nur die Frauen. Genau deshalb werbe ich gerade bei den wenigen Männern heute im Hause für eine möglichst breite Unterstützung.
Der Frauenanteil wird immer ein Thema sein. Es wird bleiben, davon bin ich überzeugt: bei Wahlentscheidungen, in den Medien und im Selbstverständnis von Parteien. Finnland hat uns aber gezeigt, wie eine transparente Berichterstattung zu Frauenanteil, Zielgrößen und Entwicklung vonstattengehen kann. Zahlreiche Studien belegen, dass gemischte Teams wesentlich innovativer und erfolgreicher sind. Mehr Frauen in Politik und Parlament: Das ist nicht nur eine Frage der Chancengerechtigkeit, sondern vor allem der Motor für Exzellenz. Genau das braucht unsere Demokratie der Zukunft.
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Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Kollegin Cornelia Möhring.
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Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die meisten werden sich erinnern: Vor einem Jahr haben wir hier im Hause die Feierstunde „100 Jahre Frauenwahlrecht“ begangen. Ich möchte daran erinnern, dass beide Festrednerinnen, Rita Süssmuth und Christine Bergmann, sehr viel fraktionsübergreifenden Applaus bekommen haben, und zwar für ihre Kritik daran, dass wir hier zu wenig Frauen haben, und für die Aufforderung, etwas daran zu ändern.
({0})
Ich befürchte, ehrlich gesagt, dass der Beifall weniger dem Inhalt als der Höflichkeit geschuldet war, sonst würden auf unserem Gruppenantrag nicht nur Linke und Grüne stehen, oder es gäbe andere Initiativen und konkrete Vorschläge, um Parität in das Wahlrecht einzuschreiben.
({1})
In unserer interfraktionellen Gruppe für mehr Frauen in die Parlamente waren wir uns in mindestens drei Punkten einig. Ich glaube, wir sind es immer noch.
Erstens. 30 Prozent Frauen im Bundestag sind viel zu wenig.
Zweitens. Dass in keinem Parlament dieses Landes Frauen und Männer zur Hälfte sitzen, geht gar nicht.
Drittens. Dass die Zahl sogar sinkt, muss dringend umgekehrt werden.
({2})
In der Linken ist das übrigens selbstverständlicher Konsens für alle. Deshalb quotieren wir unsere Listen und diskutieren engagiert verschiedene Wege, um Parität in den Parlamenten zu erreichen. Wir haben auch einen eigenen Gesetzentwurf entwickelt. Aber uns ist klar, dass Änderungen im Wahlrecht, die dazu führen, dass mehr Frauen in die Parlamente kommen, nur erreicht werden können, wenn es ein gemeinsames Vorgehen aus der Mitte des Bundestages gibt.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die heute diskutierte Initiative fordert doch nicht einmal viel. Im Endeffekt will sie den Beifall aus der Feierstunde festschreiben und uns verpflichten, konkrete Schritte gemeinsam zu erarbeiten. Es ist ein Minimalkonsens. Wer selbst das nicht zulassen will, hat anscheinend mächtig Muffensausen.
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Ein paar Worte zur SPD. Ich habe gehört, dass ihr sagt: Es ist zu spät für die Kommission; es muss jetzt die anstehende Wahlrechtsreform genutzt werden. – Okay, hier wäre ich sogar dabei, wie wahrscheinlich alle anderen auch. Aber ihr müsst mir das erklären. Die Kommission kommt seit dem Sommer nicht zustande, weil sie in der Union nicht durchsetzbar war. Woher nehmt ihr die Hoffnung, dass ihr mit der Regierungsfraktion tatsächlich Änderungen im Wahlrecht erreicht? Das ist, liebe Kolleginnen und Kollegen, eine Beerdigung erster Klasse der anstehenden Wahlrechtsreform und der Kommission. Das verstehe ich wirklich nicht.
({5})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Mast?
Ja.
Liebe Kollegin Möhring, jetzt muss ich meine Erwiderung zu Ihrer Aussage in eine Frage kleiden.
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Sind Sie nicht auch mit mir der Meinung, dass wir in der interfraktionellen Gruppe, wie ich finde, sehr vertrauensvoll zusammengearbeitet haben? Zu dem Vorschlag, den die Grünen heute mit Ihnen gemeinsam vorlegen, kann ich sagen, dass ich persönlich Wort für Wort hinter diesem Vorschlag stehe, weil er nämlich einen Zweck hatte. Ich kann jedes Wort davon unterschreiben. Für die anderen Frauen in der SPD-Bundestagsfraktion, die mitgearbeitet haben, gilt übrigens das Gleiche.
Wir haben diesen Vorschlag gemacht, weil wir gespürt haben, dass es unterschiedliche Neigungen zu gesetzlichen Regelungen zum Thema Parität gibt. Das zeigt auch der Frauenanteil in den einzelnen Fraktionen: um die 10 Prozent bei der AfD, ungefähr 23 Prozent bei der FDP, ungefähr 20 Prozent bei der CDU/CSU, ungefähr 56 Prozent bei den Grünen.
({1})
Bei uns sind es 43 Prozent. Bei euch sind es ungefähr 50 Prozent.
({2})
Frau Kollegin.
Die FDP ist früh ausgestiegen, als Erste.
Frau Kollegin.
Dann haben wir gemerkt: In der Koalition bekommen wir keine gemeinsame Haltung zu dieser Kommission beim Bundestagspräsidium hin.
Frau Kollegin.
Wir sind gebunden an den Koalitionsvertrag, in dem drinsteht, –
Sie sollen keine Kurzintervention, sondern eine Zwischenbemerkung machen.
– dass wir mit unserem Koalitionspartner immer gemeinsam abstimmen. Das ist die Situation.
Frau Kollegin Mast!
Deshalb sind uns hier die Hände gebunden. Sehen Sie das nicht auch?
Liebe Kollegen, man muss keine Zwischenfrage stellen; man kann auch eine Zwischenbemerkung machen. Aber bitte keine Kurzintervention, sondern eine kurze Zwischenbemerkung.
({0})
Bitte, Sie können jetzt auf die Frage antworten.
Liebe Katja Mast, mir ist schon klar, dass ihr in eurer unglücklichen GroKo-Ehe verhaftet seid
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und dass das letztendlich der Grund ist, warum ihr nicht – das sage ich jetzt mal so salopp – genug Arsch in der Hose habt, um den Gruppenantrag zu unterstützen.
Ich sehe natürlich, dass das für euch ein Problem ist. Aber gleichzeitig ist es doch so: Ihr werdet in der Konstellation keinerlei Fortschritte hinsichtlich der Parität in der Wahlrechtsdebatte erreichen. Das heißt, wir brauchen eine Kommission, um konkrete Schritte zu erarbeiten, damit wenigstens zur übernächsten Bundestagswahl konkrete Maßnahmen zur Herstellung der Parität festgeschrieben werden. – Sind wir hier eigentlich in einer Kneipe?
({1})
Ich will abschließend noch ein paar Worte an die Kolleginnen und Kollegen der FDP richten. Die Gründe für den geringen Frauenanteil im Bundestag sind doch ziemlich klar – um das zu erkennen, braucht man, ehrlich gestanden, keine Studie und keine große Untersuchungen –: festgefahrene Strukturen in Parteien und im Wahlrecht, bei Listenaufstellungen werden Frauen übergangen,
({2})
eine politische Kultur, die immer noch Männerbünde honoriert; um nur ein paar Punkte zu nennen. Und die FDP selber ist eigentlich ein Garant dafür, dass genau daran nichts geändert wird.
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Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt kein Erkenntnisproblem, es gibt ein Umsetzungsproblem. Es ist Zeit für Parität. Verpflichten wir uns endlich, gemeinsam daran zu arbeiten. Die Einladung steht.
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Die Kollegin Petra Nicolaisen ist die nächste Rednerin für die CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bereits Ende 2018 sowie Anfang letzten Jahres haben wir uns im Deutschen Bundestag mit diesem Thema befasst. Diesbezüglich besteht aber, wie wir unter anderem an der Kurzintervention und der Zwischenbemerkung eben gemerkt haben, noch viel Redebedarf. Ende 2018 haben wir uns auch mit dem Antrag „Verfassungsauftrag zur Gleichstellung erfüllen – Frauenanteil im Deutschen Bundestag erhöhen“ beschäftigt. Es freut mich, heute sagen zu können, dass seither interfraktionell – das hat meine Kollegin schon ausgeführt – einiges unternommen wurde, auch wenn wir bei diesem wichtigen Thema noch lange nicht am Ende sind.
Mit Ausnahme der AfD – das haben wir eben zur Kenntnis genommen – sind wir uns über die Fraktionsgrenzen hinaus im Wesentlichen dahin gehend einig, dass wir mehr Frauen im Bundestag brauchen.
({0})
Leider gibt es 100 Jahre nach Einführung des Frauenwahlrechts noch keine gleichberechtige politische Teilhabe von Frauen. Das wollen wir so nicht länger akzeptieren.
({1})
Im Koalitionsvertrag haben wir uns darauf verständigt, dass Frauen und Männer auch in Parlamenten auf allen Ebenen gleichberechtigt beteiligt sein sollen und wir deshalb verstärkt Frauen für die politische Beteiligung gewinnen wollen. Doch, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Umsetzung dieses so guten Vorhabens gestaltet sich etwas schwierig. In der Debatte, die wir letztes Jahr hier an gleicher Stelle geführt haben, wurde immer wieder darüber gesprochen, im Zuge einer möglichen Wahlrechtsreform für eine verstärkte politische Beteiligung von Frauen zu sorgen. Doch auch hier ist die Praxis komplizierter, als es sich mancher vorstellt. Die Wahlrechtsdebatte jetzt mit unserer frauenpolitischen Debatte zu verknüpfen, halte ich nicht für sinnvoll.
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Wichtig ist meiner Meinung nach vielmehr, dass sich mehr Frauen schon mal in der Kommunal-, Kreis- und Landespolitik engagieren; denn das ist eine Basis, eine gute Grundlage dafür, dass Frauen in die Bundespolitik gehen. So kann Frauen die Bundespolitik schmackhaft gemacht werden. So können wir sie für uns gewinnen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gut ist: Die Debatte darüber, verbindlichere Wege festzuschreiben, um Frauen in die Parteien und damit in die Politik und letztendlich auch in den Bundestag zu bekommen, ist in vollem Gange. Es wird intensiv diskutiert. Weniger gut ist, dass wir es bisher nicht geschafft haben, innerhalb der Koalition bzw. interfraktionell einen Vorschlag zu formulieren. Ich persönlich bzw. meine Fraktion hätte sich eine Enquete-Kommission mit einem ganz klaren Einsetzungsbeschluss gewünscht, der von allen Fraktionen getragen wird. Eine Enquete-Kommission wird für eine bestimmte Zeit eingesetzt. Hier wurde gesagt, das sei ein langer Zeitraum. Nein, wir als Fraktionen bestimmen, in welchem Zeitraum diese Enquete-Kommission arbeiten soll. In diesem Rahmen werden Sachverständige angehört, es wird diskutiert, und am Ende werden Handlungsempfehlungen ausgesprochen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es eint uns der Wille und die notwendige Motivation, in Zukunft mehr Frauen in die Politik und in den Deutschen Bundestag zu bekommen. Lassen Sie mich mit einem Zitat von Käte Strobel, ehemalige SPD-Bundesministerin, enden, die sagte:
Politik ist eine viel zu ernste Sache, als dass man sie allein den Männern überlassen könnte.
Herzlichen Dank.
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Dazu erteile ich das Wort der Kollegin Dr. Silke Launert, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Friederike Nadig, Dr. Elisabeth Selbert, Helene Weber und Helene Wessel – vier starke Frauen, die unser Grundgesetz maßgeblich mitgeprägt haben, vier starke Frauen, die sich nicht den Mund haben verbieten lassen und die nicht tatenlos rumsitzen wollten, während Männer die Zukunft Deutschlands gestalteten, Frauen, die die Fäden selbst in die Hand nehmen wollten, und das zu einer Zeit, zu der die Rolle der Frauen gesellschaftlich klar definiert war: Ehefrau und Mutter. Wie viel Mut und Durchsetzungskraft muss es diese Frauen gekostet haben, die Interessen durchzusetzen? Wie viel Anstrengung muss es für sie bedeutet haben, dieses Korsett, das die eine oder andere freiwillig trug, das der einen oder anderen aber auch aufgezwungen wurde, aufzusprengen und aufzubegehren.
70 Jahre später können wir sagen: Unser Land ist ein anderes. Es ist für Frauen selbstverständlich, zu arbeiten, mitzureden, mitzugestalten. Ja, sie wollen selbstbestimmt ihr Leben gestalten, ihren Lebensweg frei wählen. Das ist auch gut so.
Jetzt könnte man eigentlich meinen, dass das auch in der politischen Landschaft so ist, heute, sieben Jahrzehnte später; aber so ist es nicht ganz. Es ist etwas besser, klar. Damals waren nur vier Frauen im Parlamentarischen Rat. Aber wir wissen alle: Obwohl Frauen über die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, haben wir nicht einmal ein Drittel Frauen im Bundestag. Und auf der kommunalen Ebene sieht es nicht viel besser aus: nur 8 Prozent Oberbürgermeisterinnen, 27 Prozent Frauen in kommunalen Vertretungen, nur zwei Ministerpräsidentinnen bei 16 Bundesländern – und das, obwohl wir als Parlament eigentlich Vorbild sein sollten, wir nach außen zum Ausdruck bringen, wofür wir stehen, und damit nach außen zum Ausdruck bringen, wofür unser Staat steht, ob er für Gleichberechtigung steht.
Die zentrale Frage ist: Wie schaffen wir das nun? Was hindert Frauen daran, in die politischen Ämter zu gelangen? Welche Maßnahmen müssen ergriffen werden? Ich teile nicht die Ansicht, dass alle Frauen da derselben Meinung sind. Zumindest kann ich sagen, dass das selbst unter uns Frauen in der Frauen Union nicht immer einheitlich gesehen wird.
Um diese genaue Analyse durchzuführen und um zielgerichtete Maßnahmen zu ergreifen, vielleicht auch verschiedene, die den verschiedenen Vorstellungen gerecht werden, haben wir als Weg die Einsetzung einer Enquete-Kommission vorgeschlagen. Innerhalb eines befristeten Zeitraums, bis Ende 2020, sollte ein klar definierter Auftrag her. Die Enquete-Kommission ist in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages vorgesehen. Ich weiß, dieser Vorschlag gefällt Ihnen nicht, weil die AfD wahrscheinlich den Vorsitz hätte.
({0})
Wobei wir auch in manchen Ausschüssen einen AfD-Vorsitzenden haben, und es hätte ja nicht unbedingt Frau Höchst sein müssen.
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Es hätte ja vielleicht auch jemand anders sein können.
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Ich bedauere es sehr, dass wir da nicht weitergekommen sind; denn in dem Ziel sind wir uns, denke ich, weitgehend einig, nur über den Weg nicht. Ich wünsche uns allen, dass wir es irgendwann schaffen, gemeinsam auf einem Weg zu gehen.
Vielen Dank.
({3})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zur Primetime, kurz nach acht, „Tagesschau“-Zeit, spannendes Thema: Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen
Ich habe mal in den Koalitionsvertrag geschaut und gelesen, was dort steht. Ich zitiere:
Wir stärken die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen: Investitionen in Ausbau der Barrierefreiheit im öffentlichen Raum und allen Bereichen des Alltags.
Das findet man da.
Offensichtlich haben Sie aber Barrierefreiheit noch nicht begriffen. Barrierefreiheit ist eben kein reines Thema der Behindertenpolitik. Und: Barrierefreiheit hilft allen. Bisher, liebe Große Koalition, haben Sie diesbezüglich leider nichts geliefert. Da wollen wir gern behilflich sein.
({0})
Mein Tipp in dieser Debatte: Gehen Sie doch mal mit offenen Augen durch Ihre Wahlkreise, oder lesen Sie Zeitung. Immer noch bestehen Barrieren; das wurde in den letzten Tagen immer wieder öffentlich. Ich nenne hier mal nur die Vorgänge bei der Deutschen Bahn: Personen mit Beeinträchtigungen konnten nicht mitgenommen werden, weil Behinderten-WCs nicht nutzbar waren. Ein anderes Beispiel ist der Kollege Ströbele, jetzt mit Rollator ausgestattet. Ihm wurde die Mitfahrt in Zügen der Deutschen Bahn verweigert. Das sind Barrieren.
In meiner Heimatstadt Leipzig habe ich die Feiertage genutzt und geschaut: Wie sieht es mit der Barrierefreiheit im öffentlichen Personennahverkehr, nämlich bei Haltestellen, aus? Ich habe feststellen müssen, dass über die Hälfte genau dieser Haltestellen nach einer Umrüstung der Wartehäuschen nicht mehr barrierefrei sind. Auch das darf doch eigentlich nicht wahr sein.
Wie kann das alles sein? Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ist seit über zehn Jahren in Kraft. Das war auch der Anlass, warum wir uns für zehn Anträge entschieden haben. Denn: Barrierefreiheit nutzt allen Menschen. Investitionen sind daher eine Investition in die Zukunft einer vielfältigen und solidarischen Gesellschaft.
({1})
Es ist ein Unding, dass Barrierefreiheit noch immer keine Selbstverständlichkeit ist; deswegen heute unsere zehn Anträge. Die Linke fordert nämlich genau in diesen eine umfassende, menschenrechtskonforme Barrierefreiheit. Das umfasst die Komplexe Wohnen, Gesundheit, Pflege, Mobilität, Kultur, Sport, Medien und politische Teilhabe.
Zentrale Forderungen an die Bundesregierung aus den Anträgen der Linken sind unter anderem: Das Recht auf eine bezahlbare, menschenwürdige, diskriminierungsfrei zugängliche Wohnung muss im Grundgesetz verankert werden.
({2})
Das Ansteigen der Mieten muss verhindert werden, und barrierefreier sowie inklusiver Wohnraum muss geschaffen werden.
Eine Auflösung der unklaren Regelungen bei den Wahlassistenzen muss erreicht werden. Das Recht auf barrierefreie Kommunikation, beispielsweise durch Gebärdensprachdolmetschung oder in leichter Sprache, muss rechtsverbindlich werden.
({3})
Gleiches gilt für die barrierefreie medizinische Beratung, Behandlung sowie Versorgung einschließlich barrierefreier Informationsmaterialien.
({4})
Und: Wir brauchen mehr barrierefreie Schutzräume wie Frauenhäuser für Mädchen und Frauen mit Behinderung.
({5})
Private Anbieter von öffentlich zugänglichen Gütern und Dienstleistungen müssen zur Herstellung von Barrierefreiheit gesetzlich verpflichtet werden.
({6})
Außerdem muss der ÖPNV vollumfänglich barrierefrei gestaltet werden.
({7})
Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, das alles kostet Geld. Aber Die Linke sagt klar: Das Menschenrecht auf Barrierefreiheit kann nicht wegen Geldmangel beschränkt werden.
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Nur durch gesellschaftliche Umverteilung kann Barrierefreiheit finanziert werden. Am Ende hat doch jeder in der Gesellschaft etwas davon.
Ich möchte den ehemaligen Bundespräsidenten Gauck zitieren:
({9})
Ist denn wirklich in der ganzen Gesellschaft schon angekommen, dass wir in jeder Hinsicht und nicht nur räumlich „barrierefrei“ werden müssen? Zuerst im Kopf, aber dann sozusagen in allen Lebenslagen. Ist wirklich schon bei allen Menschen angekommen, dass alle Menschen nicht so sehr behindert sind, als dass sie behindert werden?
Beweisen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass das auch bei Ihnen angekommen ist, und stimmen Sie für unsere Anträge. Lassen Sie uns die Barrieren im Alltag für alle Menschen effektiv aufheben.
Vielen Dank.
({10})
Der Kollege Wilfried Oellers hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beraten heute eine ganze Reihe von Anträgen zum Thema Barrierefreiheit der Fraktion Die Linke, aber auch der FDP. Mein Vorredner Sören Pellmann hat es ja schon angesprochen: Wir haben es mit einem ganzen Strauß von Anträgen zu tun, zehn an der Zahl, auf die ich jetzt in der Kürze der Zeit nicht alle eingehen kann. Aber ich will für die Regierungskoalition und insbesondere auch für uns als CDU/CSU doch einige Dinge klarstellen.
Zunächst einmal: Die Barrierefreiheit ist für unsere Gesellschaft ein wichtiges Thema. Dass wir diese umsetzen müssen und sollen, das sollte selbstverständlich sein. Da sind wir auch schon dran. Für diese Legislaturperiode möchte ich auf folgende Gesetze hinweisen: einmal die Regelungen zur Barrierefreiheit für Internetseiten von öffentlichen Stellen – das war das erste Gesetz in dieser Legislaturperiode –, was dazu gleich einen Beitrag geleistet hat.
Darüber hinaus befinden wir uns im Moment in der Umsetzung der EU-Richtlinie über die Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen. Hier haben wir eine Umsetzungsfrist bis Mitte 2022. Wir befinden uns da in der Befassung, diese EU-Richtlinie umzusetzen.
Herr Pellmann hat auch die Wahlassistenz angesprochen. Gerade bei der Beseitigung von Wahlrechtsausschlüssen war es gerade uns als CDU/CSU-Fraktion ein wichtiges Anliegen, die Themen der Wahlassistenz noch mal zu konkretisieren, was wir in diesem Gesetz entsprechend getan haben.
({0})
Was ich in Ihrem Antrag allerdings nicht ganz verstehe – da bin ich ganz ehrlich –, ist, dass Sie bei dieser Gelegenheit auch die Regelungen in den Gesetzen abschaffen wollen, mit denen Missbrauch bei Wahlassistenz sanktioniert werden kann.
({1})
Die Selbstbestimmung eines jeden Menschen, auch mit Beeinträchtigung, wählen zu können, muss doch, gerade wenn Wahlassistenzen in Anspruch genommen werden, gewährleistet sein. Es muss gewährleistet sein, dass dies ordnungsgemäß und im Sinne der Menschen mit Beeinträchtigung erfolgt.
({2})
Deswegen sind Einschränkungen in der Form auch nötig.
Darüber hinaus haben Sie den ÖPNV angesprochen. Ja, beim ÖPNV, da gibt es noch einiges an Arbeit, ihn barrierefrei zu gestalten. Aber hier – das muss man auch sagen – passiert in den letzten Jahren eine Menge. Der ÖPNV – eigentlich Ländersache – wird aber vom Bund mit etwa 9 Milliarden Euro jährlich unterstützt. Das umfasst auch, barrierefreie Umbauten vorzunehmen.
Wenn ich meinen Wahlkreis nehme: Wir befinden uns gerade im Endstadium des Umbaus der Bahnhöfe und Bahnlinien mit entsprechenden barrierefreien Einrichtungen. Ich würde mir auch wünschen, dass das alles schneller vonstattengeht. Wir hätten uns in meinem Wahlkreis eigentlich gewünscht, dass diese Baumaßnahmen schon beendet sind. Das ist leider nicht der Fall; das verzögert sich. Aber wir sind auf dem Weg. Wenn es so ein ausgiebiges Streckennetz gibt, wie das hier in Deutschland der Fall ist, braucht das eben alles seine Zeit.
Wir sind – um noch einen Ihrer Anträge aufzunehmen – auch auf dem Weg, einen barrierefreien Notruf einzurichten. Was ich nicht so richtig verstanden habe, ist insbesondere die Schulung des Personals an Flughäfen. Da habe ich, ehrlich gesagt, den Eindruck, dass das doch relativ gut funktioniert; aber ich lasse mich da gerne eines Besseren belehren.
Abschließend will ich sagen, dass ich mir vorstellen könnte, dass wir gerade auch im Studium der Architektur den Schwerpunkt Barrierefreiheit noch stärker hervorheben und dass wir gerade auch die Digitalisierung noch mehr heranziehen, um die Barrierefreiheit umzusetzen.
Barrierefreiheit bleibt ein großes Thema. Wir wollen es umsetzen, wir werden es umsetzen, und wir sind dabei.
Herzlichen Dank.
({3})
Vielen Dank, Kollege Oellers. – Nächster Redner: für die AfD der Kollege Uwe Witt.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste des Hohen Hauses! Wir befinden uns im Jahre zwölf zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, und noch immer steht das Thema auf der Tagesordnung. Das allein ist für die Regierung schon ein Armutszeugnis – zwölf Jahre, in denen zwei GroKos und eine schwarz-gelbe Regierung es nicht geschafft haben, die Teilhabe für Menschen mit Behinderung gesetzlich so umzusetzen, dass diese Teilhabe auch menschenwürdig ermöglicht wird.
Fast alle Versuche seitens der Regierung, die Lebenssituation für Menschen mit Behinderung zu verbessern, sind mehr oder weniger gescheitert bzw. haben sogar zu Verschlechterungen für die Betroffenen geführt. Ich erinnere hier an die Verschlimmbesserungen in der Novellierung des Bundesteilhabegesetzes im vergangenen Herbst, die im Grundsatz sicherlich gut gemeint waren, aber in der Ausführung nicht nur von uns, sondern auch von den Sozialverbänden infrage gestellt werden.
({0})
Fraktionsübergreifend liegen uns allen hier die über 3 Millionen Menschen mit Behinderung am Herzen, und wir sollten alles Menschenmögliche auf den Weg bringen, um unseren Bürgern mit Behinderung das Leben zu erleichtern und soziale, berufliche sowie finanzielle Teilhabe zu ermöglichen. Allerdings können wir das nur im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten und im Rahmen der sozialen Marktwirtschaft tun. Das scheinen einige von Ihnen leider vergessen zu haben.
Und damit komme ich zu den zehn Anträgen der Fraktion Die Linke.
({1})
Liebe Kollegen der Linksfraktion, leben Sie noch immer im Sozialismus der DDR? Ich kann es nicht oft genug wiederholen. Träumen Sie immer noch von absoluter staatlicher Kontrolle? Anders kann ich mir Ihre Anträge wirklich nicht erklären. Sie wollen den jetzt schon langen Arm des Staates bis ins Privatrecht hinein verlängern und schaffen so wieder Verhältnisse, unter denen unsere Bürger in der DDR 40 Jahre gelitten haben.
({2})
Ihre Anträge verletzen den Grundsatz der Vertragsfreiheit und individuellen Entscheidungsfreiheit deutscher Unternehmer. Des Weiteren liefern Sie wieder einmal keine Aussage, wie die Finanzierung Ihrer utopischen Forderungen umgesetzt werden soll. Die AfD-Fraktion lehnt Ihre zehn Anträge ab.
({3})
– Eben.
Der Staat soll keine Zwänge ausüben, sondern muss als Vorbild voranschreiten. Wenn alle öffentlichen Institutionen endlich in allen Bereichen Barrierefreiheit vorleben, zieht die Privatwirtschaft auch automatisch nach.
Kommen wir zum Antrag der FDP-Fraktion. Ihre Forderung, den öffentlichen Personennahverkehr verbindlich zum 1. Januar 2022 barrierefrei auszubauen, unterstützen wir vollumfänglich. Noch immer ist die Situation für Menschen mit Behinderung, besonders für die, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind, sowohl in ländlichen Gebieten als auch in einigen Großstädten nicht zufriedenstellend. Die Deutsche Bahn ist schon auf dem richtigen Weg durch Umbaumaßnahmen auf ihren Bahnhöfen, um eine schrittweise Barrierefreiheit umzusetzen. Dennoch sollte auch die Deutsche Bahn ihre Bemühungen beschleunigen.
Doch wie sieht es abseits der Bahnlinien aus? Katastrophal! Tatsächlich gibt es auf vielen Buslinien auf dem Lande immer noch keinen Busbetrieb mit Niederflurbussen. Selbst moderne Großstädte wie zum Beispiel Hannover haben immer noch Straßenbahnlinien, die für Rollstuhlfahrer aufgrund mangelnder Hochbahngleise nicht nutzbar sind. Mobilität, einer der wichtigsten Eckpunkte für soziale und berufliche Teilhabe, ist damit für Rollstuhlfahrer immer noch nicht gewährleistet.
Werte Kolleginnen und Kollegen, die vollständige Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention ist längst überfällig und unseren Mitbürgern mit Behinderung geschuldet. Lassen Sie uns alle konstruktiv und zügig daran mitarbeiten, unser Vaterland auch für Menschen mit Behinderung lebenswert zu gestalten. Teilhabe darf nicht länger eine Floskel bleiben, sondern muss im Leben auch tatsächlich umgesetzt werden.
Vielen Dank.
({4})
Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Dr. Matthias Bartke.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren hier heute einen Antrag der FDP und zehn Anträge der Linken zum Menschenrecht auf Barrierefreiheit.
({0})
Der Grundgedanke der Linken ist: Viel hilft viel. – Sie zeigen mit Ihren Anträgen auf, dass Barrierefreiheit kein Thema nur für Menschen mit Behinderung ist, und das finde ich auch richtig.
({1})
– Klatschen Sie ruhig; das war das einzige Lob.
({2})
Was Sie aber selbstverständlich als Opposition nicht zeigen, sind die Dinge, die die Große Koalition schon macht – nicht wahr, Herr Pellmann?
Wir arbeiten für mehr Barrierefreiheit, und das schon seit vielen Jahren, zum Beispiel im Bereich des barrierefreien Bauens. Wir fördern mit Bundesmitteln den Neubau und Umbau von barrierefreien Wohnungen. Auf Drängen der SPD wurde 2014 das Zuschussprogramm „Altersgerecht Umbauen“ wieder neu aufgelegt. Hauseigentümer, Vermieter und Mieter erhalten auf Antrag bei der KfW einen Investitionszuschuss, zum Beispiel, wenn sie ebenerdige Duschen einbauen, Schwellen abbauen oder Türen verbreitern wollen.
Am wichtigsten ist aber die soziale Wohnraumförderung. Allein in dieser Wahlperiode wird der Bund 5,5 Milliarden Euro in sozialen Wohnungsbau investieren. Die SPD möchte diese Förderung weiter hochfahren und den Bau von barrierefreien Wohnungen noch stärker berücksichtigen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was passiert, wenn man die ganze Stadtentwicklung inklusiv denkt, kann man an der Wohnungsbaupolitik des SPD-geführten Hamburger Senats sehen. Es ist ja wahrscheinlich Ihnen allen bekannt, dass Hamburg das erfolgreichste Wohnungsbauprogramm in ganz Deutschland hat.
({3})
10 000 Wohnungen pro Jahr werden bei uns gebaut, und zwar im berühmten Hamburger Drittelmix: ein Drittel Eigentumswohnungen, ein Drittel Mietwohnungen und ein Drittel Sozialwohnungen.
({4})
Auf dem Gelände des Altonaer Bahnhofs in meinem Wahlkreis wird ein neues inklusives Quartier gebaut, die Mitte Altona. Aktuell sind es schon 1 600 Wohnungen. In jede Wohnung und in jedes Haus kommt man hier ohne Hürden. Die einzigartige Chance hier war, von Anfang an inklusiv zu planen. 250 Anwohner und künftige Bewohner wurden über Jahre in die Planung einbezogen. Sie haben einen speziellen Bordstein für Rollstuhlfahrer und Blinde entwickelt.
Es gibt Wohnungen, die auf die Bedürfnisse spezieller Behinderungen ausgerichtet sind, zum Beispiel Wohnungen speziell für Blinde. Eine Wohnung hat eine Schiene an der Decke, an der ein Lift geführt wird. Dieser Lift kann eine hochgradig körperbehinderte Bewohnerin ohne Assistenzperson vom Rollstuhl ins Bett transportieren. Auf der UN-Konferenz zur Zukunft der Städte in Ecuador wurde die Mitte Altona als Best-Practice-Modell für inklusive Stadtentwicklung ausgezeichnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Beispiel der Mitte Altona zeigt eines: Wenn man von vornherein barrierefrei plant, dann ist barrierefreies Bauen gar nicht viel aufwendiger und auch nicht viel teurer. Darum fordert die SPD, die guten Regeln des Behindertengleichstellungsgesetzes nicht mehr nur auf öffentliche Einrichtungen zu beschränken, sondern wir sollten sie künftig auch auf private ausweiten.
({5})
Ich danke Ihnen.
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Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Jens Beeck.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Kollege Pellmann, zehn Anträge zu zehn Jahren UN-Behindertenrechtskonvention, das hat Charme. Wir teilen viele der Aspekte, die Sie dort aufgeworfen haben. Das gilt insbesondere – Herr Kollege Oellers, das muss man immer wieder betonen – für das inklusive Wahlrecht, das Abgeordnete der FDP-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Regierungskoalition haben in Karlsruhe erstreiten müssen,
({0})
und das gilt insbesondere für die Barrierefreiheit im öffentlichen Personennahverkehr; da sind unsere Anträge ja relativ übereinstimmend.
Was läuft alles falsch, wenn in der viertgrößten Volkswirtschaft der Welt es beim Staatsunternehmen Deutsche Bahn nicht möglich ist, im Rollstuhl von Berlin nach Dresden zu fahren und sicher anzukommen? Was läuft falsch, wenn Mitarbeiter der Deutschen Bahn Reisenden mit Rollstuhl oder mit Kinderwagen in die Wagen helfen, dabei aber nicht versichert sind? Oder eben auch doch. Die Deutsche Bahn weiß es gerade nicht so genau, twittert das jedenfalls sehr unterschiedlich. Und aus welchem Grund gibt eigentlich die Deutsche Bahn, Herr Kollege Oellers, zwar sehr viel Geld aus, aber investiert unter anderem Hunderte Millionen Euro in eine Vielzahl von Doppelstockwagen, die innen so gut wie nicht barrierefrei sind, wo man zum Teil nicht einmal die Toilette im Rollstuhl erreichen kann. Das alles hat nichts mit Umsetzung von Barrierefreiheit zu tun, sondern geht in die falsche Richtung.
({1})
Die Freien Demokraten sprechen sich für barrierefreie Mobilität aus; das haben wir in unserem Antrag formuliert.
Mich – ich hoffe, genauso den Kollegen Aumer, den Kollegen Oellers und die Kollegin Lezius – schmerzt es besonders, wenn wir wissen, dass die unter Schwarz-Gelb im Jahr 2012 beschlossene Regelung, ab dem 1. Januar 2020 Barrierefreiheit vollständig hergestellt zu haben, in der Lebenswirklichkeit reine Illusion ist und wir das mit Sicherheit nicht erreichen werden. Das ist bizarr, und andere Länder lachen darüber, wie weit wir an dieser Stelle eben nicht gekommen sind. Das ist nicht hinnehmbar.
({2})
Aber, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von den Linken, das Antragssammelsurium geht an der Lebenswirklichkeit der Menschen im Moment vorbei. Mit dem Inkrafttreten der Stufe zum 1. Januar 2020 des Bundesteilhabegesetzes haben wir derzeit ganz andere Sorgen. Es wurden so viele Fragen aufgeworfen, dass viele der Betroffenen das Bundesteilhabegesetz liebevoll „Bundestelefonhörergesetz“ nennen; denn so viele ungeklärte Fragen haben einen Riesenverwaltungsaufwand hervorgerufen.
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Die wirklichen Fragen, die sich derzeit stellen, steuerrechtliche Vorschriften und ein Urteil des Bundesfinanzhofs, die die Inklusionsfirmen an den Rand ihrer Existenzfähigkeit bringen, sind gar nicht adressiert. Die komplizierten Regeln des Bundesteilhabegesetzes, die an der Lebenswirklichkeit vorbeigehen, schaffen Riesenprobleme. Allein hier in Berlin-Pankow sollen über 300 ehrenamtliche Betreuerinnen und Betreuer ihre Betreuungstätigkeit aufgegeben haben – hauptberuflicher Ersatz ist kaum zu finden –, weil die Bundesregierung auch die Betreuerinnen und Betreuer in dieser komplizierten Lage alleinlässt. Erste Sozialämter fordern vor dem Hintergrund der aktuellen Rechtslage von Betreuern Abwesenheitsnachweise, wenn die Betreuten nicht in der Einrichtung sind. Und bis zu 50 000 Seiten Verträge sind neu ausgedruckt worden in einer mittleren Einrichtung mit 500 Bewohnern, um die neuen Vorschriften abzudecken. Das alles ist ein Bürokratiewahnsinn, der den Menschen wenig bringt und der teilweise sogar zu Verschlechterungen geführt hat.
Kümmern wir uns um das –
Herr Kollege.
– Herr Präsident, ich komme zum Ende –, was die Menschen derzeit wirklich bewegt! Setzen wir in der Lebenswirklichkeit durch, was in den Gesetzen steht! Dafür streiten die Freien Demokraten.
Allerletzter Satz: Herr Kollege Dr. Bartke, im Sinne eines Miteinanders herzlichen Glückwunsch zu Ihrem heutigen Geburtstag! Feiern Sie schön! Ab morgen fangen Sie bitte an zu arbeiten.
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Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort die Kollegin Corinna Rüffer.
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Liebe Demokratinnen und Demokraten! Sehr geehrter Präsident! Herzlichen Glückwunsch, Herr Bartke! Tja, drei Minuten, da bleibt mir keine Zeit, zehn Anträge zu behandeln. Ich will mich konzentrieren, und zwar auf das Thema „schulische Inklusion“. „… eine Schulzeit, die … geprägt war von … identitätsschädigenden Stigmatisierungen.“ Gefolgt von „massiver Benachteiligung bei Ausbildung und Arbeit, von prekären Lebensverhältnissen sowie langer Arbeitslosigkeit“. Das ist die Lebensrealität vieler, die den Bildungskeller, genannt „Sonderschule für Lernbehinderte“,
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besucht haben. – Sie gucken ein bisschen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Diese Sätze sind – Sie haben es wahrscheinlich erahnt – nicht von mir; sie sind von Professorin Dr. Rita Süssmuth, im Geleitwort einer Studie formuliert, in der eben auch Schülerinnen und Schüler einer Förderschule damals zu Wort gekommen sind. Ich muss Ihnen sagen: Frau Rita Süssmuth hat recht.
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Die Schülerinnen und Schüler an der Förderschule sind sich über ihre Situation sehr klar. Wenn man diese Studie liest, dann findet man viele Zitate dieser Art: „Auf einer Sonderschule wirst du nicht richtig gefördert.“, „Ist halt auch schwierig, dann nachher im Arbeitsmarkt weiterzukommen.“.
Die Betroffenen fangen heute an, sich zu wehren. Ich bin mir sicher, dass einige von Ihnen den Namen Nenad Mihailovic gehört haben. Nenad Mihailovic aus Nordrhein-Westfalen ist heute ein junger Mann, der elf Jahre lang dagegen gekämpft hat, auf eine Förderschule gehen zu müssen. Er hat sich wie „im Gefängnis“ gefühlt – das ist ein Zitat von ihm –, wollte an eine Regelschule wechseln und dort seinen Abschluss machen. Erst mit Unterstützung eines Vereins in Nordrhein-Westfalen hat er – vor ungefähr anderthalb Jahren war das – vor einem Gericht recht bekommen, und es wurde ihm eine Entschädigung zugesprochen, weil er auf eine Förderschule gehen musste. Er hat elf Jahre lang dafür gekämpft, die Förderschule endlich verlassen zu dürfen. Er musste vor Gericht gehen, um Recht zu bekommen.
Fast elf Jahre ist die UN-Behindertenrechtskonvention geltendes Recht in Deutschland. Trotzdem haben Förderschülerinnen und Förderschüler kaum eine Chance, haben kaum Lebensperspektiven. Es ist doch so, werden Sie entgegnen: Es gibt heute immer mehr Kinder mit Förderungsbedarf, die an Regelschulen gehen. – Aber zur Wahrheit gehört eben auch, dass die Zahl von Kindern auf Förderschulen faktisch stabil bleibt. Der Grund dafür, dass die Zahl stabil bleibt, liegt darin, dass immer mehr Kinder begutachtet werden. Die Zahl der Begutachtungen hat von 2009 bis 2017 um 20 Prozent zugenommen. Das heißt, wir haben immer mehr Förderkinder in dieser Republik. Da müssen wir doch alle gemeinsam aufhorchen.
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Es stimmt, Bildung ist Ländersache. Aber der Bund kann sich hier nicht aus der Verantwortung ziehen, er darf sich keinen schlanken Fuß machen. Ob ich auf eine Förderschule gehen muss oder nicht, hängt nämlich davon ab, wo ich wohne als Kind. Der zuständige Fachausschuss damals in Genf, der für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention verantwortlich ist – geltendes Recht in Deutschland –, hat uns vor langer Zeit gesagt: Wir müssen umgehend eine Strategie, einen Aktionsplan, einen Zeitplan, Zielvorgaben entwickeln, damit diese Situation endlich ein Ende hat.
Frau Kollegin, die Zeit.
Ich komme zum Ende. – Wir müssen handeln. Aber wir tun es bis heute nicht. Wir verbauen Kindern und Jugendlichen damit Tag für Tag für Tag für Tag Chancen und Perspektiven in ihrem Leben. Und das ist eine Schande. Daran müssen wir endlich etwas ändern.
Herzlichen Dank und guten Abend.
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Die Kollegin Antje Lezius, CDU/CSU-Fraktion, hat als Nächste das Wort.
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Sehr geehrter Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor zwei Tagen hat Jürgen Dusel, Behindertenbeauftragter der Bundesregierung, die Leser einer Berliner Tageszeitung zu einem gedanklichen Experiment aufgefordert: Versuchen Sie, blind zur Arbeit oder ins Museum zu kommen. – Bereits nach wenigen Zeilen, nach wenigen Metern, die uns Jürgen Dusel mitnimmt, tauchen eine ganze Reihe von Hindernissen auf, die es zu bewältigen gilt. Hindernisse, die für Mitbürger mit körperlichen und geistigen Einschränkungen, für ältere Menschen oder Familien mit Kindern Barrieren für eine gleichberechtigte Teilhabe an unserer Gesellschaft darstellen. Barrieren, denen wir nicht auf dem Weg zur Arbeit begegnen. Barrieren, die wir so gut wie möglich abbauen müssen.
Am 30. März 2007 hat Deutschland das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen unterzeichnet. Als erster internationaler Vertrag konkretisiert die UN-Behindertenrechtskonvention universelle Menschenrechte für Menschen mit Behinderungen. Sie hat zum Ziel, ihre Chancengleichheit in der Gesellschaft zu fördern. Für die Erfüllung dieses Ziels ist die Beseitigung von Barrieren – aller Art von Barrieren – unerlässlich.
Doch was bedeutet Barrierefreiheit? Nach dem Gesetz sind etwa Gebäude, Verkehrsmittel, Systeme barrierefrei, wenn sie für Menschen mit Behinderungen ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind. Mit anderen Worten: Barrierefreiheit ermöglicht ein selbstständiges Leben. Es ermöglicht Teilhabe.
In diesem Sinne freue ich mich, dass das Thema übergreifend einen so großen Stellenwert einnimmt, auch hier im Bundestag. Einige Forderungen, die wir in den vorliegenden insgesamt elf Anträgen nachlesen können, sind nicht realisierbar, andere selbstverständlich. An ihrer Umsetzung wird gearbeitet.
In der vergangenen und der laufenden Legislaturperiode sind Investitionen in den Ausbau der Barrierefreiheit im öffentlichen Raum und allen Bereichen des Alltags festgelegt worden. Einige Beispiele: 330 Millionen Euro sind für das Zukunftsinvestitionsprogramm Barrierefreiheit bereitgestellt worden. In der Pflegeversicherung gibt es Förderungen für den barrierefreien Umbau von Wohnungen. Auch die Kommunen werden beim Thema Barrierefreiheit durch die KfW-Förderbank unterstützt. Viel eher als an fehlenden Mitteln – oder einem fehlenden Willen – scheitern Maßnahmen heute an baulichen Machbarkeiten.
Auch in anderen Bereichen hat es in den letzten Jahren Verbesserungen gegeben, vor allem durch das Bundesteilhabegesetz und den zugehörigen Instrumenten. Hervorzuheben ist hier auch das Budget für Arbeit und Ausbildung.
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Neben den bereits beschlossenen und zukünftigen konkreten Maßnahmen ist vor allem wichtig, dass das Umdenken in den Köpfen weitergeht. Wir müssen erreichen, dass Barrierefreiheit wie selbstverständlich mitgedacht wird,
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auch ohne in jedem einzelnen Bereich alles bis ins kleinste Detail vorzugeben. Wir müssen – jetzt nehme ich wieder Bezug auf Jürgen Dusel – diejenigen in die Planungsprozesse einbinden, die den Bedarf nicht nur theoretisch sehen. Wir müssen Barrierefreiheit auch als Qualitätssiegel für ein gutes Leben und gute Infrastruktur, als Standortvorteil sehen. Bis dahin gibt es noch viel zu tun – das gebe ich zu –; aber wir sind auf einem guten Weg.
Danke schön.
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Vielen Dank. – Die Kollegin Angelika Glöckner hat das Wort für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für ein Leben ohne Barrieren – darüber debattieren wir heute. Ich denke, das ist ein sehr aktuelles und wichtiges Thema; und dafür gibt es drei gute Gründe: Erstens. Die UN-Behindertenrechtskonvention – das wurde schon mehrfach gesagt – wurde vor mehr als zehn Jahren angenommen und verpflichtet uns zur Inklusion. Zweitens. Die Inklusion ist aber nur möglich, wenn es gelingt, Barrieren abzubauen. Und drittens. Für uns, für die SPD, ist klar, dass wir damit noch nicht am Ziel sind. Es ist ein stetiger Prozess. Auch Sie, Kolleginnen und Kollegen von der FDP und von den Linken, wollten dies mit Ihren Anträgen wahrscheinlich auch zum Ausdruck bringen. Insoweit besteht kein Dissens.
Gleichwohl will ich aber auch ganz deutlich darauf hinweisen, dass wir viel für mehr Barrierefreiheit getan haben. Das Bundesteilhabegesetz – es wurde mehrfach genannt; und ja, so ist es auch – bedeutet mehr selbstbestimmte Lebensführung für Menschen mit Behinderungen. Das geht auch einher mit einem Mehr an Selbstverantwortung. Und natürlich, Herr Beeck, ist das ein Prozess, der sich einüben muss. Sie kritisieren das sehr stark. Aber ganz ehrlich: Wenn wir nie den Mut aufbringen, Prozesse zu verändern, werden wir nie zu etwas Neuem kommen und immer da bleiben, wo wir herkommen.
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Wir haben mit der Novelle des Behindertengleichstellungsgesetzes Behörden und Institutionen verpflichtet, digitale Angebote barrierefreier zu gestalten. Wir haben mit der Umsetzung der Marrakesch-Richtlinie darauf hingewirkt, dass der Zugang zu Literatur für blinde und sehbehinderte Menschen wesentlich vereinfacht wurde. Wir haben mit der Beendigung des Wahlrechtsausschlusses von Menschen mit Behinderungen darauf hingewirkt, dass diese Menschen endlich ihr Wahlrecht ausüben können.
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Wir als SPD haben schon lange darauf hingearbeitet und uns dafür eingesetzt. Und wir haben mit den Budgets für Ausbildung und Arbeit Menschen mit Behinderungen auch außerhalb von Werkstätten Perspektiven auf dem ersten Arbeitsmarkt gegeben: Entfristungen, Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung. Ich könnte noch viele Beispiele aufführen, die alle zu mehr Barrierefreiheit geführt haben.
Es geht aber doch darum – das ist uns als SPD ganz besonders wichtig –, dass wir die individuellen Bedürfnisse von Menschen bei unserer Gesetzgebung in den Mittelpunkt stellen, dass der Mensch im Mittelpunkt steht, dass wir passende Unterstützungsangebote finden. Das ist doch ganz wichtig, dass wir diesen Weg gehen, und ein entscheidendes Merkmal, wenn wir über neue Gesetze reden. In diesem Sinne wollen wir als SPD Schritt für Schritt Barrieren für Menschen mit Behinderungen weiter abbauen. Dabei haben wir natürlich im Blick, dass es um ganz viele Bereiche geht. Wir haben vieles bewirkt, und wir wollen auf diesem Weg weitergehen.
Leider ist meine Redezeit zu Ende. Ich kann nur sagen: Die Linken wollen wieder ein buntes Sammelsurium. Sie haben wie immer nicht auf die Kostenaspekte, auf die Finanzaspekte geachtet. Sie kommen inhaltlich aber auch nicht über das hinaus, was wir die ganze Zeit schon umzusetzen versuchen bzw. umgesetzt haben.
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Das ist ebenso bei der FDP der Fall.
Frau Kollegin.
Insofern bringen uns Ihre Anträge nicht weiter. Ich sehe meine Fraktion, die SPD, auf einem guten Weg. In diesem Sinne wollen wir fortfahren. Wir werden Ihre Anträge ablehnen.
Vielen Dank.
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Die letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt: die Kollegin Dr. Astrid Freudenstein, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Rüffer, Ihre Ausführungen zu den Förderschulen haben mir gerade in der Seele wehgetan. Ich weiß nicht, welche Schulen Sie sich schon angeschaut haben. Ich habe mir eine ganze Reihe angeschaut, und ich war eigentlich immer beeindruckt von der großen pädagogischen Leidenschaft, mit der Lehrer dort mit den Kindern mit Behinderungen umgehen.
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Ich habe auch Eltern kennengelernt, die diese Entscheidung sehr bewusst getroffen haben.
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Es werden an diesen Schulen auch Abschlüsse abgelegt. Es gibt an diesen Schulen vieles, was ich mir für Regelschulen wünschen würde: individualisierte Lehrpläne, individuelle Betreuung. Ich glaube, wir dürfen unsere Förderschulen nicht in Grund und Boden reden. Es gibt Kinder mit schweren und schwersten Behinderungen, die dort optimal gefördert und betreut werden.
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Wir beraten heute zehn Anträge der Linken und einen der FDP. Daran sieht man schon: Es gibt sehr viel zu tun bei diesem Thema. Barrierefreiheit betrifft freilich viele Politikbereiche, viele politische Ebenen. Deswegen lässt sich Barrierefreiheit auch nicht von oben nach unten verordnen.
Es ist richtig: Die UN-Behindertenrechtskonvention ist seit fast elf Jahren hier in Deutschland in Kraft.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Momentan nein. Nein, bitte nicht.
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Unsere Infrastruktur ist aber deutlich älter. Es wurde schon öfter erwähnt: Unsere Bahnhöfe sind gut und gerne 100 Jahre alt. Wir haben durchaus auch mittelalterliche Altstädte; ich stamme aus einer solchen. Die Altstadt von Regensburg
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ist 800 bis 900 Jahre alt. Sie ist Weltkulturerbe der Menschheit geworden, weil sie die am besten erhaltene mittelalterliche Großstadt ist. Dort gibt es allein 1 000 Einzeldenkmäler, die allesamt nicht barrierefrei sind und auch nicht ohne Weiteres barrierefrei gemacht werden können, weil die Treppenhäuser so eng sind, dass der Einbau eines Aufzuges schlichtweg unmöglich ist. Es werden in Regensburg auch andere Zugeständnisse gemacht: Es gibt dort zum Beispiel auch keine Photovoltaikanlagen.
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Es gibt durchaus Bereiche in unserem öffentlichen Dasein, die nicht so mir nichts, dir nichts barrierefrei gemacht werden können. Das soll keine Ausrede sein. Aber ich werbe für Verständnis, dass wir mit der Barrierefreiheit in einigen Bereichen noch nicht weiter sind.
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Wir müssen natürlich mehr Mittel in die Hand nehmen, um Barrieren abzubauen. Die Barrieren bestehen natürlich in der Umwelt. Nicht der Mensch hat die Behinderung, sondern die Umwelt stellt Behinderung dem Menschen in den Weg.
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Deswegen müssen wir beim Abbau der Barrieren natürlich besser werden. Es liegt aber, wie gesagt, nicht immer nur am mangelnden Willen der Menschen oder der Hausbesitzer, sondern auch an gewachsenen Strukturen, die uns durchaus auch wichtig sind.
Ich glaube, wir dürfen auch darauf hinweisen, dass durchaus etwas passiert. Der Bund hat mit der Bahn eine neue Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung abgeschlossen. Bis 2030 sollen immerhin 86 Milliarden Euro in die Modernisierung des bestehenden Schienennetzes fließen. Damit werden auch Bahnhöfe erneuert.
Bis es die Ideallösungen gibt, werbe ich für Zwischenlösungen, die zumindest in Teilen Barrierefreiheit herstellen. Denn Barrierefreiheit hilft natürlich nicht nur Menschen mit Behinderung, sondern auch alten Menschen, jedem, der sich das Bein gebrochen hat, auch jedem, der mit Kinderwagen unterwegs ist. Die leichte Sprache hilft uns allen, bestimmte Formulare zu verstehen. Deswegen, meine ich, kommen wir am besten miteinander und nicht gegeneinander voran.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Ich schließe die Aussprache.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im März letzten Jahres hat das Oberverwaltungsgericht Münster einer Klage jemenitischer Drohnenopfer teilweise stattgegeben und Folgendes entschieden: Die bisherige Annahme der Bundesregierung, es bestünden keine Anhaltspunkte für Verstöße der USA bei ihren Aktivitäten in Deutschland gegen deutsches Recht oder Völkerrecht, beruhe auf einer unzureichenden Tatsachenermittlung und sei rechtlich nicht tragfähig. Es sei offenkundig – und damit auch der Bundesregierung bekannt –, dass die USA unter Verwendung der Air Base Ramstein bewaffnete Drohneneinsätze durchführten, so das Oberverwaltungsgericht. Und: Die Frage, ob das Völkerrecht bewaffnete Drohneneinsätze zulasse, sei keine politische, sondern eine Rechtsfrage. – Die Bundesregierung wurde deshalb dazu verurteilt, sich zu vergewissern, dass in Ramstein kein Recht verletzt wird, und auf dessen Einhaltung gegenüber den USA hinzuwirken. Die Bundesregierung darf sich also nicht damit zufriedengeben, dass die Amerikaner die konkreten Fragen nicht beantworten und schlicht behaupten, sie würden sich an Recht und Gesetz halten.
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Auch dass in Ramstein weder Drohnen noch Drohnenpiloten stationiert sind, ist längst bekannt und beantwortet die Fragen nicht. Auf Rat der Pentagon-Juristen wurde gleich zu Beginn des Drohnenkrieges entschieden, die Drohnenpiloten nicht direkt in Ramstein zu stationieren und sie stattdessen durch ein Glasfaserkabel zu verbinden. Und so hat man Ramstein als zentrale Relaisstation ausgebaut, ohne die keine Echtzeitbilder aus dem Nahen und Mittleren Osten an die Piloten in den USA geliefert werden können. Seit einiger Zeit sucht man sogar nach einem Alternativstandort in Italien, um die hohe Abhängigkeit von Ramstein zu verringern.
Der Zeuge im NSA-Untersuchungsausschuss, der Drohnenpilot Brandon Bryant, hat bestätigt, dass sämtlicher Datenverkehr zwischen den Drohnen und ihren Piloten über Ramstein abgewickelt wird. Ohne diese Relaisstation gäbe es keine US-Drohneneinsätze, weder im Jemen noch in Somalia, in Pakistan oder im Irak. Nehmen Sie doch endlich die Fakten zur Kenntnis!
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Der Zeuge Bryant hat als Drohnenpilot im Übrigen auch für das Joint Special Operations Command, kurz JSOC, gearbeitet, also genau die Einheit, die jetzt die Tötung des iranischen Generals Soleimani durchgeführt hat. Und rechtswidrig ist nicht nur die Tötung von unschuldigen Zivilisten, sondern auch die völkerrechtswidrige Tötung von Repräsentanten ausländischer Staaten, unabhängig davon, welche Verbrechen man ihnen zur Last legt und wie unsympathisch sie einem sein mögen.
Am 3. Januar wurden in Bagdad insgesamt zehn Menschen, darunter Soleimani, mittels einer bewaffneten Drohne, einer sogenannten Reaper, getötet. Nach Angaben der amerikanischen Behörden war dieser Schlag explizit gegen den iranischen Staat gerichtet. Ich habe hierzulande noch keine juristische Stimme vernommen, die diesen Angriff nicht als klar völkerrechtswidrig bewertet.
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So auch der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages und das OVG Münster – ich zitiere einen der Leitsätze –:
Ein Recht auf präventive bzw. „präemptive“ Selbstverteidigung auch in Situationen, in denen noch keine unmittelbare Gefahr … besteht, sondern „über Zeit und Ort des feindlichen Angriffs Ungewissheit herrscht“, findet im geltenden Völkerrecht keine Grundlage.
Der rechtswidrige Anschlag unter Nutzung der Infrastruktur in Deutschland ist außerdem ein Fall für die deutsche Staatsanwaltschaft. Erste Strafanzeigen liegen bereits vor.
Selbst wenn die Drohnenpiloten entgegen der üblichen Praxis in diesem Fall in der Region selbst stationiert gewesen wären, muss die Rolle von Ramstein restlos aufgeklärt werden. Die Schutzpflicht der Bundesregierung gilt nämlich nicht nur für die Opfer bewaffneter Drohneneinsätze, sondern auch für die Staatsbürger im eigenen Land. Durch einen Militärschlag auf den iranischen Staat wurde Ramstein zu einem legitimen militärischen Angriffsziel in der Auseinandersetzung zwischen den USA und dem Iran. Die Bundesregierung kann und darf sich nicht länger mit Nichtwissen begnügen.
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Sie hat zu wissen – das ist ihre Pflicht –, und was sie nicht weiß, muss sie ermitteln. Das tosende Schweigen gegenüber dem Bündnispartner hilft niemandem, uns nicht, dem Weltfrieden nicht und auch nicht unseren amerikanischen Freundinnen und Freunden. Reden Sie endlich Klartext mit unserem Bündnispartner! Wegducken macht alles schlimmer.
Vielen Dank.
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Der nächste Redner: der Kollege Dr. Andreas Nick, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir befassen uns heute in dieser Debatte mit zwei Anträgen aus der Opposition mit durchaus unterschiedlicher Stoßrichtung. Die Linkspartei fordert schlichtweg pauschal die Schließung der US-Air Base in Ramstein.
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Dem will ich in aller Deutlichkeit widersprechen. Die US-Streitkräfte am Flughafen Ramstein und im Militärhospital Landstuhl sind in meiner Heimat Rheinland-Pfalz selbstverständlich auch künftig herzlich willkommen.
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Die amerikanische Community hat mit über 52 000 Menschen in der Region in und um Kaiserslautern eine lange Tradition und wichtige Bedeutung. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, den amerikanischen Soldaten und ihren Familien ausdrücklich zu danken, die hier fern der Heimat ihren Dienst auch für unsere Sicherheit leisten.
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Die Präsenz der US-amerikanischen Streitkräfte in Deutschland dient nicht nur dem Schutz deutscher und europäischer Sicherheitsinteressen. Ramstein ist auch zentrale Drehscheibe für die weltumspannenden Aktivitäten der US-Streitkräfte, nicht zuletzt in Verbindung mit dem Landstuhl Regional Medical Center für die medizinische Versorgung verwundeter Soldaten.
Was wäre denn die Konsequenz aus Ihrer pauschalen Forderung der Schließung der Air Base? Eine Verlagerung etwa nach Osteuropa, wie gelegentlich auch anderswo diskutiert, läge doch keineswegs im deutschen Interesse. Für derart abwegige Überlegungen sollten aus diesem Haus nicht auch noch die Stichworte geliefert werden.
Der Antrag der Grünen konzentriert sich hingegen vorrangig auf die Rolle der Relaisstation zur Signalübertragung von unbemannten Luftfahrzeugen in Ramstein. Im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD haben wir sehr deutlich gemacht: Völkerrechtswidrige Tötungen, auch durch Drohneneinsätze, lehnen wir kategorisch ab.
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So glasklar völkerrechtswidrig, wie Sie den Einsatz bewaffneter Drohnen in Ihrem Antrag sehr allgemein darstellen, ist er aber nicht in jedem Fall. Eine militärische Gewaltanwendung durch bewaffnete unbemannte Luftfahrzeuge ist völkerrechtlich durchaus zulässig, etwa wenn sie im Rahmen eines bewaffneten Konflikts verhältnismäßig und mit der Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten erfolgt.
Natürlich ist die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten in den heute vorherrschenden asymmetrischen Konfliktkonstellationen zunehmend komplexer und daher möglicherweise Gegenstand kontroverser Beurteilungen. Die geltende stationierungsrechtliche Grundlage hierzulande macht jedoch für alle Einsatzszenarien sehr klar: Die Vereinigten Staaten sind verpflichtet, auf ihren Stützpunkten in Deutschland deutsches Recht und Völkerrecht einzuhalten. Dies hat die Bundesregierung in den vergangenen Jahren immer wieder betont, und dies haben die Vereinigten Staaten der Bundesregierung auch immer wieder zugesichert. Diese Zusicherung schließt auch ein, dass unbemannte Luftfahrzeuge von Ramstein aus weder gestartet noch gesteuert werden.
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Dazu steht die Bundesregierung mit unserem Bündnispartner in einem stetigen, engen und vertrauensvollen Dialog.
Das OVG Münster, auf dessen Urteil, das übrigens noch nicht rechtskräftig ist, Sie sich beziehen,
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hat in seinem Urteil vom 19. März 2019 mit Blick auf die Erfüllung der Schutzpflicht der Bundesregierung ausdrücklich deutlich gemacht, dass es dieser obliegt – Zitat –, „im internationalen Verkehr mit dem Bündnispartner, den Vereinigten Staaten von Amerika, der ebenfalls dem Völkerrecht und den internationalen Menschenrechten sowie dem humanitären Völkerrecht verpflichtet ist, in einer Weise vorzugehen, die die Bündnisfähigkeit Deutschlands nicht gefährdet“. O-Ton OVG Münster, auf das Sie sich beziehen.
Meine Damen und Herren, die Westbindung und die NATO-Mitgliedschaft sind Grundpfeiler deutscher Sicherheitspolitik. Wir setzen auch weiterhin auf das Bündnis mit den Vereinigten Staaten, auch verbunden mit der Stationierung amerikanischer Soldaten hier bei uns in Deutschland.
Vielen Dank.
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Für die AfD-Fraktion hat das Wort der Kollege Petr Bystron.
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Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir befassen uns heute mit zwei Anträgen: mit einem Antrag von den Linken zur Schließung von Ramstein und mit einem Antrag von den Grünen, die Nutzung des Stützpunktes für völkerrechtswidrige Tötungen zu verbieten. Das ist natürlich raffiniert. Wer will schon völkerrechtswidrige Tötungen? Natürlich niemand. Den Abzug aller fremder Truppen aus Deutschland hat die AfD sogar im Grundsatzprogramm, aber nicht aus blindem Amerikahass, sondern weil wir uns ein freies, souveränes Deutschland wünschen.
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Liebe Grüne, seien Sie mir nicht böse, aber es ist pure Heuchelei, dass gerade Sie einen solchen Antrag vorlegen. Sie haben etwas gegen völkerrechtswidrige Tötungen? Wer war denn der Außenminister, der Deutschland in den ersten Kriegseinsatz nach dem Zweiten Weltkrieg getrieben hat? Das war Ihr Kumpel Joschka – mit Verlaub, Herr Präsident –, das Arschloch Fischer, der war das.
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Herr Kollege, das geht so nicht.
Das war ein Zitat von Joschka Fischer. Das wissen Sie ja selbst.
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Damals wurde nicht ein islamistischer Terrorist umgebracht; das war keine gezielte Tötung. Damals wurden flächendeckend serbische Städte bombardiert. Es wurden über 3 500 Menschen umgebracht, die meisten davon Zivilisten. Das war ein völkerrechtswidriger Krieg, und für den waren Sie mitverantwortlich.
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Heute legen Sie Anträge vor, nachdem die Amerikaner einen Terroristen gezielt getötet haben, der Unterstützer der Hisbollah im Libanon, der Hamas im Gazastreifen, der Taliban in Afghanistan war und der Zigtausende Menschen in Syrien auf dem Gewissen hat. Die EU führte ihn als Terroristen. In Israel wurde er der gefährlichste Feind Israels genannt. Und seine Milizen sind nicht nur die Exporteure des Terrors im nahen Ausland, sie sind die wichtigste Stütze des Mullah-Regimes im Iran.
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– Ja, mit dem Sie und Ihre Kollegin Claudia Roth sich so gerne treffen und fotografieren lassen. Das ist das Regime, dem die Kollegen von der SPD zu 40 Jahren Revolution und Terror gratulieren.
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Liebe Freunde, diese Milizen haben gerade letzten Herbst 1 500 Menschen im Iran erschossen, nur weil die Menschen auf die Straße gegangen sind, um gegen das Regime zu demonstrieren.
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Ich sage Ihnen eines: Anstatt diesen Tyrannen zu hofieren – gerade Sie, lieber Kollege Nouripour –, sollten Sie schauen, dass Sie den Menschen im Iran helfen.
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Diese Menschen haben in uns alle, auch in Sie, große Hoffnungen gesetzt. Ich habe sie auf Twitter gefragt, was sie Ihnen ausrichten möchten.
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Ich möchte Ihnen nur vier Tweets von Tausenden Tweets vorlesen: Ich bin Bergarbeiter im Iran. Wir Iraner alleine können das Regime nicht stürzen. Bitte helfen Sie uns! – Stoppen Sie die Unterstützung des Mullah-Regimes! Helfen Sie den Menschen bei den Protesten und bei den landesweiten Demonstrationen!
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Ein weiterer Tweet: Wer mit dem iranischen Regime verhandelt, hat Blut an den Händen! ‑s_abjari sagt: Wir wollen freie Meinungsäußerung, wir wollen Religionsfreiheit, wir wollen keine Pressezensur. Lassen Sie das Volk das Regime stürzen! Hört auf, die Diktatoren zu unterstützen!
Das, liebe Freunde, ist das Gebot der Stunde: an der Seite der Amerikaner dem iranischen Volk zu helfen und den Menschen dort nicht mit juristischen Spitzfindigkeiten in den Rücken zu fallen.
Danke schön.
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Herr Kollege Bystron, wenn Sie hier schon das Wort „Arschloch“ verwenden, können Sie bitte noch mal klarstellen, dass Sie damit nicht den früheren Außenminister bezeichnet haben?
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– Sie wollen also den früheren Außenminister als „Arschloch“ bezeichnen? Dann erteile ich Ihnen einen Ordnungsruf.
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Der Kollege Dr. Karl-Heinz Brunner hat als Nächstes das Wort für die SPD-Fraktion.
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Sehr verehrter Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren auf den noch spärlich besetzten Plätzen der Tribünen! Wäre dieses Thema nicht so ernst, würde ich sagen: Nach einer halben Stunde Vorprogramm und längerem Verweilen würde ich lieber einem Konzert von Rammstein zuhören, als dieses Schmierentheater mitanhören zu müssen. Es ist peinlich, in diesem Hause so zu argumentieren.
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Peinlich, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, ist es schon allein deshalb, weil die Lage im Mittleren und Nahen Osten so ernst, so bedrohlich nicht nur für den Mittleren und Nahen Osten, sondern auch für uns in der Bundesrepublik Deutschland mitten in Europa ist. Das macht es erforderlich, kluge, weitsichtige, planvolle und zurückhaltende Politik zu betreiben.
Ich gebe zu, verehrte Kolleginnen und Kollegen, dass ich bei der Betrachtung der Politik unseres verbündeten Präsidenten Donald Trump weder das Attribut „planvoll“ noch das Attribut „zurückhaltend“ noch das Attribut „weitsichtig“ und schon gar nicht das Attribut „klug“ sehe in dem Vorgehen, das wir mit dem Drohnenangriff im Irak gegen einen iranischen Staatsmann erlebt haben. Dies ist eine Tatsache, und diese hat man unter Freunden auszusprechen.
Aber jetzt sofort in einen Empörungsmechanismus abzugleiten, in diesem Empörungsmechanismus das Schließen der Basis Ramstein in der Bundesrepublik Deutschland, im schönen Rheinland-Pfalz zu fordern – übrigens mit der Folge, dass Tausende von Menschen und Familien damit ihrer Existenz beraubt würden –, die sofortige Schließung der Relaisstation zu fordern, sich auf ein Urteil des Oberverwaltungsgerichtes Münster zu beziehen und dieses Hohe Haus und die Öffentlichkeit so in Kenntnis zu setzen, als ob dieses Urteil schon rechtskräftig wäre, finde ich ein bisschen dreist.
Wer das Urteil gelesen hat, weiß, dass in der Begründung des Gerichts steht: Wegen der Grundsätzlichkeit der Bedeutung dieser Frage wird die Revision zum Bundesverwaltungsgericht zugelassen. – Diese Revision ist eingelegt. Diese Revision ist zulässig eingelegt, und wir sollten zuerst mal das Bundesverwaltungsgericht entscheiden lassen und diese rechtskräftige Entscheidung abwarten. Dann können wir hier darüber diskutieren, ob wir diese rechtskräftige Entscheidung politisch für richtig erachten oder politisch für nicht richtig erachten. Ich persönlich habe immer die Auffassung vertreten: Recht ist nicht unbedingt eine Frage der Gerechtigkeit, sondern Recht ist von uns als Teil dieser Gewaltenteilung auch zu akzeptieren.
Deshalb ist es fair und richtig, sich auf die Fakten zu berufen.
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Was ist Ramstein? Ramstein ist eine Basis in Rheinland-Pfalz aufgrund des NATO-Truppenstatuts; darin gibt es diesen sogenannten Absatz 2. Die Bundesrepublik Deutschland hat bisher in ständiger Regelmäßigkeit zu Recht und richtigerweise die Einhaltung völkerrechtlicher Regeln verlangt. Dieses NATO-Truppenstatut besagt auch, dass die Vereinigten Staaten von Amerika sich an diesem Standort unbedingt den Gesetzen der Bundesrepublik Deutschland zu unterwerfen haben.
Nun haben wir uns – der Kollege der Union hat es deutlich ausgeführt – in dem Koalitionsvertrag für das Verbot und die Ächtung von extralegalen Tötungen ausdrücklich ausgesprochen, was qua unserer Entscheidung nicht nur Wiedergabe des Völkerrechts ist, sondern unserer politischen und rechtlichen Vorgabe entspricht. Solange – dieser Grundsatz gilt in der Bundesrepublik Deutschland – nicht das Gegenteil als solches bewiesen ist, glaube ich, ist es notwendig, dass wir uns nach 75 Jahren Freiheit, guter Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten von Amerika und guter Zusammenarbeit in der Sicherheitspolitik nicht wegen einzelner unkluger Entscheidungen eines für eine bestimmte Legislatur gewählten Präsidenten der Vereinigten Staaten von dieser guten vertrauensvollen Zusammenarbeit verabschieden sollten.
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Ich glaube vielmehr, dass es notwendig ist, diese vertrauensvolle Zusammenarbeit zu erneuern und unseren Freunden ganz deutlich zu sagen: Wir wollen keine völkerrechtswidrigen Angriffe. Wir wollen keine extralegalen Tötungen. Wir wollen als Partner der Vereinigten Staaten, dass das Völkerrecht nicht nur bei uns, sondern überall auf dieser Welt eingehalten wird, und wir halten es nicht für richtig, wenn ein Präsident damit droht – was übrigens auch völkerrechtswidrig ist –, Kulturgüter sämtlicher Art zu zerstören.
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Das dürfen wir nicht hinnehmen. Das müssen wir Freunden sagen. Das müssen wir erneuern. Deshalb glaube ich, dass die Erneuerung dieses Bündnisses dringend erforderlich ist.
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Die Erneuerung eines Bündnisses, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, erreiche ich nicht dadurch, dass ich ein gut bestehendes Verhältnis, das funktioniert, das seine Mechanismen hat und das auf vertraglicher Basis Friedensarchitektur in Europa geschaffen hat, mutwillig oder gar durch unkluge, schnelle, nicht planvolle Entscheidungen aufs Spiel setze. Deshalb glaube ich, ist es notwendig, mit den Vereinigten Staaten darüber in Verhandlungen zu treten,
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Gespräche zu führen, das Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes abzuwarten und dann zu bewerten, ob es notwendig ist, dort weitere Maßnahmen zu ergreifen.
In dem Sinne hoffe ich, dass wir wieder zu planvoller, zurückhaltender, weitsichtiger und vor allen Dingen kluger Außenpolitik – auch in diesem Hause – zurückkehren, um den Menschen in Rheinland-Pfalz Planungssicherheit zu geben, um unsere europäische Sicherheitsarchitektur zu erhalten und nicht unnötig Öl ins Feuer zu gießen, wo schon genügend Öl vorhanden ist.
Vielen Dank.
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Nächster Redner für die FDP-Fraktion: der Kollege Ulrich Lechte.
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Herr Präsident! Meinen Damen und Herren! Karl-Heinz, es ist Zeit für gute Außenpolitik: Jetzt kommt nämlich die FDP-Fraktion.
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Bei diesen beiden Anträgen zur Nutzung der Ramstein Air Base kommen politische und juristische Fragen zusammen und vermengen sich zu einem komplexen Sachverhalt. Sie verweisen auf die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts NRW und auf das Berufungsverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht.
Natürlich müssen auch wir Politiker über dieses wichtige Thema sprechen. Es gibt einen aktuellen Anlass, der vorhin schon ausgeführt wurde: der Drohnenangriff auf den General; wir wissen alle Bescheid, worum es geht.
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Damit – so lautete die offizielle Begründung der USA – sollte ein unmittelbar bevorstehender Angriff abgewendet werden. Aber für diese Begründung wurden bisher keine Beweise vorgelegt. Das hätte eigentlich in Sitzungen im US-Repräsentantenhaus und im Senat geschehen sollen. Aber es ist bekanntermaßen ausgeblieben. Das wurde dann auch parteiübergreifend von Demokraten und Republikanern kritisiert.
Ich denke, wir sind uns ebenso parteiübergreifend einig, dass willkürliche Tötungen völkerrechtswidrig sind. Wir sind uns auch weitgehend einig, dass der sogenannte Krieg gegen den Terror keine grenzenlose Anwendung der Logik des Krieges erlaubt. Aus diesem Grund hat sich die Bundesregierung auch von den USA zusichern lassen, dass Drohnen für solche Antiterroreinsätze weder von Ramstein gestartet noch gesteuert werden dürfen.
Die strittige Frage ist, was die Bundesregierung genau tut, um die Einhaltung dieser Zusagen zu gewährleisten. Um diese Frage geht es in beiden Anträgen.
Die Antwort der Linken ist simpel: Ramstein schließen, fertig. – Das ist nicht verwunderlich. Ihnen ist ja jede Gelegenheit recht, um gegen unsere Freundschaft zu den Amerikanern, die NATO oder gar die eigene Bundeswehr zu wettern. „Ami go home“ – in Anführungszeichen, bitte – findet mit den Liberalen nicht statt.
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Das Problem wäre damit übrigens auch nicht gelöst, meine lieben Parteifreunde der Linken.
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Die US-Administration nutzt dann eben einen anderen Stützpunkt, voraussichtlich in Osteuropa; das ist euch hoffentlich klar. Damit ist der Antrag der Linken als völlig nutzlos entlarvt.
Der Antrag der Grünen ist hingegen wesentlich geschickter; denn hier geht es darum, dass wir uns wirklich wirksam dafür einsetzen, dass sich die USA an ihre Zusagen halten. Das ist von der Zielsetzung völlig richtig.
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Im Detail werden wir in den Ausschüssen über die Formulierung beraten müssen, die ja schon etwas über die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts NRW hinausgeht.
Außerdem habe ich meine Zweifel, ob es wirklich eine gute Idee ist, hierüber politisch zu entscheiden, während das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht noch läuft. Aber wenn wir das gründlich beraten, dann liegt uns bis zu unserer Entscheidung vielleicht auch schon eine Entscheidung des Gerichts vor.
Vielen Dank.
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Nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke: die Kollegin Sevim Dağdelen.
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Anträge, Herr Parteifreund Lechte,
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sind schon etwas älter. Aber anlässlich der Ermordung des iranischen Generals Soleimani durch die USA, deren Rechtmäßigkeit vom Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages im Gegensatz zur Bundesregierung stark in Zweifel gezogen wird, stellt sich die Frage nach der Relaisstation im rheinland-pfälzischen Ramstein, über die die extralegalen Hinrichtungen der USA mittels Kampfdrohnen laufen, in aller Dringlichkeit neu. Deshalb haben Linke und Grüne diese Anträge jetzt aufgesetzt. Wir fragen die Bundesregierung natürlich auch – nicht vergessen, zu klatschen, Herr Lechte –: Warum antworten Sie nicht auf die Frage, ob der Mord an diesem iranischen General über den US-Stützpunkt Ramstein gegangen ist oder nicht?
Die Bundesregierung hat jetzt am 8. Januar zum ersten Mal eingestanden, dass sich in Ramstein „eine von mehreren Relaisstationen“ befindet, über die „Kommunikationen mit unbemannten Luftfahrzeugen laufen“. Bisher wurde auf die Anfragen der Linken stets Unkenntnis seitens der Bundesregierung vorgetäuscht. Die Frage ist aber: Warum fällt eigentlich der Bundesregierung jetzt auf einmal ein, von der Existenz dieser Relaisstationen Kenntnis zu haben? Kann dies etwas mit dem Mord an Soleimani zu tun haben? Das würde den Bundestag, aber auch sicher die Öffentlichkeit interessieren. Deshalb fragen wir die Bundesregierung: Warum schweigen Sie weiterhin?
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Das Oberverwaltungsgericht Münster hat – das wurde schon angesprochen – in seinem Urteil vom März 2019 in Bezug auf Ramstein und die US-Drohnenmorde im Jemen festgestellt, dass die Bundesregierung ihre Schutzpflicht gegenüber dem Grundrecht auf Leben nicht erfüllt. Und zugleich wurde die Bundesrepublik Deutschland dazu verurteilt, sich durch geeignete Maßnahmen zu vergewissern, ob eine Nutzung der Air Base Ramstein durch die USA für Einsätze von bewaffneten Drohnen im Jemen im Einklang mit dem Völkerrecht stattfindet. Statt der ihr gerichtlich auferlegten Pflicht nachzukommen, hat diese Bundesregierung gegen dieses Urteil Rechtsmittel eingelegt. Ich frage Sie: Welche der im Urteil erwähnten Schutzmaßnahmen haben Sie seit diesem Urteil eigentlich getroffen, um eben zu verhindern, dass von Ramstein und damit von deutschem Boden solche Drohnenmorde ausgehen?
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Welche Maßnahmen haben Sie seit diesem Urteil ergriffen, außer einfach nachzufragen bei der US-Administration, von der Sie bis heute keine Antwort bekommen haben? Sie selbst haben im Ausschuss gesagt, die USA verweigerten Ihnen eine Antwort. Das heißt, wenn Sie eine souveräne Bundesregierung sind, dann müssen Sie dafür Sorge tragen, dass von deutschem Boden keine Drohnenmorde ausgehen. Da gibt es nur eine Lösung, meine lieben Freundinnen und Freunde: Es ist die Schließung dieser Drohnenmordzentrale Ramstein. Sonst wird das Problem nicht gelöst.
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Wer wie Bundeskanzler Willy Brandt will, dass von deutschem Boden kein Krieg ausgeht, der muss Ramstein schließen
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und das in ein umfassendes Konversionsprogramm überführen.
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Frau Kollegin.
Denn die Schließung sollte auch für die Menschen vor Ort eine Friedensdividende sein.
Danke.
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Die Kollegin Anita Schäfer hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wieder einmal debattieren wir Anträge der Opposition, die Air Base Ramstein zu schließen. Die Grünen stellen in ihrem Antrag drei Forderungen an die Bundesregierung. Sie berufen sich dabei auf das Urteil des Oberverwaltungsgerichts in Münster vom 15. März 2019. Das Urteil ist übrigens noch nicht rechtskräftig; das haben wir bereits mehrmals gehört. Die Bundesregierung hat aus gutem Grund Rechtsmittel eingelegt.
Die erste Forderung der Grünen wirft bei mir die Frage auf, wie amtliche Ermittlungen zum Tod von Zivilisten im Ausland denn aussehen sollen. Das Oberverwaltungsgericht hat nur von einer Vergewisserung der Rechtmäßigkeit von US-Drohneneinsätzen gesprochen; denn die Immunitätsregelungen im Stationierungsrecht setzen enge Grenzen. So ist der Zutritt deutscher Behörden zu ausländischen militärischen Liegenschaften von der Zustimmung ausländischer Kommandobehörden abhängig. Die von den Grünen geforderten Ermittlungen sind also unrealistisch. Der Zusatz, den Ausgang des Berufungsverfahrens vor Beginn solcher Ermittlungen nicht abzuwarten, offenbart außerdem ein fragwürdiges Verhältnis zum Rechtsstaat.
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Zur zweiten Forderung kann ich Ihnen als Wahlkreisabgeordnete für Ramstein nur bestätigen, dass wir auf allen Ebenen in engem und partnerschaftlichem Kontakt mit den USA stehen. Innerhalb dieser Partnerschaft ist die Wahrung des Völkerrechts eine Selbstverständlichkeit, die uns so auch vonseiten der USA stets zugesichert wird.
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Mit dem dritten Punkt wollen die Grünen den USA unverhohlen drohen, die Ramstein Air Base zu schließen. Für mich sind Drohungen kein Umgang mit Verbündeten. Die Air Base in Ramstein ist das Hauptquartier der United States Air Forces in Europa, der United States Air Forces Africa sowie das Hauptquartier der Allied Air Command Ramstein. Wir würden also Teile der zentralen militärischen Infrastruktur nicht nur unseres wichtigsten Partners stilllegen, sondern auch des westlichen Militärbündnisses. Das ist besonders absurd, da das Gericht selbst feststellt, dass die Bundesregierung die Bündnisfähigkeit Deutschlands nicht gefährden darf. Genau das aber fordert der Antrag der Grünen. Konstruktive Sicherheitspolitik in internationaler Zusammenarbeit sieht anders aus. Frieden liegt in der Kooperation mit anderen Staaten, nicht in der Konfrontation mit Verbündeten. Daher lehnen wir die Anträge der Grünen und der Linken ab.
Zu dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts möchte ich noch ein paar Worte sagen. Das Gericht stellt fest, dass Deutschland nicht darauf hinwirken muss, die Nutzung der Air Base Ramstein für Drohneneinsätze zu unterbinden. Diesen Punkt werden Sie in den Anträgen lange suchen. Außerdem geschieht die Bekämpfung des internationalen Terrorismus im Jemen mit ausdrücklicher Billigung des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, siehe UN-Resolution 2402 vom 26. Februar 2018. Damit ist der Rahmen, innerhalb dessen der Drohneneinsatz stattfindet, eben nicht völkerrechtswidrig. Auch das steht im Gerichtsurteil, wird aber von den Grünen ignoriert.
Ich jedenfalls sehe dem Berufungsverfahren in dieser Sache gelassen entgegen und warte ab. Ich kann den Kollegen nur empfehlen, das Gleiche zu tun.
Danke.
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Der letzte Redner ist der Kollege Dr. Reinhard Brandl, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Amerikanische Soldaten stehen bereit, Deutschland zu verteidigen. Sie taten dies nicht nur im Kalten Krieg. Sie tun es bis heute. Alleine 35 000 Soldaten sind mit ihren Familien in Deutschland stationiert. Meine Damen und Herren, diese Form der Bündnissolidarität ist keine leere Formel, sondern die Amerikaner meinen es ernst. Allein in den nächsten Wochen – da beginnt die Übung Defender Europe – werden die Amerikaner 20 000 Soldaten von den USA nach Europa verlegen, hier ein paar Monate üben lassen und dann wieder zurückverlegen, um die Verteidigung Europas und damit auch Deutschlands zu üben. Wir können dem amerikanischen Volk dankbar sein, dass es diese Form der Bündnissolidarität fortwährend leistet und die Investitionen, die dafür notwendig sind, zur Verfügung stellt.
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Eines ist auch klar – das ist keine Geringschätzung der Fähigkeiten der Bundeswehr –: Ohne Amerika, ohne die NATO wären die Länder Europas nicht annähernd in der Lage, in einem Ernstfall ihren eigenen Kontinent zu verteidigen. Deswegen liegt eine starke amerikanische Präsenz in Deutschland in unserem Interesse.
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Ein Antrag wie der von den Linken, der eine Schließung von US-Liegenschaften und einen Abzug von US-Truppen fordert, ist nicht in unserem Interesse.
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Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich bin auch nicht mit jeder Aktion der US-Streitkräfte einverstanden. Ich kann mich an gar keinen Tweet von Donald Trump erinnern, den ich gut fand.
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Aber ich weiß auch, meine Damen und Herren, wen wir anrufen könnten, wenn es zu einem Ernstfall käme, wer kommen würde, um uns zu helfen und uns zu verteidigen: Das sind zuvorderst unsere Verbündeten und auch die USA.
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Meine Damen und Herren, ich habe in unsere Bündnispartner ein Grundvertrauen, nämlich erstens, dass sie sich an Zusagen, an Regeln halten, und zweitens, dass das, was sie uns sagen, auch korrekt ist.
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– Ich erwarte nicht, dass sie uns alles sagen. Wir sagen unseren Bündnispartnern auch nicht alles. Ich habe ständig Dokumente, auf denen „Nur Deutschen zur Kenntnis“ steht. Aber wir haben eine gemeinsame Basis, die uns eint. Diese Basis besteht aus Vertrauen und Solidarität.
Diese Anträge, insbesondere der Antrag von den Linken, sind dazu geeignet, mit falschen Vorverurteilungen diese Basis zu schwächen. Das lehnen wir ab. Deswegen lehnen wir den Antrag ab.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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