Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 12/13/2019

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Anja Karliczek (Minister:in)

Politiker ID: 11004323

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Berufsbildung ist das Thema heute Morgen, und Berufsbildung ist und bleibt mir ein Herzensanliegen. Denn unser aller Alltag hängt an vielen gut ausgebildeten Menschen. Auch das Qualitätsversprechen „made in Germany“ ist Ausdruck einer hochwertigen beruflichen Bildung in Deutschland. Außerdem leben wir in einer Zeit, in der sich die Arbeit in rasanter Geschwindigkeit weiterentwickelt. Gerade dafür brauchen wir die enge Verzahnung zwischen theoretischer und praktischer Ausbildung, und wir brauchen Möglichkeiten, die Menschen auf immer höhere Anforderungen vorzubereiten. Weiterbildung ist also das Gebot der Stunde. Zwei Schritte zum Ziel haben wir schon gemacht. Im Sommer haben wir die Nationale Weiterbildungsstrategie auf den Weg gebracht, und vor zwei Wochen haben wir die Novelle des Berufsbildungsgesetzes durch den Bundesrat gebracht. Damit ist klar, dass wir in dieser Legislaturperiode einen gewichtigen Fokus auf die berufliche Bildung legen. ({0}) Heute legen wir mit dem Aufstiegs-BAföG das zweite Gesetz vor, das unsere Wertschätzung für diesen Karriereweg klar zum Ausdruck bringt. Denn es sind die Handwerker, die Pflegekräfte und die Dienstleister, die unser Land Tag für Tag am Laufen halten. Sie sollen wissen, dass wir an ihrer Seite stehen, wenn sie den beruflichen Aufstieg angehen wollen, wenn sie ihren Traum, Meister ihres Fachs zu werden, verwirklichen wollen. Das AFBG hat seit 1996 vielen jungen Menschen die Chance zum Aufstieg ermöglicht. Das neue Aufstiegs-BAföG sieht jetzt die stärksten Leistungsverbesserungen vor, die es je gegeben hat. Denn wir wollen jungen Menschen Mut machen, die Chance zum beruflichen Aufstieg zu ergreifen. Berufliche Karrieren sollen selbstverständlich werden. Deshalb bauen wir das Aufstiegs-BAföG kräftig aus. ({1}) Das Förderangebot, das wir heute auf den Weg bringen, passt für alle drei Fortbildungsstufen, die wir im Berufsbildungsgesetz geschaffen haben. So können wir Schritt für Schritt bis auf Masterniveau fördern. Wir erhöhen die Zuschüsse, aber auch die Freibeträge, wir senken den Darlehensanteil, und wir verbessern die familienbezogenen Leistungen, damit auch Eltern ihren beruflichen Aufstieg und ihre Familienzeit besser vereinbaren können. Das ist unsere Unterstützung für die Fach- und Führungskräfte von morgen. ({2}) Wir haben uns ganz bewusst dafür entschieden, das AFBG als Erfolgsinstrument für den Aufstieg auszubauen. Es ist eine tragende Säule unserer Weiterbildungsstrategie. Denn gute Bildungschancen für alle sind uns ein wichtiges Anliegen. Unser Bildungssystem muss exzellent auf die Anforderungen der nächsten Jahre vorbereitet sein. Dann hilft es, den Wirtschaftsstandort Deutschland zu sichern; dann hilft es, den Fachkräftenachwuchs für das Innovationsland Deutschland zu sichern. Der Rahmen dafür ist mit der Novelle des Berufsbildungsgesetzes gesetzt worden. Damit sind die glänzenden Perspektiven der beruflichen Bildung ganz klar dokumentiert. Die Novelle des Aufstiegs-BAföGs baut genau darauf auf. Schritt für Schritt begleiten wir so jetzt auch finanziell die Fach- und Führungskräfte von morgen auf ihrer Karriereleiter. Vor allem in Bereichen, in denen die Fachkräfte fehlen, ist das Aufstiegs-BAföG ein wichtiger Impulsgeber. Gerade dort, wo die Nachfrage am größten ist, kann diese Novelle Wirkung erzielen: in der sozialen Arbeit, in der Gesundheit, in der Pflege und in der Erziehung. Wir tun das für unsere Kinder; denn sie brauchen mehr gut ausgebildete Erzieherinnen und Erzieher, die sich jeden Tag um sie kümmern und ihnen helfen, sich zu entfalten. Aber wir tun das auch für unsere Eltern: wenn sie krank werden oder Pflege brauchen, ob zu Hause, im Krankenhaus oder in einer Pflegeeinrichtung. Denn auch dort fehlen die hochqualifizierten Fachkräfte. Diese Novelle hilft genau den Menschen, von denen wir Tag für Tag erwarten, dass sie dieses Land am Laufen halten. Wenn sie sich dann für den beruflichen Aufstieg entscheiden, dann haben sie einiges zu stemmen: das Lernen – häufig auch nach Feierabend und am Wochenende –, die Prüfungen, die Fortbildungskosten – und all das zusätzlich zu ihrem Alltag. Die Krankenschwester Jessica Diehm aus Bayreuth beispielsweise hat die Fortbildung mit dem Aufstiegs-BAföG ein „Ärmel hoch und los geht’s“-Gefühl genannt. Das ist Motivation in ihrer Reinstform. Mit dem Aufstiegs-BAföG war klar, dass sie sich weiterbildet; denn finanzielle Hürden sind kein Hindernis mehr. Auch den Schritt in die Selbstständigkeit erleichtern wir noch einmal. Existenzgründern erlassen wir etwaige Restdarlehen komplett, zu 100 Prozent. Denn ein modernes, innovatives Land braucht viele mutige Gründer; auch das ist mir ein echtes Anliegen. ({3}) Lernen, gründen, den Wandel mitgestalten: Dazu wollen wir motivieren. Deshalb nehmen wir allein in dieser Legislaturperiode 350 Millionen Euro zusätzlich in die Hand. Liebe Kolleginnen und Kollegen, für dieses Gesetz haben viele Beteiligte erfolgreich zusammengearbeitet. Wertvolle Anregungen aus den Fraktionen, aus den Ländern sowie von den Wirtschafts- und Sozialpartnern sind in diese Novelle eingeflossen. Es ist ein Gesetzentwurf, den in seiner Zielrichtung alle gutheißen. Jetzt müssen wir das Verfahren nur noch gemeinsam erfolgreich abschließen. Dass das Aufstiegs-BAföG schon viel Gutes geleistet hat und es sich lohnt, es noch weiter auszubauen, zeigt auch ein sehr prominentes Beispiel: das Beispiel von Markus Rehm. Er ist nicht nur Meister der Orthopädietechnik; er ist auch Weltmeister im Weitsprung. Bei den Paralympics hat er schon zweimal Gold geholt. Er hat sich auf seine Meisterschule vorbereitet und gleichzeitig auf Weltklasseniveau für die Paralympics trainiert. Er ist damit ein tolles Vorbild und ein Motivator par excellence. ({4}) Weiterbildung muss für alle selbstverständlich werden. Dieses Land braucht in den nächsten Jahren viele gut ausgebildete Fachkräfte, und dieses Land bietet damit Chancen wie kaum ein anderes Land dieser Welt. Dieses Land braucht jetzt die Kraft seiner fleißigen Menschen. Wer in diesem Land Fleiß, Kraft und Willensstärke zeigt und seine berufliche Karriere in die eigene Hand nimmt, der soll wissen, dass er uns an seiner Seite hat. Ich bitte um Unterstützung für die Novelle des Aufstiegs-BAföGs. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Götz Frömming, AfD. ({0})

Dr. Götz Frömming (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004722, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Danke schön. – Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Ministerin! Sehr geehrte Damen und Herren! Bei der Vorbereitung auf diese Rede fiel mir ein Roman von Hermann Hesse ein; vielleicht kennen ihn einige von Ihnen. Er heißt „Narziß und Goldmund“. Während Narziß der Akademiker, der Theologe ist, der den Weg der Askese geht, ist Goldmund derjenige, der einen anderen Weg einschlägt. Er wählt den Weg des Handwerkers. Er wird Kunsthandwerker und zieht in die Welt hinaus. Bis zum Schluss merkt man, dass Hermann Hesse beide Figuren liebt, und es bleibt offen, welcher dieser Wege der richtige ist; am Ende führen sie beide zu Gott. Im Grunde, meine Damen und Herren, ist es so ein bisschen auch, wenn wir darüber diskutieren, ob denn nun die akademische Ausbildung oder die berufliche Ausbildung mehr zu fördern sei. Wir sind uns, glaube ich, inzwischen schon einig in diesem Hause: Sie sind nicht gleich, aber sie sind gleich viel wert. Meine Damen und Herren, der vorliegende Gesetzentwurf zur Novellierung des Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetzes geht in die richtige Richtung. Er enthält im Vergleich zur bisherigen Regelung einige Verbesserungen. Die höhere Berufsbildung wird dadurch in der Tat aufgewertet. Neben deutlichen Leistungsverbesserungen bei der Unterhalts- und Maßnahmenförderung enthält der Gesetzentwurf eine wesentliche strukturelle Veränderung für den Leistungsbezug. Die bisherige Beschränkung der AFBG-Förderung auf eine einzige Fortbildung entfällt und wird auf bis zu drei Fortbildungen erhöht. Das ist logisch und folgerichtig, da es den drei Fortbildungsstufen entspricht, die wir neu eingeführt haben. Über die englischen Begrifflichkeiten kann man sich in der Tat noch streiten; aber von der Sache her sind wir uns da ja einig. Es ist gut und richtig, wenn wir die berufliche und die akademische Bildung in gleichem Maße wertschätzen. Diese Wertschätzung muss aber auch durch eine Gleichstellung bei der staatlichen Förderung zum Ausdruck gebracht werden. Davon, meine Damen und Herren, sind wir aber noch ein ganzes Stück entfernt. Studenten erhalten durch die kostenlosen Studiengänge und die BAföG-Leistungen für den Lebensunterhalt in Deutschland eine sehr großzügige staatliche Unterstützung; erst vor Kurzem haben wir sie ja auch noch erhöht. Finanziert wird diese akademische Ausbildung auch durch die Steuerabgaben, die zum Beispiel Handwerker schon in jungen Jahren als Lehrlinge und Gesellen leisten. Wenn sich einer dieser Handwerker aber dann selbst fortbilden möchte, ist das für ihn nicht umsonst. Auch nach dieser Gesetzesnovelle muss er immer noch bis zu 25 Prozent der Kurs- und Prüfungsgebühren selbst finanzieren. Nach Berechnungen des Zentralverbands des Deutschen Handwerks sind es immerhin 3 750 Euro, die für eine Fortbildung an Kurs- und Prüfungsgebühren zu zahlen sind. Hinzu kommen die Kosten für das Meisterstück, die sich in einigen Berufen, zum Beispiel in der Zahntechnik, auf mehrere Tausend Euro belaufen können und die nur teilweise erstattet werden. Bisher belief sich der staatliche Zuschuss für die Lehrgangs- und Prüfungsgebühren auf 40 Prozent, und ja, Frau Ministerin, dieser wird jetzt – Sie haben es gesagt – etwas erhöht. Die restlichen 60 Prozent wurden als Darlehen gewährt. Bei bestandener Prüfung wurden davon 40 Prozent erlassen. Nun haben Sie sich also durchgerungen, statt einem Zuschuss von 40 Prozent einen Zuschuss von 50 Prozent zu zahlen und bei bestandener Prüfung die Hälfte des Darlehens zu erlassen; es sind also jeweils 10 Prozent obendrauf gekommen. Das ist zu wenig. Frau Ministerin, hier hätten Sie klotzen müssen und nicht kleckern dürfen. ({0}) Meine Damen und Herren, zahlen denn Studenten in Deutschland für ihre Ausbildung und für die Prüfung Gebühren? Nein, das tun sie nicht. Deshalb sollte bei bestandener Prüfung auch in der beruflichen Bildung das ganze Darlehen erlassen werden. Das fordert der Zentralverband des Deutschen Handwerks. Wir, die AfD-Fraktion, schließen uns dieser Forderung ausdrücklich an. Ich freue mich auf die weitere Beratung im Ausschuss. Dort werden wir dann auch näher auf die Vorschläge der Oppositionsfraktionen eingehen. Vielen Dank. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulrike Bahr, SPD. ({0})

Ulrike Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004246, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Ministerin! Geehrte Kollegen und Kolleginnen! Wir alle reden über den Fachkräftemangel. Das neue Aufstiegs-BAföG ist die richtige Antwort darauf und gibt Berufstätigen ein wirksames Instrument an die Hand, damit sie in ihre eigene berufliche Zukunft investieren können. Wer sich weiterbildet, der hat gute Aussichten auf dem Arbeitsmarkt von morgen – und das trotz Strukturwandel und Digitalisierung. Die Arbeit wird uns auch übermorgen nicht ausgehen; es werden lediglich andere Qualifikationen gebraucht. Genau deswegen sind Weiterbildungen auch so zentral. Und daher ist es gut und richtig, dass wir heute – noch vor Weihnachten – ein Gesetz anberaten, das ich persönlich als Abschluss des Dreiklanges der wegweisenden bildungspolitischen Maßnahmen in 2019 erachte, die darauf abzielen, strukturelle Verbesserungen in der akademischen und beruflichen Bildung herzustellen. Dies sind erstens die BAföG-Novelle, zweitens das Berufsbildungsmodernisierungsgesetz und jetzt drittens die Novelle zum neuen Aufstiegs-BAföG, um auch den beruflichen Aufstieg noch mehr zu fördern. ({0}) Dafür entlasten wir die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Aufstiegsmaßnahme massiv bei den selbst zu tragenden Kosten, damit keiner aus Angst vor zu hohen Gebühren oder aus Angst vor künftiger Verschuldung vor der Investition in die eigene Bildung zurückschreckt. Bereits die dritte Novelle zum Aufstiegs-BAföG war ein Erfolg; das zeigt der jüngst veröffentlichte Bericht über das Wirken der damaligen Novelle. Es gab mehr geförderte Teilnehmerinnen und Teilnehmer insgesamt, aber vor allem auch mehr geförderte Frauen. Es gab mehr Leistungsausgaben und strukturelle Verbesserungen für die sozialen Berufe. ({1}) Das Aufstiegs-BAföG kommt ursprünglich aus dem handwerklichen bzw. dem kaufmännischen Bereich, und immer noch ist es vielen als Meister-BAföG ein Begriff. Doch das ehemalige Meister-BAföG kann viel mehr, als nur angehende Meisterinnen und Meister zu fördern. Über 730 verschiedene Aufstiegsqualifikationen sind mit dem Aufstiegs-BAföG förderfähig. Und weil es eben ein echtes Aufstiegs-BAföG für alle ist, freue ich mich, dass die unangefochtene Nummer eins der geförderten Berufe die Ausbildung zur staatlich anerkannten Erzieherin bzw. zum staatlich anerkannten Erzieher ist, und das schon seit mehreren Jahren. ({2}) Besonders hervorheben möchte ich den neuen Vollzuschuss zum Unterhalt für diejenigen, die eine Aufstiegsfortbildung in Vollzeit absolvieren. Das ist nicht nur eine gute Nachricht für die Erzieherinnen und Erzieher, sondern auch für immerhin knapp die Hälfte aller ABFG-Geförderten insgesamt. Warum? Bisher mussten 50 Prozent der anfallenden Kosten für den Unterhalt von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern selbst getragen werden, beispielsweise über ein KfW-Darlehen. Künftig übernimmt der Staat auch diesen Eigenanteil, sodass hier eine ganz reelle und unmittelbar spürbare Entlastung eintritt – und das jeden Monat und solange die Maßnahme dauert. Über 80 Prozent der Erzieherinnen und Erzieher absolvieren ihre Maßnahme in Vollzeit. Wenn wir hier also noch mehr unterstützen, setzen wir auch ein Zeichen, dass es uns ernst ist mit der Behebung des Fachkräftemangels in diesem Bereich – gerade in Hinsicht auf den Ausbau der Ganztagsbetreuung für Kinder im Grundschulalter, die wir alsbald auf den Weg bringen wollen. ({3}) Aber es gehören auch andere praktische Entlastungsmaßnahmen zur Novelle: Die staatlichen Zuschüsse zu den Maßnahme- und Prüfungsgebühren werden von jeweils 40 Prozent auf 50 Prozent erhöht. Wer sich besonders anstrengt und seine Aufstiegsfortbildung erfolgreich absolviert, bekommt einen höheren Bonus. Existenzgründerinnen und Existenzgründern werden künftig Maßnahme- und Prüfungsgebühren vollständig erlassen. Das ist nicht zu unterschätzen, da die durchschnittlichen Kosten einer Vollzeitmaßnahme bei immerhin rund 4 000 Euro liegen. Zusätzlich bieten ja auch die einzelnen Länder noch individuelle Unterstützungsmaßnahmen an. Wie so oft sind diese unterschiedlich geregelt. Ich persönlich würde mir hier eine Harmonisierung wünschen, damit sich alle überall auf gleiche und gerechte Rahmenbedingungen verlassen können. ({4}) Bei einer Aufstiegsfortbildung bleiben auch immer Eigenanteile übrig. Darum führen wir ab 2023 ein zinsfreies Darlehen ein, genauso wie jetzt schon beim BAföG. Das gilt auch für die Unterstützung der Alleinerziehenden, die künftig einen höheren Kinderbetreuungszuschlag erhalten für eine bessere Vereinbarkeit von Weiterbildung und Familie. Auch hier wird also ganz konkret gezeigt, dass es in unserem Interesse liegt, die Rahmenbedingungen für die akademische und berufliche Weiterbildung anzugleichen, und dass uns beide Bildungswege gleich viel wert sind. ({5}) Mit den Neuerungen im Berufsbildungsgesetz wird eine Mehrfachförderung im AFBG möglich. Nun wird ein Aufstieg Schritt für Schritt über alle drei beruflichen Fortbildungsstufen bis auf Masterniveau konsequent abgedeckt. Gerade dort, wo qualifizierte Arbeitskräfte fehlen, ist das ein richtiges Zeichen; denn für jede erneute Förderung gibt es die gleichen Grundbedingungen. ({6}) Die genannten Maßnahmen kosten natürlich viel Geld, Geld, das es uns aber wert sein muss – und auch wert ist! Im aktuellen Haushalt haben wir deshalb vorgesorgt. Es stehen knapp 50 Prozent mehr Mittel als in diesem Jahr zur Verfügung, insgesamt rund 392 Millionen Euro. ({7}) Zum Schluss noch ein paar kurze Anmerkungen zu den Anträgen der Oppositionsfraktionen. Ich freue mich schon fast, dass Sie mit Ihren Anträgen der Novelle zum Aufstiegs-BAföG eine gute Note ausstellen. Es gibt keine harsche Kritik. Die Grünen fordern ein Recht auf Weiterbildung. ({8}) Das ist ganz und gar richtig. Ein entsprechendes Recht gibt es aber schon jetzt mit dem Qualifizierungschancengesetz, und Mehrfachförderungen sind, wie Sie fordern, auch schon mitgedacht. Zum Antrag der Linken sage ich, dass der Vollzuschuss eine ungeheure Last von den Schultern der Erzieherinnen und Erzieher nimmt. Das sind im besten Fall circa 800 Euro pro Monat, ohne einen einzigen Cent davon selbst tragen zu müssen. Aber auch ich sehe, dass hier zwei verschieden Systeme aufeinanderprallen: das duale Ausbildungssystem und das grundsätzlich anders aufgestellte System der Sozialberufe. Ich komme zum Schluss. Sie sehen, der dritte Ton vollendet den bildungspolitischen Dreiklang. Geben Sie es also schon jetzt an Ihre Handwerkskammern, Innungen und Fachschulen in Ihren Wahlkreisen weiter: Die Koalition setzt genau das um, was sie versprochen hat: mehr Gleichwertigkeit von akademischer und beruflicher Weiterbildung. Vielen Dank. ({9}) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Nächster Redner ist der Kollege Dr. Jens Brandenburg, FDP. ({10})

Dr. Jens Brandenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Aufstiegs-BAföG ist eine große Erfolgsgeschichte. Es hat Hunderttausenden den Weg in die berufliche Fortbildung eröffnet. Nach der Erstausbildung muss ja nicht Schluss sein. Wer sich weiter anstrengt und in die Bildung investiert, kann mit dem Meister, Fachwirt oder Techniker weiter aufsteigen. Das Aufstiegs-BAföG unterstützt diese Menschen bei ihrer Fortbildung mit Zuschüssen für den Unterhalt oder auch für Bildungsmaßnahmen. ({0}) – Wer hat es erfunden? Schwarz-Gelb war das damals, Frau Fahimi. Es gibt aber dennoch Reformbedarf. Denn einerseits können wir an unseren Hochschulen heute kostenfrei studieren, andererseits müssen wir für die Meisterausbildung selbst nach der Förderung immer noch mehrere Tausend Euro auf den Tisch legen. Das ist ungerecht. Berufliche Fortbildung darf nicht an finanziellen Hürden scheitern. Deshalb ist es höchste Zeit, das Aufstiegs-BAföG auszubauen. ({1}) Diese Reform ist überfällig. Es ist gut, dass sie jetzt endlich kommt, und das unterstützen wir auch. Aber glauben Sie bitte nicht, Frau Karliczek, dass damit schon alles erledigt sei. Bevor Sie jetzt zum großen Richtfest einladen, gibt es auf der BAföG-Baustelle noch einiges zu tun. Passen wir die starren Vorschriften an die Lebenswirklichkeit der Menschen an. Beispielsweise steht der Unterhaltsbeitrag nur den Vollzeitgeförderten zur Verfügung, nicht aber denen in Teilzeit. Sie, Frau Karliczek, haben im Ausschuss behauptet, das sei ja gar nicht nötig. Das ist doch Unsinn. Wenn Sie als Geselle oder als Kauffrau eine Familie zu ernähren haben, dann können Sie nicht einfach mal auf die Hälfte Ihres Einkommens verzichten. Wer beispielsweise Kinder erzieht oder Angehörige pflegt, kann auf Teilzeitfortbildungen angewiesen sein. Lassen Sie uns diese Menschen unterstützen. Sie haben es verdient. ({2}) Vollzeitmaßnahmen fördern Sie nur dann, wenn pro Woche mindestens 25 Unterrichtsstunden erreicht werden. Das ist ein Problem für saisonale Branchen wie die Landwirtschaft oder auch das Baugewerbe. Warum können wir Lehrgangsgebühren nicht auch dann fördern, wenn die Menschen beispielsweise im Sommer arbeiten und im Winter Blockunterricht nehmen? Ziehen Sie den Höfen im Sommer nicht die Arbeitskräfte ab, sondern schaffen Sie mehr Freiraum für Fortbildung. ({3}) Die Länder sollen ja seit 2016 eine elektronische Antragstellung ermöglichen. Ich habe mir gestern Abend mal den Spaß gemacht und mir das für Baden-Württemberg angesehen. Es gibt ein umständliches Onlineformular, dessen Design und Funktionalität offenbar aus den 90er-Jahren übrig geblieben ist. Der einzige Vorteil gegenüber dem Papierformular ist, dass die IBAN automatisch auf Plausibilität geprüft wird. Im allereinfachsten Fall müssen Sie in diesem Formular 26-mal auf „Weiter“ klicken. Damit haben Sie in Estland drei Jahrzehnte lang Ihre Steuererklärung abgegeben. Dieses Ding kann noch nicht mal dann Ihren Wohnort erraten, wenn Sie vorher längst Ihre Postleitzahl angegeben haben. Sie bekommen dann am Ende ein ausgefülltes PDF, sollen dieses herunterladen und per hoffentlich bereits eingerichteter kostenpflichtiger De-Mail an das zuständige AFBG-Amt Ihres Landkreises schicken. Eine einfache Videoidentifikation per Smartphone, wie sie für die Einrichtung eines Bankkontos durchaus üblich ist, steht nicht zur Verfügung. Das wäre ja zu einfach. In der Betreffzeile Ihrer E-Mail müssen Sie fein säuberlich Name, Vorname und Geburtsdatum eintragen; sonst ist das Amt offenbar überfordert. Wenn Ihr Anhang samt sämtlicher Nachweise mehr als 10 Megabyte beträgt, dann müssen Sie es auf mehrere E-Mails aufteilen. Eine Prognose, ob Sie überhaupt förderfähig sind und, wenn ja, in welcher Höhe, erhalten Sie nicht. Das ist eine Blamage für die Länder. Das ist keine Digitalisierung, sondern eine elektronische Ausfüllerschwernis. ({4}) Es ist mir ein Rätsel, wie Sie bundesweit 60 Freiwillige gefunden haben, die diese Tortur auf sich nehmen. ({5}) Sorgen Sie endlich dafür, dass die Verwaltung im 21. Jahrhundert ankommt. ({6}) Es ist gut, dass wir das Aufstiegs-BAföG nun endlich ausbauen. Noch besser wäre eine große Reform gewesen, die Teilzeit erleichtert, Blockunterricht ermöglicht und die Digitalisierung vorantreibt. Lassen Sie uns die Ausschussberatungen nutzen, daran zu arbeiten. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Birke Bull-Bischoff, Die Linke, ist die nächste Rednerin. ({0})

Dr. Birke Bull-Bischoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004688, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Präsident! Die finanzielle Förderung von Aufstiegsfortbildung durch das AFBG unterstützt in der Tat viele, viele junge Leute durch Zuschüsse zum Lebensunterhalt und anderes. Das ist in jedem Fall besser als nichts. ({0}) Man kann sagen: Es sind Schritte in die richtige Richtung. Ja, der vorliegende Entwurf verbessert diese Unterstützung. Unter anderem deshalb ist er ja in der Kernzeit gelandet. Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen geht darüber hinaus – zu Recht, wie ich finde – und zeigt Vorstellungen und Prämissen, die wir als Linke bekanntermaßen weitgehend teilen: Zum Ersten. Wir brauchen ein Recht auf Weiterbildung. Zum Zweiten. Perspektivisch brauchen wir nicht viele kleine Gesetze, die Weiterbildung bzw. Erwachsenenbildung regeln, sondern wir brauchen ein komplexes Erwachsenenbildungsgesetz. ({1}) Zum Dritten. Was die Frage der Finanzierung betrifft, brauchen wir – da sind wir sehr nah bei dem Vorschlag der GEW – einen Weiterbildungsfonds, öffentlich und arbeitgeberseitig finanziert. Dazu gehört natürlich auch eine verbesserte individuelle Absicherung. Auch Schülerinnen und Schüler in der Ausbildung zur staatlich anerkannten Erzieherin bzw. zum staatlichen anerkannten Erzieher werden – das ist bei mehreren Rednern angeklungen – in steigender Zahl durch das sogenannte Meister-BAföG gefördert, und das ist gut so. Denn wir haben viel zu wenig Erzieherinnen und Erzieher in den Kitas, später auch in den Grundschulen, wenn der Ganztagsanspruch eingeführt werden soll. Das heißt, wir brauchen viele junge Leute in diesem Beruf, und wir brauchen die besten jungen Leute für diesen Beruf. Das Problem ist: Ein gewichtiger Teil der künftigen Erzieherinnen und Erzieher bleibt von der Förderung durch das Meister-BAföG ausgeschlossen. Das liegt am Gesetz. Wo liegt das Problem? Die Kultusministerkonferenz regelt die Ausbildungsbedingungen, also nicht irgendjemand Halbgeweihtes, sondern in der Tat Expertinnen und Experten. Demnach ist die Ausbildung zur staatlich anerkannten Erzieherin bzw. zum staatlich anerkannten Erzieher eine Aufstiegsfortbildung. Das heißt, es braucht vorher in der Regel eine einschlägige Berufsausbildung. Sie regelt auch das Verhältnis zwischen theoretischer und praktischer Ausbildung. Die theoretische Ausbildung umfasst zwei Drittel und die praktische ein Drittel. Anders gesagt: 66 Prozent theoretische Ausbildung und 33 Prozent Praxisphase. Das AFBG jedoch verlangt für eine Förderung 70 Prozent theoretische Ausbildung, die sogenannte Fortbildungsdichte. Die eine Form der Ausbildung – auch das ist angeklungen – kann diese Anforderung in der Tat problemlos erfüllen, weil sich die theoretische Ausbildung auf die ersten beiden Jahre konzentriert, gewissermaßen 100 Prozent, einfach deshalb, weil die Praxis abwesend ist. Hier wird dann allerdings das dritte Jahr nicht gefördert, das aber zur Ausbildung zwingend dazugehört. Das ist das sogenannte Zwei-plus-eins-Modell. Die andere Form der Ausbildung – genau hier liegt das Problem, das auch in unserem Antrag thematisiert wird – passt leider nicht zur Förderlogik des Gesetzes. Ihr wird zum Verhängnis, dass sich über drei Jahre die Praxisphasen mit der theoretischen Ausbildung abwechseln. Es besteht das gleiche Verhältnis zwischen Theorie und Praxis, wird aber über drei Jahre verteilt. Deshalb kommt man so auf nur 66 Prozent theoretische Ausbildung. Das ist kein Mangel; denn beides sind verbindliche Teile des Ausbildungskonzeptes. Diese praxisintegrierte Ausbildung ist nun in aller Regel nicht förderfähig, obwohl es im Übrigen die bessere Ausbildung ist. Niemand würde auf die Idee kommen, in der ersten Phase der Lehrerausbildung, in der die jungen Leute noch Studierende sind, einfach zu sagen: Während der schulpraktischen Übungen bekommt ihr kein BAföG mehr. Nebenbei gesagt: Auch die Praxisanteile sind theoretische Ausbildung; sie werden nämlich theoretisch reflektiert. Dieses Problem ist nun auch den Ländern und damit dem Bundesrat aufgefallen. Deshalb schlagen die Länder vor, die notwendige theoretische Ausbildung bei 60 Prozent zu veranschlagen. Das ist gut so. Die Länder wissen, was die Stunde geschlagen hat. Denn was bedeutet die jetzige gesetzliche Regelung für eine junge Frau, die Erzieherin werden möchte? Sie ist Quereinsteigerin. Sie hat fünf Jahre Informatik studiert, bringt nach dem Studium ein Kind zur Welt und sagt dann für sich: Bildungsprozesse von ganz jungen Kindern zu begleiten, das ist mein Ding. – Sie verbringt dann 600 Stunden im Rahmen eines Praktikums in einer Kita; das ist als Voraussetzung notwendig. Dann darf sie in eine Ausbildung einsteigen. Sie ist über 30 Jahre alt. Deswegen kommt BAföG für sie nicht mehr infrage, aber rein theoretisch das Meister-BAföG. Sie entscheidet sich für eine praxisintegrierte Ausbildung, entweder weil es die bessere ist oder weil in ihrem Umfeld genau diese angeboten wird, und damit entfällt die Möglichkeit der Förderung durch das AFBG. Das heißt, hochmotiviert und in Sachen MINT als Informatikerin hochkompetent muss sie sich gegebenenfalls gegen diese Ausbildung entscheiden, weil es auch um den Lebensunterhalt geht. Sie kann auch nicht, wie die Bundesregierung argumentiert, als Hilfskraft in der Kita angestellt werden, höchstens als Hausmeisterin, ja; das hieße aber, sie müsste ihre theoretische und ihre praktische Ausbildung absolvieren und nebenbei auch noch die Hausmeisterei regeln. Das muss mir mal jemand erklären. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Schluss. Ich finde, das kann nicht im Sinne des Erfinders sein. Hier gibt es dringenden Handlungsbedarf, formuliert von vielen freien Trägern, formuliert von den Berufsfachschulen. Wir haben jetzt die Chance, diese Förderlücke zu schließen, und deshalb bitte ich Sie im Namen meiner Fraktion um Unterstützung. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Beate Walter-Rosenheimer, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Beate Walter-Rosenheimer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004221, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörer und Zuhörerinnen! Das Wichtigste in unserem Land sind die Menschen mit ihrem Können, mit ihrer Kreativität und mit ihrem Engagement. Nicht umsonst wird Deutschland als das Land der Dichter und Denker – und natürlich auch der Dichterinnen und Denkerinnen – bezeichnet. Gut, das ist vielleicht eine Vorstellung aus alten Zeiten; aber im Kern ist das heute gültiger und wichtiger denn je. ({0}) Durch die Digitalisierung der Arbeitswelt und den ökologischen Wandel haben sich Berufsbilder und Qualifikationsprofile schon dramatisch verändert und werden sich weiter massiv verändern. Und darauf brauchen wir Antworten. ({1}) Weiterbildung ist der Schlüssel zu Fachkräftesicherung, zu Innovationsfähigkeit, zu Wettbewerbsfähigkeit und zur Sicherung der Beschäftigungsfähigkeit. Um Menschen die Möglichkeit zu geben, diese Veränderungen für sich positiv zu nutzen und nachhaltig zu gestalten, brauchen wir im Verlauf des Arbeitslebens regelmäßige Weiterbildung in Form von zeitgemäßen beruflichen Qualifikationen. Wir Grüne wollen mit unserem Antrag eine Vertiefung persönlicher Kompetenzen im Beruf fördern und Weiterbildung breit und für alle aufstellen. Weiterbildung muss ein zentraler Baustein sein im Bildungswesen, um Menschen fit für die Zukunft zu machen. ({2}) Liebe Ulrike Bahr, weil Sie von „mitgedacht“ sprachen: Wir können noch nicht Gedanken lesen. Da sage ich: „Mitgemacht“ wäre uns lieber als „mitgedacht“. ({3}) Zu Ihrem Gesetzentwurf. Er enthält schon viele richtige und wichtige Punkte; das sehen wir auch so. ({4}) Wir finden es gut, dass nicht mehr nur eine, sondern im beruflichen Aufstieg mehrere aufeinanderfolgende Fortbildungen gefördert werden können. Wir finden es auch gut, dass beim Unterhalt der Weiterbildungsinteressierten auf Vollzuschuss umgestellt wird. Und es ist richtig, den Darlehensanteil bei den Fortbildungsmaßnahmen zu verringern, wenn jemand eine Existenzgründung vornimmt, eine Prüfung bestanden hat oder eben sehr wenig verdient. So weit klingt Ihr Gesetzentwurf für uns nach schöner neuer Weiterbildungswelt – und ich meine das jetzt durchaus ernst –: angekommen im Zeitalter der Digitalisierung, der ökologischen Transformation und zukunftsfähig. ({5}) Aber in unseren Augen ist das alles nichts ohne Rechtsanspruch; ({6}) denn ohne einen solchen Rechtsanspruch bleibt jede Weiterbildungsstrategie eine leere Hülse. Dem Wunsch nach Weiterbildung muss auch die Möglichkeit folgen, diesen umzusetzen. Das heißt, wenn zum Beispiel eine Bürokauffrau beschließt, sich im digitalen Bereich weiterzubilden, und auch alles genehmigt bekommt, die Arbeitgeberin aber sagt: „Nein, das geht nicht“, dann sieht es schlecht aus; dann fällt diese schöne neue Welt der Weiterbildung wieder in sich zusammen. Deshalb brauchen wir den Rechtsanspruch. ({7}) Guter Wille genügt nicht, Freiwilligkeit auch nicht. Und es braucht natürlich einen Freistellungs- oder Teilfreistellungsanspruch mit einem garantierten Recht auf Rückkehr in Vollzeit; das korrespondiert ja mit dem Rechtsanspruch. Wer Zeit für Weiterbildung braucht und sich weiterbilden darf, der muss auch das Recht haben, im Betrieb eine Auszeit zu nehmen oder in Teilzeit zu arbeiten, die Zeit zu bekommen, die dafür erforderlich ist, und danach auch wieder in Vollzeit zurückkehren zu können. Dabei muss man auch bedenken: So eine Weiterbildung ist ja nicht nur etwas für die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, sondern nützt auch dem Betrieb. Deshalb brauchen diese Weiterbildungswilligen Unterstützung, Planungssicherheit und ausreichende gesetzliche Vorgaben. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, Weiterbildung benötigt nicht nur Zeit, sondern auch Geld. Wir Grüne wollen deshalb das Aufstiegs-BAföG zu einem Weiterbildungs-BAföG weiterentwickeln. ({8}) Damit wollen wir erreichen, dass nicht nur der Aufstieg, sondern quasi auch der „Seitenstieg“ gefördert wird. Was meinen wir damit? Unserer Meinung nach muss es möglich sein, die Karriereleiter nicht immer nur Sprosse für Sprosse nach oben zu gehen und dabei gefördert zu werden; vielmehr wollen wir die Förderung von Weiterbildung auch auf der Qualifikationsebene, auf der sich jemand schon befindet, also im wahrsten Sinne des Wortes einen „Seitenstieg“. Das bedeutet, die Möglichkeit zu haben, sich breiter aufzustellen auf der Qualifikationsebene, auf der man sich eben schon befindet, dort mehr Wissen zu erlangen und weiterzukommen, wo man es braucht, profilgenau. Wir müssen also viel mehr Geld in Weiterbildungsmaßnahmen stecken, die nicht nur dem persönlichen Aufstieg dienen, sondern auch Profile und Fertigkeiten sinnvoll ergänzen. Auch hier muss eine Finanzierung für anerkannte und zertifizierte Maßnahmen durch das AFBG eröffnet werden. ({9}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, was braucht es also für gute Weiterbildung? Es braucht einen Rechtsanspruch auf Weiterbildung, das Recht auf Freistellung, eine gute finanzielle Förderung, den „Seitenstieg“ statt nur Aufstieg. Und richtig rund wird das Ganze natürlich mit einer qualitativ hochwertigen Weiterbildungsberatung. Da reicht es nicht, nur Onlineprofile zu erstellen und Onlinekurse anzubieten. Wir brauchen Menschen mit pädagogischem und psychologischem Wissen, die nicht nur Kurse verkaufen, sondern auch Kompetenzen erfassen, Persönlichkeit erkennen, Ziele identifizieren und – das ist wichtig – einen guten Überblick über die Finanzierungsmöglichkeiten und die Weiterbildungslandschaft geben. Also mein Fazit für heute: dichten, denken, weiterbilden; die Weiterbildung so stark machen, wie sie es verdient und wie wir es brauchen, und allen Menschen realistische Chancen darauf eröffnen. Danke. ({10})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Stephan Albani, CDU/CSU. ({0})

Stephan Albani (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004241, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das sind wirklich „Los Wochos“ für die berufliche Bildung. ({0}) Vor 14 Tagen haben wir erleben dürfen, wie das Berufsbildungsmodernisierungsgesetz durch den Bundesrat gegangen ist. Dann gab es – glücklicherweise – zwölf neue oder halbneue Meisterberufe zurück. Und heute das AFBG. Also, das ist wirklich mal ein klarer Sprung und eine klare Aussage für die berufliche Bildung. ({1}) Heute ist nun Weiterbildung das zentrale Thema. Es wurde schon gesagt: Weiterbildung wird das Thema nicht nur der kommenden Jahre, sondern wahrscheinlich der kommenden Jahrzehnte sein, das uns beschäftigen wird. Weiterbildung ist selbstverständlich; aber wir möchten eigentlich mehr. Wir möchten, dass sie nicht nur selbstverständlich, dass sie nicht nur ein Muss ist; sie soll ein „will“ sein, sodass gesagt wird: Wir möchten uns weiterbilden. – Interesse an Zukunft, Interesse und Freude an Veränderung – das ist das, was wir vermitteln wollen und wofür wir hier auch die Rahmenbedingungen schaffen wollen, damit es nicht am Finanziellen scheitert. In jedem Fall müssen wir erreichen, dass zwei Punkte adressiert werden: Wir haben zum einen den Fachkräftemangel und zum anderen ein erhebliches Nachwuchsproblem. Bei Ersterem wissen wir: Viele Unternehmen sind bereits akut von dem Mangel an Fachkräften betroffen. Mehr als 60 Prozent der Unternehmen sehen darin eine Gefahr für ihre Geschäftsentwicklung. Der Fachkräftemangel als Entwicklungshemmnis ist aus Sicht der Unternehmen merklich angestiegen, und dem müssen wir begegnen. Das Zweite ist der Nachwuchsmangel. Bis zum Jahr 2020 plant demnach beinahe jeder vierte Inhaber oder jede vierte Inhaberin eines Handwerksbetriebs, an eine Nachfolgerin oder einen Nachfolger zu übergeben. Über 180 000 Inhaberinnen und Inhaber suchen also eine Nachfolge. Hierfür werden wir mit der Änderung des AFBG einen wichtigen begleitenden und unterstützenden Ansatz bieten, wobei das AFBG auch schon in der Vergangenheit ein großer Erfolg war. Seit Inkrafttreten des AFBG im Jahr 1996 konnten rund 2,8 Millionen berufliche Aufstiege zu Führungskräften, Mittelständlern und Ausbildern für Fachkräfte von morgen mit einer Förderungsleistung von insgesamt 9,2 Milliarden Euro ermöglicht werden. Die Zahl der Empfängerinnen und Empfänger von Leistungen nach dem Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz ist im Jahr 2018 gegenüber dem Vorjahr um 1,6 Prozent und damit um 2 600 auf 167 000 gestiegen. Ein Drittel der Geförderten – Frau Bahr hat es schon gesagt – sind Frauen, und diese Zahl ist – besonders erfreulich – in den letzten Jahren deutlich angestiegen. Ursächlich ist im Wesentlichen die schrittweise Anpassung der landesrechtlichen Regelungen für die Erzieherberufe, was uns an dieser Stelle sehr freut; denn es ist ein wichtiges Zeichen für unsere Gesellschaft und die Zukunft unserer Gesellschaft, gerade diese Berufe deutlich zu fördern. ({2}) Dadurch können Angehörige dieser Berufe bei entsprechenden Fortbildungsmaßnahmen auch Aufstiegs-BAföG erhalten. Ich denke, das, was wir jetzt machen, zeigt deutlich: Man kann Gutes auch noch verbessern. Wir haben eine komplementäre Förderung. Es soll nun für jede Fortbildungsstufe, die den DQR-Niveaus 5, 6 und 7 entspricht, die wir im Berufsbildungsgesetz entsprechend adressiert haben, ein passgenauer Förderanspruch im AFBG bestehen. Bisher gab es dies nur für eine. Ich denke, gerade hier können wir deutlich machen: Dass Karriere, Weiterbildung, Aufstiegschancen in allen Bereichen gegeben sein müssen, ist ein Zeichen von diesem Hause in den Markt hinein, das sehr richtig ist. ({3}) Des Weiteren haben wir ein Modernisierungspaket, aber vor allen Dingen haben wir erhebliche Leistungsverbesserungen. Die Unterhaltsförderung wurde zu einem Vollzuschuss ausgebaut. Die Erhöhung des Kinderbetreuungszuschlages auf 150 Euro stärkt die Situation der Betroffenen und macht vor allen Dingen eines deutlich: Zwischen die Begriffe „Karriere“ und „Familie“ gehört ein „und“ und kein „oder“. Dies muss deutlich gemacht werden. ({4}) Aber vor allem – das ist das Entscheidende, und da freue ich mich, dass wir dies in den Verhandlungen geschafft haben; ich danke Herrn Rabanus, aber auch Frau Bahr, die das jetzt übernommen hat, ganz herzlich für die gute Zusammenarbeit in den Verhandlungen, auch mit dem Ministerium; diese Verhandlungen haben wir bereits seit Anfang dieses Jahres geführt – sendet dies ein klares Zeichen: Wer die Weiterbildungsstufen, die Fortbildungsstufen an dieser Stelle durchschreitet und dann bereit ist, Verantwortung zu übernehmen – einen Betrieb, einen elterlichen Betrieb zu übernehmen oder einen zu gründen –, der darf, muss und braucht nicht von einer Darlehensschuld belastet sein. Insofern wird denjenigen, die diesen Weg gehen, die Darlehensschuld vollständig erlassen. Ich glaube, ein deutlicheres Zeichen, sich auf diesen Weg zu machen, kann man sich an dieser Stelle gar nicht vorstellen. ({5}) Ferner haben wir in den Fokus genommen, dass für eine Zinsfreistellung des Darlehens – es werden jetzt noch die Umsetzungswege geprüft – die Umsetzung angegangen wird, sodass zum 1. Januar 2023 dies Ziel vorgesehen ist und damit ein entsprechender Wechsel der Systeme der Finanzierung vorgenommen wird. Ich glaube, auch dies ist im Sinne der Äquivalenz zwischen dem akademischen BAföG und dem genannten Meister-BAföG. Das ist ein wichtiger Schritt. Ein weiterer Punkt. Wir haben viele Formen der Weiterbildung. Wir sind momentan in der Diskussion über neue Weiterbildungsmethoden. Ich freue mich auf die Diskussionen im Ausschuss, in denen wir schauen, wie wir Weiterbildung noch attraktiver machen. Wir haben in der Enquete-Kommission und auch im Ausschuss viele Ansätze bereits beraten und werden dies auch zukünftig tun. Aber man muss für ein sinnvolles politisches Verfahren immer ein Standbein und ein Spielbein haben. Heute ist das Spielbein, mit dem wir vorangehen, das AFBG, das in der beschriebenen Form verändert wird. Darüber freue ich mich, und darüber sollten wir alle auch nach draußen positiv berichten. ({6}) Zu guter Letzt möchte ich stellvertretend für alle, die sich auf den Weg der beruflichen Bildung machen, meinem Sohn gratulieren, der vor 25 Minuten seine erste Prüfung in der dualen Ausbildung bestanden hat. ({7}) – Lorenz.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Den Glückwünschen schließt sich das ganze Haus an, Herr Kollege. ({0}) Nächster Redner ist der Kollege Frank Pasemann, AfD. ({1})

Frank Pasemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004847, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Ministerin! Meine Damen und Herren! Liebe Gäste auf den Rängen! Wir erleben derzeit eine Gesellschaft im Wandel. Dieser Wandel betrifft auch und vor allem die Arbeitswelt. Durch die verfehlte Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Energiepolitik der Merkel-Regierung der letzten Jahre droht der Wirtschaftsstandort Deutschland immer weiter deindustrialisiert zu werden. Ohne Not lässt sich die Union von Linken und Grünen nicht nur in diesen Politikfeldern treiben. Völlig unabhängig von den derzeitigen deutschen Unzulänglichkeiten geht die Digitalisierung der Alltagswelt auf internationaler Ebene vonstatten und spiegelt sich auf der nationalen Ebene unserer Arbeitswelt wider. Schon jetzt sehen sich Selbstständige und Arbeitnehmer vor eine bisher nicht dagewesene Situation gestellt: Was in der Jugend und im jungen Erwachsenenalter ge- und erlernt wurde, ist nach wenigen Jahren im Beruf Schnee von gestern. Das lebenslange Lernen gehört inzwischen zu unserem Alltag und wird von eigenverantwortlich denkenden und handelnden Bürgern längst umgesetzt. Das hier vorgelegte Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz wird den Anforderungen beruflicher Weiterbildung in der Fläche nicht annähernd gerecht, aber die Novellierung ist ein Fortschritt. Der grüne Antrag zum sogenannten Weiterbildungs-BAföG ist dagegen ein weiteres trauriges Beispiel für die wirtschaftspolitische Realitätsferne der Grünen. ({0}) Der vorliegende Antrag lässt vollkommene Unklarheit darüber, nach welcher konkreten Maßgabe zukünftig gefördert werden soll, was das Ergebnis der Förderung sein soll und was dafür aufgewendet werden muss. ({1}) Die Praxis der staatlich gestützten Weiterbildungsmaßnahmen in Deutschland hält mit dem eingangs erwähnten Wandel der Arbeitswelt nicht annähernd Schritt. Dieser Umstand wird sich in den nächsten Jahren noch erheblich verstärken. ({2}) Es ist angezeigt, gerade im Bereich der beruflichen Weiterbildung auf eigenverantwortliches Handeln sowie eigenes Bemühen der Bürger zu setzen und dies zu fördern. ({3}) Der Arbeitnehmer hat in seinem Arbeitsumfeld den aktiven Part zu übernehmen, um stets auf dem Stand der Technik und des notwendigen Fachwissens zu bleiben. ({4}) Deutschland befindet sich mit der bisherigen Art der Wirtschafts- und Berufsbildungspolitik auf dem weltwirtschaftlichen Abstellgleis. Die Bundesregierung muss sich schleunigst abwenden von grüner und linker Klientelpolitik. Es ist geradezu blanker Hohn, wenn die Bundesregierung unter dem Eindruck der Klimahysterie aus Schlüssel- und Spitzentechnologien aussteigt ({5}) und somit für Abertausende Arbeitslose sorgt, die dann über Bildungsmaßnahmen wieder in den Arbeitsmarkt integriert werden müssen. ({6}) Selbstständiges und eigenverantwortliches wirtschaftliches Handeln muss sich wieder lohnen und die arbeitenden Menschen in die sichere Lage versetzen, eine Familie mit Kindern gründen und ernähren zu können. ({7}) So richtig es auch ist, eine sozialverträgliche Weiterbildungsmöglichkeit zu schaffen, so falsch ist es, alles und jeden fördern zu wollen. Was wir in Deutschland wieder viel mehr brauchen, sind keine theoretisierenden staatsnahen Geisteswissenschaftler, ({8}) sondern wertschöpfend tätige Bürger, die durch den Erfolg der eigenen Arbeit unsere Volkswirtschaft voranbringen. ({9}) Eine angemessene bildungspolitische Förderung durch den Staat erfolgt auch nicht über die Schaffung einer Vielzahl nichtssagender neuer Berufsbezeichnungen oder unspezifischer Förderungsmaßnahmen, sondern durch die substanzielle Unterstützung bei der Aus-, Fort- und Weiterbildung der bereits bestehenden konventionellen Ausbildungsberufe. Der Mittelstand und insbesondere das deutsche Handwerk waren und sind das Rückgrat unserer Wirtschaft. Hilfe zur Selbsthilfe wäre die sinnvollste Unterstützung. Minimieren Sie doch zum Beispiel die horrende Steuerlast des Mittelstandes. Lassen Sie zu, dass Unternehmen sich mit dem Geld selbst um die Weiterbildung ihrer Arbeitnehmer kümmern können. ({10}) Das wäre ein wahrhafter Ansatz im Interesse des Mittelstandes und der deutschen Wirtschaft. Vielen Dank. ({11})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Oliver Kaczmarek, SPD, ist der nächste Redner. ({0})

Oliver Kaczmarek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004063, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das ist ja wirklich ein interessanter Punkt in der bildungspolitischen Debatte; denn wir befinden uns in einem tiefgreifenden Wandel, der unsere Arbeitswelt, der den Alltag radikal verändert. Es gibt Menschen, die sich fragen: Welche Antworten liefert eigentlich die Bildungspolitik auf diese Themen? Es geht auch darum, worauf sie sich bei diesem Wandel verlassen können. Wenn die Menschen mit diesem Wandel klarkommen sollen, dann brauchen sie vor allem Sicherheit und Selbstbestimmung. ({0}) Sie sollen selbst bestimmen, wie sie ihren Weg in diesem Wandel gestalten. Sie sollen Chancen für Aufstieg und berufliche Weiterbildung bekommen, und zwar jeder Beschäftigte. Das machen wir, weil wir getragen sind von der Auffassung, dass nur das die Innovationsfähigkeit von Wirtschaft und Gesellschaft erhält. Ich will einmal darauf eingehen, dass wir hier im Bundestag und in der Koalition ein umfassendes Maßnahmenpaket für Weiterbildung im Wandel vereinbart haben und mit der klaren Botschaft auf die Menschen zugehen: Wir lassen niemanden im Wandel allein. Wir wollen Sicherheit im Wandel für alle Beschäftigten. ({1}) Hierzu gehört, dass das Aufstiegs-BAföG in einer politischen Linie mit weiteren Gesetzen und Vorhaben steht, die zweierlei Dinge verbinden, nämlich zum einen das Ansinnen, berufliche und akademische Bildung tatsächlich gleichwertig zu gestalten, Meister und Master wirklich zu gleichwertigen Optionen zu machen, und zum anderen die Weiterbildung als eigenständigen Bildungssektor auszubauen. Dazu gehören mehrere Gesetze; ich nenne mal: das Qualifizierungschancengesetz, das wir hier schon vereinbart haben. Es macht Weiterbildung einfacher zugänglich durch die Übernahme von Weiterbildungskosten, Zuschüsse zum Arbeitsentgelt bei der Weiterbildung oder die verbindliche Weiterbildungsberatung bei der Bundesagentur für Arbeit. Ferner ist zu nennen: das Berufsbildungsgesetz – es ist hier schon angesprochen worden. Es beinhaltet nicht nur die Mindestausbildungsvergütung – das war schon ein großer Erfolg –, sondern auch die Öffnung des Rahmens für eine neue höhere Berufsbildung. Dazu gehört die Nationale Weiterbildungsstrategie, die Minister Heil und Ministerin Karliczek gemeinsam auf den Weg gebracht haben. Diese Strategie vernetzt die Angebote der Weiterbildungsberatung und schafft Transparenz. Die Wege zur Weiterbildung werden für die Betroffenen zugänglicher durch die flächendeckende Vernetzung von lebensbegleitender Weiterbildungsberatung und durch die Stärkung – das ist ganz besonders wichtig – der Sozialpartner in diesem Weiterbildungsprozess. ({2}) Damit noch nicht genug. Hubertus Heil, unser Bundesarbeitsminister, plant ein Arbeit-von-morgen-Gesetz, das Sicherheit für alle schafft, die sich schon im Wandel befinden, deren Arbeitsplätze von akutem Wandel bedroht sind, die sich Gedanken machen: Wie geht es mit mir, mit meinem Arbeitsplatz weiter? Denjenigen wollen wir eine Perspektivqualifizierung und ein zukunftsfestes Kurzarbeitergeld anbieten, das auch berufliche Qualifizierung miteinbezieht. Meine Damen und Herren, das alles sind Maßnahmen, die wir schon auf den Weg gebracht haben, die Sicherheit im Wandel schaffen sollen und in die sich das Aufstiegs-BAföG nahtlos eingliedern lässt. ({3}) Das Aufstiegs-BAföG richtet sich an alle, die aus eigener Überzeugung ihre Position am Arbeitsmarkt verbessern wollen, die sich höher qualifizieren wollen, die einen beruflichen Aufstieg planen. Wir richten uns an die Zimmerleute, an die Fleischerinnen und Fleischer, den Zahntechniker, die Handwerksmeister werden wollen. Wir richten uns an die Beschäftigten im Maschinenbau, in der Chemie, in der IT-Branche, die staatlich geprüfte Techniker werden wollen, und nicht zuletzt – das ist hier gerade schon gesagt worden – an diejenigen, die in den sozialen Berufen wichtige Verantwortung für unsere Gesellschaft übernehmen. All die, die ich angesprochen habe, ermuntern wir, sich auf den Weg zu machen. Wir geben ihnen den Rückhalt und die Unterstützung für ihren Weg, nicht nur mit Worten, sondern mit handfester Unterstützung, indem wir Sicherheit im Wandel schaffen. ({4}) Niedrigschwellige Zugänge, neue Weiterbildungsmöglichkeiten, Transparenz und Beratung in der Weiterbildung, Sicherheit in Akutsituationen im Wandel, Chancen für Höherqualifizierung und Aufstieg – das alles bildet den Rahmen für eine neue Weiterbildungspolitik, die der Bund einleitet. Wir begleiten das Zeitalter des lebensbegleitenden Lernens aktiv und verbessern damit die Möglichkeiten für Weiterbildung auf allen Ebenen. So schaffen wir tatsächlich Sicherheit im Wandel. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Thomas Sattelberger, FDP. ({0})

Dr. h. c. Thomas Sattelberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004869, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die CDU/CSU bittet kläglich um ein Lob. ({0}) Ihre Novelle, Frau Ministerin: Anerkennung und Zustimmung. Was halt wehtut, lieber Herr Albani, das Standbein für das AFBG, die grauslich benannten Fortbildungsstufen: Berufsspezialist, Bachelor Professional und Master Professional. ({1}) Sie verhunzen die Gleichwertigkeit ({2}) von beruflicher und akademischer Bildung. ({3}) Statt einer schrägen Titeldebatte wäre für das AFBG die Entwicklung moderner innovativer Fortbildungsberufe nötig. Die Welt des Handwerks verändert sich, Herr Albani. Moderne, differenzierte Karrieren halten Einzug in das Handwerk: Technologiekarrieren, generalistische Unternehmerkarrieren, generell die Expertenkarrieren neben den klassischen Meisterkarrieren. Das müsste sich in Fortbildungsstufen genauso wie in Fortbildungsordnungen und Fortbildungsberufen niederschlagen – auch bei Ihren Master Professionals, Frau Ministerin. Auf der Qualifikationsstufe 7 ist die Luft verdammt dünn ({4}) neben dem geprüften Strategischen Professional (IT) und dem Betriebswirt: heiße Luft. ({5}) Wir brauchen Fortbildungsberufe, mit denen das Handwerk tatsächlich einen Sprung in die digitale Welt machen kann: der Gebäudesystemintegrator, der Handwerker „Smart Living“, der Smart-Grid-Spezialist, der Sonnenschutzmechatroniker. ({6}) Berufliche Bildung als Innovationsmotor: überfällig, Frau Ministerin! Wir brauchen eine Förderung für zukunftsweisende Fortbildung. ({7}) Denn dem Handwerk – das muss man schon deutlich sagen – mangelt es in Teilen an innovativen Geschäftsmodellen. 64 Prozent der Handwerker sagten kürzlich, sie hätten Berührungsängste gegenüber neuen Technologien. 3-D-Druck, Roboter: Hier klafft eine riesige Lücke zwischen Potenzial und Anwendung im Handwerk. Zudem suchen Hunderttausende kleine und mittlere Unternehmen mühselig Nachfolger. Fundament für dies alles wäre die von uns geforderte Exzellenzinitiative der beruflichen Bildung. ({8}) Sie bessern, Frau Ministerin, jetzt nur das Aufstiegs-BAföG nach. Überfällig und endlich! Wir haben ein gravierendes Missverhältnis bei der Unterstützungsquote. Akademiker werden in diesem Land deutlich stärker gefördert als beruflich Qualifizierte: fünfmal so viele Akademiker und Akademikerinnen und viermal so viele Mittel. Summa summarum: Wenn Gleichwertigkeit sich nicht nur auf Bildung bezieht, sondern auch auf lebenslange Bildungsrendite und auf Karriereperspektiven, dann muss in die Talentförderung noch mal ein richtiger Schub kommen, und zwar durch die Exzellenzinitiative berufliche Bildung. Diesmal, liebe Frau Karliczek: Bleiben Sie dran am Speck! ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Katrin Staffler, CDU/CSU, ist die nächste Rednerin. ({0})

Katrin Staffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004901, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin ja fast sprachlos: Ein Lob von Herrn Dr. Sattelberger zu bekommen, zeigt: Wir sind offensichtlich auf einem guten Weg. ({0}) Gestern haben wir hier im Plenum die Änderung der Handwerksordnung beschlossen und damit den Weg freigemacht für die Wiedereinführung der Meisterpflicht. Für das Führen eines Betriebs in den jetzt wieder zulassungspflichtigen Gewerken, also zum Beispiel Fliesen- und Parkettleger, Schilder- und Lichtreklamehersteller, Estrichleger, wird nun wieder ein Meisterbrief erforderlich sein. Damit verpflichten wir diejenigen, die solch einen Betrieb führen wollen, dass sie sich fortbilden, dass sie eine Aufstiegsfortbildung machen. Letztens hat mir in diesem Zusammenhang ein Bürger aus meinem Wahlkreis geschrieben. Er hat gefragt, ob wir denn bei dieser ganzen Debatte über die Stärkung der beruflichen Bildung und gerade bei den Aufstiegsfortbildungen wie dem Meister vergessen haben, dass das Ganze was kostet. Er hat gesagt, dass die Kostenpflicht der Meisterschule immer noch junge Menschen davon abschrecken würde, diesen Weg einzuschlagen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, er hat natürlich völlig recht. Wenn wir darüber sprechen, dass wir die berufliche Bildung stärken wollen, wenn wir darüber sprechen, dass die berufliche Bildung gleichwertig mit der akademischen Bildung sein soll, dann müssen wir natürlich auch die Frage der Finanzierung mitdenken; Beate Walter-Rosenheimer hat es gesagt: Nicht nur mitdenken, sondern auch mitmachen. ({1}) Genau das tun wir. Wir arbeiten an der Finanzierung der beruflichen Aufstiegsfortbildung. In der akademischen Bildung unterstützen wir unsere Studenten sehr wohl schon finanziell. Daher sehen wir uns als Union, im Sinne der Gleichwertigkeit, natürlich in der Pflicht, dass wir auch denjenigen finanziell genauso unterstützen, der durch eine berufliche Ausbildung aufsteigen will. Genau diesen Menschen soll das Aufstiegs-BAföG jetzt zugutekommen. Mit der Modernisierung des Berufsbildungsgesetzes in diesem Jahr haben wir schon wichtige Strukturen und Maßnahmen geschaffen, um die berufliche Bildung zu stärken. Die Diskussionen zu den neuen Abschlussbezeichnungen haben wir sicherlich alle noch gut in Erinnerung. Mit der Novelle des Aufstiegs-BAföG setzen wir genau da wieder an: Wir unterstützen den beruflichen Aufstieg jetzt auch finanziell. Die Ministerin und der Kollege Albani haben die wichtigsten Punkte der Novelle schon genannt. Zum Abschluss möchte ich die für mich wichtigsten Themen noch mal zusammenfassen: Wir wollen zukünftig nicht nur eine Fortbildungsstufe fördern, sondern mehrere. Wir wollen diejenigen unterstützen, die sich selbstständig machen oder einen Betrieb übernehmen wollen, indem wir ihnen die Kosten der Fortbildung nach drei Jahren erlassen. Wir wollen auch die Leistungen an sich verbessern – mit höheren Zuschussanteilen, mit höheren Freibeträgen und mit höheren Darlehenserlassen. ({2}) Die aktuellen Zahlen des Bundesinstituts für Berufsbildung zeigen uns ja eines: Demografiebedingt sinken die Schulabgängerzahlen, und das schlägt heute schon auf den Ausbildungsmarkt durch. Wir hatten im Ausbildungsjahr 2018/19 erstmals weniger als 600 000 junge Leute, die sich für eine Karriere in der beruflichen Bildung entschieden haben. Auch die Zahl der abgeschlossenen Ausbildungsverträge ist erneut zurückgegangen, konkret um 6 300 auf jetzt 525 100 unterschriebene Verträge. Das sind 1,2 Prozent weniger als noch im letzten Jahr. Deswegen ist es, glaube ich, heute wichtiger denn je, die Arbeit am eigenen Bildungsaufstieg, dass also jeder Einzelne daran arbeitet, auf seinem beruflichen Weg aufsteigen zu können, attraktiver zu machen und diesen Weg für mehr Menschen zu öffnen. ({3}) Es ist außerdem auffällig, dass von den jungen Menschen, die gerne eine berufliche Ausbildung machen und diesen Weg einschlagen möchten, aber keinen für sie persönlich passenden Ausbildungsplatz gefunden haben, zwei Drittel den mittleren Schulabschluss oder sogar eine Hochschulzulassungsberechtigung hatten. Diesen Jugendlichen fehlen in vielen Berufen einfach die klaren Aufstiegsperspektiven. Deswegen: Wir brauchen abgestimmte und lebensnahe Fort- und Weiterbildungsangebote, die einen Aufstieg mit System vorwegdenken. Damit können wir dann die Attraktivität der beruflichen Bildung für die potenziellen Fachkräfte von morgen, für die Fachkräfte der Zukunft, steigern. Die Chancen für junge Menschen sind nach 14 Jahren unionsgeführter Regierungen so gut wie nie zuvor. Mit dem Aufstiegs-BAföG hat die Regierung jetzt das letzte wichtige Gesetzesvorhaben zur Stärkung der beruflichen Bildung vorgelegt, im Übrigen nach nicht einmal zwei Jahren Regierungszeit. ({4}) Wir halten Wort. Wir machen Lust auf Bildung, egal ob im Ausbildungsbetrieb, im Hörsaal oder in der Meister- und Technikerschule. Deswegen kann ich mit gutem Gewissen dem Bürger aus meinem Wahlkreis, der mir geschrieben hat, antworten: Nein, wir haben die Meisterschüler eben nicht vergessen. Es tut sich etwas, nicht nur in der beruflichen Bildung an sich, sondern auch beim Bildungsaufstieg. – Das ist eine gute Botschaft für die Menschen in unserem Land. Vielen Dank. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Voraussichtlich letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Yasmin Fahimi, SPD. ({0})

Yasmin Fahimi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004713, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer! Diese Bundesregierung baut Wege der beruflichen Bildung umfassend aus, und zwar belastbar, sicher und ohne unübersichtliche Kurven. Mein Kollege Stephan Albani hat es bereits beschrieben: Das, was wir in den letzten Monaten auf den Weg gebracht haben, ist insgesamt, im Paket, zu sehen. Allem voran stehen die Modernisierung des Berufsbildungsgesetzes und die Verbesserung der Ausbildungsbeihilfe, mit der wir gute, starke Rahmenbedingungen für eine qualifizierte Ausbildung geschaffen haben. ({0}) Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist nämlich unser Verständnis von Attraktivitätssteigerung. Wir wollen keine ständigen Negativkampagnen gegen das Studieren. Die AfD aber wird nicht müde, diese bei jeder Debatte zur beruflichen Bildung zu führen, ({1}) weil es ihr am Ende um etwas ganz anderes geht. Es geht Ihnen nämlich nicht um die Stärkung der beruflichen Bildung, es geht Ihnen darum, den akademischen Raum abzuschotten für das, was Sie Leistungselite nennen. ({2}) Zurück zum Thema. Das sogenannte Meister-BAföG schafft eine verlässliche Finanzierung und echte Planbarkeit. Diese Leistungen kommen, lieber Jens Brandenburg, bei den Menschen an. Mit diesem Gesetz schaffen wir eine klare Formulierung für das, was förderungsbedürftig ist. ({3}) Auch wenn man in den Ländern vielleicht Verbesserungen vornehmen kann, sollte man jetzt nicht das Haar in der Suppe suchen und sagen, dass es angeblich so kompliziert ist, sein Geburtsdatum in der Betreffzeile anzugeben. Vielleicht denken Sie noch einmal darüber nach. ({4}) Planungssicherheit und finanzielle Förderung schaffen echte Gleichwertigkeit. Das ist das Versprechen, das wir geben wollen: Selbstbestimmung auf dem Berufsweg und Anstrengungen, die anerkannt und gefördert werden. Hier ist schon viel zu den Verbesserungen, die wir jetzt vornehmen, gesagt worden. Ich möchte noch einmal die konsekutive Mehrfachförderung herausstellen. Entlang der Fortbildungsstufen, die wir im Berufsbildungsgesetz geschaffen haben – das sind, Herr Sattelberger, auch wenn es wehtut: Berufsspezialist, Bachelor Professional, Master Professional –, wollen wir den Fortbildungswilligen dieselben Konditionen zugestehen, sodass sie nicht alles auf eine Karte setzen müssen. ({5}) Das ist doch genau das, was wir in der Enquete-Kommission längst diskutieren: lebensbegleitende Fortbildung fördern, Altersbegrenzungen abschaffen und Qualitätsbausteine für eine echte Qualifizierung schaffen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ja, die Sozialpartner müssen dies auch aufgreifen und die Fortbildungsstufen jetzt noch mit Leben füllen. Aber wir machen doch insgesamt mit diesen Paketen eines deutlich: Wer sich auf den Weg zum Aufstieg durch Bildung macht, dem bestellen wir heute den Fahrstuhl. Unsere Botschaft an die jungen Menschen ist: Du hast die freie Wahl. – Wir wollen nicht wie die AfD, dass es vom Arbeitgeber abhängig ist. Wir sagen: Du hast die freie Wahl, dich zu entscheiden, und dieser Weg wird ein leichter sein. Ich wünsche einen schönen dritten Advent! ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit schließe ich die Aussprache.

Christian Dürr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004705, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ganz herzlichen Dank. – Herr Präsident! Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Anlass der Debatte und des Gesetzentwurfs meiner Fraktion ist das zentrale wirtschaftspolitische Vorhaben der Großen Koalition für das Jahr 2020, nämlich die Einführung einer Bonpflicht ({0}) für alle Metzgerei- und Bäckereibetriebe in Deutschland. Das ist die zentrale Wirtschaftspolitik von Union und SPD im Jahr 2020, liebe Kollegen. ({1}) – Jetzt höre ich gerade Widerspruch. Was ist denn Ihr zentrales wirtschaftspolitisches Vorhaben vor dem Hintergrund einer kriselnden Konjunktur, liebe Kollegen? ({2}) Ich finde, im Raum ist es gerade relativ ruhig. Es gibt in Wahrheit zurzeit keine Wirtschaftspolitik dieser Großen Koalition, um das in aller Deutlichkeit zu sagen. ({3}) Ich sage dies, Herr Kollege Schwarz, vor dem Hintergrund, dass Deutschland in der Europäischen Union beim Wachstum gerade gemeinsam mit Italien Schlusslicht ist. Deutschland braucht jetzt eine gute Wirtschaftspolitik. Und ich frage: Wo ist der Minister für den deutschen Mittelstand, Herr Altmaier, zurzeit? Nichts macht er für den deutschen Mittelstand. ({4}) Es soll – das ist das Ziel der Großen Koalition, sozusagen ihre Antwort auf die Krise – für jedes Brötchen, das über den Ladentisch geht, ab sofort, verpflichtend ein Kassenbon ausgedruckt werden. ({5}) Wir hören immer wieder Beteuerungen auch vom Wirtschaftsminister, Stichwort „Bürokratieabbau“. Das sind Sonntagsreden. Die Realität ist, dass die Bundesregierung, obwohl sie gerade vermeintlich ein Bürokratieentlastungsgesetz auf den Weg gebracht hat, gleich im nächsten Atemzug neue Bürokratie schafft. Nach dem Arbeitszeiterfassungsgesetz, nach der Mindestlohndokumentationspflicht, nach der Deklarationspflicht und der Lebensmittelkontrollgebühr kommt jetzt der nächste Kalauer, liebe Kollegen. Sie tun nichts anderes, als den Mittelstand und insbesondere das Bäckerhandwerk zu belasten. Das sind kleine und mittelständische Unternehmen, gegen die sich Ihre Politik hier richtet. ({6}) Dabei sind die Zahlen sehr eindeutig. Weniger als 3 Prozent der Kundinnen und Kunden in Bäckereien wünschen einen Kassenbon. Mit anderen Worten: Über 97 Prozent sollen ab dem 1. Januar 2020 einen Kassenzettel in die Hand bekommen, den sie dann direkt in einen Mülleimer werfen werden. Wir reden hier viel über Digitalisierung. Sie zwingen allein die Bäckereien – das sind jetzt Zahlen, Daten, Fakten –, über 5 Milliarden Bons pro Jahr zusätzlich auszudrucken. Das ist das 25-Fache des Erdumfangs oder die zweieinhalbfache Wegstrecke von der Erde bis zum Mond, liebe Kollegen. Ich frage mich übrigens, wo die Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen an dieser Stelle bleiben. Das hat mit Umwelt- und Klimaschutz gar nichts zu tun; das ist das Gegenteil dessen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({7}) In den vergangenen Tagen hat sich ja jemand – da schaue ich in Richtung der Kollegen der SPD – als großer Fan des Bonausdruckens entpuppt, nämlich der neue Parteivorsitzende der SPD, Norbert Walter-Borjans. Norbert Walter-Borjans hat erklärt: Das ist genau die richtige Politik, die man machen muss. – Das ist Misstrauen gegen kleine und mittlere Handwerksbetriebe. ({8}) – Ganz genau, Herr Schwarz. ({9}) Jetzt haben wir bei der GroKo die vergangenen Monate erlebt, dass sie andauernd Politik für Olaf Scholz gemacht hat, Grundsteuer, Soli etc. pp. Man dreht sich direkt um und – man hört sozusagen auf den Koalitionspartner – macht jetzt Politik in Deutschland für Norbert Walter-Borjans. Ich glaube, das ist keine gute Richtschnur, liebe Kolleginnen und Kollegen, um das klar zu sagen. ({10}) Herr Walter-Borjans ist angetreten, um Politik für die kleinen Leute zu machen, wobei ich als Politiker ungern von kleinen Leuten rede, sondern lieber von starken Menschen in Deutschland. Bei dieser Idee hat er die FDP, lieber Kollege Schwarz, an seiner Seite. Stattdessen macht die SPD aber erneut eine Politik des großen Misstrauens, liebe Kollegen. Das geht wieder gegen den Mittelstand, und da zeigt sich, dass Sie einen krassen Linksschwenk gemacht haben auf Ihrem Bundesparteitag. ({11}) Ich will zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen, Herr Präsident, der SPD gar nichts unterstellen, aber zumindest fairerweise darauf hinweisen, dass die DDVG, also die Verlagsgesellschaft der SPD, zu fast 50 Prozent an einem Hersteller für Kassenbondruckmaschinen beteiligt ist. ({12}) Das nur als kleiner Hinweis am Rande. ({13}) Das ist zumindest interessant und bemerkenswert. ({14})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege.

Christian Dürr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004705, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zum Schluss, letzter Satz.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Ja, bitte.

Christian Dürr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004705, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Dabei gibt es einen pragmatischen Vorschlag für sichere Kassensysteme. ({0}) Wenn wir, so wie wir es hier im Gesetzentwurf vorschlagen, auf die Bonpflicht verzichten, helfen wir dem Mittelstand, den Kunden und auch der Umwelt in Deutschland. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dr. Hans Michelbach, CDU/CSU, ist der nächste Redner. ({0})

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Eine Bemerkung vorweg: Was in der Diskussion im Vorfeld dieser Debatte zu hören war, stellt Handwerker, Dienstleister unter den Generalverdacht der Steuerhinterziehung. Dies halte ich für ungeheuerlich. Natürlich gibt es unter Betrieben wie auch sonst im Leben leider schwarze Schafe. Daraus aber einen Generalverdacht gegen jeden Bäckermeister in der Straße, jede Fleischerei im Viertel, jeden Gemüsehändler an der Ecke oder jede selbstständige Kosmetikerin abzuleiten, ist natürlich nicht hinnehmbar und wird von uns nicht geteilt. ({0}) Die FDP will dies zum Popanz machen, meine Damen und Herren. ({1}) Das sind Leute, die mit ihrer harten Arbeit letzten Endes jeden Tag für die Versorgung von uns allen sorgen. Es sind Leute, die mit ihren Steuern das Gemeinwesen finanzieren, die mit ihren Steuern dazu beitragen, dass Schulen gebaut, Kindergärten betrieben, Sozialeinrichtungen unterhalten werden können. Darüber sollten wir uns heute einig sein. ({2}) Unter diesen Leuten hat es auch in der Vergangenheit vereinzelt Leute gegeben, die es mit der Steuerehrlichkeit nicht so ganz genau genommen haben. Aber das rechtfertigt natürlich nicht, ganze Berufsstände pauschal öffentlich unter Generalverdacht zu stellen. Das ist eine Form von Diskriminierung und Verleumdung. ({3}) Das nutzt der FDP natürlich gar nichts. Das sind letzten Endes ganz kleine Brötchen, die Sie backen, wenn Sie diesen Generalverdacht hier darstellen. Das ist nicht der Fall. Das müssen sich die Betriebe nicht gefallen lassen, weder von denen, die den Generalverdacht aussprechen, noch von den Kollegen der FDP. ({4}) Nun zum eigentlichen Kern des Problems. Um gegen schwarze Schafe vorzugehen, haben wir 2016 ein Gesetz zum Schutz vor Manipulationen an digitalen Grundaufzeichnungen beschlossen. Das ist im Übrigen in allen anderen EU-Ländern auch so. Es beinhaltet neben dem Einsatz einer zertifizierten technischen Sicherheitseinrichtung zum Schutz der Kassenaufzeichnungen auch eine allgemeine Belegausgabepflicht ab dem 1. Januar 2020. Gleichzeitig ist aber aus Gründen der Verhältnismäßigkeit auch eine Ausnahmevorschrift von der Belegausgabepflicht vorgesehen. Das unterschlagen Sie, Herr Dürr. ({5}) Das ist nun so, und da ist das Problem. Da hakt es offenbar, und die Bürokratie hat in einem Anwendungserlass überdimensional zugeschlagen. Der Inhalt des Anwendungserlasses des Bundesfinanzministeriums entspricht nicht dem Willen des Gesetzgebers. Das ist nicht vom Willen des Gesetzgebers gedeckt, meine Damen und Herren; das ist die Wahrheit. ({6}) Rückmeldungen aus der Praxis haben ergeben, dass bereits gestellte Anträge regelmäßig nicht bewilligt oder erst gar nicht beschieden werden. Im Gesetz steht, dass man aus Gründen der Zumutbarkeit eine Ausnahmeregelung letzten Endes auch genehmigen muss. Das ist die Wahrheit, und nur darum geht es. Es geht nicht um ein neues Gesetz, sondern um einen Anwendungserlass, auf dessen Grundlage diese Ausnahmeregel nicht praktiziert wird. Das ist die Situation, meine Damen und Herren. ({7}) Es ist also nicht akzeptabel, dass das Bundesfinanzministerium und die Finanzämter den erklärten Willen des Gesetzgebers hintertreiben. Wir haben festgestellt, dass das, was in diesem Anwendungserlass steht, mit den Länderfinanzministerien auch gar nicht abgestimmt ist. Deshalb fordere ich das Bundesfinanzministerium auf, den entsprechenden Anwendungserlass nachzuarbeiten. Das haben wir schon mehrfach gefordert, und wir bestehen darauf. Das ist der Weg, der zum Ziel führt, nicht das Getöse um einen neuen Gesetzentwurf, wie es die FDP hier anstimmt. Noch ist ausreichend Zeit dazu, meine Damen und Herren; denn die Belegausgabepflicht startet nicht zum 1. Januar 2020, sondern laut Gesetz nach dem ersten Halbjahr 2020. In jedem Fall gibt es einen solchen Übergangszeitraum für die Umsetzung bis zum September des nächsten Jahres. Ich fordere den Bundesfinanzminister deshalb auf, diesen Zeitraum zu nutzen und zeitnah und zügig einen neuen, mittelstandsfreundlichen Anwendungserlass mit Pflichtendispens für Kleinbetriebe zu formulieren. Das ist die Aufgabe, die hier vorhanden ist. Es geht nicht um ein neues Gesetz – davon machen wir ohnehin schon zu viele –, nicht um neue Regulierung, sondern es geht darum, dass das, was wir im Gesetz beschlossen haben, auch angewandt werden muss, nämlich die Ausnahmeregelung, meine Damen und Herren. ({8}) Dieser Erlass sollte aus Gründen der Praktikabilität und der Zumutbarkeit auch den neuen Rahmen schaffen, Einkäufe über eine kleine Summen und kleine Betriebe von der Belegausgabepflicht auszunehmen. Das ist die Aufgabe, der wir uns stellen müssen. Ich darf Sie herzlich bitten, dass wir hier eine bundesweite Regelung bekommen, indem der Bundesfinanzminister mit den Länderfinanzministern einen Anwendungserlass abspricht und dann eine einheitliche Bewegung in den Finanzämtern stattfindet, dass die Finanzämter wissen, dass sie diese Ausnahmeregelung zur Belegausgabepflicht nutzen können und nutzen müssen, wenn das ein Kleinbetrieb, eine kleine Massengeschäftstätigkeit ist. Die kleinen Brötchen, die hier von der FDP angepackt wurden, ({9}) sind abzulehnen. Die kleinen Brötchen haben Sie für Ihren politischen Zweck benutzt. ({10}) Ich wende mich grundsätzlich dagegen, dass wir den Frust von Mittelständlern, der vor dem Hintergrund der Bürokratie teilweise seine Berechtigung hat, letzten Endes für politischen Populismus, für eigene politische Zwecke nutzen, meine Damen und Herren; das ist die Situation. ({11}) Damit ist niemandem genutzt, schon gar nicht den Mittelständlern, die Entbürokratisierung fordern. Insofern sind wir in der Lage, auf den Punkt zu bringen, was notwendig ist, nämlich dass die Ausnahmeregelung, die von uns im Gesetz durchgesetzt wurde, auch Anwendung findet. ({12}) Darauf bestehen wir; denn nicht einzelne Beamte in den Ministerien haben die Aufgabe, den Gesetzeswillen zu prüfen, sondern dieses Parlament. Dieses Parlament hat die Hoheit für die Gesetze, und niemand anderes, meine Damen und Herren. ({13})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Stefan Keuter, AfD, ist der nächste Redner. ({0})

Stefan Keuter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004778, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident ! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Bürgerinnen und Bürger! Kurz vor Weihnachten müssen wir uns mit diesem FDP-Antrag beschäftigen, ({0}) der Anfang der Woche noch gar keine Drucksachennummer hatte. Ich dachte erst einmal, das ist wieder mit der heißen Nadel gestrickt. ({1}) Wir haben uns den Gesetzentwurf angeschaut, und er ist gar nicht so schlecht. Aber dazu kommen wir später. Worum geht es hier? Es geht um ein Gesetz aus dem Jahr 2016, das Gesetz zum Schutz vor Manipulation an digitalen Grundaufzeichnungen. Das heißt, es soll verhindert werden, dass Kassenaufzeichnungen im Nachhinein verändert werden können und so Steuern verkürzt werden können. Das geht mit einer Zertifizierung von Kassensoftware einher. Es sollen Einzelaufzeichnungen so verschlüsselt werden, dass sie in einer logischen Folge zu der Vor- und der Nachtransaktion stehen, und es sollen digitale Schnittstellen zu den Kassensystemen geschaffen werden, die es Finanzbeamten ermöglichen, mit einem Datenstick oder per Datenfernübertragung diese Daten zu bekommen, automatisch auszuwerten und Unregelmäßigkeiten aufzuzeigen. „Es ist eine gigantische Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für die Finanzinspektoren“, so hat es das „Handelsblatt“ richtig festgestellt. Der Witz ist: Nur wer eine elektronische Kasse hat, ist dazu verpflichtet, diese jetzt auch aufzurüsten. Jetzt kommt noch die Belegausgabepflicht hinzu, bei der Unmengen Papier produziert werden. Aber dazu komme ich später. Sie alle kennen den Begriff Crowdfunding. Was ich hier mache, ist Crowdspeaking. Ich habe Anfang der Woche in den sozialen Netzwerken veröffentlicht, dass ich heute zu diesem Thema eine Rede halte. Ich spreche sonst häufiger zu finanzpolitischen Themen und musste feststellen, dass Finanzthemen nicht immer ganz so charmant und sexy sind wie vielleicht Migrationspolitik, Sozialpolitik, Altersarmut. Das sind emotionale Themen. Aber dieses Thema, die Belegausgabepflicht und die Veränderung der Kassensysteme, hat einen regelrechten Sturm in der Bevölkerung ausgelöst. Ich habe jede Menge Zuschriften von Bürgern bekommen, die mir Zeitungsartikel zugeschickt haben, mich über Sachverhalte informiert haben und mir viele Anregungen für die Rede gegeben haben. Ich habe versucht, sie hier aufzunehmen. Ich möchte einmal über diese Auswirkungen sprechen. Das Bäckerhandwerk allein rechnet pro Jahr mit 5 Milliarden Bons, wovon circa 97 Prozent im Müll landen werden. Der deutsche Einzelhandel spricht von Bonlängen in Höhe von 2 Millionen Kilometern pro Jahr. Das ist 50-mal die Bons am Äquator um die Erde gelegt. Wir reden heutzutage über Müllvermeidung, über Papier- statt Plastikstrohhalme. Was passiert hier? Wir produzieren riesige Papier- und Müllberge. Außerdem handelt es sich bei den Bons größtenteils um Thermopapier. Das dient nicht der Müllvermeidung. Thermopapier ist wegen der Zusatzstoffe nicht so einfach recycelbar. Wir haben gerade von Herrn Michelbach gehört, dass hier Befreiungen vorgesehen sind. Das ist alles nicht so einfach. Was Sie uns verschweigen, ist, dass dies die Oberfinanzdirektion machen muss. Kompetenzen zwischen den Ländern sind nicht abgestimmt. Der Bund stiehlt sich aus seiner Verantwortung. Wie mir die Parlamentarische Staatssekretärin Ryglewski auf eine Anfrage mitteilte, gibt es gar keine Regelungs- und Abstimmungspläne zwischen Bund und Ländern. Das ist mit der heißen Nadel gestrickt. Das ist unvollständig. Das können wir Ihnen so nicht durchgehen lassen. ({2}) Was wir hier beobachten, ist eine weitere Kontrolle des mündigen Bürgers, ein zusätzlicher Bürokratieaufbau, der mit uns nicht zu machen ist. Das ist ein Weg in den Sozialismus. Die SPD-Führung mit ihrer neuen charismatischen Spitze wird das vielleicht freuen, uns als AfD nicht. Was ich Ihnen damit sagen will: Wenn Sie einen solchen Gesetzentwurf ins Parlament bringen, arbeiten Sie weiter am Projekt „einstellig“. Diese Regelung ist genauso unnötig wie die Kassenzettel und gehört auf den Müll. Jetzt kann ich nur sagen, dass wir als AfD dem FDP-Antrag zustimmen. Ich wünsche Ihnen allen frohe Weihnachten! Abschließend eine kleine Anekdote. Ich bin darauf hingewiesen worden – weil wir beim Thema Crowdspeaking sind –, dass die SPD wahrscheinlich eine größere Beteiligung an einem Unternehmen hält, das solche Zertifizierungen durchführt. Da könnte es gegebenenfalls zu einem Interessenskonflikt kommen. ({3}) Ich würde mich freuen, wenn dazu gleich ein Redner der SPD Stellung nimmt. ({4}) Als Letztes: Alles Gute nach Großbritannien. Boris Johnson: Well done! Vielen Dank. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Ingrid Arndt-Brauer, SPD, ist die nächste Rednerin. ({0})

Ingrid Arndt-Brauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003422, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! In der letzten Woche haben wir Bilder von Bäckereien gesehen, falls Sie Zeitungen gelesen haben oder im Internet die Presse verfolgt haben, bei denen die Bons aus der Tür quollen. Man hatte das Gefühl, der Bäcker kommt nicht mehr zum Backen, sondern wird von der Bonflut fast erschlagen. Die Handwerkskammer bei mir im Wahlkreis hat das Thema mit befeuert. Die FDP hat Handlungsbedarf gesehen bzw. sich wahrscheinlich an die Spitze der Bewegung gestellt und ein Gesetz zur Verhinderung einer Bonpflicht für Bäcker ins Parlament eingebracht. Die FDP ist in einer Sondersituation. Sie war in der letzten Legislaturperiode von 2013 bis 2017 nicht dabei. Daher haben Sie dieses Gesetz in seiner Entstehung auch nicht verfolgen können. Deswegen will ich kurz darauf hinweisen. 2013 hat die OECD uns auf Steuerhinterziehung mit Registrierkassen hingewiesen. Schon der Koalitionsvertrag im Jahr 2013, den wir mit dem damaligen und heutigen Koalitionspartner geschlossen haben, hat ein Vorgehen gegen Umsatzsteuerbetrug beinhaltet. 2014 hat der damalige NRW-Finanzminister, Norbert Walter-Borjans – einige werden ihn kennen –, das Problem thematisiert und von einem Steuerausfall von 10 Milliarden Euro gesprochen. Ich habe damals bei unserem Staatssekretär einmal nachgefragt. Es wurde mir nicht bestätigt, aber man wollte das im Auge behalten. ({0}) Ich habe als Ausschussvorsitzende 2014 Besuch vom Deutschen Fachverband für Kassen- und Abrechnungssystemtechnik bekommen. Damals war Herr Ketel bei mir und hat mich darauf hingewiesen, dass Kassenhersteller ein Problem auf Messen haben, weil sie immer gefragt werden: Ist die Kasse, die Sie hier anbieten, manipulierbar? – Das ist ihm komisch vorgekommen, und er wollte es mir mitteilen. Also: Es gab einen Bedarf an manipulierbaren Kassen. ({1}) Wir haben dann mit Praktikern aus Niedersachsen und NRW Kontakt aufgenommen. Die haben uns dann manipulierbare Kassen vorgeführt. Ich möchte Ihnen das kurz erklären. Sie müssen sich das so vorstellen: Sie sind in einem Restaurantbetrieb. Der Kellner arbeitet zuverlässig, die Gäste bezahlen ordnungsgemäß. Alles wird ordnungsgemäß in die Kasse gelegt. Keiner arbeitet in irgendeiner Weise kriminell. Am Ende aber kommt der Restaurantbesitzer mit einem Keycode, also mit einer Mastercard, an die Kasse und macht abends die Abrechnung. Die Kasse druckt einen Umsatz von, ich sage einmal, 1 000 Euro aus und stellt danach die Frage: Wie viel Umsatz möchtest du gemacht haben? Dann kann dieser Restaurantbesitzer entweder ordnungsgemäß 1 000 Euro eintragen oder 200 Euro eintragen. ({2}) Die manipulierbare Kasse passt dann den gesamten Kassiervorgang an, sodass es für eine Steuerprüfung plausibel wäre, ({3}) dass man nur 200 Euro Umsatz gemacht hat statt 1 000 Euro. ({4}) – Das ist das Problem einer manipulierbaren Kasse. Ich wollte das nur kurz schildern. Wir haben dann als Abgeordnete Gesetzesinitiative ergriffen. Der damalige Minister hatte andere Arbeitsschwerpunkte, hat uns aber nicht aufgehalten. Wir haben dann im Februar 2016 im Finanzausschuss ein öffentliches Fachgespräch zu diesem Punkt abgehalten. Da wurde allen Beteiligten klar, dass wir es hier mit einem sehr großen Problem zu tun haben und wir gesetzlich etwas machen müssen. Auch damals schon war der Koalitionspartner ein bisschen bremsend und sagte: Oh, keine neuen Belastungen des Mittelstandes. – Wir haben leider nicht hinbekommen, dass wir eine relativ bewährte Lösung wie in Österreich – Stichwort „INSIKA“ – durchführen konnten. Wir haben deswegen einige andere Sachen, vor allen Dingen der Industrie eine technische freie Lösung, in Aussicht gestellt. Die Industrie hatte also drei Jahre Zeit. Wir haben eine Umsetzungsfrist von drei Jahren. Wir machen gar kein neues Gesetz. Wir haben ein altes Gesetz, das ab nächstem Jahr wirksam wird, 2016 beschlossen. Ich habe damals als Ausschussvorsitzende gesagt: Die Amerikaner haben acht Jahre gebraucht, um zum Mond zu fliegen. Vielleicht schaffen wir es in drei Jahren, manipulationsfreie Kassen herzustellen. ({5}) Leider habe ich mich getäuscht. Wir haben keine Kassenpflicht – das stimmt –, aber wir haben wenigstens eine Belegpflicht. Mit der Belegpflicht kann eine Kassennachschau relativ leicht durchgeführt werden. Mit der Belegpflicht wird jeder Vorgang, der in die Kasse eingetippt wird, dem Kunden quasi mitgegeben; dadurch ist er registriert. Wenn ich als Kunde etwas kaufe, kann ich nicht davon ausgehen, dass der Vorgang gebucht wird; vielleicht wird er nicht gebucht. Aber durch einen Beleg weiß ich: Der Vorgang wurde gebucht. Die Bäckereien sind übrigens nicht verpflichtet, den Beleg gesondert auszudrucken. Man kann sich auch eine technische Lösung vorstellen, dass der Beleg auf die Tüte, in die die Brötchen eingepackt werden, gedruckt wird. ({6}) In drei Jahren hätte man sich etwas Interessantes ausdenken können, aber das ist leider nicht passiert. Meine Kollegen, die nach mir reden, werden noch etwas zu den Belegen sagen. Ich möchte nur sagen: Das Gute-Kassen-Gesetz von 2016 braucht keine FDP. Es ist schon gut genug. In dem Sinne: Vielen Dank fürs Zuhören. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jörg Cezanne, Die Linke, ist der nächste Redner. ({0})

Jörg Cezanne (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004693, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ende November dieses Jahres hat das Landgericht Osnabrück zwei Angeklagte wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung und wegen Fälschung technischer Aufzeichnungen bei Kassensystemen zu Freiheitsstrafen von mehr als sieben Jahren verurteilt. Der Gesamtschaden wird auf rund 1 Milliarde Euro geschätzt. Deshalb, Herr Dürr von der FDP: Wir reden hier nicht über ein paar Kassenzettel mehr oder weniger, ({0}) wir reden über Steuerbetrug in erheblichem Ausmaß, wir reden über Geldwäsche, ({1}) die in einzelnen Fällen bis hin zur Finanzierung von Terrorismus reicht, und dem muss ein Riegel vorgeschoben werden. ({2}) Wie kommen die erheblichen Steuerausfälle durch Steuerhinterziehung zustande? Bargeldgeschäfte sind für Betrüger besonders attraktiv. Registrierkassen enthalten eine Reihe von Manipulationsmöglichkeiten. Insbesondere bei älteren Modellen können bereits registrierte Zahlungsvorgängen nachträglich gelöscht oder verändert werden – ein seltsamer Vorgang. Weitverbreitet ist ein so genannter Trainingsmodus. Diese Einstellung an der Kasse erlaubt es, für einen Zahlungsvorgang zwar einen Beleg auszustellen, den man dem Kunden auch aushändigt. Er ist aber keine Rechnung. Die Zahlung wird nicht verbucht, sondern später wieder gelöscht, weil ja nur trainiert worden ist. ({3}) Der Einsatz von Schummelsoftware – die Kollegin Arndt-Brauer hat darauf hingewiesen – ist weitverbreitet. Auch das Führen einer zweiten Kasse ist durchaus ein geeigneter Weg zur Steuerhinterziehung. Den Kunden können Rechnungsbelege ausgestellt werden, dem Finanzamt werden aber nur Einnahmen aus einer der beiden Kassen gemeldet. Das muss geändert werden. ({4}) Noch früher als der OECD-Bericht von 2013 hat der Bundesrechnungshof bereits 2003 auf Manipulationsmöglichkeiten bei Registrierkassen hingewiesen. Die jährlichen Steuerausfälle werden auf bis zu 10 Milliarden Euro geschätzt. Ein Fall ist sehr anschaulich: Bei einer Eisdiele wurde ein Steuerhinterziehungsbetrag von 1,9 Millionen Euro festgestellt. ({5}) – Bei einer Eisdiele. Rechnen Sie das mal in Eiskugeln um. ({6}) Erst 2016 hat der Bundestag – also 13 Jahre nach den ersten Berichten des Rechnungshofes und nach heftigem Drängen der Bundesländer – dann das Gesetz, über das wir heute reden, beraten, und das ist auch gut so. Ab dem 1. Januar 2020 müssen elektronische Kassensysteme über eine sogenannte technische Sicherheitseinrichtung verfügen. Diese soll sicherstellen, dass alle Eingaben sofort aufgezeichnet und später nicht mehr unerkannt verändert werden können. Die Kassensysteme müssen beim Finanzamt gemeldet werden. Sie müssen in der Lage sein, für jeden Geschäftsvorfall einen Beleg auszustellen. Das ist grundsätzlich sinnvoll. ({7}) Herr Michelbach von der CDU/CSU, das hat nichts mit Generalverdacht zu tun. Das hat etwas damit zu tun, dass man sinnvollerweise gleiche Spielregeln für alle schafft, und das ist richtig so. ({8}) Der Witz an der Sache ist, dass in diesem Gesetz keine Pflicht zur Kassenführung vorgesehen ist. Um es anders zu sagen: Der offene Schuhkarton unter der Ladentheke – jetzt mal ein bisschen polemisch formuliert – ist weiterhin zulässig. Das ist die generelle Krux an diesem Gesetz. Das läuft aus unserer Sicht völlig fehl. In Italien – dem wir Deutsche nicht besonders viel Aufmerksamkeit in Sachen Geldwäsche unterstellen – sind manipulationsgeschützte Registrierkassen längst Pflicht. ({9}) Um kleine Gewerbetreibende, Vereine oder den Kunsthandwerksstand auf dem Weihnachtsmarkt von unverhältnismäßigem Aufwand zu verschonen, könnten, wie zum Beispiel in Österreich üblich, Umsatzgrenzen und Ausnahmenregelungen eingeführt werden. Wir sollten diese Fälle aber nicht vorschieben, um Maßnahmen gegen den großangelegten, zum Teil systematischen Betrug zu verhindern. ({10}) Die Meldepflicht für die eingesetzten elektronischen Aufzeichnungssysteme und zertifizierten technischen Sicherheitseinrichtungen gilt nur gegenüber dem zuständigen Finanzamt. Viel sinnvoller wäre es, alle Kassen und alle technischen Sicherheitseinrichtungen in einem zentralen Verzeichnis zu registrieren. Damit können betrügerische Zweitkassensysteme viel schneller erkannt werden. ({11}) Auch ich möchte den SPD-Vorsitzenden Norbert Walter-Borjans zitieren, damals Finanzminister in NRW. In einem Beitrag des Deutschlandfunks vom letzten Jahr wird er wie folgt zitiert: Dann – nach Eingang des Gesetzentwurfs - ging eine Reise los, wir kriegten von allen Ecken und Enden mitgeteilt, dass es im Bundesfinanzministerium und vonseiten der CDU/CSU-Bundestagsfraktion deutlichen Widerstand auch gegen diese von Schäuble mitgetragene Position gab. Also, man merkte richtig, es gab Kräfte, die die Gesetzeserstellung verzögerten, verwässerten. Ehrlich gesagt, Anfang 2017, als das Gesetz verabschiedet werden sollte, haben wir diskutiert, ob wir nicht einfach ablehnen sollten. So weit Norbert Walter-Borjans. Es gibt offensichtlich noch sehr viel zu tun. Steuerhinterziehung ist kein Kavaliersdelikt, Geldwäsche aus kriminellen Geschäften schon gar nicht. Packen wir es an! Danke schön. ({12})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dr. Danyal Bayaz, Bündnis 90/Die Grünen, ist der nächste Redner. ({0})

Dr. Danyal Bayaz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004664, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich fange aktuell und praktisch an. Viele von uns sind im Weihnachtsstress und besorgen noch Geschenke. Da wir nicht sicher sind, ob die Farbe stimmt, ob die Größe passt, ob vielleicht nicht doppelt geschenkt wurde oder das Geschenk nicht gefällt, lassen wir uns einen Kassenbon geben. ({0}) Das ist eine Errungenschaft; das muss man in dieser Debatte auch einmal sagen. Aber natürlich: Wenn wir einen Espresso trinken oder eine Brezel kaufen, dann nimmt niemand von uns einen Kassenzettel mit. Auch deswegen reden wir heute über die Abgabenordnung und über ein Gesetz, das die Große Koalition vor drei Jahren verabschiedet hat. Damals hat auch meine Fraktion zugestimmt, aber wir haben schon 2016 genau den Punkt klar benannt: Die Bonpflicht wäre nicht nötig, wenn wir es schaffen, die Betrugssicherung digitaler Grundaufzeichnungen von Kassen umzusetzen. ({1}) Bislang gibt es keine als manipulationssicher zertifizierte Kassen. Ab nächstem Jahr, Herbst 2020, soll es sie geben. Die Einführung wurde mehrmals verschoben. An die Adresse der Regierung muss man deshalb ganz klar sagen: Das ist einfach schlechtes Politikmanagement, meine Damen und Herren. ({2}) Es geht hier eben nicht nur um den Espresso oder die Brezel, sondern es geht – wir haben es schon gehört – konkret um Steuerausfälle in Milliardenhöhe. Es geht zusätzlich sehr konkret um ehrliche Unternehmen, die im Wettbewerb mit Betrügern bestehen müssen, die weder Steuern noch Sozialabgaben abführen. Dass Bäckereien jetzt für jedes Brötchen einen Kassenbon drucken sollen, ist ärgerlich genug, aber das wirkliche Ärgernis ist doch, dass die Ehrlichen bei diesem unfairen Wettbewerb auf der Strecke bleiben, meine Damen und Herren. ({3}) Herr Dürr, an Ihre Adresse: Sie haben heute Morgen die Ökolanze gebrochen und gesagt: Das ist auch Aufgabe der Grünen, wo sind sie? – Wir sind hier. Mich würde es im Übrigen freuen, wenn Umweltschutz nicht immer nur mit uns verbunden wird, sondern wenn jede Partei ihren Beitrag leistet. Ich würde mich aber genauso freuen, wenn wir nicht nur über Kassenzettel, sondern auch über die ökologische Modernisierung in der Landwirtschaft, im Bereich Verkehr und in der Industrie sprechen, und das gleiche Engagement von Ihnen hören, das wir heute Morgen gehört haben. ({4}) Warum zur Sicherung digitaler Grundaufzeichnungen eine sogenannte Papierbelegausgabepflicht – so heißt das korrekt, ein sperriger Begriff – als Lösung gewählt wurde, kann ich mir – das muss ich ehrlich sagen – nicht wirklich erklären. Die beiden Begriffe schließen sich ja quasi aus. Aber natürlich dürfen wir dem Steuerbetrug nicht Tür und Tor öffnen, und für die Steuerprüfung ist es eben wichtig, dass ein weiterer Sicherungsfaktor in den Kassensystemen eingebaut ist. Aber wenn Unternehmen künftig nachweisbar – nachweisbar! – eine Kasse mit zertifizierter Sicherheitseinrichtung nutzen, dann sollte das Unternehmen natürlich die Option haben, sich von der Belegpflicht befreien zu lassen. So wird auch der Anreiz gesetzt, sich überhaupt eine zertifizierte Kasse zu besorgen. ({5}) Das wäre eine pragmatische Lösung, meine Damen und Herren. ({6}) Noch etwas Grundsätzliches: Das Bezahlverhalten der Menschen da draußen ändert sich rapide. Apple Pay ist heute Realität. Vielleicht reden wir in Zukunft stärker über einen digitalen Euro. Ein Papierbeleg ist wahrscheinlich keine Zukunftslösung. Das kann man mit QR-Codes lösen. Es gibt da viele innovative Ideen. Auf diese Entwicklung müssen wir uns natürlich auch in der Verwaltung einstellen; da sind wir heute aber noch nicht. Ich nehme einmal ein sehr selbstkritisches Beispiel: Wenn man in Berlin mit dem Taxi fährt, das man mit der App bestellt und mit der App bezahlt, bekommt man in das Büro eine Quittung per Mail geschickt. Wenn ich die bei der Bundestagsverwaltung einreichen möchte, druckt mein Büro zwei DIN-A4-Seiten aus, um das Papier hinzuschicken. Ich will jetzt gar kein Bashing der Bundestagsverwaltung betreiben, sondern verdeutlichen: Das steht symbolisch für den Stand der Digitalisierung der Behörden. Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir können uns die ganzen Diskussionen über künstliche Intelligenz, über Big Data, über Industrie 4.0 sparen, wenn wir es nicht schaffen, die Behörden, die Verwaltung und, ja, ganz besonders die Steuerverwaltung ins digitale Zeitalter zu überführen. Das wäre auch ein Standortfaktor, meine Damen und Herren. Wenn Sie in der Regierung das beherzt angehen, dann sagen wir, ganz im Kassenjargon: Gebongt! Herzlichen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Fritz Güntzler, CDU/CSU, ist der nächste Redner. ({0})

Fritz Güntzler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004285, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Als wir 2016 das Kassengesetz beschlossen haben, war das kein Selbstzweck. Es ist so – das ist heute schon mehrfach angesprochen worden –, dass Bargeldgeschäfte betrugsanfällig sind. Das ist kein Generalverdacht, aber eine Tatsache, die wir immer wieder feststellen müssen. Es gab Hochrechnungen des Bundesrechnungshofs dazu, der von 8 bis 10 Milliarden Euro sprach. Diese Summe haben wir ein bisschen angezweifelt; aber selbst die Hälfte wäre Anlass genug gewesen, zu handeln. Wir haben damals verschiedene Problembereiche im Ausschuss gesehen und beraten: Einsatz von Manipulationssoftware, nichtdokumentierte Stornierungen, überhaupt die Nichterfassung von Einnahmen, nichtdokumentierte Änderungen mittels elektronischer Programme oder die Führung einer Zweitkasse. Das war Auftrag genug, etwas zu tun. Wir haben in dem Gesetz drei Punkte geregelt: Zum einen ist da die technische Sicherheitseinrichtung in einem elektronischen Aufzeichnungssystem. Der Kollege Bayaz hat völlig recht: Da müssen wir jetzt ein bisschen Gas geben; denn wir müssen die Kassen haben, damit sie auch zum Einsatz kommen. Ein zweiter Punkt, der nicht zu unterschätzen ist, ist die Einführung einer sogenannten Kassennachschau, die mittlerweile durch die Finanzverwaltungen schon durchgeführt wird. Die Ergebnisse geben uns recht: Wir haben in diesem Bereich einiges zu tun. ({0}) Natürlich haben wir auch die Sanktionierung von Verstößen geregelt. Wichtig ist mir, zu betonen, dass wir auf Grundlage eines Gesetzentwurfs der damaligen Bundesregierung diskutiert haben. Es gab verschiedene Ansinnen des Bundesrates, aber auch unserer Kollegen aus der SPD-Bundestagsfraktion. Sie hatten überlegt, eine grundsätzliche Registrierkassenpflicht einzuführen. ({1}) Ich halte es nach wie vor für einen Riesenerfolg, dass wir das nicht gemacht haben. Man stelle sich vor, beim Oktoberfest würden ständig Belege ausgegeben werden, in jedem Festzelt. ({2}) Ich glaube, bei jedem Vereinsfest hätten wir ein Problem gehabt. Von daher ist es klug, dass es die offene Ladenkasse teilweise noch geben kann, meine Damen und Herren. ({3}) Das Risiko, eine offene Ladenkasse zu führen, ist – das kann ich Ihnen sagen – immens groß, weil diejenigen, die keine Kasse anmelden, natürlich ganz besonders in den Fokus der Finanzverwaltung rücken und einer näheren Prüfung unterzogen werden. Wir haben verhindern können, dass es eine Annahme- und Belegmitnahmepflicht gibt, wie wir das aus Italien und Österreich kennen, wo man als Kunde gezwungen wird, den Beleg mitzunehmen. Ein weiterer Punkt war die Belegausgabepflicht. Der ursprüngliche Gesetzentwurf, von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble vorgelegt, enthielt die, wie ich finde, kluge Lösung einer Herausgabe auf Verlangen, also keine generelle Belegausgabepflicht. Das war mit dem Bundesrat nicht zu machen. Daran waren übrigens auch manche Länder beteiligt, in denen die FDP an der Regierung beteiligt ist; die wollten das unbedingt nicht. Das gehört auch zur Wahrheit. ({4}) Wir haben dann gesagt: Okay, wir stimmen der Belegausgabepflicht zu, wenn es eine Ausnahme gibt, die wir aus der Abgabenordnung schon kennen. Sie müssen wissen: Sie haben als Kaufmann eine sogenannte Einzelaufzeichnungspflicht. Wenn Sie viele unbekannte Kunden haben und Waren vertreiben, haben Sie natürlich ein Riesenproblem, wenn Sie eine Einzelaufzeichnung durchführen müssen. Daher haben wir schon vorher in der Abgabenordnung die Regelung gehabt, dass diese grundsätzlich davon ausgenommen werden. Das ist übrigens alte Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs von 1966. Das haben wir uns zu eigen gemacht. Das haben wir in § 146a Absatz 2 Satz 2 Abgabenordnung geregelt. Es ist der Wille des Gesetzgebers gewesen, dass die Ausnahmeregelung in diesen Fällen greift. Das sind übrigens nicht nur die Bäcker, Herr Dürr. ({5}) Wir haben da auch andere im Fokus. Ich finde es schade, dass Sie in Ihrem Gesetzentwurf nur auf die Bäcker Bezug nehmen. ({6}) Wenn, dann müsste man auch die anderen mitnehmen. Wir jedenfalls haben gesagt, diese Regelung würden wir gerne eins zu eins übernehmen. Wenn man ein Gesetz auslegt – das habe ich damals gelernt –, soll man auch den Willen des Gesetzgebers berücksichtigen. Ich kann nur zitieren aus der Debatte vom 15. Dezember 2016, in der der Kollege Feiler, der inzwischen aus den Reihen der Abgeordneten auf die Regierungsbank gewechselt ist, ausgeführt hat: Der Bäcker von der Ecke muss also auch in Zukunft nicht für jedes 20-Cent-Brötchen – die sind meist teurer - zwingend einen Beleg ausgeben. Das war das Ziel, das wir erreichen wollten. Wir sind schon verwundert, dass der Anwendungserlass oder die Äußerungen des Bundesfinanzministeriums jetzt weitaus einschränkender sind. Wir wollen nach wie vor, dass diese Ausnahmeregelung gelebt wird. Wir finden es schon unbefriedigend, wenn auf Anfrage der FDP das Bundesfinanzministerium antwortet: Das Kostenargument allein ist nicht ausreichend, kann ein Teilaspekt sein; das ökologische Argument allein ist nicht ausreichend, kann ein Teilaspekt sein. – Ja was kann denn alles Teilaspekt sein? Und wann wird diese Ausnahmeregelung Wirkung entfalten? ({7}) Von daher bitte ich Sie, liebes Bundesfinanzministerium, dem, was wir damals gewollt haben, Rechnung zu tragen. Und ich bitte Sie, sich mit den obersten Finanzbehörden der Länder zusammenzusetzen und das zu konkretisieren, damit wir wissen, was los ist. Was wir wollten, habe ich Ihnen gerade noch einmal gesagt. Ich glaube, der Kollege Schwarz, mit dem ich das damals alles so schön verhandelt habe, wird das so bestätigen können. Der FDP-Gesetzentwurf hat meines Erachtens ein Problem: Sie sehen grundsätzlich keine Einzelfallprüfung vor. Sie sagen: generelle Ausnahme, Antrag wird genehmigt. – Das halte ich für falsch. ({8}) Wir kennen manche schwarzen Schafe. Denen sollte man diese Ausnahmereglung nicht zugestehen. Eine generelle Regelung halte ich insofern für schwierig. Es gibt, wie gesagt, nicht nur die Bäcker. Wir müssen auf den gesamten Einzelhandel schauen. ({9}) Wenn die Finanzverwaltung sich nicht bewegt, sind wir als Politik meines Erachtens aufgefordert – wir brauchen Akzeptanz für das, was wir machen –, darüber nachzudenken, ob der Vorschlag, den der damalige Finanzminister Schäuble gemacht hat, vielleicht gar nicht so verkehrt ist, dass wir also eine Belegausgabepflicht nur auf Verlangen des Kunden bekommen. Dann lebt der Steuerpflichtige bzw. der Händler immer mit dem Risiko, ertappt zu werden. Das ist das sogenannte Kontrollrisiko. Ich habe vorhin das Instrument der Kassennachschau genannt. Das wird ja schon angewandt und hat zu ersten Erfolgen geführt, und zwar erheblichen Erfolgen. Da kommen die Finanzbeamten ins Geschäft – sie haben sich nicht angekündigt – und kaufen irgendwas. Dann verlangen sie einen Beleg und stimmen anschließend die Informationen genau ab. – So kann das abgestimmt werden, von dem wir wollen, dass es abgestimmt wird. Es muss aber nicht jeder Kunde einen Beleg mitnehmen, der ja sowieso nie eine Abstimmung vornehmen würde. Von daher glaube ich, wir sollten gemeinsam darüber nachdenken, an dieser Stelle nachzuschärfen, indem wir den klugen Vorschlag von Minister Schäuble übernehmen. ({10}) – Frau Arndt-Brauer, wir haben damals mit dem Deutschen Fußballbund und vielen anderen gesprochen. Ich glaube, die Auswirkungen einer generellen Registrierkassenpflicht möchten Sie sich gar nicht vorstellen. Ich habe dem Kollegen Binding damals angeboten, mich zu Vereinsfesten, zu Schützenfesten zu begleiten. ({11}) Ich würde den in der Warteschlange am Biertresen Stehenden dann erklären: Das ist übrigens der Mann, der dafür gesorgt hat, das du jetzt schwarz auf weiß nachlesen kannst, was dein Bier kostet. ({12}) Ich dachte, das hätte ihn überzeugt. ({13}) Er kann dazu gleich etwas sagen. – Ich glaube, wir sollten das Thema angehen. Ich will nur deutlich machen – das hat der Kollege Michelbach auch gesagt –: Das, was draußen derzeit passiert, ist nicht durch den Gesetzgeber intendiert worden. Deshalb brauchen wir eine Lösung, entweder auf Verwaltungsebene oder, wenn das nicht reicht, wir ändern das Gesetz. Herzlichen Dank. ({14})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Kay Gottschalk, AfD, ist der nächste Redner. ({0})

Kay Gottschalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004731, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Im nächsten Jahr soll also die Bonpflicht beginnen. Aber ich muss wie immer auf die Vorredner eingehen. Herr Dr. Michelbach, ich schätze Sie wirklich. Aber gut gemeint – das gilt in dieser GroKo wirklich – ist nicht gut gemacht. Aber bei Ihnen gilt mittlerweile – das Gesetz ist von 2016, Sie stellten damals den Finanzminister –: Ein Gesetz wird schlecht gemacht und noch schlechter durchgeführt. Das ist Fakt in der GroKo. Das gilt für alle Gesetze, auch für die Grundsteuer. ({0}) Frau Arndt-Brauer, Sie stellen – man hat gesehen, wer bei Ihrer Rede klatscht – eine ganze Branche – man stelle sich einmal vor, das mache man bei anderen Berufsgruppen oder ethnischen Gruppen – unter Generalverdacht, ({1}) dass nämlich der Mittelstand in Deutschland betrügen würde. Nichts anderes ist das. Das ist roter Populismus. Es ist die Verhetzung einer ganzen Volksschicht, was Sie hier betreiben. ({2}) Im Übrigen: Anstatt 3 600 Beamte, die wir jetzt zusätzlich brauchen, für eine vermurkste Grundsteuerreform einzusetzen, führen diese Betriebsprüfungen durch. Jeder Steuerfachmann in den Finanzämtern wird Ihnen sagen: Es gibt Richtlinientabellen. Da kann man am Verbrauch, am Bedarf genau abschätzen, was gemacht wird. ({3}) Gehen Sie hin! Machen Sie Stichproben! Aber stellen Sie nicht den Mittelstand, der das Rückgrat der deutschen Wirtschaft darstellt, unter Generalverdacht. Pfui! ({4}) Ich stelle mir das im Jahr 2020 so vor: Ich bin beim Bäcker, vor mir ein Kunde im Gespräch. Die Verkäuferin: Hier, Ihr Bon, bitte. Der Kunde: Ich brauche keinen. Die Verkäuferin: Sie müssen aber einen nehmen. Der Kunde: Nein, ich will aber nicht. – Riesiges Handgemenge. Meine Damen und Herren, eine schaurige Vorstellung, aber so wird es sein. ({5}) Herr Scholz – er ist leider mal wieder nicht hier – wird es freuen. Vielleicht wird er Aufsichtsratsvorsitzender in spe des größten Kassenbonherstellers. Er hat es ja nicht mal zum Parteivorsitzenden geschafft. Vielleicht ist das dann das Trostpflaster. Aber Spaß beiseite. Ich habe tatsächlich mit vielen Einzelhändlern darüber gesprochen. Diese haben mir erzählt, dass sie vor ein paar Jahren schon neue Kassensysteme für sehr viel Geld – hohe Investitionskosten! – gekauft haben. Auch daran denken Sie nicht. Ich glaube, die Sozialisten hier im Parlament meinen, Geld und Kassensysteme regneten vom Himmel, ({6}) und das Geschäft macht sich von selbst. – Meine Damen und Herren, damit haben Sie schon in der DDR die Wirtschaft ruiniert. Sie werden so auch in der Bundesrepublik die Wirtschaft ruinieren. ({7}) Wir sehen also: Die Bonpflicht wird wieder einmal die kleinen und mittelständischen Unternehmen treffen. Dieses Gesetz, meine Damen und Herren, ist der Beweis dafür, dass Sie von der GroKo die Bodenhaftung zur Realität und den Blick dafür, was in der Wirtschaft wirklich vonnöten ist und wie es um unsere Wirtschaft steht, wie auch in anderen Themenbereichen komplett verloren haben. Das ist traurig. Ein wahres Weihnachtsgeschenk – das wird etwas verspätet kommen – kann man das dann wiederum für Herrn Scholz nennen. Mal sehen, wie er dann das Geld ausgibt. ({8}) Herr Cezanne, anstatt für 1 Milliarde Euro so ein Bespitzelungs- und auch Datenmissbrauchspotenzial zu ermöglichen, könnten wir vielleicht in anderen Bereichen einsparen. Dann müssten wir uns hier im Hohen Hause nicht über die 1 Milliarde Euro – das ist eine Schätzung – unterhalten. ({9}) Ich erinnere an dieser Stelle auch an den Zoll. Bei der FIU – wir haben es diskutiert – ist mehr als ein Drittel der Stellen, was Geldwäsche und Schwarzgeld angeht, unbesetzt. Vielleicht sollten wir hier ansetzen und die Posten und Jobs dort noch attraktiver machen und sehen, ob wir diese Jobs besetzen können. Dann bräuchten wir dieses Gesetz auch nicht. Wenn wir vielleicht unsere Grenzen überwachen würden, dann würden wir nicht 23 Milliarden Euro für Flüchtlinge ausgeben und würden uns hier nicht über 1 Milliarde Euro unterhalten. ({10}) Mal ehrlich, liebe Kollegen: Wer nimmt denn beim Bäcker einen Bon mit? Es ist echt lebensfremd, was hier an Argumenten von Ihnen vorgebracht wurde. Ich persönlich nehme nie einen Bon. Ich glaube, die Sache mit dem Bon gilt auch für den Gemüsehändler und andere. Also, lieber Herr Dr. Bayaz, das war ziemlich an der Realität und am Leben vorbei, wie vieles bei den Grünen, insbesondere beim Umweltschutz. Vielleicht sollten wir auch mal ein Gute-Auto-Gesetz haben; das hat ein Kollege gesagt. Das ist auf jeden Fall ein Schlechte-Kassenbon-Gesetz, was Sie auf die Reihe gebracht haben. Herr Altmaier, ich höre Ihre Erkenntnis. Sie wollen sich jetzt auch an die Spitze des FDP-Vorschlages stellen. Sie wollen in Gesprächen mit Herrn Scholz – das klang durch, die Ehekrise in der GroKo geht also weiter – sich dafür einsetzen, ({11}) dass die Durchführungsverordnung und die Erlasse geändert werden. Nochmals: Machen Sie Ihr Handwerk! Bringen Sie keine unnötigen Gesetze auf den Weg! Wir werden diesen klasse Gesetzentwurf von der FDP unterstützen. Wir sind nämlich an dieser Stelle auch eine realistische Serviceopposition. Vielen Dank und einen schönen dritten Advent. ({12})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Andreas Schwarz, SPD. ({0})

Andreas Schwarz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004407, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer im Plenum und vor den Fernsehschirmen! Der Ehrliche ist ja auch immer der Dumme. Nach Meinung der FDP soll das anscheinend so bleiben. ({0}) Das ist angesichts dieses Gesetzentwurfs von der FDP zumindest mein erster Eindruck. Liebe Kolleginnen und Kollegen, rufen wir uns kurz in Erinnerung, worum es hier geht. Wir haben 2016 – ich kann zu Ihrer Ehrenrettung sagen, lieber Herr Dürr: Sie waren damals nicht im Parlament, aber die FDP war im Bundesrat vertreten – dieses Kassengesetz nach harten und zähen Verhandlungen beschlossen. Das Gesetz hat Bundestag und Bundesrat passiert. Wie gesagt, daran war auch die FDP teilweise mitbeteiligt. Aus dem Bundesrat kam beispielsweise die Empfehlung, die Bonpflicht einzuführen. Drei Jahre ziehen zwischenzeitlich ins Land. Niemanden hat das Gesetz so richtig interessiert. ({1}) 14 Tage vor Inkrafttreten kommt die Welle. Man entdeckt dann sogar bei diesem Thema den Umweltschutz für sich, weil das gerade auch zum Zeitgeist passt. Wissen Sie, wenn alle Steuerpflichtigen ehrlich wären, dann bräuchten wir dieses Gesetz gar nicht. Übrigens: Bei der Beteiligung an diesem Gesetzgebungsverfahren haben das auch die Verbände so gesehen. ({2}) Experten des Bundesrechnungshofes haben geschätzt, dass in diesem Land immerhin 10 Milliarden Euro Steuern pro Jahr hinterzogen werden. Eventuell ist die Summe sogar noch höher. Liebe Steuerzahlerinnen und Steuerzahler im Land, was würden denn Sie tun, wenn der Bundesverband der deutschen Registrierkassenhersteller oder die Firma Casio auf Sie zukommt und Ihnen als Politiker erklärt: Macht mal was! Wir können in diesem Land keine Kasse mehr verkaufen, wenn sie nicht manipulierbar ist. – Sollen wir da einfach zuschauen, abwarten? Das wäre sicherlich fahrlässig. ({3}) Da ist dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet. Wenn wir diesen Missbrauch nicht eindämmen, dann machen wir uns selber strafbar. Wir müssen das eindämmen; denn jeder ehrliche Unternehmer hat einen massiven Wettbewerbsnachteil, wenn sein Konkurrent seine Waren einfach steuerfrei anbieten kann. ({4}) Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer im Land, wir machen uns mit dieser Maßnahme zum Anwalt der Ehrlichen hier in Deutschland. Was passiert denn mit dem entstandenen Schwarzgeld, liebe Kolleginnen und Kollegen? ({5}) Ich kann es Ihnen gerne sagen. Damit wird der nächste Betrug finanziert, und zwar meistens an den Sozialversicherungssystemen. Wollen wir das in diesem Land wirklich? ({6}) Nein, sicher nicht – das ist da meine Antwort. ({7}) Somit ist die Belegausgabepflicht absolut notwendig, um Kassenbetrug wirksam zu bekämpfen. Meine Damen und Herren hier im Plenum oder auch an den Bildschirmen, gerne nehme ich Sie mit auf eine kleine Urlaubsreise durch Europa. Trinken wir gemeinsam einen Cappuccino oder essen wir ein Eis in Italien, in Österreich oder in Kroatien. Überall bekommen wir Belege. In Italien sind wir als Kunde sogar verpflichtet, den Beleg mitzunehmen und auf Verlangen vorzuzeigen. Seltsamerweise haben wir Deutschen überhaupt kein Problem damit, in diesen beliebten Urlaubsländern mit diesen Regelungen klarzukommen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Schwarz, der Kollege Dürr würde gerne eine Zwischenfrage stellen. ({0})

Andreas Schwarz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004407, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, soll er mal.

Christian Dürr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004705, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Erstens. Herr Kollege Schwarz, bedauerlicherweise sind Sie auf Ihrer Reise nicht durch Frankreich gezogen, in dem gerade die Belegausgabepflicht, die Bonpflicht für Einkäufe unter 10 Euro abgeschafft wurde. Ich empfehle also einen Urlaub in Frankreich. ({0}) Zweitens. Sie haben davon gesprochen, dass das Gesetz vor mehreren Jahren beschlossen wurde, nämlich 2016. Die Handwerksbetriebe, die Bäckereien, die Metzgereien haben sich in gutem Glauben, so wie es Fritz Güntzler formuliert hat, darauf verlassen, dass von der Ausnahmeregelung für all diejenigen, die unverdächtig sind, weidlich Gebrauch gemacht wird. Sie bleiben bei Ihrem Generalverdacht; das haben Sie noch einmal ausgeführt. Ich möchte Sie fragen: Wie viele Ausnahmegenehmigungen – alle haben auf sie vertraut und gehofft, dass sie kommen – sind bisher erteilt worden, Herr Kollege Schwarz? ({1})

Andreas Schwarz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004407, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Kollege Dürr, zunächst ist dieses Gesetz erst ab dem 1. Januar 2020 scharf in diesem Land. ({0}) Wir haben dem Handel extra eine Übergangszeit gegeben, damit er sich auf die veränderte Situation, auch im technischen Bereich, einstellen kann. ({1}) – Ich habe da keine Zahlen vorliegen. Im Übrigen wissen Sie genauso wie ich: Wir haben keine zentrale Bundessteuerverwaltung. Wenn jemand diese Ausnahmegenehmigung haben möchte, dann muss er zu seinem örtlichen Finanzamt gehen. Das örtliche Finanzamt – in den 16 Bundesländern wird das vielleicht unterschiedlich gehandhabt werden – wird dann entscheiden, ob man von einer Belegausgabepflicht absehen kann oder ob man sie fordern muss. ({2}) – Aber Sie wissen doch haargenau, dass wir hier keine zentrale Bundessteuerverwaltung haben. ({3}) Es gibt beispielsweise auch Richtlinien bei dem Thema: Wie laufen Betriebsprüfungen ab? Schauen Sie sich einmal an, wie hoch in Bayern die Quote der Betriebsprüfer ist, und vergleichen Sie diese einmal mit Nordrhein-Westfalen. Da werden Sie feststellen: Da gibt es schon Unterschiede in der Auffassung. ({4}) Das ist gut so. Das ist Föderalismus. Damit kann man und muss man letztendlich auch leben. Kommen wir zurück zu den Realitäten. Man kann sich hier in Deutschland, wie gesagt, von der Belegausgabepflicht befreien lassen. Dafür sind die Finanzämter vor Ort zuständig. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich noch ein paar Sätze zu dem Gesetzentwurf der FDP und zu den Müllbergen sagen. BPA-beschichtetes Thermopapier muss man nicht verwenden; es gibt mittlerweile andere Möglichkeiten. Mich wundert auch: Kreditkartenzahlungen beispielsweise spielen hier überhaupt keine Rolle; die erwähnt niemand. Dafür wird letztendlich auch Papier produziert. In Deutschland produzieren wir 253 Kilo Papier pro Kopf pro Jahr. Wir sind da ganz weit vorne in der Welt. Und jetzt soll die Einsparung von 500 Gramm Kassenzetteln das Klima und die Natur der Welt retten! Das ist einfach hanebüchen. Im Übrigen: Man merkt, viele gehen nicht mehr essen oder selber einkaufen; sie bekommen es wahrscheinlich bezahlt oder verzichten darauf. Es gibt heute auch technische Möglichkeiten. Die FDP nimmt ja für sich in Anspruch, eine Digitalpartei zu sein. ({5}) Da dürfte es Ihnen nicht entgangen sein, dass man Kassenzettel auch per Mail verschicken kann und dass es Systeme gibt, mit denen man sich die Daten im Laden direkt übertragen lassen kann. Es gibt also ganz, ganz viele technische Möglichkeiten, um auch hier Papierverbrauch zu verhindern.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Schwarz, Sie werden nicht mehr alle diese Möglichkeiten aufzählen können, -

Andreas Schwarz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004407, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

– weil Ihre Redezeit abgelaufen ist. ({0})

Andreas Schwarz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004407, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluss. – Machen wir das Land gemeinsam gerechter und ehrlicher, und freuen wir uns auf Milliarden von Einnahmen, die wir sinnvoll in guten Umweltschutz investieren können! Danke schön. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Katja Hessel, FDP. ({0})

Katja Hessel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004750, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen über das Gesetz zum Schutz vor Manipulationen an digitalen Grundaufzeichnungen und da insbesondere über die Bonausgabepflicht. ({0}) Wir sprechen nicht über das Gesetz insgesamt ({1}) und sagen nicht, dass wir keine technischen Aufzeichnungen und nicht die betrugssichere Kasse haben wollen, sondern wir sprechen nur über den ganz kleinen Teil zur Bonausgabepflicht. ({2}) Dieser Teil – das ist auch kein politischer Populismus, Kollege Michelbach – kommt gerade bei den Geschäften des täglichen Bedarfs neu hinzu und löst eine Flut von neuen Zetteln aus. ({3}) Ich weiß nicht, Herr Schwarz, wie Sie einkaufen. Ich kaufe beim Bäcker weder mit Kreditkarte ein, noch gebe ich dem Bäcker meine Visitenkarte, damit er mir den Bon per E-Mail ins Büro schicken kann. ({4}) Ich brauche beides nicht; ich brauche nämlich diesen Bon nicht. Es geht auch nicht darum, dass wir sagen: Wir wollen Umsatzsteuerbetrug weiter bestehen lassen. – Dafür gibt es ja die technisch zertifizierten Kassen, ({5}) die, wenn Sie etwas schneller zu Potte gekommen wären, auch zum 1. Januar 2020 hätten eingeführt werden können. ({6}) Dann wäre nicht auf mehrmalige Nachfrage – wegen der Rechtsunsicherheit bei den Betrieben draußen – ein BMF-Schreiben vom 6. November gekommen, wonach man die Einführung doch auf den September verlegen muss. Aber die Bonpflicht kommt zum 1. Januar 2020. Wir haben schon viele Zahlen gehört: 5 Milliarden Bons bei 100 000 Besuchern in einer Filiale. ({7}) – Ja, aber die Steuern werden doch nicht mit der Bonpflicht eingenommen. ({8}) Oder wollen Sie jetzt zu jedem Bäckerkunden nach Hause gehen und gucken, was auf dem Bon steht? ({9}) – Es gibt ein Entdeckungsrisiko. Es kann aber auch jeder Finanzbeamte zum Bäcker gehen und nachsehen, was er hat. ({10}) Das hat doch nichts damit zu tun, dass wir jeden verpflichten, einen Bon mitzugeben. ({11}) Es ist genau so, wie es die Kollegen von der Union gesagt haben: Mit dem Anwendungserlass hätte eine Ausnahme kommen können. Aber die Kleine Anfrage hat ja gezeigt, dass das Bundesfinanzministerium keine Regeln dazu erlässt. Deswegen ist es, Kollege Güntzler, schon richtig, einen gerechten Gesetzentwurf zu erarbeiten und sich nicht darauf zu verlassen, was das Bundesfinanzministerium macht. ({12}) – Ich leider nicht. Uns fehlt leider das Vertrauen in das Bundesfinanzministerium; deswegen gibt es diesen Gesetzentwurf. Wenn Sie etwas für die Umwelt und den Bürokratieabbau tun wollen, dann stimmen Sie dem Gesetzentwurf zu; denn entgegen den Behauptungen, die die Kollegen von der SPD vorgebracht haben, hat er nichts mit Umsatzsteuerausfall zu tun, sondern nur mit Bürokratieabbau. Vielen Dank. ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Dr. Bettina Hoffmann für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Bettina Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte um den Kassenzettel bringt ein anderes Problem auf den Tisch. Wir sprechen wieder über die Farbentwickler, mit denen das Thermopapier funktioniert. Herr Dürr, wir reden doch mal wieder über die Umwelt. ({0}) Bislang wurde das Bisphenol A, dieser hormonstörende Stoff, quasi standardmäßig in den Thermopapieren eingesetzt. Er bringt uns eine ganze Menge Probleme. Zuallererst ist Bisphenol ein riesiges Risiko für Kassiererinnen und Kassierer. Sie kommen nämlich täglich über mehrere Stunden damit direkt in Kontakt. Es wird über die Haut aufgenommen und ist schon in geringsten Spuren gefährlich. Ein anderes Problem ist, dass phenolhaltiges Thermopapier absolut nicht für eine Kreislaufwirtschaft geeignet ist. Natürlich landen die Bons auch im Altpapier, und Rückstände sind am Ende im Wasser oder auch zum Beispiel im Toilettenpapier zu finden, das qua Definition ja extra für den direkten Kontakt mit der Haut gedacht ist. All das haben Sie 2016 offenbar nicht bedacht. Vom 1. Januar 2020 an ist der Einsatz von Bisphenol A in Thermopapier verboten. Gibt es also nun Entwarnung? Leider nicht! Weiterhin bleibt der Einsatz von Bisphenol S erlaubt. Es steht unter dem Verdacht, Embryonen zu schädigen, und kann die Fruchtbarkeit einschränken. Man muss sich mal vorstellen, wie viele Leute mit den Massen an Zetteln nun in Kontakt kommen werden: neben den vielen Bäckereifachverkäuferinnen natürlich auch zahllose Finanzbeamte. Wollen Sie das? Sicher nicht! ({1}) Alltagsprodukte wie dieses Thermopapier dürfen eigentlich nur auf den Markt kommen, wenn sie kein Risiko für unsere Gesundheit sind und sicher im Kreislauf geführt werden können. Die Verwendung des heute gängigen Thermopapiers müsste eigentlich ausgeschlossen werden. Seinen Einsatz jetzt auch noch zu pushen, trotz der bekannten Risiken, ist fahrlässig. ({2}) Zurück zur Gesetzesvorlage. Natürlich ist es aus Sicht einer Umweltpolitikerin widersinnig, Vorschriften zu erlassen, die dafür sorgen, dass kilometerweise noch mehr belastete Kassenbons ausgedruckt werden. Wir brauchen eher eine vollständige Digitalisierung der Kassen, schnelle Zertifizierung durch Finanzbehörden und einen Markt für bezahlbare Kassensysteme auch für Kleinstunternehmen. ({3}) Das Signal muss ganz klar lauten: Kasse machen am Staat vorbei geht nicht. Darunter leiden alle. Ausnahmen an jeder Ecke sind unfair. Aber die Zettelwirtschaft jetzt auch noch auszuweiten, das ist ganz klar überholt. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Sepp Müller für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Sepp Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004832, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Die Bonpflicht wurde Ende 2016 beschlossen und tritt 2020 in Kraft. Die FDP wacht jetzt auf. Da kann man nur sagen: Guten Morgen! Und danke schön für diese Debatte! ({0}) Die Lösung, die Sie hier vorschlagen, liebe Kollegen der FDP, ist keine Lösung. Sie ist ein Freifahrtschein für Betrügereien und Steuerhinterziehung. ({1}) Jeder, der Ihrem Gesetzentwurf folgt, ohrfeigt den ehrlichen Unternehmer und streichelt den Ganoven. Sie wollen mit diesem Antrag der Robin Hood der Handwerker sein. Sie demaskieren sich aber als Schutzpatron der Steuerbetrüger. ({2}) Dass Sie in Ihrem Gesetzentwurf explizit die Bäcker erwähnen, dafür sage ich Danke schön und auch ein Lob. Warum? Weil Uwe Feiler, der jetzt auf die andere Seite gewechselt ist, das bereits 2016 in seiner Rede erwähnt hat und die Bäcker mit der Ausnahmeregelung vor überbordender Bürokratie schützen wollte, was wir als CDU/CSU auch explizit gefordert haben; dazu komme ich später. Aber kommen wir zum Ursprung des Gesetzes. Warum hat eigentlich der Deutsche Bundestag 2016 eine Bonpflicht erlassen? Es lässt sich am besten an einem Junggesellenabschied, der tatsächlich stattgefunden hat, erklären. Stellen Sie sich eine Männerrunde vor, welche für einen Wochenendtrip nach Berlin gefahren ist. Die Jungs haben dem Junggesellen eine Aufgabe gestellt: Am Nachmittag soll er einen Döner kaufen, sich beim Barbier den Bart schneiden lassen und vom Späti einen Sixpack Bier mitbringen. Wenn er die Kassenbons mitbringt, bekommt er alles bezahlt und ein Wochenende mit dem Ferrari geschenkt. Und, hat er es geschafft? Nein. Am Abend war der Junggeselle zwar satt, frisch rasiert und nicht mehr durstig – aber anstatt mit dem Ferrari fuhr er am Ende mit dem Trabbi. Warum? Weil die Kassenbons nicht vorhanden waren. Zufälle soll es geben. Dass aber an diesem Tag bei allen Kassensystemen gleichzeitig der Drucker ausgefallen ist, ist sehr unwahrscheinlich. Das sind Trickser und Betrüger, die am Steuersystem vorbei arbeiten. Das können wir nicht zulassen. ({3}) Durch diese Mogelkassen gehen dem deutschen Staat Milliarden Euro an Steuereinnahmen verloren – Geld, das für Kindergärten, Straßen und schnelles Internet fehlt, Geld, auf das Fraktionen in diesem Hohen Hause anscheinend verzichten wollen. Weil wir als Große Koalition vehement gegen aggressive Steuerhinterzieher vorgehen, haben wir uns nicht nur mit diesem Gesetz 2016 dafür ausgesprochen, mehr Geld einzutreiben. Im Übrigen hat auch der Finanzausschuss des Bundesrates die Bundesregierung damals einstimmig – einstimmig! – aufgefordert, den Problemen bei den Registrierkassen zu begegnen. Wer war dabei? Grüne Finanzminister, die sich jetzt gerade künstlich darüber echauffieren! Im Übrigen: Bei der Abstimmung im Bundesrat im Dezember 2016 saß Ihr Parteifreund von der FDP, Volker Wissing, in den Reihen des Bundesrates und hat die Hand für die Bonpflicht gehoben. ({4}) Liebe FDP, es reicht nicht, „Mut“ zu plakatieren und sich als Angsthase vom Feld zu machen. Stellen Sie sich der Regierung und Ihrer Verantwortung, auch im Bundesrat! ({5}) Es waren natürlich auch Finanzminister aus den Reihen der Union und der SPD dabei. ({6}) Einer davon – interessant – war Norbert Walter-Borjans, der damalige Finanzminister von Nordrhein-Westfalen und heutige SPD-Parteivorsitzende. Dass er und die Kollegen der SPD-Bundestagsfraktion unbedingt die Bonpflicht haben wollten, lässt sich an einigen Zitaten – auch aus der heutigen Rede – gut ableiten. Die „Börsen-Zeitung“ – mit Erlaubnis der Präsidentin zitiere ich – schrieb 2016 dazu: So pocht die SPD darauf, dass Geschäfte künftig dazu verpflichtet werden, an ihre Kunden Kassenbelege auszugeben. Die CDU/CSU und das Finanzministerium – unter Wolfgang Schäuble – warnen davor, übers Ziel hinauszuschießen. ... ({7}) Der Gesetzentwurf simuliere nur eine Problemlösung, sagte der SPD-Finanzexperte Andreas Schwarz. Schwarz weiter: „Der Gesetzentwurf muss deutlich verschärft werden“. ({8}) Mit einem Schreiben vom 12. Januar 2017 an den Haushalts- und Finanzausschuss des Landtages von NRW begrüßt Walter-Borjans die Maßnahmen, schreibt aber gleichzeitig: Allerdings ist die Angelegenheit damit noch nicht abgeschlossen. Es besteht noch weiterer Handlungsbedarf. ({9}) Ja, liebe Kollegen der SPD, es besteht tatsächlich noch weiterer Handlungsbedarf. Wenn Sie der geschätzten Kollegin Esken bei einer Terminfindung mit unserer Parteivorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer und Markus Söder helfen würden, dann könnten wir die Ausnahmeregelung, nicht nur für die Bäcker, sondern auch für die Fleischer in unserem Land durchsetzen, die wir wollten. Dafür stehen wir gerne bereit – auch noch vor Weihnachten. Alles Gute! ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun Lothar Binding das Wort. ({0})

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der „WirtschaftsWoche“ von heute steht die Überschrift: „Der tägliche, staatlich geduldete Steuerskandal“. Weiter heißt es dort: Vor den Augen aller – das sind ja unsere Augen - versickern Umsätze, die nie in einer Steuererklärung stehen werden. Man sieht also, dass selbst dort diese Erkenntnis angekommen ist. Um hinsichtlich der Vereine etwas zu Fritz Güntzler zu sagen: Wenn Schweden, Österreich, Portugal und Belgien es schaffen, ({0}) mit Ausnahmen für Vereine ein gutes Modell hinzubekommen, hätten wir das auch hinbekommen können. Wir haben uns das österreichische Modell angeguckt. Das wäre wunderbar eins zu eins gegangen; Ingrid Arndt-Brauer und Andreas Schwarz sind darauf eingegangen. Das hätte wunderbar gepasst. ({1}) Übrigens: Fast alle Einzelhändler – Hans, für dich –, Bäcker, Fleischer, Gemüsehändler, Gastwirte, Friseure führen ihre Betriebe ehrlich und korrekt. ({2}) Die wenigen Gauner, die die Mehrwertsteuer hinterziehen, die Geldwäsche organisieren, die Leute schwarz und prekär beschäftigen, die über 10 Milliarden Euro Schaden anrichten, sind ein riesiger Wettbewerbsnachteil für all die Ehrlichen, und deshalb muss man etwas tun. ({3}) Was uns wundert – das war damals natürlich nicht ganz konfliktfrei –: Wir haben keine Kassenpflicht. Wer sich nicht beteiligen will, wirft die elektronische Kasse in den Keller. Alles wunderbar! INSIKA, die einzige Software, die gut gewesen wäre, ist leider zwischen uns allen, sagen wir mal, ein bisschen untergegangen. Jetzt, nach drei Jahren, soll auch noch die Belegpflicht abgeschafft werden. Was bleibt denn dann noch? ({4}) Die unangekündigte Nachschau! Die läuft aber ins Leere, wenn man nichts hat, wo man nachschauen kann. ({5}) Also, irgendwie ist klar: Das funktioniert nicht, und deshalb können wir bei dem Entwurf der FDP zur Förderung des Kassenbetrugs nicht mitmachen. ({6}) Übrigens: Wer nur die Lobbyistenbriefe abschreibt, der macht keine Politik für alle; der macht Politik für wenige. Wir sind hier aber für alle Bürger. ({7}) Dass Sie nach drei Jahren den Umweltschutz entdecken, wurde schon gesagt. Übrigens: Sie müssen nicht nur viele Milliarden Bons, sondern auch viele Milliarden Tüten für die vielen Milliarden Brötchen ausgeben. Das ist also offensichtlich kein Problem. ({8}) Übrigens: Wenn ich mit einer Karte bezahle, dann gibt es auch einen Bon. Davon war gar keine Rede. ({9}) Und wie viele Kassenzettel werden im Moment weggeworfen, weil man sie nicht braucht? Die meisten Bäckereien geben jetzt schon Belege aus. Das Schlimme ist: Die Industrie hat es in drei Jahren nicht geschafft, diese TSE, diese Technische Sicherheitseinrichtung, zu entwickeln. ({10}) Was folgt daraus? Der Finanzminister musste jetzt einen Nichtanwendungserlass formulieren und bis September die Sache verschieben, damit die sich einrichten können. Wir sehen: Man hat sich dem Gesetz aktiv verweigert. – Das ist natürlich ein riesengroßes Problem. Deshalb ist es klug, dass wir heute diesen Entwurf ablehnen; denn wir brauchen die Belegausgabepflicht. Man muss sagen: Es gibt Gaststätten, die auf Barzahlung bestehen, wenn ich da mit Karte bezahlen will; das geschieht ganz oft. Ich frage jetzt mal: Warum bestehen diese Gastwirte auf Barzahlung? ({11}) Das ist doch eine interessante Frage. ({12}) Sie haben ja offensichtlich überhaupt gar keine Möglichkeit, ihr Geschäft ordentlich zu führen; denn mit der Barzahlung – das wissen wir ja – hat man ein ziemlich großes Problem. Was mich aber freut, ist, dass die Bäcker, die hier als Beispiel angeführt werden, künftig auf Aluminiumfolie, Verbundmaterial, Kunststoffe und künstliche Aromastoffe verzichten. Sie werden keine Tabakprodukte mehr verkaufen, sie werden auf große Umverpackungen verzichten, sie werden die Bons künftig auf die kleinen Brötchentütchen drucken. Mit diesem Verfahren könnten sie den Bon nämlich umgehen und würden keine zusätzliche Umweltbelastung erzeugen. ({13}) Es gibt genug technische Lösungen für die verantwortlichen Händler, und auf die konzentrieren wir uns. Ich wünsche allen noch einen schönen Tag, am Freitag, dem 13.! ({14})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Marc Henrichmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004744, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Besucher! Wer selber mal erleben musste, wie ein tödlicher Unfall mit einer Schusswaffe tragischerweise vonstattengeht, der bekommt ein sehr feines Gespür für die Abwägung zwischen Freiheit auf der einen Seite und Sicherheit auf der anderen Seite. Deswegen möchte ich an dieser Stelle einmal den vielen Beteiligten an diesem Verfahren danken, auch den Sicherheitsbehörden und den Polizeivertretern – ich beziehe hier ausdrücklich auch mal die Verbände ein –, die dieses Verfahren sehr faktenorientiert, sehr abwägend und eben nicht marktschreierisch betrieben haben, und ich halte es für sehr klug, das so zu tun. Wir haben viele Gesprächsrunden gehabt. Ich habe bisher in keiner Berichterstattung so viele Abstimmungsgespräche, Berichterstattergespräche erlebt. Alle Probleme, Sorgen und Nöte, die formuliert wurden, sind auch eingehend beraten worden – vielleicht nicht immer mit dem gewünschten Ergebnis, aber im Großen und Ganzen gut. Die Verbände haben gezeigt, dass sie bereit sind, zum Beispiel bei der Frage der Begrenzung der Waffen bei der gelben WBK konstruktiv mitzuwirken. Ich weiß, dass dies heillos umstritten ist. Ich weiß aber auch, dass einige Tageszeitungen heute aufgemacht haben, dass sieben Reichsbürger im Münsterland „entwaffnet“ – in Anführungsstrichen – worden sind und dass es in der Bevölkerung diesbezüglich durchaus Sorgen gibt; auch das muss man ernst nehmen. Ich glaube, die Beteiligten und auch die Verbände haben in diesem Verfahren Vertrauen gewonnen, ({0}) und das ist gut. Vertrauen verspielt haben wir in Teilen sicherlich mit dem ersten Aufschlag dieses Entwurfes. ({1}) Insbesondere die Bedürfnisprüfung hat viele – auch mich – erst mal etwas geschockt. Umso froher bin ich jetzt, dass wir am Ende des Verfahrens hier und heute sagen können, dass wir dazu eine richtig gute und tolle Lösung erarbeitet haben, mit der alle Beteiligten richtig gut leben können. ({2}) Im Blick behalten müssen wir die Sicherheit auf der einen Seite, aber auf der anderen Seite eben auch den Schießsport und die am Schießsport Beteiligten, die Verbände. Da sind Ehrenämtler, die ein hohes Maß an Verantwortung zeigen und es verdient haben, vernünftig behandelt zu werden. Bei einer Frage besteht Dissens – das ist überhaupt kein Thema –, und zwar bei der Magazinfrage. Da hätte ich mir persönlich eine andere Lösung gewünscht. ({3}) Nichtsdestotrotz bin ich Demokrat genug, das Ergebnis zu akzeptieren. Aber wichtig ist mir, dokumentieren zu können, dass wir eine Ausnahme ausdrücklich ins Protokoll des Innenausschusses aufgenommen haben. Diese besagt, dass das BMI auf das BKA einwirkt, dass entsprechende Ausnahmegenehmigungen für Schützen erteilt werden sollen, die diese Magazine für ihre Wettbewerbe brauchen. Wir haben die Frage der Dual-Use-Magazine, die für Kurz- und für Langwaffen gleichermaßen passen, im Sinne der Anwender geklärt. Wir haben die Frage des kleinsten bestimmungsgemäßen Kalibers bei der Anmeldung Gott sei Dank jetzt so geklärt, dass wir auf Herstellerangaben zurückgreifen können und nicht eine Raterunde für die Besitzer – mit entsprechender rechtlicher Grauzone – eröffnen. Wir haben die Frage der Schalldämpfer für die Jäger gelöst; dies wird nun auch bundeseinheitlich gelöst. Wir haben es nach zehn Jahren endlich geschafft, die Frage der Schießstandsachverständigen zu lösen. Wir haben bei der Pflicht zum persönlichen Erscheinen, die jetzt schon die Behörde nach dem Verwaltungsverfahrensgesetz anordnen konnte, Regelungen getroffen, die besagen, dass es eben nicht willkürlich passieren kann, dass ein Sachbearbeiter einer Waffenbehörde jeden dorthin zitiert, sondern dass dies nur in begründeten Ausnahmefällen möglich ist, und zwar dann, wenn es zur Aufklärung eines Sachverhaltes erforderlich ist. Auch das ist wichtig. Wir haben bei den Meldungen zum Nationalen Waffenregister Erleichterungen für die Büchsenmacher und ‑händler erreicht, die im Geschäftsbetrieb mit einer unverzüglichen Meldung oftmals überfordert waren. Jetzt haben sie entsprechend Zeit, das zu tun, was mit Blick auf die Daten im Nationalen Waffenregister sicherlich auch genügt. Wir waren in diesem Verfahren mit den Forderungen der Länder konfrontiert. Der Bundesrat hat mit 16 : 0 Forderungen an uns herangetragen, unter anderem in Bezug auf die in Teilen noch umstrittene Verfassungsschutzabfrage. Ich möchte hier ausdrücklich betonen: Wir schließen damit eine Lücke, die bis dato bestand. Bis dato war es nach der Antragstellung so, dass der Verfassungsschutz die Waffenbesitzerdateien überprüft und geguckt hat, ob Extremisten dabei sind. Wir gehen jetzt einen Schritt nach vorne: Mit Antragstellung wird die Waffenbehörde beim Verfassungsschutz anfragen. Es sind Datenschutzbedenken ernst genommen worden. Ich kann alle beruhigen: Es handelt sich um 450 000 Anfragen im Jahr. Es wird keine detaillierten Einzelprüfungen geben, sondern eine automatisierte Prüfung. Wir haben hier Rechtssicherheit geschaffen. Bei der Frage der Waffenverbotszonen war mir insbesondere wichtig, dass es keine überzogenen Beschwernisse für legale Waffenbesitzer, für Messerhändler, für Scherenschleifer usw. gibt. Wir haben – das war mir wichtig – Ausnahmen reinverhandelt, die auch bindend sind für die Bundesländer. Inhaber einer waffenrechtlichen Erlaubnis – die Jäger, die Sportschützen – können auch weiterhin, weil sie auf Zuverlässigkeit überprüft sind, in diese Zonen gehen und müssen sich keine Gedanken machen, genauso wie der Messerverkäufer oder der Scherenschleifer. Das ist mir auch wichtig. ({4}) Deswegen glaube ich, wir haben in diesem Verfahren – 100 Prozent gibt es ja nie; das wissen wir alle – verdammt viel erreicht. Wir haben aber auch – das ist ganz klar – jetzt die Aufgabe, zu gucken, wie es im Vollzug klappt. Das werden wir auch tun. Gegebenenfalls werden wir das Gesetz evaluieren müssen, weil wir natürlich sehen, dass sich Dinge verschieben, sprich: Wir müssen auch ins Internet gucken und vielleicht nicht immer nur auf die analoge Welt blicken. Aber wichtig ist mir, Sicherheit großzuschreiben. Da habe ich persönlich – auch das ist bekannt – an einer Stelle Schwierigkeiten gehabt in diesem Verfahren: Das war bei der Freigabe im jagdlichen Bereich für die Nachtzieltechnik. Ich glaube a), dass es jagdlich nichts bringt, und ich glaube b), dass die Warnungen der Haftpflichtversicherer im jagdlichen Bereich und auch der DEVA als Fachorganisation ernst zu nehmen sind. Deswegen ist es gut, dass wir darauf hingewiesen haben, auch im Protokoll des Innenausschusses, dass diese Technik an Bedingungen geknüpft werden muss und dass sie nicht einfach für jedermann frei zugänglich ist, unabhängig von Qualität und Ortskenntnis des jeweiligen Schützen. Es besteht aber für mich ein Wertungswiderspruch, der unauflösbar mit der Frage der Magazine verbunden ist. Bei den Magazinen sagt die Polizei: Sicherheitsbedenken haben wir nicht wirklich. Bei der Frage der Nachtzieltechnik haben wir Sicherheitsbedenken ein bisschen an die Seite geschoben. Ich verweise auf die hohe Verantwortung der Länder. Meine persönlichen Erlebnisse – ich habe es eingangs geschildert – prägen meine Sicht auf dieses Gesetz; das ist hoffentlich deutlich geworden. Wir haben viel Gutes erreicht. Es gibt aber auch Punkte, wo vielleicht noch Beobachtung gut tut. Meine Fraktion jedenfalls wird diesem Gesetzentwurf zustimmen. Herzlichen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Martin Hess für die AfD-Fraktion. ({0})

Martin Hess (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004749, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Die von der Bundesregierung beabsichtigten Verschärfungen des Waffenrechts lassen sich wie folgt zusammenfassen: reiner politischer Aktionismus statt effektiver Sicherheitspolitik. ({0}) Sie verbessern damit nicht die Sicherheit in unserem Land, sondern drangsalieren völlig unnötig Sportschützen und Jäger. Ihr beabsichtigtes Ziel, Terroristen und Extremisten zu bekämpfen, erreichen Sie damit auch nicht; denn diese Gewaltverbrecher halten sich nicht an Gesetze. ({1}) Sie halten an einem Verbot von Magazinen mit hoher Kapazität fest, obwohl alle namhaften Experten bei der Anhörung im Innenausschuss dargelegt haben, dass ein solches Verbot keinerlei Sicherheitsgewinn bringt. Stattdessen führt es zu einem erheblichen bürokratischen Mehraufwand, massiven zusätzlichen Kosten und im Ergebnis zu einer Kriminalisierung von Jägern und Sportschützen. ({2}) Sie reden immer von Bürokratieabbau und Kosteneffizienz, aber hier tun Sie genau das Gegenteil. Dass Sie entgegen allen Expertenmeinungen am Verbot festhalten, zeigt: Sie sind nicht vernunftgeleitet; Sie sind ideologiegetrieben. ({3}) Sie betreiben links-grün-rote Politik zum Schaden unserer Sportschützen und Jäger. Liebe CDU/CSU, das werden Ihnen die Sportschützen und Jäger nicht vergessen. Die geplante Regelabfrage beim Verfassungsschutz stellt Sportschützen und Jäger unter Generalverdacht, und das ohne jede Not. Denn bereits jetzt können die Verfassungsschutzämter ihre Erkenntnisse an die zuständigen Waffenbehörden übermitteln. Sportschützen und Jäger gehören zu den am stärksten kontrollierten Bürgern dieses Landes. Wer diese in die Nähe von Terroristen und Extremisten rückt, der verunglimpft gesetzestreue Bürger, und das machen wir nicht mit. ({4}) Als ob das nicht schon schlimm genug wäre, gehen Sie noch einen Schritt weiter: Mit Waffenverbotszonen schränken Sie die Freiheitsrechte weiterer rechtschaffener Bürger ein. An öffentlichen Orten ohne Kriminalitätsbelastung ({5}) werden dann auch normale Gebrauchsmesser mit einer Klingenlänge von mehr als 4 Zentimetern verboten sein. Dann darf man nicht mal mehr ein normales Taschenmesser mit sich führen. Mit dieser sinnlosen Verbotskultur machen Sie Ihr Generalverdachtspaket gegen unbescholtene Bürger komplett. Ihr Waffenrechtsänderungsgesetz beweist: Sie misstrauen den eigenen Bürgern und kriminalisieren lieber die eigenen Bürger, anstatt endlich den Mut zur Wahrheit aufzubringen ({6}) und die Hauptursache für den Anstieg bei der Messerkriminalität zu benennen, nämlich Ihre verheerende Migrationspolitik. ({7}) Schauen Sie sich den Sicherheitsbericht von Baden-Württemberg an – an Fakten sollten Sie stets interessiert sein –: Seit 2014 ist bei Messerangriffen die Anzahl tatverdächtiger Zuwanderer um 200 Prozent gestiegen; ({8}) die Anzahl tatverdächtiger Deutscher hingegen ist zurückgegangen. Die Wahrheit ist: Der exorbitante Anstieg der Messerkriminalität in Baden-Württemberg ist nahezu ausschließlich auf Zuwanderer ({9}) und damit auf Ihre Politik der offenen Grenzen zurückzuführen. Nehmen Sie endlich die Realität zur Kenntnis! ({10}) Der maßgebliche Hintergrund dieser verheerenden Entwicklung wird in Gerichtsverhandlungen offen benannt. So führt der Anwalt eines syrischen Messerstechers, der eine Verkäuferin in Hannover an Leber, Magen, Niere, Darm und Bauchspeicheldrüse lebensgefährlich verletzt hat, klar und deutlich aus: Der Beschuldigte kennt es aus seiner Kultur so, dass Konflikte mit dem Messer ausgetragen werden. – Er beschreibt die regionalen Bräuche wie folgt: Wird man beleidigt, darf man zustechen. In schweren Fällen darf man die Person töten. ({11}) Derart sozialisierte Personen können Sie nicht mit Waffenverbotszonen beikommen. Da hilft nur eines: Sofort abschieben und am besten gar nicht erst in unser Land lassen! ({12}) Wir brauchen keine Waffen- und Messerverbotszonen. Wir brauchen endlich eine Kurskorrektur in der Migrationspolitik. Im Übrigen sind diese Verbotszonen nicht nur nicht zielführend; sie sind auch nicht praktikabel. Denn die Polizei hat schlicht nicht das Personal. Aber genau dafür ist sie verantwortlich: solche Verbotszonen wirksam und dauerhaft durchzusetzen. Ihre Verschärfungen des Waffenrechts bringen keinerlei Sicherheitsgewinn, führen aber zu massiven Beeinträchtigungen der Freiheitsrechte unbescholtener Bürger und zu erheblichen Mehrkosten für Schützen, Jäger, Verwaltung und Wirtschaft. Zudem schaffen Sie damit ein Bürokratiemonster. Wir lehnen dieses Waffenrechtsänderungsgesetz daher konsequent ab. ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Helge Lindh für die SPD-Fraktion. ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss leider auf Ihre Rede reagieren. ({0}) Es gibt so etwas wie Notstand. Die AfD löst ihn permanent aus. Sie müssen mir – erstens – erklären: Wenn wir für die Bundesländer die Möglichkeit erweitern, Waffenverbotszonen einrichten zu können, und zwar nicht nur an Kriminalitätshotspots – da gibt es die Möglichkeit schon –, sondern auch an öffentlichen Plätzen und in Schulen, warum soll das eine Einschränkung unbescholtener Bürger sein? ({1}) Ich kenne viele unbescholtene Bürger, die nicht möchten, dass an den Schulen ihrer Kinder mit Waffen Schindluder getrieben wird. ({2}) Das ist also schon eine merkwürdige Argumentation. Wenn Sie – zweitens – Ausländer und Flüchtlinge systematisch wegen Messer- und Waffenaffinität abschieben würden, dann könnten Sie Großteile der deutschen Gastronomie von diesem Zeitpunkt an lahmlegen. Denn sehr viele Geflüchtete haben mittlerweile Gott sei Dank unter anderem Arbeit in der Gastronomie bekommen und machen für Sie wahrscheinlich täglich das Essen, das Sie freudig genießen, bevor Sie dann an anderer Stelle gegen selbige hier hetzen. ({3}) Also so viel zur Logik in AfD-Deutsch. Jetzt aber zu den eigentlichen Fragen. Ich frage: Wollen wir, dass in unserer Nachbarschaft Prepper, Reichsbürger, Selbstverwalter, Extremisten ({4}) und sonstige ziemlich verfassungsfeindliche Menschen Waffen horten bzw. sammeln? ({5}) Ich will das nicht. ({6}) Wenn wir den Regelungsbedarf nicht erkennen und das nicht regeln würden, würden in der Folge unbescholtene Jäger, Schützinnen und Schützen in Dauerzweifel geraten und müssten sich rechtfertigen. Wollen wir das? Ich will das nicht. ({7}) Wollen wir amerikanische Verhältnisse? Wir wollen das nicht. ({8}) Wollen wir auf Dauer lamentieren und Schützinnen und Schützen auf billige Weise instrumentalisieren, oder wollen wir agieren? ({9}) Klare Antwort: Die Koalition agiert. Es ist nämlich so – und das ist eine ganz ernste Angelegenheit, dass Waffen kein Spielzeug sind. ({10}) Wenn wir nicht konsequent und mit Bedacht Waffenbesitz regulieren, spielen wir jedoch mit menschlichem Leben. Das ist der Grund für die Ernsthaftigkeit, die in dieser Debatte geboten ist, und nichts anderes. ({11}) Man könnte jetzt auch fragen – ich mache das gerne; denn es ist sinnvoll, auch schwierige Fragen zu stellen –: Was hat diese sehr spezifisch wirkende Debatte zum Waffenrecht mit der Großen Koalition zu tun? Die Antwort ist: Erst einmal gar nichts, in anderer Hinsicht jedoch sehr viel. ({12}) Auch wenn wir uns darum kümmern – wir alle tun das –, unser Profil zu schärfen, Parteitage durchzuführen, ist es ungeachtet dessen wichtig, Sachfragen zu lösen. Das tun wir schon seit vielen Monaten in einem extrem aufwendigen und intensiven parlamentarischen Verfahren. Das wird von uns auch erwartet. Das ist die Pflicht, der wir gerecht werden müssen. Wir machen dies alles nicht nur wegen der Verpflichtung der Umsetzung der EU-Waffenrichtlinie, aber eben auch. Das Ganze ist ja nicht aus dem Nichts entstanden. Es gibt den Anschlag im Bataclan. Es gibt den Fall Amri; das habe ich gestern wieder im Untersuchungsausschuss erlebt. ({13}) Es gibt den Anschlag in Halle. Es gibt diverse Amokläufe. Es ist eine Notwendigkeit, dass wir in diesem Land mit aller Konsequenz ein striktes und scharfes Waffenrecht bekommen und dieses auch durchsetzen. Genau das tun wir. ({14}) Das tun wir nicht auf Kosten rechtschaffener Bürger, sondern in ihrem Sinne. ({15}) Wenn Sie aus parteipolitischem Kalkül versuchen, die Verbände für Ihre Zwecke zu missbrauchen – das ist vergeblich, die Verbände sind nämlich nicht so dumm, wie Sie das sind –, dann begreifen Sie gar nicht, was Demokratie und Ihre Aufgabe ist. ({16}) Zum Glück hat das die Koalition begriffen. Daher danke ich ganz ausdrücklich meiner eigenen Fraktion und dem Koalitionspartner CDU/CSU für die sehr konstruktiven, auch streitbaren Gespräche. Ich danke Staatssekretär Mayer, dem Innenminister, der Justizministerin. Ich danke auch den demokratischen Oppositionsparteien. Wir haben da nämlich mal vorgeführt, wie Demokratie funktioniert; denn darum geht es doch. Es geht darum, dass wir die Stimmen der Sicherheitsbehörden hören; es geht darum, dass wir die Einwände der Verbände wahrnehmen und ernst nehmen, dann aber souveräne, eigene Entscheidungen treffen. Wir sind nicht Vollzugsorgan der Sicherheitsbehörden, wir sind erst recht nicht Vollzugsorgan der AfD – um Gottes willen! –, wir sind aber auch nicht Vollzugsorgan von Verbänden. ({17}) Wir sind der Souverän, und wir entscheiden, und wir tun dies in einem parlamentarischen Verfahren. ({18}) In diesem Zusammenhang kann ich darauf hinweisen, dass wir in keinem anderen Verfahren – nicht nur in Bezug auf den Bedürfnisnachweis, aber auch – so viel Post bekommen haben. Selbst als wir mit dem Innenausschuss in Rom waren, hat uns dieses Thema verfolgt. ({19}) Das ist aber auch kein Drama; denn die Qualität der Argumente hat entschieden und nicht die Fülle der Briefe und Einwendungen. Allerdings müssen wir auch immer bedenken – auch das wage ich zu erwähnen –, dass es andere gibt, die nicht so gut organisiert sind wie Schützen, die nicht so gut organisiert sind wie Fridays for Future. Das sind zum Beispiel Menschen, die in Einsamkeit, in Armut oder in Altersarmut leben. Die schreiben eben keine Briefe. ({20}) Das ist auch eine Frage, die wir bedenken müssen und der wir uns zukünftig in dieser Demokratie zunehmend zuwenden müssen. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, die Änderungen sind so geworden, wie wir sie beabsichtigt haben und wie ich sie mir nachdrücklich gewünscht habe. Es gibt nicht den Gegensatz von Sicherheit einerseits und Freiheit von Schützinnen und Schützen andererseits. ({21}) Nein, es ist gelungen, bei Verschärfung der Sicherheitsaspekte eine Bedürfnisregelung zu finden – jeder, der anderes behauptet, lügt –, ({22}) die so rechtssicher und praktikabel ist wie noch nie. Ich betone noch mal: Nach fünf Jahren und nach zehn Jahren gibt es im Fall des Waffenbesitzes eine Bedürfnisprüfung. Diese wird nur angewandt bei Jahr vier und fünf und Jahr neun und zehn. Praktikabler geht es nicht. Bis 2025 obliegt das allein den Vereinen und erst dann den Verbänden. Niemand im Bereich des Schützenwesens kann sich ernsthaft darüber beschweren. Das ist eine gute, vernünftige und intelligente Lösung, die wir gefunden haben. ({23}) Ich erwähnte gerade die Vielzahl von Schreiben zu diesem Thema. Diese gibt es auch zum Thema Wolf. Gestern haben wir uns im Parlament mit dem Wolf und seinen Gefahren auseinandergesetzt. Es gilt, bei aller Ernsthaftigkeit, ja noch immer, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist und dass der Gefährlichste für den Menschen der Mensch ist. ({24}) Dieser Realität müssen wir uns stellen. Deshalb ist es richtig und absolut sinnvoll, dass wir die Regelabfrage eingeführt haben, dass es auch eine sogenannte Nachbeweispflicht gibt. Das heißt, wer verfassungsfeindlich auffällig wird, wird auch im Nachhinein für unzuverlässig erklärt und kann dementsprechend keinen Zugang mehr zu Waffen haben. Alle in diesem Hause außer anscheinend der AfD sind dieser Meinung und werden dem auch nicht im Wege stehen, wie ich überzeugt bin. ({25}) Meine Damen und Herren, der Titel dieses Gesetzes lautet Drittes Waffenrechtsänderungsgesetz. Eigentlich müsste der Titel aber lauten: Entwaffnung von Verfassungsfeinden und Verlässlichkeit für Verfassungsfreunde.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Denn diejenigen legalen Waffenbesitzer, die Schießen als Sport machen, die Waffen sammeln, die jagen, das sind – auch geschichtlich – Vertreter der Einheit und Freiheit in unserem Land, das sind Verfassungsfreunde. Wir bestrafen nicht Verfassungsfreunde, aber wir bestrafen Verfassungsfeinde. Besser kann man es nicht machen. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Konstantin Kuhle für die FDP-Fraktion. ({0})

Konstantin Kuhle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004796, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Lindh, ja, die Abgeordneten des Deutschen Bundestages haben viele Briefe von betroffenen Schützinnen und Schützen, von Jägern, von Waffensammlern, von Waffenhändlern bekommen. Ich habe aber überhaupt kein Verständnis dafür, warum das hier so despektierlich dargestellt wird. Es ist Ihre verdammte Aufgabe als Abgeordneter, auf die legitime Kritik und auf die Anwürfe von betroffenen Kreisen auch zu antworten. ({0}) Ich will an die Adresse beider Koalitionsfraktionen sagen: Der Unfrieden, das Chaos, das Unverständnis, das wir in den betroffenen Kreisen bei den Schützen, bei den Jägern usw. hatten, das haben Sie sich selber zuzuschreiben. ({1}) Denn der Umsetzungsentwurf für die EU-Feuerwaffenrichtlinie ist erst über ein Jahr später vorgelegt worden, als er hier hätte behandelt werden müssen. Die Umsetzungsfrist für die EU-Feuerwaffenrichtlinie ist im September 2018 abgelaufen. Sie haben einen Umsetzungsvorschlag zu lange liegen lassen und haben dann einen ersten Entwurf vorgelegt, der dermaßen über das Ziel hinausgeschossen ist, dass sich die Leute zu Recht beschwert haben. Schauen wir uns jetzt einmal an, was am Ende daraus geworden ist. Sie legen einen Entwurf vor, der dreierlei vorsieht: Da ist zum einen die Umsetzung der EU-Feuerwaffenrichtlinie. Hier ist es der Großen Koalition gelungen – das muss man ganz klar sagen –, bei der Bedürfnisprüfung deutlich abzuspecken. Es hat deutliche Verbesserungen im Vergleich zur ersten Lesung gegeben. Ich finde es gut, dass die Koalition das so auf den Weg gebracht hat. ({2}) Ich habe aber überhaupt kein Verständnis dafür, warum das, was bei der Bedürfnisprüfung möglich war, bei der Frage der Magazine nicht möglich gewesen ist. ({3}) Da ist es bei einem Formelkompromiss geblieben. Im Protokoll einer Innenausschusssitzung ist nun der Wunsch enthalten, man möge doch Ausnahmegenehmigungen durch das BKA erteilen. Darauf können sich die Schützinnen und Schützen nicht verlassen. Sie schließen die dynamische Weiterentwicklung des Schießsports in Deutschland aus, verschieben sie ins Ausland und sorgen dafür, dass es keine Rechtsicherheit gibt. Bei den Magazinen, gerade bei den Röhrenmagazinen oder den Dual-Use-Magazinen, ist es weiterhin so, dass der Einzelne überhaupt nicht erkennen kann, ob er nun einen verbotenen Gegenstand hat oder nicht. Das ist das Gegenteil von Rechtssicherheit. Das ist das Gegenteil von Bestimmtheit. Hier ist ein deutlicher Grund für die Ablehnung dieses Umsetzungsgesetzes für die EU-Feuerwaffenrichtlinie. ({4}) Ein zweiter Gegenstand dieses Waffenrechtsänderungsgesetzes ist die Forderung, ist das legitime Ansinnen, Extremisten den Zugang zu Waffen zu verwehren. Diese Grundintention wird von den Freien Demokraten ausdrücklich geteilt. Deswegen ist es richtig, dass eine neue Regelunzuverlässigkeit für extremistische Vereine eingeführt wird. Wer sich in extremistischen Vereinigungen engagiert, darf keinen Zugang zu Schusswaffen haben; das ist völlig klar. ({5}) Aber Sie flankieren das Ganze mit einer Regelabfrage beim Verfassungsschutz, ohne sich die Alternativen anzuschauen. Es gab in der Anhörung im Innenausschuss den Vorschlag, dass der Abgleich seitens des Verfassungsschutzes erfolgt, dass die Daten vom Verfassungsschutz an die Waffenbehörde weitergegeben werden und nicht umgekehrt. Wir haben einen Vorschlag gemacht, der Ihnen heute vorliegt, wie wir anlassbezogen die Daten miteinander abgleichen können. Das, was Sie hier ohne Not und ohne ordentliche Vorbereitung einführen, ist ein Generalverdacht für legale Waffenbesitzer. Das ist mit der FDP nicht zu machen. ({6}) Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. – Beim dritten Gegenstand des Änderungsgesetzes, bei den Waffenverbotszonen, befürchten wir eine massive Ausdehnung von anlasslosen Personenkontrollen. Das ist ein Schritt in die falsche Richtung. Lieber Kollege Lindh, in den Schulen ist es heute schon möglich, Waffenverbote auszusprechen, nämlich über das Hausrecht, und im Waffengesetz darüber hinaus über Kriminalitätsschwerpunkte. ({7}) Das ist der richtige Weg. Man muss das geltende Recht anwenden und darf nicht das Recht zulasten unserer legalen Waffenbesitzer weiter verschärfen. Vielen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Es bleibt dabei, dass die Ankündigung des Schlusspunktes diesen nicht ersetzt. Ich bitte, das einfach zu beachten. ({0}) Das Wort hat die Kollegin Martina Renner für die Fraktion Die Linke. ({1})

Martina Renner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004385, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Linke steht für eine strikte Begrenzung von Waffen. Weniger Waffen bedeuten mehr Sicherheit, ({0}) schlicht und ergreifend schon deshalb, weil mit Waffen, die nicht im Umlauf sind, kein Verbrechen begangen werden kann. Das macht uns bei Waffenproduzenten und Waffenfreunden naturgemäß nicht beliebt, aber ich sage auch: Das halten wir aus. Der Schärfung des Waffenrechts stehen wir daher grundsätzlich aufgeschlossen gegenüber. ({1}) Es gibt an dem konkreten Gesetzgebungsvorhaben jedoch berechtigte Kritik. ({2}) Das Waffenrecht ist kaum mehr verständlich und schwer nachvollziehbar, und dies vor allem für viele Bürger und Bürgerinnen. Deutlich wird dies an der Bedürfnisprüfung. Die Behörden – da gehen wir d’accord – sollen prüfen können, ob jemand seine Waffe überhaupt noch benötigt. Jedoch vermittelt der Gesetzentwurf auch nach den Änderungen nicht ausreichend, in welchem Umfang die Besitzer diesem Anspruch nachkommen sollen. Das war der Grund für die vielen lauten Beschwerden der Schützen und Jäger. Was geklärt werden muss, ist: Der Bedürfnisnachweis für den Waffenbesitz muss immer auch nach zehn Jahren vorgelegt werden. Dabei bleiben wir, und das ist richtig. Der Staat muss nachvollziehen können, welche Waffen sich in wessen Händen befinden und warum. ({3}) Der damit verbundene Aufwand für alle Beteiligten ist notwendig; er darf sich nicht auf den Zeitpunkt der Waffenanschaffung beschränken. Meine Damen und Herren, ein wesentlicher Widerspruch: Die Regelanfrage beim Verfassungsschutz ist weder notwendig, noch macht sie unsere Gesellschaft sicherer. ({4}) Bundeskriminalamt, Bundespolizei und Zoll haben in den vergangenen Jahren zwölfmal so oft wie der Verfassungsschutz beim nationalen Waffenregister nachgefragt. ({5}) Das können Sie nachlesen. Dass der Inlandsgeheimdienst Gefahren aufdeckt, wenn es eine Regelanfrage gibt, ist ein Trugschluss. Er wird weiterhin nach eigenen Interessen – das macht er, weil er ein Geheimdienst ist – entscheiden, welcher Nazi seine Waffe behalten kann und welcher nicht. Ein Tatverdächtiger im Zusammenhang mit dem Mord an Walter Lübcke hatte eine waffenrechtliche Erlaubnis mit ausdrücklicher Billigung des Landesamtes für Verfassungsschutz Hessen. ({6}) – Das können Sie überall nachlesen. Kritische Regelungslücken sehen wir weiterhin bei dem legalen Verkauf bestimmter Waffenteile und von Munition sowie bei Ausnahmegenehmigungen für Auslandssportschützen. Deswegen werden wir uns in der Summe bei der Abstimmung über den Gesetzentwurf enthalten. Wem schuldet der Gesetzgeber eigentlich, etwas zu tun? Ich sage: den Hinterbliebenen des in Georgensgmünd erschossenen Polizisten und der Familie von Walter Lübcke und nicht der Lobby von Waffenherstellern und Waffenliebhabern. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Renner.

Martina Renner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004385, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Noch immer besitzen mehr als 700 bekannte Neonazis legal Waffen. In den letzten Jahren wurden jeweils mehr als 550 rechte Straftaten mit legalen und illegalen Waffen verübt. Das ist der alarmierende Missstand.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Achten Sie bitte auf die Zeit!

Martina Renner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004385, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die vorgeschlagenen Änderungen zum Waffengesetz gehen an diesem Missstand allerdings vorbei. Danke. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Dr. Irene Mihalic für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Irene Mihalic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004353, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! § 1 des Waffengesetzes beschreibt den Zweck des Gesetzes und bringt gleichzeitig unseren Auftrag als Gesetzgeber ziemlich gut auf den Punkt, nämlich „den Umgang mit Waffen oder Munition unter Berücksichtigung der Belange der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ zu regeln. Wir müssen uns also fragen: Ist das mit dem vorliegenden Gesetzentwurf gelungen? Zumindest teilweise habe ich da erhebliche Zweifel. Vor allem glaube ich nicht, dass das Gesetz dem entspricht, was der Thematik wirklich angemessen wäre. Viele sagen, wir hätten in Deutschland eines der strengsten Waffengesetze der Welt. Mein Eindruck ist: Wir haben vor allem eines der kompliziertesten. Das ist ein Problem, meine Damen und Herren. ({0}) Wir praktizieren im Waffenrecht inzwischen so etwas wie den Versuch, eine möglichst weitgehende Einzelfallgerechtigkeit herzustellen. Das ist schön und gut, geschieht aber leider um den Preis, dass es dem Ganzen am Ende an Klarheit, an Übersichtlichkeit und teilweise auch an Rechtssicherheit fehlt. Anwender dieses Gesetzes sind eben nicht nur die Waffenexpertinnen und ‑experten in den Verbänden und Vereinen, nein, auch jede Polizistin und jeder Polizist muss im Einsatz mit diesem Gesetz arbeiten. Und: Es gibt Millionen von Waffen und Abermillionen von Schuss Munition in diesem Land. Daher betrifft das Waffenrecht auch potenziell jede und jeden. Das bringt mich zu einem weiteren Punkt, der uns alle betrifft. Jedes Jahr sterben in Deutschland Menschen durch schwere Straftaten. Wir müssen davon ausgehen, dass eine nicht unerhebliche Zahl durch legal erworbene Waffen, insbesondere Schusswaffen, getötet wird. Wir wissen es allerdings nicht genau. Deswegen brauchen wir endlich eine aussagekräftige Opferstatistik, wie wir sie auch beantragt haben. ({1}) Lassen Sie mich noch etwas zur Lage in unserem Land sagen. Die Affinität zu Gewalt und Waffen in der rechten Szene ist lange bekannt. Wir haben es anlässlich verschiedenster schwerwiegender Ereignisse auch hier im Haus schon rauf- und runterdiskutiert. Wir sind, glaube ich, alle gemeinsam zu dem Ergebnis gekommen, dass man gerade auf dieser Seite dringend etwas dagegen tun muss, dass sich Rechtsextremisten legal bewaffnen können. Ich weiß, dass es auch hier im Haus viele gibt, die mit mir einer Meinung sind, dass da noch nicht genug unternommen worden ist und dass man da wirklich noch mehr Anstrengungen braucht, um dieses Ziel gemeinsam zu erreichen. Ich fürchte nur, dass wir, was die Waffengesetzgebung angeht, möglicherweise schon sehr, sehr viel Zeit verloren haben. Ich finde, das gehört zur Wahrheit dazu, wenn man über eine Reform des Waffenrechts spricht. Herzlichen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Mario Mieruch.

Mario Mieruch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004822

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Schützen! Liebe Jäger! Auf 144 Seiten Hauptantrag und weiteren gut 100 Seiten Änderungen und Beschlussempfehlungen erleben Sie heute ein Paradebeispiel für umgekehrten Bürokratieabbau. Es reicht wieder einmal nicht, eine EU-Richtlinie einfach so in nationales Recht zu überführen, nein, wie schon bei Klima und Grenzwerten muss auch hier alles wieder deutlich verschärft und verkompliziert werden. Dass Großbritannien und Dänemark mit ähnlichen Regelungen bereits wirkungslos gescheitert sind, hat hier niemanden zum Nachdenken angeregt. Lysander Spooner hat es einstmals sehr schön auf den Punkt gebracht: Waffen zu verbieten, weil Kriminelle sie benutzen, bedeutet, den Gesetzestreuen zu erzählen, dass ihre Rechte und Pflichten nicht von ihrem eigenen Verhalten abhängen, sondern von dem der Schuldigen und der Gesetzlosen. Liebe Kollegen von der Union und insbesondere der CSU, erklären Sie das bitte zu Hause Ihren herausragend gesetzestreuen Sportschützen und Jägern, deren Schützenwesen von der UNESCO gerade erst zum Kulturerbe erklärt wurde, ({0}) und sagen Sie ihnen, warum Sie ihnen so sehr misstrauen. Denn Sie haben sich sehr ausführlich Magazinen, Waffenteilen usw. gewidmet, während Sie an anderen wirklich praxisrelevanten Stellen wieder jegliche konkrete Regelung fehlen lassen. Sie hätten hier die Möglichkeit gehabt, klar zu definieren, dass ein Training mit Kurzwaffe unter Wettkampfbedingungen, zum Beispiel sechs Serien à fünf Schuss innerhalb von 45 Minuten, die Anforderung erfüllt und dass man so mit mehreren Waffen pro Tag rechtskonform trainieren kann. Aber nein, dazu findet sich nichts. Stattdessen fragt sich jetzt auch jeder Pfadfinder, ob ihn demnächst Armbrust, Pfeil und Bogen nicht vielleicht mit einem Bein im Gefängnis stehen lassen. ({1}) Ich habe die hier vorliegenden Unterlagen wirklich sehr akribisch dahin gehend untersucht, wie Sie nun Kriminalität, Amokläufe und Terror verhindern. ({2}) Aber die Anhänger derartiger Vorhaben haben Sie mit Ihrem Gesetzentwurf offensichtlich völlig vergessen, sodass diese sich auch weiterhin aus leider augenscheinlich sehr bewährten Quellen bedienen müssen; denn für die ändert dieser Gesetzentwurf nada, nichts. Da stelle ich mir die Frage, was Sie den Bürgern hier eigentlich verkaufen wollen. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Abgeordnete Andrea Lindholz für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Andrea Lindholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004342, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Innenpolitiker der Union beschäftigen wir uns mit der Reform des Waffenrechts bereits seit dem Jahr 2016. Damals stand Europa unter dem Schock der Anschläge von Paris; und wir sollten auch nicht vergessen, dass islamistische Terroristen 2015 in Europa 150 Menschen ermordeten und rund 400 verletzten. Diese Täter haben auch europäische Waffen eingesetzt. Schreckschusswaffen aus Osteuropa konnten problemlos wieder zu scharfen Waffen umgerüstet werden. Die EU musste daher dringend handeln und die Feuerwaffenrichtlinie reformieren; denn Europa braucht gemeinsame und verlässliche Standards im Umgang mit Waffen. Wir müssen diese Richtlinie also umsetzen, und wir brauchen für das vorliegende Gesetz auch die Zustimmung des Bundesrates, das heißt der Länder. Für uns als Partei der inneren Sicherheit bestand nie ein Zweifel daran. Wir wissen gleichzeitig aber auch, dass Deutschland bereits ein sehr strenges Waffenrecht hat. Die rund 2 Millionen legalen Waffenbesitzer in Deutschland dürfen und werden wir auch nicht einfach unter Generalverdacht stellen. ({0}) Wir haben Jäger, Sportschützen, Gebirgsschützen, Traditionsschützen, Büchsenmacher, Sammler und Waffenliebhaber, die allesamt ein Stück deutsche Kultur pflegen, und auch wir wollen diese Kultur erhalten. Wir haben uns als Union deshalb schon sehr früh, 2016, in Brüssel dafür eingesetzt und interveniert, sodass die EU-Feuerwaffenrichtlinie in manchen Teilen bereits im Vorfeld geändert wurde. Ich will daran erinnern: Wir haben zum Beispiel mit Erfolg dafür Sorge getragen, dass die medizinisch-psychologische Prüfung für jeden Waffenbesitzer und die zeitliche Befristung jeder Waffenerlaubnis verhindert werden konnten. CDU und CSU haben und hatten immer ein offenes Ohr für die redlichen Waffenbesitzer, und wir haben gleichzeitig ein wachsames Auge auf die innere Sicherheit. Die Einhaltung dieses Grundsatzes haben wir auch bei der Umsetzung der EU-Feuerwaffenrichtlinie bewiesen. Es ist richtig: In meiner Zeit im Ausschuss für Inneres und Heimat kann ich mich an kaum keinen Gesetzentwurf erinnern, der so intensiv diskutiert wurde wie dieses Änderungsgesetz. Ich gebe Herrn Kuhle an einer Stelle recht: Ja, gerade nach dem ersten Entwurf zur Umsetzung, nach der ersten Vorlage, die aus dem Ministerium gekommen ist, haben auch wir Kritik an der einen oder anderen Stelle gehabt. Das hat zu einer Verunsicherung der Verbände beigetragen. Und ja, wir haben nicht umsonst zahlreiche Briefe stapelweise in unsere Büros bekommen. Ich möchte mich an dieser Stelle aber zugleich bei jedem bedanken, der sich bei uns gemeldet hat und konstruktive Meldungen abgegeben hat. ({1}) Ich möchte mich besonders auch bei den Fachverbänden für die wirklich gute und konstruktive Zusammenarbeit und die vielen Gespräche bedanken, die teilweise sehr ins Detail gingen; und ich möchte mich bei unserem Bundesinnenminister und seinem Team, aber auch beim bayerischen Innenminister dafür bedanken, dass sie all diese Anregungen und Bedenken noch einmal aufgegriffen haben. Vor allen Dingen danke ich auch der SPD, ganz besonders Ihnen, Herr Lindh, und der Union, hier ganz besonders Marc Henrichmann, für die ebenfalls gute und konstruktive Zusammenarbeit untereinander. ({2}) Wir haben einiges erreicht. Wir haben die viel zu strikte Regelung der Bedürfnisprüfung auf ein absolut vertretbares Maß reduziert. Ich finde, sie ist jetzt besser als die aktuelle. Nach zehn Jahren braucht es keinen Schießnachweis mehr; es reicht der Nachweis der Mitgliedschaft im Schützenverein. Und es ist richtig: Wir haben die Anzahl der mit der gelben Waffenbesitzkarte zu erwerbenden Waffen auf zehn begrenzt, um das Waffenhorten zu verhindern. Ich will an dieser Stelle daran erinnern, dass im Mordfall Walter Lübcke bei den drei Beschuldigten insgesamt um die 50 Waffen gefunden worden sind. Die Schützen in meinem Wahlkreis, mit denen ich mich unterhalten habe, haben für diese Beschränkung auch absolutes Verständnis. ({3}) Uns erreicht hinsichtlich des Verbots von großen Magazinen aktuell natürlich immer noch die eine oder andere Nachfrage, was die IPSC-Schützen, also diese speziellen Sportschützen, angeht. Wir wissen, dass sie zwar im Inland keine großen Magazine brauchen, aber dass das nötig ist für Auslandsturniere und um damit hierzulande trainieren zu können. Wir haben auch die Einwendung vernommen, dass die Ausnahmegenehmigungen über das BKA bisher nicht immer so einfach zu erzielen waren. Aber wir haben mit diesem Gesetzentwurf dafür Sorge getragen, dass hier eine schnelle und praxistaugliche Regelung gefunden wird. Außerdem haben wir großzügige Bestandsregelungen getroffen. Wir werden genau hinschauen, ob das in der Praxis funktioniert. Ich glaube, auch das ist eine gute Regelung. Die Regelabfrage beim Verfassungsschutz – sie ist heute mehrfach angesprochen worden – hat ein einziges Ziel, und zwar keine Waffen in die Hände von Extremisten zu geben. ({4}) Es ist für niemanden nachvollziehbar, dass wir regelmäßig nach der Erteilung von Waffenbesitzkarten und einer Waffenerlaubnis hinschauen, aber nicht, bevor wir sie erstmals erteilen. Deshalb ist es richtig, dass wir auch hier die Regelabfrage durchführen. Wir setzen damit auch eine Forderung aller Bundesländer um. Ich betone noch mal: Dieser Gesetzentwurf ist zustimmungspflichtig. ({5}) Zu guter Letzt haben wir auch die Nachverfolgbarkeit der Waffenteile geregelt. Ich weiß, dass die Büchsenmacherbetriebe hier noch ein bisschen Sorge haben. Wir müssen das genau beobachten. Aber wenn wir illegale Waffen verhindern wollen, müssen wir die Waffenteile besser kontrollieren. Ich will zum Schluss kommen und sagen – –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin.

Andrea Lindholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004342, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Waffenverbotszonen – darauf will ich noch kurz eingehen – können die Länder im Übrigen einführen, sehr geehrter Herr Kollege Hess, sie müssen es aber nicht. Ich glaube, wir haben einen guten Kompromiss gefunden, um die Richtlinie umzusetzen, die Freiheit der Waffenbesitzer nicht zu sehr einzuschränken und gleichzeitig für die Sicherheit in Deutschland zu sorgen. Insofern bitte ich Sie alle um Ihre Zustimmung. Danke schön. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Claudia Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003212, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Klimakrise führt zu einschneidenden Veränderungen in der Welt, schon heute und auch bei uns. Vor allem aber ist die Klimakrise eine Krise der globalen Gerechtigkeit. In erster Linie trifft sie nämlich den globalen Süden und damit just jene Regionen des Planeten, die historisch betrachtet am allerwenigsten zur Erderwärmung beigetragen haben. Dort wiederum sind besonders die Menschen betroffen, die die geringsten Möglichkeiten haben, sich zu schützen oder anzupassen: Frauen, Kinder, Alte und Minderheiten. Millionen von Menschen erleben so tagtäglich die Zerstörung ihrer Gegenwart. Klimakrise bedeutet für sie Wüstenbildung, Dürre oder Überschwemmung, Versalzung der Böden. Klimakrise bedeutet die Verknappung ohnehin knapper Ressourcen und damit die Intensivierung gewaltsamer Konflikte. Klimakrise bedeutet die Verletzung grundlegender Menschenrechte. Klimakrise bedeutet aber auch den unermesslichen Verlust von sicherem Zuhause, von Heimat, bedeutet Migration, Flucht und Vertreibung. ({0}) In der Tat werden innerstaatlich schon heute mehr Menschen durch die Folgen der Klimakrise vertrieben als durch Gewalt und Konflikte. Dennoch fristet klimabedingte Vertreibung in internationalen Debatten allenfalls ein Nischendasein. Das wollen wir ändern. ({1}) In unserem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen, geht es also um mehr als um aktuelle Emissionswerte. Es geht um historische Verantwortung, um moralische und völkerrechtliche Verpflichtung. ({2}) Es geht um internationale Klimafinanzierung. Und, ja, dabei geht es natürlich auch um den Ausgleich von Schäden und von Verlusten. Umso beunruhigender die Nachrichten, die uns aus Madrid erreichen, über die anhaltende Blockadehaltung der Industrienationen. Vor allem aber geht es uns im Antrag um vier zentrale Punkte. Erstens. Natürlich hat es oberste Priorität, die Klimakrise einzudämmen und dazu beizutragen, dass Menschen ihre Heimat erst gar nicht verlassen müssen. Zweitens. Selbst wenn wir die Klimaziele von Paris doch erreichen, werden Menschen mit Klimaveränderungen konfrontiert sein: an ihren Küsten, auf ihren Äckern, in ihren Wäldern. Denjenigen, die nicht bleiben können, muss eine selbstbestimmte und frühzeitige, eine legale und würdevolle Migration möglich sein. ({3}) Dazu gibt es bislang vor allem regionale Ansätze, und es gibt Konventionen. Die sollten wir viel stärker unterstützen, weiterentwickeln und verbindlich machen. Denn natürlich will der Fischer auf den Bahamas, will die Kaffeebäuerin aus Benin nicht nach Bamberg ins AnkER-Zentrum. Wenn sie denn schon umsiedeln müssen, ({4}) wollen sie das innerhalb ihres Landes, innerhalb ihrer Regionen tun und erwarten dabei zu Recht auch unsere Unterstützung als Hauptmitverursacher der Klimakrise. ({5}) Drittens wird es, wie schon heute, auch zu Situationen plötzlicher Flucht kommen, beispielsweise nach Naturkatastrophen, die von der Klimakrise vermehrt, beschleunigt und intensiviert werden. Die meisten davon Betroffenen fallen dabei nicht in den Geltungsbereich der Genfer Flüchtlingskonvention, ({6}) sondern in eine völkerrechtliche Schutzlücke, die wir dringend schließen müssen. ({7}) Auch dazu machen wir Vorschläge, wie zum Beispiel die Ausweitung des subsidiären Schutzes auf Katastrophenvertriebene. Schließlich viertens. Wie gehen wir eigentlich damit um, wenn absehbar ist, dass es zwar noch eine Bevölkerung von Tuvalu geben wird, den flachen Inselstaat aber bald nicht mehr? ({8}) Was bedeutet das Verschwinden des gesamten Territoriums von Kiribati für die Staatsbürgerschaft der Betroffenen? Wie garantieren wir also die Menschenrechte derer, die womöglich bald kein Herkunftsland mehr haben werden? ({9}) Unter anderem greifen wir auf, was auch der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung empfiehlt, nämlich die Idee eines Klimapasses, der den Betroffenen ermöglichen würde, selbstbestimmt und frühzeitig über ihre notwendige Migration zu entscheiden und staatsbürgergleiche Rechte im aufnehmenden Land zu erhalten. ({10}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, erlauben Sie mir abschließend eine Bitte. In unserem Antrag sprechen wir Phänomene an, die leicht verhetzbar sind. Das Unvermeidbare aber werden wir nicht vermeiden, indem wir uns deshalb der überfälligen Debatte verweigern. ({11}) Lassen Sie uns vielmehr ernsthaft diskutieren und auf komplexe Fragen nicht die einfachen, sondern die relevanten Antworten erarbeiten – gemeinsam. ({12}) Lassen Sie uns den Einsatz gegen die Klimakrise ({13}) nicht als Kampf zwischen links und rechts verstehen, sondern als völkerrechtliche Verpflichtung und Frage des Überlebens. ({14}) Lassen Sie uns vor allem eines anerkennen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Der Umgang mit Migration und Flucht wird gerade in Zeiten der Klimakrise zu einem ethischen Prüfstein für uns alle. Die bisherige Politik, gerade auch die europäische, ist an diesem Prüfstein gescheitert. ({15}) Politik aber ist wie die Klimakrise: menschengemacht. Und Menschengemachtes lässt sich wandeln. Danke schön. ({16})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Volkmar Klein für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Volkmar Klein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004071, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ja, der hier vorliegende Antrag ist umfangreich. Vieles, was drinsteht, ist sicherlich völlig unstrittig, es sind im Grunde Selbstverständlichkeiten. Dass sich der Klimawandel negativ auswirken kann auf die Perspektiven und Chancen von Menschen, ist völlig klar. In diesem so umfangreichen Antrag stehen allerdings auch ein paar Absurditäten wie „Klimapass“ und Ähnliches. Geschenkt! Ich finde, das Schlimmere an diesem Antrag ist der irreleitende Gesamtduktus, nach dem jetzt endlich etwas begonnen werden sollte. Tatsächlich aber leistet gerade Deutschland in Sachen „Chancen für Menschen trotz Klimawandel“ sehr viel. Wir werden überall in der Welt als Vorreiter anerkannt. ({0}) Ich will kurz einige Punkte nennen: Dass sich Menschen woanders Perspektiven und Chancen suchen, liegt doch vor allem daran, dass es dort, wo die Menschen leben, zu wenig Jobs, Chancen und Perspektiven gibt. Es mag ja sein, dass der Klimawandel ein bisschen dazu beiträgt; aber anzunehmen, dass der Mangel an Chancen für Menschen im Senegal oder im Tschad vor allen Dingen am sich wandelnden Klima liegt, ist doch ziemlich absurd. ({1}) Es liegt daran, dass dort wegen schlechter Regierungsführung viel zu wenig aufgebaut wird und zu wenig Perspektiven und Chancen für die Menschen vorhanden sind. Natürlich reichen beispielsweise im Tschad bei einer stark wachsenden Bevölkerung die überalterten oder im Wesentlichen fehlenden Wasserspeicherungsmethoden bei Weitem nicht aus, um die vielen Menschen zu versorgen. Deswegen ist es ja gut, dass die deutsche Entwicklungszusammenarbeit gemeinsam mit internationalen Organisationen – ich nenne das World Food Programme im Tschad – viel leistet, damit auch künftig dort ein Leben möglich ist. Wir waren in der vergangenen Woche auf Delegationsreise in Indien unterwegs. Dort habe ich gesehen: Nicht jeder Wassermangel hat etwas damit zu tun, dass sich das Klima wandelt. ({2}) Wenn die Bauern in Indien weiterhin Strom, Elektrizität kostenlos bekommen und ebenfalls kostenlos Grundwasser fördern können, die Pumpen dann 24 Stunden laufen – das wurde beobachtet –, dann ist klar, dass keiner auch nur im Entferntesten daran denkt, Wasser einzusparen. Wenn dann das Grundwasser sinkt und am Ende zu wenig Wasser da ist, ja, meine Damen und Herren, dann müssen wir die Regeln ändern. Wir brauchen international mehr soziale Marktwirtschaft. ({3}) Wir brauchen mehr Vernunft in aller Welt. ({4}) Und wir brauchen mehr Jobs und Chancen. Deswegen ist es am Ende im Hinblick auf die Frage „Welche Perspektiven schaffen wir für Menschen?“ mindestens genauso wichtig, über Projekte wie AfricaGrow-Fonds oder AfricaConnect nachzudenken wie über all die anderen Dinge. Wir brauchen mehr Investitionen und mehr Jobs.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Klein, gestatten Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung der Kollegin Hänsel?

Volkmar Klein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004071, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herzlichen Dank. – Frau Präsidentin! Also, Herr Klein, ich muss hier ein paar Dinge richtigstellen. ({0}) Wenn Sie allen Ernstes den Wassermangel in Indien darauf zurückführen, dass die Menschen kostenlos Wasser bekommen, was ein Grundrecht ist – es gibt ein Grundrecht auf Wasser; ({1}) denn es gehört zum Recht auf Leben –, wenn Sie also den Zugang zu Wasser allen Ernstes für den Wassermangel verantwortlich machen wollen und mit keinem Wort erwähnen, dass Coca-Cola in Indien zum Beispiel Millionen Liter von Wasser abschöpfen kann – illegal, ({2}) täglich – und auf unfassbare Weise diese Wasserressourcen plündert, sodass es landesweit schon zu großen Streiks gegen Coca-Cola kommt, dann verfälschen Sie hier dermaßen die Realitäten in den Ländern des Südens. ({3}) Ich möchte Ihnen sagen: Wenn Sie mit einem Finger auf die Menschen dort zeigen, dann zeigen vier Finger hierher auf Europa, auf die europäischen Konzerne, auf unsere Lebensweise. ({4})

Volkmar Klein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004071, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Frau Kollegin, in der Regel wird nirgends bestritten, dass, wenn etwas kostenlos ist, auch der Verbrauch und der Konsum unanständig hoch sind. ({0}) Und wenn sich das dann sowohl auf das Wasser als auch auf den Strom bezieht, dann sind das genau die gleichen Symptome – ich sage ja nicht, dass es die einzigen sind –, die dafür gesorgt haben, dass Ihre SED-Vorgänger den gesamten Ostblock wirtschaftlich ruiniert haben. Das ist doch genau das Gleiche. ({1}) Damit ist auch die Frage beantwortet. Also, ich sage noch mal: Wir brauchen mehr Jobs und Perspektiven für die Menschen. Dazu hat Deutschland wirklich schon viel beigetragen. Deutschland trägt aber auch relativ viel dazu bei, dass der sich entwickelnde Klimawandel reduziert wird: erstens im Inneren und zweitens nach außen. Natürlich kann man sagen: Wir könnten bei der Einsparung von CO2 noch viel mehr erreichen. Aber wenn wir seit 1990 den CO2-Ausstoß um 30 Prozent verringert haben, obwohl wir die CO2-freundlichste Energiequelle abgeschaltet haben, dann ist das mehr als gar nichts. Wir haben durch unsere Entwicklungszusammenarbeit international dafür gesorgt, dass 250 Millionen Tonnen CO2-Ausstoß vermieden werden. Genau darin ist das hohe Ansehen Deutschlands in aller Welt begründet. Dass in einem so umfangreichen Antrag das Wort „Wald“ kein einziges Mal zu finden ist, obwohl der Wald – so sehen wir es jedenfalls – einen wichtigen Beitrag im Kampf gegen den Klimawandel leistet, zeigt, dass dieser Antrag nicht die richtige Grundlage ist. ({2}) Wir als CDU/CSU-Fraktion sind sehr für globale Gerechtigkeit, aber eben nicht auf der Basis dieses Antrags. Herzlichen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Markus Frohnmaier für die AfD-Fraktion. ({0})

Markus Frohnmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004721, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich zitiere den letzten Absatz aus dem Antrag der Grünen: Eine gleichberechtigte, gendergerechte Gesellschaft hat bessere Aussichten, ihre Umwelt zu schützen und die Klimakrise zu überwinden. ({0}) Die Klimakrise ist nicht genderneutral; die Gegenmaßnahmen dürfen es auch nicht sein. ({1}) Liebe Kollegen, ich habe mir gedacht: Wer kommt eigentlich auf solche Ideen? Wem fällt so was eigentlich ein? Manchmal können die Dinge im Leben so wunderbar selbsterklärend sein. Da stand nämlich auf dem Antrag: „Claudia Roth (Augsburg)“. Dann war alles klar. ({2}) Unter Punkt 27 des Antrags von Frau Roth finden wir die Forderung nach Einführung eines „Klimapasses“. Frau Roth möchte jetzt also sogenannten Klimaflüchtlingen ein weltweites Recht auf Migration einräumen, damit in Zukunft nicht nur am Silvesterabend auf der Kölner Domplatte getanzt werden kann, sondern das ganze Jahr. ({3}) Dabei gibt es gar keine Klimaflüchtlinge. Das sind grüne Fake News. ({4}) Diese Erfindung von Frau Roth und den Grünen hat zum Ziel, jede Form von illegaler Migration kurzerhand für legal zu erklären. ({5}) Wenn man afrikanische Migranten fragt, warum sie auswandern, spielt der Klimawandel überhaupt keine Rolle. Schlechte Verdienstmöglichkeiten, schlechte soziale Absicherung und schlechte Regierungsführung sind die Hauptgründe, warum Menschen aus Afrika nach Europa kommen. Was hilft dagegen? ({6}) Helfen dagegen Klimapakete, die den Wirtschaftsstandort Deutschland zerstören und Hunderttausende Arbeitsplätze kosten? Helfen dagegen, so wie die Grünen fordern, 1,2 Milliarden Euro mehr Entwicklungshilfe für korrupte Regime? Helfen dagegen, so wie die Grünen in Punkt 26 ihres Antrages fordern, großangelegte Umsiedlungsprogramme für ganze Völkerscharen? Nein. Wir brauchen zunächst einmal ein einheitliches Konzept für den Umgang mit Entwicklungsländern. ({7}) In Deutschland treiben unzählige Ministerien, Bundesländer, Kommunen, Verbände, Stiftungen, Kirchen und NGOs Entwicklungspolitik. Die linke Hand weiß doch gar nicht, was die rechte tut. Deshalb fordern wir ein Ende der Fragmentierung der deutschen Entwicklungspolitik. ({8}) Diese deutsche Entwicklungspolitik darf eben nicht aus Genderunfug wie im Antrag der Grünen und in dem sinnlosen Verbrennen von Steuergeld bestehen. Wir müssen mit deutschen Unternehmen zielgerichtet die wirtschaftliche Zusammenarbeit ausbauen. Das heißt ganz konkret: Straßen, Fabriken und Staudämme statt batteriebetriebene Rikschas, klimaneutrale Moscheen oder gendersensible Männerarbeit. ({9}) Vertragstreue, Sparsamkeit und Eigenverantwortung statt Arbeitsplatzvernichtung durch Lieferkettengesetze und Insektenbuffets im Entwicklungsministerium. Freie Absatzmärkte, Rohstoffe und Handel statt Charity mit Til Schweiger oder Instagram-Storys mit Kaffeebotschafterin und Topmodel Sara Nuru und Entwicklungsminister Müller. Am Anfang des Jahres haben Sie, Frau Roth, sich beschwert, dass seit dem Einzug der AfD in den Deutschen Bundestag die Leichtigkeit des Hauses weg sei. ({10}) Sie haben recht. Solche Spaßpapiere gibt es mit uns in Zukunft nicht mehr. ({11}) Zur ganz großen Koalition von Linkspartei bis zur CSU gibt es jetzt eine Alternative: die Alternative für Deutschland, meine Damen und Herren. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Doris Barnett für die SPD-Fraktion. ({0})

Doris Barnett (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002621, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jeder liest das aus dem Antrag heraus, was in sein Weltbild passt. Ob das eine Alternative ist, mag ich hier bezweifeln. Kommen wir zurück zur Sache. Ich kann zu den Grünen und auch zu den Linken sagen: Willkommen im Klub. Prima, dass Sie die Arbeit der Bundesregierung unterstützen wollen. Die Regierung arbeitet an diesem Thema nicht erst, seit sie das Klimakabinett eingerichtet hat, sondern seit Längerem, jetzt aber besser verzahnt. Der Klimawandel fällt ja nicht wie ein Stein vom Himmel, sondern er kündigte sich ja schon viel länger an. Das sagen nicht nur die Wissenschaftler, das wissen selbst wir Politiker. War es zunächst nur die Trockenheit in afrikanischen Ländern, die Hungersnöte verursachte, kommen jetzt auch massive Wanderungsbewegungen von betroffenen Bevölkerungsgruppen dazu. Und plötzlich werden alle aufmerksam. Diese Folgen des Klimawandels sind mitverantwortlich für einen erhöhten Hilfebedarf in immer größer werdenden Regionen dieser Welt. Der Klimawandel bedroht die Lebensgrundlagen von Millionen Menschen, die dazu gezwungen sind, deshalb ihre Heimat zu verlassen. Aber diese Umweltprobleme machen nicht an Staatsgrenzen halt. Sie werden ganz schnell zu Verteilungs- und damit auch zu Sicherheitsproblemen, wenn Menschen eine neue Heimat suchen. Seit sich die Staaten dieser Welt 1972 bewusst wurden, dass wir eine internationale Umweltpolitik brauchen, hat sich einiges getan. Es ist richtig: Zunächst bewegten sich die Länder nur mäßig, haben die Umweltprobleme oft wegen der eigenen Innenpolitik eher stiefmütterlich behandelt. Die UNO-Umweltkonferenzen von 1992 und 2012 haben dann endlich etwas mehr Zug in die Sache gebracht. Es ist auch richtig, dass die Ergebnisse der Konferenz von Rio 2012 hinter den Erwartungen zurückgeblieben sind. Trotzdem wurde zum ersten Mal auf internationaler Ebene ein Konzept der grünen Wirtschaft als wichtiges Instrument nachhaltigen Wirtschaftens anerkannt. Die von uns und von der EU erhoffte und angestrebte Green Economy Roadmap konnte allerdings nicht durchgesetzt werden. Mit diesen Vorbemerkungen will ich nur zeigen, dass Klimawandel, Umweltvernachlässigung und die damit einhergehenden humanitären Katastrophen schon lange in unseren zuständigen Ministerien, also im Auswärtigen Amt, im Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, im Umweltministerium und auch im Bundeskanzleramt, angekommen sind. Ich will den seit 1992 Regierenden jetzt keine Untätigkeit vorwerfen. Was wir heute sehen, nicht nur in den Papieren, sondern auch in den jeweiligen Haushalten gerade dieser Ministerien, zeigt doch, dass die Probleme hier sehr bewusst angegangen werden. Wir wissen, dass die Zeit knapp wird, dass mehr getan werden muss, und zwar hier in Deutschland und auch weltweit. Unsere einzige Chance, die Klimarisiken zu begrenzen, ist und bleibt eine ambitionierte Klimapolitik. Die setzen wir in Deutschland mit dem Klimapaket um. Ich weiß, da werden jetzt viele wieder sagen: Da muss man viel mehr machen. – Hören Sie dann aber andererseits auf, in den Ländern zu blockieren! Im Interesse der globalen Sicherheit und Stabilität müssen jetzt alle Staaten ihre Anstrengungen zum Klimaschutz verstärken. Dabei spielt es schon eine Rolle, wie Deutschland agiert, was wir unternehmen, wie wir helfen. Die Staatengemeinschaft hat sich mit der Agenda 2030 verpflichtet, die Herausforderungen der globalen Erwärmung anzugehen. Deutschland nutzt seine Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat und setzt die Themen Klimaveränderung, Umwelt und Sicherheit immer wieder auf die Tagesordnung und bohrt nach. Aber nicht nur das: Zu Hause erhöhen wir auch unsere Schlagzahl. Noch nie waren die Mittel des BMZ so hoch wie beim Haushalt für 2020: fast 11 Milliarden Euro. Mit 630 Millionen Euro mehr gegenüber dem Vorjahr engagieren wir uns weltweit. Auch das Auswärtige Amt hat nochmals 60 Millionen Euro für humanitäre Hilfe und Krisenprävention draufgepackt. Sicherlich ist es wichtig, dass wir die betroffenen Menschen mit Lebensmitteln und medizinisch versorgen, aber das ist ja nur ein Teil der Hilfe. Wenn wir diesen Menschen eine Zukunft geben wollen, dann brauchen sie eine Möglichkeit, sicher zu leben, vorzugsweise im eigenen, eventuell in einem fremden Land. Den betroffenen Ländern dürfen wir die Hilfe hier nicht versagen; wir müssen sie unterstützen. Ja, wir leisten Soforthilfe, aber daneben sind wir auch dem Pariser Abkommen verpflichtet und unterstützen die Entwicklungs- und Schwellenländer bei deren Anstrengungen zur Erreichung der Klimaziele. Ja, wir beteiligen uns auch kräftig an der internationalen Klimafinanzierung. Ziel im kommenden Jahr sind 4 Milliarden Euro. Dabei sind die Mittel, die wir über die KfW hineingeben, noch gar nicht dabei. Deutschland hat in den letzten Jahren seinen Anteil an der Klimafinanzierung erheblich gesteigert. Da brauchen wir uns nicht zu verstecken. Weil Großschadensereignisse nur bedingt vorhersehbar sind – auch wenn weltweit an einer besseren, präziseren Vorhersagemöglichkeit gearbeitet wird –, unterstützen wir mit Mitteln des BMZ unterschiedliche Risikofinanzierungs- und auch Versicherungslösungen. Damit können die Opfer von Naturkatastrophen entschädigt werden. Unter anderem haben inzwischen 80 Länder für sich eine solche Möglichkeit zur Katastrophenfinanzierung erschlossen. Das reicht nicht, wie ja auch die derzeit noch laufende Klimakonferenz in Madrid zeigt. Es wäre fatal, wenn auch diese enden würde und es wieder keine eindeutigen Ergebnisse gäbe, auf die sich die ärmsten Länder verlassen könnten. ({0}) Es ist egal, wie viel Geld wir, die Industrienationen und somit die Hauptverursacher des Klimawandels, für von Naturkatastrophen betroffene Länder beisteuern, wenn wir unsere Hausaufgaben nicht machen. Deshalb ist es für mich wichtig: Statt den Klimawandel zu leugnen oder als wiederkehrendes Phänomen abzutun, müssen wir den Klimaschutz endlich entsprechend der SDG angehen; ({1}) denn gute Klimaschützer von heute sind Pioniere der grünen Wirtschaft von morgen. Damit können sie auch in Zukunft Wertschöpfung erarbeiten. Das gilt nicht nur für Deutschland. Aber Deutschland kann hier mal als Fackelträger vorangehen; und das tun wir auch. Ich weiß, dass unser Tun bei denen, die nicht in Verantwortung sind, als zu wenig abgetan wird. Dabei müssten wir jetzt alle an einem Strang ziehen. Ich hoffe, dass die Parteien, die hier in der Opposition sind, aber in Landesregierungen mitwirken, jetzt helfen, das Klimapaket umzusetzen. Dann braucht es nicht einmal Ihre Anträge. Vielen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Christoph Hoffmann für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Christoph Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Roth hat hier erklärt, dass das Klima die größte Fluchtursache ist. Das ist schlicht falsch. ({0}) Die größte Fluchtursache heute und morgen ist nicht das Klima, sondern sind die Bürgerkriege wie in Syrien, Kamerun, Libyen oder die Krise in Venezuela. ({1}) Diese müssen beendet werden. Das ist wesentlich. Zweite Ursache – das hat Herr Klein schon erwähnt – ist die schlechte Regierungsführung, die zu schlechten Lebensverhältnissen führt. Aber keine Frage: Die Klimasituation ist ernst. Wir steuern auf eine 4-Grad-Erwärmung zu. Die Straße dorthin ist gepflastert mit Ignoranz und Bequemlichkeit. Umso mehr braucht es einen kühlen Kopf und ein Anpacken. Das ist gefragt, und das vermisse ich in Ihrem Antrag. Was können wir eigentlich tun? Sie sprechen in Ihrem Antrag auch von der historischen Verantwortung, von der Schuld Deutschlands. Aber Deutschland hat nicht nur Schuld, sondern Deutschland hat auch mit Technik und Handel dazu beigetragen, dass sich die Lebensverhältnisse in den Entwicklungsländern deutlich verbessert haben. ({2}) Kindersterblichkeit, Krankheiten, Hunger sind zurückgegangen, und die Lebenserwartung ist in allen Entwicklungsländern massiv gestiegen. Das sind doch positive Verdienste. ({3}) Deshalb ist diese Art der Selbstgeißelung in Ihrem Antrag unverantwortlich. Der Antrag ist schlicht und einfach unvollständig. In Ihrem Antrag haben Sie eines vergessen: den Bürger. Es wird keine Mehrheit in Deutschland oder in einem anderen Staat Ihren Ideen – einem Teppich aus Bürokratie, Einschränkungen, Verboten, Klimavisen bzw. Klimapässen oder anderer religiös anmutender Kasteiung in Sachen Klima – folgen, nie und nimmer. ({4}) Die Geschichte lässt sich nicht zurückdrehen; das ist Fakt. Aber der Klimafehler ist reparabel, indem wir CO2 wieder aus der Luft herausholen. Daran müssen wir arbeiten, um die Lebensräume für Menschen im Süden zu erhalten bzw. wieder zu verbessern. Das ist wesentlich. Was können wir da tun? Erstens könnten wir CO2 binden. Ein Beispiel ist die Initiative „Große Grüne Mauer“ der Afrikanischen Union, um die Ausbreitung der Wüsten zu stoppen. Weltweit mehr Wald für den Klimaschutz: Wir hatten in einem Antrag gefordert, 350 Millionen Hektar aufzuforsten oder zu restaurieren. Das schafft 5 Millionen Arbeitsplätze. Das ist wesentlich. Sie haben diesem Antrag der Freien Demokraten nicht zugestimmt. ({5}) Zweitens. Wir könnten CO2 aus der Luft binden mit Energie aus Photovoltaik in den Sonnengürteln dieser Welt – also dem Süden, den Sie vorhin erwähnt haben –, um E-Fuels zu produzieren, künstliche Kraftstoffe, flüssige Energie, die transportabel ist. Das wäre ein wesentlicher Schritt und brächte die dringend benötigten Arbeitsplätze in den Entwicklungsländern. ({6}) Und drittens – das ist natürlich auch sehr wichtig – müssen wir die Emissionen bei uns und weltweit begrenzen mit einem absoluten CO2-Deckel. Das ist die Idee der Freien Demokraten. Jeder, der noch CO2 freisetzen will, muss sich über den Handel Anteile dafür kaufen. Damit würden die Ziele garantiert erreicht werden. ({7}) International ist China der größte Emittent von CO2, und China wird das noch steigern, weil China sich selbst weiterhin als Entwicklungsland einstuft und damit auch die Privilegien des Pariser Klimaabkommens genießt, noch mehr CO2 ausstoßen zu können. Jede zweite Woche geht in China ein neues Kohlekraftwerk ans Netz. Das muss sich ändern; das ist wesentlich. Wir brauchen eine neue Einstufung Chinas, eben nicht mehr als Entwicklungsland. Das wäre ein wesentlicher Schritt. ({8}) Zusammengefasst: Wir haben die Technik, günstige regenerative Energie zu erschließen; denn das ist der eigentliche Kern der Lösung des Klimaproblems und damit auch der Klimamigration. Das wäre wesentlich, und das sollten Sie in Ihrem Antrag einfach besser verarbeiten. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat nun Evrim Sommer das Wort. ({0})

Helin Evrim Sommer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004897, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Mehr als 70 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht, so viele wie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr. Aktuell geht es auf der UN-Klimakonferenz in Madrid um die Umsetzung der Pariser Klimaschutzziele. Dort weiß man, dass jedes Jahr mehr als 24 Millionen Menschen vor klimabedingten Katastrophen fliehen müssen. Wenn zum Beispiel in Afrika und in Asien Wasserquellen versiegen, kein Regen mehr fällt und Ernten immer mehr ausbleiben, haben die Menschen doch keine andere Wahl, als zu flüchten. ({0}) Und was macht die Bundesregierung? Sie schnürt ein Klimaminipaketchen, um von ihrem Totalversagen bei den nationalen Klimaschutzzielen abzulenken; denn Deutschland ist immer noch Braunkohleweltmeister. Das ist ein trauriger Rekord. ({1}) Frau Präsidentin, verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir müssen handeln. ({2}) Historisch gesehen ist der Kuchen in zwei Hälften geteilt: auf der einen Seite die Länder des Südens, oft bitterarm, vom Klimawandel am stärksten betroffen, auf der anderen Seite die Länder des Nordens, Verursacher des Klimawandels, mit Deutschland als besonders großem Kuchenstückchen. Denn nach den USA, China und Russland hat kein anderes Land die Atmosphäre so verpestet wie Deutschland. Deshalb unterstützen wir die Forderung des grünen Antrags, die deutschen Ausgaben zum Stopp des Klimawandels deutlich aufzustocken. ({3}) Aber nicht nur das. Wer den Klimawandel verursacht, muss auch dafür geradestehen. ({4}) Deswegen sind wir für die Einrichtung eines globalen Verursacherfonds, über den dann die Lasten gerecht verteilt werden. ({5}) Für uns Linke gehören die ökologische und soziale Frage immer zusammen. ({6}) Wirksamer Klimaschutz ist auch immer eine Frage der sozialen Gerechtigkeit, meine Damen und Herren. ({7}) Natürlich muss jeder von uns sein Konsumverhalten ändern. Aber die Großkonzerne müssen mehr zur Finanzierung des Klimaschutzes beitragen als die Krankenschwester, der Bauarbeiter oder der Paketzusteller. Und noch etwas: Wenn Inselstaaten wie die Malediven buchstäblich im Meer versinken und die Menschen deshalb flüchten müssen, ist das sehr wohl ein Fluchtgrund. ({8}) Wir fordern deswegen, den Klimawandel als Fluchtgrund anzuerkennen. Vielen Dank. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Klaus-Peter Schulze für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Klaus Peter Schulze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004406, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gestatten Sie mir, dass ich ganz besonders eine Klasse des Pückler-Gymnasiums in Cottbus hier begrüße. ({0}) Ich freue mich, dass ihr euch hier mal mit aktiver Politik beschäftigt und nicht am Freitagmittag, wie der eine oder andere, auf der Straße rumlauft. ({1}) Ich möchte mich ein wenig mit dem Antrag der Linkspartei auseinandersetzen. ({2}) – Danke für den Hinweis. ({3}) Die Linke verlangt in ihrem Antrag ein Restbudget für CO2, das in Deutschland festgelegt werden soll. Wenn man die Diskussion in Madrid, wo ja auch einige Kollegen von uns, also unsere Klimaspezialisten, unterwegs sind, oder gestern Abend die der Regierungschefs der Europäischen Union verfolgt, dann weiß man, wie schwierig es ist, international die einzelnen Länder, die einzelnen Staaten zusammenzubringen. Und wenn man dann ein Klima- oder CO2-Restbudget verlangt, dann muss ich sagen: Ich glaube, das werden wir in den nächsten Jahren nicht hinbekommen. ({4}) Deshalb sollte man sich lieber auf Dinge konzentrieren, die man realistischerweise schneller umsetzen kann. Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass wir als elftes Land auf dieser Erde ein Klimaschutzgesetz verabschiedet haben. ({5}) Von über 200 Ländern sind wir also sozusagen mit an der Spitze, auch wenn jetzt gesagt worden ist, das sei ein Klimaminipäckchen. Immerhin haben wir angefangen. Dass man da noch einiges tun muss, ist doch ganz klar. Wir haben uns in der letzten Woche – Volkmar Klein ist schon darauf eingegangen – bei einer Reise durch Indien davon überzeugen können, wie deutsche Entwicklungshilfe mithilft, die Klimaprobleme, die Umweltprobleme auf dem indischen Subkontinent in den Griff zu bekommen. Ich glaube, es ist der richtige Weg, dass die Industriestaaten den Ländern des Südens die notwendige Unterstützung durch ihr Know-how geben. Wir müssen vor Ort helfen. Das ist meiner Meinung nach der richtige Weg. ({6}) Zu den Überlegungen bezüglich des Restbudgets, liebe Freunde von den Linken: ({7}) Ich hätte mir gewünscht, dass Sie in Ihrem Antrag einige ganz konkrete Maßnahmen benennen, die wir hier – ich stehe dazu und bedaure es, dass sie im Klimapaket nicht enthalten sind – in Deutschland auf den Weg bringen können. Fangen wir einmal mit dem Thema „Beschleunigung beim Ausbau der Schienenverkehrswege“ an. Bei mir im Wahlkreis soll jetzt das zweite Gleis von Cottbus nach Lübbenau gebaut werden. Planungsbeginn 2015, Ende der Maßnahme 2027, also zwölf Jahre für 29 Kilometer. In diesem Zusammenhang möchte ich erinnern, dass die Strecke der Transsibirischen Eisenbahn circa 9 300 Kilometer lang ist und innerhalb von 25 Jahren fertig war. ({8}) Also: Planungsbeschleunigung für alle Projekte und nicht nur für das, was jetzt im Bundeskabinett vorgesehen ist. Sie sagen: Das geht nicht. – Aber wir sind der Gesetzgeber und müssen uns Wege überlegen, wie wir solche Vorhaben umsetzen. ({9}) Zweiter Punkt. Ich bin sehr froh, dass das Thema Wasserstoff, nachdem im Wirtschaftsministerium in der letzten Legislaturperiode über dieses Thema nicht so gern gesprochen wurde, jetzt einen zunehmend größeren Stellenwert in der Diskussion in Deutschland bekommt. Ich finde es auch gut, dass die Nordländer Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern die Möglichkeiten nutzen wollen, künftig eine Wasserstoffindustrie aufzubauen. Aber ich will an dieser Stelle einiges einfordern. Denken Sie nicht nur daran, Elektrolyseanlagen aufzubauen, sondern überlegen Sie auch, wie Sie den produzierten Wasserstoff von A nach B bringen. Das vorhandene Erdgasnetz eignet sich für den Transport reinen Wasserstoffs natürlich nicht, weil dort Erdgas transportiert wird. Man sollte von Anfang an überlegen, wie man den Leitungsausbau schafft. Hierfür gibt es ein nicht so gutes Beispiel: Zwischen den Industrieparks Dormagen und Krefeld liegt seit zwölf Jahren eine Gasleitung. Dort soll Kohlenmonoxid transportiert werden. Dagegen wird so geklagt, dass das nicht funktioniert. An diesem Beispiel wird deutlich, wo wir einiges verändern müssen, damit wir in Sachen Klimaschutz vorankommen. Wir sollten die Denkverbote ablegen. Wir sollten über alles nachdenken. Wir brauchen auch keine ideologischen Scheuklappen, wenn wir uns in Deutschland den Herausforderungen des Klimaschutzes stellen wollen. Herzlichen Dank. – Ich wünsche allen einen schönen dritten Advent. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Rainer Kraft für die AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Rainer Kraft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004792, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsident! Werte Abgeordnete! Verehrte Gäste!

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Dr. Kraft, ich muss Sie unterbrechen. Ich habe auch die Uhr angehalten. Es ist sicherlich ein Versehen, aber wir haben gestern im Ältestenrat noch einmal darauf aufmerksam gemacht, dass es der Respekt vor dem Präsidium, nicht vor der amtierenden Präsidentin ({0}) oder dem amtierenden Präsidenten, gebietet, dass es die korrekte Anrede gibt. ({1}) Ich bin gehalten, Sie bei Wiederholung oder Nichtheilung zur Ordnung zu rufen. ({2})

Dr. Rainer Kraft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004792, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Abgeordnete! Geschätzte Gäste! ({0}) Kollege Frohnmaier hat ja schon den Antrag der Grünen abgefieselt. Deshalb komme ich direkt zum Antrag der Fraktion Die Linke. In einem Punkt wäre dieser Antrag sogar sehr sinnvoll. Das Feststellen eines faktischen Budgets an CO2, das zu den gestellten Zielen der sogenannten Temperaturbegrenzungsbemühungen passt, wäre durchaus im Sinne der AfD; denn dann könnten wir endlich einmal über harte Fakten reden, statt immer nur über Ihre Fake News. ({1}) Also: Wie viel CO2 darf es denn noch sein für das selbstgesteckte Ziel der Maximal-1,5 Grad-Celsius-Erwärmung? Sie nennen in Ihrem Antrag die 420 Milliarden Tonnen des Special Report 1.5 aus dem Jahr 2018. Gleichzeitig fordern Sie aber, die Zusagen von Paris aus dem Jahr 2015 einzuhalten. Dort jedoch waren für das gleiche Ziel nur 120 Milliarden Tonnen als Restbudget der Menschheit ausgewiesen. Dieses Budget haben wir in den letzten vier Jahren bereits aufgebraucht. Wir müssten alle tot sein, sind wir aber nicht. ({2}) Damit das nicht auffällt, hat das zwischenstaatliche Gremium zum Klimawandel einfach ein neues Budget erfunden. Seit 2018 sollen uns noch circa zehn Jahre bleiben, um das Ziel zu erreichen, für das uns nach Aussage von 2015 schon damals nur drei Jahre gegeben wurden. Man sieht also: Die Vorhersage war hysterisch, falsch und gelogen. ({3}) Neu ist das nicht. Im „Spiegel“ wurde der aktuelle Forschungsstand einmal so zusammengefasst – Zitat –: Wenn die Emission der „wärmeisolierenden Spurengase“ nicht „ab sofort“ drastisch verringert werde, so die Physiker, komme es „vermutlich schon in ein bis zwei Jahrzehnten“ zu gravierenden Klimaveränderungen mit gefährlichen Folgen für die Erdbevölkerung. ({4}) Der Artikel stammt aus dem Jahre 1986. Nach 1986 wurden die CO2-Emissionen keineswegs drastisch reduziert, sondern wir haben sie – Sie wissen das – verdoppelt. Die ein bis zwei Jahrzehnte bis zur Apokalypse sind auch längst verstrichen, aber sie hat, wie es bei Endzeitkulten so üblich ist, nicht stattgefunden. ({5}) Zurück zum Antrag der Linken. Eine Sache wird aus Ihrem Antrag nicht ersichtlich: Was machen Sie mit dem prognostizierten Rechenfehler? Laut dem Special Report von 2018 kann die Realität um bis zu 900 Milliarden Tonnen bei einem Budget von nur 420 Milliarden Tonnen abweichen. Das heißt, für jede Ihrer Tonnen besteht eine Unsicherheit von 2 Tonnen, nach oben oder nach unten. Das sind plus/minus 200 Prozent. ({6}) Nach über drei Dekaden des Forschens offenbart diese Abweichung nur eines: die komplette Ahnungslosigkeit der sogenannten Experten. ({7}) Dass Sie dann daraus ein Budget zimmern wollen, mit dem Sie den wirtschaftlichen Ruin des gesamten Landes in Kauf nehmen, ist ökopopulistischer Klimavoodoo, mehr nicht. ({8}) Aber es wird weitergehen. Wann immer sich das Budget dem Ende nähert, wird es gestreckt; denn erreicht werden darf es ja nie. Die Menschen würden ja sonst bemerken, dass Sie sie mit Ihrer Politik hinter die Fichte geführt, nämlich belogen haben. ({9}) Und warum? Weil die sozialistische Täterpartei und ihr grünes Abziehbild endlich zurück zu ihren kommunistischen Wurzeln wollen. ({10}) Sie brauchen die Klimahysterie als Hebel, um den Menschen im Land bis aufs Kleinste diktieren zu können, was sie zu kaufen, wie sie sich fortzubewegen haben, was sie essen und am liebsten noch, was sie zu atmen haben. ({11}) Ihre neue DDR soll zwar nicht mehr sowjetkommunistisch sein, aber sie wird ökosowjetisch sein. ({12}) Sie wollen wieder Ihre Kernkompetenzen ausleben: ({13}) Freiheit rauben, Mangel erzeugen und dann diesen Mangel mit großer Leidenschaft und Unterdrückung bis ins kleinste Detail verwalten. ({14}) Flankiert wird diese Intention auch auf EU-Ebene. Bejubelt wird dort die Ankündigung von Massenarmut und Mangelwirtschaft. ({15}) Wie sonst könnte es sich erklären lassen, dass Forderungen nach Verteuerungen in allen Lebensbereichen, jedweden Konsums und aller gehandelter Waren ganz größenwahnsinnig als Mondmoment deklariert werden? ({16}) Vielleicht ist es nötig, festzuhalten, dass bislang ausschließlich die USA einen Mondmoment gehabt haben. Offensichtlich sind uns die USA nicht nur dabei voraus, ({17}) sondern auch im Umgang mit ungenauen Klimavorhersagen und vagen Heilsversprechen. Gerade weil sich Rest-CO2 nicht vorhersagen lässt, weil die sogenannten Experten dies nicht können, ist es nötig, den Trump zu machen. ({18}) Beenden wir die Farce von Paris, ({19}) die Sie mit Ihren falschen CO2-Budgetmengen selbst ins Abseits gestellt hat. Beginnen wir mit Anpassungsmaßnahmen, anstatt die falsche Hoffnung zu nähren, ({20}) die Menschheit könne gezielt das Klima beeinflussen. Das können wir nicht. Das ist Science Fiction.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Dr. Kraft, achten Sie bitte auf die Zeit.

Dr. Rainer Kraft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004792, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Carsten Träger für die SPD-Fraktion. ({0})

Carsten Träger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004426, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Am Abschlusstag der Klimakonferenz von Madrid und in der Woche, in der sich das Europäische Parlament und die Kommission über einen European Green Deal unterhalten, habe ich mir fest vorgenommen, nicht auf die Klimaleugnerreden der AfD einzugehen. ({0}) Aber Sie lassen mir keine Wahl. Die Ergebnisse der Konferenz von Madrid und die Entwicklung in Europa machen deutlich, dass Sie – nach unbestätigten Schätzungen meinerseits – für genau 0,0006 Prozent der Bevölkerung sprechen. Ihren Quatschthesen folgt keiner mehr. Nicht einmal Ihre eigene Fraktion hat geklatscht. ({1}) Für die SPD will ich erklären: Wir stellen uns der Tatsache, dass es einen menschengemachten Klimawandel gibt. Wir wollen ihn bekämpfen, und wir wollen die Folgen eindämmen. Natürlich gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Klimawandel, seinen Folgen und der Migration, die uns bevorsteht. Deswegen ist es wichtig, dass wir auf beiden Politikfeldern aktiv sind. Wir müssen auf der einen Seite klären: Wie gehen wir mit dem Thema Migration um? Lassen Sie uns auf der anderen Seite gemeinsam den Klimawandel, soweit es geht, eindämmen und zurückdrängen. Ich will für Deutschland feststellen, dass wir kraftvoll voranschreiten. ({2}) – Ja. – Ich glaube, niemand hat die Erwartung, dass wir es in einer Nacht im Kanzleramt im Jahr 2019 schaffen, die Weichen zu stellen für ein Land, das 2050 treibhausneutral sein wird. ({3}) Ich stelle fest, dass die Weichen, die wir gestellt haben, dass die Gesetze, die wir gemacht haben, ein guter Anfang sind. ({4}) Wir machen einen großen Schritt in die richtige Richtung. Übrigens ist von dem Klimapaket noch nicht einmal der größte Teil beschlossen. ({5}) Wir haben etwas zum CO2-Preis gemacht, und wir haben etwas beim Klimaschutzgesetz gemacht. Mit dem Gesetz wird im Übrigen kein Gramm CO2 einspart, es müsste daher in Ihrem Sinne sein. ({6}) Ich glaube, die Stärke des Gesetzes ist, dass es seine Wirkung Jahr für Jahr entfalten wird. Gerade die Opposition hier im Parlament müsste sehr dankbar sein für dieses scharfe Schwert; denn das Parlament übernimmt jetzt die Kontrolle über die Einhaltung der Ziele, die wir uns gesetzt haben, und das nicht erst 2030 und nicht erst 2050. ({7}) Vielmehr wird Jahr für Jahr jeder Minister und jede Ministerin für sein bzw. für ihr Ressort einen Bericht vorlegen und Rede und Antwort stehen müssen, ob die Ziele erreicht wurden und, wenn nicht, was er oder sie zu tun gedenkt, um diese Ziele zu erreichen. Das alles soll in einer Klimadebattenwoche hier im Parlament stattfinden. Das wird Wirkung entfalten. Die Öffentlichkeit wird uns auf die Finger schauen, und wir werden der Regierung auf die Finger schauen. Das ist die Stärke des Gesetzes. Es wird große Wirkung entfalten. ({8}) Zum Paket gehört auch das Kohleausstiegsgesetz. Hier haben wir noch einiges zu tun, aber ich rate, nicht immer nur auf das Enddatum des Kohleausstiegs zu schauen. Schauen wir auch einmal auf den Anfang. ({9}) Wir werden in den nächsten Jahren 30 Prozent der Kohlekraftwerkskapazitäten stilllegen. Das ist ein kraftvoller Schritt, das ist ein guter Anfang in Richtung Kohleausstieg. ({10}) Der Ausbau der Erneuerbaren Energien ist sozusagen die Kehrseite der Medaille. Wir können Kohlestrom und Atomstrom nur ausschalten und perspektivisch von Erdöl und ‑gas wegkommen, wenn wir gleichzeitig andere Energiequellen gewinnen, und das sind die Erneuerbaren. ({11}) Hier gibt es noch einiges zu tun. Liebe Kolleginnen und Kollegen, gerade hakt es beim Ausbau der Windenergie an Land. Wir müssen zusehen, dass wir die Branche stärken und nicht ausbremsen. ({12}) Wir warten auf den Gesetzentwurf aus dem Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, der die vereinbarten Eckpunkte seriös und konstruktiv pro Ausbau der Windenergie an Land umsetzt. ({13}) Wir warten auch auf die Abschaffung des Deckels für Solarenergie. Dazu wurde in den Eckpunkten eine feste Vereinbarung getroffen. Ein einziger Satz wäre notwendig, um den Solardeckel abzuschaffen. Ich bitte den Minister sehr, dass er eine entsprechende Formulierung vorlegt; denn sonst erreichen wir Mitte des Jahres die Gesamtkapazität des Solardeckels. Das wollen wir nicht. Gerade das Wirtschaftsministerium weiß am allerbesten, was es für Investitionsentscheidungen bedeutet, wenn es keine Planungssicherheit gibt. ({14}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Rom wurde nicht an einem Tag gebaut, und das Klima wird nicht in einer Nacht gerettet, aber wir sind dran. Wir sind sehr zuversichtlich, dass wir die Entwicklung in den nächsten Tagen und Wochen und auch in Zukunft weiter vorantreiben können, in welcher Koalition oder mit welcher Regierung auch immer. Vielen Dank. ({15})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Lukas Köhler für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Lukas Köhler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004786, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Kein Mensch auf der Welt will fliehen, niemand will gezwungen werden, seine Heimat zu verlassen, ({0}) niemand hat ein Interesse daran, wegzugehen – natürlich nicht! Es geht immer um Menschen, es geht um Einzelschicksale, und es geht um Diskussion auf Augenhöhe. Globale Gerechtigkeit ist keine Nord-Süd-Frage. Globale Gerechtigkeit ist eine Schicksalsfrage. Es geht um die Frage, wie die Menschen vor Ort mit ihrem Schicksal umgehen. Es geht um die Frage, wie man wirtschaftliche Entwicklung nutzen kann, um die Menschen zu befähigen, ihre Chancen selbst zu ergreifen. Meine Damen und Herren, dafür braucht es eine starke, eine gut funktionierende soziale Marktwirtschaft weltweit. Sie muss dafür sorgen, dass Innovation der Treiber ist. Sie muss dafür sorgen, dass die Menschen vor Ort selber entscheiden können, wie sie ihr Leben gestalten. Dafür, liebe Frau Roth, braucht es das Pariser Abkommen. Ich bin gerade aus Madrid zurückgekommen. Von einer Blockadehaltung der Industrienationen habe ich wenig mitbekommen, ({1}) auch bei Loss and Damage. Gerade bei der Frage, wie wir kompensieren, gibt es Staaten wie Frankreich, Deutschland, Schweden und Norwegen – alles Industrieländer –, die sich dafür einsetzen, dass es einen Verteilungsmechanismus gibt, der funktioniert. Meine Damen und Herren, das ist doch der Punkt: Das Pariser Abkommen befähigt uns, international darüber zu verhandeln, wie wir Finanzierungen sicherstellen und wie wir dafür sorgen, dass die Chancen für die Menschen vor Ort gesichert werden. Das muss doch das Ziel, unsere Position sein. ({2}) Ein blindwütiges Auf-die-Industrienationen-Schimpfen ist genau der falsche Weg. Ich glaube, dass dann nichts passieren wird. Wir müssen die Marktwirtschaft voranbringen. Wir müssen vor allen Dingen die sogenannten Carbon Markets voranbringen. Wir müssen den Artikel 6 des Pariser Abkommens, der heute zu Ende verhandelt werden wird, dazu nutzen, Chancen vor Ort zu schaffen; denn wenn die Menschen dort, wo sie leben, eine Perspektive haben, dann brauchen sie auch nicht zu fliehen, dann brauchen sie nicht wegzugehen, dann brauchen sie nicht umzuziehen. Das muss das Ziel sein. ({3}) Liebe Frau Roth, wir müssen auch darüber reden, wie wir über die Menschen reden, die von den Folgen des Klimawandels explizit betroffen sind. Ich glaube, es handelt sich um einen Übersetzungsfehler, deswegen will ich Ihnen das nicht vorwerfen: Unter Punkt 15 in Ihrem Antrag gibt es eine Formulierung, die in der allgemeinen Diskussion leider oft zu finden ist, die ich aber für hochproblematisch halte. Sie sprechen von den „armen und verwundbaren Bevölkerungsgruppen sowie Staaten“. Das Problem ist: Das versetzt Menschen in eine Abhängigkeit. Das versetzt Menschen eben nicht in ihre selbstbestimmte Mündigkeit. Es setzt Menschen unter Druck. Es versetzt Menschen in eine Position, in der wir ihnen helfen müssen, in der wir als Industrienationen von oben kommen und sagen: So machen wir das jetzt mit euch. Das ist aber der falsche Weg in der Entwicklungszusammenarbeit. Das ist der falsche Weg beim Klimaschutz. Ich hoffe, dass das nur schlecht übersetzt ist, ansonsten würde es mir um Ihr Menschenbild sehr leidtun. ({4}) Ich komme zum Schluss. ({5}) Das Wichtige in der Positionierung zum Klimaschutz ist, dass wir die Marktwirtschaft voranbringen. Das Wichtige ist, dass wir die Firmen dazu bringen, weltweit für mehr Wachstum zu sorgen, für Innovation und für mehr Klimaschutz. Nur so können wir mit der Frage der Flucht umgehen. Dann schaffen wir es aber auch, die Probleme, die wir haben, sinnvoll zu bekämpfen. Vielen herzlichen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Peter Stein für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Peter Stein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004416, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich habe besondere Gäste auf der Tribüne zu begrüßen, nämlich die Vertreterin der Fachhochschule des Mittelstands zu Rostock, die auch meine Ehefrau ist. Herzlich willkommen! Das ist mal was Neues. ({0}) Klimabedingte Migration – fein, habe ich gedacht, dann können wir über alles reden, was wir von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD schon alles Tolles auf den Weg gebracht haben. Dann ging es mir ein bisschen so wie dem Kollegen Klein: Die Enttäuschung setzte ein, als ich den vorliegenden Antrag gelesen habe. Wie so oft, liebe Grüne, konnten Sie sich nicht bremsen. Sie haben ein Sammelsurium von allem Möglichen zusammengestellt. Auf der einen Seite fordern Sie beispielsweise die Entkriminalisierung von Frauenrechtsverteidigerinnen und ‑verteidigern – ich weiß nicht, ob das da hineingehört –, auf der anderen Seite fordern Sie, aktiv die Klimarisikoversicherung voranzutreiben, aber da sind wir bereits dran. Von daher weiß ich gar nicht, was wir da besprechen sollen. Natürlich ist Migration vielschichtig; es geht um mehr als nur um klimabedingte Migration. Natürlich ist dabei auch das Problem der Bevölkerungsentwicklung zu beachten, gerade im ländlichen Raum. Als Folge der Überbevölkerung erleben wir ein Ausweichen in prekäre Wohnlagen – an Flüssen, in nichterschlossenen Regionen, in per se unsicheren Baugebieten. Wir erleben ungeplante, hemmungslose Urbanisierungen. Die Urbanisierung gilt, glaube ich, als die übelste Keimzelle von Perspektivlosigkeit. Deshalb brauchen wir – da sind wir sehr aktiv unterwegs – viel mehr Perspektiven für den ländlichen Raum. Wir brauchen Dezentralisierung. Wir müssen die klein- und mittelständischen Betriebe stärken. Wir müssen Bildungsstrukturen aufbauen; eine gute Bildung ist nämlich eine gute Basis, um die Migration und die Bevölkerungsentwicklung in den Griff zu bekommen. Wir müssen im ländlichen Raum für eine dezentrale Wasserversorgung und für Stromversorgung sorgen. Wir müssen dafür sorgen, dass Marktplätze vorhanden sind, dass Lebensmittelprodukte, dass landwirtschaftliche Produkte auf den Markt und in die Städte gebracht werden können, dass Handel stattfindet. All das unterstützt das BMZ, aber auch das deutsche Wirtschaftsministerium seit vielen Jahren mit umfangreichen Programmen. Dafür können wir, glaube ich, sehr dankbar sein. Sie sprechen richtigerweise an, dass etwa 80 Prozent der Betroffenen – so sagen Sie es - ({1}) durch Minderungs- und Anpassungsmaßnahmen durchaus anders zu helfen ist, sodass sie nicht in die Migration gehen müssen. Auch da machen wir eine ganze Menge. Wir arbeiten umfassend im Bereich der Bewässerungssysteme, im Bereich der Schulungen, aber auch im Bereich der Saatgutanpassungen und ich glaube, wir werden uns auch über das Thema CRISPR/Cas unterhalten müssen, weil dieser technologische Ansatz natürlich eine Hilfe sein kann, Saatgut, Pflanzgut schneller und effektiver an Klimaänderungen anzupassen. Vor einiger Zeit haben wir hier einen Antrag zur Agrarökologie eingebracht. Der zielte genau in diese Richtung. Dabei geht es darum, technologische Hilfe zu geben, Ausbildungs- und Schulungsansätze anzubieten, Perspektiven für eine wirtschaftliche Entwicklung auf dem Land zu liefern. Ich war ein bisschen enttäuscht, dass Sie von den Grünen gemeinsam mit der AfD und mit der Linken diesem Antrag nicht zugestimmt haben. Das hat Ihnen auch in der Szene nicht gut getan. Das weiß Uwe Kekeritz. ({2}) Sie wollen stattdessen – das lese ich in Ihrem Antrag – diese Menschen mit einem Klimapass ausstatten und in sichere Länder bringen. Sie fordern – ich zitiere aus Ihrem Antrag – den Zugang mit „staatsbürgergleichen Rechten“ in „sicheren Ländern“. Nun, ich denke, da Sie Länder wie Tunesien und Marokko weiterhin als nicht sicher bezeichnen, was ich sehr bedaure, weiß man, wohin die Reise gehen soll: am Ende nach Europa. Ich glaube, das überfordert nicht nur die Situation, sondern damit wird man auch den Menschen nicht gerecht, die natürlich in ihrer Heimat besser untergebracht und aufgehoben sind. ({3}) In der Heimat bessere Hilfe zu geben, das ist der bessere Ansatz. Das haben auch Volkmar Klein und viele andere Redner gesagt. Ich hoffe, dass wir da gemeinsam einen Weg finden. ({4}) Ich möchte zum Schluss noch auf einen Punkt zu sprechen kommen, den ich besonders skurril gefunden habe, Punkt 35. Ich zitiere: „in der Außen-, Entwicklungs-, Sicherheits- sowie Klimapolitik stets und prinzipiell eine intersektional-feministische Perspektive einzunehmen“; Gut, ich mache mal einen Vorschlag, liebe Frau Roth. Ich rede mal mecklenburg-vorpommern-intern mit unserer Kanzlerin über feministische Politikansätze, und Sie machen das bayernintern mit Horst Seehofer. ({5}) Und dann kommen wir zusammen und reden mal darüber, was wir an Erkenntnissen gewonnen haben. Ich glaube, gerade in dem Bereich sind wir mit unserer Verteidigungsministerin und unserer Umweltministerin, was feminine Ansätze angeht, nicht ganz so schlecht aufgestellt. ({6}) – Über Feminismus brauchen wir hier jetzt, glaube ich, nicht zu reden. Wir reden über Klimaschutz. Deshalb sagte ich ja: Der Antrag ist ein bisschen aufgeblasen. Ein bisschen weniger wäre besser gewesen. Ich fasse noch einmal kurz zusammen: Während nach denen rechts außen hier jeder Migrant das Böse in sich trägt, ({7}) sind nach Meinung des linken Teils dieses Hauses Migranten stets Opfer der europäischen Außen-, Entwicklungs- und Umweltpolitik, Opfer der SUV- und Dieselfahrer, Opfer der Fleischesser, Opfer der Urlaubsflieger, Opfer der Öl- und Gasheizungsbesitzer und haben daher ein Recht, sich einen besseren Platz überall auf diesem Planeten auszusuchen. So einfach können wir das, glaube ich, nicht lösen. Gut, dass es mit CDU und CSU noch Volksparteien mit Maß und Mitte in dieser Gesellschaft gibt. Ich wünsche eine schöne Adventszeit. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Ralph Lenkert für die Fraktion Die Linke. ({0})

Ralph Lenkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004091, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Eltern haften für ihre Kinder – das ist juristischer Standard. Kinder haften und büßen für ihre Eltern – das ist die Realität bei der Klimakrise. CO2 wird bei der Verbrennung von Kohle und Öl, bei der Produktion von Stahl und Zement, bei Waldbränden und bei der Moortrockenlegung freigesetzt. Das weiß jeder und jede. Ist es gerecht, dass Deutschland mit 1 Prozent der Weltbevölkerung für 2 Prozent des CO2-Ausstoßes verantwortlich ist? Ist es gerecht, dass Ölkonzerne und Energiemultis Milliardenprofite einstreichen und die Bundesregierung und der rechte Teil des Hauses sich einen Dreck um Meeresanstieg, Dürren, Starkregen und Überschwemmungen scheren? Das ist nicht gerecht. ({0}) Ich dachte eben, als ich die demagogische Rechnung des Herrn Kraft gehört habe – das war das Weglassen von Fakten –: ({1}) Korrekt, 120 Milliarden Tonnen CO2-Restbudget für das 1,5-Grad-Ziel wurden vor Jahren festgestellt. Aber was hat man inzwischen festgestellt? Wenn wir es als Menschheit schaffen, zusätzlich CO2 zu binden – durch Aufforstung, durch Wiedervernässung von Mooren und weitere Maßnahmen, durch stoffliche Bindung von CO2 –, dann haben wir noch zusätzlich 300 Milliarden Tonnen zur Verfügung. – Jetzt rechnen wir mal: 120 plus 300 macht wie viel? Na? Ich hoffe, Sie hatten Schulbildung in Rain am Lech. Das sind 420 Milliarden Tonnen, die wir noch zur Verfügung haben. ({2}) Jetzt kommt noch eines hinzu: Natürlich ist es für die AfD das Beste, Klimaschützer als Panikmacher zu bezeichnen, und meistens kommt dann noch die Behauptung, sie seien gekauft. Als Maschinenbautechniker liebe ich Zahlen. Ich habe mal die Spur des Geldes verfolgt. Allein der Umsatz der zehn größten Ölkonzerne betrug im letzten Jahr 2,7 Billionen Dollar. 2,7 Billionen! Unvorstellbar! Würde die Energiewende weltweit umgesetzt werden und eine CO2-neutrale Wirtschaft entstehen, würde dieser Umsatz um mehr als 99 Prozent sinken. ({3}) Frage: Wer hat wohl ein Interesse daran, den Klimawandel zu leugnen und mit entsprechenden Strategien zu hinterlegen, also zu behaupten, dass das alles nicht stimmt? ({4}) Die Windkraftenergie mit ganzen 500 Milliarden Euro Umsatz im Jahr oder die Ölkonzerne, die ihr Geschäft verlieren? ({5}) Sie lassen sich – genau – mit Petrodollars kaufen. ({6}) Das sind Ihre verschlüsselten Finanzierungen, die Sie nicht bekannt geben. ({7}) Mit diesen Petrodollars werden Argumentationslinien gekauft – gegen den Klimawandel oder zur Verharmlosung des Klimawandels. Und das ist schäbig. ({8}) Aber Die Linke lässt sich nicht kaufen. Deswegen fordern wir ein verbindliches CO2-Budget für mehr Gerechtigkeit für unsere Kinder, damit wir jetzt in den Kohleausstieg einsteigen und die Chemie- und Stahlindustrie in Richtung Wasserstoff umgestalten. Jede Verzögerung in diesem Bereich ist schlecht für unsere Kinder. Wir müssen jetzt handeln, damit gilt: „Eltern sorgen für ihre Kinder“ statt „Kinder haften für Eltern“. Vielen Dank. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Klimawandel und seine Bekämpfung – das ist in der Tat die große Herausforderung unserer politischen Generation. Es geht darum, die Erderwärmung zu begrenzen und zu stoppen sowie Wirtschaften und Leben in Einklang mit der Sorge um unseren Planeten zu bringen. Wir haben dafür eine besondere politische und historische Verantwortung: Der Wohlstand, den wir in Deutschland und Europa genießen, fußt in besonderem Maße auf der Ausbeutung von fossilen Brennstoffen. Auch wenn wir heute nur 2 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen emittieren, haben wir bei der Reduktion der Treibhausgase nicht nur weltweit eine Vorbildfunktion, sondern auch eine Verantwortung, die sich aus dem ergibt, was in den letzten Jahren passiert ist. ({0}) Hinzu kommt: Wir haben auch die Mittel, die Wege und die technischen Innovationen, damit weltweit der CO2-Ausstoß gestoppt und umgekehrt werden kann. ({1}) Es geht darum, dass wir mit Techniken, Innovationen und weltweiten Programmen dafür Sorge tragen, dass wir nicht nur weniger CO2 ausstoßen, sondern auch ganz gezielt reduzieren: durch Humus, durch Aufarbeitung, durch Aufforstung, durch Wasserstoff, durch neue Mobilität, aber auch durch die Umgestaltung unserer Weltwirtschaft zu einer CO2-neutralen Weltwirtschaft als politisches Fernziel. Dem fühlen wir uns verpflichtet. Dem fühlt sich die europäische Ebene verpflichtet. Das ist das große Ziel, das konstruktive Politik in Madrid und Paris verabredet hat. ({2}) Wir werden diese Aufgabe nicht schaffen können, wenn wir die Kraft und die Erkenntnisse der Wissenschaft schlichtweg als Fake News abtun. Das mag kurzfristigen Applaus in Ihren Resonanzgruppen bringen. Aber es wird unserer Verantwortung, die wir gemeinsam zu tragen haben, nicht gerecht. ({3}) Wenn ich einen Begriff wie „ökosowjetisch“ höre, dann muss ich sagen, dass das auch eine Verhöhnung der Opfer der sowjetischen Diktatur ist, meine Damen und Herren. ({4}) Ja, über den Antrag lässt sich trefflich streiten. Es gibt Punkte, die wir bereit sind umzusetzen und die gut und richtig sind, gerade bei der Stärkung der Menschenrechte, bei der Intensivierung der Entwicklungszusammenarbeit, bei der Frage: Wie kann humanitäre Hilfe noch stärker dort eingesetzt werden, wo sie notwendig ist? Wir müssen aber auch darüber sprechen, ob manche Instrumente wirklich zielgenau sind, ein Beispiel ist die Frage der Klimaklage, also gegen wen, wie und in welchem Umfang. Auch die Frage, ob der subsidiäre Schutz tatsächlich für all diejenigen angewandt werden kann, die von Klimaveränderungen betroffen sind, ist vor dem Hintergrund der Ausgestaltung des subsidiären Schutzes in einem System des Schutzes vor staatlicher Repression ein Stück weit zu hinterfragen. Das sind Themen, über die wir in der Tat diskutieren müssen. Da ist der Antrag noch zu ungenau und zu unspezifisch. Außerdem fehlt diesem Antrag etwas, was uns genauso wichtig ist, nämlich die Antwort auf die Frage, wie wir der Klimakrise begegnen können. Wie gestalten wir einen sozialen Ausgleich für diejenigen, die vielleicht von höheren Kosten betroffen sind? ({5}) Es geht auch um die Frage, wie wir durch Forschung und Wissenschaft verstärkt dafür Sorge tragen können, dass wir klimafreundliches Wirtschaften noch stärker in den Mittelpunkt stellen. Meine Damen und Herren von den Grünen, das muss ich Ihnen jetzt auch sagen: Die Europäische Kommission hat ein sehr ehrgeiziges Programm aufgelegt. Mit dem europäischen Green New Deal soll unser Kontinent bis 2050 CO2-neutral sein. Sie haben dem ehrgeizigen Programm dieser Kommission nicht zugestimmt: nicht im Europäischen Parlament und auch nicht bei der Abstimmung über die Kommission. Deswegen muss ich sagen: Sie müssen sich auch im Europäischen Parlament fragen lassen, warum Sie auf der einen Seite ökologisches Handeln einfordern und auf der anderen Seite genau der Kommission, die das tut, Ihr Vertrauen nicht geben. Da passen Handeln und Anspruch nicht zusammen, meine Damen und Herren. ({6}) Lassen Sie uns nun uns auf den Weg machen, die großen Herausforderungen zu gestalten. Wir in Deutschland gehen mit dem Klimapaket voran. Lassen Sie uns den europäischen Green New Deal von Ursula von der Leyen und der Kommission aktiv im Bewusstsein begleiten, dass wir eine gemeinsame Verantwortung haben und dass die teuerste Alternative wäre, nichts zu tun. Damit würden wir unserer Verantwortung nicht gerecht werden. Herzlichen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Elisabeth Motschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004357, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich beginne heute mit einem Zitat aus dem Jahre 1982 von Erich Mielke, dem Chef der Staatssicherheit. Da heißt es: Wir sind nicht davor gefeit, dass wir einmal einen Schuft unter uns haben. Wenn ich das schon jetzt wüßte, würde er ab morgen nicht mehr leben. Kurzer Prozeß! Weil ich ein Humanist bin. Deshalb habe ich solche Auffassung. … Das ganze Geschwafel von wegen nicht Hinrichtung und nicht Todesurteil – alles Käse, Genossen. Hinrichten, wenn notwendig auch ohne Gerichtsurteil. Ein solches Zitat allein belegt, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass die DDR ein Unrechtsstaat war. ({0}) Wer das nicht glaubt, dem empfehle ich einen Besuch in einem der Stasigefängnisse, etwa Hohenschönhausen hier in Berlin oder auch die Keibelstraße. Marx, Engels, Lenin, Stalin: Sie alle waren die geistigen Väter der Staatssicherheit der DDR. ({1}) Die DDR bezeichnete sich selbst als real existierenden Sozialismus. ({2}) Dieser Sozialismus basierte auf der Ideologie des Kommunismus. Er hat weltweit vor allem eines hervorgebracht: millionenfaches Leid. ({3}) Die Liste der Verbrechen ist lang, viel zu lang und beschränkt sich nicht nur auf die DDR, sondern auch auf viele Gesellschaftssysteme in Europa, Asien und auch auf Kuba. Die Geschichte hat leidvoll bewiesen: Der Kommunismus ({4}) ist keine heilsbringende Ideologie. Er hat den Menschen nie Freiheit oder Wohlstand gebracht, sondern immer nur Gewalt, Tod, Unterdrückung, Verfolgung, Enteignung und allzu oft auch Armut. ({5}) In vielen ehemals sozialistischen Staaten wird bereits der Opfer der Verbrechen nach 1945 öffentlich und würdig gedacht, so zum Beispiel in Bulgarien, Tschechien, Rumänien oder Albanien. Warum also gibt es bei uns noch keinen Gedenkort für die Opfer der sozialistischen DDR? Liegt es daran, dass noch immer Menschen vom Sozialismus träumen? Es darf doch nicht wahr sein, dass wir allein in Deutschland zwölf Karl-Marx-Denkmäler haben, aber keinen Ort, an dem an die Opfer dieser Ideologie gedacht wird? ({6}) Über 150 000 Menschen wurden in den sowjetischen Speziallagern der sowjetischen Besatzungszone interniert. Fast 3 000 Todesurteile verhängte das sowjetische Militärtribunal bis 1955 gegen Zivilisten in der DDR. Über 250 000 Menschen saßen unschuldig in DDR-Gefängnissen, darunter übrigens 35 000 Frauen. Wie viele waren Opfer von Zwangsumsiedlung, Zwangsadoption, Zwangskollektivierung, Zwangsarbeit, Bespitzelung und Berufsverboten? Mit dem Mahnmal wollen wir an die Menschen erinnern, die in diesem Unrechtsstaat für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte eingetreten sind. Dafür wurden sie verfolgt und psychisch gefoltert. Das kann man gar nicht oft genug betonen. Vor allem sollte man nicht behaupten, dass es den echten Sozialismus noch nie gab. Das Lied vom falsch verstandenen Sozialismus wurde nur allzu oft gesungen. Deshalb verstehe ich zum Beispiel Die Linke nicht, die der extremistischen Kommunistischen Plattform nach wie vor eine Heimat bietet. Kaum zu glauben, dass im Jahr 2019 das Grundanliegen ihrer Arbeitsgemeinschaft „Cuba sí“ ({7}) – hören Sie mal ganz ruhig zu – die politische und materielle Solidarität mit dem sozialistischen Kuba ist. ({8}) Das ist Ihr Bekenntnis, und das ist ziemlich traurig. ({9}) – Sehr gerne, ich diskutiere gerne. Sie können ja mal gucken, wie es den Menschen in diesem Land geht. Im sozialistischen Kuba gibt es ebenso wie in China und Nordkorea keine Menschenrechte. Das ist die Wahrheit, und das müssen Sie endlich mal lernen. ({10}) Es gibt Internierungslager für Andersdenkende. Es gibt eine marode Wirtschaft und eine marode Infrastruktur usw. Was in diesen Ländern heute noch Praxis ist, ist bei uns vor 30 Jahren zu Ende gegangen. Das war der glücklichste Moment der deutschen Geschichte, meine Damen und Herren. ({11}) Dieser Traum von Freiheit wurde mutig erkämpft und hat viele, viele Opfer gefordert. Diese Opfer verdienen es, dass wir uns an sie erinnern. Deshalb begeben wir uns heute auf den Weg zur Umsetzung dieses Beschlusses, die übrigens schon sehr lange ansteht. Denn diesen Opfern, diesen Menschen verdanken wir Frieden, Freiheit und Demokratie im wiedervereinigten Deutschland. Vielen Dank. ({12})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Elisabeth Motschmann. – Einen schönen guten Tag Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, von dieser Stelle aus. Nächster Redner in der Debatte ist Dr. Götz Frömming für die Fraktion der AfD. ({0})

Dr. Götz Frömming (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004722, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Motschmann, wir haben häufig im Ausschuss über andere Dinge gestritten, aber Ihre Rede heute – ich hoffe, Sie haben es registriert – hat mehrfach auch den Beifall meiner Fraktion gefunden. Vielen Dank dafür. Sehr geehrte Damen und Herren, wenn man die Prenzlauer Allee stadtauswärts hinausläuft, dann kommt man an der Hausnummer 35 an einer kleinen Gedenktafel vorbei. Ich stand oft davor und habe mich über diese Tafel gewundert. Sie berichtet vom Schicksal eines Mannes, der im Ersten Weltkrieg Deutschland gedient hat und der sich sehr für das jüdische Leben in Berlin eingesetzt hat: Erich Nehlhans. Er heiratete später eine Jüdin; seine Frau wurde während der Nazizeit verhaftet und deportiert. Er selbst überlebte in einem Versteck. Allerdings wurde er schließlich doch noch verhaftet. Er kam in einen Polizeikeller. Heute befindet sich in dem Gebäude das Bezirksamt in Prenzlauer Berg. Er wurde nach Sachsenhausen gebracht und nach Osteuropa deportiert, wo er schließlich starb. Das Verwunderliche an diesem Schicksal ist das Datum: Es geschah im Jahre 1948; der Zweite Weltkrieg war schon vorüber, und die Täter waren in diesem Fall nicht die Schergen des NS-Staates, sondern der NKWD, der sowjetische Geheimdienst. Meine Damen und Herren, dieses Schicksal erinnert uns daran, dass es nicht nur Erich Nehlhans gab, sondern es auch später, zur Zeit der Nachfolger des NKWD, nämlich zur Zeit der Stasi, zahlreiche unschuldige Opfer gab. Ich will beispielhaft an drei erinnern. Da ist zum einen der Schriftsteller Jürgen Fuchs, der aus der DDR hinausgedrängt wurde und den man dann selbst im Westen nicht in Ruhe ließ. Vor seinem Haus explodierte 1982 eine Bombe; der Anschlag wurde von der Stasi in Auftrag gegeben. Da ist die Sportlerin Ines Geipel, die sich in einen mexikanischen Sportler verliebt hatte und das Land verlassen wollte. Anlässlich einer Blinddarmoperation wurde ihr auf Geheiß der Staatssicherheit die Bauchmuskulatur durchtrennt. Und da ist der Maurergeselle Peter Fechter, der, gerade einmal 18 Jahre alt, beim Versuch, die DDR zu verlassen, den Tod im Grenzstreifen fand, getroffen von den Kugeln der DDR-Grenzer. Jürgen Fuchs, Ines Geipel, Peter Fechter, all diese Namen stehen stellvertretend für die Opfer der SED-Diktatur. Sie stehen stellvertretend für alle, die die Stasi wegen ihrer politischen Überzeugungen oder ihres einfachen Wunsches nach Freiheit überwacht, bespitzelt, gesellschaftlich geächtet, isoliert und mit unmenschlichen Methoden zersetzt hat. Meine Damen und Herren, in der Zeit von 1949 bis 1989, so besagen Schätzungen, fügte das SED-Regime zwischen 3,5 und 5,8 Millionen Menschen aus politischen Gründen schweres Unrecht und Leid zu. Dass es 30 Jahre nach dem Mauerfall und dem Zusammenbruch des SED-Regimes noch immer keinen zentralen Gedenkort für diese Opfer des Kommunismus gibt, ist eine Schande, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({0}) Schon seit Jahren fordern Opferverbände und DDR-Bürgerrechtler, ein solches Mahnmal zu schaffen. Auch der Bundestag hat sich bereits mehrfach damit beschäftigt und beschlossen, dass endlich der Bau eines solchen Denkmals in Angriff genommen werden sollte. Anfang November 2019 hat die AfD-Fraktion einen entsprechenden Antrag vorgelegt. Wir freuen uns, dass die Große Koalition nun mit etwas mehr als einem Monat Verspätung uns inhaltlich weitgehend gefolgt ist. ({1}) Allerdings, meine Damen und Herren, sind wir auch ein Stück weit enttäuscht, denn Ihr Antrag fordert vor allen Dingen zunächst einmal, eine Machbarkeitsstudie für 250 000 Euro in Auftrag zu geben, ({2}) um dann zu sehen, wann und wie und ob man so ein Denkmal errichten soll. Ich muss an dieser Stelle schon fragen: Erwartet uns hier eine ähnliche Hängepartie wie bei dem Einheitsdenkmal, das im Jahre 2007 beschlossen wurde? Ich rufe Ihnen zu: Planen Sie nicht, geben Sie keine Machbarkeitsstudie in Auftrag, sondern handeln wir endlich gemeinsam, und sehen wir zu, dass schleunigst dieses Denkmal errichtet wird! Es wird Zeit dafür. Vielen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Frömming. – Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Katrin Budde. ({0})

Katrin Budde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004686, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Die letzte Adresse“ ist der Name einer russischen Stiftung, aber auch der Name eines Projektes, das an Opfer der sowjetischen politischen Repressionen erinnert, an die Orte, an denen Menschen gelebt, gearbeitet und geliebt haben, von denen sie aber verschleppt wurden und an die sie nie wieder zurückgekehrt sind, 1918 bis 1991. Ähnlich wie unsere Stolpersteine in Deutschland an die Opfer des Nationalsozialismus erinnern, erinnert „Die letzte Adresse“ mit Tafeln an Häusern an die Menschen, die ihr Leben durch die sowjetisch-kommunistische Diktatur verloren haben. Die Initiative ist von unserer Bundesstiftung „Aufarbeitung“ mit einem Preis geehrt worden. Inzwischen gibt es 800 Tafeln in fünf Ländern, in Russland, Tschechien, in der Ukraine, in der Republik Moldau und in Georgien. Es könnte sie auch in Deutschland geben. Denn der stalinistische Terror, die Diktatur, begann im Osten Deutschlands unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Der Vater meiner Schwiegermutter wurde abgeholt und kam nie wieder zurück. Trotz der Warnungen seiner Eisenbahnerkollegen flüchtete er nicht über die Zonengrenze; denn, so seine letzten Worte an Frau und Kinder: „Ich hab ja nichts getan.“ Der jüdische Mann der Schwester meiner Oma, der das KZ überlebte und zu dem seine Frau auch in nationalsozialistischen Zeiten gehalten hatte, wurde kurz nach seiner Befreiung aus dem Lager aus der Wohnung geholt und von den Russen erschossen. Der Stalinismus, der schon Jahrzehnte in den Staaten der Sowjetunion gewütet hatte, griff unmittelbar auf die sowjetische Besatzungszone über. Aber zur Wahrheit gehört eben auch: Es gab genauso unmittelbar einheimische willfährige Helferinnen und Helfer. In Estland erinnern Bienen an die vielen Opfer der kommunistischen Diktatur, die nicht in ihre Bienenstöcke, in ihre Heimat, zu ihren Familien zurückkehren konnten – ein beeindruckendes Mahnmal für die Opfer in Estland. Das Museum in Tallinn spannt den Bogen über alle kommunistischen Diktaturen auf der Welt. Und auch, wenn man wie ich die Dimensionen kennt, erschreckt man sich, wenn man die Schautafeln zu den Diktaturen auf der ganzen Welt sieht, wenn man die unglaubliche Zahl derer sieht, die einer Ideologie zum Opfer gefallen sind. Das letzte Jahrhundert war das Jahrhundert der Ideologien; jedenfalls war es das Jahrhundert, in dem sie den Weg in Staatsrealitäten fanden. Dass eine Gesellschaftsform wie der Sozialismus damals überhaupt diskutiert worden ist – die Idee des Sozialismus war die Vorstufe des Kommunismus, so habe ich es in der Schule immer gelernt – und auf so fruchtbaren Boden fiel, hatte auch etwas mit der Realität der Zeit damals zu tun. Die Ausbeutung von Menschen, das Elend, die Fernhaltung von Bildung, das Fehlen von Freiheiten und Wahlrechten, das Fehlen von Demokratie, Standes- und Ständedünkel, zum Teil noch Leibeigenschaft und Unterdrückung überall auf der Welt: Das war gelebte und erfahrene Normalität von Millionen von Menschen. Und es ist eine Katastrophe, dass solche Namen wie Lenin, Stalin, Castro, Mao Tse-tung, Ho Chi Minh, Kim Il-sung, Ceauşescu, Ulbricht und Honecker ({0}) damit verbunden sind, dass im letzten Jahrhundert immer aus den realsozialistischen Staaten Diktaturen geworden sind. Was der Kollege neben mir eben sagte, ist richtig: Den Kommunismus gab es nicht. – Das ist eine Utopie. Wir können im Grunde nur froh sein. Mir hat der real existierende Sozialismus in der Form, in der wir ihn erlebt haben, gereicht. ({1}) Die Diktatur und die Demokratie, das sind die beiden großen politischen Entwürfe des 20. Jahrhunderts. Die Menschen haben sie sich zum Teil erstritten. Sie haben gesehen, wie sie pervertierten, sie haben gegen sie gekämpft, sie haben sie untergehen gesehen, sie haben sie ertragen und gestürzt. Und es gab auch Zeiten, in denen diese Ideen noch ganz anders missbraucht wurden, wie zum Beispiel in den Zeiten des Nationalsozialismus, der nun gar nichts mit den theoretischen Ideen zu tun hatte. Leider sind damals viele auf Begriffe wie „Sozialistische Arbeiterpartei“ reingefallen. Arbeiten wir gemeinsam daran, dass heute nicht wieder Menschen auf Begriffe reinfallen, die anders gemeint sind, aber genauso verwendet werden, und einer anderen Ideologie folgen. ({2}) In vielen Ländern, in denen es kommunistische Diktaturen und einen sogenannten real existierenden Sozialismus als Arbeiter- und Bauerndiktatur gab, haben sich am Ende des letzten Jahrhunderts die Demokratien durchgesetzt. Gut so! Aber die unterschiedlich langen Zeiten der Diktaturen haben unzählige unschuldige Opfer gefordert, und es ist an der Zeit – nein, so viel Ehrlichkeit gehört dazu; es hat wirklich viel zu lange gedauert: es ist höchste Zeit –, dass wir diese Opfer auch in Deutschland mit einem Mahnmal würdigen. ({3}) Wir haben in Deutschland eine gute Aufarbeitungslandschaft: Wir haben Erinnerungs- und Gedenkstätten, wir haben die Unterlagen der Staatssicherheit gesichert, wir haben sie zugänglich gemacht, wir arbeiten sie auf, wir haben die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, die hervorragende Arbeit leistet, wir haben politische Bildung, wir haben die Landesbeauftragten, wir unterstützten Vereine und Verbände, die sich mit dem Thema „Aufarbeitung der SED-Diktatur“ beschäftigen und leidenschaftliche Arbeit leisten, wir haben gute Gesetze zur Rehabilitierung. All das ist viel, viel besser als die Aufarbeitung nach der Zeit des Nationalsozialismus. Warum dieses Mahnmal bisher gescheitert ist, kann ich persönlich hier nur aus den alten Beschlüssen und Aktenlagen erlesen. Sie wissen: Im Bundestag bin ich die Neue. Was Sie aber vielleicht auch schon gemerkt haben, ist, dass ich dieses Thema und die korrespondierenden Themen mit Leidenschaft vertrete und dass ich unbedingt will, dass das zu einem Erfolg geführt wird. Dank der guten Mitstreiterinnen und Mitstreiter werden wir nun auch dieses Thema einem richtig guten, notwendigen und längst überfälligen Ende zuführen. Zur Illusion, dass es ohne Machbarkeitsstudie geht: Zu einer Entscheidung über den Standort und einer Antwort auf die Fragen, wie das Denkmal aussehen wird und wer alles mitreden will, kommt es in den Ländern wie im Bund niemals ohne Auseinandersetzung. Deshalb: Lassen Sie uns die Machbarkeitsstudie beauftragen, und wenn man sich am Ende mit allen Beteiligten geeinigt hat, dann macht es auch Sinn, das Mahnmal zu bauen. Ich glaube, die Auseinandersetzung ohne eine Machbarkeitsstudie wäre zu groß. ({4}) Für mich ist wichtig, dass dieses Mahnmal für die Opfer ist, die in den Gefängnissen gesessen haben, die gestorben sind, die offenes Leid erlebt haben, aber eben auch für die, die im ganz normalen Alltag Opfer wurden: für die Schülerinnen und Schüler, die kein Abitur machen durften, für die Opfer von Zersetzungsmaßnahmen, mit denen subtil Familien zerstört worden sind, für Menschen, deren Kinder gegen deren Willen zur Adoption freigegeben worden sind, für die Zwangsausgesiedelten, für Menschen, die nicht studieren durften, für Künstlerinnen und Künstler, also für all die normalen Alltagsrepressionen ausgesetzten Menschen in einer Diktatur. Deshalb: Lassen Sie uns gemeinsam dafür streiten, dass es in dieser Legislatur nicht nur eine Machbarkeitsstudie, sondern auch den Beginn des Baus des Denkmals gibt! Da können wir uns alle versammeln. Ich glaube, das ist ein guter zusätzlicher Punkt im Rahmen der Aufarbeitung. Vielen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Katrin Budde. – Nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion Linda Teuteberg. ({0})

Linda Teuteberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004913, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zuallererst möchte ich klar und deutlich sagen, dass in unserem Land ein Mahnmal für die Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft notwendig und überfällig ist, ({0}) und deshalb werden wir auch dem Antrag der Koalitionsfraktionen zustimmen. ({1}) Wir werden das auch deshalb tun, weil es in den letzten Wochen wieder trauriges Anschauungsmaterial dafür gab, wie wichtig die Erinnerung und das Eintreten gegen die Verharmlosung kommunistischer Gewaltherrschaft sind. Es geht nämlich nicht so sehr um eine Frage wissenschaftlicher Kontroversen, ob man den Begriff „Unrechtsstaat“ für die DDR für richtig hält oder nicht, sondern eher um die Frage nach dem politischen Kalkül, das zwei ostdeutsche Ministerpräsidenten dazu bringt, gerade zum 7. Oktober mit dem Ablehnen dieses Begriffes über die Nachrichtenagenturen laufen zu wollen. Dahinter steckt ein politisches Kalkül, und dem müssen wir ganz deutlich entgegentreten. ({2}) Wie schlecht es offenbar um das historische Bewusstsein bestellt ist, hat auch eine anmaßende, geschmacklose Aktion in den letzten Tagen gezeigt, bei der der Nationalsozialismus als die letzte deutsche Diktatur bezeichnet wurde. Es gab aber auch danach eine Diktatur in Deutschland, und das sollten wir nicht vergessen machen, sondern daran sollten wir immer erinnern. Es gab übrigens auch keine „kommode Diktatur“, wie Günter Grass mal meinte, sondern viele Formen von Unterdrückung und Leid, die es wert sind, dass wir ihrer gedenken. ({3}) Gleichzeitig werden wir den Antrag der AfD ablehnen, nicht so sehr wegen der üblichen handwerklichen, technischen Mängel, die er auch hat, sondern weil auch wirklich historisch falsche Dinge in diesem Antrag stehen. Zum Beispiel bezieht dieser Antrag die Zeit der Sowjetischen Besatzungszone nicht in das Gedenken. Wer wissen will, dass hier bereits seit 1945 Unrecht geschehen ist, wofür es dieses Mahnmal geben soll, der muss sich nur in Potsdam etwa die Gedenk- und Begegnungsstätte Leistikowstraße ansehen, das frühere zentrale Untersuchungsgefängnis der sowjetischen Militärspionageabwehr. Sie erhält heute als nationale Gedenkstätte zu diesem Thema zu Recht Bundesförderung. Hier gab es unglaubliches Leid. Zudem verharmlosen Sie aber auch die Rolle der SED, wenn Sie in Ihrem Antrag schreiben, dass man hier nur die Anweisungen aus der UdSSR ausgeführt habe. Sie verharmlosen damit den Anteil, die Absicht zur und die Verantwortung für Unterdrückung auch durch die SED, ihre Unterorganisationen und ihr „Schild und Schwert“. ({4}) Wir sind deshalb für den Ansatz, nach einem transparenten Prozess ein solches Mahnmal zu errichten. Es muss prinzipiell eine gesamtdeutsche Initiative sein; denn die kommunistische Gewaltherrschaft ist auch Teil der gesamtdeutschen Nachkriegsgeschichte. Es muss eine international eingebettete Initiative sein – das ist Herausforderung genug, aber unerlässlich –, und sie sollte mit weiteren Gedenkstätten und Dokumentationszentren verknüpft werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns einen dauerhaften Ort für unsere kollektive Erinnerung schaffen, ein dauerhaftes kollektives Gedächtnis für die Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft. Jürgen Fuchs sprach von „Landschaften der Lüge“, die auch hinterlassen wurden, und denen müssen wir jeden Tag entgegentreten. Vielen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Linda Teuteberg. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Simone Barrientos. ({0})

Simone Barrientos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004660, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Werte, liebe Gäste! Dass wir einen zentralen Ort brauchen, der die Menschen in den Fokus nimmt, die in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR Opfer von politischer Gewalt und Willkür, von Zersetzungsmaßnahmen und Benachteiligungen wurden, ist richtig, und dieses Ansinnen unterstützen wir. Der Titel Ihres Antrages aber – „Mahnmal für die Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft in Deutschland errichten“ – stellt das in der DDR zweifelsfrei geschehene Unrecht auf eine Stufe mit den unfassbaren Verbrechen des NS-Terrors und relativiert diese. ({0}) Er zeigt, dass es Ihnen nicht um die Opfer geht. Nein, Sie missbrauchen die Opfer. Besonders trifft mich wirklich, dass die SPD da mitmacht. Sie treffen sich doch selbst. Von der Union kennen wir das: Sie benutzen alles, um linke Ideen in der Gegenwart und für alle Zeiten zu diffamieren. Das ist politisches Kalkül. Fakt ist aber, dass der Begriff „kommunistische Gewaltherrschaft“ in Bezug auf die DDR von anerkannten Historikerinnen und Historikern, wie zum Beispiel Martin Sabrow, Christoph Kleßmann und vor allem Mary Fulbrook, aus gutem Grund nicht verwendet wird. Es ist ein Kampfbegriff, und er ist mit Blick auf die DDR unverhältnismäßig. ({1}) Er ignoriert auch, dass die Menschen in der Sowjetischen Besatzungszone anders lebten als unter Otto Grotewohl, Walter Ulbricht oder Erich Honecker. Er ist den Opfern gegenüber missbräuchlich ({2}) und den zukünftigen Generationen gegenüber verantwortungslos. Ich hoffe, dass in der Machbarkeitsstudie die historische Sicht Berücksichtigung findet. Mary Fulbrook wäre eine gute Wahl für diese Aufgabe. Derzeit wird überall die Friedliche Revolution von 1989 gefeiert. Gleichzeitig wollen Sie hier einen Antrag unter diesem Kampfbegriff durchjagen. ({3}) Eine kommunistische Gewaltherrschaft wäre wohl kaum gewaltfrei beendet worden. ({4}) Über eine halbe Million Menschen demonstrierten am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz für eine bessere DDR. ({5}) Sie wollen mir doch nicht ernsthaft erzählen, dass diese Menschen eine reformierte kommunistische Gewaltherrschaft wollten. ({6}) Sie laufen Gefahr, hier genau den gleichen Fehler zu machen, wie Sie ihn bei der Aufarbeitung der Vertreibungen von 1945 gemacht haben: Sie laufen Gefahr, das Gedenken den Revisionisten und den Scharfmachern zu überlassen. Das ist ein Fehler. ({7}) Die Linke kann diesem Antrag so nicht zustimmen. Aber genau das haben Sie ja wahrscheinlich gewollt. Vielen Dank. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Simone Barrientos. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Monika Lazar. ({0})

Monika Lazar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003714, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass die Koalition bei diesem Thema konkret wird und weitere Schritte angehen will. ({0}) Schließlich waren sich – das ist auch im Antrag genannt – schon in der Anhörung im Kulturausschuss im Jahre 2017 fast alle Sachverständigen einig, und auch der Verband UOKG verfolgt das Thema schon seit vielen Jahren. Positiv ist auch, dass man bei der Entwicklung des Konzeptes die verschiedenen Opferverbände und auch andere Initiativen einbeziehen will. ({1}) Das ist vor allem auch für die Akzeptanz in der Öffentlichkeit und für die verschiedenen Opfergruppen sehr wichtig. Wichtig ist auch, den Prozess zur Errichtung des Mahnmals mit der Fortschreibung des Gedenkstättenkonzepts des Bundes zu koordinieren. Was unserer Fraktion allerdings fehlt, ist der europäische Kontext. Das sollte bei der Konzepterstellung, die ja erst noch kommt, unbedingt ergänzt werden. ({2}) Ich denke, darin sind wir uns wahrscheinlich auch einig. Auch ist uns noch nicht so ganz klar, wie man bei dem sehr komplexen Thema den sehr verschiedenen Opfergruppen gerecht werden will; Frau Budde hat es ja angedeutet. Da muss man sehr viel Sensibilität an den Tag legen; denn es ist schon ein sehr breites Spektrum. ({3}) Um eventuelle Fehlinterpretationen zu vermeiden, sollte man sich vielleicht doch noch mal Gedanken über den Namen des Mahnmals machen. Ein Vorschlag wäre: Mahnmal für die Opfer der SED-Diktatur. Sprachlich ist mir der Text des Antrages teilweise etwas zu holzschnittartig. Es klang für mich bei der Rede von Kollegin Motschmann auch so an. Das erinnerte mich so ein bisschen an 50er-Jahre-Rhetorik, was wir eigentlich mittlerweile gar nicht mehr nötig haben. Denn bei dem Thema kann man auch sehr viel Konsens haben. ({4}) Stattdessen wäre es wichtig gewesen, konkret die SED-Diktatur und deren Verfehlungen zu benennen und ebenso die der osteuropäischen sozialistischen Regierungen. ({5}) Probleme habe ich auch mit dem im Antrag verwendeten Totalitarismus-Begriff. Da läuft man schon Gefahr, die Unterschiede zwischen Nationalsozialismus und SED-Diktatur zu verwischen. ({6}) 30 Jahre nach der Friedlichen Revolution ist es wirklich Zeit, das Vorhaben, ein solches Mahnmal zu schaffen, umzusetzen und die nächsten Schritte zu gehen. Wir werden deshalb den weiteren Prozess sehr wohlwollend begleiten. Aufgrund der angebrachten Punkte werden wir uns bei der Abstimmung gleich enthalten. Vielen Dank. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Monika Lazar. – Letzter Redner in dieser Debatte: Christoph Bernstiel für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Christoph Bernstiel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste auf den Tribünen! Wir beschäftigen uns heute mit einem Antrag zur Errichtung eines Mahnmals für die Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft in Deutschland, Frau Lazar. Das ist der Grund, warum wir hier explizit darauf abzielen, welche Opfer Deutschland unter dieser schrecklichen Herrschaft der SED bringen musste. Das ist ein guter Antrag, und es macht auch Sinn, diesen Antrag einzubringen. Denn Mahnmale sind das, was der Name schon verrät: ein Ort der Erinnerung, ein Ort zum Nachdenken. Sie sollen vor allen Dingen mahnen, dass sich solche Verbrechen nicht wiederholen. Dass das nötig zu sein scheint, hat ja die Debatte hier schon belegt. Frau Barrientos, ich weiß nicht, wie Sie den Sozialismus oder den Kommunismus interpretieren. Ich weiß auch nicht, was Sie dazu verleitet hat, zu sagen, dass es keine Gewaltherrschaft in der DDR gab. Sie hatten davon gesprochen, dass der Antrag eine Verhöhnung der Opfer sei. Das, was Sie gemacht haben, ist eine Verhöhnung der Opfer, ({0}) indem Sie nämlich alle, die in der DDR diskreditiert wurden, über einen Kamm geschert und gesagt haben: Es gab so eine Herrschaft nicht. – Das lehnen wir ab. Aber: Es passt ja auch sehr gut in die Linie Ihrer Partei. Ich zitiere mal aus Ihrem Parteiprogramm. Darin schreiben Sie nach wie vor, Sie möchten einen neuen, demokratischen Sozialismus. Das ist etwas, was ich auch ein wenig an unserem eigenen Antrag kritisieren möchte; denn es hätte eigentlich heißen müssen: ein Mahnmal für die Opfer des Sozialismus und Kommunismus. – Wir wissen es: Der Kommunismus ist eine Utopie, der Sozialismus hingegen nicht. Er hat sehr wohl sehr oft real existiert. Meine Kollegin Frau Motschmann sagte es bereits: Er führte immer zu Leid, Terror, Unterdrückung und Verarmung der Menschen. ({1}) Dennoch gibt es auch heute wieder Menschen – führende Politiker –, die sagen: So was wie einen Sozialismus hat es noch nie gegeben, und wer negativ über den Sozialismus spricht, der hat einfach keine Ahnung. Wissen Sie: In meinem vorherigen Leben als Coach für Erinnerungskultur im Hinblick auf deutsche Teilung und deutsche Einheit wurde ich oft mit dem Argument konfrontiert: Der Sozialismus ist ja an sich eine gute Idee; sie wurde nur schlecht umgesetzt. – Ich nenne dann immer gerne folgendes Beispiel: Das ist ungefähr so, als ob Sie sich mit verbundenen Augen in ein Auto setzen, Vollgas geben, einen Unfall bauen, vielleicht mit Glück überleben, danach aussteigen, sich in ein anderes Auto setzen, eine andere Strecke wählen und wieder mit verbundenen Augen Auto fahren. Sie werden wieder einen Unfall bauen. Genauso ist das mit dem Sozialismus. Er scheiterte nicht daran, dass er nur schlecht umgesetzt wurde, oder daran, dass die Zeit nicht richtig war, oder daran, dass es eine falsche Voraussetzung gab. Nein, meine Damen und Herren, die Idee des Sozialismus ist schlichtweg falsch. Und das muss man auch einfach mal ganz klar sagen. ({2}) – Wir hören es gerade wieder: „Die Idee ist gut!“ – Dann empfehle ich Ihnen doch mal einen Blick in den Global Peace Index. Schauen Sie nach Venezuela: Aktuell steht man auf Platz 144. Dort haben Sie den real gelebten Sozialismus mit dem Ziel, den Kommunismus zu erreichen. Das ist doch eine ganz klare Botschaft. Wenn wir schon bei dem Thema sind: Der demokratische Sozialismus, was soll denn das sein? Wenn Sie sich damit auseinandersetzen, erkennen Sie: Der Sozialismus ist nicht demokratisch durchzuführen. Der Sozialismus ist der Feind der Demokratie. Er ist der Feind der Marktwirtschaft. Er ist der Feind der Gewaltenteilung, und er ist schlichtweg der Feind der Freiheit. Deshalb müssen wir alles dafür tun, dass sich weder Sozialismus als Vorstufe des Kommunismus noch diese Utopie jemals wieder in irgendeiner Form hier in Deutschland durchsetzen. Da ist so ein Mahnmal der richtige Weg. ({3}) Dann möchte ich noch etwas sagen: Die AfD hat uns ja vorgeworfen, wir reagierten zu spät und erst nach ihrem Antrag würden wir tätig. ({4}) Das ist natürlich Unsinn. Schauen Sie sich einfach mal die Historie an – es wurde bereits gesagt –: Im Jahr 2012 haben wir uns mit dem Thema auseinandergesetzt. Damals haben wir es in die Zuständigkeit des Landes Berlin gelegt. Dann haben wir festgestellt: Das geht nicht so wirklich voran. – Dann haben wir uns 2014 noch mal damit auseinandergesetzt, was nötig wäre, um so ein Denkmal voranzubringen. ({5}) Im Jahr 2017 – meine liebe Kollegin Budde sagte es bereits – scheiterte es leider an Streitigkeiten. Daraufhin haben wir uns dieses Themas jetzt in einer Anhörung im Kulturausschuss angenommen und haben es dann anlässlich des 30. Jahrestags der Friedlichen Revolution in ein Unionspapier aufgenommen. Jetzt nehmen wir die Sache selber in die Hand, weil wir gedacht haben: Wir warten nicht länger. Jetzt macht das der Bund. ({6}) Zu dieser Machbarkeitsstudie, Herr Frömming. Es ist doch vollkommen logisch, warum wir das machen: weil wir es auch tatsächlich umsetzen wollen und weil wir nicht, wie Sie es eben gesagt haben, wie beim Einheitsdenkmal eine Schlappe hinnehmen oder warten wollen, dass sich das ewig verzögert. So ist das in einem demokratischen Staat: Man guckt, was geht, und dann setzt man es zügig um. Genau deshalb haben wir das Geld in den Haushalt eingestellt, und das ist gut und richtig so. ({7}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, als letzter Redner in dieser Debatte wollte ich darauf eingehen, dass es nicht nur darum geht, ein Mahnmal zu errichten, sondern dass wir uns auch der Debatte stellen. Das werden wir tun. Sie können sich darauf verlassen, dass unsere Fraktion weiterhin gegen jede Form von totalitärer Staatsideologie, sowohl von rechts als auch von links, ankämpfen wird. Damit bedanke ich mich für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche denjenigen, die heute fertig sind, einen schönen dritten Advent. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Christoph Bernstiel. – So ganz fertig sind Sie noch nicht, weil die Debatte noch nicht zu Ende ist. Das Wort zu einer Kurzintervention hat Simone Barrientos. ({0}) – Sie hat laut Geschäftsordnung das Recht dazu. – Frau Barrientos, bitte.

Simone Barrientos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004660, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Bernstiel, Sie haben dasselbe schon in der letzten Debatte gemacht, als es um das Stasi-Unterlagen-Gesetz ging. Sie haben nämlich entweder nicht zugehört oder mich falsch wiedergegeben. Aber ist in Ordnung; darum soll es jetzt gar nicht gehen. Sie fragten sich hier laut, wie ich wohl den Sozialismus interpretiere. Ich muss ihn gar nicht interpretieren; ich habe da gelebt. Ich bin 1963 in der DDR geboren. Ich durfte kein Abitur machen. Mir sind Nachteile entstanden. Das hat sich natürlich auf meinen Lebensweg ausgewirkt. Ich bin mal in der Keibelstraße in einer Zelle gelandet usw. Ich könnte Ihnen mehr Sachen erzählen, die mir passiert sind. Ich käme trotzdem im Traum nicht auf die Idee, dieses Land eine „kommunistische Gewaltherrschaft“ zu nennen, weil das ein Kampfbegriff ist und er natürlich dazu geeignet ist, den Naziterror mit der DDR gleichzusetzen. Mir geht es um die Opfer – Ihnen geht es um Ideologie. Danke. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Bernstiel, haben Sie etwas zu entgegnen? – Ja, Sie haben.

Christoph Bernstiel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Barrientos, es wird wirklich nicht viel besser. ({0}) Wenn Sie in der DDR gelebt haben, dann haben Sie doch selber erlebt, wie mehrere Hundert Menschen an der innerdeutschen Grenze erschossen wurden, wie Tausende inhaftiert wurden, wie Zehntausende mit Zersetzungsmaßnahmen drangsaliert und an beruflichen Karrieren gehindert wurden, wie Hunderttausende überwacht wurden. Wenn das kein Ausdruck einer Gewaltherrschaft ist, dann weiß ich wirklich nicht, worauf Sie hinausmöchten, und das habe ich eben zum Ausdruck gebracht. Die DDR war eine Diktatur; da gibt es nichts schönzureden. Die DDR sagte von sich selbst, sie sei ein sozialistischer Staat, der nach dem Kommunismus strebe. Das stand in der Verfassung; daran gibt es nichts zu deuteln. Wenn Menschen getötet werden, dann ist das natürlich Ausdruck von Diktatur und Gewaltherrschaft; auch daran gibt es nicht zu deuteln. Wenn Sie das versuchen, dann empfehle ich Ihnen wirklich noch mal einen Blick ins Geschichtsbuch. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Bernstiel. – Damit schließe ich die Aussprache.

Prof. Dr. Harald Weyel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004932, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Nachdem wir uns jetzt nicht mehr so viel Gedanken um die Souveränität der Briten machen müssen, müssen wir uns vielleicht vermehrt Gedanken um die eigene Souveränität und deren Erhaltung machen. ({0}) Eine der letzten Amtshandlungen von Jean-Claude Juncker – im letzten Amtsjahr und in den letzten Monaten noch mal verstärkt – war die Anmerkung, dass man immer mehr Entscheidungen in den Bereich der Mehrheitsentscheide bringen müsste, um via Brückenklausel das Prinzip der Einstimmigkeit leichter ausmanövrieren zu können, und das insbesondere in den hochsensiblen Bereichen der Steuer- und Sozialpolitik sowie der GASP, also der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Jetzt hat das die Implikation, dass die qualifizierte Mehrheit eine doppelte sein muss. Das heißt, 55 Prozent der Mitgliedstaaten und 65 Prozent der Bevölkerung müssten dafür sein, damit ein solcher Mehrheitsentscheid gelte. Mit dem mehr oder weniger definitiven Austritt der Briten tritt das ein, was absehbar war, nämlich dass mit den Briten nicht nur die Wirtschaftskraft von 20 Mitgliedstaaten wegfällt – von unten nach oben gerechnet, Malta etc. –, sondern dass nun die Regelung einer impliziten Sperrminorität von 35 Prozent kippt. Der alte D-Mark-Block hat nämlich ohne die Briten nur noch 25 Prozent der Bevölkerung und wird mit Leichtigkeit von den Ländern, die man schon seit den 70er-Jahren als Club Med bezeichnet, übertrumpft. Deswegen müsste eigentlich gelten: Je mehr Bereiche der Überstimmungsmöglichkeit enthoben sind, bleiben oder werden, umso besser ist es für Deutschland. Es kann nicht angehen, dass wir jetzt in diese Notlage geraten. Es wäre eigentlich mit dem ganzen Brexit-Deal fällig, auch eine entsprechende Neujustierung der Sperrminoritäten festzulegen, das heißt, dass dann eben eine 25-prozentige Sperrminorität ausreichen würde. Oder: Wenn wir dies den Verhältnissen analogisieren, die im IWF gegeben sind, müssten den Deutschen eigentlich 15 Prozent ausreichen, um einen Mehrheitsentscheid im Falle des Falles zu kippen. All das ist bisher nicht geschehen und ist anzumahnen. Das wenigste, was getan werden kann, ist, sich im eigenen Interesse einer Ausweitung dieser Mehrheitsentscheide entgegenzustellen. ({1}) Was haben wir als Beispiel für die Steuerpolitik, die ja eigentlich ausgenommen ist? Der direkte Griff in die Steuer- oder Budgethoheit eines Staates geht natürlich nicht. Aber wir haben mit der Arbeitsleistung Transaktionsteuer ein wunderbares Beispiel, wie es funktioniert, wenn mit französisch-deutschem Vorreiten irgendeine Flickschusterei, ein Blendwerk betrieben wird und am Ende durch die Transaktionsteuer nicht die Manipulationen im Euro-Raum oder global angegangen werden, sondern der kleine Aktiensparer gekniffen ist, weil es eine Aktiensteuer geworden ist. Der Berg hat also gekreißt und eine Maus geboren, und das zu unserem Nachteil. Wir haben anhand von Expertenmeinungen in diversen Ausschusssitzungen oder auf öffentlichen und weniger öffentlichen Kanälen erfahren, dass man nun solche Steuern – siehe Transaktionsteuer oder was davon übrig geblieben ist – durchaus auch dafür verwenden könnte, nationale Mindestrenten, Mindestlöhne und dergleichen mehr zu finanzieren, was ja ein ziemlich direkter Widerspruch zu all dem ist. Aber es zeigt uns, wie sozusagen mit der Logik des albanischen Hütchenspiels von der einen Ecke in die andere gewirtschaftet wird, und das kann das Publikum auch nicht wirklich nachvollziehen. Dafür haben wir eine erhöhte Verantwortung, und dafür gilt das Gebot des Festhaltens an der Vetomöglichkeit und der Neujustierung der Mehrheit, die dann tatsächlich qualifiziert ist. ({2}) Deutsche Interessen haben leider nicht immer eine 100-prozentige Schnittmenge mit EU-Umverteilungsinteressen. Immer öfter ist das Gegenteil der Fall. Wenn andere Länder seit Jahrzehnten ihre Konsummöglichkeiten auf vielfältigste Art und Weise mit deutschem Geld finanzieren und genau dieses Geld deutschen Arbeitnehmern, Sparern, Rentnern, Hilfsbedürftigen und Unternehmen fehlt, ist das nicht länger hinzunehmen. ({3}) Nicht anderer Leute gegenleistungslose Wohlfahrt ({4}) ist über irgendwelche offenen oder verdeckten Transfers zu gewährleisten, sondern die Wohlfahrt der sozusagen eigenen Urbevölkerung und der hier produktiv und positiv Integrierten und Assimilierten aus aller Welt. ({5}) Was die hier im Parlament schon länger Sitzenden aber betreiben, ist die internationalisierte Plünderung der Steuer- und Sozialkassen mit finaler Schächtung des Sozial- und Rechtsstaates. ({6}) Vielen Dank an alle, die dies verhindern wollen. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Weyel. – Nächster Redner in der Debatte: Dr. Volker Ullrich für die CSU/CDU-Fraktion. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Kollege Weyel, Sie haben die Rechtssetzung auf europäischer Ebene gar nicht richtig dargestellt; ich nehme an, Sie kennen sie nicht. ({0}) Man muss zunächst einmal deutlich machen, dass mit dem Vertrag von Lissabon in den meisten Politikfeldern die sogenannte qualifizierte Mehrheit ohnehin bereits geltendes Recht ist. ({1}) Nur für wenige Politikbereiche hat der Vertrag von Lissabon ein Einstimmigkeitserfordernis vorgesehen. Wir leben aber jetzt gerade in einer Zeit, bei der wir wissen und spüren, dass sie sich verändert und dass wir Weltpolitikfähigkeit der Europäischen Union brauchen. ({2}) Wir brauchen eine Politik, bei der die Europäische Union mit einer Stimme spricht, damit wir auf Augenhöhe agieren können bei den großen Herausforderungen, im Hinblick auf China beispielsweise, aber auch in der Frage, wie wir mit den Herausforderungen in Afrika umgehen, wie wir uns den Herausforderungen im Nahen Osten stellen, und bei vielen anderen Dingen auch – von Russland, Ihren Freunden, ganz zu schweigen. Der entscheidende Punkt ist aber, dass der Vertrag von Lissabon nun vorsieht, dass mit einem Beschluss im Rat zukünftig für wichtige Politikfelder eine Mehrheitsentscheidung eingeführt werden kann, und zwar einstimmig, wenn der Bundestag zustimmt. Das haben Sie verschwiegen, und das ist nach dem Integrationsverantwortungsgesetz der entscheidende Punkt, meine Damen und Herren. ({3}) Ich glaube, es ist auch notwendig, dass wir Souveränität auf europäischer Ebene teilen. Denn die Europäische Union stellt keine Gefahr für die deutsche Souveränität dar, ({4}) sondern die Europäische Union sorgt dafür, dass wir überhaupt noch Souveränität ausüben können, weil wir in vielen Bereichen nur gemeinsam handeln können. ({5}) Sicherheit, Klimaschutz, äußere Sicherheit, Außengrenzenschutz, das sind Fragen, bei denen die Europäische Union nur gemeinsam handeln kann. ({6}) Wenn Sie hier allein auf die Souveränität Deutschlands abstellen, dann schwächen Sie unser Land. ({7}) Und Sie wollen unser Land schwächen, weil Sie die deutsche Brexitpartei sind. Sie gratulieren Johnson, weil Sie aus der Europäischen Union austreten wollen, meine Damen und Herren. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Dr. Ullrich, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung von der AfD? ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Dr. Ullrich, sehr verehrter Kollege, Sie haben gerade geäußert, wir seien eine Brexitpartei. ({0}) Das darf ich an dieser Stelle zurückweisen. Wir sind für eine Reform der Europäischen Union, die genau dahin zielt, dass wir eine europäische Zusammenarbeit unter Beachtung der nationalen Souveränität bekommen. ({1}) Wenn Sie hier behaupten, dass Deutschland nur in einer Europäischen Union souverän sein könne, dann muss ich Sie wirklich fragen, wo Sie diese Art der Argumentation hernehmen. ({2}) Wir sind die viertstärkste Wirtschaftskraft der Welt. ({3}) Glauben Sie nicht, dass ein bisschen mehr Selbstbewusstsein, ein bisschen mehr Bekenntnis zur eigenen Souveränität unserem Land guttäte? Es befindet sich nämlich auf einem Weg der Rezession, auf einem Weg des Verlusts der Innovations- und Forschungskraft, weil immer alles auf Brüssel verlagert wird, weil immer alles wegverlagert wird und weil auch noch Ihre Regierung es anstrebt, dass wir ja keine souveränen Entscheidungen mehr treffen können, sondern alles nur noch im europäischen Kontext geht. Warum behaupten Sie hier frank und frei, dass Deutschlands Souveränität nicht vorhanden sei, ({4}) sondern nur durch Brüssel realisiert werden könne, obwohl Sie genau – besser – wissen, dass das nicht stimmt? ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Ullrich, bitte.

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Kleinwächter, es hat mich in keiner Weise erstaunt, dass Sie mit Ihrer Argumentation irgendwo Ende der 50er-Jahre stehen geblieben sind. ({0}) Sie müssen zur Kenntnis nehmen, dass durch die europäische Währungsunion, durch den Binnenmarkt, vorher durch die Zollunion, durch die Einheitliche Europäische Akte und durch das europäische Zusammenwachsen wir überhaupt diesen Wohlstand erreichen konnten. ({1}) Unseren Wohlstand haben wir auch Europa zu verdanken. ({2}) Sie stellen das alles in Abrede. Warum? Weil Sie Europa hassen und damit auch unser eigenes Land hassen. ({3}) Das ist der entscheidende Punkt bei Ihrer Argumentation. Wie ernst Sie die Debatte um die Frage der europäischen Rechtssetzung nehmen, zeigt ein Zitat, das Sie, Herr Kollege Weyel, eben gebraucht haben. Sie sprachen von einem albanischen Hütchenspiel. ({4}) Ich muss mal ganz deutlich sagen: Erstens hat dieser Deutsche Bundestag mit großer Mehrheit beschlossen, Albanien aufzunehmen. Zweitens ist Verfassungsrecht keine Frage von Hütchenspielen. ({5}) Aber dass Sie das mit Albanien in Verbindung bringen, zeigt, dass Sie letzten Endes einen völkischen und rassistischen Charakter bei Ihrer Argumentation haben. ({6}) Hinzu kommt Ihre Argumentation, dass Sie von der „Urbevölkerung“ sprechen. Das ist im Prinzip die Erzählung von Populisten: dass es hier eine Bevölkerung gibt und es dagegen Eliten gibt, die diese Bevölkerung ausbeuten wollen. Das ist nichts anderes als eine rassistische, ideologische Argumentation. ({7}) Dem stellen wir uns entgegen. Damit sagen wir auch: Das ist die Argumentation, die Großbritannien auch ein Stück weit Richtung Brexit gebracht hat. ({8}) Das wollen wir für unser Land verhindern, weil wir wissen, dass wir Europa brauchen, Europa aber Sie nicht braucht. ({9}) – Wir respektieren das Votum der Briten, Herr Kollege Gauland. ({10}) Aber wir können sagen, dass der Brexit falsch ist und dass er nichts Gutes für Europa tut und dass Sie die Partei sind, die am liebsten auch für Deutschland einen Brexit herbeiführen würde. Deswegen dürfen Sie keine Verantwortung für Deutschland und Europa übernehmen. ({11}) Das zeigt dieser Antrag, meine Damen und Herren. ({12})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Volker Ullrich. – Nächster Redner, er hält es schon gar nicht mehr aus: Konstantin Kuhle für die FDP-Fraktion. ({0})

Konstantin Kuhle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004796, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am gestrigen Tag hat im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland die Parlamentswahl stattgefunden. Es ist nunmehr überwiegend wahrscheinlich, dass der Brexit am 31. Januar vollzogen wird. Das bedeutet nicht nur ein hohes Maß an Veränderung für die Briten, es wird auch ein hohes Maß an Veränderung für die Europäische Union mit sich bringen. Deswegen muss die EU und muss auch Deutschland sich früher oder später der Frage stellen, wie wir die europäischen Verträge verändern. Die letzte Revision der europäischen Verträge ist gemacht worden vor der Migrationskrise, ist gemacht worden vor der Schulden- und Finanzkrise, ist gemacht worden vor der Diskussion über das Thema Klima. Deswegen bedarf es innerhalb des Mandats von Ursula von der Leyen auch eines neuen Anlaufs für Vertragsänderungen in der Europäischen Union. ({0}) Innerhalb dieser Vertragsänderungen haben wir als FDP eine klare Haltung: Eine Steuerkompetenz für die Europäische Union kommt nicht in Betracht. ({1}) Und eine Kompetenz im Bereich der Sozialpolitik wäre sogar falsch; sie wäre falsch, weil die Europäische Union vom Wettbewerb der Systeme leben muss, weil unser Erfolgsmodell gerade darauf beruht, dass unterschiedliche wirtschaftspolitische Modelle miteinander in Konkurrenz stehen. Von diesem Wettbewerbsmodell muss die Europäische Union mehr leben. ({2}) Meine Damen und Herren, es gibt aber durchaus Bereiche, in denen beispielsweise eine Vertragsänderung auch dazu führen kann, dass es zu mehr Mehrheitsentscheidungen kommt, und das ist gerade im Bereich der Außenpolitik so. Es kann doch nicht sein, dass gemeinsame Erklärungen, beispielsweise zu China, zu Russland oder zu Venezuela, von einzelnen Staaten blockiert werden, obwohl offenkundig ist, dass die Europäische Union in Menschenrechtsfragen mit einer Stimme sprechen muss ({3}) und eine klare Haltung nach außen kommunizieren muss. ({4}) Deswegen braucht es in diesem Bereich eine Vertragsänderung, aber im Wege des normalen Verfahrens. Jetzt kommen die Antragsteller, die einen Antrag zusammengestellt haben, um die Ecke und befürchten, dass das Ganze im Wege der Brückenklausel geschieht. Ich will nur mal eine Rückfrage stellen: Aus welchem Reichsbürgerforum haben Sie sich den Antrag eigentlich zusammengefrickelt? ({5}) Er ist nicht mal im Ansatz auf dem Niveau der aktuellen Rechtslage. Ich will Ihnen das kurz erklären. Es gibt zwei Arten von Brückenklauseln: Es gibt die allgemeinen Brückenklauseln und die besonderen Brückenklauseln. Die allgemeine Brückenklausel gilt beispielsweise im Bereich der Steuern und erfordert schon nach dem Unionsrecht auch eine Zustimmung der nationalen Parlamente. Die besondere Brückenklausel gilt im Bereich der Sozialpolitik und erfordert nach dem Unionsrecht keine Zustimmung des Deutschen Bundestages, wohl aber, aufgrund des Lissabon-Urteils, nach dem Integrationsverantwortungsgesetz. Sie können sich selber also hier gar nicht aus der Verantwortung entlassen. Es wird hier, im Deutschen Bundestag, darüber entschieden, ob die Brückenklausel zum Einsatz kommt oder nicht; es wird hier von den Fraktionen untereinander darüber beraten. Sie haben irgendwelches Copy-and-paste gemacht – wer weiß, wo das herkommt. Ihr Antrag ist nicht auf der Höhe der Zeit, völlig von gestern. Sie sind nicht in der Lage, zu verstehen, wie überhaupt die Rechtslage ist. ({6}) Dieser Antrag muss abgelehnt werden, dringend, meine Damen und Herren. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Konstantin Kuhle. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Axel Schäfer. ({0})

Axel Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003624, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der AfD-Antrag spricht einerseits von der Souveränität Deutschlands und andererseits vom Vetorecht unseres Landes. Beides ist falsch, und ich finde es an der Stelle wichtig, dass wir mal Punkt für Punkt auf diese Argumentation eingehen. Zunächst die Souveränität Deutschlands. Am Anfang unserer Verfassung steht: Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen … Das ist unsere Staatsräson, das ist die Handlungsgrundlage des Grundgesetzes. ({0}) Und weil das so ist, kommt der Begriff „Souveränität“ in unserer Verfassung überhaupt nicht vor, anders als beim Staatsrechtslehrer Carl Schmitt, auf den sich alle Konservativen und viele Nazis bezogen haben, der sagte: Souverän heißt, über den Ausnahmezustand zu gebieten. – Die klugen Mütter und Väter unserer Verfassung wollten vielmehr, dass Deutschland nie mehr so souverän wird, um seinen Nachbarn den Krieg zu erklären, und das haben wir gemeinsam in 70 Jahren geschafft. ({1}) Dann kommen wir zur Frage: Was heißt „Veto“? Klar, Veto heißt, dass fünf wichtige Mächte im UN-Sicherheitsrat Dinge blockieren können. In Europa gibt es kein Veto; deshalb gibt es diesen Begriff in den europäischen Verträgen auch nicht. Wie aber funktioniert dieses Europa? Dieses Europa funktioniert so, dass alle erst einmal von einem gemeinsamen Willen getragen werden, den Joschka Fischer mal sehr einfach auf den Begriff gebracht hat. Er hat gesagt: Das wichtigste nationale Interesse ist die europäische Einigung. – Genau davon ist man getragen. Ich gebe zu: Es gibt eine Reihe von Regierungen in manchen Ländern, wo das zweifelhaft oder nicht mehr der Fall ist; aber die Ausrichtung stimmt. ({2}) Das haben wir gestern bei dem schwierigen Kompromiss zum Klima ja auch erlebt. Und dann ist die Frage: Wie kommt man voran? Man kommt natürlich, wie immer in der Demokratie, nur voran, wenn man auf der einen Seite Überzeugungsarbeit leistet, das heißt möglichst alle mitnimmt, aber auf der anderen Seite auch die Möglichkeit hat, mehrheitlich zu entscheiden. Da ist die Frage: Wie oft wurde denn diese Passerelle-Regelung, also zunächst Einstimmigkeit, aber dann auch die Möglichkeit, zu einem Mehrheitsbeschluss zu kommen, bisher angewandt? Antwort: Null Mal. Das heißt, es ist ein Fake, über den hier gesprochen wird. Aber sie bietet eine Möglichkeit, dass Europa dort, wo es gemeinsam handlungsfähig sein muss, in Zukunft besser bzw. mehr Aktivität entfaltet. Es ist eine Notwendigkeit, und diese Notwendigkeit funktioniert in Europa so, dass man sagt: Ja, wir können auch mehrheitlich entscheiden. – Es gibt eine ganz zentrale Frage, bei der das gelungen ist, und zwar auf der Regierungskonferenz 1985 zur Vertragsreform. Da waren Griechenland und Großbritannien dagegen. Man hat begonnen, aber man hat die Länder mitgenommen. Genauso wird es auch hier gehen: Man muss Überzeugungsarbeit leisten, man muss aber auch wissen, dass Demokratie auch Mehrheit bedeutet. Und gerade dieser Bundestag, besonders meine Fraktion, hat immer dafür gekämpft, dass die Demokratisierung der Europäischen Union, angefangen mit der Direktwahl des Parlaments, auch eine Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen ist. Ich bin sehr dafür, dass wir zu dieser Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen in Europa kommen. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen bedeutet ja nicht, dass hier eine Mehrheit im Parlament im Zweifelsfalle sagt: „Das setzen wir mal durch“, sondern es ist ein Vorschlag der Mehrheit, zu Kompromissen zu kommen, hinter dem sich möglichst alle versammeln können. Deshalb ist es in der Praxis ja auch so, dass dieses scharfe Schwert von Mehrheitsentscheidungen selbst dort, wo es die Verträge zulassen, bisher ganz selten angewandt worden ist. ({4}) Was sowohl die konkreten Vorschläge von Juncker als auch das, worauf sich Ursula von der Leyen bezogen hat, anbelangt: Natürlich brauchen wir das. Es kann doch nicht sein, dass das bei zentralen gesellschaftlichen Herausforderungen nicht möglich ist. Wir wissen doch alle, worum es beim Klima geht. Wir wissen doch alle, wie notwendig der gesellschaftliche Zusammenhalt ist und dass die Schere zwischen Arm und Reich nicht weiter auseinandergehen darf, wie notwendig es ist, da voranzugehen. Und da muss man auch sagen können: Jawohl, wir machen Vorschläge, die a priori noch keine Mehrheit haben, aber wir kämpfen um Überzeugungen, damit wir die Chance bekommen, mehrheitlich etwas durchzusetzen, und das ist auch gut so. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, deshalb sage ich das hier ganz offen: Das, was in dem AfD-Papier an Vorschlägen von Jean-Claude Juncker angesprochen worden ist, ist auch die Überzeugung der großen Mehrheit der Sozialdemokratie. ({6}) Ich sage auch ganz konkret: Der bedeutende europäische Christdemokrat Jean-Claude Juncker hat von den deutschen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sehr oft große Unterstützung bekommen, manchmal sogar mehr als von der EVP. Es ist gut, dass wir ihn als Kommissionspräsidenten haben ({7}) – hatten, danke schön –, und ich gehe davon aus, dass Ursula von der Leyen in dieser Weise weitergeht. Wir werden das kritisch begleiten und unterstützen, und die Sozialdemokratie wird genau dafür kämpfen, dass deutlich wird: Was die Interessen unseres Landes angeht, ist es das Beste, dass wir gemeinsam in Europa für Fortschritte kämpfen, und das ist auch gut so. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Axel Schäfer. – Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Dr. Diether Dehm. ({0})

Dr. Jörg Diether Dehm-Desoi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000365, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Ich weiß ja nicht genau, was die AfD so unter Souveränität versteht. Vielleicht, dass Deutschland endlich einen Friedensvertrag bekommt, wie es gelegentlich von ihren Reichsbürgern zu hören ist. ({0}) Dazu vielleicht etwas Geschichtliches. Himmlers Auschwitz-Finanzier Hermann Josef Abs von der Deutschen Bank hatte 1953 für Kanzler Adenauer bei der Londoner Schuldenkonferenz zig Milliarden Schulden aus den Jahren der faschistischen Mordregimes in Europa auf Warteposition getrickst – eben bis zu einem echten Friedensvertrag. Viel Erfolg wünsche ich Ihnen dabei, wenn Sie Ihren nationalistischen Wählern erklären wollen, wie viele deutsche Milliarden bei einem Friedensvertrag dann zu zahlen wären. An Griechenland und Polen zum Beispiel, die 1953 bei der Wiedergutmachung leer ausgegangen waren. Wir Linke stehen gerade auch 75 Jahre danach zu einem echten Frieden und zu diesen Völkern. Und wenn Souveränität: der Kniefall von Willy Brandt in Warschau. Das war Souveränität. ({1}) Ihnen geht es nicht um Demokratie. Bei Ihnen steht kein Wort dazu, dass das Europäische Parlament nicht mal eigene Gesetze beschließen darf, welche nicht zuvor vom Élysée oder vom Kanzleramt abgesegnet wurden. Die ganze Debatte ist sowieso ein Fake. Elmar Brok, EU-, CDU- und Bertelsmann-Stiftung-Urgestein, sagte uns vorgestern im Ausschuss wörtlich: Mehrheitsentscheidungen kommen erst, wenn Weihnachten und Ostern auf einen Tag fallen. – Da hat er recht. Dabei wäre eine Mehrheit mal richtig: für Sozialstaatlichkeit, für Mindestlohn und gegen Steuerdumping. Die Steueroasen Irland, Malta und Zypern haben aber im Rat jede Änderung sofort abgelehnt, ähnlich wie grad die FDP. Aber auch dazu keine Silbe von der AfD. Sie verteidigen ja sogar Steuerhinterzieher. Im Dezember 2017 hat Ihr Herr Holm an diesem Mikrofon die Panama-Briefkästen verteidigt. Steuerkriminelle haben von der AfD also nichts zu befürchten. Die Alternative für Deutschland wären gerechte Steuern auch für Amazon und Google. ({2}) Wollte man Steuerhinterziehung angehen, man könnte es: mit Artikel 116 AEUV, Wettbewerbsrecht. Hierzu ist übrigens keine Einstimmigkeit erforderlich. Wo es aber niemals Mehrheitsentscheidungen geben darf, ist für Kriegspolitik und GASP. Deutschland an der Seite von Trump im Krieg um Ölquellen – never! Deswegen bestehen wir auf dem deutschen Vetorecht wie andere Staaten auf ihrem Vetorecht; denn Die Linke sagt immer Veto und Nein zu jedem Krieg. Danke schön. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Diether Dehm. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Dr. Franziska Brantner. ({0})

Dr. Franziska Brantner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004255, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Zu den rechtlichen Fehlern des Antrags brauche ich nichts mehr sagen; Herr Dr. Ullrich und Herr Kuhle haben das schon wunderbar ausgeführt. Ich möchte nur noch gerne hinzufügen – zu Ihrer Information –, dass die aktuelle Kommissionspräsidentin Frau von der Leyen heißt und nicht Herr Juncker, wie das in Ihrem Antrag noch steht. ({0}) Sie wollen bei der europäischen Außen-, Sicherheits- und Steuerpolitik bei der Einstimmigkeit bleiben. Ihre Argumentation lautet: Dadurch gewinnt Deutschland an Souveränität. – Aber das Gegenteil ist doch der Fall: Damit wir wirklich souverän sein können als Deutsche und Europäerinnen, müssen wir europäisch handlungsfähig sein. ({1}) Alleine, national, kann – und ich würde hinzufügen: soll – Deutschland außen- und sicherheitspolitisch nicht handeln. Wer glaubt, dass Deutschland alleine gegenüber Putin, Erdogan, China, aber auch Trump einen Stich machen würde, der täuscht sich doch. ({2}) Souveränität auf dem Papier, die Sie anstreben, ist doch gar nichts wert; denn in der Realität entscheiden dann andere über uns. Das ist doch, was wir wirklich zu entscheiden haben. Es gibt in Europa heute nur noch zwei Arten von Staaten: Es gibt die kleinen Mitgliedstaaten, und dann gibt es jene, die noch nicht wissen, dass sie klein sind. ({3}) Um europäisch in der Außen- und Sicherheitspolitik handlungsfähig zu werden, brauchen wir endlich den Übergang von der Einstimmigkeit zur qualifizierten Mehrheit. Einstimmigkeit bedeutet Blockade, Mehrheitsentscheidungen bedeuten Handlungsfähigkeit, und das bedeutet Souveränität. Ich möchte noch was zur Steuerpolitik sagen. Herr Kuhle, Sie haben ja gesagt, Sie sind dagegen. ({4}) Wir wissen, dass wir in Europa einen hohen Kostenfaktor dadurch haben, dass wir die Steuerpolitik nicht koordinieren: 825 Milliarden Euro pro Jahr; ({5}) das sind die Zahlen der Europäischen Kommission. Wenn man den Betrag in 500-Euro-Noten stapeln würde, wäre der Turm rund 300 Kilometer hoch. Gestern im Berichterstattergespräch haben wir gehört, dass alleine dort, wo heute durch die Einstimmigkeit schon existierende Gesetzesvorlagen blockiert werden – Körperschaftsteuerbemessungsgrundlage, Umsatzsteuerreform etc. –, jedes Jahr 150 bis 200 Milliarden Euro Verlust gemacht werden. Das bedeutet finanzielle Verluste auch für den Nationalstaat. ({6}) Das ist unsere finanzielle Handlungsfähigkeit des Nationalstaats, ({7}) die durch die Einstimmigkeit im Rat verloren geht. Ich hätte da gerne wieder Handlungsfähigkeit, damit wir diese Gelder auch wirklich bekommen. ({8}) Und es gibt Bereiche, in denen wir auch national kaum noch was machen können. Im digitalen Bereich macht es Sinn, das europäisch anzugehen. Diese Aufgaben sind doch national überhaupt nicht mehr wahrzunehmen; das ist doch absurd. Das schaffen wir nur als Europäer. Erlauben Sie mir einen letzten Gedanken. Wir haben jetzt den Brexit – der kommt auf jeden Fall –, und wir haben die Verhandlungen über den europäischen Haushalt. Die aktuelle deutsche Regierungsposition – Gesamtausgaben von 1 Prozent der europäischen Wirtschaftsleistung – bedeutet eine Kürzung des europäischen Haushalts. Wenn diese Regierung nicht sagt, wo sie kürzen möchte, ({9}) man am Ende trotzdem bei einem höheren Betrag landet und dann wieder sagt: „Das waren die bösen anderen Länder, die nicht mitgemacht haben“, dann ist das das Spiel, das die Brexiteers über Jahre gespielt haben. Das ist gefährlich, und auf den Weg sollten wir uns nicht machen. ({10}) Bitte seien Sie endlich verantwortungsbewusst genug, mit diesen Fragen umzugehen. Ich danke Ihnen. ({11})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Franziska Brantner. – Nächste Rednerin: Ursula Groden-Kranich für die CDU/CSU-Fraktion.

Ursula Groden-Kranich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004280, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schon im Titel – „Vetorecht des Deutschen Bundestages in allen Politikbereichen erhalten“ – verwenden Sie einen völlig falschen Begriff; denn ein solches Vetorecht gibt es gar nicht. Ganz im Gegenteil: Der Artikel 23 des Grundgesetzes verpflichtet uns sogar, an der europäischen Integration aktiv mitzuwirken. Aber das interessiert Sie ja überhaupt nicht. ({0}) Denn man merkt, dass es der AfD wieder mal nur um die Diskreditierung der Europäischen Union geht. ({1}) Nachdem Sie mit dem Thema Subsidiarität gescheitert sind, kommen Sie jetzt mit dem Begriff „Souveränität“. Aber wie immer bei europapolitischen Anträgen: Sie reden zu etwas ganz anderem, als es in Ihrem eigentlichen Antrag steht. ({2}) Wenn es Ihnen um das Thema Souveränität gegangen wäre, hätten Sie diese Woche im EU-Ausschuss ganz viel Raum und Zeit gehabt, um darüber diskutieren zu können. Aber – wie wurde es in der Geschäftsordnungsdebatte schon gesagt? – Sie werfen anderen Parteien Arbeitsverweigerung vor und sind selbst sehr dürftig in einer angeblich so wichtigen Debatte anwesend. ({3}) Als die Möglichkeit zu Nachfragen bestand, hatten Sie nichts mehr in petto. Deswegen ging diese Debatte auch an Ihnen vorbei. ({4}) Es geht Ihnen nicht um die Souveränität Deutschlands. Es geht Ihnen um Abschottung und Nationalismus. Aber Europa ist mehr. Es braucht solche Kleingeister wie Sie nicht. Europa braucht konstruktives Miteinander. Dafür stehen wir. ({5}) – Da können Sie lachen, wie Sie wollen. Auch Ihre Zeit ist demnächst um. ({6}) Vielen Dank. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Ursula Groden-Kranich. – Letzter Redner in dieser Debatte, er steht auch schon da: Dr. Christoph Ploß für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Christoph Ploß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004854, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Auf die ganzen inhaltlichen Schwächen des AfD-Antrags braucht man als letzter Redner in dieser Debatte nicht weiter einzugehen. ({0}) Viele Fraktionen haben hier schon offenkundig gemacht, dass dieser Antrag noch dünner ist als das, ({1}) was wir hier häufig erlebt haben. Trotzdem wurde in der Debatte eine wichtige Frage aufgeworfen, nämlich: Welche politischen Themen gehören auf die Ebene der Europäischen Union, welche gehören auf die Ebene des Bundestages, welche auf die der Landtage und welche in die Kommunen bzw. in die Rathäuser unserer Städte? Dabei gilt für uns als CDU/CSU-Fraktion immer das Subsidiaritätsprinzip, das bei dieser Debatte von entscheidender Bedeutung ist. Das heißt, die Themen, die vor Ort entschieden werden können, wollen wir in den Rathäusern lassen, während wir die großen Themen, wo es einen Mehrwert gibt für die europäischen Nationalstaaten und auch für unser Land, auf die Ebene der Europäischen Union hieven wollen. Das heißt, der Bau von Radwegen oder der Bau von Marktplätzen soll in den Rathäusern entschieden werden, nicht in Brüssel. Aber natürlich brauchen wir gerade bei den Fragen der Außen-, der Sicherheits- und der Verteidigungspolitik mehr Europa. Das ist doch ein ganz klarer Punkt, der deutlich wird, wenn man sich die aktuelle Lage in der Welt anschaut. Ich will nur Stichworte nennen: Handelsschwierigkeiten mit China, mit den USA, die Syrien-Krise, die vielen Konflikte in Afrika und anderen Regionen in dieser Welt. Da kann doch keiner ernsthaft glauben, dass wir als Deutsche mit 80 Millionen Einwohnern und als Land, das sich einmauert, eine entscheidende Rolle spielen können. Das werden wir nur als geeinte Europäer tun können, wenn wir mit der Kraft der gesamten Europäischen Union auftreten und wenn wir damit auch nicht das Feld den USA, den Chinesen, den Russen oder anderen Mächten in dieser Welt überlassen. ({2}) Damit sind auch weitere entscheidende Fragen verbunden, die wir uns hier als Deutscher Bundestag stellen müssen: Wollen wir europäische Werte in andere Teile der Welt exportieren? Wollen wir uns dafür einsetzen, dass europäische Werte in der Welt stärker verankert werden, oder wollen wir das nicht? Wir als CDU/CSU-Fraktion wollen das. Wir wollen, dass Menschenrechte, dass Demokratie, dass Rechtsstaatlichkeit, dass soziale Marktwirtschaft weiter Auftrieb bekommen und sich in der Welt ausbreiten. Denn das wird am Ende Frieden und – das ist meine feste Überzeugung – auch eine Verbesserung in vielen Regionen dieser Welt bedeuten. ({3}) Deswegen ist eine gemeinsame europäische Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik nicht nur im Interesse der Europäischen Union und unserer europäischen Nachbarn, sondern es ist vor allem auch im Interesse Deutschlands. Deswegen werden wir uns als CDU/CSU-Fraktion genau für diesen Weg einsetzen und natürlich auch Ihren Antrag ablehnen. Herzlichen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Ploß. – Damit schließe ich die Aussprache.

Daniela Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004079, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Denn die einen sind im DunklenUnd die anderen sind im Licht.Und man siehet die im LichteDie im Dunkeln sieht man nicht. Das sind die letzten Zeilen der „Dreigroschenoper“ von Bertolt Brecht, in den 20er-Jahren uraufgeführt. Diese Aussage trifft leider auch heute noch auf Menschen zu, zumindest bezogen auf Wohnungslose; denn wenn wir über wohnungslose Menschen reden, dann liegt noch vieles im Dunkeln. Wie viele Menschen sind überhaupt davon betroffen, dass sie über keinen Wohnraum verfügen? Wie viele befinden sich in dieser überaus schwierigen Situation, sowohl finanziell als auch sozial als auch menschlich? Wie viele leben auf der Straße, wie viele in Einrichtungen? Wie viele Couch-Surferinnen und Couch-Surfer gibt es? Das ist ein beschönigender Begriff für Menschen, die zwar keinen eigenen Wohnraum haben, aber von Couch zu Couch, von Freunden zu Bekannten, zu Familienangehörigen wechseln. Wie viele Männer sind betroffen, wie viele Frauen, wie viele Kinder, wie viele kleine Kinder, wie viele Heranwachsende? Wie leben diese Menschen? Bisher sind wir auf Schätzungen der BAG Wohnungslosenhilfe angewiesen, denen ich an dieser Stelle einen herzlichen Dank aussprechen möchte für ihre Arbeit. ({0}) Sie kommt in einer Stichtagszahl für 2018 zu der Schätzung, dass etwa 542 000 Menschen von Wohnungslosigkeit betroffen sind in diesem reichen Land; 67 Prozent davon sind Männer, 25 Prozent Frauen und 8 Prozent Kinder. Eine aktuelle Studie des BMAS, die Kommunen und Träger dazu befragt hat, kommt für Mitte 2018 zu Schätzungszahlen zwischen 313 000 und 337 000. Fest steht also: Erstens wissen wir es nicht genau, und zweitens sind es viel zu viele. ({1}) Es ist für mich ein Armutszeugnis, dass es noch keine Statistik gibt. Ich finde es deshalb sehr gut, dass die Bundesregierung, nachdem das Problem im letzten Armuts- und Reichtumsbericht deutlich angesprochen worden ist, zunächst den Kontakt mit den Ländern gesucht hat und jetzt einen Gesetzentwurf vorlegt. Wir bringen mit diesem Gesetzentwurf ein wenig Licht ins Dunkel, nämlich in Bezug auf diejenigen Menschen, die wohnungslos sind und in Einrichtungen untergebracht sind bzw. diese zur Übernachtung in Anspruch nehmen. In einer Stichtagsregelung wird erfasst werden, wie viele Menschen in Deutschland davon betroffen sind. Klar ist auch: Der Gesetzentwurf wird zunächst noch vieles im Dunkeln lassen; aber ein Teil des Bildes wird uns klarer vor Augen treten und gibt uns eine gute Grundlage, zu bewerten, wie groß das Problem ist. ({2}) Eine jährliche Statistik würde sicherstellen, dass wir Entwicklungen früher sehen und natürlich, Herr Kollege, besser darauf reagieren könnten. Ich könnte mir noch eine ganze Menge mehr vorstellen, um Licht in das Dunkel zu bringen, nicht um die Leute ans Licht zu zerren, sondern um das Problem aufzuhellen, um es klarer zu sehen, etwa bezüglich der Menschen, die auf der Straße leben und Übernachtungseinrichtungen nicht in Anspruch nehmen, entweder weil sie es nicht wollen oder weil sie es nicht dürfen oder können. Was ist mit den Menschen, die von Wohnungslosigkeit bedroht sind? Was ist mit Menschen, die als Couch-Surfer keinen festen Wohnsitz haben und hier und dort Unterschlupf bekommen? Wenn es dazu keine guten statistischen Möglichkeiten gibt, um kurzfristig darauf zu regieren, dann gewinnt für mich die Begleitforschung noch einmal an großer Bedeutung; sie ist in § 8 des Gesetzentwurfs auch vorgesehen und würde dazu beitragen, das Bild deutlicher zu machen. ({3}) Ich freue mich auf die Anhörung und die Gesetzgebung. Es ist nur ein kleines Gesetz, aber ich hoffe, ein kleines Gesetz mit einer großen Wirkung, das dazu beiträgt, dass wir diese Gruppe deutlicher wahrnehmen und damit ihre Probleme ernster nehmen und sie auch angehen. Vielen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Daniela Kolbe. – Nächster Redner: Uwe Witt für die AfD-Fraktion. ({0})

Uwe Witt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004937, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste des Hohen Hauses! Die Vereinten Nationen haben bereits 1948 in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und 1966 im Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, dem UN-Sozialpakt, das Recht auf Wohnen als soziales Menschenrecht verankert. 1985 wurde der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte gegründet, der die Umsetzung des UN-Sozialpaktes überwachen soll. Er hat das Recht auf Wohnen auch inhaltlich genauer definiert und gesagt, dass Wohnraum nicht nur ausreichend zur Verfügung stehen muss, sondern auch, dass er bewohnbar, gesund, sicher und für jeden erschwinglich sein muss, ohne dass andere Grundbedürfnisse darunter leiden. Völkerrechtlich gesehen trägt der Staat die Hauptverantwortung für die Umsetzung dieses Menschenrechts. Trotzdem gibt es im Deutschland des Jahres 2019 Hunderttausende Wohnungslose, also Menschen, die über keinen mietvertraglich abgesicherten Wohnraum verfügen und etwa in Übergangswohnheimen und Notunterkünften leben oder vorübergehend, wie meine Vorrednerin schon sagte, bei Freunden unterkommen. Darunter sind leider auch Zehntausende Obdachlose, also Menschen, die tatsächlich auf der Straße leben und unter freiem Himmel übernachten müssen. Viele der Wohnungslosen sind Frauen, die nicht nur in Frauenhäusern leben, sondern sich vielfach in Abhängigkeitsverhältnisse begeben, um ein Dach über dem Kopf zu haben. In vielen Fällen von Wohnungslosigkeit sind leider auch Kinder betroffen. Aber um wie viele Menschen handelt es sich eigentlich, und welche Personengruppen sind betroffen? Das müsste man erst einmal wissen, um diesem unhaltbaren Zustand endlich durch geeignete Maßnahmen entgegenwirken zu können. ({0}) Genaue Daten dazu gibt es nicht; das hat die Regierung gerade erst in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage feststellen müssen. Hilfsweise stützt sich die Regierung auf Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe. Die im November veröffentlichten Zahlen zur Wohnungslosigkeit in Deutschland weisen einen Anstieg im Jahr 2018 von 4 Prozent auf 678 000 Personen auf. Noch 2010 wurde die Anzahl der Wohnungslosen auf 248 000 geschätzt. 52 000 Wohnungslose, liebe Kolleginnen und Kollegen, lebten schätzungsweise Ende 2018 allein in Berlin. Davon sind in etwa jedem vierten Fall auch Kinder betroffen, und jeder Fünfte ist nicht nur wohnungslos, sondern obdachlos. Bereits im November 2018 haben wir mit unserem Antrag auf Drucksache 19/6064 eine Zentralstatistik zur Erfassung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit gefordert. Wir begrüßen daher sehr, dass die Regierung, zwölf Monate nachdem wir unseren Antrag eingebracht hatten, jetzt einen Gesetzentwurf vorlegt. ({1}) Klar ist: Wir benötigen eine zentrale Statistik für die Erfassung von Wohnungslosen in Deutschland. Lassen Sie uns darum gemeinsam etwas beschließen, über das schon lange geredet und gestritten wird und das wirklich schon sehr lange überfällig ist. Es ist aber auch egal, wer letztendlich den ersten Antrag eingebracht hat. Wichtig ist, dass wir zeitnah ein verlässliches Zahlenwerk über Wohnungslosigkeit in Deutschland bekommen, das auch regelmäßig auf dem aktuellen Stand gehalten wird. Die AfD-Fraktion freut sich auf die Beratungen des Antrags im Ausschuss. Ich persönlich wünsche Ihnen allen ein frohes und gesegnetes Vorweihnachtsfest! Danke schön. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Uwe Witt. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Frank Heinrich. ({0})

Frank Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004054, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen ! Vor 28 Jahren hat ein ehemaliger Kollege von uns seine juristische Doktorarbeit geschrieben mit dem Titel: „Bürger ohne Obdach: zwischen Pflicht zur Unterkunft und Recht auf Wohnraum. Tradition und Perspektiven staatlicher Intervention zur Verhinderung und Beseitigung von Obdachlosigkeit“. Dr. Walter Steinmeier, unser heutiger Bundespräsident. ({0}) Er hat sich darin mit den strukturellen Notwendigkeiten beschäftigt. Ich habe ihn dann vor dreieinhalb Jahren einmal gefragt: Hat sich denn in der Betrachtung inzwischen etwas geändert? – Er hat den Kopf geschüttelt. Wahrscheinlich würde auch er sich freuen – ich hatte nicht die Gelegenheit, ihn zu fragen –, wenn wir jetzt ein bisschen tiefer graben. Er selber ist noch als Außenminister hin und wieder mit dem Kältebus der Stadtmission unter den Brücken unterwegs gewesen. Ich habe das früher beruflich gemacht, erst als Sozialarbeiter, später in der Heilsarmee, Kaffee und Tee in den kältesten Nächten verteilt, Menschen zu Weihnachten eingeladen, am Heiligabend, an dem man sich ganz besonders alleine fühlt. Man merkt auf einmal: Das sind mehr, als man – selbst mit beruflichem Hintergrund – dachte. Deshalb geht mein Dank auch an die Einrichtungen, die in diesem Bereich arbeiten. Ich bin dankbar, dass der Armuts- und Reichtumsbericht sich jetzt mit dem Thema der Wohnungslosigkeit verstärkt beschäftigt hat. Aber die Einschätzungen gehen – wir haben das gerade von Frau Kolbe gehört – gehörig auseinander. Wer ist betroffen? Welche Größenordnung hat das Problem? Es gibt keine belastbaren Zahlen auf Bundesebene. Das gilt auch für die meisten Bundesländer; nur drei haben eine kleine Zählung und Statistik begonnen. Der Armuts- und Reichtumsbericht basiert in diesem Bereich auf reinen Schätzungen. Wenn wir jetzt in das Dunkel hineinleuchten, bringt uns das vielleicht zum Handeln. So sieht es auch der Gesetzentwurf vor. Auf meinem kurzen Heimweg vom Bundestag zu meiner Wohnung komme ich immer an drei oder vier Schlafplätzen Wohnungsloser vorbei. Ein kleiner Umweg, den ich hin und wieder gehe, führt mich noch einmal an vier oder fünf Schlafplätzen vorbei. Die Wohnungslosen müssen wahrgenommen werden. Wir sind für sie mitverantwortlich, wie es mein Vorredner gesagt hat. Mir ist es wichtig, da Licht ins Dunkel zu bringen. Es braucht möglicherweise strukturelle Veränderungen, aber ohne eine fundierte Datenlage werden wir dem nicht gerecht. ({1}) Deshalb freue ich mich über den vorliegenden Gesetzentwurf. Es sollen valide Informationen als Grundlage beschafft, die Wissensbasis im Bereich von Wohnungslosigkeit vergrößert werden. Ich wünsche mir allerdings, dass wir noch mehr, als in diesem Entwurf steht, herausholen. Die Statistik ist sehr eingeschränkt. Es gibt drei oder vier Bereiche, über die wir tatsächlich noch nicht wissen, wie wir überhaupt untersuchen sollen. Wie können wir Zahlen aus Heimen, Anstalten, Asylunterkünften und Frauenhäusern evaluieren? Auch Selbstzahler in Billigpensionen, die gerade genannten Couch-Surfer oder Leute, die tatsächlich unter Brücken leben, müssten wir erfassen. Da müssen wir noch tiefer graben, und wir haben unter den Koalitionspartnern verabredet, dass wir die ergänzende Berichterstattung – § 8 dieses Gesetzentwurfes – noch präzisieren. Das freut mich. Ich möchte zum Abschluss auf die „Nacht der Solidarität“ hinweisen und diese ausdrücklich würdigen. In der Nacht vom 29. auf den 30. Januar, also in anderthalb Monaten, werden 3 700 Freiwillige jede Straße in Berlin ablaufen und Obdachlose zählen. Sie werden nicht alle finden. Wer mag, kann dann ein paar Angaben über sich machen. Wer nicht mag, wird einfach nur gezählt. Ich bin sehr gespannt auf das Ergebnis. Ich wünsche mir sogar, dass so eine Erhebung auf Bundesebene noch mehr Städte durchführen, ({2}) und zwar nicht, um den Einzelnen zu outen, sondern zur Sichtbarmachung, möglicherweise auch zur Alertisierung und Sensibilisierung, um dann vielleicht die eine oder andere Zahl auch nutzen zu können. Diese Woche hat der NABU – das hat mich ein bisschen schockiert – dazu aufgefordert, die Vögel in unserem Umfeld zu zählen, um daraus möglicherweise politische Ableitungen zu ziehen. Lasst uns doch gemeinsam einen Weg finden, diese Aufmerksamkeit auch wohnungslosen Menschen in Deutschland zuteilwerden zu lassen, um daraus dann, wenn nötig, konkrete Schritte ableiten zu können. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frank Heinrich. – Nächster Redner: Pascal Kober für die FDP-Fraktion. ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich kann das doch gar nicht sein, dass ausgerechnet wir in Deutschland keine genauen Kenntnisse über das Phänomen der Wohnungslosigkeit und der Obdachlosigkeit haben. ({0}) Eigentlich haben wir Statistiken über alles und jedes. Wir kennen alle Zahlen im Detail, aber ausgerechnet zu diesem bedrängenden Problem fehlen uns konkrete Daten. Deshalb ist es richtig und gut, dass endlich eine entsprechende Statistik auf den Weg gebracht wird. Es ist absolut notwendig, lieber Frank Heinrich, dass da noch eine ergänzende Forschung stattfinden wird und wir versuchen, das Problem zu begreifen und näher zu betrachten. Im vergangenen Jahr – das Beschämende ist, dass wir uns da allein auf Schätzungen von Wohlfahrtsverbänden verlassen müssen – sind zwölf Menschen erfroren, weil sie kein Obdach gefunden haben in den kalten Winternächten. Das ist für ein so reiches Land, wie Deutschland es ist, einfach nur beschämend. Da müssen wir Lösungen finden. Natürlich gibt es öffentliche Räume, wo wir nicht einfach zulassen können, dass alles und jedes stattfindet. Natürlich müssen wir auch an der einen oder anderen Stelle Menschen von Plätzen verweisen. Es kann aber nicht sein, dass wir die Menschen ins Nichts verweisen, sondern wir brauchen dann ein passgenaues Angebot. Wir brauchen Angebote, die auch zu den Menschen passen. ({1}) Mancher möchte nicht in eine Obdachlosenunterkunft, weil er seinen Hund nicht mitnehmen kann. Das ist so. Manche Obdachlosenunterkünfte nehmen Menschen nicht auf, wenn sie Drogen genommen haben. Aber die Konsequenz kann nicht sein, dass wir die Menschen dann sich selbst überlassen mit der Folge, dass der eine oder andere vielleicht auf tragische Weise erfriert. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir über Wohnungslosigkeit, über Obdachlosigkeit reden, dann müssen wir auch über eine verfehlte Baupolitik reden; denn es fehlen – so schätzt man – allein in den Zentren, in den großen Städten, 1 Million Wohnungen. Deshalb müssen wir natürlich auch bei der Baupolitik neue Wege gehen. Es kann doch nicht sein, dass Bauen immer teurer wird, und zwar auch deshalb, weil wir als Politik immer mehr Vorschriften erfinden, die die Kosten entsprechend in die Höhe treiben. ({2}) Von 1990 bis heute ist die Zahl der Bauvorschriften allein im Hochbau von 5 000 auf 20 000 angewachsen. Da müssen wir uns auch einmal fragen, ob wir eigentlich die richtigen Hebel in Bewegung setzen oder ob wir uns da nicht einmal entsprechend zusammenfinden sollten, um einen großen Schritt voranzugehen, wenn es um Möglichkeiten für den Bau neuer Wohnungen geht. Dazu gehört natürlich auch, dass die Mietpreisbremse der völlig falsche Weg ist; ({3}) denn sie verhindert, dass privates Kapital in den Wohnungsmarkt kommt. Das ist eine falsche Politik. Wir brauchen mehr Wohnungen und nicht die Verhinderung des Baus von mehr Wohnungen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Als Letztes möchte ich noch darauf hinweisen: Wir brauchen eine andere Sozialpolitik. ({5}) Wir brauchen eine Sozialpolitik, die passgenau für die Menschen ist, die die Menschen befähigt und stärkt, damit sie im Arbeitsmarkt Fuß fassen können und in persönlichen Krisen nicht aus der Bahn geworfen werden. Vielen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Pascal Kober. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Caren Lay. ({0})

Caren Lay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004088, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Aktuelle Schätzungen gehen davon aus, dass fast 700 000 Menschen ohne Wohnung sind, über 40 000 Menschen auf der Straße leben müssen. Jedes Jahr erfrieren Menschen draußen auf der Straße an kalten Tagen wie diesem. Das ist doch wirklich eine Schande für so ein reiches Land. ({0}) Das alles sind geschätzte Zahlen. Jetzt endlich soll die Zahl der Wohnungslosen statistisch erfasst werden. Das fordert Die Linke übrigens seit 13 Jahren. Meine Kollegin Frau Bluhm kann das bestätigen. 2006 haben wir zum ersten Mal an dieser Stelle einen Antrag zur statistischen Erfassung der Zahl der Wohnungslosen vorgelegt. So lange brauchten die Bundesregierungen, um das zu machen, was doch eigentlich selbstverständlich sein müsste, sich nämlich ein Überblick zu verschaffen über die Zahl der Wohnungslosen, damit gezielt etwas für sie getan werden kann. ({1}) Viele Verbände und auch wir kritisieren, dass Sie jetzt nur die Zahl der Wohnungslosen in den Unterkünften erfassen wollen. Damit bleiben die vielen Obdachlosen, die ja in den Unterkünften zum Teil nicht unterkommen können oder wollen, nicht erfasst, obwohl die Angebote doch gerade für sie passfähig gemacht werden müssten. Obdachlose, die auf der Straße schlafen, dürfen nicht vergessen werden. ({2}) Meine Damen und Herren, so eine Statistik kann natürlich nur der erste Schritt sein. Viel wichtiger ist es natürlich, etwas gegen das Problem zu tun. Deswegen haben wir hier schon mehrfach, auch in diesem Jahr, ein Konzept zur Bekämpfung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit vorgelegt. Dafür brauchen wir mehr Sozialwohnungen. Wir haben jedes Jahr ein Minus bei Sozialwohnungen. ({3}) Diese Koalition hat erst vor zwei Wochen die Gelder für Sozialwohnungen gekürzt. Das ist nun wirklich kein Grund, sich hier abzufeiern. ({4}) Auch beim Mieterschutz muss die Bundesregierung nachbessern. Wir brauchen einen besseren Kündigungsschutz und müssen endlich etwas gegen vorgetäuschte Eigenbedarfskündigungen tun. Das ist doch längst überfällig. ({5}) Zwangsräumungen in die Wohnungslosigkeit müssen endlich verboten werden. ({6}) Mietschulden sind der häufigste Grund für Überschuldung. Wer erst einmal einen schlechten Schufa-Eintrag hat, der findet in den Städten einfach keine Wohnung mehr. Und deswegen: Wer die Wohnungslosigkeit bekämpfen will, muss die Mietenexplosion stoppen. ({7}) Das heißt, es braucht endlich einen wirkungsvollen Mietendeckel. Ich bin sehr froh, dass das Land Berlin vorangeht und das tut, was die Bundesregierung hier seit vielen Jahren nicht auf die Reihe gebracht hat. ({8}) Immerhin bewirkt der Mietendeckel auch, dass Abgeordnete der Union, auch der FDP, sich gelbe Westen anziehen und hier am Brandenburger Tor zu einer Demo gehen – möglicherweise war es für viele das erste Mal im Leben - ({9}) und dann zusammen mit der Immobilienwirtschaft und bezahlten Mitarbeitern während der Dienstzeit die Zivilgesellschaft simulieren. Das kann nicht der richtige Weg sein. ({10})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Caren Lay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004088, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Meine Damen und Herren, wir brauchen einen echten Mietendeckel. Wir brauchen mehr Sozialwohnungen, und wir müssen endlich Zwangsräumungen verbieten. Das ist gut für alle, auch zur Bekämpfung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Caren Lay. – Nächster Redner: für Bündnis 90/Die Grünen Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn. ({0})

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat gestern seinen neuen Armutsbericht vorgelegt. Danach leben über 15 Prozent der Menschen in Deutschland in einem Haushalt mit einem Einkommen unter der Armutsgrenze. ({0}) 15 Prozent der Bevölkerung! Das sind 12 Millionen Menschen, 12 Millionen Menschen bei uns im Land. Auf diesem Rekordniveau befinden sich die Armutszahlen seit ungefähr zehn Jahren, und wir müssen endlich dafür sorgen, dass wir weniger Arme in Deutschland haben. ({1}) Wir haben uns sogar bei den SDGs dazu verpflichtet, bis 2030 die Zahl der Armen zu halbieren, und es wird Zeit, dass die Bundesregierung damit endlich loslegt. ({2}) In diesen Zahlen sind die Wohnungslosen noch gar nicht enthalten, weil sie sich auf Befragungen von privaten Haushalten beziehen, die eine Wohnung haben. Das heißt, die Hunderttausenden Wohnungslosen kommen da noch obendrauf, und am schlimmsten sind natürlich die dran, Zigtausende Menschen in Deutschland, die auf der Straße leben müssen. Das muss man sich vergegenwärtigen: Zigtausende Menschen leben in Deutschland auf der Straße. Das ist in der Tat beschämend und eine Schande. ({3}) Die Gesellschaft und die Politik schauen weitgehend weg. Wir verdrängen das Problem häufig. Damit muss Schluss sein. Eine Möglichkeit, das Problem öffentlich sichtbarer zu machen, ist eine amtliche Statistik. Deswegen fordern wir Grünen das schon seit Jahren, nein, seit Jahrzehnten. Der erste Antrag der Grünenbundestagsfraktion, den ich dazu gefunden habe, war von 1995. Wir haben das also schon vor über 20 Jahren gefordert und in den letzten Jahren immer wieder. Es ist wirklich interessant, dass es dazu keine Statistik gibt, wo wir doch alles statistisch erfassen. Aber interessanterweise haben wir keine Statistik über extremen Reichtum, und wir haben keine Statistik über extreme Armut. Beides müssen wir endlich offenlegen. ({4}) Insofern ist es gut, dass die Bundesregierung endlich – endlich nach so vielen Jahren – einen Gesetzentwurf vorlegt und wir einen ersten Schritt in die richtige Richtung gehen. Aber es ist nur ein erster Schritt; denn es werden nicht alle Gruppen erfasst. Es werden nur diejenigen erfasst, die öffentlich untergebracht worden sind. Die Couch-Surfer sind eben nicht mit dabei. Es sind auch die Leute, die bei Familienangehörigen, bei Verwandten unterkommen, nicht dabei, und es sind die, die auf der Straße leben, nicht statistisch erfasst. Okay, das ist schwierig. Aber ich glaube, unser Anspruch muss sein, wirklich alle Wohnungslosen statistisch zu erfassen, um eine gute Grundlage zu haben. ({5}) Wir müssen auch diejenigen erfassen, die von Wohnungslosigkeit bedroht sind, um präventiv agieren zu können. Das Wichtigste ist tatsächlich: Wir brauchen politische Maßnahmen. Der Bund darf nicht länger die Verantwortung von sich schieben und sagen: Dafür sind doch die Kommunen und Länder zuständig. ({6}) Nein, wir sind hier zuständig, wir als Parlament, die Regierung auch. Wir brauchen einen nationalen Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit, ({7}) gemeinsam mit den Länder und den Kommunen, damit Wohnungslosigkeit verhindert wird und niemand in Deutschland mehr auf der Straße leben muss. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn. – Nächster Rednerin: Ulli Nissen für die SPD-Fraktion. ({0})

Ulli Nissen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004363, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wohnungs- und obdachlos zu sein, muss furchtbar sein. Der Winter mit Kälte, Nässe und Wind macht es den Betroffenen noch schwerer. Fast jeden Abend im Winter, wenn ich nach Hause komme und mir die Heizung anmache, bin ich dankbar, wie gut es mir selbst geht. Das ist nicht selbstverständlich, liebe Kolleginnen und Kollegen. Bundesweit gibt es etwa 678 000 Wohnungslose. Circa 41 000 leben ganz auf der Straße. Wohnungslosigkeit gehört zu den schlimmsten Formen von Armut. Sie führt nicht nur zu sozialer Ausgrenzung, sondern bringt die betroffenen Menschen auch insgesamt in eine katastrophale Lage. In meinem Frankfurter Wahlkreis gibt es etwa 340 offizielle Schlafplätze für Obdachlose. Seit November ist wieder die B-Ebene einer U-Bahn-Station geöffnet. Vergangenes Jahr kamen dort bis zu 180 Menschen pro Nacht unter. Auch der Kältebus ist wieder unterwegs, um Menschen in Not zu helfen. Ich habe mir nahezu alle Einrichtungen angesehen und festgestellt, dass dort eine sehr gute Arbeit geleistet wird. Dafür möchte ich Danke sagen. ({0}) Wir müssen Wohnungslosigkeit mit allen geeigneten Maßnahmen bekämpfen. Bund, Länder und Kommunen sind hier gemeinsam gefordert. Bislang gab es keine verlässlichen Daten und Statistiken, wie viele Menschen tatsächlich von Wohnungslosigkeit betroffen sind. Der vorgelegte Gesetzentwurf sieht den Einstieg in eine bundesweite Statistik vor. Wir schaffen damit erstmals eine solide Datengrundlage. Mindestens alle zwei Jahre soll darüber berichtet werden. Eine aussagefähige Statistik soll dazu beitragen, um vor Ort passende Maßnahmen und Präventionsprogramme zur Vermeidung und Bewältigung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit auf den Weg zu bringen. Die Einführung einer Statistik kann nur ein erster Schritt sein, um weitere Maßnahmen zu veranlassen. Wir müssen und wollen bis 2030 die SGDs, die Nachhaltigkeitsziele, erreichen. Dazu gehört auch das Ziel, alle Menschen mit Wohnraum zu versorgen. Wir brauchen mehr bezahlbaren Wohnraum. Auf dem Wohngipfel wurde dafür ein gutes Maßnahmenpaket beschlossen, unter anderem investive Impulse für den Wohnungsbau und die Sicherung der Bezahlbarkeit des Wohnens. Viele Maßnahmen sind inzwischen umgesetzt oder auf dem Weg wie zum Beispiel die Verlängerung und Verschärfung der Mietpreisbremse oder die Absenkung und Deckelung der Modernisierungsumlage. Gut sind auch die Maßnahmen, die die SPD-Bundestagsfraktion in ihrem Positionspapier zur Wohnungspolitik fordert. Wir wollen den Bau von jährlich mindestens 100 000 Sozialwohnungen. Auch Verbesserungen beim Kündigungsschutz sind dringend notwendig; denn Wohnungsverlust steht oft am Ende einer Verkettung vielfacher Problemlagen. Mietschulden gehören zu den wichtigsten Auslösern. Die SPD fordert die Heilung der fristlosen und ordentlichen Kündigung, wenn der Mieter seine rückständige Miete zahlt. Dies wollen auch die Sozialverbände. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns gemeinsam alles tun, um möglichst alle Menschen aus der Obdachlosigkeit zu holen. Noch besser ist, wenn sie erst gar nicht ihre Wohnung und damit ihr Zuhause verlieren. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Ulli Nissen. – Nächster Redner: Kai Whittaker für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Kai Whittaker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004443, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kollegen! In der Tat: Es ist ein bedrückendes Thema, das hinter diesem Gesetz steht. Ich glaube, jeder von uns kann da seine Beobachtungen schildern. Wenn man mit offenen Augen durch unsere Städte und Gemeinden geht, dann sieht man Menschen, die keine Wohnung haben. Allein wenn ich mit der U-Bahn hierherfahre, sehe ich mindestens drei: einen am Bahnhof, wo ich einsteige, einen in der U-Bahn selber und einen an dem Bahnhof, wo ich wieder aussteige. Wir haben Verantwortung für diese Menschen zu übernehmen. Das bedeutet aber auch, dass man nicht nur verantwortlich mit der Statistik und mit den Zahlen, die wir jetzt erheben wollen, sowie dem Ergebnis umgeht, sondern auch mit den Menschen dahinter. Insofern tue ich mich schon schwer mit dem, was ich hier zum Teil gehört habe. Wir werden es Ihnen als Linke nicht durchgehen lassen, dass Sie dieses Thema missbrauchen, ({0}) um eine immer schrillere Tonlage in diesem Land zu etablieren nach dem Motto „Es gibt immer mehr Menschen, die verelenden“. Gleichzeitig, Herr Witt, nehme ich es Ihnen nicht ab, wenn Sie sich hier so lammfromm hinstellen. Sie nutzen diese Obdachlosenthematik für fremdenfeindliche Debatten, indem Sie sagen: Schaut hin, die Deutschen müssen verhungern, aber die Flüchtlinge werden fürstlich in Asylbewerberheimen untergebracht. – Das ist schon eine Tonalität, die Sie im Zusammenhang mit dieser Statistik in dieses Land hier tragen, die wir Ihnen nicht durchgehen lassen. Wir sind für faktenbasierte Diskussion und nicht für eine faktenfreie Debatte. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]Turnusende Gleichzeitig müssen wir nicht nur fragen, wie viele es sind, sondern auch, warum sie obdachlos oder wohnungslos geworden sind, ({1}) also welcher Lebensweg dahinter steht, was die Ursachen waren. Darum geht es. (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Wer regiert denn hier seit Generationen? Denn wenn wir Obdachlosigkeit vermeiden wollen, dann müssen wir alles dafür tun, dass sie dort gar nicht erst hinkommen. Dafür müssen wir das Verständnis haben, wo wir im Vorfeld ansetzen können. Ich bin der Kollegin Nissen als Mitglied des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung dankbar, dass sie die SDGs angesprochen hat. ({2}) Wir müssen drei Ziele ganz klar in den Blick nehmen: nicht nur die Armutsbekämpfung und die Bekämpfung der Ungleichheit, sondern auch das Ziel, lebenswerte Städte zu haben. Daraus ergibt sich die zweite Aufgabe. Man hat es hier schon gemerkt: Die Statistik an sich anzuführen, ist nicht der große politische Streit zwischen den Fraktionen. Aber der politische Streit wird um die Frage gehen, welches Ergebnis daraus gezogen werden kann, was zu tun ist. Es kann nicht sein, dass am Ende alle auf den Bund zeigen und sagen: Das sind deine Obdachlosen, kümmere dich, Bund! – Es wird eine gemeinsame Kraftanstrengung ({3}) von Städten, Ländern und Bund sein, dieses Problem zu beheben. ({4}) Da kann ich Sie, Frau Lay von den Linken, nur ermuntern, es zu tun. ({5}) Wir haben als Bundesregierung in dieser Legislaturperiode 2 Milliarden Euro für den sozialen Wohnungsbau zur Verfügung gestellt. ({6}) Sie tragen in einem Bundesland mit einem Ministerpräsidenten Regierungsverantwortung. Sie tragen in weiteren Bundesländern Regierungsverantwortung mit. Dann tun Sie es auch. Bauen Sie soziale Wohnungen, ({7}) damit Menschen nicht auf der Straße leben müssen. ({8}) Wissen Sie, wenn Sie den Mietendeckel preisen, dann verstehe ich die Argumentation dahinter nicht. Ich selbst und wahrscheinlich viele Kollegen in diesem Haus bewohnen hier in Berlin in der Sitzungswoche eine kleine Ein- oder Zweizimmerwohnung, wahrscheinlich relativ nah am Bundestag, also mitten in der besten Wohnlage. Ich habe das einmal für meine Wohnung ausgerechnet. Wir alle bekommen 10 500 Euro im Monat auf unser Konto überwiesen. Wir gehören zu den Spitzenverdienern in diesem Land. Aber ich kann dank Ihres Mietendeckels meine Miete in Zukunft um die Hälfte reduzieren, während diejenigen, die in Marzahn von Hartz IV leben, durch Ihren Mietendeckel ihre Miete wahrscheinlich nicht senken können. ({9}) Deshalb verstehe ich nicht, warum ein Mietendeckel dazu führen soll, dass Obdachlose in diesem Land eine Wohnung bekommen sollten. Das ist ein falsches Argument. ({10})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Kai Whittaker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004443, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Deshalb lade ich Sie ein: Stimmen Sie dafür, dass wir diese Statistik einführen, und dann streiten wir darüber, wie wir mit den Obdachlosen und Wohnungslosen umgehen. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Whittaker. – Als nächster und letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort der Kollege Peter Aumer, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Peter Aumer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004004, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Mit dem Gesetz zur Einführung einer Wohnungslosenberichterstattung schaffen wir Transparenz. Wir nehmen die Menschen in den Fokus, die in unserem Land unserer Achtsamkeit bedürfen. Es geht um Menschen, die oft aus sehr komplexen Gründen, wie Trennung, Gewalterfahrung, Krankheit oder einer unerwarteten Kündigung, in einen Teufelskreis abrutschen und sich letztlich nicht nur ohne Job, sondern auch ohne Wohnung wiederfinden. Zu diesen Schicksalsschlägen, die jeden unvermittelt treffen können, kommen oft Hilflosigkeit und Resignation. Wir schaffen mit diesem Gesetz Transparenz und dadurch auch eine Basis für sozialpolitische Entscheidungen, die nicht nur für den Bund, sondern auch für die Länder und Kommunen von Bedeutung sein werden. Hier muss jeder, meine sehr geehrten Damen und Herren, seine Hausaufgaben machen: sowohl der Bund als auch die Länder und die Kommunen. Wir müssen auch ehrlich sein: Obdachlosigkeit kann am besten vor Ort, in den Kommunen, bekämpft werden, und dort können passgenaue Lösungen gefunden werden. Nicht nur die Gründe der Wohnungslosigkeit sind komplex, sondern auch die Formen der Wohnungslosigkeit. Wohnungslos sind Menschen in Heimen, Anstalten, Frauenhäusern. Wohnungslos sind aber auch Menschen, die bei Freunden oder Bekannten untergekommen sind, bis hin zu den Menschen, die auf der Straße leben. Die Zahlen gehen weit auseinander. Wir haben in den Reden gehört: Aktuelle Schätzungen reichen von 620 000 bis zu 1,1 Millionen Wohnungslose in diesem Land. Davon leben 48 000 Menschen ohne Unterkunft auf der Straße. Das Deutsche Jugendinstitut sagt: Allein 37 000 Jugendliche und junge Erwachsene leben auf der Straße. Das, meine sehr geehrten Damen und Herren, sind alarmierende Zahlen. Wir müssen schauen, ob diese Zahlen durch die Statistik bestätigt werden. Es wird für uns sicher ein Erkenntnisgewinn sein, wenn Umfang und Form von Obdachlosigkeit durch diese statistischen Zahlen sichtbar gemacht werden, noch sichtbarer als die Menschen, die wir heute auf der Straße sehen und erleben. Das, meine Damen und Herren, bedeutet, dass Taten folgen müssen. Wir können uns darüber unterhalten, welche Taten es sein müssen; denn gerade für obdachlose Menschen, die auf der Straße leben, muss unsere Gesellschaft Verantwortung übernehmen. In meinem Wahlkreis gibt es beispielsweise eine Einrichtung, die sich sehr stark um obdachlose Menschen ehrenamtlich kümmert. Sie heißt Strohhalm. Dort bin ich jedes Jahr Weihnachten, um ein kleinbisschen dabei zu sein und die Arbeit der Ehrenamtlichen wertzuschätzen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, Achtsamkeit für wohnungslose Menschen ist Aufgabe verlässlicher Politik. Sie schafft gesellschaftlichen Zusammenhalt und Vertrauen in einer zunehmend individualisierten Gesellschaft. Herzlichen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Aumer. – Damit schließe ich die Aussprache.

Zaklin Nastic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004837, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Anbetracht des globalen Unfriedens mit 70 Millionen Menschen auf der Flucht, mit über 200 Kriegs- und Krisengebieten weltweit und gleichzeitig steigenden Militärausgaben, die sich mit 1 822 Milliarden Euro auf dem Höchststand seit 1988 befinden, ist es höchste Zeit für ein Recht: für das Menschenrecht auf Frieden. ({0}) Am 19. Dezember 2016 haben die Vereinten Nationen eine Resolution zum Menschenrecht auf Frieden gefasst. Darin heißt es: Jeder hat das Recht auf den Genuss von Frieden unter Bedingungen, in denen alle Menschenrechte gefördert und geschützt werden … Die Lehren aus zwei Weltkriegen müssten doch endlich sein: Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen. ({1}) Doch davon sind wir Welten entfernt. Durchschnittlich jede zweite Sitzungswoche wird in diesem Hause ein Kriegseinsatz beschlossen. Deutschland ist viertgrößter Rüstungsexporteuer und macht sich damit mitschuldig an Menschenrechtsbrüchen in anderen Staaten, zum Beispiel mit den Rüstungsexporten an Saudi-Arabien, mit denen dann die Menschen im Jemen hingemetzelt werden. Während Sie sich hier über den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der Türkei gegen die Kurden im Norden Syriens beschweren, rüsten Sie den Kriegsverbrecher Erdogan weiter mit Waffen aus. Allein seit Beginn der Militäroffensive im Oktober haben Sie weiter Rüstungsexporte im Wert von 3,1 Millionen Euro an die Türkei genehmigt. Scheinheiligkeit – dein Name ist Bundesregierung. ({2}) Die leisen Arten der Kriegsführung sind genauso verbrecherisch und mörderisch. Das sind zum Beispiel die Wirtschaftskriege. Die Massenvernichtungswaffe Sanktionen hat allein im Irak über 1,7 Millionen Menschen das Leben gekostet, darunter über eine halbe Million Kinder. Wir Linken protestieren entschieden gegen dieses Massenvernichtungswerkzeug Sanktionen. Wer es wirklich ernst meint mit dem Menschenrecht auf Frieden, der muss auch klar sagen: Hunger als Waffe darf niemals Mittel der Politik sein. ({3}) Nicht zuletzt möchten wir auf eines hinweisen: Gerade im Zeitalter der digitalen Netzwerke, in der eine Schlagzeile binnen Sekunden um die Welt geht, gehören Journalisten und Whistleblower wie Julian Assange, die Kriegsverbrechen aufdecken, nicht verfolgt, kriminalisiert und eingesperrt, sondern diejenigen, die diese Verbrechen vorbereiten und in Auftrag geben. ({4}) Setzen Sie sich endlich gegen den Krieg gegen den investigativen Journalismus ein. ({5}) Auch die Staatsmacht darf nicht unüberwacht bleiben. Unterstützen Sie den Appell, den Sie alle als Bundestagsabgeordnete bekommen haben. Schützen Sie das Leben von Julian Assange. Das Leben von Julian Assange und seine Freiheit ist auch unser aller Freiheit. ({6}) Deutschland hat beschämenderweise vor den Vereinten Nationen gegen das Menschenrecht auf Frieden gestimmt. Es wird höchste Zeit, dass Sie sich dafür einsetzen. Hören Sie auf die Kirchenvertreterinnen und ‑vertreter, die Sie aktuell dazu aufrufen, dass internationale Verantwortung Deutschlands nicht militärischer, sondern endlich friedenspolitischer Art sein muss. ({7}) Frieden ist viel mehr als die Abwesenheit von Krieg. Frieden heißt, den Krieg öffentlich zu ächten und zu brandmarken und abrüsten, abrüsten, abrüsten sowie – um es mit den Worten des großen Humanisten Bertolt Brecht zu sagen – denen die Hände zu zerschlagen, die mit Massenmord auch noch ihre dreckigen Profite machen. ({8}) Das Menschenrecht auf Frieden aus der Resolution der Vereinten Nationen ist die Grundbedingung aller Menschenrechte. Es bleibt nicht nur ein wunderschöner Traum. Wenn wir alle zusammen dafür kämpfen, dann kann er irgendwann auch wahr werden. Vielen Dank. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Nastic. – Nächster Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Norbert Altenkamp. ({0})

Norbert Maria Altenkamp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frieden erscheint für die allermeisten von uns als eine Selbstverständlichkeit. ({0}) Seit mehr als 74 Jahren herrscht bei uns Frieden. Was bei uns als Normalzustand und Selbstverständlichkeit wahrgenommen wird, ist aber in vielen Teilen der Welt eine Sehnsucht. In Syrien, Jemen, der Ukraine, Kolumbien, Kamerun und vielen anderen Regionen spielen sich erschütternde Szenen ab. Die Liste der betroffenen Länder ist lang. Deshalb ist der Wunsch der Menschen nach Frieden gerade in heutigen Zeiten aktueller denn je. Hinzu kommt: Frieden und Menschenrechte sind eng miteinander verknüpft. Die Einhaltung der Menschenrechte ist eine wichtige Voraussetzung für den Frieden. Krieg geht immer mit Menschenrechtsverletzungen einher. Ich persönlich, und ich denke, wir alle, wünschen uns Frieden in der ganzen Welt. Ich verstehe deshalb im Prinzip auch die Forderung der Linken, ein Menschenrecht auf Frieden durchzusetzen. Doch bei der Durchsetzung dieser Ziele setzen wir auf Realismus und nicht auf weltfremde Forderungen. ({1}) Daher werden wir heute Ihrem Antrag nicht zustimmen. „Warum nicht“, werden Sie fragen, „wenn wir doch alle für den Frieden sind?“ Weil wir Ihre Forderungen im Antrag für überzogen, für nicht zielführend und sogar kontraproduktiv halten. Erstens. Sie sprechen sich zum wiederholten Male gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr aus. Dabei dienen gerade diese Einsätze, die im Rahmen internationaler Mandate, meist von UN-Mandaten, stattfinden, dazu, den Frieden in Regionen wie Mali, Südsudan, Afghanistan und anderen Krisengebieten zu sichern. Es sind im Kern Friedensmissionen. Jeder andere Vorwurf ist absurd. ({2}) Zweitens. Sie fordern ebenfalls erneut den Stopp aller deutschen Rüstungsexporte. Auch an alle unsere NATO-Partner? ({3}) Das passt zwar zu Ihrer Einstellung gegenüber der NATO, ist aber ebenso absurd. Die NATO ist aus unserer Sicht ein unverzichtbarer Faktor zur Friedenssicherung, den wir weiter stärken müssen. ({4}) Deshalb erhöhen wir 2020 und in den Folgejahren mit gutem Grund unsere Verteidigungsausgaben: um Friedensicherung überhaupt erst zu ermöglichen. Dass wir bei Waffenexporten differenzieren, zeigt auch das abgestimmte europäische Rüstungsmoratorium gegen unseren NATO-Partner Türkei. Der Rüstungsexportstopp Deutschlands für Saudi-Arabien wurde aus bekannten Gründen bis zum 31. März 2020 verlängert. Drittens – das ist aus meiner Sicht das wichtigste Argument –: Ein Menschenrecht auf Frieden könnte im Gegenteil sogar den Einsatz für den Frieden schwächen. Sie beziehen sich auf die UN-Resolution zum Recht auf Frieden von 2016. Unterschrieben haben unter anderem die üblichen Verdächtigen wie Nordkorea und Syrien, die wegen Menschenrechtsverletzungen auf der Anklagebank sitzen. ({5}) Diese verstehen diese UN-Resolution nicht als Menschenrecht auf Frieden, sondern als ein Recht auf Nichteinmischen. Eine Politik des Nichteinmischens ist jedoch nach meiner tiefen Überzeugung nicht verantwortbar in einer globalisierten Welt. ({6}) Man würde es den Potentaten und Extremisten dieser Welt ermöglichen, in Ruhe Menschenrechtsverletzungen zu begehen und ganze Regionen zu destabilisieren. Sähe die Welt besser aus, wenn wir untätig wegschauen? Ich glaube, nicht. ({7}) Wer sich Frieden und Freiheit für alle Menschen wünscht, darf nicht nur symbolhafte Politik machen, sondern muss auch glaubhaft in der Lage sein, robust einzugreifen, wenn ein Staat nicht willens oder in der Lage ist, die eigene Bevölkerung zu schützen, oder gar seine Nachbarn bedroht. ({8}) Genau dieses so wichtige Prinzip der Schutzverantwortung gemäß der UN-Charta würde ausgehebelt, wenn das Menschenrecht auf Frieden als ein Recht auf Nichteinmischung verstanden wird. Viertens. Ein explizites Menschenrecht auf Frieden ist aus unserer Sicht überhaupt nicht notwendig, um den Frieden zu sichern. Wir haben bereits viel bessere, konkretere und komplexere Vereinbarungen und Mechanismen, um den Frieden zu fördern. Zum einen gibt es die gemeinsamen internationalen Verpflichtungen zur Förderung des Friedens. Ich nenne hier nur: das humanitäre Völkerrecht, den Artikel 2 der UN-Charta, der das völkerrechtliche Gewaltverbot enthält, und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, aus der man auch das Recht auf Frieden ableiten kann, besonders aus der Präambel und den Artikeln 3 und 28. Zum anderen begrüße ich sehr, dass die Bundesregierung 2017 die neuen Leitlinien „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“ verabschiedet hat. Das ist die richtige Antwort für den Umgang mit der leider immer mehr zunehmenden Anzahl an Krisen, bewaffneten Konflikten und zerfallenden Staatlichkeiten weltweit. Ebenso wichtig: Realistisch bleiben und sich durch Rückschläge nicht entmutigen lassen. Ich komme zum Schluss. Das Ziel, gemeinsam für den weltweiten Frieden zu kämpfen, ist mir persönlich – und ich denke, für uns alle – wichtig. Wir alle bekennen uns zu Frieden und Menschenrechten. Ich bin jedoch überzeugt: Ein explizites Menschenrecht auf Frieden bringt keinen Mehrwert und kann den Menschen nicht wirklich helfen; denn zum einen gibt es derzeit keine konsensfähige allgemeine Definition von Frieden, und zum anderen ist unklar, welche rechtlichen Verpflichtungen sich daraus ergeben, wie es durchgesetzt werden könnte und wer für die Durchsetzung überhaupt verantwortlich sein kann. Ein Menschenrecht auf Frieden hätte deshalb reinen Symbolcharakter und wäre nichts weiter als ein pathetisches Lippenbekenntnis zur Beruhigung des Gewissens. Wer Frieden und Menschenrechte verteidigen will, darf nicht nur den Mund spitzen, der muss auch pfeifen können. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Altenkamp. – Als nächster Redner hat für die AfD-Fraktion der Kollege Jürgen Braun das Wort. ({0})

Jürgen Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004680, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute ist der 13. Dezember. ({0}) Am 13. Dezember 1981 hat General Jaruzelski im kommunistischen Polen das Kriegsrecht ausgerufen. Ich frage mich, ob den Linken bewusst ist, dass Sie den Antrag zum Thema „Menschenrecht auf Frieden“ ausgerechnet heute stellen. Ich habe nicht erkannt, dass Sie begriffen haben, dass heute dieses Datum ist, und ich habe auch vieles andere bei Ihnen nicht begriffen. ({1}) Der Wunsch nach Frieden ist eine tiefe Sehnsucht des Menschen. In einem Land, in dem die Menschenrechte eingehalten werden, herrscht Frieden. Menschenrechte, das sind vor allem die klassischen bürgerlichen und politischen Freiheitsrechte. ({2}) Dazu gehört das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, dazu gehört die Meinungsfreiheit. Das renommierte Allensbach-Institut veröffentlichte in diesem Jahr eine Umfrage zur Meinungsfreiheit. Der Tenor: Der Raum für die Meinungsfreiheit wird kleiner, so sieht es eine Mehrheit der Bürger; denn mehr Themen werden zu Tabuzonen, so Allensbach. Annähernd zwei Drittel der Bürger sind davon überzeugt, dass man heute sehr aufpassen müsse, zu welchen Themen man sich wie äußert. Nur links-grüne Meinungen in einem engen totalitären Korsett gelten als akzeptabel und zulässig, alles andere wird als Hass und Hetze diffamiert. ({3}) 71 Prozent der Menschen haben zum Beispiel das Gefühl, dass sie ihre wahre Meinung zur Flüchtlingsfrage nicht sagen dürfen – 71 Prozent! ({4}) Ein Klima der Angst, in dem keiner sagt, was er meint, ist Totalitarismus, das ist vor allem auch Sozialismus, das ist DDR 2.0. ({5}) Das ist es, was Die Linke will. Hass und Hetze nennen Sie alles, was nicht totalitär, was nicht links-grün ist. ({6}) Hass und Hetze, das sind Begriffe aus dem Wörterbuch der Diktatur, ({7}) aus dem Wörterbuch des Undemokraten. ({8}) Die Linke möchte in kommunistischer Tradition Frieden als Menschenrecht festschreiben lassen. ({9}) Aber dieses scheinbare Recht ist Fake Law. Was Die Linke in Wirklichkeit will, ist Friedhofsruhe – eine Friedhofsruhe, wie sie das typische Kennzeichen eines kommunistischen Staates immer gewesen ist. ({10}) Und dann die Waffenexporte. Die Linken und ihre Genossen von den Grünen erwecken mal wieder den Eindruck, ohne deutsche Waffenexporte sei die Welt ein Paradies. Sie machen die Augen zu, denken sich die deutschen Waffen weg, und schon lebt die ganze Welt in Frieden. Geht es eigentlich noch dümmer? ({11}) Sie von der Linken träumen offenbar wirklich von einer DDR 2.0. Sie möchten Ihre totalitäre SED-Zeit zurück. ({12}) Als Sie sich noch SED nannten, haben Sie Krieg gegen das eigene deutsche Volk geführt. Sie haben Ihre Landsleute erschießen lassen – an der Mauer und an der innerdeutschen Grenze –, und Sie führen heute noch Krieg gegen Andersdenkende. ({13}) Sie haben es zu verantworten, dass Hubertus Knabe entlassen wurde, der Mann, der wie kein anderer über das SED-Unrecht informiert hat. ({14}) – Die Wahrheit können Sie nicht ertragen. Ja, das ist das Typische bei den Linken: Die Wahrheit können Sie nicht ertragen. ({15}) Und das Kanzleramt macht als Helfershelfer mit, Frau Grütters vorneweg. Frieden entsteht, wenn die Bürger Rechte haben, wenn sie frei sind. Ihr Antrag dagegen ist der Versuch, erfundenes Recht zu schaffen, Fake Law. Die Linke sagt Frieden, und sie meint Krieg – Krieg gegen das eigene Volk. ({16})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächste Rednerin hat für die SPD-Fraktion die Kollegin Aydan Özoğuz das Wort. ({0})

Aydan Özoğuz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004124, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir bekommen gerade schon einen kleinen Eindruck davon, was uns in den Ausschüssen erwartet, welche Auseinandersetzungen wir führen werden. Ich versuche es mit ein bisschen Ruhe. Wer würde sich nicht das Recht auf Frieden wünschen? Das sollte hier hoffentlich alle einen. Ich bin aber dennoch über diesen Antrag etwas erstaunt. So wie ich ihn lese, stellen Sie sich das so vor: Wir beschließen heute ein Recht auf Frieden, und dann leben alle friedlich zusammen, weil sie sich irgendwie besinnen. Ich glaube, das wird nicht funktionieren. Die Reden vorhin haben es vielleicht gezeigt. Wir haben sowohl im Deutschen Bundestag wie auch in manchen Landesparlamenten Leute, die über Frieden und Sicherheit reden, sie meinen aber damit zum Beispiel, dass man andere attackiert, ganze Gruppen ausgrenzt und Ähnliches. Die Definition von Frieden ist noch nicht ganz einheitlich. ({0}) Die Grundlage dafür – da stimme ich zu – ist eine freie Gesellschaft, in der Mehrheiten Minderheiten achten, in der nicht sofort zu Waffen gegriffen wird, wenn Macht verteilt oder umverteilt wird, und in der nicht von außen geregelt werden soll, wer in einem Land regiert. Da sind wir uns wahrscheinlich einig: Das ist noch nicht überall gegeben. Frieden als sicherer Rahmen ist zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für den Genuss der Menschenrechte. Zu diesem Schluss kommt auch der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages in einer Ausarbeitung vom Februar dieses Jahres. Es existiert bereits ein völkerrechtliches Gewaltverbot, und es gibt bestehende Verpflichtungen aus dem humanitären Völkerrecht. Vor diesem Hintergrund stellt der Wissenschaftliche Dienst den Mehrwert eines zusätzlich formulierten „menschenrechtlichen Zugangs zum Frieden“ infrage. Sie schreiben zum Beispiel in Ihrem Antrag, dass eine von Kuba initiierte Resolution im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen ein solches Menschenrecht auf Frieden gefordert hat, und Sie schreiben dann, dass Deutschland diese Resolution abgelehnt hat. Was Sie nicht schreiben, ist, dass wir dies gemeinsam mit allen Nachbarn der Europäischen Union getan haben. ({1}) Das heißt nun wahrlich nicht, wie Sie es unterstellen, dass man sich keinen Frieden wünschen würde. Stattdessen geht es darum, wie man ein solches Menschenrecht dann als Gesetz definieren und auch umsetzen kann. Da gibt es erhebliche Zweifel, dass das nur mit einem solchen Gesetz ginge. Für die meisten klingt Frieden gut – ich sage das immer wieder –, aber Sie wissen sehr genau, dass wir rechtlich mit einem solchen Antrag keinen Schritt weiter kämen. Sie fassen ja selbst den Begriff sehr weit. Ich habe mir das genau angeguckt. Sie sprechen über alle Arten, ob politisch, strukturell, wirtschaftlich oder kulturell, ({2}) und dann lassen Sie völlig offen, wer genau damit verbundene Rechte und Pflichten innehaben würde und wie dieses Recht durchzusetzen wäre. Ich fürchte, dass man den Menschen, die tagtäglich unter schlimmen Menschenrechtsverletzungen leiden – wir haben diese Woche schon darüber gesprochen –, nicht gerecht wird, wenn man ihr Wohl an einem symbolischen Rechtsanspruch oder Begriff festmacht. Menschenrechte und Frieden müssen zunächst einmal durch beherztes Handeln, Kooperation und aktive Schutzmaßnahmen behütet werden. Und da muss ich schon sagen: Schwarz-Weiß-Bilder helfen nicht weiter, schon gar nicht, wenn man fordert, dass alle Bundeswehrsoldatinnen und ‑soldaten aus dem Ausland zurückgeholt werden sollen. ({3}) Die Vorstellung, dass es dann plötzlich überall Frieden gäbe, ist in meinen Augen echte Realitätsverweigerung. ({4}) Warum besuchen mich wöchentlich Afghaninnen und Afghanen, die uns ständig bitten, dass wir nicht einfach so und sofort von dort abziehen und sie dort alleinlassen sollen? ({5}) – Ich habe so viele Frauenorganisationen bei mir gehabt, die völlig aufgeschreckt sind von den Ankündigungen der Amerikaner. ({6}) Ich weiß nicht, ob Sie es mitbekommen haben, aber unsere Bundeswehr ist zurzeit in keinem einzigen Kampfeinsatz im Ausland. ({7}) Unsere Soldatinnen und Soldaten machen einen schwierigen Job. Vorgestern wurden in Niger 71 Soldaten von Militanten getötet. ({8}) Was passiert eigentlich, wenn wir diesen friedenssichernden Einsatz der Vereinten Nationen MINUSMA beenden? Was passiert in Mali? Was wäre im Jemen mit einem Mandat der Vereinten Nationen möglich? Wir wissen doch, in welch einer unglaublich katastrophalen Lage die Menschen dort sind. ({9}) Ich finde Ihre Unterstellung gegenüber unseren Soldatinnen und Soldaten respektlos. Das möchte ich an dieser Stelle deutlich sagen. ({10}) Wichtig ist, dass wir eine Parlamentsarmee haben und dass jeder Einsatz hier ausführlich besprochen und beschlossen wird. ({11}) Zum Schluss möchte ich noch einmal den allerersten Friedensnobelpreisträger und Gründer des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz zitieren. ({12}) Henry Dunant hat einst gesagt: Zivilisation bedeutet, sich gegenseitig zu helfen, von Mensch zu Mensch, von Nation zu Nation. Ich finde, was er hier beschreibt, ist im Grunde eine gute Benennung dessen, was Frieden ausmacht, und diesem kommen wir sicher durch ein aktives und beharrliches Bemühen um Hilfe und Kooperation schneller näher. Vielen Dank. ({13})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner ist für die FDP-Fraktion der Kollege Peter Heidt. ({0})

Peter Heidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004948, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Das gebetsmühlenartige Mantra der Linken ist bekannt, wird aber nicht dadurch besser, dass unser Außenminister nun in dieselbe Kerbe haut. Ganz ehrlich, von den Linken ist man solch abenteuerliches Zeug gewöhnt, aber der Außenminister? Keine deutschen Rüstungsexporte mehr, alle Auslandseinsätze der Bundeswehr stoppen, und schon sind wir dem Weltfrieden ein Stück näher? Und diesen Antrag müssen wir ernsthaft im Deutschen Bundestag verhandeln statt auf dem Ponyhof. Wurden Nazis mit Lichterketten vertrieben? Wurde der Fluchtweg für die 35 000 Jesiden durch Teetrinken mit dem IS erkämpft? 5 000 jesidische Männer und Jungen wurden getötet, 7 000 jesidische Frauen und Kinder entführt, versklavt, vergewaltigt, gefoltert. In der Gegend von Srebrenica wurden im Juli 1995 mehr als 8 000 Bosnier, fast ausschließlich Männer und Jungen zwischen 13 und 78 Jahren, ermordet. Das Massaker gilt als das schwerste Kriegsverbrechen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Ohne das Eingreifen der NATO wäre der Vertrag von Dayton nicht möglich gewesen. ({0}) Es ist so einfach, hier in diesem Hause wohlfeil zu fordern, keine Waffen irgendwohin zu schicken, selbst im Warmen sitzend und genau wissend: Andere stellen sich der Verantwortung und gegen den linken Zeitgeist, und ({1}) sie lassen sich dafür beschimpfen, gerade auch heute wieder von Ihnen, dass sie helfen, während Sie unter Ihrem eigenen Applaus nichts anderes tun, als moralisch mit dem Zeigefinger zu wedeln. ({2}) Unser Außenminister ist wegen Auschwitz in die Politik gegangen. Er hat auch völlig vergessen, was er da tut. Ihm scheint entfallen zu sein, dass es die Alliierten nur mit Waffen geschafft haben, Nazideutschland zu besiegen, und damit den Grundstein für immerhin fast 80 Jahre Frieden gelegt haben. ({3}) „Militärisch Frieden schaffen hat noch nie funktioniert“, hat der Außenminister gesagt. Das kann nur auf Geschichtsvergessenheit oder Anbiederung auf dem SPD-Parteitag beruhen. ({4}) Mit Fakten hat das nichts zu tun; mit linkem Zeitgeist viel mehr. ({5}) Frieden schaffen ohne Waffen, das ist eine Utopie, eine schöne Utopie. Ich habe auch schon auf Konzerten John Lennons „Imagine“ mitgesungen. ({6}) Aber wir sind hier nicht auf einem Konzert, sondern wir sind im Deutschen Bundestag. Das vergessen Sie leider. ({7}) Einer militärischen Aggression kann man nicht mit Sitzblockaden begegnen. ({8}) Als Parlamentarier haben wir eine Verantwortung. Wir müssen Entscheidungen fällen und dürfen uns vor den Entscheidungen nicht drücken. Glauben Sie etwa, es fällt einem FDP-Abgeordneten oder auch anderen Abgeordneten hier in der Mitte des Hauses leicht, Bundeswehreinheiten ins Ausland zu senden? ({9}) – Nein! Wir diskutieren das intensiv, denken darüber nach und wägen alles ab. Ich trage nicht umsonst die Gelbe Schleife an meinem Revers – als Zeichen der Verbundenheit mit der Bundeswehr im Ausland. ({10}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Israel braut sich an den Grenzen etwas zusammen. Was sagen Sie einem Israeli, der Sie persönlich fragt: „Was machen Sie mit Waffenlieferungen?“? Wollen Sie auch den Israelis Waffen verweigern? ({11}) Wollen Sie dafür verantwortlich sein, dass Israel von der Landkarte verschwindet?

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss.

Peter Heidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004948, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Der Antrag der Linken ist realitätsfremd, naiv und selbstbeweihräuchernd. Er ist nur abzulehnen. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Heidt. – Als nächster Redner: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Ottmar von Holtz. ({0})

Ottmar Holtz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004762, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte gerne, wenn wir schon über Frieden reden, den Blick auf ganz andere Dinge lenken. Natürlich, Friedenspolitik ist mehr als Abrüstungspolitik. Die Kontrolle von Rüstungsexporten, vor allem der Stopp von Waffenexporten in Krisenregionen, auch von Kleinwaffen, sind elementare Bestandteile einer Friedenspolitik. Aber das reicht bei Weitem nicht aus. Als Vorsitzender des Unterausschusses für Zivile Krisenprävention weiß ich zu gut: Dauerhaften Frieden erreichen wir nur dann, wenn wir mehr Gelder für zivile Maßnahmen bereitstellen: mehr Personal an deutschen Auslandsvertretungen, mehr Flexibilität bei Projekten der Friedensförderung, längere Projektlaufzeiten. ({0}) Dauerhaften Frieden gibt es nur, wenn es Versöhnungsarbeit gibt, Traumata aufgearbeitet werden, wenn die Zivilgesellschaft ertüchtigt wird, ihre Rechte zu kennen und einzufordern, wenn wir eine der Rechtsstaatlichkeit verpflichtete Sicherheitsarchitektur, vor allem der Polizei, haben, wenn wir eine funktionierende unabhängige Justiz haben, wenn es keine Straffreiheit gibt, keine Korruption, keine Milizen, keine Warlords, die das staatliche Gewaltmonopol untergraben, wenn wir Frauen- und Kinderrechte achten usw. usf. - ({1}) alles Maßnahmen, die wir von Deutschland aus als Friedensarbeit unterstützen und ausbauen können. Dann kommen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion, mit diesem Antrag um die Ecke, nennen das Ganze „Menschenrecht auf Frieden anerkennen und umsetzen“ und sagen nichts dazu, wie Sie gedenken, dieses Menschenrecht umzusetzen. Ihr Antrag ist erschreckend unterkomplex, als bräuchten wir nur die Bundeswehr überall abzuziehen, und schon hätten wir Frieden, als wäre die Bundeswehr für Krieg und Gewalt weltweit verantwortlich. ({2}) Das ist zu wenig. Wir Grüne sind zwar nicht mit allen Mandaten der Bundeswehr einverstanden – wir lehnen auch einige davon ab –, aber wir nehmen uns immerhin die Zeit, uns differenziert mit jedem Fall einzeln auseinanderzusetzen. Ihre Erklärung zum Recht auf Frieden von 2016: ({3}) „Recht auf Frieden“ hört sich schön an. Aber es wurde hier schon mehrfach gesagt: Wenn Sie als Fraktion Die Linke nun fordern, dass genau solche Autokraten, die diese Erklärung unterschrieben haben, ({4}) auch noch in Ruhe gelassen werden sollen, dann tun Sie doch genau das Gegenteil von dem, was Ihr Antrag bewirken soll. Es gibt aber noch viele weitere Lücken in Ihrem Antrag. Die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen fehlen. Wenn man schon über Frieden spricht, dann muss man die SDGs im selben Atemzug nennen; wenn nicht, schwächen Sie die SDGs. ({5}) Kein Wort zur Rolle der Zivilgesellschaft, kein Wort dazu, wie die Leitlinien der Bundesregierung zur zivilen Krisenprävention umgesetzt werden müssen! Dauerhafter Frieden – das stimmt – lässt sich nicht mit militärischen Mitteln erzwingen. Aber es ist auch klar: Raushalten und Wegducken sind keine Option. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Frank Heinrich, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Frank Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004054, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich habe mir Mühe gemacht, als ich den Titel „Menschenrecht auf Frieden“ gelesen habe, zumal es – das haben einige Kollegen gesagt – um eine Selbstverständlichkeit geht. Aber ich bin letzter Redner. Ich möchte dazu ein paar grundsätzliche Gedanken äußern. Ich bin gegen Krieg. Diesen Satz wird hier wohl jeder unterschreiben können. Ich selber war Wehrdienstverweigerer, nicht aus Glaubensgründen, sondern aus persönlichen Gründen. Das heißt, da habe ich schon meine Schwierigkeiten. Den grundsätzlichen Wunsch auf Frieden bejahen wir natürlich. Allerdings beginnt dieser Wunsch nicht erst bei Einsätzen der deutschen Bundeswehr. Wann pfeifen Sie mit so einem Antrag in so einem Tonfall mal Ihre Genossen vom Schwarzen Block ({0}) oder die gewalttätigen Protestler und ihr Umfeld in Leipzig, in Hamburg oder bei mir in Chemnitz vor einem Jahr zurück, ({1}) die übrigens weit mehr Angst verbreitet haben als viele andere und gewalttätig unterwegs sind? ({2}) Natürlich haben wir an dieser Stelle vor Augen, was da passiert ist. Aber wir haben natürlich auch vor Augen, was in den Weltkriegen, besonders nach dem Zweiten Weltkrieg, passiert ist. Wir haben Myanmar vor Augen, das Gemetzel von Banden, von Milizen, von kleinen und großen Diktatoren, also Konflikte in Regionen und in ganzen Ländern. Wir haben Jemen vor Augen, Syrien und die ganzen Ungerechtigkeiten, aus denen heraus die Kriege entstanden sind. ({3}) Dann habe ich auch noch etwas vor Augen – das war einer der ersten Gedanken in meinem Kopf, als ich von diesem Thema hörte und dann das las, was Sie in Ihrem Antrag so einseitig schreiben –, nämlich die Normandie. Ich bin dem Himmel dankbar, dass das auch zu unserer Geschichte gehört, ({4}) dass nämlich eingegriffen wurde bei diesem Diktator, der unser Land vernichtet hat und für den Ruf verantwortlich ist, den wir teilweise noch heute haben. Ich habe auch vor Augen – Sie haben dem widersprochen – die NGOs in Afghanistan. Keine der NGOs hat mir gesagt: Es ist nicht gut, dass ihr als Bundeswehr hier seid. ({5}) Die einen haben gesagt: Wir brauchen euch direkt bei uns, um uns zu schützen. – Andere haben gesagt: Gut, dass ihr generell das Terrain absichert. – Das waren sowohl Menschen aus Deutschland als auch aus anderen europäischen Ländern. (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Das sagen Ihnen alle NGOs? – Ich sage nicht, dass es alle waren. ({6}) Ich bin dankbar. Mir haben Frauen aus dem Parlament in Afghanistan und auch aus den NGOs gesagt: Wir hätten sonst nicht in die Schule gehen können, wir hätten als Mädchen so nicht leben können, wir hätten keine Erziehung genossen und wären heute nicht im Parlament. Dankbar bin ich zudem persönlich, dass wir inzwischen nicht mehr so aufgerüstet leben, wie das noch vor wenigen Jahren der Fall war. Ich bin dankbar für Europa, für Frieden. Dann kommt man natürlich in diese große Ethikdebatte. Ich erinnere an die Frage von Max Weber: Ist das Gesinnungsethik oder Verantwortungsethik? Hin und wieder waren zwischen den Zeilen der Kollegen diese Überlegungen herauszuhören. Es geht aber nicht um Entweder-oder. Es geht um ein Sowohl-als-auch. Es geht um den schweren Weg zum besten Erfolg. Dieser Weg ist hin und wieder nicht ohne ein Einschreiten möglich. ({7}) Mit der Zielsetzung, Frieden zu haben und Frieden zu stiften, sind wir unterwegs; darin sind wir uns sogar einig. Aber der Weg dahin ist etwas komplexer, als Ihr Antrag den Anschein erweckt. Natürlich sind wir für Abrüstung. Ich bin in Westdeutschland aufgewachsen. Ich lebe jetzt in dem anderen Teil Deutschlands. Ich habe den Kalten Krieg in der Region, in der Atomwaffen am dichtesten stationiert waren, in West wie Ost, gefühlt. Wir haben abgerüstet. Das geht ja! ({8}) Ich habe noch ein Zitat von Einstein im Hinterkopf; es ist nicht bestätigt, ob es wirklich von ihm ist. Er soll auf die Frage, wie denn der Dritte Weltkrieg geführt werden würde, geantwortet haben: Das weiß ich nicht. Aber ich weiß: Der Vierte wird mit Stöcken und Steinen geführt. Wir sind anders geworden. Aber es gibt da diejenigen, von denen Sie nichts einfordern. Ich nannte gerade die linken Truppen in Deutschland. Aber da gibt es auch Maduro, da gibt es China und Nordkorea. ({9}) Da sagen Sie das nicht so deutlich. Von uns wird auch ziviles Engagement gefordert. Dafür brauchen wir – Kollege Altenkamp hat das gerade gesagt – die Leitlinien, die die Bundesregierung 2017 verabschiedet hat: „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“. Aber wenn ein Land nicht bereit, willens oder in der Lage ist, die eigene Bevölkerung zu schützen, dann haben wir als VN eine Verantwortung – und damit auch dort. ({10}) Die Bundeswehr hat dann die wesentliche Aufgabe, Sicherheit und Stabilität weltweit zu fördern. Frieden, damit mehr Einzelne dort Frieden haben können! ({11}) Natürlich geschieht das nicht nur dadurch, sondern auch durch zivilgesellschaftliches Engagement und Krisenprävention. Aber Frieden – das hat mein Kollege vorhin gesagt – ist eine Frucht der Gerechtigkeit. Das gilt es abzuwägen. Das ist nicht nur eine Weihnachtsbotschaft. Im ersten Moment habe ich das ja gedacht: „Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen“; so spricht ein Engel zu Personen. Mein Menschenbild sagt aber auch – und damit komme ich zum Schluss –, dass der Frieden – so meine Ethik – in uns und unter uns beginnen muss.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss bitte.

Frank Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004054, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Und so, wie Sie sich gerade angegiftet haben, Ihre Augen, Ihre Reaktion – das war nicht unbedingt friedvoll. ({0}) Es gibt eine Gauß’sche Normalverteilung von guten und schlechten Menschen auf der Welt.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, bitte kommen Sie zum Schluss.

Frank Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004054, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ganz ehrlich, solange es noch eine gewisse Anzahl von Menschen gibt, die als Arschlöcher in diesen Positionen sind, will ich, dass wir an der Seite der Schwächsten stehen, möglicherweise auch mit der Bundeswehr. Danke für die Aufmerksamkeit. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Sie haben meine Friedfertigkeit bis zum Exzess strapaziert, aber sei’s drum. ({0}) Damit schließe ich die Aussprache.

Bettina Stark-Watzinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004902, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die letzten Wochen haben es gezeigt: Ob Grundrente oder die schwarze Null, diese Koalition ist eine Koalition der Sollbruchstellen. Auch nach den Parteitagen geht die Unsicherheit über den Kurs in der Finanz- und Haushaltspolitik weiter. Das schadet dem Vertrauen der Menschen in die Politik in diesem Land nachhaltig. ({0}) Laut einer Studie von Allensbach haben zwei Drittel der Bürger den Eindruck von Führungs- und der Planlosigkeit – das sind nicht meine Worte – bei der Regierung. Diese Menschen erwarten Antworten. Sie fragen sich, ob wir eigentlich in diesem Land noch die richtigen Debatten führen. ({1}) Sie fragen sich, ob die Regierung noch in der Lage ist, die Themen „Digitalisierung“, „demografischer Wandel“ und „notwendige Infrastruktur“ zu bewältigen. Und sie fragen sich, wie sie finanziell vorankommen können in unserem Land. In dieser Koalition geht es nämlich nur um zwei Personenkreise: um die ganz Armen – die Großmutter, die keine Rente hat – und um die Reichen, die im Liegestuhl liegen und denen das Geld vom Laufband hinterherfließt. Die Mitte der Gesellschaft kommt darin nicht vor. Aber das ist nicht die Realität, meine Damen und Herren. ({2}) Statt diesen Menschen und Unternehmen die Sorge um die Zukunft zu nehmen, statt die Rahmenbedingungen für den wirtschaftlichen Aufschwung und den Aufbau von Eigentum zu schaffen, belasten wir sie weiter: vollständiger Abbau des Solidaritätszuschlags – Fehlanzeige, Abbau des Mittelstandsbauchs in der Einkommensteuer – Fehlanzeige, und ich rede hier noch nicht einmal von Fördern. Geht der Großen Koalition das Geld aus, müssen es die Vermögensteuer und die Finanztransaktionsteuer richten. In Deutschland sind über 90 Prozent der Unternehmen mittelständische Unternehmen; sie stellen über 50 Prozent der Arbeitsplätze. Eine Vermögensteuer, wie die SPD sie ins Schaufenster stellt, belastet diese Unternehmen und gefährdet den Wirtschaftsstandort Deutschland. ({3}) Die Finanztransaktionsteuer wird in der jetzigen Form gerade die Produkte ausnehmen, die für die Finanzkrise verantwortlich gemacht werden. Es geht also nicht um Finanzstabilität; es geht um Einnahmeerzielung. ({4}) Wir werden über die Belastungswirkung noch viel streiten. Klar ist aber: Zahlen müssen es in Zukunft die ganz normalen Sparer, die nicht auf Derivate ausweichen können. Sie belasten das am meisten regulierte Wertpapier. Glauben Sie mir, das können Sie draußen niemandem erklären. ({5}) Liebe Kollegen von der Union, auch wenn Sie uns immer wieder sagen, dass Sie eine andere Finanzpolitik wollen, bleiben Sie ein Ankündigungsweltmeister. Sie stellen täglich ein neues hübsches Kleid ins Schaufenster; aber wenn ich in den Laden gehe, gibt es dort nur die Ware vom letzten Jahr. Das schwächt das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der Regierung. ({6}) Setzen wir mehr Energie in das, was uns stark macht! Wenn wir in Zukunft die produktivsten Arbeitsplätze haben wollen, brauchen wir eine Modernisierung der Unternehmensteuer. Wir müssen den Standort Deutschland für private Investitionen, insbesondere Zukunftstechnologien, attraktiver machen. Wenn wir die Spreizung der Vermögen in unserem Land abbauen wollen, das Aufstiegsversprechen wahrmachen wollen, dann brauchen wir Mitarbeiterkapitalbeteiligung und private Altersvorsorge, auch mit Aktien. Hier muss endlich etwas geschehen. ({7}) Ein letzter Punkt. Von maroder Infrastruktur und Vernachlässigung von Zukunftsinvestitionen war im Leitantrag der SPD die Rede. Bemerkenswert ist nicht der Befund. Bemerkenswert ist, dass die SPD sich selber ein so schlechtes Zeugnis ausstellt. In den letzten 21 Jahren haben Sie 17 Jahre lang im Bund regiert, ({8}) 10 davon gemeinsam mit der Union – eigentlich genug Zeit, um sich um marode Infrastruktur zu kümmern. ({9}) Wir können jetzt über die Sinnhaftigkeit der schwarzen Null viele makroökonomische Bücher füllen, meine Damen und Herren. Aber darum geht es gar nicht. Es geht eigentlich um einen Deckmantel dafür, dass Sie es in den letzten Jahren nicht geschafft haben, diese Investitionen zu tätigen. Sie wollen von Ihrem eigenen Versagen ablenken; denn das Geld für Investitionen ist da; es fließt nicht ab. Wir fesseln uns selbst mit einem komplizierten Planungsrecht und zu vielen bürokratischen Vorgaben. Hier müssen wir Mut zu Reformen haben. Führen wir endlich mal die richtigen Diskussionen in diesem Land! ({10}) Wir können es uns nicht leisten, weitere zwei Jahre mit der Auseinandersetzung der Koalitionäre zu verbringen. Die Menschen draußen erwarten Antworten. ({11}) Sie wollen eine klare Strategie für den Vermögensaufbau, für wettbewerbsfähige Rahmenbedingungen und für eine Erneuerung des Aufstiegsversprechens. Liebe SPD, liebe CDU/CSU, Sie können heute damit anfangen. Ich freue mich auf die Debatte. ({12})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Stark-Watzinger. – Als nächster Redner hat für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Christian Haase das Wort. ({0})

Christian Haase (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004286, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bei der ganzen aktuellen Debatte um die schwarze Null komme ich mir ein Stück weit komisch vor. Worüber reden wir dabei eigentlich? Unter der unionsgeführten Regierung hat Deutschland nach langer Zeit etwas erreicht, das erstrebenswert ist. Keine neuen Schulden zu machen, ist etwas Positives; ich glaube, das muss man einigen Leuten in diesem Hause noch einmal sehr deutlich sagen. ({0}) Der bekannte österreichische Volkswirt Schumpeter hat es so formuliert: „Eher legt sich ein Mops einen Vorrat an Würstchen an, bevor ein Politiker spart!“ Wenn man das bedenkt, haben wir mit der schwarzen Null ein wahres Weihnachtswunder vollbracht. ({1}) Aber Schumpeter hat recht: In Demokratien ist die Versuchung groß, wie der Nikolaus großzügig Wahlgeschenke zu verteilen, wenn nötig, halt auf Pump. Wenn Knecht Ruprecht dann mit der Rechnung kommt, ist man nicht mehr im Amt und hat es schön auf die nächste Generation abgewälzt. Mit christlicher Verantwortung hat das alles nichts zu tun. Seit Christi Geburt hat Deutschland täglich umgerechnet 2,7 Millionen Euro Schulden aufgenommen, wohlgemerkt: ohne Zins und Zinseszins. Seit 2 019 Jahren jeden Tag 2,7 Millionen Euro zusätzliche Schulden! Vor sieben Jahren haben wir diesen Teufelskreis durchbrochen. Mit der schwarzen Null setzen wir ein leuchtendes Zeichen für Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit. ({2}) Ja, meine Damen und Herren, die Zinsen sind historisch niedrig. Aber die Zinsen werden doch nicht negativ bleiben. Zur Wahrheit gehört es, dass man auch günstiges Geld irgendwann zurückzahlen muss. Finanzmärkte sind keine Weihnachtsmärkte, da gibt es keine Bescherung. Meine Damen und Herren, viele berufen sich auf Keynes und seine antizyklische Fiskalpolitik, wenn sie ihr Schuldenmachen legitimieren wollen. Dabei bedeutet „antizyklisch“ gerade, dass man nur in schlechten Zeiten die Wirtschaft durch eine höhere Staatsnachfrage ankurbelt. ({3}) In guten Zeiten muss man die Schulden, die man gemacht hat, wieder abbauen. Den zweiten Teil vergessen die meisten. Seit 2010 haben wir in Deutschland Wirtschaftswachstum. Seit 2013 machen wir keine Schulden mehr, und auch im nächsten Jahr wird die Wirtschaft um 1 Prozent wachsen. Die Beschäftigung ist nach wie vor auf Rekordniveau. Wo, bitte schön, ist denn die Rezession? Wo ist denn die Grundlage für neue Schulden? Ich sehe sie jedenfalls an dieser Stelle nicht. ({4}) Allen, die so gerne von der schwarzen Null als Fetisch der Union sprechen, sage ich: Ein ausgeglichener Haushalt ist für die Union auch kein Selbstzweck. 2008/2009 – Sie erinnern sich an die Weltfinanzkrise – haben wir entschieden die Nachfrage angekurbelt: Konjunkturpaket I, Konjunkturpaket II, Abwrackprämie. ({5}) Die meisten können sich daran erinnern. Genauso, wie es damals richtig war, diese Schulden aufzunehmen, ist es heute richtig, keine Schulden zu machen, weil wir eine ganz andere Situation haben. ({6}) Wenn Sie sich unseren Haushalt angucken, dann sehen Sie: Das ist ein zukunftsweisender Haushalt. Wir haben 40 Milliarden Euro für Investitionen, riesige Summen für den Klimaschutz, Rekordsummen für Digitalisierung und Mobilität in unserem Haushalt. Wir investieren in Schulen und in Universitäten. Das Problem ist doch gerade nicht, dass wir kein Geld haben, um zu investieren, sondern wir kriegen die PS einfach nicht auf die Straße; darauf ist gerade doch zu Recht hingewiesen worden. Sie alle kennen die Gründe: Unser Planungsrecht ist zu kompliziert, die Auftragsbücher der Unternehmen sind voll, es fehlen überall Planungskapazitäten. Wenn wir hier in diesem Hause etwas gemeinsam hinbekommen sollten, dann ist es doch, dieses Problem anzugehen und endlich für Planungsbeschleunigung in Deutschland zu sorgen. ({7}) Ein letzter Hinweis: Wenn wir einen gesellschaftlichen Konsens haben, dass wir mehr investieren müssen, dann sollte natürlich der erste Schritt sein, mal in den eigenen Haushalt zu gucken und zu fragen: Können wir nicht was umschichten, bevor wir neue Schulden machen? ({8}) Das muss ich zu Hause ja auch. Ich muss entscheiden, ob wir eine neue Küche kaufen oder lieber in Urlaub fahren. Wenn ich mir nicht beides leisten kann, muss ich sagen: Ich mache das eine, oder ich mache das andere. Gucken wir mal: Deutschland gab 2017 nach den OECD-Kriterien 44 Prozent seines Gesamthaushaltes für soziale Sicherung aus – mehr als die Beneluxstaaten, mehr als die skandinavischen Staaten und mehr als Österreich und die Schweiz. Nur auf den Bundeshaushalt bezogen gehen wir damit in Richtung 53 Prozent, und da habe ich die Grundrente noch gar nicht mit eingerechnet. Ich glaube, allein das ist schon eine große Hypothek für unsere Kinder, für die nächste Generation. Wer ihnen noch was obendrauf geben will mit neuen Schulden, dem sage ich: Das verstehe ich nicht. Worüber reden wir hier eigentlich? ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist für die AfD-Fraktion der Kollege Dr. Bruno Hollnagel. ({0})

Dr. Bruno Hollnagel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004760, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Auseinandersetzung in der GroKo ist vor allem der Wunsch der SPD zu erkennen, endlich wieder zu erstarken. Dazu braucht sie Wählerstimmen. Wie bekommt sie die Wählerstimmen? Durch die Einführung der Grundrente! Das Vorhaben Grundrente sollte offen diskutiert werden. Dazu muss seriöserweise auch gesagt werden, wie sie finanziert werden soll. Eine neue Transaktionsteuer wird da nicht ausreichen. Mit anderen Worten: Was wird passieren? Die schwarze Null wird gekippt werden, und das bedeutet: Bezahlen sollen es die späteren Generationen. Wir von der AfD halten das für unseriös. ({0}) Wir hielten es für viel besser, die Migranten ohne Bleibeberechtigung nach Hause zu schicken, ({1}) die Beitragszahlungen nach Brüssel zu reduzieren und gespartes Geld an die Bürger zurückzugeben. Wir könnten auch die Haushalte für Forschung und Entwicklung, für Gesundheit und für Familie insgesamt verdoppeln. Damit würden wir in Deutschland eine gesunde Zukunft schaffen. Das aber will die Regierungskoalition offenbar nicht. Die CDU sagt, sie wolle die schwarze Null verteidigen. Meine Damen und Herren, die schwarze Null hat es für die Bürger in der letzten Zeit nie gegeben; ({2}) denn trotz der Verdoppelung der Steuereinnahmen seit 2005 und trotz über 260 Milliarden Euro Zinsersparnissen haben wir kaputte Straßen, renovierungsbedürftige Brücken, militärisches Gerät, das nicht mehr funktioniert, sowie Kinderarmut, und es droht Altersarmut. Was wir heute erleben, ist keine schwarze Null, sondern ein Leben zulasten der Substanz und der Zukunft unseres Landes. ({3}) Um den Anschein der Solidität der Finanzen zu suggerieren, tricksen Sie. Ein klares Beispiel: Im Jahr 2017 wurden Anleihen herausgegeben. Laufzeit: 29 Jahre. Nominalwert: 23 Milliarden Euro. Verkaufserlös: 30 Milliarden Euro. Gewinn für den Bundeshaushalt: 7 Milliarden Euro. Doch diese 7 Milliarden Euro müssen teuer erkauft werden; denn statt eines möglichen Coupons von 0,5 Prozent wurde ein Coupon von 2,5 Prozent vereinbart. Das Ergebnis: Statt Zinszahlungen von 3,34 Milliarden Euro müssen jetzt 16,6 Milliarden Euro bezahlt werden. Was bedeutet das also? Um diese 7 Milliarden Euro Gewinn zu erwirtschaften, müssen die Bürger 13 Milliarden Euro mehr bezahlen als erforderlich. Das ist keine schwarze Null, meine Damen und Herren; das ist ein Zuschussgeschäft für die Bürger. ({4}) Das gleiche Prinzip gilt heute übrigens auch – deswegen habe ich das Beispiel genannt – für die Altanleihen, die aufgestockt werden. Die alten, teuren Anleihen mit hohen Zinscoupons führen zu dem gleichen Ergebnis. Beide Koalitionspartner bewirken auf verschiedenen Wegen das Gleiche: Sie belasten die Zukunft. Deutlich sichtbar wird das mit den sogenannten sichtbaren und unsichtbaren Schulden, also der expliziten und der impliziten Verschuldung. Sie sind in der letzten Zeit insgesamt um über 1 Billion Euro auf nunmehr 7,6 Billionen Euro gestiegen; das sind 20 Bundeshaushalte. Mit soliden Finanzen, einer Schuldenbremse oder einer schwarzen Null hat das absolut nichts zu tun. ({5}) Dabei sind die möglichen Verpflichtungen aus den Schattenhaushalten, aus der EZB-Politik und aus den Rettungsschirmen noch nicht einmal mitgerechnet. Ich hoffe, wir werden vor der Situation bewahrt, dass die Sparer die Bankenunion mit retten müssen, indem sie einspringen und mithaften müssen. Das würde für sie nämlich sehr, sehr teuer werden. Der Klimawettbewerb unter den Koalitionären und den Grünen ist längst entbrannt. „Je teurer, desto besser“ ist offenbar das Motto. Die Energiewende wird gemäß BDI bis zum Jahr 2050 bis zu 2 300 Milliarden Euro kosten. Die Kosten für das jüngst beschlossene Klimapaket sind darin noch nicht einmal enthalten. Meine Damen und Herren, ich komme gleich zum Schluss. – Zehntausende entlassene Facharbeiter in der Automobilbranche und bei Chemie- und Energieunternehmen müssen die Folgen der grünen Politik tragen. Diese Politik ist unverantwortlich und muss unbedingt geändert werden. Die AfD steht bereit. ({6}) Danke schön. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Bernhard Daldrup, SPD-Fraktion. ({0})

Bernhard Daldrup (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004258, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Stark-Watzinger, Sie haben ja ein paar Punkte angesprochen und ein paar Fragen gestellt. Aber es ist so wie immer bei der FDP: Man stellt ein paar Fragen. – Aber schön wäre es, wenn man auch mal ein paar Antworten bekäme. Das ist leider nicht der Fall. ({0}) Ich habe mich heute Morgen ernsthaft gefragt: Warum machen wir eigentlich so eine Aktuelle Stunde? ({1}) Ich bin dann drauf gekommen, weil laut ARD-DeutschlandTrend 72 Prozent der Deutschen eine Vermögensteuer gerade für richtig halten, weil sie merken, dass die soziale Schere in Deutschland auseinandergeht, ({2}) was eine Gefährdung unserer Gesellschaft bedeutet. Ich habe mir gedacht: Weil so viele von der FDP das auch gerne wollen, machen Sie eine Aktuelle Stunde. – Sie hätten hier jedenfalls unsere Unterstützung. ({3}) – Das wäre jedenfalls ganz gut. Davon unabhängig, bin ich Ihnen aber auch ganz dankbar – ich sage das ganz offen –, weil Sie uns die Chance geben, für die GroKo auch noch mal ein Stück weit Bilanz zu ziehen. ({4}) Der Kollege Haase hat gerade was zum Haushalt mit Rekordinvestitionen in Höhe von 43 Milliarden Euro – ohne neue Schulden, mit Investitionen auch in Zukunftssektoren usw. – gesagt; den haben wir gerade beschlossen. Das will ich alles nicht wiederholen, und das gilt nicht nur für diesen Haushalt. Die Bundesregierung hat nach 20 Monaten, glaube ich, in einer eigenen Broschüre eine Bilanz gezogen. Wir haben die Bilanz der SPD-Fraktion übrigens auch veröffentlicht. Das stellen wir Ihnen gerne zur Verfügung, damit Sie wissen, dass die Zukunftsfähigkeit unseres Landes bei uns in guten Händen ist. ({5}) Dazu gehört, dass wir den Soli für 90 Prozent der Bevölkerung abgeschafft haben, dass wir die Parität bei den Krankenkassenbeiträgen wieder eingeführt haben, dass wir das Kindergeld erhöht haben, dass wir das Starke-Familien-Gesetz für bedürftige Familien verabschiedet haben, dass wir den sozialen Arbeitsmarkt endlich in Angriff genommen haben und dass bessere Löhne im sozialen Bereich gezahlt werden. Weitere Stichworte sind „Schutz der Paketzusteller“ und „das Gute-KiTa-Gesetz“. Die Liste könnte ich immer weiter fortführen. Das Ergebnis ist: Das gibt es nur mit uns – mit Ihnen nicht. ({6}) Das ist leider bzw. Gott sei Dank der Unterschied. Nun wollen natürlich einige, sozusagen deshalb, weil wir die Halbzeit in dieser Großen Koalition erreicht haben, mit uns eine Debatte darüber führen, wie es eigentlich weitergeht. Wir haben einen einfachen Satz im Koalitionsvertrag stehen, der da lautet: Zur Mitte der Legislaturperiode ({7}) wird eine Bestandsaufnahme des Koalitionsvertrages erfolgen, inwieweit dessen Bestimmungen umgesetzt wurden oder aufgrund aktueller Entwicklungen neue Vorhaben vereinbart werden müssen. ({8}) – Kollege Michelbach, das ist wörtlich zitiert aus dem Koalitionsvertrag. Das hat Annegret Kramp-Karrenbauer vor Kurzem gesagt, und solche Diskussionen gibt es bei uns auch. Wir heißen nämlich SPD; das steht für: selbständiges politisches Denken. Das machen wir auch. ({9}) Ja, das machen wir auch. Deswegen geht es um inhaltliche Weiterentwicklung beispielsweise bei Fragen des Mindestlohnes, bei der Klimapolitik, die Frage, wie wir Investitionen weiterentwickeln können, und ähnliche Dinge mehr. Wir haben doch gestern Ihren falschen Antrag schon abgeräumt. Über eines würde ich einmal nachdenken: Es ist eine komische Situation – ich weiß, dass das für Sie unangenehm ist –, dass Sie im Haus hier eigentlich immer nur Zustimmung von der AfD bekommen. ({10}) Jedenfalls hat die Debatte über den Antrag zur schwarzen Null, den Sie da gestellt haben, gezeigt: Sie ist kein Selbstzweck, sie ist kein Fetisch. Aber Schulden machen – umgekehrt – ist es eben auch nicht. Unterlassene Investitionen sind in einer Niedrigzinsphase wie heute jedoch unter Umständen auch die Schulden von morgen. Das ist weder generationengerecht noch nachhaltig. ({11}) Wir nutzen die Spielräume für Investitionen, die wir nutzen können. Aber wir könnten auch noch darüber hinausgehen; das ist in der Tat wahr. ({12}) Nur zum gegenwärtigen Zeitpunkt führen höhere Investitionen in der Bauwirtschaft unmittelbar zu höheren Preisen und nicht zu mehr Beschäftigung und auch nicht unbedingt unmittelbar zu mehr Wohnraum. Mit anderen Worten: Es wäre wichtig, die Investitionsfähigkeit derjenigen, die in Deutschland den größten Teil der öffentlichen Investitionen leisten, zu verstärken und zu verbessern, und das sind die Kommunen. ({13}) Dazu habe ich Ihnen schon verschiedentliche Vorschläge gemacht. Ich weiß, dass einige Kolleginnen und Kollegen in der CDU/CSU genauso denken. Wir werden auch darüber sprechen, wie wir die Investitionsfähigkeit verbessern können, damit die Investitionen in diesem Land weiterlaufen. Wir sind für Krisensituationen durch eine Menge von Rücklagen – nicht nur in den Sozialversicherungen, sondern auch im Bundeshaushalt – durchaus gerüstet. ({14}) Mit anderen Worten: Ich glaube, das Land ist in guten Händen. Das ist für uns jedenfalls sehr, sehr spürbar. Wir diskutieren mit dem Koalitionspartner in einem, ich glaube, sehr konstruktiven Klima. Manchmal ist es auch klar und deutlich. Daran, wie das in den vier Jahren bei Ihnen war, sollten wir uns lieber nicht erinnern. Da will ich besser keine Erinnerungen in die Gegenwart holen. ({15}) Also: Ich glaube, wir machen eine gute Arbeit. Wir werben dafür. Wir werden für Weiterentwicklung in unserem Land sorgen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({16})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Der nächste Redner ist für die Fraktion Die Linke der Kollege Jörg Cezanne. ({0})

Jörg Cezanne (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004693, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich mit den Worten des Kabarettisten Christoph Süß beginnen: Oh schwarze Null, die du uns durch dein segensreiches Wirken zur Nummer eins machst. Mal ehrlich: Wer braucht schnelles Internet, Brücken, Straßen oder genug Polizisten, Lehrer, moderne Schulen, ({0}) wenn er eine schwarze Null hat? Darum beneidet uns jeder. ({1}) Damit könnte man es fast bewenden lassen. Ich habe aber noch viereinhalb Minuten; die nutze ich jetzt. Vor zehn Jahren verankerte die damalige Regierungskoalition von Union und SPD mit Unterstützung von Grünen und FDP die Schuldenbremse im Grundgesetz. ({2}) Von Gewerkschaften, progressiven Ökonomen, Sozialverbänden und der Linken wurde sie heftig kritisiert: wirtschaftspolitisch kontraproduktiv, ein Hindernis für notwendige Zukunftsinvestitionen und eine Bedrohung des Sozialstaats. ({3}) Okay, wie es sich wirtschaftspolitisch entwickelt, werden wir sehen. Spätestens die nächste Krise wird zeigen, wie unsinnig diese Schuldenbremse tatsächlich ist. Bei den Sozialabgaben haben die gute Konjunktur und die niedrigen Zinsen das Schlimmste verhindert. Es bleibt die Frage der Zukunftsinvestitionen. Frau Stark-Watzinger hat die Frage gestellt: Führen wir die richtigen Debatten? ({4}) Inzwischen würde ich sagen: doch schon wieder. ({5}) 2018 befand sich Deutschland bei den öffentlichen Investitionen mit 2,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts im Vergleich der OECD-Staaten auf dem sechstletzten Platz von 30 untersuchten Staaten. Hier haben sich interessante neue Diskussionslinien aufgetan: Innerhalb der SPD gibt es endlich wieder hörbare kritische Stimmen zur Schuldenbremse. Die Grünen fordern eine Weiterentwicklung, weil auch sie die investitionshemmende Wirkung sehen. BDI und DGB gemeinsam fordern ein Investitionsprogramm über zehn Jahre mit einem Gesamtvolumen von 450 Milliarden Euro. Gut so! Das sind die richtigen Debatten. ({6}) Michael Hüther, Chef des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft, argumentiert: Angesichts eines unübersehbar großen Investitionsbedarfs mindert die Schuldenbremse den politischen Handlungsspielraum und entbehrt einer ökonomischen Grundlage. Recht hat der Mann. ({7}) Ich will auch noch mal was zu dem Thema der Rekordinvestitionen sagen, mit dem sich die Koalition hier immer brüstet: In einer wachsenden Wirtschaft mit einem wachsenden Bundeshaushalt haben Sie ja jedes Jahr Rekordinvestitionen, ({8}) selbst wenn Sie überhaupt nichts verbessern, wenn Sie einfach nur den Stand halten. Das ist doch Augenwischerei, was Sie hier machen. ({9}) Erfreulich ist auch, dass wir bei den Debatten zur Vermögensteuer und auch zur Finanztransaktionsteuer und sogar, wenn auch mit nicht so ganz glücklichen Meldungen, zur Erbschaftsteuer ein wenig weiterkommen. Auch da: Vielleicht sollte die FDP ihre Position noch mal überdenken. In dem bereits vom Kollegen Daldrup erwähnten DeutschlandTrend sagen sogar 52 Prozent der FDP-Wählerinnen und FDP-Wähler, dass Sie die Vermögensteuer für eine gute Idee halten. ({10}) Also denken Sie noch mal darüber nach. ({11}) Zur Abwendung einer drohenden Klimakatastrophe ist ein tiefgreifender sozialökologischer Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft zwingend. Öffentliche Investitionen in erneuerbare Energien, in Busse und Bahnen, in energetische Gebäudesanierung, in ein belastbares Internet sind unverzichtbar. Aber nicht nur diese lebenswichtigen Zukunftsinvestitionen sparen sich Bund, Länder ({12}) und Gemeinden – den Gemeinden wird es mehr aufgezwungen –, Bundes- und Landesregierung fahren auch die bestehende öffentliche Infrastruktur auf Verschleiß und sparen sich sogar die Erhaltungsinvestitionen. ({13}) Dabei leuchtet doch jedem ein: Es ist viel teurer, in 20 Jahren neue Brücken, Schulen und Schienen zu bauen, als rechtzeitig bestehende vor dem Verfall zu bewahren. ({14}) Notwendige Investitionen, die mit Verweis auf Schuldenbremse und schwarze Null unterbleiben, sind für zukünftige Generationen viel teurer als eine angemessene Kreditaufnahme. ({15}) Die plumpe Aussage, Staatsschulden seien eine unfaire Bürde für unsere Kinder und Enkel, stimmt einfach hinten und vorne nicht. ({16}) Deshalb bleiben wir bei unserer Position: Eine Streichung der Schuldenbremse ist notwendig. Die goldene Regel der Finanzpolitik, nach der der Staat so viele Kredite aufnehmen kann und sollte, wie er langfristig öffentliche Investitionen tätigt, ({17}) ist die sinnvollere Richtschnur. Danke sehr. ({18})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Anja Hajduk. ({0})

Anja Hajduk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003547, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir hatten ja gestern schon eine ähnliche Debatte auf Antrag der Linken. Ich möchte hier sagen: Ja, der Kurs der SPD, bezogen auf die Haushalts- und Finanzpolitik, ({0}) ist in der Tat völlig unklar. ({1}) Das kann man schon allein damit beschreiben, dass der Bundesfinanzminister Olaf Scholz, der ja der SPD angehört, ({2}) hier in der letzten Sitzungswoche noch klar gesagt hat, es sei nicht nötig, sich von einem ausgeglichenen Haushalt, von der schwarzen Null zu verabschieden. Der Parteivorsitzende der SPD, Walter-Borjans, vertritt eine ganz entgegengesetzte Auffassung; denn er sagt, die schwarze Null stehe einer zukunftsgerichteten Finanzpolitik entgegen, ({3}) und die Schuldenbremse müsse man eigentlich auch abschaffen. ({4}) – Ach, jetzt stehen Sie doch mal dazu und halten Sie es mal aus, dass man feststellt, dass das die Bürgerinnen und Bürger irritieren muss, ({5}) insbesondere im Zusammenhang mit der Haltung einer CDU, die die schwarze Null verteidigt und die nicht ganz zu Unrecht jetzt in der Logik Ihrer gemeinsamen Entscheidungen darauf pocht: Wir haben das doch eine Woche vorher gemeinsam beschlossen. ({6}) Da kann man nur sagen: Da ist Streit und Gerangel in dieser Großen Koalition wieder vorprogrammiert, ({7}) und das bei einem Grundsatzthema der deutschen Politik. ({8}) Wir Grüne sind überzeugt, dass wir bei den Investitionen viel größere Anstrengungen, als bisher im Haushalt niedergelegt, brauchen. Sie sagen immer: 43 Milliarden Euro, das ist Rekord. – Mann, in absoluten Zahlen ist auch die Haushaltshöhe von 360 Milliarden Euro Rekord. ({9}) Das ist banal. Bitte verdummen Sie die Menschen nicht! ({10}) Insbesondere gilt das gemessen an den Herausforderungen der Zukunft: Wenn der BDI und der DGB schon eine Allianz gründen ({11}) und sagen: „Wir brauchen 450 Milliarden Euro auf zehn Jahre gerechnet als Zukunftsinvestitionsversprechen“, dann sollte Sie das eher zum Nachdenken anregen und nicht zum lockeren Zurücklehnen. ({12}) Oder wenn die EU-Kommission mit Frau von der Leyen sagt: „Wir brauchen, um den Klimawandel zu beherrschen, um die Klimakrise zu bekämpfen, zusätzliche Milliardeninvestitionen und ein mehrjähriges Versprechen, dass wir das auch stemmen“, dann können Sie sich nicht so einfach zurücklehnen, wie Sie das bisher gemacht haben. ({13}) Deswegen – davon sind wir Grüne überzeugt – brauchen wir ein mehrjähriges Investitionsversprechen, und so ein mehrjähriges Investitionsversprechen, das muss man dann auch mit Instrumenten belegen. Da komme ich auch noch mal auf die CDU zurück. In den Jahren 2014 bis 2017, in diesen Boomjahren, haben wir laut Zahlen des Statistischen Bundesamts, Herr Haase, die Verkehrsinfrastruktur trotz boomender Einnahmen auf Verschleiß gefahren. ({14}) – Die Investitionssumme war geringer als die Abschreibung und der Verschleiß; das sind nicht meine Zahlen, Herr Rehberg. – Um das zu verhindern, sagen wir Grüne nicht, dass man alle Investitionen kreditär finanzieren muss. Nein, man kann auch Investitionen aus dem Haushalt gegenfinanzieren; das ist richtig. Aber wir brauchen bei einer verschlissenen Infrastruktur zusätzlich mehr auf der aktuellen Zeitschiene. Deswegen muss man zum Aufbau von Vermögen für Investitionen in zukunftsgerichtete Infrastruktur – sei es der digitalen, sei es der Verkehrsinfrastruktur – sehr wohl Kredite aufnehmen. ({15}) Alle Volkswirte sagen, dass das unter ökonomischer Hinsicht sinnvoll ist. ({16}) Dieser Erkenntnis sollten Sie sich nicht verschließen. Deswegen kommen wir zu dem Schluss: Dieser Haushalt 2020, so wie Sie ihn beschlossen haben, hat große Schwächen mit Blick auf die Zukunftsfestigkeit. Was ist von daher zu tun? Wir würden Sie auffordern, im Rahmen der Verfassung und der Schuldenbremse, die wir jetzt haben, mittels Investitionsgesellschaften, also öffentlichen Unternehmen, kreditfinanzierte Investitionen zum Beispiel in neue Ladeinfrastruktur vorzunehmen. Das ist im Rahmen der Schuldenbremse erlaubt. Lassen Sie es uns einfach in Form dieser Investitionsgesellschaften anpacken. ({17}) Lassen Sie uns auch zügig in Angriff nehmen, den Spielraum, den die Schuldenbremse für zusätzliche Investitionen lässt, auszunutzen. Lassen Sie uns endlich einen Bundesinvestitionsfonds auflegen, um das mehrjährige Investitionsversprechen, wozu uns Wissenschaftler auffordern, wozu uns die EU-Kommission auffordert, wozu uns viele auffordern, einzulösen. Lassen Sie uns das angehen. Das kann man mit einer behutsamen Weiterentwicklung der Schuldenbremse schaffen, -

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Anja Hajduk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003547, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

– die weiterhin auch strikte Grenzen einhält. Haben Sie davor nicht so viel Angst!

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, bitte.

Anja Hajduk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003547, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wenn die Unklarheit der GroKo heute dort zu mehr Bewegung führt, dann wäre ich damit sehr einverstanden. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Nun erwarten wir den Beitrag des Kollegen Dr. Hans Michelbach, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren von der FDP, zunächst einmal: Sie unterliegen heute wieder einmal einem Missverständnis. ({0}) In der Großen Koalition gibt es keine Auseinandersetzung über den Kurs in der Haushalts- und Finanzpolitik und über die schwarze Null. ({1}) Es gibt einen Koalitionsvertrag. Da können Sie alles nachlesen. Die darin festgelegten klaren Regelungen gelten für die Dauer dieser Legislaturperiode. Das ist die Wahrheit, meine Damen und Herren. ({2}) Zur Erinnerung zitiere ich Ihnen auch gern einmal wörtlich mit der Genehmigung des Herrn Präsidenten die entsprechende Passage: Wir sind uns über das Ziel eines ausgeglichenen Haushalts ohne neue Schulden und unter Einhaltung der entsprechenden grundgesetzlichen Vorgaben einig. ({3}) Dieser Koalitionsvertrag gilt, und zwar ungeachtet aller sonstigen parteipolitischen Vorstellungen des SPD-Parteitags. Für uns gilt dieser Koalitionsvertrag, meine Damen und Herren, und wir sind vertragstreu. ({4}) Koalitionsvertrag ist Koalitionsvertrag, und daran wird nichts geändert, ({5}) auch nicht hinsichtlich Vermögensteuer oder was Sie sonst für Vorstellungen haben. Die Menschen in unserem Land haben einen Anspruch auf Verlässlichkeit und Stabilität. Dafür steht die CDU/CSU, und das spiegelt sich auch in der Haushalts- und Finanzpolitik wider. Wir kommen im nächsten Jahr zum siebten Mal in Folge ohne neue Schulden aus. ({6}) Wir haben vor wenigen Tagen mit unserem Koalitionspartner einen weiteren Stabilitätshaushalt beschlossen. Wir halten den Euro-Stabilitätspakt vollständig ein. Gleichzeitig haben wir nochmals die Mittel für Investitionen erhöht. Meine Damen und Herren, es gibt seit 2015 einen Investitionshochlauf, wie es ihn noch nie gegeben hat, und im Vergleich kann da kein anderes Land bessere Ergebnisse vorweisen. ({7}) Das ist ein Erfolg unserer Finanzpolitik, ein Erfolg der Politik der schwarzen Null, und es ist richtig, diesen Kurs auch für die Zukunft beizubehalten. ({8}) Alle Schuldenschleusen aufzumachen, ist falsch. ({9}) Jetzt zusätzliche Kreditbelastungen aufzubauen, die dann in vielleicht weniger guten Zeiten wie ein Klotz am Bein hängen, wäre geradezu verantwortungslos. Ich bin schon erstaunt, Frau Kollegin Hajduk: Wir als Parlament haben Verantwortung für die Nachhaltigkeit, für die junge Generation, ({10}) nicht der BDI, nicht Herr Hüther; die haben alle schon das Gegenteil behauptet, meine Damen und Herren. ({11}) Diese Kronzeugen lehnen wir ab. Das ist nicht nachhaltige Politik. ({12}) Denn es ist ja nicht so, dass die Kredite nicht zurückgezahlt werden müssen. ({13}) Noch eines sollten wir aus Erfahrung wissen: Rekordschulden führen nicht zu Rekordwachstum, sondern zu Rekordinflation und Rekordarbeitslosigkeit. Wir wollen diese 5 Millionen Arbeitslose der Jahrtausendwende nicht mehr; das ist unsere Botschaft, meine Damen und Herren. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir stellen schon heute eine Rekordsumme für Investitionen bereit, und wir entlasten auch die Steuerzahler. Wenn wir unser Land stärker nach vorn bringen wollen, brauchen wir keine neuen Schulden, sondern ein radikales Abspecken bei Planungs- und Genehmigungsverfahren. ({14}) Wir brauchen ein Unternehmensteuerrecht, das wieder international voll wettbewerbsfähig ist. ({15}) Wir müssen daran denken, dass das nicht dem Unternehmer privat nützt, sondern dass das für das Unternehmen und die Arbeitsplätze da ist. Wir müssen den Gedanken haben: Erwirtschaften kommt vor Verteilen, meine Damen und Herren. ({16}) Das ist unsere Politik von CDU und CSU. ({17}) Wir brauchen nicht neue Schulden, sondern die Fortsetzung der Politik der schwarzen Null, um Planungssicherheit in der Wirtschaft zu erhalten. Als Unternehmer weiß ich, dass man Planungssicherheit für Investitionen in die Zukunft braucht, und da ist die Stabilitätspolitik eine Planungssicherheit. Also, meine Damen und Herren: Wir führen keine Koalition der Sollbruchstellen, wie hier von der FDP behauptet. Wir führen eine Koalition ({18}) der Verantwortung. Die ist der FDP leider 2018 abhandengekommen. ({19}) So sieht die Wahrheit aus. Wir als CDU/CSU arbeiten für eine gute Zukunft für die Menschen, für die Arbeitsplätze und letzten Endes für die nachwachsenden Generationen. Herzlichen Dank. ({20})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Michelbach. – Als nächster Redner hat der Kollege Albrecht Glaser, AfD-Fraktion, das Wort. ({0})

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Kein Problem, lieber Herr Kollege, wenn Sie wollen, können Sie auch vor mir reden. Ich habe da gar kein Problem. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Erstens. Eine schwarze Null hat es nie gegeben. Dabei handelt es sich um eine Phantomdebatte, wie wir heute wieder hören. Solange der Bundeshaushalt im Unterschied zu den Kommunen, einzelnen Bundesländern und der Mehrzahl der EU-Staaten nicht den jährlichen Vermögensverzehr – Straßen, Brücken, militärisches Großgerät und vieles andere – des gesamten Bundesvermögens zeigt und dieser in Geld erwirtschaftet wird, so lange haben wir keinen ausgeglichenen Haushalt. Punkt! ({0}) Zweitens. Wer, wie das gesamte linke politische Spektrum, die Schuldenbremse aufheben will, will zurück zur Kamikazepolitik „Wir geben aus – die nächste Generation soll die Schuldenlast tragen“. Die Theorie, für langfristige Investitionen müsse man Schulden machen, ist so alt und so falsch, ({1}) dass man es eigentlich nicht ertragen kann, das über Jahre und Jahrzehnte immer wieder hören zu müssen. Drittens. Wer den Bürgern eine Eckrente von 50 Prozent bis 2040 verspricht und Finanzminister ist, lügt die Leute an. Bei einem Altersquotienten von 50 Prozent zum Ende der 20er-Jahre müssen zwei Erwerbstätige einen Rentner finanzieren. Alle jüngeren Erwerbstätigen in diesem Lande, meine Damen und Herren, wissen, dass die Jüngeren das nicht leisten können, ({2}) nicht in Deutschland, dem Land der weltweit geringsten Geburtenrate. ({3}) – Ja, die vergesse ich. Die liegt unter 1 Prozent und wird auch in Zukunft unter 1 Prozent liegen. ({4}) Und wenn Sie weiter Politik machen, werden wir mit Sicherheit überhaupt keinen Produktivitätszuwachs mehr haben. ({5}) Viertens. Deutschland hat seit 2018 28 Milliarden Euro an die EU abgeführt. 2024 sollen es 60 Milliarden Euro werden. Diese EU-Umlage mutiert zur zweitgrößten Ausgabe im Bundeshaushalt. Eine verantwortungsbewusste nationale Haushaltspolitik darf das nicht zulassen. ({6}) Diesen Vorgang dann noch zu kaschieren, indem der Finanzminister die Abführungen an die EU im Bundeshaushalt zur Einnahme mit negativem Vorzeichen erklärt, ist Verschleierungspolitik und ein Verstoß gegen Denkgesetze, meine Damen und Herren. Ich wiederhole von hier aus: Es gibt haushaltsrechtlich keine negativen Einnahmen – so wenig, wie es positive Ausgaben gibt; das könnten Sie übrigens noch erfinden, das wäre eine echte Innovation, die ich Ihnen zutraue. ({7}) Diese Manipulation ist ein Verstoß gegen die Klarheit, Wahrheit und das Saldierungsverbot im Staatshaushalt. Die optische Verkürzung des Gesamthaushaltsvolumens – über 60 Milliarden Euro –, die Sie Tag und Nacht hier betreiben, ist eine Täuschung der Öffentlichkeit. Wir haben ein Haushaltsvolumen von 420 Milliarden Euro und nicht von 360 Milliarden Euro. Fünftens. Deutschland ist bei der Abgabenlast im Kreis der großen Wirtschaftsnationen der Welt Spitzenreiter. Wer diese unrühmliche Spitzenposition ausbauen will, wird die Wirtschaft lähmen und die Bürger noch ärmer machen. Schon heute sind die Privathaushalte in Deutschland nahezu die ärmsten in der EU – entgegen allgemeiner Kanzlerinnengesänge wie „Nie ging es uns so gut wie heute“. ({8}) Die absurde Euro-Politik der EZB – Abkürzung für „Europäische Zockerbude“ - ({9}) zerstört mit Negativzinsen die Sparmöglichkeiten für Millionen Bürger, die alle um einen Vermögensaufbau, wenngleich vielfach nur in bescheidenem Ausmaß, bemüht sind. Mit der Inflation zusammen schrumpft jede Art von Geldvermögen jährlich um über 2 Prozent, in den letzten Jahren um über 300 Milliarden Euro. Meine Damen und Herren, das ist Enteignung pur durch eine illegale Vermögensteuer. Sie haben sie also schon, die Vermögensteuer – ich weiß nicht, was Sie noch für eine wollen –, bloß, die ist halt illegal. ({10}) Auf diesem Wege wird Massenarmut hergestellt, in Sonderheit Altersarmut, von der in diesen Tagen so viel die Rede ist. Eine elementare Funktion des Geldes als Wertaufbewahrungsmittel ist durch diesen missglückten Euro zerstört worden, meine Damen und Herren, und zwar ist es eine von drei elementaren Funktionen von Geld. Sechstens. Die Wirtschaftsleistung der Euro-Zone ist von 2008 bis 2018 um 3,1 Prozent gesunken. Die Wirtschaftsleistung der USA ist im gleichen Zeitraum um 40 Prozent gestiegen. Die Wirtschaftsleistung von China ist im gleichen Zeitraum um 200 Prozent gestiegen. Die EU ist also, wie in Lissabon von allen Eurokraten versprochen, der dynamischste und innovativste Wirtschaftsraum der Welt – das ist schwarzer Humor. ({11}) Siebtens. Zu dem von der FDP beantragten Thema für diese Aktuelle Stunde „Kurs in der Haushalts- und Finanzpolitik“ kann man nur sagen: Es gibt keinen Kurs. Was wir erleben und erleiden, ist Seefahrt ohne Karte und Kompass – von digitaler Navigation gar nicht zu reden. Der politische Verfall des Parteiensystems geht mit dieser Seefahrt einher.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss bitte.

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Man braucht nicht lange nach den Gründen zu suchen. Wer eine solche Chaospolitik macht, bekommt diese politischen Entwicklungen. Herzlichen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

So, Herr Kollege Binding, nun sind Sie an der Reihe. Für die SPD-Fraktion Lothar Binding. ({0})

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer eben genau aufgepasst hat, hat gemerkt, dass Herr Glaser für mehr Zuwanderung plädiert hat. ({0}) Das ist ja mal eine neue Erkenntnis für den rechten Rand in diesem Hause; das ist sehr gut. ({1}) Ich wollte etwas zu Anja Hajduk sagen: Es gibt Zeiten, in denen ist es gut, an der schwarzen Null, an einem ausgeglichenen Haushalt festzuhalten, und es gibt Zeiten, da ist das schlecht. Man muss immer schauen, in welchen Zeiten etwas gut ist. ({2}) Von daher ist es grundsätzlich falsch, an Dogmen festzuhalten. Weder ein ausgeglichener Haushalt noch eine schwarze Null dürfen ein Dogma sein. Ich will ein bisschen auf die Einnahmeseite eingehen. Der Haushalt ist ja sehr dick; dabei ist die Einnahmeseite, die Steuern, allerdings nur sehr dünn. Aber wenn ich jetzt nicht zur Einnahmeseite, sondern zu den Ausgaben rede, dann hat Andreas Schwarz – er ist ja Haushälter – nachher nichts mehr zu sagen. ({3}) Wer hätte sich eigentlich vorstellen können, dass wir nach der Bankenkrise 2007/2008 ein so gutes Wirtschaftswachstum haben, wer hätte das gedacht? Das lag an unserer Art, die Bankenkrise zu regulieren bzw. die Banken zu retten, auch am Kurzarbeitergeld, eine Erfindung von Olaf Scholz; das war ganz essenziell. Alles Beispiele für eine gute Regulierung. Hinter uns liegen fast zehn Jahre Wachstumsphase. Da muss man sagen: Das ist schon ein exzellentes Ergebnis nach einer solchen Zeit der Krise. Jetzt will ich nicht sagen: Das Wachstum lag nur daran, dass die FDP vier Jahre nicht dabei war. ({4}) Nein, ich glaube, der Hauptgrund sind die Leistungsträger. ({5}) Ich nenne mal welche: die Arbeitnehmer, die Arbeitnehmerinnen, die Werte schaffen, also zum Beispiel auf Baustellen arbeiten, zum Beispiel im Büro, in der Logistik, die irgendwo auf dem Bock sitzen, Leute, die in der Fabrik arbeiten, Leute, die sich in einem Konzern engagieren, im Handwerk, auch im Krankenhaus, in der Bildung, auch in der Kultur. All das sind die Leistungsträger. ({6}) – Auch in der Versicherung und bei Banken. Überall sind Leistungsträger. Die Kollegin Stark-Watzinger hat jetzt gesagt: Die Mitte kommt nicht vor. ({7}) Jetzt muss ich tatsächlich vom Parteitag ein Zitat bringen. ({8}) Wenn die Skala des Zollstocks die Einkommensverteilung in Deutschland darstellt, dann sind am Anfang der Skala die ärmsten 10 Prozent, dann folgen die zweitärmsten 10 Prozent, dann die drittärmsten usw., und am Ende der Skala sind die reichsten 10 Prozent. Jetzt will ich sagen, wo für die SPD-Politik ungefähr die Mitte sein könnte. Wir haben die Vorstellung, dass die Mitte ungefähr in der Mitte der Skala des Zollstocks, den ich da jetzt eingeknickt habe, liegt – vielleicht auch ein bisschen oberhalb oder unterhalb, wir sind da nicht so genau –, also ungefähr da, wo unten der Knick ist, ist die Mitte. ({9}) Jetzt haben wir von Herrn Dürr von der FDP gehört, als er zum Soli vorgetragen hat: Der Soli, den ja nur noch die obersten 10 Prozent weiter zahlen müssen, ({10}) würde den Mittelstand belasten. Das heißt, der Mittelstand liegt für die FDP ungefähr am oberen Ende der Skala des Zollstocks, da, wo ich jetzt das letzte Glied des Zollstocks abgeknickt habe. ({11}) Nach unserer Vorstellung ist das nicht die Mitte der Gesellschaft, für uns ist die Mitte der Gesellschaft ungefähr in der Mitte des Zollstocks. Deshalb haben wir mitunter Verständigungsschwierigkeiten. ({12}) – Otto, so viel Abstraktionsvermögen hast du, dass die Mitte nicht nur die Spitze des Knicks darstellt.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Binding, wir haben ein Problem, weil die Stenografen irgendwie nicht protokollieren können, was Sie hier an dem Zollstock aufzeigen.

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die machen das super.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Die sind völlig verzweifelt. ({0})

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie haben recht. Aber besondere Qualifikationen qualifizieren für besondere Aufgaben; das ist wunderbar. Diese Werte werden von denen geschaffen, die ich eben mit der Mitte bezeichnete und anhand des geknickten Zollstocks symbolisch darstellte. Die am oberen Ende der Skala schaffen natürlich auch Werte. Alle Leute, die sich engagieren, schaffen Werte. Aber die Mitte ist jedenfalls die Basis dafür, dass wir Wachstum haben. Jetzt ist die Frage: Was von diesen Werten behalte ich für mich privat, und was gebe ich an die Gemeinschaft ab? Ich bin jedenfalls den Leuten, die der Gemeinschaft etwas abgeben, unendlich dankbar; denn sie verzichten sozusagen auf die individuelle Möglichkeit, sich zu entfalten. Und die entsprechende Abgabe, die sie leisten, heißt Steuer – einmal abgesehen vom Ehrenamt und von bürgerschaftlichem Engagement, was genauso wichtig ist. Wir wissen, dass wir sehr hohe Steuereinnahmen haben. Ist das nicht toll? Trotz dieser hohen Steuereinnahmen in den letzten zehn Jahren haben wir ein exzellentes Wirtschaftswachstum, den meisten Leuten geht es gut. Deshalb kümmern wir uns mehr um die Leute, denen es nicht gut geht. Diejenigen, denen es gut geht, können sich selber helfen. Mit diesen Steuern haben wir etwas Exzellentes gemacht – Bernhard Daldrup hat ein paar Sachen aufgezählt –: Wir haben zum Beispiel das Kindergeld angehoben. Das ist sehr gut für den Wirtschaftskreislauf; denn jeder weiß, das schafft Binnennachfrage. Das ist eine kluge Sache für die Wirtschaft. Dann wollen wir den Soli abschaffen für 90 Prozent der Menschen. Die Idee dabei ist, Nachfrage in der Zukunft, in den nächsten Jahren zu erzeugen. Wir haben die Sonderabschreibung für den Mietwohnungsneubau geschaffen, ({0}) damit Mietwohnungen gebaut werden – aber so maßvoll, dass es die Wirtschaft schaffen kann. Wir haben die Istversteuerung verbessert. Wir haben den Klimaschutz gefördert. Wir haben Elektrofahrzeuge gefördert. Wir haben das Jobticket steuerfrei gestellt. Das jüngste Klimaprogramm ist angelegt auf zehn Jahre, also durchaus ein großer Schritt. Wer übrigens sagt, 43 Milliarden Euro für Investitionen seien nicht viel: Auf die Jahre gerechnet ist das eine halbe Billion. Bahnfahren wird billiger, Fliegen wird teurer. ({1}) Das ist ein ökologisches Gesamtkonzept. Ich glaube, Fridays for Future könnte zufrieden damit sein, wie wir mit den Steuern umgehen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Deshalb ist ein ausgeglichener Haushalt zur rechten Zeit das richtige Instrument. Schönen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Nächster Redner für die FDP-Fraktion ist der Kollege Otto Fricke. ({0})

Otto Fricke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003530, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Geschätzter Herr diensthabender Präsident! Lieber Kollege Binding, wissen Sie, es ist ja immer schön, aber man kann bei diesem roten, zwei Meter langen Zollstock, der die einstmals stolze SPD repräsentiert, eigentlich sehr schnell kontern: Das, was von der SPD übrig geblieben ist, ist ein Lineal von 30 Zentimetern. ({0}) Das ist das, was Ihre Politik hier im Moment auch darstellt. ({1}) Meine Damen und Herren, heute ist Freitag, der 13. Und wenn man über Freitag, den 13., redet, hat man das Gefühl, dass der Aberglaube bei der SPD inzwischen vollständig angekommen ist. Wenn man sich anguckt, was für Parteitagsbeschlüsse Sie fassen und wie Sie dann handeln, muss man einfach sagen: Ist ja schön. Sie blasen, wie jetzt auch hier wieder, bei der Vermögensteuer zum Angriff, machen aber nichts und werden auch nichts machen. Es wird auch in den restlichen Legislaturperioden, in denen Sie hier im Bundestag sind, weiterhin nichts passieren. Sie reden von einer Finanztransaktionsteuer und sagen: Damit kriegen wir die Spekulanten! – Und wen treffen Sie? Die kleinen Sparer, diejenigen, die in Versorgungswerken sind, diejenigen mit Lebensversicherungen. ({2}) Und dann glauben Sie, Sie seien hier inzwischen der verlängerte Arm von Greta Thunberg und könnten mit einem Tempolimit etwas bewirken. ({3}) Was machen Sie? Am 17. Oktober sagen Sie: „Kein Tempolimit“, auf dem Parteitag am 6. Dezember sagen Sie: „Tempolimit“. Und wenn Sie mit der CDU und der CSU nachverhandeln, werden Sie sagen: Ach, wir haben das alles eigentlich gar nicht so gemeint, aber wir hatten den Aberglauben, wir könnten dadurch ein paar Stimmen gewinnen. – So agieren Sie hier. Was ist der größte Aberglaube bei Ihnen? Der größte Aberglaube bei Ihnen ist: Wenn die Schuldenbremse weg ist, dann wird mehr investiert. – Das ist der Aberglaube, den Sie tragen. ({4}) Man muss einfach nur mal auf die Zahlen gucken; denn das ist ganz einfach nachzuweisen. Das Schöne ist: Es muss ja irgendjemand schuld sein; es muss einen Sündenbock geben. ({5}) – Ich komme gleich dazu. – „Es wird zu wenig investiert“, sagen viele. Wenn das so ist, dann kann es in der Zukunft ja nur so sein – das muss nach Ihrer Meinung ja eine Zukunft sein, in der die SPD nicht an der Regierung ist; denn nach Ihrer Meinung machen Sie ja ordentliche Regierungsarbeit, also brauchen Sie so was gar nicht –, dass man – das ist das Spannende – die Schuldenbremse wegnehmen muss; denn die macht ja angeblich Investitionen kaputt. ({6}) Jetzt sage ich ganz ehrlich: Gucken wir uns das mal an – das ist auch wichtig für die, die uns jetzt zuhören –: Wir haben eine Schuldenbremse eingeführt, die übrigens zum 1. Januar des nächsten Jahres erstmalig vollständig wirken wird. ({7}) Wir haben die vollständige Wirkung der Schuldenbremse bisher noch gar nicht erlebt. Aber sind die Investitionen, als wir die Schuldenbremse eingeführt haben, danach irgendwie runtergegangen? Nein, sind sie nicht! Dann die andere Frage: Ist die Investitionsquote runtergegangen? Nein! Also, halten wir doch mal fest, dass Schuldenbremse und Investitionsquote aber nun wirklich nichts miteinander zu tun haben. ({8}) Was Sie verdecken wollen, ist der Zusammenhang zwischen Zukunftsverweigerung und Investitionsquote. Darum geht es nämlich. In Ihren Reden – das kann man wirklich beobachten; ich habe das auch erlebt, als ich da vorne saß und mit der Kollegin Stark-Watzinger gesprochen habe - ({9}) beziehen Sie sich immer auf die Vergangenheit, und genauso machen Sie auch Politik: ({10}) Die Ausgaben, die Sie festgelegt haben, die Steigerungen im Bundeshaushalt – davon ist nichts für Investitionen in die Zukunft vorgesehen. ({11}) Sie geben mehr Geld aus, um Probleme aus der Vergangenheit vermeintlich mit mehr Geld zu lösen. Strukturwandel, Zukunft, Digitalisierung – all das sind die Dinge, mit denen Sie sich nicht beschäftigen. ({12}) Sie beschäftigen sich damit, wie schön die Welt früher war mit den Zwei-Meter-Zollstöcken des Kollegen Binding; heraus kommt, wie gesagt, ein 30-Zentimeter-Lineal. Das ist Ihr Problem. ({13}) Meine Damen und Herren, das liegt aber an etwas anderem, nämlich an einem Glauben tief in Ihnen drin. ({14}) Ich sage mit voller Ernsthaftigkeit: Die Sozialdemokratische Partei ist die erfolgreichste Nachkriegspartei gewesen. Wenn man Ihre Programme aus den 50er-Jahren liest und mit dem vergleicht, was heute ist: Da könnten Sie sich ganz viel ans Revers heften. Aber Sie bleiben eben in der Vergangenheit verhaftet. Ihre Frau Esken – ich habe immer das Gefühl, dass SPD inzwischen für „Saskias Parteidesaster“ steht – hat es im Januar 2018 doch so schön gesagt: Wer Sozialismus negativ verwendet, hat halt einfach keine Ahnung. Dann, im November 2019: *Echten* Sozialismus gab’s bisher noch nicht. Das Interessante ist: Ihre Reden waren wieder gleichlautend: ({15}) Wir wollen einen modernen Sozialismus. Dafür müssen wir mehr Geld ausgeben. Wir sagen, es sei für Investitionen. – Aber was machen Sie faktisch? Sie geben es für mehr Sozialprojekte aus. Das ist ein Irrweg. ({16}) Meine Damen und Herren, ich will zum Schluss dennoch etwas Positives sagen. Heute ist Freitag, der 13., und immerhin: Ein paar Sozialdemokraten haben sich aus dem Haus getraut. Das ist schon mal ein Anfang. Ein schönes Wochenende! ({17})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächster Redner hat für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Klaus-Dieter Gröhler das Wort. ({0})

Klaus Dieter Gröhler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004281, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Meine Damen und Herren! Ich traue mich fast gar nicht ans Rednerpult. Ich habe keinen Zwei-Meter-Zollstock dabei, ich habe auch kein 30-Zentimeter-Lineal dabei. ({0}) Ich habe als Haushälter ganz einfache, banale Zahlen, ({1}) und die will ich mal in den Vordergrund stellen: 2013 haben wir 32 Milliarden Euro aus Bundesmitteln ausgegeben, nur um Zinsen zu zahlen; das waren mehr als 10 Prozent des ganzen Bundeshaushaltes. 2009, auf dem Höhepunkt der Krise, haben wir eine Neuverschuldung von 34 Milliarden Euro gehabt, die wir eins zu eins weitergeben konnten, weil wir Zinszahlungen in Höhe von 35 Milliarden Euro leisten mussten. Aktuell, 2019, werden wir knapp 18 Milliarden Euro für Zinszahlungen ausgeben müssen. Das ist der Situation niedriger Zinsen geschuldet; aber immerhin sind es noch 18 Milliarden. Nur mal zum Vergleich: Das ist so viel, wie der Haushalt für Bildung und Forschung umfasst. Das heißt, hätten wir keine Staatsschulden, könnten wir das Doppelte für Bildung und Forschung ausgeben. Meine Damen und Herren, ich habe den Rednern sehr intensiv zugehört, und ich muss ganz ehrlich sagen: Keiner hat mir überzeugend dargestellt, warum wir jetzt tatsächlich in eine Neuverschuldung gehen sollten. Wir bewegen uns jetzt ins siebte Jahr ohne Neuverschuldung. Ich habe den Eindruck, dass der eine oder andere sagt: Sieben Jahre, das ist zu lang! Ich brauche endlich wieder dieses süße Gift der Staatsverschuldung. ({2}) An dieses süße Gift, meine Damen und Herren, sollten wir uns nicht erneut gewöhnen; denn die Entwöhnungskur würde wieder schwierig werden. Wir haben doch auch gar keinen Bedarf danach. Wir haben doch kein Einnahmeproblem. Bund, Ländern und Gemeinden haben so hohe Steuereinnahmen, wie sie sie noch nie hatten. Da gibt es doch überhaupt keinen Grund, zu sagen: „Ich brauche zusätzliches Geld“; denn die Investitionsmaßnahmen – Ihre Kollegen haben darauf hingewiesen – sind im Hochlauf. Wir haben zusätzlich ein Klimapaket auf den Weg gebracht, das durch staatliche Finanzmittel umfangreiche private Investitionen nach sich ziehen wird. Deshalb frage ich: Was würden uns denn zusätzliche Schulden bringen? Jedenfalls nicht mehr Investitionen, die tatsächlich umgesetzt werden können. Ich habe mir vom Kollegen Rehberg noch einmal die Zahlen geben lassen, wie viel die Kommunen im letzten Jahr für Investitionen ausgeben wollten. Für ganz Deutschland sind das 34 Milliarden Euro. Tatsächlich ausgegeben haben sie 22 Milliarden. ({3}) Auch das zeigt wieder: Das Problem war nicht, dass das Geld nicht da war, sondern dass das Geld nicht abgeflossen ist. Jetzt wird gefragt, warum. Darauf haben wir mehrfach hingewiesen: weil wir erhebliche Umsetzungsprobleme und Planungshindernisse haben. Lassen Sie uns doch bitte lieber darangehen, diese abzubauen, als nach neuen Staatsschulden zu rufen. ({4}) – Na, ich habe einige hier gehört, die sagen: Lasst uns die Schuldenbremse abschaffen. – Nein, natürlich nicht der liebe Koalitionspartner, Herr Kollege; aber der eine oder andere hat ja doch gesagt, er wolle die Schuldenbremse außer Kraft setzen oder gar abschaffen. Da will ich noch einmal erinnern: Wir haben ja gelernt, dass Nachhaltigkeit ein wichtiges Gut ist. Wer aber glaubt, dass Nachhaltigkeit nur eine ökologische Frage ist, der irrt. ({5}) Ich glaube, wir sollten, insbesondere weil wir wissen, dass in Zukunft weniger Menschen in diesem Land das Bruttosozialprodukt erwirtschaften müssen, diesen weniger werdenden Menschen nicht immer mehr Schulden hinterlassen. ({6}) Eins will ich auch sehr deutlich sagen: Deutschland unterschreitet jetzt zum ersten Mal wieder die Maastricht-Kriterien. ({7}) Welches Recht haben wir, von anderen Ländern in Europa wie Frankreich, Italien oder Griechenland zu fordern, dass auch sie in Zukunft weniger Schulden machen, wenn wir sofort, nachdem wir das erste Mal wieder die Maastricht-Kriterien unterschreiten, nach neuen Staatsschulden rufen? Ich glaube, wir haben dann international unseren Anspruch verfehlt. Wir können den anderen Ländern nicht sagen: „Bitte spart jetzt auch mal ein bisschen“, wenn wir selbst wieder richtig aus dem Vollen schöpfen. ({8}) Ich glaube, bei dieser Debatte ist sehr klar geworden, meine Damen und Herren, dass die Bürgerinnen und Bürger insbesondere auf eine Partei setzen sollten, wenn es darum geht, Staatsfinanzen verantwortungsvoll zu gestalten: ({9}) Das sind die CDU und die CSU, zurzeit auch zusammen mit unserem Koalitionspartner und Olaf Scholz als Finanzminister. ({10}) Ich hoffe mal, dass das so bleibt. Ich bedanke mich für das Zuhören und wünsche einen schönen dritten Advent. ({11})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Gröhler. – Als nächster Redner: für die SPD-Fraktion der Kollege Andreas Schwarz. ({0})

Andreas Schwarz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004407, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher auf der Tribüne! Nach der Debatte fällt mir ein Zitat ein: Diejenigen, die wissen, wie es nicht geht, sollen nicht diejenigen stören, die es bereits tun. ({0}) Seien Sie mir nicht böse: Mein erster Gedanke, liebe Mitglieder der FDP-Fraktion, als ich Ihren Antrag gelesen habe, war: Der ist unnötig wie ein Kropf. – Ich sage Ihnen: Sie werden es nicht schaffen, einen Keil zwischen diese Koalition zu treiben. ({1}) Aber ich bin ja ein optimistischer Mensch. Wir haben jetzt die Chance, gute Politik nochmals zu erklären – vielleicht nicht der FDP, aber den Menschen hier im Raum oder denen, die draußen zuhören. ({2}) Wir haben einen ausgezeichneten Koalitionsvertrag, der es verdient, auch nach der Hälfte der Legislatur weiterhin abgearbeitet zu werden. ({3}) Für die SPD gilt: Pacta sunt servanda, also Verträge sind einzuhalten. An dieser Vertragstreue werden wir festhalten. Wir liefern doch den Menschen hier im Land ein Feuerwerk an guten Projekten, wie auch die Bertelsmann-Stiftung bescheinigt hat. Sie, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, freuen sich doch darüber, dass wir die Krankenversicherung wieder in die Parität geführt haben – also halbe-halbe machen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern –, dass wir den Soli zumindest für die kleinen und mittleren Einkommen abgeschafft haben. ({4}) Damit sind 96 Prozent der Menschen in diesem Land entlastet. Das sind immerhin 10 Milliarden Euro, die wir den Leuten hier zukommen lassen. Wir haben auch ein Teilhabechancengesetz auf den Weg gebracht, um Fördermöglichkeiten für Langzeitarbeitslose zu entwickeln. Wir haben die Grundrente auf Kurs gebracht. Wir haben das Gute-KiTa-Gesetz mit Mitteln in Höhe von 5 Milliarden Euro geschaffen. Wir haben das Starke-Familien-Gesetz auf den Weg gebracht. ({5}) Wir investieren 5 Milliarden Euro in die Schulen, damit sie digitalisiert werden. Meine Damen und Herren, Sie sehen: Alles Ergebnisse, natürlich aber auch Kompromisse, die sich sehen lassen können und die für die Menschen hier in unserem Land sicherlich eine große Entlastung sind. Und sind Kompromisse denn wirklich so schlimm? Ist es wirklich so schlimm, wenn wir um Entscheidungen ringen? ({6}) Ich glaube, der Kompromiss muss die Geschäftsgrundlage aller Gespräche hier im Hause sein, ({7}) zumindest zwischen den demokratischen Kräften. ({8}) Der Kompromiss ist der Diamant der Demokratie. Damit aber nicht genug, meine Damen und Herren. Erst vorletzte Woche haben wir den Bundeshaushalt 2020 beschlossen. Als Haushälter darf ich anmerken: Es ist ein gelungener Haushalt. – Ich könnte keinem Menschen erklären, warum wir in Anbetracht dieser Wirtschaftsdaten, Konjunkturlage etc. Schulden machen sollen. ({9}) Im Übrigen haben wir dieses Thema gestern schon in einer langen Debatte abgeräumt. Auf was können sich die Zuhörerinnen und Zuhörer bei diesem Bundeshaushalt denn freuen? Es ist ein Haushalt auf Rekordniveau, mit vielen Investitionen. Sie können also auch zu Recht von uns erwarten, dass wir in die Zukunft dieses Landes investieren: in Schulen, in Kitas, in Schienen. – Allein die Bahn wird in den nächsten zehn Jahren über 156 Milliarden Euro investieren. ({10}) Wir investieren in Straßen, in Wohnungsbau. Wir haben eine Städtebauförderung. Wir investieren in Bildung, in Familien. Und wir finanzieren ein Klimaschutzprogramm 2030 mit weiteren 54 Milliarden Euro. Der Haushalt selber hat ein Investitionsvolumen – so eines hatte dieses Land noch nicht – von 43 Milliarden Euro. Das Positive ist: Wir schaffen das alles ohne Schulden. Seit 2014 brauchen wir keine Kredite mehr, um unseren Haushalt zu finanzieren. Welches Signal senden wir an Europa? Die gesamtstaatliche Schuldenstandsquote werden wir erstmals wieder auf unter 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts senken. Die sogenannten Maastricht-Kriterien werden wir somit einhalten. Sie als Steuerzahler erwarten doch eine verantwortungsvolle Politik mit Augenmaß. Die SPD ist der Anwalt der Ehrlichen und der Fleißigen. ({11}) Ich weiß daher nicht, warum die FDP meint, dass die Große Koalition dieser Verantwortung nicht gerecht werden wolle. Mit dem Begriff „Verantwortung“ sollte man bei der FDP sowieso vorsichtig sein und äußerst sparsam umgehen. ({12}) Ihrer Verantwortung haben Sie sich bei Jamaika nicht gestellt. ({13}) – Ja, das tut weh; aber das muss man auch immer wieder sagen. ({14}) Für das neue Jahr gilt es, die 365 Milliarden Euro, die wir auszugeben vorhaben, umzusetzen. Das werden wir tun. Wir werden Förderrichtlinien vereinfachen. Wir werden Bürokratie abbauen. Wir werden Genehmigungsverfahren beschleunigen. ({15}) Wir geben den Menschen in diesem Land die notwendige Zuversicht für eine gute Zukunft. Wir arbeiten an den Zukunftsthemen wie Digitalisierung, Transformation der Arbeitswelt, Mobilitätswende oder Klimawandel. Wir können das, weil dieses Land die Kraft und die finanziellen Möglichkeiten hat, mutig und mit Zuversicht in die Zukunft zu gehen. Die Große Koalition liefert, und wir lassen die Menschen in diesem Land mit ihren Fragen nicht alleine. Wir machen eine gerechte Politik -

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.

Andreas Schwarz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004407, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

– und das Land zukunftsfähig. Wir sind, wie gesagt, der Anwalt der Ehrlichen und Fleißigen. In diesem Sinne: Allen noch einen schönen dritten Advent. Danke schön. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Schwarz. – Als letzte Rednerin der heutigen Sitzung hat die Kollegin Patricia Lips, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({0})

Patricia Lips (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003582, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Nahezu jeden Morgen und natürlich dann auch jeden Abend komme ich auf meinem Weg in die Wohnung hier in Berlin beim Bund der Steuerzahler vorbei, ({0}) wobei man an einem Blick auf die Schuldenuhr oberhalb des Eingangsbereichs eigentlich kaum vorbeikommen kann. Aktuell wird dort eine gesamtstaatliche Verschuldung von rund 1,92 Billionen Euro angezeigt. ({1}) Das sind sechs komplette Bundeshaushalte der neueren Generation. Die Pro-Kopf-Verschuldung liegt bei 23 000 Euro. Der Abbau pro Sekunde beträgt 66 Euro; das ist wenig, aber immerhin. Die meiste Zeit meines Abgeordnetendaseins zählte diese Uhr aufwärts, und seit einigen Jahren nun abwärts. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich freue mich jedes Mal, wenn ich das sehe. ({2}) Ich darf daran erinnern – weil einige noch nicht im Haus waren; ich war damals schon hier –: Vor gut 15 Jahren erhielt dieses Land als erstes Land in der Euro-Zone den sogenannten Blauen Brief aus Brüssel, da es mit Schulden alle Kriterien eingerissen hatte, die es selbst für die Stabilität unserer Währung kurz zuvor noch gefordert hatte. Es war ein verheerendes Signal. Was dann 2008/2009 im Rahmen der Finanz- und Wirtschaftskrise geschah – die Rettungsmaßnahmen in der Euro-Zone, aufgebrachte Gemüter auch im eigenen Land –, ist alles schon vergessen. Haben wir nicht gesehen, dass ganze Nationen durch Überschuldung pleitegehen können, mal salopp ausgedrückt? Letztendlich beschäftigen uns diese Auswirkungen doch noch bis heute. Nun ist Deutschland einiges entfernt von einer Insolvenz, trotz der eingangs erwähnten Zahlen. Aber es ist bemerkenswert, wie wir uns heute freuen können, dass wir nun erstmals eine Schuldenquote von nur noch 60 Prozent des Bruttoinlandproduktes erreichen. Kolleginnen und Kollegen, das war eines jener Maastricht-Kriterien, und es hat viele Jahre gedauert, bis das größte und wirtschaftlich stärkste Land in der Europäischen Union diesen Wert endlich wieder erreichte. ({3}) Dazu gehören natürlich als ein Beitrag die gesamtstaatlich hohen Steuereinnahmen von aktuell rund 800 Milliarden Euro, ein Drittel davon beim Bund. ({4}) Deswegen ist es umso wichtiger, zu fragen: Welches Signal senden wir also einmal mehr an diejenigen, denen es nicht so gut geht, die sich aber bemühen, zu sparen, wenn ausgerechnet wir ohne Not – allein schon durch die Diskussion darüber in der Öffentlichkeit – über Neuverschuldung reden? Welche Legitimation haben wir dann noch, von anderen zu erwarten, dass sie sich an Spielregeln halten? Und wie steht es um unsere eigene Glaubwürdigkeit? ({5}) Ich möchte noch mal auf die Investitionen zurückkommen. Wenn man die Diskussionen in diesen Tagen verfolgt, hat man ja fast das Gefühl, es würde gespart und Mittel würden zurückgehalten allein um des Zurückhaltens und eines undefinierten Sparzwanges willen. Sind 5 Milliarden Euro für den DigitalPakt Schule keine Investitionen? Sind rund 40 Milliarden Euro für den Kohleausstieg keine Investitionen? Sind fast 10 Milliarden Euro Regionalisierungsmittel für den öffentlichen Personennahverkehr keine Investitionen? Sind Investitionshilfen in Höhe von 3,5 Milliarden Euro für finanzschwache Kommunen keine Investitionen? Was ist mit den Mitteln in Höhe von 4,4 Milliarden Euro für den Kitaausbau, 1,5 Milliarden Euro für den sozialen Wohnungsbau oder 2 Milliarden Euro für die Ganztagsschulbetreuung? Das sind nur einige wenige Beispiele. Das sind im Übrigen mehrheitlich Aufgaben, die dem Bund eigentlich gar nicht obliegen; aber das nur am Rande. Manchmal darf man auch an die Verantwortung der Länder erinnern. ({6}) Insgesamt stehen 43 Milliarden Euro an Investitionsmitteln im kommenden Jahr zur Verfügung. Viel wichtiger ist jedoch, dass sie auf rund 19 Milliarden Euro Haushaltsreste treffen. Daran zeigt sich doch eines: Die bereits vorhandenen Mittel fließen schlicht nicht ab. Da müssen wir ran, Kolleginnen und Kollegen, einige haben es erwähnt: Planungsverfahren beschleunigen, Kapazitäten erweitern, ein einfacheres Planungs- und Vergaberecht. Hier sollten wir zusätzliche Initiativen ergreifen, soweit es in unsere Zuständigkeit fällt, aber dann natürlich auch vor Ort Taten folgen lassen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Schluss. Natürlich ist es wohlfeil, zu argumentieren, man wolle künftigen Generationen ein intaktes Land hinterlassen. Aber letztlich gilt auch für die öffentliche Hand: Irgendeiner muss am Ende die Schulden bezahlen. ({7}) Die Entscheidung treffen die Parlamente. Das Geld kommt vom Steuerzahler. Vor diesem Hintergrund sind nach meinem Dafürhalten die alten Schulden aus den genannten Gründen bereits hoch genug, unabhängig von wem sie verursacht und für was auch immer sie entstanden sind. In diesem Sinne: Allen einen besinnlichen dritten Advent. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Lips. – Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.