Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir über Fortschritt sprechen, unterliegen wir manchmal gefährlichen Illusionen. Als vor 71 Jahren erstmals das Wesen der Menschenrechte beschrieben wurde, und zwar als unteilbar, unveräußerlich, universell, da war das ein gewaltiger Fortschritt. Ja, wir haben in der Zeit bis heute viel erreicht, um diesem Streben auch mit Taten gerecht zu werden.
Allerdings: Manchmal neigt man auch dazu, den Fortschritt als etwas allzu Selbstverständliches zu empfinden. Die letzten Jahre haben vor allen Dingen eines gezeigt: Es gibt keinen Automatismus für den Fortschritt bei Menschenrechten. Stattdessen erleben wir einen besorgniserregenden Pushback, und zwar weltweit. In immer mehr Ländern – ja, auch im Westen – geraten Menschenrechte unter Druck.
Wie weit wir von einer tatsächlich gelebten Universalität der Menschenrechte entfernt sind, das zeigt der Blick auf die vielen Konflikte, mit denen wir es zurzeit zu tun haben: Gefangene werden in Syrien zu Tode gefoltert. Mehr als 1 Million Uiguren sind in China in Lagern interniert. Kritische Meinungsäußerungen werden etwa in Venezuela brutal unterdrückt. Würde ich diese Liste fortführen wollen, wäre das nicht möglich, weil mir dafür zu wenig Redezeit zur Verfügung steht.
Meine Damen und Herren, es hilft aber wenig, diesen Pushback nur zu beklagen. Was wir brauchen, ist vielmehr eine neue Entschlossenheit, Menschenrechte nicht nur zu verteidigen, sondern sie sogar auszubauen und zu stärken. Wie schwierig das aber sein kann, das haben wir selbst gerade im April erlebt, als wir die Präsidentschaft im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen innehatten. Dort wurden beharrlich sogar Selbstverständlichkeiten bei der Verhandlung zu einer Resolution zum Kampf gegen sexualisierte Gewalt in Konflikten infrage gestellt, und zwar auch von Seiten, von denen wir das überhaupt nicht erwartet haben. Doch am Ende konnte man diese Resolution verabschieden. Es zeigt sich, dass es sich auch dann, wenn es schwieriger wird, lohnt, sich überall für Menschenrechte einzusetzen und vor allen Dingen bei den Vereinten Nationen.
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Meine Damen und Herren, diesen Kampf für Menschenrechte müssen wir entschlossen weiterführen. Das werden wir auch tun, insbesondere wenn wir ab Januar 2020 parallel im Menschenrechtsrat und im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen sitzen. Das ist eine Chance für uns, und die wollen wir nutzen.
Meine Damen und Herren, die großen Herausforderungen unserer Zeit, sei es die Digitalisierung, die Globalisierung, die Migration oder auch der Klimawandel, kennen nicht nur keine Grenzen, sondern sie haben auch allesamt massive Auswirkungen auf die Umsetzung der Menschenrechte weltweit. Die Antwort darauf kann eigentlich nur sein, dass wir auf der internationalen Ebene so etwas wie eine Allianz für Menschenrechte brauchen. Eine solche Allianz haben wir gerade am Dienstag hier in Berlin auf einer großen Konferenz im Auswärtigen Amt im Rahmen der Allianz für den Multilateralismus ins Leben gerufen.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der FDP?
Gerne.
Bitte, Herr Kollege.
Herr Minister, vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen. – Sie haben ja mehrmals gesagt, dass Menschenrechte universell und unteilbar sind. Es ist aus meiner Sicht grundsätzlich richtig und gut, wenn der deutsche Außenminister bzw. die Bundesregierung sich für Menschenrechte weltweit einsetzt.
Herr Minister, ich will Ihnen nur eine Frage aus der Praxis stellen. Es gab in den letzten Tagen im Iran einige Demonstrationen. Allein innerhalb von fünf Tagen sind über 300 Menschen erschossen worden. 4 000 Menschen sitzen dort im Gefängnis, einige werden gefoltert und demnächst verurteilt.
Erstaunlicherweise, Herr Minister, waren Sie bis zum heutigen Tag nicht ein einziges Mal in der Lage, diese eklatanten Menschenrechtsverletzungen zu verurteilen. Von Ihnen habe ich bis zum heutigen Tag zu diesem Thema nichts gehört. Herr Minister, ich bitte Sie, ich fordere Sie auf, hier im Deutschen Bundestag diese Menschenrechtsverletzungen zu verurteilen. Und vor allem: Sind Sie in der Lage, heute und hier Stellung zu beziehen, Herr Minister?
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Sehr geehrter Herr Kollege, es mag Ihnen vielleicht nur entgangen sein, aber wir haben das, was im Iran geschieht, vor allen Dingen die vielen Toten, die es gibt und von denen wir noch nicht einmal wissen, wie viele es sind – wir müssen davon ausgehen, dass es sich tatsächlich um mehrere Hundert handelt –, aufs Schärfste verurteilt.
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Menschen, die von ihrem Recht Gebrauch machen, ihre Meinung zu sagen oder sich in der Öffentlichkeit zu versammeln, müssen geschützt werden. Sie werden durch die Menschenrechte geschützt. Wer dagegen verstößt, der darf sich nicht darauf verlassen können, dass das auf der internationalen Bühne verschwiegen wird. Das gilt für den Iran. Das gilt im Übrigen für die Entwicklungen, die wir im Irak in den letzten Wochen gesehen haben. Das gilt natürlich für Syrien. Natürlich verurteilt die Bundesregierung die Geschehnisse im Iran aufs Schärfste.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, wichtig ist, dass wir, wenn wir handlungsfähig bleiben wollen, auch in Europa einheitlicher auftreten. Nur wenn wir uns als Europäische Union zu Menschenrechtsfragen klar positionieren, wird es gelingen, diese Werte auch erfolgreich zu verteidigen und vor allen Dingen dabei selber glaubwürdig zu bleiben. Deshalb haben wir uns bei der letzten Sitzung des Außenrates der Europäischen Union dafür nicht nur eingesetzt, sondern ein Projekt auf den Weg gebracht, das der Europäischen Union dabei Glaubwürdigkeit vermitteln soll, nämlich ein Sanktionsregime bei Menschenrechtsverletzungen. Das ist ein Punkt, bei dem die Europäische Union mehr tun kann. Sie wird das in Zukunft tun. Darauf haben wir uns verständigt.
Meine Damen und Herren, Glaubwürdigkeit heißt aber auch, national glaubwürdig zu sein. Deutschland wird international zugetraut, dass wir eine führende Rolle bei der Stärkung von Menschenrechten einnehmen. Und wir wollen diese Rolle auch einnehmen. Dafür müssen wir glaubwürdig sein. Wir müssen nicht nur auf andere zeigen, sondern wir müssen auch dafür sorgen, dass unsere selbstgesteckten Ziele national erreicht werden.
Der aktuelle Menschenrechtsbericht der Bundesregierung zeigt, dass auch wir uns nicht auf den erfolgten Fortschritten ausruhen können. Eine erste Auswertung des Nationalen Aktionsplans „Wirtschaft und Menschenrechte“ hat gerade eines deutlich gemacht: Eine Mehrheit der Unternehmen erfüllt die Vorgaben des Nationalen Aktionsplans noch nicht. Nur knapp ein Fünftel der Unternehmen setzt derzeit die menschenrechtliche Sorgfaltspflicht um.
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Von daher, meine sehr verehrten Damen und Herren, haben wir begonnen, über die Ausgestaltung möglicher gesetzlicher Regelungen zu sprechen – nicht als Gängelung, sondern um vorbildliches Verhalten von Unternehmen zu belohnen und die schwarzen Schafe zur Rechenschaft zu ziehen. Auch das hat etwas mit Glaubwürdigkeit zu tun.
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Meine Damen und Herren, aber auch das reicht nicht aus; denn ein nationaler Alleingang wird die Probleme nicht lösen. Deshalb streben wir auch an, einen Aktionsplan der Europäischen Union zu verantwortungsvoller Unternehmensführung umzusetzen. Wenn wir im nächsten Jahr die Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union innehaben, haben wir eine gute Gelegenheit, dem Nachdruck zu verleihen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, der englische Historiker Henry Thomas Buckle hat einmal gesagt: „Der größte Feind des Fortschritts ist ... die Trägheit.“ Er hat recht. Wir dürfen nicht zufrieden sein, sondern wir müssen uns weiter weltweit für das einsetzen, was vor 71 Jahren formuliert wurde: die Menschenwürde für alle – universell, unveräußerlich und unteilbar.
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Braun, AfD.
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Herr Präsident! Liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein Bericht zur Menschenrechtspolitik ist wichtig. Weltweit werden Menschenrechte mit Füßen getreten. 232 Seiten erscheinen angesichts der Lage auch keinesfalls zu viel. Ausführlich, eigentlich aber ausufernd wird eine Vielzahl von einzelnen Gruppen minutiös beschrieben. Die Zahl der Seiten sagt aber wenig über die Qualität des Berichts aus.
Nimm das Recht weg – was ist dann ein Staat noch anderes als eine große Räuberbande …
Papst Benedikt XVI. zitierte hier im Deutschen Bundestag vor acht Jahren diese zentrale Aussage des heiligen Augustinus.
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Benedikt, dieser große Denker, sieht den Staat als Räuberbande, wenn nicht das Recht herrscht.
Die Regierung Merkel hatte schon damals mehrere große Rechtsbrüche auf dem Gewissen,
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übrigens unter Mitwirkung der FDP damals:
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den illegalen Ausstieg aus der Kernkraft – ein Verfassungsbruch –, die illegale sogenannte Euro-Rettung – ein Bruch des EU-Rechts.
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Der Staat ist dazu da, die Rechte der Bürger zu schützen. Das ist seine Hauptaufgabe. Schon vor acht Jahren hatte die Regierung Merkel diesen Auftrag des deutschen Volkes missachtet, und der Papst aus Deutschland hat ihr den Spiegel vorgehalten.
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Der Islam ist weltweit die größte Gefahr für die Menschenrechte. Davon lesen wir in diesem Bericht nichts. Heute sind die islamischen Staaten der zahlenmäßig größte Block innerhalb der Vereinten Nationen.
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Auf diesen islamischen Block nehmen bereits heute die anderen Staaten Rücksicht. Unter Druck sind hierzulande aber diejenigen, die wirklich den Schutz Deutschlands bräuchten: Unter Druck sind christliche Flüchtlinge. Sie treffen in Aufnahmeeinrichtungen allzu oft ihre Peiniger aus den Herkunftsländern wieder und werden weiter von ihnen verfolgt. Davon steht nichts im Bericht der Bundesregierung.
In vielen Ländern schwere und schwerste Menschenrechtsverletzungen: in China, Nordkorea und Venezuela – Staaten, in denen der Sozialismus herrscht. Die Herrschaft des Kollektivs ist das Gegenteil der Freiheit des Einzelnen. Die Gefahren, die hier lauern, kommen im Bericht der Bundesregierung zu ihrer Menschenrechtspolitik ebenfalls nicht vor.
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Multilateralismus und globales Handeln werden angemahnt und gelobt. Dabei wird unterschlagen, dass bis zum heutigen Tag nur ein Nationalstaat wirklichen Schutz für Bürger bietet. Nur der Nationalstaat schafft es, den Bürgern Grundrechte und Menschenrechte zu garantieren. Nur ein Staat, der auch Grenzen kennt, ist in der Lage, die grundlegenden Rechte der Menschen zu schützen, die in ihm leben.
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Das alles verschweigt die Bundesregierung. Sie übergießt stattdessen ihren ganzen Bericht mit einer süßlichen Multilateralismussoße.
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Aktuell erleben wir hierzulande Einschränkungen der Meinungsfreiheit. Von der Bundesregierung dazu kein Wort der Kritik. Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz, um das es hier geht, wird von vielen Verteidigern der Freiheit hart kritisiert – und in diesem Bericht der Bundesregierung wird das NetzDG, das Internetzensurgesetz, sogar gelobt. Das ist eine Verhöhnung der Menschenrechte.
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In der Bundesregierung fehlt das Gespür für das Freiheitsbedürfnis der Menschen. Gerade die CDU sollte es doch wissen, Konrad Adenauer hat ihr bereits 1948 ins Stammbuch geschrieben: „Die persönliche Freiheit ist und bleibt das höchste Gut der Menschen!“ Heute ist dieser Satz Konrad Adenauers wichtiger denn je. Die meisten Deutschen trauen sich nicht mehr, öffentlich ihre Meinung zu sagen.
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Es herrscht ein Klima der Angst in diesem Land. Sie, Herr Maas, sind für dieses Klima der Angst mitverantwortlich.
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Das brennende Problem des Antisemitismus umschleicht die Bundesregierung ebenfalls wie die Katze den heißen Brei. Denn auch hier geht es letztlich um den Islam. Michael Wolffsohn, einer der profiliertesten Denker im heutigen Deutschland, benennt das in der „Neuen Zürcher Zeitung“: „Der muslimische Antisemitismus ist der gefährlichste.“ Zitat Ende. Der Bundesregierung fehlt der Mut, das klar auszusprechen.
Einseitigkeit zugunsten des Islam, Blindheit gegenüber dem islamischen Fundamentalismus, kein Gespür für die persönliche Freiheit der Bürger: Der Bericht der Bundesregierung zur Menschenrechtspolitik ist, um es auf einen Punkt zu bringen, ein Dokument der Schwäche.
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Nächster Redner ist der Kollege Michael Brand, CDU/CSU.
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Sie haben gedroht, meine Mutter zu töten, wenn die Aufnahmen über ihre Aussagen zu den Lagern in der Provinz Xinjiang veröffentlicht werden.
Das, lieber Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, berichtet der Menschenrechtsaktivist Ferkat Jawdat der „New York Times“ aktuell. Seine Mutter war, auch wegen seines Einsatzes in den USA, mehrfach in Lagern inhaftiert, hat Schreckliches erlebt und gesehen. In der „New York Times“ sind ihre mutigen Aussagen über ein Konzentrationslager, „concentration camp“, wie er es nennt, nachzulesen. Sie ist bereit, für die Wahrheit mit ihrem Leben zu bezahlen. Was die schwer gezeichnete Mutter berichtet, lässt einem das Blut in den Adern gefrieren: totale Überwachung bis in den Schlaf, überfüllte Zellen mit bis zu 20 Personen ohne sanitäre Möglichkeiten, Verweigerung medizinischer Hilfe, Schläge, Anketten der Häftlinge, Vergewaltigungen, Folter – ein echtes Horrorszenario. Es gibt Berichte über Zwangssterilisierungen wie zu dunkelsten deutschen Zeiten. Das alles kann nur ein Ziel haben: dass es möglichst bald keine Uiguren mehr gibt.
Man kann sich vor der Tapferkeit dieser Frau, die ihrem Sohn sagte, er solle ihre Aussagen trotz der Drohungen veröffentlichen, nur verneigen.
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Diese Frau spricht offen über die Verbrechen des Regimes. Auch wir als Deutscher Bundestag fordern die chinesische Führung auf: Stoppen Sie die Drohungen gegen diese schwerkranke Frau!
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Und vor allen Dingen: Stoppen Sie die unmenschliche Verfolgung von Millionen von Unschuldigen! Wir werden zu diesen Verbrechen hier nicht schweigen.
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Wir werden hier Zeugen von nichts weniger als systematischem staatlichen Terror gegen bis zu 3 Millionen unschuldige Zivilisten, die nur ein Verbrechen begangen haben: Sie gehören der Minderheit der Uiguren an. Der Chef der KP in der Provinz Xinjiang, der für die operative Umsetzung dieser Vernichtungsstrategie steht, hat schon den Vernichtungsfeldzug gegen die 4 000 Jahre alte einzigartige Kultur der Tibeter geführt. Ihr einziges Verbrechen war im Übrigen, Tibeter zu sein. Die dynamisch wachsende Minderheit von derzeit über 80 Millionen Christen wird ebenfalls brutal unterdrückt. Die Lage der Menschenrechte wird immer schlimmer. Es ist eindeutig: Dieses neue chinesische Regime hat eine neue Qualität. Das Regime will auch keinen Dialog mehr über Menschenrechte. Der staatliche Terror zeigt, wie sehr Xi persönlich die Menschenrechte verachtet.
Der Menschenrechtsdialog zwischen Deutschland und China, den Peking in den letzten Jahren regelmäßig abgesagt hat, ist für China auch einfach geworden, Herr Außenminister; denn Probleme werden in der Tat angesprochen, aber ohne jede Konsequenz und Wirkung.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, entweder man führt den Dialog offen und über alle relevanten Fragen, oder man beugt sich der Blockade. Ein reines Feigenblatt bringt für Menschenrechte null. Das ist die bittere Wahrheit.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, die „China Cables“ sind nur die Spitze des Eisberges. China ordnet weltweit die meisten Hinrichtungen an. Ein schlimmes Kapitel ist der illegale Organhandel durch den Staat. Man muss die Berichte ernst nehmen. Auch die Existenz der Lager wurde abgestritten, bis es nicht mehr anders ging. Menschen werden termingerecht regelrecht ausgeschlachtet. Darüber wird bei uns kaum gesprochen, im Übrigen auch nicht im aktuellen Menschenrechtsbericht – jedenfalls nicht substanziell –, obwohl das darin ein Schwerpunktthema sein soll.
Das alles hat System. China installiert einen Totalitarismus 2.0: totale Unterdrückung und mittelalterliche Brutalität. Andere Regime – auch das gehört zur Wahrheit – von Russland bis Saudi-Arabien sind an diesem Totalitarismus made in China bereits interessiert. China, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist ein Testfall für die Zukunft der Menschenrechte global.
Das Regime Xi testet seinen Kurs immer wieder, auch uns gegenüber. Leider werden wir leiser, treten zu leise auf. Das Motto wurde: Leise, leise, nur nichts provozieren. Die Menschen in der DDR hätten null Chance auf Freiheit gehabt, wenn die freie Welt damals – in deutlich gefährlicherer Lage – so leise geblieben wäre, wie wir es heute gegenüber China sind.
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Wir haben den Kalten Krieg gegen eine totalitäre Gefahr gewonnen. Nun dürfen wir nicht nachträglich verlieren, weil wir nicht mehr die Kraft haben, für unsere Werte und unsere Ideale von Menschenrechten einzutreten. Nicht nur bei dieser aktuellen Debatte, sondern im außenpolitischen und wirtschaftspolitischen Tagesgeschäft brauchen wir eine strategische Neuorientierung. Weiter leisezutreten, ist angesichts der Bedrohung von China, Russland und anderen autoritären Staaten keine Option mehr.
Es geht auch nicht alleine um China. Es geht auch um uns. Wir verteidigen nicht mehr genug das, was uns eigentlich ausmacht:
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Grundrechte, Freiheit und Demokratie. Es ist für die Zukunft unseres Landes wichtig, dass wir diesen Test bestehen. Nehmen wir uns diese tapfere Frau zum Beispiel. Lassen wir uns unsere Standhaftigkeit nicht abkaufen. Menschen in aller Welt schauen auf die, die als freie Welt gelten. Wir dürfen sie nicht enttäuschen.
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Jetzt hat das Wort der Kollege Peter Heidt, FDP.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Der 13. Menschenrechtsbericht der Bundesregierung besteht aus einer langen Liste einzelner Maßnahmen und Projekte. Er ist aber nur beschreibend, ohne Schwerpunkte, ohne problemorientierte Darstellung. Das haben selbst die Regierungsfraktionen jetzt in ihrer Entschließung erkannt; der Kollege Brand hat ja fast eine Oppositionsrede gehalten. Wirklich konkrete Verbesserungen werden aber in der Entschließung von CDU/CSU und SPD leider nicht gemacht.
Bei der Betrachtung der Menschenrechtslage über den Bericht hinaus stelle ich eindeutig fest, dass es weltweit um die Menschenrechte nicht gut bestellt ist. Die Entwicklung in vielen Ländern ist mit großer Sorge zu betrachten. Es gibt eine steigende Tendenz von Menschenrechtsverletzungen, und es gibt gerade auch gegenüber Frauen eine steigende systematische Verletzung von Menschenrechten.
Deutschland hat weltweit ein sehr hohes Ansehen im Bereich der Menschenrechte. Das merkt man, wenn man mit Vertretern anderer Staaten redet. Ich habe das jüngst bei der Delegationsreise des Ausschusses für Menschenrechte in Den Haag bei den Staatsgerichtshöfen erlebt. Umso wichtiger wäre es, dass Deutschland seinen guten Ruf einsetzt, um eine deutliche Verbesserung bei den Menschenrechten zu erreichen.
Insgesamt muss man aber feststellen, dass Deutschland viel zu zögerlich und wenig strukturiert agiert. Warum hat die Bundesregierung so wenig Zutrauen zu der eigenen Courage? Herr Minister, ich hatte gestern ein Gespräch mit Botschaftern aus Brasilien, Peru und Kolumbien. Wissen Sie, was diese Kollegen gesagt haben, was sie sich gewünscht haben? Bitte mehr Engagement von Deutschland.
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Deutschland braucht eine kohärente und strategisch ausgerichtete Menschenrechtsstrategie mit klaren Zielen, einer politischen Prioritätensetzung, und das im europäischen Kontext.
Im Bericht wird der Anspruch der deutschen Menschenrechtspolitik damit hervorgehoben, dass der Einsatz für die Menschenrechte eine alle Politikfelder durchziehende Querschnittsaufgabe sei. Ja, richtig. Aber dann muss dies auch gelebt werden. Wir Freien Demokraten fordern hier vor allen Dingen, dass multilateralen Bemühungen der Vorzug vor bilateralen Bemühungen gegeben wird. Das unterscheidet uns doch eigentlich alle von der AfD.
Ein gutes Beispiel für diese halbherzige Vorgehensweise Deutschlands ist die International Commission on Missing Persons. Ja, Deutschland leistet eine finanzielle Unterstützung. Aber warum ist Deutschland nicht auch Mitglied in dieser Organisation? Die ICMP leistet hervorragende Arbeit bei der Suche nach vermissten Personen, insbesondere im Zusammenhang mit Kriegsverbrechen. Das ist eine sehr wichtige Arbeit, gerade wenn man solche Menschenrechtsverbrechen strafrechtlich verfolgen will. Deshalb sollte Deutschland ein aktiver Teil dieser Organisation sein.
China: ein absoluter Problemfall. Die China Cables haben den Verdacht bestätigt, dass über 1 Million Uiguren in der chinesischen Provinz Xinjiang zwangsweise interniert und umerzogen werden. Sarkastisch könnte man ja sagen, China hat eine lange Tradition von Menschenrechtsverletzungen: Tibet, Platz des Himmlischen Friedens, Hongkong, jetzt Xinjiang. Im Umgang mit China ist weniger Naivität, sondern mehr Realismus gefragt, meine Damen und Herren. Die versteckte Entwicklungszusammenarbeit mit China muss genauso beendet werden wie die Zinssubventionen.
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Zudem dürfen staatsnahe chinesische Konzerne keinen Zugang zu kritischer Infrastruktur bekommen.
Weiterhin halten es die Freien Demokraten für unbedingt geboten, ein EU-weites Magnitski-Gesetz zu etablieren. Dies würde gezielte Aktionen gegen sowohl staatliche als auch nichtstaatliche Akteure ermöglichen, die für schwere Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind, zum Beispiel durch die Einfrierung von Guthaben oder Einreiseverbote. Ein entsprechendes Sanktionssystem, wenn es global gemeinsam mit den Vereinigten Staaten umgesetzt werden könnte, verspricht konkrete Maßnahmen gegen die Täter von schweren Menschenrechtsverletzungen und damit eine wirksame Handhabe.
Schließlich fordern wir die Bundesregierung zur proaktiven Verteidigung digitaler Freiheitsrechte auf. So wie die Digitalisierung allgemein voranschreitet, eröffnet dies neue Möglichkeiten. Aber das gibt auch neue Möglichkeiten für Überwachung und Unterdrückung. Mehr Anstrengungen in diesem Bereich sind ganz dringend geboten.
Vielen Dank.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Zaklin Nastic, Die Linke.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei intensiver Beschäftigung mit dem Menschenrechtsbericht der Bundesregierung kommt ein Verdacht auf: Ihre Politik verwechselt die Würde der Mehrheit der Menschen mit der Gewinnmacherei einer Minderheit.
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Zwar schreibt die Bundesregierung in ihrem Bericht – Zitat –:
Beschäftigung dient … nicht nur der Sicherung des Lebensunterhaltes, sondern ermöglicht Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern auch gesellschaftliche Teilhabe und soziale Integration.
Aber wie sieht denn Ihrer Meinung nach gesellschaftliche Teilhabe eigentlich aus, wenn auf 3,5 Millionen Menschen nach Feierabend noch ein zweiter Job wartet, damit sie überleben können?
Eine aktuelle Studie der Bertelsmann-Stiftung widerlegt auch die Behauptungen aus dem Bericht – Zitat –, nämlich ein hoher Beschäftigungsstand würde bei auskömmlichen Löhnen das wirksamste Mittel zur Vermeidung von Armut sein. Nein, die Armut steigt eben trotz höherer Beschäftigungsquote. Die Menschen werden immer ärmer trotz mehr Arbeit, und wir Linken sagen klar: Niemand darf arm trotz Arbeit sein.
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Während in Deutschland die XXL-Erben allein im vergangenen Jahr 15 Milliarden Euro kassiert haben, ohne einen einzigen Cent Steuern zahlen zu müssen, muss in diesem reichen Land jedes fünfte Kind in Armut leben. In ihren Ohren muss doch Ihr Bericht wirklich wie Hohn klingen.
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Wir brauchen jetzt endlich einen armutsfesten Mindestlohn von mindestens 12 Euro und eine Kindergrundsicherung. Beenden Sie endlich die befristeten Verträge, die erzwungene Teilzeitarbeit und das Monster Niedriglohnsektor! Dann können Sie wirklich glaubhaft von gesellschaftlicher Teilhabe für die Bevölkerung sprechen.
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Aber dazu braucht es eben endlich statt deren Alimentierung eine gerechte Besteuerung der Superreichen in diesem Land.
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Weiter heißt es in Ihrem Bericht: Bezahlbares und angemessenes Wohnen gehört zu den Grundbedürfnissen aller Menschen. – Nein, meine Damen und Herren, Wohnen ist nicht nur ein Grundbedürfnis, es ist festgeschriebenes Recht. Aber für 2 000 Menschen allein in meiner Heimatstadt Hamburg ist es ein täglicher Überlebenskampf auf Hamburgs Straßen. Allein im vergangenen Monat sind drei Obdachlose binnen weniger Tage in Hamburg gestorben. Das ist wirklich ein Skandal.
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Dass 680 000 Menschen in dieser Republik wohnungslos sind und es täglich mehr werden, ist ebenfalls ein Skandal. Und was macht das Innenministerium? Sie kürzen die Gelder beim sozialen Wohnungsbau und tun alles, um den Mietendeckel in Berlin zu verhindern. Wir als Linke sagen klar: Wir brauchen endlich eine bundesgesetzliche Regelung für die Mietpreise, viel mehr sozialen Wohnungsbau und endlich die Enteignung großer Immobilienkonzerne.
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Es gibt nämlich das Menschenrecht auf Wohnen, aber nicht das Menschenrecht auf Profitmaximierung.
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Meine Damen und Herren insbesondere auf der eher linken Seite dieses Hauses, einst haben ja Ihre großen Parteichefs, der Genosse der Bosse Gerhard Schröder
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und der Straßenkämpfer Joseph Fischer, den Arbeitenden und den Arbeitslosen in diesem Land den Kampf erklärt. Sagen Sie sich von ihnen endlich los, dann wird es vielleicht wieder etwas mit einem gemeinsamen Einsatz für Klimaschutz, Sozialstaat und Menschenrechte.
Vielleicht noch ein Hinweis, der aktuell sehr wichtig ist: Unterstützen Sie den Appell für Julian Assange. Sein Leben ist bedroht. Für ihn zu kämpfen, heißt auch, für Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Demokratie und Menschenrechte zu kämpfen.
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Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Margarete Bause, Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Nächste Woche wird in Straßburg der Sacharow-Preis des Europäischen Parlaments an den uigurischen Menschenrechtsverteidiger Ilham Tohti verliehen. Ilham Tohti kann den Preis nicht persönlich entgegennehmen, weil er wegen seines stets gewaltfreien Einsatzes für die Rechte seines Volkes in China zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Dieser Preis ist angesichts der schockierenden Dokumente der China Cables ein starkes und ein wichtiges Zeichen.
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Tohti steht für Millionen anderer. Ob in China, in Nordkorea, im Iran, in Syrien, im Jemen, in Ägypten, Brasilien, Russland, der Türkei oder, oder, oder, weltweit versuchen autoritäre oder totalitäre Regime, Oppositionelle und die Zivilgesellschaft mundtot zu machen. Menschenrechtsverteidigerinnen und Menschenrechtsverteidiger werden verfolgt, weggesperrt, gefoltert oder ermordet, nur weil sie ihre grundlegenden und garantierten Rechte auf Leben, auf Freiheit oder sexuelle Selbstbestimmung einfordern, zum Beispiel die saudische Bloggerin Eman Al Nafjan, die sich für Frauenrechte einsetzt, oder der brasilianische Indigene Davi Kopenawa, der sich gegen die Abholzung des Regenwaldes einsetzt. Diese mutigen Frauen und Männer riskieren viel und oft sogar ihr Leben. Sie erhoffen und erwarten, dass wir uns für sie einsetzen, dass wir sie wahrnehmen, dass wir sie unterstützen und dass wir sie, wo es uns möglich ist, schützen,
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wir, die wir all die Rechte genießen dürfen, die ihnen vorenthalten werden. Deshalb dürfen wir zu Menschenrechtsverletzungen niemals schweigen, egal wo sie stattfinden, und egal wer sie begeht.
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Da vermisse ich trotz einiger guter Aktivitäten eine konsequente und konsistente Haltung der Bundesregierung. Was die brutale Gewalt gegen friedliche Demonstrantinnen und Demonstranten im Iran angeht – Schweigen. Was die Konsequenzen auf die Enthüllungen der China Cables angeht – Leisetreterei. Was die Reaktion auf den völkerrechtswidrigen Einmarsch der Türkei in Nordsyrien angeht – bloß keine spürbaren Sanktionen. Was die staatliche Seenotrettung im Mittelmeer angeht – erst einmal abwarten. Wenn sich die deutsche Rüstungsindustrie jetzt vor dem Internationalen Strafgerichtshof verantworten muss wegen ihrer Waffenlieferungen an die Kriegsallianz im Jemen, dann steht auch die deutsche Politik dort in der Verantwortung.
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Diese Bundesregierung muss endlich das tun, wofür sie sich selbst so gerne lobt, nämlich eine ganzheitliche menschenrechtsbasierte Politik verfolgen; so wird es in ihrem Bericht beschrieben. Fangen Sie damit an, Ihre Hausaufgaben zu machen: Ratifizieren Sie zunächst einmal das Zusatzprotokoll zum UN-Sozialpakt und die Konvention zum Schutz indigener Völker. Geben Sie den Unternehmen einen klaren gesetzlichen Rahmen zum Schutz der Menschenrechte. Schließen Sie die Lücken bei der Rüstungskontrolle.
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Elie Wiesel hat einmal gesagt:
Man muss Partei ergreifen. Neutralität hilft dem Unterdrücker, niemals dem Opfer. Stillschweigen bestärkt den Peiniger, niemals den Gepeinigten.
Das ist unsere Verpflichtung. Es gilt, die Menschenrechte und ihre Verteidiger zu schützen.
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Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Aydan Özoğuz, SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal freue ich mich, dass es den Regierungsfraktionen gelungen ist, das Thema Menschenrechte einmal zu einer solchen Zeit im Plenum zu debattieren, zu der es Aufmerksamkeit bekommt, und nicht immer nur um 22 Uhr oder ganz spät abends, wenn es niemand mehr mitbekommt,
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auch wenn es eine recht kurze Debattenzeit für ein riesiges Thema ist.
Die Einhaltung und Wahrung von Menschenrechten gehört zu unseren allerhöchsten Werten. Es wurde schon mehrfach gesagt: Sie sind universell und nicht teilbar. Das Besondere ist doch: Sie gelten eben auch für diejenigen, die sie mit Füßen treten oder gar abschaffen wollen. Das ist die Schwierigkeit der Menschenrechte. Deswegen brauchen wir weltweit eine breite Basis, an der wir immer wieder arbeiten müssen. Es ist keine Selbstverständlichkeit, dafür zu streiten, wie wir heute Morgen oft genug gehört haben.
Wir erleben immer wieder das Gegenteil: Sie werden nicht eingehalten, sie werden verletzt. Das begleitet uns natürlich im Menschenrechtsausschuss Woche für Woche: Folter, sexuelle Gewalt, Tötungen, Genitalverstümmelung, Kinderarbeit, Organraub. Man kann gar nicht all die vielen schrecklichen Menschenrechtsverletzungen aufzählen, die es in dieser Welt gibt. Wir können uns nur einem Bruchteil zuwenden.
Das Wichtigste sind doch die Transparenz, also dass wir davon wissen, und die Bestrafung von Menschenrechtsverletzungen. Das ist die Grundlage für die Einhaltung. Deshalb haben wir als SPD-Fraktion in den Menschenrechtsausschuss das Thema Straflosigkeit eingebracht, mit dem wir uns in den letzten Monaten beschäftigt haben. Wir alle wissen: Viel zu oft bleiben Menschenrechtsverletzungen weltweit, aber eben auch bei uns ungestraft, Täter bleiben unbekannt. Das ist ein furchtbarer Zustand.
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Wir müssen uns daher umso mehr damit befassen, wie deutsche Gerichte und Strafverfolgungsbehörden bei der Ahndung schwerster völkerrechtlicher Straftaten auch vonseiten der Gesetzgebung unterstützt werden können. Aus diesem Grund wurde 1998 der Internationale Strafgerichtshof mit Sitz in Den Haag gegründet. In unserer gemeinsamen Anhörung zu diesem Thema wurde unter anderem deutlich: Wir brauchen viel mehr gut ausgebildete Richterinnen und Richter, und wir müssen die Rechte der Opfer stärken.
Der ehemalige Richter am Internationalen Strafgerichtshof Flügge machte deutlich, dass sich vor 30 Jahren viele nach so etwas wie dem Internationalen Strafgerichtshof gesehnt haben, es aber kaum jemand für möglich gehalten hätte, dass es dies einmal geben könnte. Heute ist es Realität, aber leider unter schwierigen Voraussetzungen. Professor Safferling aus Nürnberg hat deutlich aufgezeigt, dass auch der Generalbundesanwalt an der Internationalen Akademie Nürnberger Prinzipien Fortbildungsmaßnahmen für andere Staaten unterstützt. Seine Expertise ist nachgefragt und somit die Erfahrungen Deutschlands. Das ist ein wichtiges Gut und sollte unbedingt weiterhin unsere Unterstützung erhalten.
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Leider erfährt der Internationale Strafgerichtshof noch keine Unterstützung durch die Mitglieder des Sicherheitsrates USA, Russland und China; auch nicht durch das bevölkerungsreiche Land Indien, wie wir wissen. Hier gilt es, beharrlich zu bleiben und nach Lösungen zur Einbindung zu suchen. Denn Straflosigkeit ist nur mithilfe einer internationalen Strafjustiz beizukommen.
Am Ende möchte ich den digitalen Raum erwähnen. Anfeindungen im Netz sind ja leider ein alltäglicher Bestandteil unseres Lebens geworden. Wohl niemand kann ernsthaft in Zweifel ziehen, dass wir Menschenrechte inzwischen auch online verteidigen müssen. Auch das freie Internet – Herr Braun hat es angesprochen –, auch das weltweite Internet, ist kein rechtsfreier Raum.
Zum Schluss möchte ich – Herr Präsident, mit Ihrer Erlaubnis; es geht auf Weihnachten zu – den missio-Präsidenten Dirk Bingener zitieren, der zum Tag der Menschenrechte sagte:
Wer sich für Religionsfreiheit engagiert, ... muss sich für die Religionsfreiheit der Angehörigen aller Religionen einsetzen. Wer auf die Lage von bedrängten Christen in Indien hinweist, darf nicht das Schicksal der muslimischen Rohingya in Myanmar oder der Jesiden im Irak vergessen.
Heute wurden auch die Uiguren in China erwähnt.
Zudem darf die Religionsfreiheit nicht gegen andere Menschenrechte wie etwa das der Meinungsfreiheit ausgespielt werden – und umgekehrt.
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Ich glaube, wir haben da noch viel zu tun.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Markus Frohnmaier, AfD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Niemand im Bundestag ist gegen Menschenrechte.
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Aber die AfD stellt sich dagegen, dass plötzlich Deutschland allein für Menschenrechtsverletzungen geradestehen soll, für die es gar nichts kann. Die Linkspartei schlägt hier und heute unter diesem Tagesordnungspunkt vor, ein Gesetz über Lieferketten zu verabschieden. Deutsche Unternehmen sollen in Zukunft die Verantwortung dafür tragen, wenn irgendwo in der Lieferkette Menschenrechte, Umweltstandards oder Arbeitnehmerrechte verletzt werden.
Was heißt das konkret? Das ist mein Mobiltelefon.
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Dieses Mobiltelefon steht am Ende einer Wertschöpfungskette. Das Handy funktioniert natürlich nicht ohne Batterie. Für die Batterie benötigen wir unter anderem Kobalt. Kobalt wird überwiegend im Kongo abgebaut und hat nichts mit Kobolden zu tun, Frau Baerbock. Sie können sich natürlich vorstellen, dass die Kobaltförderung im Kongo nicht immer deutschen Standards entspricht. Die schlechten Standards werden von den afrikanischen Diktatoren aber gebilligt. Und dafür sollen jetzt ausgerechnet deutsche Unternehmer, die schon jetzt die höchsten Standards weltweit sicherstellen, bezahlen! Das fordern nicht nur die Linken, das fordert nicht nur die Linkspartei, auch die Bundesregierung hat durch CSU-Minister Gerd Müller erklärt, ein Lieferkettengesetz zu unterstützen.
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Was hieße das denn? Wenn deutsche Unternehmer nicht bis zum letzten lon sicherstellen, dass deutsche Standards eingehalten werden, werden diese in Haftung genommen. Das führt zu einer massiven Verschiebung der Verantwortung: weg von den Staaten und ihren Regierungen, hin zu ausschließlich deutschen Unternehmern. Glauben Sie ernsthaft, dass es dann noch Investitionen von deutschen Unternehmen in Entwicklungsstaaten geben wird? Glauben Sie das ernsthaft? Damit schaden Sie nicht nur den Entwicklungsländern, sondern auch dem Standort Deutschland. Von der Bäckerei bis zu unserer ohnehin schon geplagten Automobilindustrie müsste jeder Unternehmer in Zukunft seine gesamte Lieferkette minutiös kontrollieren.
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Jedes Samenkorn, jeder Holzspan, jede Schraube müsste auf die Einhaltung sozialer und ökologischer Standards geprüft werden. Das ist bürokratische Arbeitsplatzvernichtung, meine Damen und Herren!
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Für die Einhaltung von Gesetzen sind noch immer die Regierungen verantwortlich und nicht deutsche Unternehmen. Ich ende deshalb mit einem Zitat von Christoph Kannengießer, Hauptgeschäftsführer des Afrika-Vereins der deutschen Wirtschaft:
Ein Gesetz mit umfangreicher Haftung für das Handeln weit entfernter Lieferanten kann dazu führen, dass sich Unternehmen zurückziehen ...
Wollen Sie das wirklich? Die AfD will es nicht!
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Nächster Redner ist die Kollegin Dr. Katja Leikert, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute debattieren wir den Menschenrechtsbericht der Bundesregierung sowie die Menschenrechtsberichte der Europäischen Union. Ich möchte gerne zwei Themen herausgreifen, weil sie mir besonders wichtig erscheinen und weil wir da ganz konkret handeln können: zum einen das Thema „Menschenrechte entlang der Lieferketten“, das wir eben schon diskutiert haben, und zum anderen das Thema „Umgang mit Prostitution in Deutschland“. Egal ob im außereuropäischen Ausland oder hier bei uns zu Hause, Menschenrechte sind universell, nie selbstverständlich, und wir müssen uns immer wieder dafür einsetzen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wo stehen wir beim Thema Lieferketten? Viele deutsche Unternehmen tun hier schon sehr viel. Gerade erst gestern zum Tag der Menschenrechte haben sich über 40 namhafte deutsche Unternehmen für ein nationales Lieferkettengesetz ausgesprochen. Ich finde, das ist ein tolles Signal. Richtig ist aber auch, dass sich von den mehr als 300 000 deutschen Unternehmen, die im Ausland aktiv sind, leider nur – das hat eine Umfrage der Bundesregierung ergeben, die diese Woche veröffentlicht wurde – ein Fünftel im Rahmen der Selbstverpflichtung mit dem Thema Menschenrechte wirklich befassen. Das ist natürlich zu wenig. Hier müssen wir einfach sorgfältiger und besser werden!
Natürlich ist es Unsinn, wenn Sie von der Linken hier so tun, als würde unser Reichtum in der nördlichen Hemisphäre nur von der Armut des Südens abhängen. Es ist so, wie wir schon im ersten Semester Volkswirtschaftslehre lernen, liebe Frau Nastic, dass natürlich auch die Armen und die Ärmsten vom Welthandel profitieren. Aber richtig ist eben auch, dass wir hohe Maßstäbe anlegen müssen, wenn es um Menschenrechte geht, ohne Kompromisse. Wir erlauben zu Hause keine Kinderarbeit, und wir sollten sie weltweit ächten.
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Wir wollen zu Hause hohe Arbeitsstandards, faire Löhne, und deshalb sollte auch derjenige, der am Ende der Lieferkette arbeitet, von seinem Lohn leben können. Das ist wichtig. Wir sollten das international auch stärker einfordern.
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Deutschland hat hier eine ganz besondere Verantwortung. Deutschland ist drittgrößtes Exportland und auch drittgrößtes Importland. Sind wir mit diesem Anspruch alleine in der Welt? Nein, das sind wir nicht. Es gibt andere europäische Länder wie zum Beispiel Frankreich, das bereits ein sehr ambitioniertes Lieferkettengesetz hat, Großbritannien, die Niederlande haben eines, aber auch Länder wie die USA und Australien haben gesetzliche Regelungen hierzu.
Sehr verehrte Damen und Herren, ich danke in diesem Zusammenhang Entwicklungshilfeminister Gerd Müller, der heute hier vertreten wird von Maria Flachsbarth, genauso wie Bundesminister Hubertus Heil. Ich unterstütze sie darin, im Rahmen unserer EU-Ratspräsidentschaft dieses Thema aufzugreifen. Es ist gut, dass wir diese Debatte heute hier führen.
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Mein zweites Thema richtet den Blick auf ein Menschenrechtsproblem vor unserer eigenen Haustür, nämlich auf die völlig inakzeptable Situation für die allermeisten Prostituierten in unserem Land. Erinnern wir uns: 2002 gab es mit dem Prostitutionsgesetz unter der damaligen rot-grünen Bundesregierung den Versuch, Prostitution als ein Gewerbe wie jedes andere, als einen Beruf wie jeden anderen anzusehen. Dieser Versuch ist kläglich gescheitert, wie wir hier alle anerkennen müssen. Wir haben dann nachgebessert mit dem Prostituiertenschutzgesetz. Leider hat aber auch diese Maßnahme die Lage der Prostituierten nicht in dem Maße verbessert, dass wir damit zufrieden sein könnten. Wenn wir uns die Zahlen ansehen, dann stellen wir fest, dass gerade einmal 33 000 Prostituierte angemeldet sind und damit legal arbeiten. Seriöse Schätzungen gehen aber davon aus, dass es in diesem Land mehr als 400 000 Prostituierte gibt und damit einen riesengroßen illegalen Bereich. Bereits jetzt ist klar, dass weder der Anmeldepflicht nachgekommen wird noch die geforderten gesundheitlichen Maßnahmen durchgeführt werden. Wir haben es in diesem Bereich mit Menschenhandel, Zwangsprostitution und sexueller Ausbeutung zu tun. Ich finde, die Lage ist so dramatisch, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir nicht noch fast zehn Jahre abwarten können. So lange würde es nämlich dauern, wenn man warten würde, bis das Prostituiertenschutzgesetz 2025 überprüft wird und irgendwann danach gesetzliche Maßnahmen kommen.
Wir müssen viel eindeutiger klarmachen, was wir in Deutschland wollen. Ich persönlich wie auch einige andere bei uns haben viel Sympathie für das sogenannte nordische Modell, das in Skandinavien, aber beispielsweise auch in Irland und Kanada Gesetzeslage ist. Kern ist die klare Kriminalisierung der Freier und eben nicht der Prostituierten. Prostituierte brauchen unsere Hilfe beim Ausstieg aus diesem entwürdigenden Gewerbe. Wir sind in Deutschland in vielem führend, aber der Titel „Bordell Europas“ steht uns wirklich nicht gut. Der muss weg!
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Sehr geehrte Damen und Herren, wir sind in Deutschland sehr ambitioniert mit der Umsetzung von Menschenrechten. Menschenrechte – auch das hat der Minister gesagt – enden jedoch nicht an unseren Grenzen. Und auch zu Hause gibt es noch viel zu tun. Seien wir hier konsequent!
Vielen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Sandra Weeser, FDP.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Frohnmaier, niemand möchte, glaube ich, T-Shirts aus menschenunwürdigen Produktionen kaufen. Mir fehlen bei Ihren Ausführungen, um ehrlich zu sein, aber die Lösungsansätze.
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Das Wort „Wirtschaft“ kommt in dem Bericht öfter vor als das Wort „Arbeit“, nämlich ganze 274-mal. Die Linken fordern nun ein abstruses Lieferkettengesetz, das sich anlässt wie eine Zwangsjacke, und zwar ab Größe S. Es würde nämlich Unternehmen ab 250 Mitarbeitern treffen und damit in Deutschland mehr als 15 000 Unternehmen.
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Wir müssen uns doch hier fragen: Was bedeutet das für deutsche Unternehmen? Das bedeutet vor allen Dingen viel Bürokratie, das bedeutet mehr Berichtswesen, mehr Prozesse.
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– Ja, aber ich erkläre es jetzt gern noch einmal und setze auch meine Lösungsansätze dazu, wenn Sie mir noch einen Augenblick zuhören.
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Der Staat wälzt mit diesem Gesetz seine Aufgaben auf die Unternehmen ab, und da vergeht kleinen Unternehmen, ehrlich gesagt, die Lust aufs Weitermachen. Heute denkt jedes fünfte Familienunternehmen bei der Nachfolge darüber nach, dichtzumachen. Und was ist der Grund? Zu viel Bürokratie!
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Manch ein Mittelständler wird dann eben nicht mehr in den schwierigen Ländern in Asien oder Afrika produzieren. Ohne deutsche Investitionen gäbe es aber auch in diesen Produktionsländern keine dualen Ausbildungszentren mehr, und es gäbe auch keine Community-Arbeit mehr. Stattdessen überlassen wir hier Unternehmen aus weniger regulierten Ländern mit fragwürdigen Standards wie zum Beispiel China das Feld. Gut gemeint ist eben nicht gut gemacht.
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Deutschland hat mit seiner Freihandelspolitik zu Wohlstand auf der ganzen Welt beigetragen und dafür gesorgt, dass weniger Menschen weltweit in menschenunwürdigen Bedingungen leben. In den Freihandelsabkommen der EU setzt sich Deutschland für moderne Nachhaltigkeitskapitel mit Arbeits- und Umweltstandards ein. Herr Heil kann nicht die Aufgabe des Staates, Menschenrechte durchzusetzen, durch ein nationales Lieferkettengesetz auf den Mittelstand übertragen, meine Damen und Herren.
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Werten Sie doch erst einmal alle Ihre Fragebögen aus – vorausgesetzt, dass Sie das auch an die richtige E-Mail-Adresse schicken –, und machen Sie dann eine politische Bewertung. Denn das Ergebnis könnte vielleicht sein, dass die Regierung Unternehmen bessere Informationen zu Menschenrechtsrisiken liefern müsste und dass zwischenstaatliche Kooperationen wie zum Beispiel durch Freihandelsabkommen strategischen Einfluss bringen.
Klar ist: Die Achtung der Menschenrechte ist für die Wirtschaft unabdingbar, und ganz besonders im aktuellen Systemwettbewerb zwischen unterschiedlichen Gesellschaftsmodellen. Ein Lieferkettengesetz ist aber nicht der richtige Ansatz. Es würde deutschen Unternehmen und Produktionsländern schaden. Deswegen: Unterstützen Sie bitte den ehrbaren Kaufmann!
Danke schön.
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Nächster Redner ist der Kollege Michel Brandt, Die Linke.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Verfechterin der Menschenrechte, als Bollwerk der europäischen Werte – ja, so inszeniert sich die Bundesregierung gerne in der Öffentlichkeit und auch in ihren Berichten. Das Gegenteil ist leider viel zu oft der Fall. Sie treibt global die soziale Spaltung mit ihrer rücksichtslosen Wirtschafts- und Freihandelspolitik voran. Die Menschenrechte spielen dabei keine Rolle.
In Brasilien kündigt der faschistische Präsident Bolsonaro an, den Amazonas-Regenwald zur Nutzfläche umzufunktionieren. Er erklärt denen den Krieg, die die grüne Lunge schützen wollen. Trotzdem hält die Bundesregierung am Mercosur-Abkommen fest. Aber Freihandelsabkommen wie Mercosur, TTIP und CETA sind Menschenrechts- und Klimakiller und dienen rein dem Profit.
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Die rücksichtslose Handelspolitik wird auch am Beispiel Bolivien deutlich. Der indigene Präsident Morales wird weggeputscht,
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und die Bundesregierung nutzt das Chaos, um den geplanten Lithiumdeal des baden-württembergischen Konzerns ACI durchzusetzen.
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Das ist Neokolonialismus, wie er im Buche steht, meine Damen und Herren.
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Wir wollen eine grundlegend andere Handelspolitik, die die Umwelt und die Menschenrechte in den Mittelpunkt stellt.
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Deshalb fordern wir seit Langem ein Lieferkettengesetz, mit dem Unternehmen endlich verpflichtet werden, internationale Menschenrechtsstandards auch einzuhalten und umzusetzen. Betroffene von Konzernverbrechen müssen auch an deutschen Gerichten endlich klagen können.
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Doch die Bundesregierung versucht genau das seit Jahren zu verhindern. Mit freiwilligen Selbstverpflichtungen hilft sie Konzernen, weiter ungestraft von Umweltzerstörung und der Verletzung von Arbeitsrechten zu profitieren. Aber das Konzept der Freiwilligkeit ist gescheitert.
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Im Rahmen des sogenannten Nationalen Aktionsplans Wirtschaft und Menschenrechte wurde eine Unternehmensbefragung durchgeführt. Lachhafte 20 Prozent der teilnehmenden Konzerne haben gerade einmal ein Mindestmaß der menschenrechtlichen Anforderungen umgesetzt. Deswegen fordern wir heute mit unserem Antrag endlich ein verbindliches Lieferkettengesetz.
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Damit sind wir übrigens auch nicht alleine. 70 NGOs und Gewerkschaften sowie Parteitagsbeschlüsse von SPD und, ja, sogar der CDU wollen dasselbe. Das wäre doch endlich einmal ein konkreter Beitrag zur Fluchtursachenbekämpfung.
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Sie benutzen dieses Wort ja gerne und inflationär. Was Sie dann aber machen, ist meist reine Fluchtbekämpfung. In Algerien werden Migrantinnen und Migranten durch eine von der EU finanzierte Mauer zurückgehalten. Der türkische Grenzschutz, den die EU mit 80 Millionen Euro finanziert, schießt auf syrische Geflüchtete. Wenn es Schutzsuchende überhaupt bis aufs Mittelmeer schaffen und sie nicht ertrinken, werden sie von EU-finanzierten und ‑ausgebildeten libyschen Milizen zurück in Folterlager gebracht, und die, die es trotz all dieser Hürden nach Europa schaffen, sperren Sie in sogenannte EU-Hotspots. Aber die Zustände in diesen Lagern sind katastrophal. Alleine im völlig überfüllten Lager Moria auf Lesbos sind Tausend unbegleitete Minderjährige. Holen Sie doch zumindest diese Kinder aus diesen elenden Zuständen heraus!
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Dass Schutzsuchende auf dem Boden der EU solchen unmenschlichen Bedingungen ausgesetzt sind, ist eine Bankrotterklärung an die Menschenrechte.
Herr Kollege.
Letzter Satz. – Hören Sie auf, Menschenrechte bloß als Phrase zu missbrauchen! Machen Sie sie stattdessen endlich zur Grundlage Ihres außenpolitischen Handelns!
Danke schön.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Kai Gehring, Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Menschenrechte müssen für die Politik der Bundesregierung durchgängig Priorität haben, hierzulande und auf internationaler Bühne, und sie muss dafür brennen – und daran fehlt es.
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Wir brauchen dringend mehr zivile Krisenprävention und mutige multilaterale Diplomatie. Herr Minister, es ist Zeit für ein Rüstungsexportkontrollgesetz.
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Wir brauchen mehr Klimaschutz, starke Frauen- und Kinderrechte und endlich fairen Handel. Herr Minister, kämpfen auch Sie endlich für ein Lieferkettengesetz, das wirkt.
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Der Bundesregierung und ihrem Bericht fehlt eine wirklich übergeordnete Strategie für eine menschenrechtsbasierte Außenpolitik. Sie sind zu hasenfüßig, und das muss sich dringend ändern.
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Die Lage in der EU blendet der Menschenrechtsbericht sogar aus, obwohl wir auch hier auf unserem Kontinent viel wachsamer sein müssen. Denken wir an die Kriminalisierung von Seenotrettern, an die brutalen Attacken gegen LGBTI, Roma und Muslime, oder denken wir an die Schwächung der Rechtsstaatlichkeit und Wissenschaftsfreiheit in Ungarn. Deutsche und europäische Menschenrechtspolitik muss hier klar Farbe bekennen, statt in Leisetreterei zu verharren, und die deutsche EU-Ratspräsidentschaft muss die Chance dafür nutzen.
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Dafür braucht auch die Menschenrechtsarchitektur der Bundesrepublik mehr Schlagkraft. Es ist doch unzumutbar skandalös, dass die Antidiskriminierungsstelle des Bundes seit zwei Jahren ohne Chef oder Chefin dasteht, dass die Menschenrechtsbeauftragte so unterausgestattet ist, heute nicht mal redet, dass nicht jede Auslandsvertretung eine Referentin oder einen Referenten für Menschenrechte hat
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und wie wenig die Bundesregierung auf unser aller Deutsches Institut für Menschenrechte hört, das exzellente Arbeit leistet.
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Herr Außenminister, es wäre auch Ihr Job, das zu ändern.
Letzte Sitzungswoche haben wir als Grüne im Bundestag den 30. Geburtstag der UN-Kinderrechtskonvention in Erinnerung gerufen. Anspruch und Wirklichkeit klaffen hier echt traurig auseinander. Kinder leiden ganz besonders unter Menschenrechtsverletzungen, und beim Familien- und Geschwisternachzug könnte diese Bundesregierung humanitär sofort großherzig handeln.
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Kinderrechte gehören mehr in den Mittelpunkt. Denn eine menschenrechtsbasierte Außenpolitik muss auch immer kindergerecht sein.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, der UN-Menschenrechtsrat hat Deutschland in der periodischen Überprüfung die Leviten gelesen und aufgefordert, stärker gegen jede Form von Rassismus vorzugehen, von Antiziganismus über Transfeindlichkeit bis Antisemitismus, und das ist bitter nötig. Jede AfD-Rede hier im Plenum beweist die Dringlichkeit.
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Die Würde des Menschen muss unantastbar sein, hier und überall.
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Menschenrechte zu schützen und Grundfreiheiten zu garantieren, muss Kernaufgabe jedes Staates sein. In liberalen Demokratien wie der unsrigen ist die Universalität der Menschenrechte in ganz guten Händen. Wir müssen aber viel mehr dafür tun, damit das so bleibt und damit weltweit mehr Menschen in Frieden und Freiheit leben können.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Sebastian Brehm, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 10. Dezember wird der Tag der Menschenrechte dank der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte seit 1948 international gefeiert. Durch diese Erklärung haben die Vereinten Nationen jedem Menschen auf dieser Erde die gleichen Rechte und Freiheiten zugesichert – ein Ziel, das wir alle teilen.
Doch die Realität sieht leider anders aus. Weltweit sind im Bereich „Menschenrechte und Demokratie“ leider große Rückschritte zu verzeichnen. Das zeigt der 13. Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik für den Zeitraum 2016 bis 2018 deutlich auf. Schauen wir beispielhaft in einzelne Länder: Venezuela mit der anhaltenden politischen Destabilisierung des Landes; El Salvador mit einer hohen Gewaltkriminalität von Jugendbanden – 64 Morde pro 100 000 Einwohner; das würde für meine Heimatstadt Nürnberg über 300 Morde durch Bandenkriminalität bedeuten –; der Krieg in Syrien; die Lage der Rohingya in Bangladesch und Myanmar, über die wir im letzten Jahr schon diskutieren konnten. Schauen wir auch nach Afrika, zum Beispiel in die Demokratische Republik Kongo mit unzähligen bewaffneten Gruppen. Dort gibt es übrigens 4,5 Millionen Binnenflüchtlinge, die größte Zahl von Flüchtlingen in Afrika. Besorgniserregend ist leider auch die Menschenrechtslage in China unter dem harten Regime der Kommunistischen Partei – über viele einzelne Punkte konnten wir in diesem Jahr ausführlich diskutieren –: 1,5 Millionen Uiguren, die in Umerziehungslager inhaftiert wurden, oder die Anhänger der Falun Gong; hier gibt es Berichte über rechtswidrige Inhaftierungen, Zwangsarbeit, Organraub und missbräuchliche psychiatrische Maßnahmen.
Das alles sind besorgniserregende Entwicklungen – solche Entwicklungen gibt es natürlich leider noch in ganz vielen anderen Ländern –, die uns vor Augen führen, dass der Einsatz für den Schutz von Menschrechten und Demokratie auf globaler Ebene wichtiger ist denn je zuvor. Liebe Kollegin Nastic, wenn Sie Mindestlohn, Vermögensteuer und Mietendeckel in die Diskussion einbringen, dann schlagen Sie denjenigen mit der Faust ins Gesicht, die täglich gefoltert werden, die täglich bedroht werden und die getötet werden, weil sie sich für Menschenrechte einsetzen.
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Das ist beschämend, liebe Kollegin.
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Übrigens sagen Sie beide von den Linken kein Wort zu Venezuela und kein Wort zu China, weil das Ihre kommunistischen Freunde sind. So schaut es aus.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Konflikte, diese Gewalt, diese Unterdrückung und Verfolgung sind Ursache dafür, dass Menschen zur Flucht gezwungen werden; allein 2018 waren es über 70 Millionen Menschen. Wenn wir Flucht und Vertreibung verhindern oder zumindest vermindern wollen, dann müssen wir alle Bemühungen darauf richten, dass Menschenrechtsverletzungen weltweit in den Fokus gerückt werden, dass Menschenrechtsverletzungen weltweit bekämpft werden und – darüber haben heute auch gesprochen – dass Menschenrechtsverletzungen auch vor den Internationalen Strafgerichtshof kommen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Internationale Strafgerichtshof in meiner Heimatstadt geprägt. Mit den Nürnberger Prozessen wurde der Grundstein für das internationale Völkerstrafrecht gelegt. Deswegen müssen wir alles tun, um den Internationalen Strafgerichtshof zu unterstützen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bericht der Bundesregierung widmet sich auch einem Brennpunktthema, nämlich dem weltweiten Problem des illegalen Organhandels und den damit verbundenen eklatanten Menschenrechtsverletzungen; ich konnte im Zusammenhang mit Falun Gong bereits darüber sprechen. Nach Angaben der WHO hat sich der illegale Organhandel in den vergangenen Jahrzehnten zu einem globalen Problem entwickelt. Immer weniger Spenderorgane sind vorhanden, bei einem wachsenden Bedarf an Spenderorganen. Und dennoch ist dieses Thema in der Öffentlichkeit kaum bekannt. Ich glaube, wir müssen hier in den kommenden Monaten einen Fokus darauf richten. Das ist mit der Vorlage des Berichts nicht abgeschlossen und kann damit auch nicht abgeschlossen sein. Hier müssen wir in den nächsten Wochen und Monaten einen Fokus darauf richten.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen – das sage ich als überzeugter Christ – natürlich auch mit großer Sorge betrachten, dass es weltweit immer mehr Angriffe auf die Religions- und Weltanschauungsfreiheit gibt. Alleine 200 Millionen Christen werden weltweit verfolgt und sind in ernster Gefahr. Sie werden verfolgt, gefoltert, getötet. Das ist ein Zustand, den wir nicht hinnehmen dürfen,
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und deswegen dürfen wir hier auch keine Akzeptanz zeigen. Wir müssen die Menschenrechte in den nächsten Debatten immer wieder in den Vordergrund stellen. Wir müssen im nächsten Jahr immer wieder auch im Deutschen Bundestag über Menschenrechtsverletzungen diskutieren und wieder gemeinsam mit der Öffentlichkeit darüber reden, dass wir hier mehr tun müssen, dass wir hier verstärkt arbeiten müssen. Dafür wollen wir uns einsetzen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Herzlichen Dank.
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Jetzt hat das Wort die Kollegin Josephine Ortleb, SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Alle zwei Jahre ein Menschenrechtsbericht, alle zwei Jahre ein Blick auf die Menschenrechtslage weltweit. Oft sehen wir dabei vor allen Dingen „die anderen“: Wir sehen die fehlenden Frauenrechte in Saudi-Arabien, die eingeschränkte Meinungsfreiheit in China oder die abnehmenden Rechte der indigenen Bevölkerung in Brasilien. Das ist wichtig.
Ich will meine drei Minuten Redezeit dazu nutzen, den Blick auf uns selbst zu richten; denn der Blick auf unsere eigene Gesellschaft und auf unsere eigenen Probleme bei der Umsetzung menschenrechtlicher Garantien fällt uns oft schwer. Blicke ich auf die vergangen Jahre zurück, so sehe ich eine Gesellschaft, in der Rassismus in Sprache und Taten zunimmt. Deutschland hat ein Problem, und dieses Problem heißt Rassismus. Und Rassismus greift das an, was jedem Menschenrecht innewohnt: die Garantie, für alle universell zu gelten.
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Die Zahl der fremdenfeindlichen Gewalttaten hat sich im Jahr 2018 nach Angaben des Bundeskriminalamtes im Vergleich zum Jahr 2012 mehr als verdoppelt. Mehr als 190 Menschen wurden nach Angaben der Amadeu-Antonio-Stiftung seit der Wiedervereinigung durch rechte Gewalt ermordet, mehrheitlich aus rassistischen Motiven. Rassismus ist tödlich; das wissen wir nicht erst seit dem NSU. Wir müssen dafür sorgen, dass er es nicht bleibt. Wir haben die historische und politische Verantwortung, den Blick ganz genau auf uns selbst zu richten; denn es liegt an uns, Rassismus und andere gruppenbezogene Menschenfeindlichkeiten entschlossen zu bekämpfen.
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Auch dazu ermahnt uns dieser Bericht.
Die Bundesregierung hat ihre Anstrengungen weiter verstärkt: in der Strafverfolgung, in der politischen Bildung, in der Verfolgung von Hasskriminalität im Internet. Doch trotz dieser Anstrengungen sind rassistische Übergriffe auch heute noch an der Tagesordnung: ob in Chemnitz, wo Menschen mit mutmaßlichem Migrationshintergrund durch die Straßen gejagt wurden, oder im Netz, wo rassistische Beleidigungen zur Normalität gehören. Das dürfen wir nicht akzeptieren.
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Der vorliegende Menschenrechtsbericht der Bundesregierung zeigt uns, dass der Kampf gegen Rassismus weiterhin unserer besonderen Aufmerksamkeit bedarf. Wir brauchen einen Grundkonsens im Kampf gegen Rassismus.
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Deshalb ist es gut, dass wir die Mittel gegen rechts im Förderprogramm „Demokratie leben!“ erhöht haben,
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um rassistische Strukturen zu bekämpfen. Damit stärken wir die, die unsere Demokratie stärken. Lassen Sie uns gemeinsam klarmachen, dass Rassismus in all seinen Formen ein Angriff auf die Universalität der Menschenrechte ist. Und lassen Sie uns gemeinsam für das Versprechen der Menschenrechte eintreten – das Versprechen, dass alle Menschen gleich an Würde und Rechten geboren sind.
Vielen Dank.
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Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Stefan Rouenhoff, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei allen Differenzen in der heutigen Debatte scheint uns über fast alle Parteigrenzen hinweg ein gemeinsames Ziel zu einen: Wir wollen darauf hinwirken, dass sich die Menschenrechtslage in Schwellen- und Entwicklungsländern und auch weltweit weiter verbessert;
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denn wir sind Demokraten – jedenfalls die meisten hier im Bundestag –, und die Achtung der Menschenrechte gehört zu den Kernelementen unserer Demokratie und zu unserem demokratischen Selbstverständnis.
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Aber auf dem Weg dorthin gibt es dann doch sehr unterschiedliche politische Ansätze. Es verwundert mich daher auch nicht, dass die Linken in ihrem Antrag zu einem Lieferkettengesetz für verbindliche soziale, ökologische und menschenrechtliche Sorgfaltspflichten sehr rigide Forderungen aufstellen: gesetzliche Sorgfaltspflichten bereits ab 250 Mitarbeitern, was in Deutschland – das hat die FDP gerade schon gesagt – mehr als 15 000 Unternehmen und viele Millionen Beschäftigte beträfe,
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die Einbeziehung der gesamten Wertschöpfungskette und vieles mehr.
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Was mich allerdings dann doch wundert, ist die sehr bizarre Sicht der Linken auf die deutsche Unternehmenswelt, eine Sichtweise, die von Vorurteilen geprägt ist: Profit- und raffgierige deutsche Unternehmen beuten die Menschen in Schwellen- und Entwicklungsländern aus. Sie treten die Rechte von Arbeitern sowie lokalen und indigenen Bevölkerungsgruppen mit Füßen und stopfen sich die eigenen Taschen voller Geld. – Das ist der Tenor Ihres Antrages.
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Das ist also der Blick der Linksfraktion auf unsere deutsche Wirtschaft.
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Sie bringen in Ihrem Antrag sogar zustande, am Beispiel tragischer und schlimmer Vorfälle, die ich hier ganz sicher nicht kleinreden möchte, alle deutschen Unternehmen unter Generalverdacht zu stellen.
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Meine Damen und Herren, wir als Unionsfraktion können das nicht einfach so stehen lassen. Deutsche Unternehmen haben in vielen Ländern weltweit erheblich zur wirtschaftlichen Entwicklung beigetragen. Herr Brandt, Sie haben von Neokolonialismus gesprochen,
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davon gesprochen, dass Neokolonialismus durch Freihandelsabkommen gefördert wird. Wissen Sie, was neokolonialistisch ist? Eine linke Politik, an der die Welt am deutschen Wesen genesen soll.
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Deutsche Unternehmen haben neue Arbeitsplätze in Schwellen- und Entwicklungsländern geschaffen, Menschen aus der Armut gebracht und im Laufe der Zeit höhere Standards im Umwelt-, Arbeits- und Sozialbereich etabliert. Wie erfolgreich das gelungen ist, sehen wir heute unter anderem an vielen südostasiatischen Ländern. Neue Beschäftigungs- und Einkommensmöglichkeiten eröffnen Eltern die Chance, ihre Kinder in die Schule zu senden, statt sie zur Existenzsicherung auf die Felder zu schicken. Dies trägt auch zur Reduzierung der Kinderarbeit bei.
Deutsche Firmen nutzen heute eine Vielzahl von Instrumenten zur Einhaltung menschenrechtlicher Sorgfaltspflichten in Lieferketten: Zertifizierungen, Rückverfolgungssysteme, Siegel, Nachhaltigkeitsprogramme. Diese Entwicklung begrüßen wir als Unionsfraktion ausdrücklich.
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Mit dem Nationalen Aktionsplan „Wirtschaft und Menschenrechte“ haben Union und SPD deshalb beschlossen, diesen Weg konsequent weiterzugehen. Wir haben hierfür einen ganz konkreten Fahrplan aufgestellt. Ich appelliere an uns, sich an diesen Fahrplan zu halten und keine voreiligen Schlüsse zu ziehen oder Schnellschüsse zu machen.
Unser erklärtes Ziel ist und bleibt: Deutsche Unternehmen sollen bei ihren wirtschaftlichen Aktivitäten im Ausland eine noch größere Verantwortung für die Achtung von Menschenrechten übernehmen; denn es gibt noch zahlreiche Herausforderungen auf dem Weg, die wir erledigen müssen und die wir nicht unter den Teppich kehren wollen.
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Als Unionsfraktion wollen wir eine größere menschenrechtliche Sorgfalt gemeinsam mit der Wirtschaft und nicht gegen die Wirtschaft erreichen.
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Wenn wir die Lebenssituation der Menschen in Schwellen- und Entwicklungsländern wirklich verbessern wollen, dann brauchen wir unsere Wirtschaft als Partner vor Ort. Das ist auch in unserem langfristigen strategischen Interesse.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich als Christdemokrat eines sehr deutlich sagen: Jeder Verstoß gegen die menschenrechtliche Sorgfalt ist ein Verstoß zu viel, egal in welchem Unternehmen und wo auf der Welt. Aber egal ob freiwillige Selbstverpflichtungen oder gesetzgeberische Maßnahmen: Deutsche Unternehmen werden nicht in der Lage sein, fehlende Staatlichkeit, Politik- und Verwaltungsversagen oder gar staatlich initiierte Menschenrechtsverletzungen in Drittstaaten durch menschenrechtliche Sorgfaltspflicht zu kompensieren. Das ist eine Aufgabe, mit der sich die Außenpolitik und die Entwicklungszusammenarbeit befassen müssen. Sie müssen sich hier verstärkt einsetzen.
Danke schön.
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Damit schließe ich die Aussprache.
Meine Damen und Herren, guten Morgen! Es geht um Vielfalt. Denn wenn es bei diesem Gesetzentwurf nur um die SPD gehen würde, meine Damen und Herren, hätte sich die Sache schon an dieser Stelle erledigt, genau wie diese ehemals stolze Partei, die nun nur noch aus Chaos, Pöstchen, Selbsterhaltung von Funktionären und gähnender programmatischer Leere besteht.
Aber es geht hier nicht nur um die SPD, es geht um mehr. Es geht um mehr Transparenz, mehr Medienvielfalt und mehr Demokratie. Da wir von der AfD für mehr Demokratie in allen gesellschaftlichen Bereichen stehen, arbeiten, täglich kämpfen und auch mehr Demokratie wagen wollen, ist dieses Thema wichtig – wichtig für unsere Gesellschaft, wichtig für unsere freiheitliche Grundordnung, wichtig für Deutschland.
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Und peinlich und entlarvend und unangenehm für die SPD und alle Altparteien, die gleich wahrscheinlich wieder primitiv über uns herfallen werden. Aber das kennen wir ja; es ist uns egal.
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Meine Damen und Herren, die Parteien wirken an der politischen Meinungsbildung, an der politischen Willensbildung des Volkes mit. Das setzt notwendigerweise eine Kommunikation mit offenem Visier voraus. Das Problem ist daher, wenn eine Partei an einem oder mehreren Medienunternehmen beteiligt ist; denn der Berichterstattung in einer vordergründig unabhängigen Zeitung bringen die Leser zunächst mehr Vertrauen als einer Parteizeitung entgegen.
Bisher müssen Parteien im Rechenschaftsbericht lediglich die Unternehmensbeteiligungen und Hauptprodukte der Medien, an denen sie beteiligt sind, angeben. Das sind bei der SPD und deren DDVG – ich dachte erst, das heißt Deutsche Demokratische Verlagsgesellschaft, aber es heißt offenbar Deutsche Druck- und Verlagsgesellschaft – die „Sächsische Zeitung“ und die „Dresdner Morgenpost“; so kann man sich irren.
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Tatsächlich steckt aber nicht nur in diesen beiden Zeitungen SPD über Beteiligung drin, sondern auch noch in den „Cuxhavener Nachrichten“, in der „Niederelbe-Zeitung“, in der „Neuen Presse Coburg“, in der „Frankenpost“ in Oberfranken, im „Nordbayerischen Kurier“ in Bayreuth,
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in der „Neuen Westfälischen“ in Nordrhein-Westfalen, im „Freien Wort“ in Suhl und in der „Südthüringer Zeitung“. Da steckt SPD drin, steht aber nicht SPD drauf. Warum nicht?
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Insgesamt rund eine halbe Million Exemplare täglich werden durch die Pressebeteiligung der SPD über die DDVG vertrieben. Die DDVG ist wiederum mit 23 Prozent an der Verlagsgesellschaft Madsack KG beteiligt, die als Hauptprodukte die „Hannoversche Allgemeine Zeitung“ und die „Neue Presse Hannover“ verlegt. Dazu kommen aber noch die „Leipziger Volkszeitung“, die „Dresdner Neueste Nachrichten“, die „Lübecker Nachrichten“, die „Ostsee-Zeitung“, das „Göttinger Tageblatt“, die „Märkische Allgemeine“ in Potsdam und noch viele, viele mehr, insgesamt 15, die von Madsack mit Inhalten versorgt werden.
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Darüber hinaus gibt es reichweitenstarke Digitalangebote und 28 Anzeigenblätter, ergänzt um sogenannte Eigengründungen und Beteiligungen im Bereich des Digitalgeschäfts.
Meine Damen und Herren, das alles mit Beteiligung einer Noch-Regierungs-Partei in Deutschland, nicht etwa in einer finsteren Diktatur; es sitzt also ein Medienmogul hier auf der Regierungsbank. Wenn Sie meinen, es ginge nicht schlimmer, sage ich: Es geht noch schlimmer. Denn diese Madsack KG, die teilweise im Eigentum der SPD steht, produziert über das sogenannte RedaktionsNetzwerk Deutschland für mehr als 50 Tageszeitungen Mantelteile, die dann wiederum übernommen werden: insgesamt eine Gesamtauflage von 2,3 Millionen Exemplaren täglich, meine Damen und Herren.
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Das ist etwa 20 Prozent dessen, was überhaupt in Deutschland täglich verlegt wird,
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und wenn man die anderen Beteiligungen hinzurechnet, sind wir etwa bei einem Viertel bis einem Drittel von Zeitungen, auf die die SPD mittelbar oder unmittelbar über Beteiligungen Einfluss ausübt. Das halten wir für einen Fall für das Kartellamt.
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Irreführung ist aber auch dahinter; denn das Bundesverfassungsgericht hat schon 2008 festgestellt, dass die fehlende Veröffentlichung von Minderheitsbeteiligungen wie auch mittelbaren Beteiligungen sich erheblich auf die öffentliche und individuelle Meinungsbildung auswirken kann. Genau das ist der Fall bei dem, was die SPD treibt.
Meine Damen und Herren, das war die Problembeschreibung; aber die AfD steht bekanntlich nicht nur für Problembeschreibungen, sondern auch für Lösungsangebote,
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daher unser Gesetzentwurf.
Erstens. Änderung des Parteiengesetzes. Es müssen alle Zeitungen und Medienunternehmen, an denen die Parteien beteiligt sind, im Rechenschaftsbericht der Parteien angegeben werden.
Zweitens. Eine Ergänzung des Gesetzes gegen unlauteren Wettbewerb dadurch, dass in einer Zeitung darauf hingewiesen werden muss, wenn eine Parteibeteiligung dahintersteckt. Eine Hinweispflicht gibt es im Lebensmittelbereich, Sie kennen die Sache mit dem Arzt oder Apotheker, den man im Arzneimittelbereich befragen soll, warum soll es nicht möglich sein, das auch im zentralen Bereich unserer Demokratie so zu handhaben, nämlich im Bereich von Presse und Medienbeteiligung?
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Wir fordern eine Pflicht, anzugeben, was dahintersteht.
Schließlich: Änderungen im Kartellrecht. Das Kartellamt muss ermächtigt werden, genau draufzuschauen, was die Redaktionswerke so treiben.
Ich schaue in Ihre entspannten Gesichter, ich bin gespannt auf die bevorstehende Debatte.
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Mehr Demokratie wagen, meine Damen und Herren, das ist ein Markenkern der AfD.
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Ich bitte Sie daher: Stimmen Sie unserem Antrag zu, nicht in unserem Sinne, aber zum Wohle der Bürger unseres Landes.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Ansgar Heveling, CDU/CSU.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den letzten Wochen hatte ich mehrfach die Gelegenheit, zu AfD-Anträgen zu sprechen. Ich komme mir ein bisschen vor wie am immer wiederkehrenden Murmeltiertag in dem Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“.
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Jedes Mal, wenn ich zu einem Antrag der AfD spreche, stelle ich fest: Es wiederholt sich dasselbe Muster:
Erstens haben wir keine Ahnung von der Sache, aber es könnte populär sein, auf das Thema aufzuspringen. Ob gerade dieses Thema heute so populär ist, um damit die Primetime zu füllen, darf allerdings bezweifelt werden. Da helfen auch die markigen Worte der AfD nichts.
Zweitens haben wir weiter keine Ahnung von der Sache, aber ein paar wüste Behauptungen werden sich schon zusammenquirlen lassen, vor allem, wenn es darum geht, die eigenen Social-Media-Kanäle zu bespielen.
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Drittens haben wir immer noch keine Ahnung von der Sache, aber irgendwie werden sich schon ein paar wilde Vorschläge machen lassen. Selbst die sind aber untauglich, ein nicht vorhandenes Problem zu lösen.
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Diesem Muster konsequent folgend zielt schon der Titel des vorliegenden Gesetzentwurfs suggestiv auf einen vermeintlichen, aber tatsächlich nicht bestehenden Regelungsbedarf.
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Es wird unterstellt, die publizistische Vielfalt in Deutschland sei ernsthaft gefährdet, und diese Gefährdung gehe von der Beteiligung politischer Parteien an Medienunternehmen aus. Nun betrifft – das erkennt selbst die Begründung des Gesetzentwurfs an – die Beteiligung von politischen Parteien an Medienunternehmen vor allem die SPD, dagegen – ich zitiere aus dem Antrag – „ist das unternehmerische Engagement der übrigen Parteien im Medienbereich eher gering oder gar nicht vorhanden“.
Tatsächlich aber ist der meinungsbestimmende Einfluss der regionalen Tageszeitungen, an denen die SPD insbesondere beteiligt ist, eher als gering zu bewerten. Sie konkurrieren mit überregionalen Tageszeitungen, und der Bedarf an Informationen wird heute zunehmend durch öffentlich-rechtliche oder private Fernseh- und Rundfunkanstalten und gerade bei der jüngeren Generation über Social Media oder Onlinedienste wie Videoportale gedeckt.
Der Anteil der SPD an der DDV-Mediengruppe in Dresden von 40 Prozent und an der Verlagsgesellschaft Madsack in Hannover in Höhe von etwa 23 Prozent ermöglicht sicherlich keinen beherrschenden Einfluss auf redaktionelle Inhalte.
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Ein Zusammenhang zwischen der Beteiligung an regionalen Tageszeitungen und Wahlergebnissen der SPD lässt sich erst recht nicht feststellen. Im Verbreitungsgebiet der „Sächsischen Zeitung“ in Dresden – ich bitte um Nachsicht bei der SPD – hat die SPD bei der Landtagswahl 2019 ein Ergebnis von 8,5 Prozent der Stimmen erzielt.
({5})
Das klingt nicht gerade nach schwerwiegender Meinungsbeeinflussung.
Das Spannungsverhältnis zwischen der Mitwirkung der Parteien an der politischen Willensbildung des Volkes und der Möglichkeit, sich an Medienunternehmen zu beteiligen, ist nicht von der AfD entdeckt worden. Die bestehenden Regelungen des Parteiengesetzes tragen vielmehr genau dem Rechnung. Nach § 24 Absatz 7 Nummer 2 des Parteiengesetzes sind die Hauptprodukte von Medienunternehmen, soweit Beteiligungen an diesen bestehen, im Rechenschaftsbericht der Parteien zu benennen. Diese zusätzliche Erläuterungspflicht wird durch die zentrale Bedeutung der Medienunternehmen in einer modernen Kommunikationsgesellschaft gerechtfertigt. Der Vorschlag des vorliegenden Gesetzentwurfs, sämtliche Produkte aufzuführen, ist hierfür nicht erforderlich. Er bringt letztlich keinen erkennbaren Mehrwert und würde die Darstellung unnötig überfrachten und letztlich für Unklarheit und nicht für Klarheit sorgen.
({6})
In der Beteiligung politischer Parteien an Medienunternehmen wird zudem die Gefahr einer irreführenden „Schleichwerbung“ gesehen. Angestrebt wird daher eine Regelung im Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, UWG, entsprechend dem Verbot redaktioneller Werbung. Die Beteiligung der politischen Partei an dem betreffenden Medienunternehmen sei eine wesentliche Information für die Kaufentscheidung des Presseerzeugnisses.
({7})
Um diese geht es nach der Systematik des UWG aber gerade nicht. So heißt es etwa im Anhang zu § 3 UWG in Nummer 11 zu einer unzulässigen Handlung – ich darf zitieren –: „der vom Unternehmer finanzierte Einsatz redaktioneller Inhalte zu Zwecken der Verkaufsförderung, ohne dass sich dieser Zusammenhang aus dem Inhalt oder aus der Art der optischen oder akustischen Darstellung eindeutig ergibt (als Information getarnte Werbung)“. Die Verkaufsförderung wäre aber in der vorliegenden Konstellation die vom Wähler zu treffende Wahlentscheidung zugunsten der betreffenden politischen Partei. Gerade diese wird durch das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb nicht geschützt.
({8})
Es dient nach § 1 UWG vielmehr dem Schutz vor unlauteren geschäftlichen Handlungen. Es ist also ein völlig untauglicher Ansatz, wirft aber vielleicht eher ein Schlaglicht darauf, wie und als was die AfD Politik versteht.
Schließlich sollen bei der Ermittlung der Marktanteile von Medienunternehmen auch im Rahmen einer redaktionellen Zusammenarbeit erstellte und von anderen Medienunternehmen genutzte Inhalte berücksichtigt werden. Diese beabsichtigte Änderung in § 30 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen, GWB, steht indessen in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit der Beteiligung politischer Parteien an Medienunternehmen. Es ist daher schon fraglich, ob die vorgeschlagene Regelung praktisch überhaupt durchführbar ist. In jedem Fall würden dadurch aber die Lesbarkeit und damit die freie Gestaltung der Presseprodukte erheblich beschränkt und beeinträchtigt.
Die vorgeschlagenen Änderungen sind somit weder erforderlich noch angemessen. Sie können ein kritisches Rezipieren von Presseerzeugnissen nicht ersetzen. Sie sind daher untauglich und abzulehnen.
Vielen Dank.
({9})
Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Jürgen Martens, FDP.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dass die Debatte von der AfD so schlicht gestaltet wird und sich auf ein einfaches Abarbeiten an der SPD und ihren Medienbeteiligungen beschränkt, das hätte ich nun doch nicht erwartet.
({0})
– Etwas smarter hätten Sie das schon aufsetzen können, Herr Kollege.
({1})
– Ja, das wäre mit Arbeit verbunden gewesen – das ist schwierig, ja –,
({2})
vor allen Dingen mit einer doch ziemlich tiefgehenden intellektuellen Durchdringung des behandelten Sachstoffes. Aber das will ich hier nicht weiter problematisieren, meine Damen und Herren.
Einigkeit besteht zumindest darüber, dass Parteien erstens an der Willensbildung, der politischen, des Volkes mitwirken und zweitens zu diesem Zwecke auch Medienbeteiligungen halten dürfen. Es ist erst mal gut, wenn man das hier insgesamt feststellen kann.
({3})
Sie haben die Beteiligungen der SPD aufgezählt. Es waren längst nicht alle. Aber auch die FDP ist dort von Sünde nicht frei, wie ich gestehe. Wir sind am „Cicero“ beteiligt,
({4})
einem hervorragenden politischen Debattenmagazin, meine Damen und Herren,
({5})
das ich jedem, der es noch nicht gelesen hat, gerne mal zur Lektüre anempfehlen möchte.
({6})
Meine Damen und Herren, lassen Sie es mich kurz machen: Die Vorschläge der AfD sind relativ überschaubar. Das Parteiengesetz soll danach so ergänzt werden, dass nicht nur die Hauptprodukte, sondern sämtliche Produkte von Unternehmen aufgezählt werden sollen. Das betrifft also auch den Schulkalender oder den Adventskalender, der von einem solchen Druck- und Verlagshaus herausgegeben wird – nach dem Motto: Vorsicht, in diesem Adventskalender könnte SPD drin sein!
({7})
Jetzt muss ich eins feststellen: Kein einziger Käufer wird sich jemals beim Kauf eines Presseproduktes oder Druckerzeugnisses über eine mögliche Parteibeteiligung anhand der Rechenschaftsberichte der Parteien orientieren können, weil diese nämlich erst viel, viel später und lange nach dem Erscheinungszeitpunkt des Produktes herauskommen.
({8})
Die Rechenschaftsberichte der Parteien für 2018 einschließlich der Berichte über Medienbeteiligungen sind diesem Haus am 25. November 2019 vorgelegt worden. Ich wage wirklich zu bezweifeln, dass eine Erweiterung der Aufnahmepflicht in Rechenschaftsberichte hier irgendeine Wirkung hat, meine Damen und Herren. Das sind Schaufensteranträge.
({9})
– Das hätten Sie gerne, dass Rechenschaftsberichte abgeschafft werden.
({10})
Das kann ich mir lebhaft vorstellen. Das Kritische sind aber wohl weniger Medienbeteiligungen als die Herkunft von Geldern und Krediten für Ihr politisches Wirken, meine Damen und Herren.
({11})
Dass Sie da keine Lust drauf haben, das kann ich schon durchaus nachvollziehen.
Auch die vorgeschlagene Änderung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb, meine Damen und Herren, ist ein untaugliches Mittel; denn auch hiermit kann sich der Kunde nicht oder nicht richtig über Umfang oder Art und Weise einer Beteiligung bzw. den Einfluss informieren. Das ist sinnlos.
Das gilt erst recht für die vorgeschlagene Änderung im Wettbewerbsrecht – § 30 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen –; das ist ein Fehlgriff. Wie soll das eingehalten werden, und wie soll die Weitergabe etwa von Agenturinhalten oder von gemischt erstellten bzw. von redaktionellen Netzwerken erstellten Inhalten überprüft werden? Auch das ist faktisch nicht möglich.
Und: Sie verkennen, dass das Kartell- und Wettbewerbsrecht ein Recht ist, das dem Markt und dem geschäftlichen Betrieb zugeordnet ist und das dafür sorgen soll, dass Wettbewerb in fairen Bahnen verläuft. Es ist keine Regelung zur politischen Regulierung von Medien, meine Damen und Herren.
Wir haben übrigens früher schon einen ganz einfachen Vorschlag eingebracht, mit dem die Probleme in diesem Bereich gelöst wären. Das ist die Impressumspflicht in Druckerzeugnissen oder in elektronischen Medien für Parteibeteiligungen.
Wenn Sie davon sprechen, dass Ihr Gesetzentwurf wichtig für die Demokratie sein soll, dann stellt sich mir die Frage: Warum behandeln Sie eigentlich nicht Dinge, die viel, viel wichtiger sind für das Funktionieren der Demokratie im Medienbereich?
({12})
Ich spreche hier von Fake News, meine Damen und Herren.
({13})
Das ist ein Problem, das vor wenigen Jahren noch unbedeutend war, sich aber zunehmend zu einem ernsten Problem der Demokratie und des demokratischen Diskurses entwickelt. Es hätte Ihnen durchaus gut angestanden, wenn Sie sich diesem Problem in irgendeiner Weise zugewendet hätten.
({14})
Aber ich glaube, genau das war nicht beabsichtigt.
({15})
So könnte man argwöhnen, dass dieser Gesetzentwurf ein Ablenkungsmanöver ist, ein Manöver, um von Problemen abzulenken, die Sie genau kennen, die Sie genau verstehen, aber nicht anfassen und nicht benennen wollen.
({16})
Fake News werden gezielt zum Erreichen politischer Zwecke eingesetzt. Sie werden verbreitet, um Angst zu erzeugen – da gibt es schöne Beispiele, auch aus den Reihen der AfD –, um Seriosität vorzutäuschen, um Menschen angeblich zu informieren, und in Wirklichkeit werden dort die dreistesten Lügen im Umlauf gebracht.
({17})
Ich könnte hier jetzt die einzelnen Beispiele aufzählen,
({18})
bei denen die AfD wirklich Fake News verbreitet hat.
({19})
– Das können wir machen; aber so viel Redezeit, um das im Einzelnen aufzuzählen, habe ich leider nicht.
({20})
Heute wählen die Menschen in Großbritannien ein neues Parlament.
Herr Kollege Martens, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Brandner?
Ja.
({0})
Herr Kollege Martens, Sie sagen, die Redezeit würde nicht ausreichen, um all das der Öffentlichkeit zu offenbaren, was die AfD – die AfD! – als Fake News verbreitet habe. Ich gebe Ihnen hiermit die Möglichkeit und frage Sie: Was konkret hat denn die AfD an Massen von Fake News verbreitet, das Sie jetzt im Rahmen Ihrer Redezeit nicht unterbringen können?
Es gibt etliches.
({0})
Aus dem Bereich der AfD-Fraktion in Hessen gibt es zum Beispiel die Behauptung von 102 ermordeten Deutschen durch Zuwanderer. Das sind Fake News gewesen.
({1})
Es gibt die Behauptung der AfD, Flüchtlinge würden eine erhebliche Gesundheitsgefahr in Form von Tuberkuloseinfektionsrisiken für die Bevölkerung mitbringen. Das sind Fake News, meine Damen und Herren.
({2})
Wir könnten noch weitermachen.
({3})
Aber wie gesagt: Ich erzähle Ihnen das gerne noch mal im Einzelnen, unter uns.
Meine Damen und Herren, ich habe gerade vom Einsatz von Fake News etwa im Vorfeld der heute stattfindenden Wahlen in Großbritannien gesprochen. Dort haben die Tories ganz einfach per Fake News auf einer gefakten Seite ein fiktives Wahlprogramm des Konkurrenten, der Labour-Partei, ins Netz gestellt. Auch dort wird, wie gesagt, mit Fake News gearbeitet – wie vorher schon bei der Volksabstimmung über den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union.
Machen wir uns nichts vor: Wir haben es tatsächlich mit Bedrohungen zu tun, die die Demokratie insgesamt betreffen und die im Medienbereich stattfinden. Aber das sind nicht die Beteiligungen einzelner Parteien an Medienunternehmen. Es sind ganz andere Bedrohungen. Sie kennen sie, Sie wissen davon, Sie sprechen sie aber nicht an, meine Damen und Herren.
Es geht hier um nichts weniger als um den Angriff auf den Kern des demokratischen Gemeinwesens, auf die Willensbildung der Wähler.
({4})
Dieser Angriff, der schwergewichtige, findet nicht über die Medienbeteiligungen der SPD statt. Außerdem sei hier mal die Frage erstellt: Hat es ihnen geholfen?
({5})
– Ich weiß, das war nicht nett, aber das muss auch mal sein.
Es geht mir – und ich glaube, das eint uns alle, mit Ausnahme der Entwurfsverfasser – aber um das Gemeinwesen, um eine faire demokratische Auseinandersetzung, um einen freien Diskurs, um eine unbeeinflusste Willensbildung. All diesem sind wir verpflichtet. Glauben Sie mir: Auch ohne diesen Gesetzentwurf werden wir dem nachkommen.
({6})
Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Mahmut Özdemir, SPD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die AfD versucht, sich als Hüterin der Pressevielfalt und der Transparenz im Parteienrecht aufzuspielen. Das Ergebnis vorweg: Es bleibt bei einem völlig untauglichen Versuch.
({0})
Sie erheben unterschwellig haltlose Vorwürfe und hoffen, dass etwas von diesen in den Köpfen hängen bleibt. Es war in dieser Republik nie die SPD, die bis zum Halse im Spendensumpf steckte. Unsere Schatzmeisterinnen und Schatzmeister traten mit jedem Rechenschaftsbericht den Beweis an, dass wir es ernst meinen mit dem Offenlegen unserer Finanzen.
({1})
Wir sind eine Mitgliederpartei, die Spenden auf Euro und Cent genau offenlegt, die die Beteiligungen an Medienunternehmen lückenlos – lückenlos! – der Bundestagsverwaltung meldet. So können Nutzer von Zeitungen jederzeit erkennen, ob sie ein Produkt von der SPD in den Händen halten oder ob es ein Produkt ist, an dem die SPD Beteiligungen hält.
Schauen wir, wie das bei der AfD ist: Eine Schweizer Gesellschaft mit einem undurchsichtigen Geflecht von Geldflüssen organisierte Wahlkampagnen für die AfD.
({2})
Die Geldgeber, die Ihre Gratiszeitungen und Plakate finanzieren, sind bis heute unbekannt,
({3})
und doch verteilen Sie Zeitungen, die in keinem Rechenschaftsbericht der AfD auftauchen,
({4})
von Spenden an die AfD, die von Spendern kommen, die teilweise nicht wissen, dass sie gespendet haben, von Sachleistungen, die gerne angenommen werden, die aber nirgendwo auftauchen, ganz zu schweigen. Die Landesparteizentrale der AfD in NRW
({5})
wurde im Juni 2019 von der Staatsanwaltschaft Essen durchsucht. Ungeklärter Einfluss auf Abgeordnete durch Russland und – mein persönlicher Favorit – dubiose Goldgeschäfte! Und Sie reden hier im Deutschen Bundestag allen Ernstes von Transparenz, ohne dabei rot zu werden! Wollen Sie uns eigentlich veräppeln, oder was?
({6})
Transparenz bekommen wir bei Ihnen nur, wenn der Staatsanwalt vor der Tür steht. Sie gehören nicht auf die Plätze in diesem Deutschen Bundestag; Sie gehören auf die Anklagebank der deutschen Gerichte, um sich für das Verhalten Ihrer Partei zu rechtfertigen.
({7})
Jede Beteiligung an Medienerzeugnissen unserer Verlagsgesellschaft ist einsehbar im Rechenschaftsbericht. Mit Beteiligung ist keine Einflussnahme auf das Tagesgeschäft, das Produkt oder die journalistische Unabhängigkeit verbunden.
({8})
Das Bundesverfassungsgericht stellt überdies zu diesen Beteiligungen sogar fest – ich zitiere –:
Dieses Engagement reicht in das 19. Jahrhundert zurück und ist von der Entwicklung der SPD als Partei nicht zu trennen. …
({9})
Wollte sie als Partei an der öffentlichen Meinungsbildung teilnehmen, war sie gezwungen, dies durch selbst veröffentliche Publikationen zu tun.
So das Bundesverfassungsgericht.
({10})
– Ja, ich weiß, dass die Wahrheit wehtut, aber da müsst ihr jetzt durch.
({11})
SPD-Parteimitglieder bis zurück in die Weimarer Republik und das Kaiserreich haben mit dem Arbeitergroschen unter widrigsten Umständen Druckereien, Buchläden und Verlage gegründet.
({12})
Gegen Monarchien, gegen Feinde einer jungen Demokratie, schließlich gegen Nazis und bis heute gegen Rechtsextreme, wie Sie es sind,
({13})
haben meine Genossinnen und Genossen Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit erstritten, offen, aufrecht, ehrlich, und sie wurden dafür von Ihresgleichen nur verfolgt und enteignet.
({14})
Sie treibt die Angst. Die AfD hat Angst vor der Vielfalt der Presselandschaft. Wenn Sie vor die Mikrofone treten, gibt es unwürdigste Szenen.
({15})
Sie bezeichnen Fragen von Journalisten als dumm. Nur weil man mal als Rechtsausschussvorsitzender abgewählt wird, ist die Frage dumm.
({16})
– Interessant. – Den öffentlich-rechtlichen Rundfunk würdigen Sie als Lügenpresse herab. Sie schließen die unbequemen Medienvertreter gezielt von Ihren Veranstaltungen aus,
({17})
weil diese Ihre Erzählungen hinterfragen und erschüttern und im Lichte der Öffentlichkeit sagen, dass Sie eigentlich Unrecht haben, Hass und Hetze betreiben.
({18})
Sie wollen die Meinungsfreiheit und die Meinungsvielfalt, die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in diesem Lande erstritten und mit viel Blutzoll am Rand der Geschichte bezahlt haben, per Gesetz wieder einschränken,
({19})
damit Sie im Verborgenen, mit Ihren im Verborgenen handelnden Geldgebern, schleichend, heimlich, unwidersprochen, mehr an Meinungsmacht gewinnen können. „Wehret den Anfängen!“, sage ich da nur.
({20})
Ich garantiere Ihnen: Sie werden die Transparenz in diesem Land bekommen, die Sie verdienen, und wir werden dabei, weil Gerichtsprozesse öffentlich sind, hinten drinsitzen und uns das Ganze angucken, wie Sie sich für Ihre Verfehlungen, die Verfehlungen Ihrer Partei, Ihren Hass und Ihre Hetze vor deutschen Gerichten rechtfertigen werden.
Den Gesetzentwurf lehnen wir natürlich ab.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({21})
Doris Achelwilm, Die Linke, ist die nächste Rednerin.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Was die AfD ja allen anderen hier voraus hat, ist diese unglaubliche Dreistigkeit.
({0})
Der aktuelle Gesetzentwurf belegt es wieder aufs Schärfste. Maßstab dieser Debatte – Sie hatten es auch genannt – ist Artikel 21 Grundgesetz. Darin heißt es:
Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. … Sie müssen über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft geben.
({1})
Schaut man in die Rechenschaftsberichte der Parteien, erfährt man: Dort werden gemäß Parteiengesetz verschiedene Beteiligungen an Medienunternehmen dargelegt. Nach aktuellem Stand des Wissenschaftlichen Dienstes sind Parteien bundesweit an 17 Medienunternehmen beteiligt, die 35 Publikationen herausgeben, darunter Mitgliederzeitungen und ähnlich Harmloses, was hier schon erwähnt wurde.
({2})
Insgesamt zählt der Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger in Deutschland 333 Tageszeitungen, 22 Wochenzeitungen, 6 Sonntagszeitungen. Dass diese Vielfalt aus vor allem profitlogischen Gründen gerade bedroht ist und fünf private Medienunternehmen insgesamt 50 Prozent der messbaren Meinungsmacht in Deutschland innehaben, ist tatsächlich keine gute Entwicklung. Sie hat aber sehr wenig mit der ewigen AfD-Story altparteilicher Privilegien und Einflussnahmen zu tun; denn die Probleme, die an dieser Stelle angesprochen gehören, sind komplett andere.
({3})
Ich mache sie jetzt mal an fünf Punkten fest:
({4})
Erstens. Bei der AfD gibt es im Rechenschaftsbericht zu Beteiligungsfragen im Medienbereich keine Angaben, null.
({5})
Klar, es gibt ja auch keine offiziellen Angaben zu rechtsradikalen Druckerzeugnissen wie dem „Deutschland Kurier“, die über Briefkastenfirmen, Strohmänner und Schwarzgeldkassen in der Schweiz produziert wurden.
({6})
Aber zum Glück gibt es Investigativjournalisten, und so wissen wir dank dem Recherchezentrum Correctiv und ZDF-„Frontal 21“, dank ARD-„Panorama“ und „Zeit Online“ von einem sehr AfD-freundlichen Verein, der allein im Landtagswahlkampf in Nordrhein-Westfalen vor zwei Jahren 2,6 Millionen Werbezeitungen und etliche Großplakate spendiert hat,
({7})
alles ohne jede Quellenangabe bei der direkt begünstigten AfD.
({8})
Die Bundestagsverwaltung und die Staatsanwaltschaften Bodensee und Essen ermitteln in dieser Sache. Es gab dazu Hausdurchsuchungen und ein Rechtshilfeersuchen an die Schweizer Behörden.
({9})
Weil die AfD nun aber nach eigenem Rechenschaftsbericht nicht an Medienunternehmen beteiligt sein und auch nichts mit den ganzen Hilfsplakaten und Werbezeitungen zu tun haben will, wird hier die Flucht nach vorne versucht und diese Unsinnsdebatte hochgezimmert. Stattdessen sollten Sie mal lieber sagen, woher die Millionenspenden für die Plakate und Ihre schönen Wahlzeitungen kommen.
({10})
Ehrlicher wäre auch gewesen und vielleicht ein Beitrag zu Ihrer vielbeschworenen Transparenz, wenn die AfD fordern würde, illegale Parteispenden nachträglich legal zu machen. Stattdessen stellen Sie sich hier mit komplett fehlender Selbsttransparenz,
({11})
Ihren einzig und allein eigennützigen Maßstäben und in Serie produzierten Fake-News-Anträgen über andere. Das ist einfach grotesk und lächerlich.
({12})
Zweitens. Das AfD-Verständnis von Medienvielfalt und Pressefreiheit geht so: Sie möchten am liebsten die eine große Zeitung oder den einen großen Sender, der die AfD nicht länger problematisiert, sondern voll unterstützt. Dass ich als eine von vielen strikt dagegen bin, hat nichts mit Konkurrenzneid oder mangelndem Demokratieverständnis zu tun,
({13})
sondern zum Beispiel damit, dass Sie rassistische Inhalte verbreiten, die in einer demokratischen Gesellschaft mindestens als solche benannt und kritisiert gehören und nicht noch weiter normalisiert.
({14})
Weil es in den Medien nicht nur so läuft, wie Sie wollen, setzen Sie dann noch auf Verlautbarungsformate wie den YouTube-Channel „AfD Kompakt TV“, der ohne jeden störenden Kontext nur Sie und Ihre Show hier hofiert. Und so geht das alles weiter.
({15})
Drittens. Die AfD will keine Pressevielfalt und Transparenz, egal wie oft sie diese Worte in Überschriften schreibt. Sie schürt mit Hassbotschaften wie „Lügenpresse“ Gewalt gegen unerwünschte Journalisten und erteilt ihnen auf Parteitagen Hausverbot.
({16})
Sie zielt auf Einschüchterung und Ausgrenzung und gegen eine Medienelite, so Ihr Wort, deren vermeintliches Opfer Sie ja immer sind. Dabei ist gerade die AfD doch besonders gut versorgt. In Ihrer Funktionselite sitzen mehr abtrünnige Journalisten mit ehemals hohen Posten als in jeder anderen Partei, die hier vertreten ist.
({17})
Um nichts dem Zufall zu überlassen, werden dann auch noch von wem auch immer bezahlte Bots im Internet eingesetzt. Es konnte nachgewiesen werden, dass es zur Europawahl ein beträchtliches Netzwerk dubioser Accounts gegeben hat, deren einziger Zweck die Unterstützung von AfD-Postings ist.
({18})
Danach waren sie wieder verschwunden.
({19})
Viertens gibt es mit Ihrem Gesetzentwurf ein verfassungsrechtliches Problem. Das gute Handwerk! Für das Presserecht sind nämlich die Bundesländer zuständig, nicht der Bundestag. Noch ein Tipp: In Hessen enthält das Landespressegesetz eine Klausel, die tatsächlich was für sich hat. Die Gesellschafter von Verlagen, also auch Parteien, müssen regelmäßig im Impressum genannt werden. Solche Regelungen in den Landespressegesetzen können tatsächlich mehr Transparenz schaffen. Darüber kann man mal nachdenken.
({20})
Fünftens. Zur Wahrung von Pressevielfalt – ich komme zum Schluss – gelten kartellrechtliche und medienkonzentrationsrechtliche Vorgaben allgemein und damit auch für Beteiligungsholdings der Parteien. Als Linke fordern wir angesichts des Medienwandels, von Verlagsfusionen und dominanten Internetplattformen deutlich mehr Engagement für eine unabhängige Vielfaltsicherung. Wir brauchen neue Modelle zur Absicherung von unabhängigem Journalismus jenseits partei- oder regierungspolitischer Einflussnahme, nicht zu vergessen gestärkte Landesmedienanstalten zur Förderung von Medienkompetenz – all das auch, damit nicht länger durch rechte Fake News und Fake-Medien so viel Schaden angerichtet und Zeitverschwendung verursacht wird.
({21})
Margit Stumpp, Bündnis 90/Die Grünen, ist die nächste Rednerin.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Stärkung der publizistischen Vielfalt ist für uns Grüne ein wichtiges Anliegen.
({0})
Redaktionell unabhängige Medien sind eine Grundvoraussetzung für eine informierte Öffentlichkeit und eine funktionierende Demokratie. Der vorliegende Gesetzentwurf täuscht die Absicht, die unabhängige Presse zu stärken, leider nur vor. Wieder eine Episode der Mission „Tarnen und Täuschen“!
Täuschung zum Ersten: Die Vorschläge sind völlig unzureichend, um die Medienvielfalt zu stärken. Wo ist die Forderung nach gemeinnützigem Journalismus? Wo ist die Forderung nach der so dringend benötigten Reform des Medienkonzentrationsrechts?
({1})
Wo ist in diesem Entwurf die Forderung nach einer stärkeren Regulierung von Onlineplattformen? Fehlanzeige!
({2})
Täuschung zum Zweiten: Die Themen „Presse- bzw. Medienvielfalt“ und „Beteiligung von Parteien an Medienunternehmen“ werden in geradezu unlauterer Weise vermengt. Dahinter steckt die Absicht, die demokratischen Parteien im Allgemeinen und die SPD im Besonderen zu diskreditieren.
({3})
Die Rechten behaupten doch allen Ernstes, dass die anteilig sehr kleinen Kapitalbeteiligungen an Medienunternehmen die Medienvielfalt gefährden würden. Sie unterstellen, ein Großteil der privaten Medienunternehmen in Deutschland würde auf Parteilinie berichten und eine parteinahe Einstellungspraxis bei der Besetzung ihrer Redaktionen verfolgen.
({4})
Völlig absurd!
({5})
Damit sollen gezielt Zweifel gegen unsere unabhängige Medienlandschaft geschürt werden. Dieses Mal trifft es die privaten Medien, die mutmaßlich unter einer Decke mit der Politik und – nicht zu vergessen! – mit dem links-grünen Establishment stecken sollen.
({6})
Es ist schräg, mit welchem Aufwand die Rechten immer wieder versuchen, die Medien in unserem Land als gesteuert und abhängig zu diffamieren. Sie haben in diesem Jahr über Monate hinweg fast 400 Anfragen an die Bundesregierung gestellt
({7})
und wollten unter anderem wissen, wie oft die Bundesregierung und nachgeordnete Behörden zum Beispiel Korrekturbitten an Redaktionen geschickt haben. 400 Anfragen – welch ein Aufwand an Arbeitszeit und Steuergeld! Das Ergebnis: nicht eine einzige Korrekturbitte,
({8})
kein einziger Versuch der politischen Einflussnahme, nichts.
Aber Fakten spielen keine Rolle. Die Zweifel sind so sehr gewollt, dass Zusammenhänge konstruiert und Lügen als Wahrheiten verkauft werden.
({9})
Dies alles dient der Erzählung, die AfD sei die Ausgestoßene des Mainstreams und das ewige Opfer der links-grün dominierten Medien.
({10})
Mir kommen die Tränen. Die AfD geriert sich hier als verlängerter Arm der Verschwörungstheoretiker im Parlament.
({11})
Der Deutsche Bundestag ist aber weder Breitbart noch Russia Today deutsch. Ihr Kulturpessimismus und Ihre Verschwörungstheorien finden hier keinen Widerhall. Die einzig angebrachte Reaktion ist Widerspruch.
({12})
Tarnung zum Ersten: Die Rechtsextremen geben sich als Hüter der Transparenz. Wie scheinheilig! Wir Grünen haben in dieser Legislaturperiode unter anderem einen Antrag zur Verbesserung der Transparenz der Parteienfinanzierung vorgelegt, dem Sie nicht zugestimmt haben. Natürlich nicht! Wäre ja auch zu dumm, wenn nach dem Auffliegen der illegalen Parteispenden einer Schweizer Pharmafirma an die AfD und der Parteispendenaffäre um die GOAL auch noch öffentlich würde, wie die AfD offensichtlich gezielt Transparenzlücken im Parteienrecht ausnutzt. Anonymität von Großspendern ist Ihnen im Zweifel doch wichtiger als Transparenz.
({13})
Tarnung zum Zweiten: Die sogenannte Vereinigung der Freien Medien hat vor der Landtagswahl in Thüringen eine halbe Million Exemplare ihrer Gratiszeitung „Der Wahlhelfer“ unter das Volk gebracht. Darin: Empfehlungen zur Wahl der AfD und für eine nationalkonservative Koalition zwischen der CDU und der AfD.
({14})
Der Herausgeber: unbekannt. Er tarnt sich mit einem Pseudonym. Woher das Geld für 1 Million gedruckte Wahlzeitungen kommt: ebenfalls unbekannt.
({15})
Die Vereinigung der Freien Medien ist kein Verein, sondern eine Briefkastenfirma in Berlin-Mitte. Diese dubiose Organisation sieht sich selbst als Dachverband für neue rechte Medien wie Journalistenwatch, PI-News und „Compact“. Sie trat im Mai dieses Jahres bei einer Medienkonferenz der AfD im Bundestag offiziell als Partner auf.
({16})
Auch zwischen der AfD und dem „Deutschland Kurier“ gibt es nachgewiesene Verbindungen. Im „Deutschland Kurier“, ebenfalls ein Gratisblatt, wird gegen Menschen mit Migrationshintergrund, gegen die vermeintliche Lügenpresse und die Politik gehetzt. Es wurde nachgewiesen, dass es Absprachen zwischen AfD-Mitgliedern und dem Herausgeber des „Deutschland Kuriers“ zur Verteilung des Gratisblattes gab.
({17})
Die Berliner Staatsanwaltschaft ermittelt gegen die AfD auch hier wegen Verdachts auf illegale Parteienfinanzierung.
({18})
Wie sehr den Rechten eine freie Presse und der Schutz von Medienschaffenden am Herzen liegen, demonstrieren sie auch mit ihrem Meldeportal gegen Journalistinnen und Journalisten. Freiheit braucht keinen Druck und keine Denunzianten.
({19})
Tarnen und Täuschen – mit diesem Gesetzentwurf präsentiert uns die AfD zur Weihnachtszeit
({20})
wieder einmal das Märchen von der demokratischen, die Freiheit der Presse verteidigenden Partei. Dass dieses Märchen auf absehbare Zeit wahr wird, glaubt in diesem Parlament niemand: nicht vor Weihnachten und auch nicht nach Weihnachten.
({21})
Nächster Redner ist der Kollege Philipp Amthor, CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir erleben hier – es wurde schon gesagt – tatsächlich eine AfD, die sich mal wieder als Verteidiger der Presse- und Meinungsvielfalt
({0})
und als Verteidiger eines transparenten Diskurses gerieren will. Es ist wie so oft, lieber Herr Brandner: netter Versuch, aber gescheitert.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Vorschlag der AfD ist, die Transparenz der Beteiligung von Parteien an Medienunternehmen zu erhöhen. Dazu – das muss man sagen – haben Sie einige Vorschläge gemacht; es wurde schon einiges gesagt.
({2})
Sie wollen die Möglichkeiten in Rechenschaftsberichten ausweiten. Aber Sie wollen – das finde ich besonders schön – im Wettbewerbsrecht einen Warnhinweis für die Bürger verankern, dass quasi die Presseerzeugnisse, die Zeitungen, an denen Parteien beteiligt sind, dann – so schlagen Sie es vor – folgenden Warnhinweis an die Artikel drucken -
({3})
ich zitiere ihn aus Ihrem Entwurf –: „redaktionell aufbereitet von XYZ – ein Unternehmen mit Beteiligung der ABC-Partei“. Die AfD als Servicepartei. Da fragt man: Braucht man das eigentlich?
({4})
Braucht man das? Ich werde es Ihnen nachher noch sagen.
Um es vorab zu sagen: Dass sich die Parteien an Medienunternehmen beteiligen, ist doch erst mal gar nichts Verwerfliches, sondern es ist auch so vorgesehen, weil die Parteien einerseits verfassungsrechtliche Institutionen, andererseits aber auch Grundrechtsträger sind. Das kann man mehr oder weniger intensiv machen. Es wurde schon gesagt: Die SPD hat ein bisschen tiefer hineingegriffen und hat einige Medienbeteiligungen mehr als die anderen Parteien. – Aber das herauszufinden, liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD, ist wirklich kein Hexenwerk. Ich glaube, wir sollten als Abgeordnete immer die Einstellung haben, dass wir die Bürger nicht für dümmer halten als uns selbst. Wenn selbst Sie herausfinden konnten, an welchen Unternehmen die SPD beteiligt ist, können die Bürger das auch, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({5})
Ich will Ihnen insbesondere zum Warnhinweis sagen: Braucht man den Warnhinweis? Sie haben das RedaktionsNetzwerk Deutschland kritisiert, Herr Brandner. Da ist die Madsack-Gruppe mit über 50 Tageszeitungen einer der größten Anteilseigner. Dann sagen Sie: Ja, das ist alles ganz schlimm für unsere Mediendemokratie. – Ich habe mich gefragt: Führen die Unternehmensbeteiligungen der SPD dazu, dass alle nur so toll über die SPD schreiben?
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nur mal zwei Schlagzeilen aus der Berichterstattung des RedaktionsNetzwerks Deutschland: „SPD-Parteitag: Es ist kein Aufbruch zu spüren“ und „Bald nur noch einstellig? SPD sackt in Umfragen auf 11 Prozent ab“.
({7})
Also: Jubelpresse ist das nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({8})
Deswegen muss man mal sagen: Auch wenn Parteien an Medienunternehmen beteiligt sind, schreiben und berichten sie trotzdem objektiv. Aber es stört Sie gar nicht, ob gut oder schlecht über die SPD berichtet wird. Sie stört, dass so schlecht über die AfD geschrieben wird. Da fragt man sich: Woran liegt das eigentlich?
({9})
Es kann mehrere Gründe geben, weshalb schlecht über die AfD geschrieben wird. Ein Grund könnte sein – Herr Brandner, das ist wahrscheinlich Ihre Idee –: Es gibt die große links-grüne Altkartellparteienverschwörung, derentwegen über die AfD schlecht geschrieben wird. Ich glaube, es ist ein anderer Grund: Über Ihre Politik wird schlecht geschrieben, weil sie schlecht ist, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({10})
Ich will nun wirklich nicht derjenige sein, der hier Medienbeteiligungen der SPD verteidigt. Ich will auch zugestehen: Es gibt unfaire Berichterstattungen in der Presse über Parteien im Allgemeinen, gelegentlich auch über die AfD. Aber was mich wirklich stört, liebe Kollegen, ist Ihr Verständnis von Presse- und Meinungsfreiheit.
({11})
Ihr Verständnis impliziert nämlich, dass Sie glauben, dass aus Ihrer Freiheit, alles zu sagen, eine Pflicht der anderen folge, Ihnen zuzustimmen. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, aus dem Recht, etwas zu sagen, folgt eben nicht die Pflicht zur Zustimmung. Deshalb: Wenn Sie über die Medien reden und immer behaupten, Sie wollten die letzten aufrechten Verteidiger des Vaterlandes sein, dann seien Sie im Umgang mit den Medien bitte nicht so verdammt mimosenhaft, liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD.
({12})
Was wirklich nervig ist, ist die Doppelmoral in der Diskussion; das wurde schon gesagt. Sie tun hier so, als sei es das größte Problem, dass man, um die Medienbeteiligungen der SPD zu finden, einen Wikipedia-Artikel bemühen muss und dafür fünf Minuten Rechercheaufwand braucht. Sie tun so, als sei das das größte Transparenzproblem. Gleichzeitig verlieren Sie – das klang in der Debatte an – über Ihren „Deutschland Kurier“
({13})
und die undurchsichtigen Beziehungen dazu nicht ein Wort.
({14})
Ich will Ihnen eines sagen: Dieser „Deutschland Kurier“, Ihre Presseerzeugnisse,
({15})
diese Beziehungen, die Sie dort haben, ist eigentlich die größte intransparente Aktion in der Parteienfinanzierung der letzten Jahre.
({16})
Deswegen muss man solchen Kampfblättern und ihrer Finanzierung aus dem Ausland den Kampf ansagen. Deswegen muss man hier von Doppelmoral sprechen. Das passt doch alles nicht zusammen.
Ich sage Ihnen – das ist das Lustige –, wozu die von Ihnen vorgeschlagene Regelung führt. Ihr Warnhinweis soll dazu führen, dass Ihr „Deutschland Kurier“ geschützt wird, dass die redlich recherchierten objektiven Berichterstattungen der Tageszeitungen den Warnhinweis bekommen:
({17})
„Achtung, Achtung, linksgrüne Presse“, aber der „Deutschland Kurier“ erhält das Prädikat der Wahrheit. Das ist Ergebnis Ihrer Logik. Und das ist Doppelmoral, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({18})
Wenn wir schon über einen Warnhinweis reden, kann ich nur sagen, dass dann solche Postillen wie der „Deutschland Kurier“ einen entsprechenden Warnhinweis bräuchten. Man könnte schreiben – um Ihren Vorschlag aufzugreifen –: redaktionell aufbereitet von Tarnunternehmen X, einer Parallelaktion der AfD Deutschland. Genau darum handelt es sich, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({19})
Messen Sie hier deshalb nicht mit zweierlei Maß. Sorgen Sie vielmehr erst einmal im eigenen Haus für Ordnung.
({20})
Mein Tipp nach fast einer Stunde Debatte wäre, zukünftig vielleicht folgenden Warnhinweis für solche Debatten einzuführen: Vorsicht Kernzeitdebatte! Rüpel Brandner rumpelt sich wieder zum Eigentor. – Das ist Ihnen gelungen. Wir lehnen Ihren Gesetzentwurf ab.
Herzlichen Dank.
({21})
Das Wort hat der Abgeordnete Jens Maier für die AfD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man kann ja nicht auf alles eingehen, Herr Amthor.
({0})
Aber eines ist doch klar: Was eine lebendige Demokratie braucht, ist eine freie, unabhängige Presse mit Journalisten, die über ein Berufsethos verfügen. Eine freie Presse muss den Bürger informieren und darf nicht ausschließlich manipulieren. Die Situation, die wir zurzeit in der Bundesrepublik haben – das war nicht immer so –, ist das genaue Gegenteil: Zeitungen, die wegen des Kostendrucks mehr und mehr in staatliche Abhängigkeit geraten und subventioniert werden müssen, Zeitungen, die mittelbar von politischen Parteien abhängig sind. Es liegt auf der Hand, dass eine kapitalmäßige Beteiligung einer Partei an einer Zeitung immer auch Einfluss auf den Inhalt hat. Wes Brot ich ess, des Lied ich sing: An dieser schlichten Wahrheit führt kein Weg vorbei.
({1})
Was eine Demokratie sicher nicht braucht, sind Mietschreiber, deren Aufgabe darin besteht, den politischen Gegner des Zeitungseigentümers zu diffamieren.
Das beste Beispiel für den Niedergang der Printmedien ist die „Sächsische Zeitung“ aus Dresden. Im April 1946 entstand die „Sächsische Zeitung“ aus der Zusammenführung der „Sächsischen Volkszeitung“ der KPD und der „Volksstimme“ der SPD.
({2})
Sie fungierte damals als Organ der SED-Bezirksleitung Dresden. 1991 wurde die „Sächsische Zeitung“ privatisiert. Die SPD meldete Restitutionsansprüche an und erhielt dafür einen Anteil von 40 Prozent an der „Sächsischen Zeitung“. Anbieter der „Sächsischen Zeitung“ ist heute die DDV Mediengruppe. Diese gehört zu 60 Prozent Gruner+Jahr und zu 40 Prozent der Deutschen Druck- und Verlagsgesellschaft, ein Medienbeteiligungsunternehmen der SPD.
Wer heute die „Sächsische Zeitung“ in den Händen hält, erfährt von alldem nichts. Er denkt, dass es sich um eine normale Tageszeitung handelt und nicht um ein Blatt, an dem die SPD mittelbar in erheblichem Umfang beteiligt ist.
({3})
Wer würde denn eine SPD-Zeitung kaufen?
({4})
Mit dieser vorgetäuschten Seriosität muss es ein Ende haben. Das ist das Anliegen des vorliegenden Gesetzentwurfs.
({5})
Es muss endlich die Wahrheit bekannt werden, wer wirklich hinter der Berichterstattung steht, dann wird nämlich offensichtlich, warum das eine so und das andere so dargestellt wird. Darum soll nach unseren Vorstellungen durch eine Änderung des UWG die kapitalmäßige Beteiligung einer Partei in der betreffenden Zeitung selbst kenntlich gemacht werden, weil man nicht davon ausgehen kann, dass jeder Leser Rechenschaftsberichte liest; die „SZ“ erscheint ja im Rechenschaftsbericht.
Unser Transparenzgesetz trägt dazu bei, den demokratischen Willensbildungsprozess auf eine ehrlichere Grundlage zu stellen.
({6})
Daran müsste eigentlich allen hier gelegen sein.
({7})
Danke.
({8})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Abgeordnete Helge Lindh das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Alle Jahre wieder stellt die AfD in diversen Länderparlamenten nahezu wortgleich, zumindest äußerst ähnlich, eine Vorlage zu diesem Thema zur Abstimmung, heute erleben wir das im Bundestag.
({0})
Alle Jahre wieder ist auch Weihnachten. Deshalb habe ich für Sie alle heute einen Vorschlag für ein Weihnachtsgeschenk, nämlich ein Wörterbuch AfD – Deutsch, Deutsch – AfD.
({1})
Unter „Pressefreiheit“ finden Sie folgende Definition: Pressefreiheit gilt da, wo die Presse freundlich über die AfD schreibt. – Etwas weiter in dem Artikel finden Sie dann die nähere Definition: Pressefreiheit im eigentlichen Sinne ist der Zustand frei von freier Presse. – Das praktizieren Sie vorbildlich, unter anderem vor einigen Tagen in meinem Wahlkreis. Dort haben Sie den Saal erst mal freihalten wollen von freier kritischer Presse. Herzlichen Glückwunsch.
({2})
In besagtem Wörterbuch AfD – Deutsch, Deutsch – AfD – man muss das den Menschen erstmal erläutern, was Sie hier treiben –:
({3})
ist es beim Ausdruck „Meinungsfreiheit“ das gleiche Spiel. Meinungsfreiheit gilt für Sie genau dort, wo die Meinung identisch ist mit der Propaganda der AfD. Wenn man dann weiter liest, heißt es: Meinungsfreiheit ist letztlich der Zustand, der frei ist von Meinungsvielfalt, in dem Meinungsvielfalt eben keinen Platz hat. – Genau so erklären sich Ihr Ablenkungsmanöver und Ihr ziemlich dummer Kreuzzug gegen die Meinungsfreiheit.
({4})
Jetzt zum Gegenbeispiel – damit Sie verstehen, welcher Unterschied zwischen Medienbeteiligung und der Haltung gegenüber der freien Presse besteht –: In meiner Stadt Wuppertal
({5})
steht das Johannes-Rau-Haus. Das Johannes-Rau-Haus war früher das Pressehaus der SPD, gegründet im Obrigkeitsstaat im Kampf gegen Unterdrückung, gegen den Obrigkeitsstaat, für Freiheit und Demokratie.
({6})
Wie hieß das Haus? Es war das Haus der „Freien Presse“. 1933 wurde der Verlag enteignet, das Eigentum wurde entzogen, die dort Aktiven wurden verfolgt oder zum Teil ermordet.
({7})
Dies ist die Tradition, in die Sie sich einreihen. Auch zu dieser Aktion herzlichen Glückwunsch.
({8})
Das Transparenzproblem hat gewiss nicht die SPD. Wir haben auch nicht das Problem – das hätten wir gerne – einer uns allzu sehr gewogenen Presse. Herr Kollege Amthor hat – irgendwie zu sehr – genussvoll einige Zitate genannt; das nenne ich ein vergiftetes Geschenk, nehme ich aber gerne in Kauf.
({9})
Darüber hinaus wissen wir aber jetzt ganz genau, wer ein Problem mit Meinungsvielfalt und mit Transparenz hat. Erwähnt wurden der „Wahlhelfer“, ebenso der „Deutschland Kurier“. Wir können aber noch weitere Beispiele nennen: die „1. Konferenz der Freien Medien“, Elsässer, Kubitschek, Campact, „Sezession“, PI-News und sonstige Medien,
({10})
alle Pulitzer-Preis-verdächtig, ein absolutes Beispiel freier Presse. Der Gipfel darüber hinaus ist aber: Ihr neuer Parteivorsitzender, Tino Chrupalla,
({11})
initiiert in einem Schreiben Anfang dieses Jahres an seinen Kreisverband eine Art schwarzer Liste mit vermeintlich unliebsamen, störenden Journalistinnen und Journalisten. Es fällt da auch folgender Aufruf – ich zitiere –: Man wünsche sich Hintergrundinformationen über „als Journalisten getarnte Zersetzungsagenten“.
({12})
Zersetzungsagenten!
Folgendes stelle ich hiermit fest: Die einzigen Zersetzungsagenten überhaupt in diesem Land sitzen auf den Bänken der AfD-Fraktion. Sie sind dafür auch noch mit ganz ordentlichen Diäten bezahlt.
({13})
Ihre Fraktion wird auch noch von dieser Demokratie, vom Staat finanziert. Der Witz ist, dass wir anderen, wir demokratischen Parteien, als Verfechter dieser Demokratie sogar wollen und akzeptieren, dass die Feinde der Demokratie dies hier äußern können.
({14})
Ihre Methode ist das Gegenteil. Sie akzeptieren nämlich nicht diese Freiheit.
Das, was Sie uns hier einreden wollen, ist kein Kulturkampf, das ist eine ganz einfache Frage des Rechts. Wir wollen die Herrschaft des Volkes, Demokratie genannt.
({15})
Wir wollen die Herrschaft des Rechts. Sie wollen nur die Herrschaft der Gesinnung. Das ist der ganze Unterschied.
Vielen Dank.
({16})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Josef Oster das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Beteiligungen von Parteien an Medienunternehmen sind problematisch. Daran besteht für mich kein Zweifel.
({0})
Das hat die Union in der Vergangenheit auch schon vielfach deutlich gemacht. Aktuell sehe ich, sehen wir aber keine Notwendigkeit, hier gesetzgeberisch tätig zu werden.
Die heutige Debatte, meine sehr geehrten Damen und Herren, bietet aber Gelegenheit, einen Blick auf die mediale Situation in Deutschland zu werfen – in einer Zeit, in der es Qualitätsjournalismus zunehmend schwer hat, und in einer Zeit, in der guter Journalismus aber mehr denn je gebraucht wird.
({1})
– Danke.
({2})
Natürlich ist es im Interesse einer jeden politischen Partei, gut in den Medien dazustehen. Die AfD erweckt in ihrem Gesetzentwurf den Eindruck, dass Parteien deshalb alles tun würden, um Einfluss auf die Berichterstattung zu bekommen,
({3})
im Idealfall durch die Beteiligung an einem Medienunternehmen. Aber wie sieht es in der Realität aus? Ist die Pressefreiheit in unserem Land tatsächlich in Gefahr?
({4})
Ich sehe das nicht so. Für die allermeisten Journalisten ist die Pressefreiheit ein hohes Gut; und das muss hier betont werden, meine sehr geehrten Damen und Herren.
({5})
Ich will ein Beispiel aus meinem Wahlkreis nennen. Die „Rhein-Zeitung“ aus Koblenz, eine der großen regionalen Tageszeitungen in Deutschland, berichtet zwar natürlich nicht immer in meinem Sinne -
({6})
wie könnte es auch anders sein? –, aber die Redakteure bekennen sich zu unabhängigem Qualitätsjournalismus mit hohen moralischen und fachlichen Standards. Journalisten nun diesen moralischen Kompass pauschal abzusprechen, halte ich für gefährlich, meine sehr geehrten Damen und Herren.
({7})
Wie die meisten deutschen Medienunternehmen bekennt sich die „Rhein-Zeitung“ eben zur strikten Trennung von Verlag und Redaktion.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es ist und bleibt aber ein immerwährender Auftrag, kritisch zu hinterfragen, ob die Meinungsvielfalt in unserem Lande angemessen abgebildet wird. Das gilt für die privaten Medien, und das gilt in besonderer Weise für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Auch Meinungen und Einschätzungen abseits des aktuellen Mainstreams müssen sich dort wiederfinden. Darauf muss immer wieder aufs Neue geachtet werden.
Ich möchte ein aktuelles Beispiel nennen, mit dem ich derzeit häufig in Gesprächen im Wahlkreis konfrontiert werde: Zwei Drittel unserer Bevölkerung sind laut einer aktuellen forsa-Umfrage der Auffassung, dass Klimaschutz nicht das drängendste Problem ist. – Darüber dürfen auch regelmäßige Demonstrationen von Klimaschützern nicht hinwegtäuschen.
({8})
Diese Menschen fühlen sich aber in der Medienlandschaft derzeit nicht angemessen repräsentiert.
({9})
Das ist eine Entwicklung, die mir Sorge bereitet und die wir sehr ernst nehmen müssen.
({10})
Aber, meine sehr geehrten Damen und Herren, der AfD geht es natürlich um etwas ganz anderes. Ihnen geht es um vieles, aber sicher nicht um mehr Pressefreiheit. Sie verfolgen ausschließlich Ihre eigene medienpolitische Strategie. Sie behaupten regelmäßig, dass die traditionellen Medien gesteuert sind, und fördern mit Ihren Schlagwörtern wie „Lügenpresse“ das Misstrauen gegenüber Printmedien, Radio und Fernsehen. Hass, Hetze und Fake News lassen sich natürlich über andere Wege viel leichter transportieren und verbreiten.
({11})
Dennoch bin ich beim Blick auf unsere Medienlandschaft durchaus zuversichtlich und optimistisch gestimmt:
Erstens verfügen wir in Deutschland über eine gesunde und breite Medienlandschaft.
Zweitens. Auch unsere politische Vielfalt schließt einseitige parteipolitische Vereinnahmung der Medienlandschaft aus.
({12})
Drittens. Die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes sind imstande, sich mit journalistischen Inhalten kritisch auseinanderzusetzen.
({13})
Sie verfügen über eine hohe Medienkompetenz. Es bleibt allerdings eine wichtige Aufgabe, auch eine Aufgabe des Staates, diese Kompetenz weiter zu fördern. Das gilt nach meiner Überzeugung auch und insbesondere für die Schulen.
({14})
Abschließend sage ich: Den Gesetzentwurf halte ich, halten wir aktuell weder für notwendig noch für zielführend. Unsere Fraktion lehnt ihn deshalb konsequenterweise ab.
Vielen Dank.
({15})
Das Wort hat der Kollege Martin Rabanus für die SPD-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tribünen! Es ist gut und es ist richtig, wenn wir im Deutschen Bundestag über publizistische Vielfalt und Transparenz bei den Medien diskutieren.
({0})
Es ist ein Witz, wenn das mal wieder auf der Basis eines ziemlich verlogenen Gesetzentwurfs der AfD passiert;
({1})
denn Sie, Kolleginnen und Kollegen von der AfD, diskreditieren die freie Presse ja ununterbrochen als „Lügenpresse“, als „Systempresse“. Sie wollen ihr die Grundlagen entziehen. Sie wollen ja nicht, dass die Menschen Qualitätsmedien wahrnehmen und konsumieren,
({2})
sondern Sie wollen, dass Ihre AfD-Spreche möglichst breit wahrgenommen wird. Deswegen ist der Gesetzentwurf verlogen. Sie wollen keine Vielfalt. Sie wollen keine Freiheit. Sie suchen immer neue Wege, genau das zu bekämpfen. Und das lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
({3})
Sie fordern eine Transparenz, die es längst gibt, im Parteiengesetz, aber auch in den üblichen Rechenschaftslegungen. Wenn Sie sich die Mühe machen möchten, gehen Sie mal ins Internet. Sie können die Geschäftsberichte unserer DDVG seit 2000 online einsehen.
({4})
– Nein, ich will mich lieber noch ein bisschen mit dem auseinandersetzen, was Sie als Fraktion so tun.
({5})
Wie Sie verwoben sind mit unterschiedlichsten Medien, ist hinreichend dargestellt worden. Ich will mal auf Ihr neuestes Projekt aus diesem Herbst eingehen. Sie fangen ja jetzt an, eine Gegenrealität in Form von Dokumentarfilmen zu konstruieren.
({6})
Ich frage mich in der Tat: Ist es Aufgabe einer Bundestagsfraktion,
({7})
durch die Gegend zu fahren mit dem – Zitat – „Medienteam der AfD-Fraktion“ und Berichte aus dem In- und Ausland zu veröffentlichen?
({8})
Die Frage ist tatsächlich – –
({9})
– Mein Gott, kann man das hier mal ein bisschen strukturieren?
Zurzeit hat überwiegend der Redner der SPD-Fraktion, Martin Rabanus, das Wort.
({0})
Vielen Dank.
({0})
Dieser Ruf „Zum Thema!“ steht nur den jeweils amtierenden Präsidentinnen und Präsidenten zu. Die schätzen ein, inwieweit die Debatte hier entsprechend den Regeln stattfindet.
({0})
Tatsächlich also produzieren Sie mit Steuermitteln und Steuergeldern Ihre Gegenrealität. Das ist schon bedenklich an sich. Aber es ist ja in einer gewissen Tradition, weil Sie als AfD das Ganze ja sowieso nicht ganz ernst nehmen; auch darauf ist schon hingewiesen worden. Entsprechende Meldungen konnten wir jüngst über Frau Weidel oder Herrn Meuthen lesen. Herr Gauland ist auch über das informiert, was da passiert.
({0})
Aber ich will auf Ihr Medienprojekt und Ihre Dokumentation zurückkommen. Ich will den Zuschauerinnen und Zuschauern und Zuhörern nicht vorenthalten, wie eben der erste Titel Ihrer Dokumentation war. Er hieß: „Dieselmord im Ökowahn!“.
({1})
Dieselmord im Ökowahn – das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Dann fragt man sich, werte Kollegen bei der AfD: Was ist bei Ihnen eigentlich schiefgelaufen?
({2})
Das erinnert einen ein bisschen an klangvolle Titel von Filmen aus den 70er-Jahren.
({3})
Da gab es einen wundervollen Film, der hieß: „Bratpfanne Kaliber 38“. Das ist vielleicht etwas, woran Sie sich orientiert haben.
Da gab es 1977 einen wunderbaren Film, der hieß: „Adele hat noch nicht zu Abend gegessen“.
({4})
Vielleicht wäre auch das einmal eine Inspiration für Ihren neuen Kanal.
Manch einer fühlt sich auch an frühe Filmtitel von Senta Berger erinnert. An welchen Sie da im Einzelnen denken, weiß ich nicht.
({5})
Aber ich will auch an Louis de Funès erinnern. Louis de Funès, ebenfalls ein wunderbarer Filmemacher, hat mal einen Film mit dem Titel „Louis und seine außerirdischen Kohlköpfe“ gemacht.
({6})
Das wäre einmal ein Rat: Sie könnten als nächste Dokumentation eine Dokumentation über sich selber machen mit dem klangvollen Titel „Alexander und seine rechten Hohlköpfe“.
Herzlichen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch das Jahr 2019 war wieder ein Jahr des Handwerks. Das Handwerk hat eine hohe Leistungsfähigkeit, eine hohe Qualität. Es hat trotz der konjunkturellen Schwäche im laufenden Jahr zugelegt: steigende Umsätze von 4 Prozent, hohe Auftragsbestände, Anstieg der Neueinstellungen. Das ist ein großes Kompliment an all diejenigen, die in diesem Bereich beruflich tätig sind. Und die Entwicklung wird nach allem, was wir wissen, auch im nächsten Jahr so weitergehen: mit Umsatzsteigerungen und weiterer positiver Entwicklung der Beschäftigung im Handwerk.
Im Handwerk sind rund 5,4 Millionen Menschen beschäftigt. Es gibt rund 1 Million Unternehmerinnen und Unternehmer. Das ist ein Anlass, heute Danke zu sagen, auch im Namen der übergroßen Mehrheit des Deutschen Bundestages, für das, was im Handwerk seit vielen Jahrzehnten über die Jahre und auch heute zuverlässig geleistet wird.
({0})
Das Handwerk genießt eine hohe Wertschätzung in unserer Bevölkerung und weit darüber hinaus in Europa und in weiten Teilen der Welt. Wir möchten, dass dies so bleibt: dass das Handwerk auch in Zukunft einen Beitrag zur hohen Qualität von Dienstleistungen und von Wirtschaftsentwicklungen leisten kann, aber auch zu Identität, zu Kultur, zum Zusammenhalt vor Ort und in unserem Land insgesamt. Dafür brauchen wir die richtigen Rahmenbedingungen. Dafür brauchen wir vertretbare Belastungen, die nicht ständig steigen. Dafür brauchen wir eine wirtschaftsfreundliche Politik. Aber wir müssen auch die Weichen dafür stellen, dass diejenigen, die bereit sind, sich auf das Handwerk einzulassen, die bereit sind, dafür viel an Lernen, an Zeit, an Investitionen aufzuwenden und damit Risiko einzugehen, sich auf dieses Risiko auch einlassen können.
Deshalb haben wir heute einen wichtigen Punkt auf der Tagesordnung, nämlich die Wiedereinführung der Meisterpflicht für zwölf sogenannte B1-Handwerke. Hier geht es um Wertschätzung. Aber es geht ebenso um Qualität, Qualifizierung und um die Zukunft der Betriebe. Wir hatten bereits im Koalitionsvertrag eine Verständigung der Regierungskoalition darauf, dass das Handwerk noch stärker anerkannt und gefördert wird und dass wir überprüfen werden, welche Gewerke in Zukunft wieder zurück in die Meisterpflicht überführt werden können.
Ich möchte die Gelegenheit wahrnehmen, mich nicht nur bei Kolleginnen und Kollegen aus meinen eigenen Koalitionsfraktionen, bei Carsten Linnemann, bei Sören Bartol, sondern auch bei Kolleginnen und Kollegen aus allen Fraktionen des Hauses, die diese Diskussion unterstützt haben, die diese Veränderungen mittragen, ganz herzlich zu bedanken. Wir werden heute – davon gehe ich aus – ein sehr überzeugendes, ein sehr starkes Signal dafür finden und zeigen, dass das Handwerk die Unterstützung des gesamten Deutschen Bundestages hat. Dafür ein herzliches Dankeschön!
({1})
Wir haben ein umfassendes Konsultationsverfahren durchgeführt. Im Wirtschaftsausschuss gab es eine Sachverständigenanhörung. Es gab selbstverständlich wie bei allen solchen Vorhaben auch Wünsche, die in diese oder jene Richtung gingen. Nicht alle konnten berücksichtigt werden. Aber im Ergebnis haben wir entschieden, heute zwölf Gewerke wieder in die Zulassungspflicht – Anlage A der Handwerksordnung – zurückzuführen. Es sind dies die Fliesen-, Platten- und Mosaikleger, die Betonstein- und Terrazzohersteller, die Estrichleger, die Behälter- und Apparatebauer, die Parkettleger, die Rollladen- und Sonnenschutztechniker, die Drechsler und Holzspielzeugmacher, die Böttcher, die Raumausstatter, die Glasveredler, die Orgel- und Harmoniumbauer und die Schilder- und Lichtreklamehersteller.
Die verfassungs- und europarechtlich rechtssichere Würdigung der Wiedereinführung der Meisterpflicht war unser Ziel. Wir erreichen das dadurch, dass wir auf die besondere Gefahrengeneigtheit einzelner Gewerke abstellen und bei drei Gewerken zusätzlich auch auf die Relevanz für den Schutz unseres Kulturerbes und den notwendigen Wissenstransfer.
Wir stärken auch die duale Berufsausbildung. Denn parallel dazu gibt es Verbesserungen beim Meister-BAföG; und wir fördern gleichzeitig die Fortbildung der künftigen Meisterinnen und Meister noch stärker.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, heute ergreifen wir eine Maßnahme, die vor allen Dingen die Betroffenen interessiert, aber auch auf unsere Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt große Auswirkungen hat. Deshalb legen wir Wert auf Rechtssicherheit. Manche hätten sich gewünscht, weitere Gewerke zum jetzigen Zeitpunkt wieder in die Meisterpflicht zu überführen. Wir haben uns dafür entschieden, es heute bei diesen zwölf zu belassen. Denn wir tragen Verantwortung für den Rechtsrahmen von über 500 000 Betrieben, die bisher schon in der Anlage A sind. Wir wollen die Anforderungen des Grundgesetzes und des europäischen Rechtes bewahren und respektieren. Aber ich kann Ihnen zusagen: Wir werden diese Novelle in fünf Jahren evaluieren. Wir werden die Einordnung der heute nicht zum Zuge gekommenen Gewerke einer nochmaligen Überprüfung unterziehen; und wir werden darauf Wert legen, dies im Konsens des gesamten Hauses zu tun.
({2})
Es gab einmal einen Slogan einer Imagekampagne des Handwerks, bezogen auf den Meisterbrief: „Das sicherste Wertpapier gibt es immer noch im Handwerk.“ Meine Damen und Herren, wenn ich daran denke, dass wir vor zehn, fünfzehn Jahren heftige Diskussionen darüber führten, ob der Meisterbrief überhaupt noch eine Zukunft hat, dann will ich sagen: Die heutige Debatte markiert nicht nur einen Punkt, an dem wir für zwölf Gewerke wieder die Meisterpflicht einführen, sondern an dem auch klar wird, dass der Meisterbrief und die duale Ausbildung die überwältigende Unterstützung des Deutschen Bundestages haben. Das ist eine gute Nachricht für alle Betroffenen.
({3})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben in Deutschland mit die geringste Jugendarbeitslosigkeit in der gesamten Europäischen Union und weltweit. Das verdanken wir auch der Ausbildungsleistung im Handwerk. Die Ausbildungsleistung im Handwerk ist, gemessen an der Beschäftigtenzahl, doppelt so hoch wie in der Gesamtwirtschaft. Viele Handwerksunternehmen sehen es mit einem stolzen Blick, aber auch mit einem weinenden Auge, dass die jungen Menschen, die sie ausbilden, zum Teil von größeren Betrieben übernommen werden, die höhere Stundenlöhne zahlen können.
({4})
Diese Entwicklung ist Teil der Marktwirtschaft. Aber auch hier haben wir ein Interesse daran, dass das Handwerk seine Leistungsfähigkeit behält.
Deshalb werden wir auch darauf achten, dass die Umsetzung des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes, das zum 1. März des nächsten Jahres in Kraft tritt, so erfolgt, dass am Ende auch die Bedürfnisse des Handwerks berücksichtigt werden können. Ich kann nur appellieren: Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass dieses Gesetz so ausgeführt werden kann, dass die Visaverfahren, die Berufsanerkennungsverfahren, dass die öffentlichen Verfahren so ausgestaltet werden, dass ein Handwerker, der heute jemanden braucht, der ihn bei seiner Arbeit unterstützt, die positive Nachricht nicht erst kurz vor seinem Eintritt in den Ruhestand erhält. Wir müssen dafür sorgen, dass dieses Gesetz praxisnah funktioniert und angewendet werden kann.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Nachricht heute ist eine gute, nicht nur für die Handwerker selbst, sondern auch für den präventiven Verbraucherschutz. Das Gesetz wird dazu führen, dass Millionen von Menschen ihre Zufriedenheit mit den Dienstleistungen des Handwerks bewahren werden. Es wird dazu führen, dass die Zustimmung in der Bevölkerung insgesamt noch mehr wächst, als es heute schon der Fall ist. Ich freue mich darauf, wenn dieses Gesetz nach den Beratungen im Bundesrat Anfang kommenden Jahres in Kraft treten kann – und möchte mich bei allen bedanken, die dazu beigetragen haben, dass dies heute möglich ist.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat der Abgeordnete Tino Chrupalla für die AfD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Landsleute! Die Bundesregierung bekennt sich nun zum Meisterbrief. Wir von der AfD freuen uns, dass unsere Forderungen hier endlich auch mal umgesetzt werden.
({0})
Meine Freude ist allerdings gedämpft. Denn ich sehe in dem neuen Gesetzentwurf nur einen halbherzigen Versuch, den Schaden zu begrenzen, der bereits angerichtet wurde. Von 53 Gewerken wollen Sie nun 12 rückvermeistern. Bei der Anhörung im Bundeswirtschaftsministerium haben sich aber bis auf vier Ausnahmen alle Gewerke für die Wiedereinführung der Meisterpflicht ausgesprochen. Wir haben deshalb gestern im Ausschuss einen Entschließungsantrag eingebracht und die Rückvermeisterung für all jene Gewerke gefordert, die sich dafür ausgesprochen haben. Wir haben darin auch gefordert, der kulturpolitischen Bedeutung des Handwerks mehr Aufmerksamkeit zu schenken und sich mit Nachdruck auch für den Erhalt und das positive Image des traditionellen Handwerks einzusetzen nach dem Vorbild des österreichischen Bundeskanzleramtes. Wenn es Fördermittel für das digitale Handwerk gibt, dann sollte es doch bitte auch Fördermittel für die traditionellen Handwerksberufe geben.
({1})
Und jetzt tun alle so, als wären sie schon immer für den Meisterbrief gewesen. Das stimmt eben nicht. Da lese ich zum Beispiel am 27. April 2019 in der „WirtschaftsWoche“: „Breite FDP-Allianz gegen Rückkehr zur Meisterpflicht“.
({2})
Zu dieser Allianz gehören – man höre – der Außenpolitiker Alexander Graf Lambsdorff und der Klimaexperte Lukas Köhler, also beide „Handwerksexperten“, und auch Herr Schäffler. Zitat: „Wir dürfen alte Zöpfe nicht wieder einführen, sondern sollten sie endlich abschneiden.“
({3})
Genau das, Herr Todtenhausen – das habe ich auch gestern im Ausschuss erlebt –, ist die FDP – bei diesem Thema exemplarisch, wie immer. Zu wirtschaftspolitischen Themen: überall Rumgeeier, ein Ja-nicht-Festlegen, keine klare Haltung, nichts, weder Fisch noch Fleisch.
({4})
Den Mittelstand und das Handwerk repräsentieren Sie schon lange nicht mehr.
({5})
Auch die Union hat viele Jahre die Wiedereinführung mit Scheinargumenten hinausgezögert. Wir haben heute wieder einige vom Wirtschaftsminister gehört. Der Meisterbrief kollidiere mit EU-Recht, war immer wieder auch hier zu hören. Dann stellt sich nach vielen Jahren des Hinhaltens heraus, dass es überhaupt keinen Widerspruch gibt. Von der SPD wurde unser Antrag vor Kurzem noch hier als blanker Populismus verhöhnt.
({6})
– Natürlich. – Von der FDP war auch zu hören, wir würden dem Handwerk mit unserem Antrag mehr schaden als nutzen.
({7})
Und jetzt, Herr Todtenhausen, sind sich plötzlich alle einig, dass die Wiedereinführung der Meisterpflicht eine gute Sache ist. Aber Sie und vor allem Herr Altmaier müssen uns noch erklären, warum Sie so halbherzig zur Sache gegangen sind. Zum Beispiel soll der Orgel- und Harmoniumbauer aus Gründen der Gefahrengeneigtheit rückvermeistert werden. Das haben wir auch gestern im Ausschuss gehört. Dazu hatte ich eine Frage an Ihren Parlamentarischen Staatssekretär Herrn Hirte, warum denn der Klavier- und Cembalobauer und der Geigenbauer nicht rückvermeistert werden. Seine Antwort, kein Witz: weil eine Orgel schließlich auch mal brennen könne.
({8})
Das war die Antwort Ihres Parlamentarischen Staatssekretärs. Wenn Sie von dieser Logik ausgehen, müssten Sie auch die Bestatter vermeistern; denn auch Särge brennen sehr gut.
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Es fehlt, wie gesagt, noch eine ganze Reihe von Gewerken, die unter Kulturgutschutz fallen, wie zum Beispiel der Damen- und Herrenschneider, der Schuster oder auch der Brauer und Mälzer. Ich sage dazu nur: deutsches Bier. Hier wird nicht rückvermeistert, abgesehen davon, dass es hier auch überall mal brennen kann und deswegen auch hier eine Rückvermeisterung angebracht wäre.
Im Übrigen fordert auch der DGB – das ist ja mal ein heller Moment des DGB – eine Rückvermeisterung aller Gewerke. Alles andere sei – Zitat – ein „Flickenteppich“. Das sehen wir von der AfD ganz genauso. Wir gehen davon aus, dass auf diese erste Novelle weitere Novellen zum Schutz des Handwerks folgen werden. Wir als AfD werden gerade das immer wieder fordern, weil der Meisterbrief eben Bestandteil einer guten alten deutschen Tradition ist, die man eben nicht wie einen alten Zopf abschneiden sollte.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Sabine Poschmann für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute sagen wir Ja zum Meister. Denn zwölf Gewerke nehmen wir wieder in die Meisterpflicht zurück. Damit – das sage ich auch in Richtung der AfD – setzen wir einen weiteren Punkt aus unserem Koalitionsvertrag um. Dieses Vorhaben ist also nicht eine Idee der AfD gewesen. Aber Geschichte war noch nie so ganz Ihr Ding.
({0})
Dabei haben wir es uns nicht einfach gemacht. Denn wie fast immer gibt es Befürworter wie den ZDH und auch den DGB. Aber es gibt auch Kritiker wie die Monopolkommission. Zudem sollte das Ganze von Gerichten und von der EU im Nachhinein nicht wieder einkassiert werden. Deshalb konnten wir nicht so einfach, wie manche Vorschläge lauteten, das Rad wieder zurückdrehen, sondern mussten es zukunftssicher gestalten, und ich denke, das haben wir auch geschafft.
Dafür haben wir eine Koalitionsarbeitsgruppe gegründet. Wir haben zwei Gutachten in Auftrag gegeben. Wir haben Kriterien erarbeitet und allen Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben, und zwar in Anhörungen der Verbände und Gewerkschaften und aller Gewerke sowohl in schriftlicher als auch in mündlicher Form. Mehr Kommunikation und Miteinander geht an dieser Stelle nicht.
Es war auch richtig, dass wir uns auf die Rückvermeisterung konzentrieren. Es war nicht unser Ziel, die gesamte HwO zu novellieren, sondern Einigkeit über den Weg und über die Gewerke zu erzielen. Diese Aufmerksamkeit und teilweise auch Fleißarbeit – hier noch einmal herzlichen Dank an das Ministerium – hat jedes einzelne Gewerk im Handwerk auch verdient.
Ich unterstelle der Opposition gute Absicht mit ihren Anträgen.
({1})
Aber ich denke, wir sollten jetzt nicht auf die Schnelle alle möglichen Themen in die Novelle reinquetschen. Es sind Vorschläge aus dem Bildungsbereich, also aus einem ganz anderen Bereich, und auch aus den Bereichen Bürokratieabbau und Soziales. Der eine oder andere Vorschlag ist diskussionswürdig, aber ich denke, wir sollten das heute nicht übers Knie brechen. Das ist nämlich so, als wenn man kurz vor Ladenschluss mit seinen Klamotten an der Kasse steht und einem dann einfällt: Ach, ich könnte noch ein gelbes, grünes und rotes T-Shirt nehmen. – Man sollte aber erst überlegen, ob das auch zum Vorhandenen passt. Und das tun wir.
({2})
Einiges von dem, was hier beantragt wurde, ist durch Koalitionsvorschläge und ‑beschlüsse schon obsolet geworden, Beispiel: Mindestausbildungsvergütung. Deshalb stimmen wir heute – das wird Sie nicht wundern – den Änderungen der Opposition nicht zu. Wir wollen nämlich kein Aufschieben. Wir wollen keine weiteren Gutachten. Wir wollen heute die Rückkehr zur Meisterpflicht beschließen.
({3})
Dennoch, denke ich, wird eine weitere Novelle folgen. Denn auch unsere Gespräche haben weitere Themenstellungen sichtbar gemacht, die wir durchaus noch prüfen müssen. Ein Beispiel ist der Wunsch des DGB, eventuell Veränderungen im Prüfungsausschuss vorzunehmen. Aber auch hier sind die Diskussionen noch nicht abgeschlossen.
Sie wissen: Die Herzensangelegenheit der SPD – aber auch meine ganz persönliche – ist und bleibt die Tarifbindung.
({4})
Es kann nicht sein, dass uns Fachkräfte fehlen – und deren Fehlen wird von Arbeitgebern auch immer wieder beklagt –, dass aber, wenn wir heute das Gesetz novellieren, um eine Besserung zu erreichen, die Tarifbindung im Handwerk bei 30 Prozent stagniert.
Es gibt durchaus positive Beispiele von Arbeitgebern, was die tarifliche Bindung angeht. Ich denke, die tarifliche Bindung sollte eher ein Gütesiegel für Betriebe sein. Die IG Metall hat für das Kfz-Gewerbe mit „Autohaus fair“ eine prima Kampagne gestartet, wo man faire Betriebe, die einen Tarifvertrag und Betriebsräte haben und eine gute Ausbildung anbieten, auflistet. Zu Weihnachten würde ich mir wünschen, dass diesem Beispiel noch viel mehr Betriebe folgen. Denn es stärkt nicht nur die Tarifbindung, es stärkt auch gleichzeitig das Handwerk.
({5})
Leider ist das nicht die Masse der Betriebe, und deshalb müssen wir gemeinsam im nächsten Jahr noch einiges tun. Ich freue mich, dass der Branchendialog jetzt im Handwerk fortgesetzt wird. Ich höre, im Sommer gibt es den nächsten Termin. Ich erwarte aber hier vom ZDH und von den Innungen, dass es mehr ist als eine Absichtserklärung; sonst werden wir als Gesetzgeber eingreifen.
Herzlichen Dank, und ich wünsche an dieser Stelle allen schon mal eine schöne Weihnachtszeit.
({6})
Das Wort hat der Kollege Manfred Todtenhausen für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich stünde heute nicht hier, wenn ich mich 1977 nicht dazu entschlossen hätte, den Meisterbrief zu machen. Er hat mein Leben völlig verändert. Das Handwerk hat auch heute noch eine starke Zukunft. Das erleben wir jeden Tag immer wieder aufs Neue. In Zeiten, in denen Industrie und Exporte lahmen, sehen wir im Handwerk weiterhin blühenden Aufschwung.
({0})
Das gibt uns Gelegenheit, über Veränderungen nachzudenken. Gerade im Bau- und Ausbauhandwerk sind die Auftragsbücher voll. Das wird auch in den kommenden Jahren hoffentlich so bleiben. Bei Berlin habe ich Bedenken: Durch den Mietendeckel wird da einiges passieren. Aber insgesamt glaube ich, dass dort viel Positives sein wird.
Wir werden weiterhin gut Arbeit haben im Wohnungsbau. Auch bei Innovationen im Bereich Energie und Klima, beim Einsatz moderner Smart-Technologie und bei der Digitalisierung ist das Handwerk gefordert. Zu tun gibt es also genug.
({1})
Um diese Aufgaben erledigen zu können, brauchen wir motivierte Unternehmen. Wir brauchen Selbstständige und Führungskräfte, die in der Lage sind, Betriebe nachhaltig zu leiten und innovative Technologien und Klimaschutz vor Ort beim Kunden zu verbinden. Es sind unsere Handwerksmeisterinnen und Handwerksmeister, die diese Verantwortung übernehmen. Sie stehen für ein gesundes Handwerk. Sie sind das Herz unseres Mittelstands und der Pfeiler unserer sozialen Marktwirtschaft.
({2})
Deswegen, meine Damen und Herren, tragen wir die Erweiterung der Meisterpflicht dort mit, wo der Gefahren- und der Verbraucherschutz es europa- und verfassungsrechtlich möglich machen. Viele haben daran mitgearbeitet. Auch diesmal haben wir Profis angehört und Gutachten zur Kenntnis genommen und sind davon überzeugt, dass hier Handlungsbedarf besteht.
Der Normenkontrollrat hat ebenso wie der Bundesrat keine Einwände gegen den vorliegenden Gesetzentwurf. Der Bestandsschutz für bestehende Betriebe ist gesichert.
({3})
Die Evaluierung soll nach fünf Jahren stattfinden. Dann wird sich herausstellen, ob die Wiedereinführung der Meisterpflicht für die einzelnen Gewerke richtig ist.
Beim Kulturgüterschutz tun wir uns allerdings sehr schwer.
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Uns erscheinen die Abgrenzungen und die Begründungen schwierig, warum ein Gewerk darunterfällt und ein anderes nicht. Wir können den Verbraucherschutz beim Orgelbauer noch nachvollziehen; denn hier sind anspruchsvolle Statiken erforderlich. Auch die Elektrik bedarf besonderer Kenntnisse. Beim Böttcher, Drechsler und anderen sind wir nicht so davon überzeugt. Da hätte man vielleicht auch andere nehmen müssen. Dennoch sagen wir: Daran lassen wir es nicht scheitern.
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Herr Chrupalla, natürlich darf man in einer liberalen Partei auch anderer Meinung sein. Bei uns wird lebhaft diskutiert, und da gibt es auch welche, die sagen, man könnte den Meister auch nicht wieder einführen; das ist ohne Weiteres möglich. Aber zu Ihrem Gesetzentwurf nur so viel: Sie wollen die Meisterpflicht einfach eins zu eins in allen B1-Gewerken wieder einführen. Wir halten das für falsche Folklore, weil Sie zwei Dinge außer Acht lassen:
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Die Welt entwickelt sich technologisch und auch strukturell weiter. Es gibt neue Prozesse und wirtschaftliche Rahmenbedingungen wie zum Beispiel den demografischen Wandel und veränderte Kundenansprüche.
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Sie geben vor, das Handwerk zu schützen. Dabei fällt es zurück, wenn es Ihrem Weg folgt. Mit Lösungen von gestern können Sie keine Probleme von morgen lösen.
({8})
Ihr Gesetzentwurf verteidigt einen alten Status quo, ohne Kriterien für eine verfassungs- und europarechtliche Prüfung heranzuziehen. Sie blenden aus, dass wir eine gerichtsfeste Entscheidung brauchen. So verstaubt wie Ihr Antrag ist das Handwerk von morgen zum Glück nicht. Unser Handwerk ist zukunftsorientiert und nicht rückwärtsgewandt.
({9})
Meine Damen und Herren, natürlich fehlt uns auch etwas im Entwurf von Union und SPD. Wir wollen den Nachfolgern eines zukünftigen Betriebes genügend Zeit geben, ihren Meister zu machen. Deshalb wollen wir die Nachweispflicht von 6 Monate auf 24 Monate erhöhen, damit diese den Meisterbrief berufsbegleitend, eventuell auch auf der Abendschule, nachholen können. Das sind wir den jungen Menschen schuldig.
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Ich finde es irritierend, wenn Sie diesen Vorschlag nicht aufgreifen.
Meine Damen und Herren, wir sollten die Gelegenheit nutzen und dies als Nächstes auf den Weg bringen. Ich freue mich, dass der Wirtschaftsminister da ist und dass die berufliche und akademische Bildung gleichgesetzt und damit interessanter wird. Das Handwerk ist immer noch Ausbilder der Nation. Es bringt Gesellinnen und Gesellen hervor, die auch in anderen Branchen sehr begehrt sind. Außerdem ist das Handwerk eine sichere Bank, wenn es um Integration geht.
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Wer im Handwerk bleibt, soll auch Aufstiegsmöglichkeiten bekommen. Nicht jeder Mensch ist für eine akademische Laufbahn geeignet, nicht jeder hat die gleiche Begabung. Der Meisterbrief ist ein Abschluss für den Aufstieg von Menschen, deren Begabung besonders in praktischer Arbeit liegt. Heute schaffen wir die Voraussetzungen dafür, dies zu würdigen.
Wir Freien Demokraten wollen aber mehr. Wir wollen, dass die Meisterausbildung genauso gebührenfrei ist wie ein Studium. Wir wollen, dass das Handwerk endlich von unnötiger Bürokratie entlastet wird. Die Bonpflicht für Bäcker und andere steht stellvertretend für Überwachung und übertriebene Regelungen. Unserem Antrag zur Befreiung von dieser Pflicht können Sie morgen zustimmen.
({12})
Das Bürokratieentlastungsgesetz IV, Herr Minister, muss jetzt auf den Weg gebracht werden. Das Bürokratieentlastungsgesetz III war nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Tun Sie etwas gegen zu viele Dokumentationspflichten. Vereinfachen Sie endlich das Steuerrecht. Machen Sie es den jungen Unternehmerinnen und Unternehmern, die den Schritt in die Selbstständigkeit wagen, nicht so schwer. Dann sind wir im und mit dem Handwerk auf dem richtigen Weg.
Vielen Dank.
({13})
Für die Fraktion Die Linke hat nun der Abgeordnete Thomas Lutze das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! 2004 hatte der Bundestag die Meisterpflicht in vielen Gewerken des Handwerks abgeschafft. Man wollte schneller, flexibler und besser sein. Es gab schon damals zahlreiche Warnungen, auch von meiner Partei. Aber das war eben der Zeitgeist, der damals herrschte. Aufgrund dieses Zeitgeistes wurde auch Hartz IV eingeführt, der Niedriglohnsektor ausgebaut und Leiharbeit von der Ausnahme zur Regel gemacht. Es ist gut, zu beobachten, dass sich der Wind langsam dreht.
({0})
Ja, Bedenken gab es bereits 2004: zum Beispiel bei der Sicherheit der Produkte und Leistungen, im Verbraucherschutz – hier ging es um die Interessen der Kundinnen und Kunden – sowie bei den Arbeitsbedingungen der Beschäftigen. All dies werde unter der Reform von 2004 leiden. – Wir und viele andere aus der Gesellschaft hatten recht – leider. Auch deshalb stimmt die Linksfraktion heute dieser halben Rolle rückwärts zu. Es ist ein kleiner Schritt, aber es ist ein Schritt in die richtige Richtung.
({1})
Warum passiert nicht mehr? Es wird immer erklärt, das Wirtschaftsministerium habe geprüft, welche der betroffenen Gewerke wieder umgestellt werden können und welche nicht. Ja, es gibt mit Sicherheit die eine oder andere europarechtliche Regelung, die heute anders ist als 2004. Das muss beachtet werden. Aber der Strich, der gemacht wurde, war für meine Begriffe viel zu kurz.
Es gibt nämlich auch Widersprüche. Dass jetzt Gerüstbauer nur dann Gerüste aufbauen können, wenn sie einen Meisterbrief haben, ist richtig. Gleichzeitig dürfen aber auch Reinigungskräfte bzw. Unternehmen der Reinigungsbranche Gerüste aufstellen, ohne dass sie einen Meisterbrief besitzen. Bei allem Respekt – ich traue das diesen Unternehmen und Beschäftigten durchaus zu –: Aber diese rechtliche Ungleichbehandlung ist nicht nachvollziehbar. Sorry, das können Sie auch nicht mit dem EU-Recht erklären. Das macht einfach keinen Sinn.
({2})
Zweiter Aspekt. In unserer Wirtschaft verzeichnen wir seit Jahren in vielen Bereichen einen erheblichen Fachkräftemangel – das ist gerade angesprochen worden –, auch im Handwerk. Die teilweise Wiedereinführung der Meisterpflicht kann hierfür nicht die alleinige Lösung sein. Sie ist aber im Bereich des Handwerks ein sehr wichtiger Baustein. Im Bereich der Fliesenleger zum Beispiel kam es zu einem sprunghaften Anstieg der Solo-Selbstständigkeit. Das war für viele Handwerker fürwahr kein Fortschritt. Häufig ging die soziale Absicherung dieser Freiberufler verloren. Als Gesetzgeber müssen wir bitte schön darauf achten, dass Derartiges vermieden wird.
({3})
Trotz guter Ansätze packt diese Reform bei Weitem nicht alle Probleme des Handwerks an. Die geringe Tarifbindung und die deswegen im Vergleich mit der Industrie oft niedrigeren Löhne machen das Handwerk für viele Beschäftige eher unattraktiv. Es gibt hierfür sicherlich keine einfachen Lösungen, aber es gibt dringenden Handlungsbedarf. Betriebliche Mitbestimmung und die Absicherung von tariflichen und fairen Löhnen ist ein Standortvorteil in unserer sozialen Marktwirtschaft. Flächendeckende Tarifbindung bedeutet auch, dass bei Ausschreibungen und öffentlichen Aufträgen der Wettbewerb zwischen den Unternehmen fair abläuft und kein Lohndrückerwettbewerb stattfindet.
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Dass der Bundestag unsere Vorschläge, unsere Anträge damit abtut, dass dieses Thema nicht zur Sache und damit nicht hierhergehört, ist sehr bedauerlich. Wir werden aber bei dem Thema dranbleiben.
Kollege Lutze.
Das verspreche ich Ihnen.
Glück auf!
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Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Claudia Müller das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die gemeinsamen Ziele sind uns klar: Stärkung des Handwerks, Aufwertung der beruflichen Aus- und Weiterbildung, Sicherung von Fachkräften. Hier herrscht Einigkeit. Ich gehe davon aus, dass wir uns auch darin einig sind, dass mit dieser Novellierung der Handwerksordnung und der Rückführung von zwölf Berufen in die Anlage A nicht die Antwort auf all diese Probleme gegeben wird. Aber diese Novellierung und die Rückführung sind gewünscht. Die Gefahrengeneigtheit bei den zwölf gewählten Berufen ist durchaus vorhanden, und die Rückführung ist daher in einigen Punkten durchaus sinnvoll.
Aber es bleiben weiterhin Hürden bestehen, und teilweise werden sogar neue aufgebaut. Der Zugang zur Meisterausbildung ist weiterhin nicht barrierefrei. Er ist weiterhin mit hohen Kosten verbunden: pro Prüfung und Prüfling im Durchschnitt 6 600 Euro, dazu der Zeitaufwand von durchschnittlich 1 445 Stunden; das entspricht 180 vollen Arbeitstagen. Zur Stärkung der Meisterausbildung wäre es daher sinnvoller gewesen, erst einmal die gebührenfreie Meisterausbildung – das umfasst die Meisterprüfung und Vorbereitung darauf – einzuführen. Denn das wäre eine echte Gleichbehandlung von Studium und beruflicher Aus- und Weiterbildung.
({0})
Das würde allen Gewerken, ob mit oder ohne Meisterpflicht, helfen. Denn Meisterinnen und Meister fehlen an allen Ecken und Enden.
Ich möchte zu den Punkten kommen, die ich tatsächlich ernsthaft an dieser Novelle kritisiere. Erst einmal grundsätzlich zur Methodik: Basierend auf freiwilligen Informationen von interessierten Verbänden, haben Sie die Entscheidung zur Wiedereinführung der Meisterpflicht getroffen. Das heißt, Gewerke aus der Anlage B1, die kein Interesse daran hatten, wurden erst gar nicht bewertet. Ich finde das vom Grundansatz her schwierig. Sie machen Politik nach dem Motto „Vorschriften nur für die, die Lust darauf haben, und für alle anderen nicht“. Das kann eigentlich nicht unser Ansatz sein. Wenn eine Prüfung erfolgt, dann muss sie für alle gleich erfolgen.
({1})
Ein weiterer Aspekt, der als Motivation für die Novellierung genannt wird, ist der Fachkräftemangel; auch Herr Altmaier hat das wieder genannt. Der Grund dafür ist ebenfalls benannt worden: die starke Abwanderung aus dem Handwerk hin in die Industrie und in andere Bereiche. Ja, einer der Hauptgründe ist weiterhin das niedrigere Lohnniveau. Um hier einen echten Schritt nach vorne zu gehen, brauchen wir die Stärkung der Tarifbindung im Handwerk.
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Das hat selbst Frau Dr. Merkel jüngst betont. Allgemeinverbindliche Tarifverträge können dazu beitragen, Dumpingpreise und unfairen Wettbewerb im Handwerk zu verhindern. Der Hinweis auf eine weitere Novelle ist schön, aber wir hätten diese Frage schon mit dieser Novelle angehen sollen und können. Wir haben hier mehrfach Änderungen vorgeschlagen.
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Es gibt einen weiteren Sachverhalt, den ich wirklich für problematisch halte – Herr Todtenhausen hat ihn schon angesprochen –: Wir haben Bestandsschutz für die Betriebe ohne Meister in den zwölf jetzt betroffenen Gewerken. Wenn diese aber jetzt eine Gesellschafterin hinzunehmen, erlischt dieser Bestandsschutz. Wir haben eine Übergangsfrist von sechs Monaten. Sechs Monate können in vielen Fällen zu wenig sein. Denn wenn ich jetzt ungeplanterweise einen Betrieb abgeben muss – das kann aus den verschiedensten Gründen der Fall sein –, finde ich am Markt aktuell nicht die Meisterin oder den Meister, die oder der diesen Betrieb übernehmen kann. Das heißt, ich habe hier ein echtes Risiko für möglicherweise gut gehende Betriebe, dass diese aus der Handwerksrolle gelöscht werden und möglicherweise Arbeitsplätze und Fachkräfte verloren gehen.
Deswegen haben wir hier eine deutlich längere Übergangsfrist von bis zu fünf Jahren gefordert. Sie werden fragen: Wieso so lange? Ja, es muss möglich sein, die Meisterausbildung in Teilzeit neben der Betriebsführung zu machen. Auch Mutterschutz und Elternzeit sollten als mögliche Faktoren eingerechnet werden. Denn wenn wir junge Menschen für das Handwerk gewinnen wollen, und ja, wenn wir Frauen für das Handwerk gewinnen wollen, dann müssen wir diese Aspekte bei allen Punkten mitdenken. Das wird hier nicht getan. Wir brauchen diese längere Übergangsfrist. Denn wir möchten wirklich allen die Möglichkeit geben, diese Ausbildung zu machen, um diese Qualifikation zu erreichen.
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Deswegen bitte ich Sie, unserem Änderungsantrag zu diesem Punkt zuzustimmen. Das schiebt die Novellierung ja nicht hinaus, sondern die Änderung würde die Novellierung in diesem Punkt verbessern. Es würde einen besseren Bestandsschutz für die Betriebe bedeuten, die am Markt sind; denn wir können es uns aktuell nicht leisten, gute Handwerksbetriebe zu verlieren.
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Noch ein Satz zu dem Punkt, den Sie Evaluation nennen. Evaluation ist gut und wichtig, aber eine einmalige Evaluation nach fünf Jahren ist uns zu wenig. Und nein, eine Beantwortung von Anfragen zählen wir nicht als Evaluation. Auch hier fordern wir ganz klar: früher und regelmäßig und in allen Gewerken. Das muss uns das Handwerk wert sein. Wir müssen dauerhaft darauf schauen und frühzeitig erkennen, wo wir nachsteuern müssen. Deswegen brauchen wir eine regelmäßige und eine frühzeitige Evaluation. Eine Zustimmung zu unserem Änderungsantrag würde keine Verschiebung der Novellierung nach sich ziehen.
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Zum Schluss will ich dann doch noch versöhnlich werden, es ist ja Vorweihnachtszeit. Es ist gut, dass wir uns hier im Bundestag so intensiv mit dem Handwerk auseinandersetzen, und es ist gut, dass diese Novellierung nicht den Schlusspunkt dieser Auseinandersetzung darstellt. Denn um das Handwerk zu stärken, müssen wir in die Zukunft blicken und dürfen nicht an einer scheinbar glorreichen Vergangenheit festhalten. Um den Fachkräftemangel wirklich anzugehen, brauchen wir Investitionen in Bildung und Weiterbildung, eine echte Gleichwertigkeit von akademischer und betrieblicher Ausbildung und attraktive Bedingungen für die heutigen und auch für die zukünftigen Beschäftigten.
Wir werden uns heute bei der Abstimmung über die Novelle enthalten; denn es gibt, wie gesagt, noch Punkte, an denen wir noch deutliche Kritik üben.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Jens Koeppen für die CDU/CSU-Fraktion.
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Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kurz vor Weihnachten legen wir dem deutschen Handwerk nun ein langersehntes Gesetzespaket unter den Weihnachtsbaum, nämlich unsere Novelle der Handwerksordnung. Diese stellt das Handwerk noch zukunftssicherer auf, als es ohnehin schon ist.
Meine Damen und Herren, im Ergebnis der drastischen Änderung der Handwerksordnung im Jahre 2003 wurden 53 Gewerke in die Anlage B1 genommen, es bestand für sie also keine Zulassungspflicht mehr. Es war für diese Gewerke nicht mehr notwendig, bei der Gründung eines Unternehmens oder bei der Ausbildung einen Meistertitel vorzuweisen. In der Folge gab es eine Vielzahl an Fehlentwicklungen, Probleme, die der damalige Gesetzgeber so möglicherweise nicht sehen konnte. Es entstanden mehr Betriebe, ja, aber in der Summe gab es weniger Beschäftigte. Weniger Meister hieß: weniger Qualität. Weniger Qualität hieß: schlechter Ruf, Gewährleistungsprobleme, Vertrauensverlust. Weniger Meisterbetriebe bedeutete aber auch: weniger Ausbildungsbetriebe, weniger Lehrlinge in den Betrieben. Es gab weniger Marktstabilität durch die vielen Insolvenzen und am Ende viele Solo-Selbstständige, die sich selbst ausgebeutet haben oder in die Schwarzarbeit abgewandert sind. Das alles sind die Probleme.
Mit dieser Novelle wollen wir diese Fehlentwicklungen gezielt beseitigen. Das machen wir mit Augenmaß. Diese Novelle wurde in enger Zusammenarbeit mit den Verbänden, mit den Innungen, mit den Handwerksorganisationen, mit Gegnern und Befürwortern der Meisterpflicht, mit dem Wirtschaftsministerium und hier im Plenum intensiv erörtert. Am Ende des Prozesses stelle ich fest – das gilt für die meisten in diesem Hause –, dass es ein gutes Gesetzespaket geworden ist, das sich sehen lassen kann, obwohl natürlich nicht alle Wünsche erfüllt werden konnten; ich komme gleich darauf zurück. Aber es ist ja nicht das letzte Weihnachten. Wir werden dranbleiben.
({0})
Meine Damen und Herren, es ging uns darum, das Ganze mit Augenmaß zu machen. Dabei mussten wir uns an ganz klaren Kriterien, an ganz klaren Maßstäben ausrichten: Erstens war das die Europarechtskonformität. Man muss wissen, dass es in Brüssel nicht nur Freunde des Meistertitels gibt. Deswegen war es ganz wichtig, die Europagesetzgebung voll im Blick zu haben. Zweitens musste unser eigenes Grundgesetz beachtet werden, hier Artikel 12, der Schutz der Berufsfreiheit. Wenn es darum geht, stehen die Leute sehr schnell vor den Toren von Karlsruhe und klagen. Deswegen kann man nicht einfach sagen, man wolle alles rückvermeistern, obwohl wir das möglicherweise sogar wollen. Das ist nicht ganz so einfach. Drittens gab es natürlich den Punkt der präventiven Gefahrenabwehr bei einigen Gewerken; wir haben darüber gesprochen. Darüber hinaus ging es um die Erhaltung des immateriellen Kulturerbes, darum, traditionelle Techniken, Fachwissen, altes Handwerk in die nächsten Generationen mitzugeben und abzusichern.
Ganz wichtig für das deutsche Handwerk, für unsere Wirtschaft sind insbesondere die Ausbildungsleistung und die Nachwuchsförderung. Die Stärkung unserer dualen Ausbildung, ein Erfolgsrezept des deutschen Handwerkes, wollen wir mit dieser Novelle weiterhin vorantreiben. Das ist für mich der allerwichtigste Punkt.
({1})
Meine Damen und Herren, liebe Freunde, mit dem Gesetzentwurf werden nun nach einem monatelangen Prozess zwölf zulassungsfreie Handwerksgewerke – man kann sagen: nur zwölf; ich sage: immerhin zwölf – wieder zulassungspflichtig, werden wieder in die Anlage A eingetragen. Darüber hinaus werden weitere Gewerke aus der Anlage B2 – das sind die handwerksähnlichen Betriebe – wieder in die Anlage B1 aufgenommen; das sind die Handwerksbetriebe ohne Zulassungspflicht. Aber auch die Politik muss verlässlich sein. Deswegen haben wir gesagt – das ist ganz wichtig; darauf haben Sie schon hingewiesen –, dass wir einen klaren Bestandsschutz verankern müssen: Diejenigen, die sich im Jahr 2005 aufgrund der alten Gesetzgebung selbstständig gemacht haben, müssen ihren Betrieb weiterführen können. Deswegen ist eine prinzipielle Rückvermeisterung auch gar nicht möglich.
In einigen Jahren werden wir uns das alles wieder anschauen. In dieser Zeit können sich die Gewerke neu aufstellen und können auch neu bewertet werden. Wir haben viele Briefe von den Bestattern, von den Gold- und Silberschmieden, von den Buchbindern, von den Kosmetikern usw. bekommen, die alle – das sage ich ganz ehrlich – natürlich auch das Recht haben, in die Handwerksrolle A eingetragen zu werden. Allerdings müssen sich diese Gewerke – erstens – in ihren Landesverbänden selber einig werden und müssen sich – zweitens – bei der nächsten Anhörung, dann, wenn es wieder so weit ist, besser aufstellen, was ihr Gewerk betrifft. Da gab es wohl Defizite. Ich hätte diese Gewerke gerne dort gesehen, wo sie hingehören, in der Anlage A, aber das hat erst einmal noch nicht so geklappt.
Meine Damen und Herren, unsere Gesetzesinitiative fördert den Wettbewerb. Es wird von manchen Medien immer wieder gesagt, wir wollten den Wettbewerb einschränken. Nein, wir wollen den Wettbewerb überhaupt nicht einschränken. Wir wollen Wettbewerb, aber den Wettbewerb der Besten. Wir wollen einen Wettbewerb der Qualität, einen Wettbewerb der Zuverlässigkeit, einen Wettbewerb der Könner. Genau dafür steht der Meistertitel. Um den Meistertitel und um die duale Ausbildung beneiden uns in Europa ganz viele Länder, obwohl sie es natürlich nicht gerne zugeben.
Wenn es um die Zukunftsfragen unseres Landes geht, dann führt kein Weg am Handwerk vorbei. Ob das Nachhaltigkeit ist, Ressourceneffizienz, Smart Home, alternative Antriebe, Digitalisierung, künstliche Intelligenz, all das erfordert Menschen, die ihr Handwerk verstehen. Deshalb ist es richtig, dass das deutsche Handwerk selbst von sich sagt: Zukunft kommt von Können.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat der Abgeordnete Frank Pasemann für die AfD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach dem Zweiten Weltkrieg lag Deutschland wirtschaftlich, militärisch und moralisch am Boden. In den Folgejahren entwickelte sich allerdings durch die Wirtschaftspolitik Ludwig Erhards unter dem Schlagwort „Wirtschaftswunder“ eine florierende soziale Marktwirtschaft, die sich vor allem auf eines stützte: auf das Handwerk. Dieses baute die daniederliegende deutsche Wirtschaft in fast allen Bereichen wieder auf, und schon bald spielte Deutschland mit seiner Wirtschaftskraft wieder im Konzert der Großen mit. Die deutsche Politik und Wirtschaft galten wieder etwas in der Welt, die Deutsche Mark wurde zum Inbegriff einer starken europäischen Wirtschaftspolitik. Das deutsche Handwerk hatte goldenen Boden und bildete das Rückgrat des Mittelstandes. Ein deutscher Meisterbrief in einem Handwerksberuf wurde weltweit als Empfehlung und Gütesiegel für handwerkliche Meisterleistungen angesehen.
({0})
Der deutsche Handwerksmeister muss insofern als Kulturgut gelten.
({1})
Doch wie steht es heute um das einst viel gerühmte deutsche Handwerk? Dem Handwerk fehlt es an dringend benötigtem Nachwuchs. Mit der zunehmenden Internationalisierung der Ausbildung durch den sogenannten Bologna-Prozess ging eine Angleichung der akademischen Standards einher, oft nicht ohne Qualitätsverluste. Wir verloren in diesem Zug ein weiteres Kulturgut: den deutschen Ingenieur.
Immer mehr junge Menschen machen Abitur und einen Universitätsabschluss. Wir erleben derzeit eine wahre Akademikerschwemme, besonders in den sogenannten Geisteswissenschaften.
({2})
Die derzeitigen Bildungspolitiker landauf, landab sehen darin einen Erfolg. Doch wohin mit all diesen Geisteswissenschaftlern? In der Wirtschaft kann man zum großen Teil nichts mit ihnen anfangen.
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Aus dieser Politik erwächst dem Handwerk eine gefährliche Konkurrenz.
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Viele junge Menschen, die eigentlich nicht für eine akademische Laufbahn geeignet sind,
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werden in die akademische Ausbildung getrieben. Dies alles kann nicht im Interesse der deutschen Berufsbildung sein. Stärkeres Ziel unserer Berufsförderungspolitik muss der Anreiz zu einer selbstständigen Tätigkeit in einem Meisterberuf sein. Die Bundesregierung muss es endlich schaffen, mit ihrer Politik die Begeisterung für den handwerklichen Beruf in unserer Jugend wiederzuerwecken.
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Der Meistertitel als Qualitätsgarant muss als solcher gesichert werden, und das Handwerk muss auch in Deutschland wieder den anfangs erwähnten goldenen Boden bekommen.
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Ziel unserer Politik muss es sein, dem Mittelstand, insbesondere dem deutschen Handwerk, den ihm gebührenden Platz in unserer Gesellschaft zuzuweisen. Sie sind und bleiben das Rückgrat unserer Wirtschaft. Hierbei kann eine weiter reichende Wiederherstellung der Meisterpflicht nur dienlich sein.
Danke.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Gabriele Katzmarek für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nachdem ich vor ungefähr drei Wochen bei mir zu Hause einen Handwerker angerufen hatte, kam er auch recht prompt, und wir unterhielten uns darüber, was er denn bei uns machen könnte. Er sagte mir zu, dass er uns ein Angebot schickt. Wenn wir dieses Angebot annähmen, dann würde er es schaffen, so im März/April die Arbeit zu erledigen. – So wie es mir ging, geht es wahrscheinlich recht vielen in Deutschland, dass man anruft, wenn man einen Handwerker braucht, und der Handwerker sagt: Oh, das wird aber noch eine Weile dauern, bis ich zu Ihnen kommen kann.
Was das mit der Wiedereinführung der Meisterpflicht und der Debatte, die wir heute führen, zu tun hat, mag sich auf den ersten Blick nicht erschließen, auf den zweiten sehr wohl. Sicherlich führt die Wiedereinführung der Meisterpflicht – das wurde heute schon gesagt – zu einer Erhöhung der Qualität in gewissen Gewerken, die dringend notwendig ist. Es geht darum, dass nicht Unqualifizierte Arbeiten ausüben, dass sie nicht Beschäftigte missbrauchen, für einen Appel und ein Ei in unseren Häusern, in unseren Wohnungen zu arbeiten. Es geht aber auch darum, Fachkräfte für das so wichtige Handwerk zu gewinnen. Es geht darum, die Attraktivität des Handwerks zu steigern, und es geht darum, Qualifizierungswege für die jungen Menschen, die sich für einen Handwerksberuf entscheiden, zu verbessern.
({0})
Auch dieser Handwerker, von dem ich am Anfang geredet habe, ist ein Handwerker, der ausbildet. Mein Beispiel sollte keine Handwerkerschelte sein. Wir erleben aber, dass sich immer weniger Jugendliche für eine Ausbildung im Handwerk entscheiden, 20 000 Ausbildungsplätze unbesetzt bleiben, und das bedeutet: Wir müssen dort handeln.
Jetzt ist es der erste Schritt – sicherlich ist es nur der erste Schritt –, eine Meisterpflicht für gewisse Gewerke wiedereinzuführen; aber dies reicht bei Weitem nicht aus. Wenn das Lohnniveau der Handwerker immer noch 20 Prozent unter dem der anderen Beschäftigten liegt, wenn Handwerker in Metropolregionen im Durchschnitt 1 800 bis – dann schon Gutverdienende – 2 900 Euro brutto verdienen, gibt es dort Nachholbedarf. Auch das gehört dazu, wenn wir das Handwerk attraktiver machen wollen, meine Damen und Herren.
({1})
Herr Chrupalla, ich war gerade schwer entsetzt über Ihre Aussage, als Sie sagten, das sei mal ein heller Moment des DGB gewesen, als er sich auch für die Rückvermeisterung ausgesprochen habe. Vielleicht war ich doch nicht entsetzt, weil Sie sich bereits gestern im Wirtschaftsausschuss negativ über Tarifverträge und Tarifbindung geäußert und gesagt haben: Das ist ja alles so ein linkes Zeugs, womit Sie wieder ankommen. – Aber das spricht für Ihre Fraktion Bände.
({2})
Während die anderen Fraktionen darüber reden, wie wir die Arbeitsverhältnisse in den Berufen in Deutschland besser machen können, wie wir dazu beitragen können, dass die Menschen gerecht bezahlt werden, reden Sie darüber, dass das linkes Zeug ist und dass der DGB ja mal einen hellen Moment hatte.
({3})
Das finde ich sehr bedauerlich.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, sehr geehrter Herr Altmaier, lassen Sie uns den weiteren Schritt gehen: die Aufnahme des Dialogprozesses, wie es der DGB und die Verbände fordern, -
Frau Kollegin.
– um weiterhin dafür Sorge tragen zu können, dass das Handwerk wieder zu dem wird, was es in der Vergangenheit war: ein guter Ausbildungsbetrieb mit guten Fachkräften.
Kollegin Katzmarek.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat Dr. Diether Dehm für die Fraktion Die Linke.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Gestatten Sie mir eine Vorbemerkung. In der Geschichte sind die Linken nicht immer klug und nicht immer gut mit den Kleinunternehmern umgegangen.
({0})
Aber diese Lektion haben wir gelernt. Übrigens: Auch Friedrich Engels und August Bebel waren tüchtige private Unternehmer.
({1})
Als Unternehmer höre ich mich in Verbänden und Kammern gelegentlich um, und da besteht der Verdacht gegenüber FDP und CDU, dass zwar schöne Sonntagsreden für den Mittelstand gehalten, aber oft nur die Konzerne gepampert werden,
({2})
während ökologische Bäuerinnen und Bauern aufstecken müssen, Gastwirte unter bürokratischen Schikanen schließen müssen, auch weil sie in der Familie keinen Nachfolger mehr finden, Handwerker am Wochenende bis tief in die Nacht an Papieren und Steuererklärungen sitzen – übrigens für Mehrwertsteuer, die sie noch gar nicht bekommen haben.
Aber das Handwerk verlagert keine Arbeitsplätze und keine Steuersparmodelle ins Ausland, und das Handwerk ist nicht an Cum-Ex-Geschäften beteiligt, übrigens auch nicht an Kriegen. Wenn nun die GroKo einmal auf das Handwerk zugeht und eine bewährte Tradition wieder aufleben lässt, den Meisterbrief, dann stimmen wir aus ebendiesen Gründen zu.
({3})
Der Meisterbrief ist ein Schutzbrief für Kunden. Die Meisterpflicht ist ein Schutzbrief gegen Pfusch am Bau, für Fachkräfte im Handwerk, für qualifizierte Auszubildende durch qualifizierte Meister.
({4})
Darum ist die Meisterausbildung übrigens völlig kostenfrei zu halten so wie jedes Studium. Das will Die Linke.
({5})
Selbstständige müssen im Übrigen gegen Altersarmut im Rentenalter und Krankheit gesetzlich genauso versichert werden wie andere. Auch das will Die Linke.
({6})
Private Unternehmen sind nämlich die natürlichen Partner für Frieden – gegen Russland-Sanktionen übrigens auch –, für soziale Gerechtigkeit, für Klimaschutz, gegen Rassismus und für Integration; das wurde vorhin schon ausgeführt.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eines müssen wir auch sagen: 75 Prozent der Aufträge für kleine und mittlere Unternehmen kommen aus öffentlichen Kassen. Das sind weit über 400 Milliarden Euro. Deswegen will Die Linke mehr davon und weniger für Rüstungsaktionäre. Das ist immer die Frage, die von Linken anzusprechen ist.
({8})
Lassen Sie mich zum Abschluss kommen. Wir brauchen ein neues Kapitel für die Lösung unserer Zukunftsprobleme zwischen den Gewerkschaften, den Mittelschichten und natürlich auch dem Staat. Auch dafür machen wir Druck von links.
Ich danke Ihnen.
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Das Wort hat der Kollege Karl Holmeier für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, wir sind uns heute ziemlich einig: Die Wiedereinführung der Meisterpflicht für zwölf Berufe ist gut und notwendig. Lediglich die Wünsche bei der Umsetzung unterscheiden sich. Entscheidend ist doch aber: Wir setzen die Reform der Handwerksordnung jetzt um. Wir stärken damit das Handwerk und die Verbraucher, und wir stärken damit den Mittelstand. Der Meisterbrief im deutschen Handwerk ist die beste Garantie für Qualitätsarbeit.
({0})
Für den Kunden bedeutet der Meisterbrief Verlässlichkeit und Sicherheit, für den Handwerkermeister ist der Meisterbrief ein Nachweis und eine Auszeichnung für höchste Handwerkskunst und Handwerksfähigkeit. Zu Recht genießen Meister in Deutschland hohe Wertschätzung und Anerkennung. Darauf können wir alle stolz sein.
Die Reform der Handwerksordnung ist Teil unserer Politik für einen starken Mittelstand. Besonders im ländlichen Raum ist das Handwerk Rückgrat und Motor der mittelständischen Wirtschaft und einer der größten Arbeitgeber und vor allem Ausbilder. Die zahlreichen kleinen und mittleren Handwerksbetriebe bieten vielen Jugendlichen gerade im ländlichen Raum einen attraktiven Ausbildungsplatz und damit eine Perspektive vor Ort. Das deutsche Handwerk, meine Damen und Herren, hat damit einen großen Anteil daran, dass Deutschland die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit in ganz Europa hat.
({1})
Mit der Wiedereinführung der Meisterpflicht sichern wir hohe Ausbildungsstandards für den Nachwuchs. Wir schaffen die Grundlage einer fachgerechten, hochwertigen Lehre. Damit treten wir dem Trend rückläufiger Ausbildungszahlen im Bereich der Handwerke der Anlage B entgegen. Wir stärken mit dem heutigen Beschluss die Ausbildung im Handwerk.
Natürlich stellt sich die Frage, warum wir nur für zwölf Gewerke den Meister zurückbringen. Diese Entscheidung ist das Ergebnis eines langen Arbeitsprozesses. In der Koalitionsarbeitsgruppe haben wir uns auf drei Kriterien für die Auswahl der Gewerke geeinigt – sie wurden schon angesprochen –:
Erstens. Es muss sich um ein gefahrgeneigtes Handwerk handeln. Das heißt, dass Fehler bei der Ausübung zu schwerwiegenden Konsequenzen für Leben und Gesundheit führen können.
Zweitens. Wir haben Handwerke berücksichtigt, die Träger unseres kulturellen Erbes sind, Gewerke, deren Techniken einzigartig sind und die bedeutende Kulturgüter schaffen. Die Weitergabe von Wissen und Können muss hier einem besonderen Anspruch gerecht werden.
Drittens. Es gilt, die Vorgaben des Verfassungs- und des Europarechts einzuhalten. Besonders schwer wiegt der Eingriff ins Grundgesetz. Auch hier galt es, genau abzuwägen.
Anhand dieser drei Kriterien – Gefahrgeneigtheit, kulturelles Erbe und Rechtskonformität – haben wir die Entscheidung für die Wiedereinführung der Meisterpflicht in zwölf Gewerken getroffen. Wichtig ist: Für bestehende Betriebe, die ohne Meisterbrief gegründet wurden, haben wir uns auf die Einführung eines Bestandsschutzes geeinigt. Damit sorgen wir für Rechtssicherheit. Das ist gerade für diese Unternehmen von besonderer Bedeutung.
Die Arbeit der Koalitionsarbeitsgruppe wurde dabei tatkräftig vom Wirtschaftsministerium unterstützt. Dafür einen herzlichen Dank an Sie und an Ihr Haus, sehr geehrter Herr Minister Altmaier! Ich danke auch den beteiligten Handwerksverbänden, den Innungen und den Gewerkschaften. In Stellungnahmen und Anhörungen haben sie ihre Standpunkte verdeutlicht und sich rege in den Prozess eingebracht. Den Gewerken, die jetzt nicht berücksichtigt werden konnten, sage ich: In fünf Jahren evaluieren wir das Gesetz. In fünf Jahren wird wieder geprüft, ob die Meisterpflicht für weitere Gewerke eingeführt wird.
Abschließend danke ich noch den Kolleginnen und Kollegen der Arbeitsgruppe für die gute und konstruktive Zusammenarbeit. Auf das vorliegende Ergebnis, meine Damen und Herren, können wir stolz sein. Daher mein Appell: Stimmen Sie heute unserem Gesetz zu! Lassen Sie uns heute das Handwerk stärken! Lassen Sie uns heute den Mittelstand stärken!
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat der Kollege Andreas Rimkus für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich freue mich über die Gelegenheit, heute zum Handwerk sprechen zu dürfen; es ist mir auch ein persönliches Anliegen. Wie Sie vielleicht wissen, sind gerade einmal sieben von uns Kolleginnen und Kollegen Abgeordneten Handwerksmeister,
({0})
also etwas weniger als 1 Prozent unserer „Belegschaft“. Ich bin sehr stolz, mich dazuzählen zu dürfen.
({1})
Ich habe 1988 meinen Meister im Elektrohandwerk gemacht und war vor meinem Mandat viele Jahre lang in meiner Heimatstadt Düsseldorf unterwegs, wo ich Stromnetze gebaut und gewartet habe. Neben der handwerklichen Tätigkeit selbst war ich aber auch Betriebsrat bei den Düsseldorfer Stadtwerken.
({2})
Sie können mir glauben, dass ich als Handwerksmeister einerseits und Gewerkschafter andererseits eine ziemlich gute Vorstellung davon habe, welche Bedeutung das Handwerk hat, wie außerordentlich wichtig die Arbeit der Handwerkerinnen und Handwerker für unsere Gesellschaft ist und welche besondere Rolle einerseits die Qualität, andererseits aber auch die Anerkennung dieser Arbeit spielen.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das können wir an den ganz großen Zahlen zu den Gewerken festmachen: 1 Million Betriebe und 5 Millionen Jobs entfallen hierzulande auf das Handwerk. Es trägt zudem zu mehr als einem Viertel aller Auszubildenden bei. Ich finde, das ist ein gewaltiger Beitrag. Um sich die existenzielle Bedeutung dieser Arbeit vor Augen zu halten, ist es gar nicht nötig, in die Ferne zu schweifen und auf diese großen Zahlen zu schauen, sondern genügt es möglicherweise schon, an das eigene Badezimmer, die eigene Küche, die Fenster, den Fußboden oder die Heizung zu Hause zu denken, also an all die Dinge, für die Sie Handwerkerinnen und Handwerker benötigen. Da geht es ganz schnell um die Sicherheit von Leib und Leben – als Elektriker darf ich Ihnen sagen: das ist wahr –,
({4})
aber auch um nennenswerte materielle und immaterielle Werte.
({5})
– Danke schön, das freut mich sehr. Ich bin ja auf Ihrer Seite; denn ich finde auch, dass wir gerade im Handwerk etwas bei den Löhnen und Tarifen tun müssen. Das ist unwahrscheinlich wichtig,
({6})
und ich weiß, dass wir da gleich ticken.
Gefahrgeneigte Handwerke sind das eine, aber auch solche von außerordentlicher kultureller Bedeutung sind wichtig. Deswegen haben wir uns entschieden, zwölf ganz zentrale Gewerke in die Zulassungspflicht zurückzuholen.
Früher haben wir gesagt: „Handwerk hat goldenen Boden.“ Das gilt heute leider nicht mehr überall. Vor allem vor dem Hintergrund der existenziellen Bedeutung des Handwerks einerseits, aber auch vor dem Hintergrund zum Teil prekärer Beschäftigung im Handwerk sowie des allgegenwärtigen Fachkräftemangels andererseits ist es in der Tat von entscheidender Wichtigkeit, dass wir hier gegensteuern. Einige meinen übrigens, im Sinne einer kapitalismuskompatiblen Altersvorsorge habe Deutschland zu wenige Anlegerinnen und Anleger. Nein, das ist nicht wahr: Wir haben zu wenig Fliesenlegerinnen und Fliesenleger. Das ist der entscheidende Punkt.
({7})
Ich bin froh, dass wir heute den Schritt für eine Investition in die Zukunft gehen: Handwerk soll wieder goldenen Boden haben.
Ein Hinweis noch. Es ist ein bisschen billig, alles auf die letzte Novelle der Handwerksordnung aus dem Jahr 2004 zu schieben. Die Zeit damals war anders; es herrschte Massenarbeitslosigkeit. Wir mussten etwas tun. Die Rahmenbedingungen waren damals andere als heute – Gott sei Dank –, und deswegen ist es klug, wieder zur Meisterpflicht zurückzukehren. Wo Handwerk ist, wird ausgebildet, wo Handwerk ist, ist Zukunft. Ich finde, dieser Anforderung werden wir gerecht, und damit werden wir auch den Betrieben gerecht.
({8})
Ich bin sicher, dass wir nicht nur heute ein gutes Gesetz verabschieden, sondern auch mit der Novelle des Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetzes – was für ein Ungetüm –,
({9})
das wir morgen behandeln, dafür kämpfen werden, dass das BAföG besser wird.
Bevor mir jetzt das Wort entzogen wird und ich leidenschaftlich werde, darf ich mich fürs Zuhören bedanken. Das Handwerk hat Zukunft, weil wir klug handeln.
Schönen Dank.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Ein Gespenst geht um in Deutschland.
({0})
Es ist das Gespenst des Bundesverbandes der Deutschen Industrie. Gemeinsam mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund und der Linken kritisieren die Unternehmer nationale Heiligtümer: die Schuldenbremse und die schwarze Null. Die Schuldenbremse untersagt – vereinfacht – Bund und ab 1. Januar auch den Ländern, Investitionen auch über Kredite zu finanzieren.
({1})
Ausnahmen von der Schuldenbremse sind bei Naturkatastrophen oder Wirtschaftskrisen vorgesehen. Dann ist es aber zu spät, weil Investitionen Zeit brauchen, um die Wirtschaft zu stützen.
({2})
BDI und DGB fordern ein Investitionsprogramm in Höhe von 457 Milliarden Euro über zehn Jahre, um Deutschland fit für die Zukunft zu machen. Dies würde auch Anreize für private Investitionen schaffen und Tausende Jobs sichern. Es würde der Bauwirtschaft signalisieren, mehr Kapazitäten zu schaffen. Und natürlich brauchen wir auch mehr Personal in den Planungsämtern. BDI und Die Linke streiten Seit an Seit für vernünftige Wirtschaftspolitik – was für verrückte Zeiten!
({3})
Professor Hüther vom Institut der deutschen Wirtschaft und Professor Südekum – er berät auch die CDU – sagen, die Weigerung der Bundesregierung, bei negativen Zinsen mehr zu investieren, sei – ich zitiere –, „als ob der Staat Geldscheine auf dem Bürgersteig liegen lässt“. Den Abbau der Staatsverschuldung verdanken wir übrigens nicht der Schuldenbremse, sondern niedrigen Zinsen und dem Ausland. Es ist nun einmal so: Die Ausgaben der einen sind die Einnahmen der anderen. Früher haben private Haushalte gespart, und die Unternehmen und der Staat haben sich bei ihnen Geld geliehen und investiert. Heute sparen alle, kaum einer investiert, und wir hoffen darauf, dass sich die USA oder China dauerhaft bei uns verschulden. Das ist völlig verrückt.
({4})
Die schwarze Null ist auch ein schwarzes Loch, weil sie die wahren Schulden, etwa durch Privatisierungen, verdeckt. Privatisierungen sind oft teurer für die Steuerzahler, weil Unternehmen höhere Zinsen als der Staat zahlen müssen und auch Rendite machen wollen. Die Steuerzahler dürfen den Quatsch dann wie bei der Pkw-Maut von Herrn Scheuer bezahlen.
({5})
Was ist mit der grünen Null? Wenn wir heute nicht genug gegen den Klimawandel tun, wird das sehr teuer, dann können Sie mit Ihren schwarzen Nullen die Deiche in Schleswig-Holstein hochziehen. Was ist daran generationengerecht, wenn unsere Kinder morgen absaufen?
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Deutschland lebt von der Substanz, insbesondere in den Kommunen. Wir verzehren den Kapitalstock an Brücken und Universitäten, der von unseren Eltern und Großeltern aufgebaut wurde. Bei der Investitionsquote, den Investitionen im Verhältnis zur Wirtschaftskraft, sind wir unter den Industrienationen auf Platz 30 von 38. Deutschland ist die viertgrößte Volkswirtschaft der Erde. Wir müssen doch den Anspruch haben, Spitze und nicht Schlusslicht bei den Investitionen zu sein.
({7})
Deutschland muss in die Zukunft investieren. Trump droht mit Strafzöllen auf deutsche Autos, der Brexit droht – all dies trifft die Exporte hart. Ob sozialer Wohnungsbau oder digitale Infrastruktur: Wenn ein Land vor großen Aufgaben steht, erfordert dies auch große Investitionen. Diese lassen sich aber nicht aus der Portokasse finanzieren; auch Rom wurde nicht an einem Tag erbaut.
Die Finanzierung von Investitionen muss auch über Kredite zeitlich gestreckt werden. Warum sollen nur heutige Steuerzahler eine Universität finanzieren, die auch noch unsere Enkelkinder nutzen? Auch ein Haus baut man auf Raten. Wir bekommen derzeit Geld geschenkt. Die Rendite auf 30-jährige Bundesanleihen ist negativ. Österreich hat kürzlich sogar 100-jährige Anleihen begeben. Wenn wir uns also heute 100 Euro leihen, müssen wir morgen nach Inflation weniger zurückzahlen. Wer rechnen kann, weiß: Jetzt ist die Zeit, um zu investieren.
({8})
Die Bundeskanzlerin sagte in der Haushaltsdebatte, man könne ja nicht mehr investieren, weil die Zinsen ja auch wieder steigen könnten.
({9})
Der Ex-Wirtschaftsweise Professor Bofinger wollte der Kanzlerin danach ein Lehrbuch der Volkswirtschaft schenken, so schockiert war der arme Mann.
({10})
Frau Bundeskanzlerin, das nennt sich Angebot und Nachfrage. Es gibt zu viel Kapital, das Anlage sucht, und zu wenig Investitionen. Wir müssen daher investieren, wenn wir wollen, dass die Zinsen wieder normaler werden.
({11})
Es ist doch schizophren, die Europäische Zentralbank für das billige Geld zu kritisieren, das auch die Immobilienpreise befeuert, aber die Geldpolitik nicht durch mehr öffentliche Investitionen zu entlasten.
({12})
Wir fordern daher die Rückkehr zu einer goldenen Regel der Haushaltspolitik, dann wären Kredite in Höhe der Investitionen wieder zulässig, ob Netto- oder Bruttoinvestitionen, ist egal; da sind wir nicht katholisch. Wir könnten dafür Schattenhaushalte untersagen; denn die Schuldenbremse lässt sich ja derzeit austricksen, wenn man ein Unternehmen des Bundes mit den Investitionen betraut. Wir wollen zudem eine Pflicht des Bundes, um den öffentlichen Kapitalstock zu erhalten. Es macht natürlich keinen Sinn, die Investitionsbremsen abzuschaffen, um Konzernen dann die Steuern zu senken. Wer über Schuldenberge spricht, verehrte Kolleginnen und Kollegen, darf auch vom Mount Everest des Geldes der Millionäre und Milliardäre nicht schweigen. Die reichsten Deutschen müssen endlich wieder in die Pflicht für dieses Land genommen werden.
Vielen Dank.
({13})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Eckhardt Rehberg das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man kann jetzt hier und heute und konnte in den letzten Tagen den Eindruck gewinnen, dass einige im Vollrausch sind, wenn es um das Thema Schulden geht: manche Ökonomen, manche Antragsteller auf Parteitagen in den letzten Wochen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, früher haben Linke für Gerechtigkeit und Chancengleichheit gekämpft, heute kämpfen sie für Schulden.
({0})
– Ja! Das ist doch der Tenor, der Duktus Ihrer Rede und Ihrer Anträge. – Schulden werden als Wundermittel dargestellt, hochstilisiert, es wird gesagt, damit könne man alle Probleme lösen.
Meine erste Frage ist: warum denn nur 450 Milliarden Euro in zehn Jahren, warum nicht eine oder zwei Billionen?
({1})
Meine nächste Frage ist: Belebt das wirklich die Konjunktur? Behebt das die Probleme? Wenn Sie für Steuersenkungen gekämpft hätten, damit die deutsche Wirtschaft, gerade der Mittelstand, wettbewerbsfähig bleibt, dann hätte ich das ja noch verstanden.
({2})
Die Herausforderung der Zukunft ist, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu sichern. Oder glauben Sie wirklich, dass die Formel „Tausche CO2 gegen Milliarden von Schulden“ Sinn macht? Hat das etwas mit Nachhaltigkeit zu tun? Geschichtsvergessen ist es allemal. Die Euro-Krise vor zehn Jahren ist nicht entstanden, weil die Länder zu wenig, sondern weil sie zu viele Schulden hatten, weil sie über ihre Verhältnisse gelebt haben.
({3})
Sie reden zwar von Investitionen, meinen aber massive Ausgabensteigerungen.
({4})
Ich finde, die Forderung, mehr Schulden zu machen, ist – Entschuldigung – abgehoben, und sie geht auch an der Realität des Bundeshaushaltes vorbei.
({5})
Wie sieht diese Realität aus? Vor zehn Jahren, als ich in den Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestags gekommen bin – das ist erst zehn Jahre her, ich schaue die Kolleginnen und Kollegen der FDP an –, standen wir vor folgender Situation: Der Haushalt 2010 hatte einen Umfang von 300 Milliarden Euro, und wir hatten 86 Milliarden Euro Schulden.
({6})
Dabei hätten wir bleiben sollen? Hätten wir das wirklich bis heute durchziehen sollen? Kein Schuldenabbau? Die Basis dafür, dass wir heute massiv investieren können, ist der Schuldenabbau. Übrigens, als wir die alten Schuldenregeln hatten, haben wir zwischen 22 und 24 Milliarden Euro investiert. Am 26. November dieses Jahres haben wir für das nächste Jahr Investitionen in Höhe von 43 Milliarden Euro beschlossen. Die Herausforderung ist eine andere – ich werde das immer wieder sagen –: Wir haben bei Investitionen kein Finanzierungsproblem, sondern ein Umsetzungsproblem.
({7})
Das ist das Kernproblem der deutschen Wirtschaft und der deutschen Gesellschaft.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, man kann ja zur Schuldenbremse stehen, wie man will, nur was man nicht kann, ist, finde ich, zum Rechtsbruch aufzurufen. Die Schuldenbremse steht im Grundgesetz. Wer meint, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken und der Grünen, aber auch der SPD, man könne sie umschiffen, reformieren oder ändern, dem sage ich: Sie sollten sich einmal den letzten Bericht nach § 99 BHO des Bundesrechnungshofes durchlesen.
({8})
Sie nehmen ja immer gerne Bezug darauf. Auf Seite 6 steht:
Überlegungen dahin gehend, die Schuldenregeln zu ändern, um investive Ausgaben über Kredite finanzieren zu können, sind nicht zielführend.
Weiter heißt es auf Seite 56:
Auch das Argument eines auf absehbare Zeit niedrigen Zinsniveaus überzeugt nicht … da nach diesem Konzept auf Dauer keine Schuldentilgung stattfindet, würde der nominale Schuldenstand des Bundes von derzeit 1,2 Billionen Euro weiter anwachsen. Hohe Schuldenstände können sich zu tickenden Zeitbomben entwickeln. Beim Anstieg des Zinsniveaus würden sich „billige“ Kredite in „teure“ Kredite verwandeln.
So der Bundesrechnungshof, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Wenn man den Bundesrechnungshof sonst immer als Zeugen nimmt, dann muss man die Warnung in dem letzten Bericht des Bundesrechnungshofes zu diesem Thema auch wirklich einmal ernst nehmen. Deswegen: Die Unionsfraktion ist voll auf der Linie des BRH, was das Thema Schuldenregeln betrifft. Wir wollen keine neuen Schulden.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt kommen Ratschläge von ganz interessanter Seite.
({10})
Der neue Parteivorsitzende der SPD, Herr Norbert Walter-Borjans, war ja sieben Jahre Finanzminister in Nordrhein-Westfalen. In der Zeit, in sieben Jahren, hat er 21 Milliarden Euro neue Schulden angehäuft. Und besonders spannend – der Kollege Daldrup wird ja heute auch noch reden – ist das Anwachsen der Kassenkredite der nordrhein-westfälischen Kommunen in dieser Zeit, und zwar von etwa 20 Milliarden Euro auf 26,5 Milliarden Euro. Ich finde, das ist ein ziemlich schwaches Zeugnis.
Dazu kommt noch, dass ihm der nordrhein-westfälische Verfassungsgerichtshof nach meiner Kenntnis viermal einen verfassungswidrigen Haushalt attestiert hat. Für mich ist der neue SPD-Vorsitzende, was diesen Punkt betrifft, mehr als ein schlechter Ratgeber, nämlich gar kein Ratgeber.
({11})
Wer in den sieben Jahren seiner Amtszeit so agiert hat, sollte, glaube ich, an der Stelle etwas Zurückhaltung üben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir über dieses Thema diskutieren, dann ist auch einmal Folgendes zu betrachten: Am 26. November haben wir hier den Bundeshaushalt 2020 verabschiedet – ohne neue Schulden. Wir haben auch die Finanzplanung zur Kenntnis genommen, die ebenfalls keine neuen Schulden vorsieht. Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, es gab aus euren Reihen keine einzige Gegenstimme. Ich denke, wir sind das Parlament, und Parteitag ist Parteitag. Weil wir das Parlament sind, sollte man uns auch mit Respekt begegnen, finde ich.
Es kann nicht sein, dass wir als Große Koalition am 26. November einen Haushalt mit Investitionen auf Rekordniveau verabschieden und wir auch in der Perspektive ohne neue Schulden auskommen werden – wir müssen sie auch nicht machen, um zu investieren – und dann wenige Tage später eine Debatte geführt wird, die weit daran vorbeigeht.
({12})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Stichwort „Finanzierung und Umsetzung“. Erste Bemerkung: Reste im Bundeshaushalt addieren sich auf fast 20 Milliarden. Zweite Bemerkung: In den Sondervermögen stehen für Kindertagesstätten, Schulsanierung, Hochschulbau usw. Milliarden zur Verfügung. Wir sollten nicht über neues Geld reden, das wir ins Schaufenster stellen, und die Preise in der Bauwirtschaft weiter anheizen. Es gibt übrigens 700 000 Baugenehmigungen in Deutschland. Der Verband der deutschen Bauwirtschaft sagt selber: Wir haben gar nicht die Kapazitäten, diese Baugenehmigungen umzusetzen und zu realisieren.
Deswegen: Die Herausforderung der Zukunft ist nicht, immer mehr neue Schulden zu machen und immer mehr Geld ins Schaufenster zu stellen. Die Herausforderung ist, Planungskapazitäten zu erhöhen, das Planungsrecht zu vereinfachen. Die Standards müssen runter. Dann werden wir auch unsere Investitionen auf die Straße und über die Bühne bringen.
Herzlichen Dank.
({13})
Das Wort hat der Abgeordnete Peter Boehringer für die AfD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir behandeln heute ja mehrere Anträge mit völlig gegenläufiger Stoßrichtung. Der FDP-Antrag geht in die richtige Richtung,
({0})
ist aber auch in der zweiten Lesung weiterhin unvollständig, weil die FDP die sehr bedeutsamen Bilanzen der Euro-Rettungsvehikel ESM und EFSF noch immer nicht in ihre gestärkte Schuldenbremse mit einbezieht.
Und auch Staatsanleihen der Euro-Südländer, die die EZB seit 2015 billionenschwer auf ihren Büchern hat, stellen eine künftige deutsche Neuverschuldung dar; denn die Abschreibungen auch darauf werden eine massiv erhöhte Schuldenaufnahme Deutschlands erzwingen. Das gilt ebenso übrigens für die ungedeckten Pensionsverpflichtungen des Staates.
Die Summen, um die es hier geht, sprengen die Begrenzung der heutigen Schuldenbremse um das Hundertfache. Doch von diesem Elefanten im Raum schweigt der FDP-Antrag. Er ist darum nicht falsch, aber völlig unzureichend.
({1})
In genau die andere Richtung, also zur Abschaffung der Schuldenbremse, wollen die Linken. Zwar ist die grundsätzliche Feststellung, dass die Investitionsquote im Haushalt wieder einmal viel zu niedrig ist, auch unsere Sicht der Dinge. Ja, Olaf Scholz fährt ebenso wie seine Vorgänger die öffentliche Infrastruktur auf Verschleiß. Daran ist kein Zweifel möglich – egal, ob man Verkehrswege ansieht, Bundeswehrmaterial oder öffentliche Bauten. Allerdings war das Regieren auf Verschleiß ja auch eines der markantesten Merkmale der DDR. Irgendwie verdrängt die Linke also bei solcher Kritik ihre eigene Vergangenheit.
({2})
Weiterhin ist es bemerkenswert, dass ausgerechnet die Linke in ihren Anträgen, Herr De Masi, die Goldene Regel der Finanzpolitik positiv hervorhebt. Natürlich ist es wahr, dass seriös wirtschaftende Staaten Kredite immer nur investiv verwenden sollten, weil sonst die heutige Generation Konsum in der Gegenwart vorwegnimmt, den spätere Generationen einmal nachhungern müssen, wie es Roland Baader einmal bezeichnet hat.
Die 1990 nach gescheitertem Realsozialismus zusammengebrochenen Ostblockstaaten können ein Lied davon singen, was Nachhungern bedeutet. Auch hier sollten also ausgerechnet SED-Nachfolger mit der Forderung nach höherer Verschuldung ganz vorsichtig sein. Normalerweise hat die Linke entgegen der Goldenen Regel keinerlei Skrupel, auch konsumtive Ausgaben auf Pump zu decken.
({3})
Es ist ein schlechter Witz, wenn ausgerechnet die Linke hier die Goldene Regel predigt.
({4})
Linke sind ja generell sehr kreativ, wenn es um wohlfeile, vulgär-keynesianistische Sprüche zur Begründung schlichter Schuldenmacherei geht. Auch die Kühnert-Borjans-Esken-SPD wird in trauter einheitssozialistischer Manier zusammen mit Grünen und Dunkelroten dann spätestens ab 2021 alle Schranken der Haushaltssolidität fallen lassen. Es werden Schulden, etwa für das Klima, gemacht werden. Die Grünen haben dafür neulich hier ja bereits 100 Milliarden Euro extra gefordert.
Die Sprüche von guten investiven Ausgaben auf Pump sind übrigens auch technisch schlicht verlogen. Es gibt haushaltsrechtlich keine Schulden für einen guten Zweck, etwa zur Klimarettung. Es gibt im Haushalt nur einen Einnahmetopf, in den alle Steuereinnahmen und alle Kreditaufnahmen fließen. Die Bundeshaushaltsordnung normiert das Gesamtdeckungsprinzip. Alle Einnahmen finanzieren zusammen alle Ausgaben inklusive aller Investitionen. Zweckbindung ist die absolute Ausnahme.
Darum muss im Haushalt vor allem eines gemacht werden: Statt die Schuldenbremse zu streichen, müssen die von linker Ideologie getragenen nichtinvestiven Ausgaben gestrichen werden. Damit wird ganz viel Spielraum für mehr Investitionen geschaffen – und bitte auch nur für echte Investitionen.
Auch hier wird Etikettenschwindel betrieben, wie man ihn sich kaum vorstellen kann. Die Regierung verbucht im Haushalt sogar klassische Hungerhilfe im Ausland als Investitionen. Im Klimapaket sind zehnstellige Ausgaben zur globalen CO2-Entwicklungshilfe als Investitionen fehldeklariert – globale Investitionen natürlich, keine für Deutschland. Ausgabetitel wie – das ist ein Zitat aus dem Haushalt – „Entwicklungswichtige multilaterale Hilfen für weltweiten … Klimaschutz“ hübschen ernsthaft die deutsche Investitionsquote auf. Das ist ein Witz.
Ich möchte noch ein paar generelle Sätze zum Thema Verschuldung sagen. Herr De Masi hat da teilweise ja die richtigen Fragen gestellt. Die Grundsatzfrage im absurden neuen Normal der Negativzinswelt lautet tatsächlich: Warum nicht hohe Schulden auf fünfzig Jahre aufnehmen, warum nicht das Schlaraffenland der Finanzierung auf Pump ohne jeden Schmerz und ohne Zinskosten exzessiv nutzen, wenn der Markt das doch tatsächlich hergibt? Im Prinzip wäre das betriebswirtschaftlich-ökonomisch rational. Es gibt aber gesellschaftliche Probleme dabei. Diese haben Sie, Herr De Masi, nicht genannt.
Erstens. Kreditgeber sind heute nicht mehr die Sparer. Die Schulden nimmt der Staat bei den regulatorisch zum Kauf von Staatsanleihen gezwungenen Pensionsfonds und indirekt bei der Zentralbank auf. Er verschuldet sich also bei von ihm symbiotisch abhängigen Institutionen und damit faktisch bei sich selbst. Das ist das Rezept zur Hyperinflation, auch wenn das heute noch keiner glaubt.
({5})
Die Summe der Kreditbillionen, die Mario Draghi in wenigen Jahren mandatswidrig gedruckt hat, ist fast so groß wie das deutsche Bruttoinlandsprodukt. Dieser Unrechtszustand setzt sich nun fort, wenn die neue EZB-Chefin Lagarde der neuen EU-Chefplanwirtin von der Leyen zusagt, die weltbeglückenden Ideen der EU zum CO2-Wahn und zur bedingungslosen Unterstützung Afrikas mit Billionen Euro zu finanzieren. Das ist Ihre Parteifreundin, Herr Rehberg. Das konterkariert alles, was Sie eben gesagt haben.
Staaten und Suprastaaten wie die EU bekommen so unendlich viel Kreditspielgeld für ihre ideologische Machbarkeitshybris, und sie können zugleich die Malaise ihrer Volkswirtschaften noch jahrelang kaschieren und verschlimmern.
Zweitens. Es ist inzwischen für Investoren schwer geworden, überhaupt noch realwirtschaftliche Kreditnachfrager mit gutem Geschäftsmodell zu finden; denn es ist bereits viel zu viel Kreditgeld im Umlauf. Es gibt heute kaum noch valide unternehmerische Ideen, die an Kapitalmangel scheitern. Die Schumpeter’sche Zerstörung schlechter Ideen und Produkte kann in einem Umfeld ohne Wettbewerb und ohne Kapitalkosten nicht mehr funktionieren. Mit fatalen Folgen: Man erinnere sich auch hier an die Erfahrungen des real existierenden Sozialismus. Unternehmen, die ihre Kapitalkosten nicht mehr verdienen müssen, können als unproduktive Zombies jahrzehntelang überleben, solange ihre Liquidität durch den Staat und heute durch die Zentralbank gesichert ist. Das Ganze ist ein Paradies für Blender. Jeder Blödsinn wird auf Pump finanziert und subventioniert, solange er politisch erwünscht ist. Kein politisch korrektes Unternehmen wird in einem solchen geldsozialistischen Umfeld pleitegehen können.
({6})
Drittens. Die Kehrseite in diesem neuen Normal – das wurde ja schon erwähnt – sind die permanenten Enteignungen aller Bürger, direkt durch Negativzinsen und indirekt durch die Fehlallokation von großen Summen. Eine Welt ohne Zins kann knappes echtes Kapital – das ist nicht das der Zentralbanken – nicht mehr in betriebswirtschaftlich, technisch und gesellschaftlich sinnvolle und auch nachgefragte Produkte lenken. Damit werden Marktwirtschaft und Arbeitsteilung als Hauptwohlstandsfaktoren außer Kraft gesetzt.
Darum – zum Fazit – sollte Deutschland von wenigen einmaligen Ausnahmen abgesehen, die ich konzediere, keine uferlosen Schulden machen. Die gesellschaftlichen und ökonomischen Folgen wären fatal. Der Antrag der Linken ist darum abzulehnen. Diese Regierung sowie die altlinke Opposition sollten keinesfalls noch mehr Kreditgeld für linksideologische Zwecke in ihre Hände bekommen.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Andreas Schwarz für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher! Eine Schuldenbremse darf keine Zukunftsbremse sein. Dem stimme ich zu. Das Grundgesetz gibt auch Möglichkeiten für den Krisenfall. Im Moment sehe ich Gott sei Dank überhaupt keine Krise. Klar, es ist Aufgabe der Opposition, Krisen erst mal zu beschwören und herbeizureden; das ist ihre Hauptaufgabe und auch ‑beschäftigung. Sehen Sie nach, dass wir als Koalition versuchen, das Land vernünftig zu regieren.
({0})
Krisen beginnen meistens im Kopf. Gerade die Politik sollte mit Optimismus und Weitsicht vorangehen. Die Koalition macht das. Nur, verehrte Kolleginnen und Kollegen, das Aufbrechen und Beseitigen der in Artikel 109 und Artikel 115 Grundgesetz verankerten Schuldenbremse kann für sich allein genommen doch nicht das Allheilmittel sein. Nur mal so nebenbei bemerkt: Das Grundgesetz sollte man auch nicht im Stundentakt ändern.
Schauen wir uns doch mal die Realität an. Erst vorletzte Woche haben wir den Bundeshaushalt 2020 verabschiedet, und das mit großen Investitionssummen auf absolutem Rekordniveau. Gerne plaudere ich hier aus dem Nähkästchen. Überall stellen wir Geld zur Verfügung für Straßen, Schienen, für Schulen, Kitas, für den sozialen Wohnungsbau, für die Städtebauförderung, für Forschung und Bildung, für den Umwelt- und Klimaschutz. Wir haben ein Klimapaket mit 54 Milliarden Euro aufgelegt und vieles mehr. Wir steigern die Investitionssumme auf 43 Milliarden Euro. Das ist absolutes Rekordniveau.
({1})
Ich darf an der Stelle auch anmerken: Die Deutsche Bahn wird bis 2030 Bundes- und Eigenmittel in Höhe von 156 Milliarden Euro ins Schienennetz stecken. Liebe Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in unserem Land, wir investieren bereits auf Rekordniveau, verantwortlich und sozial ausgewogen.
({2})
Sehr geehrte Damen und Herren, natürlich kann man argumentieren, das alles sei nicht genug, man müsse die Schuldenbremse entfernen, neue Kredite aufnehmen, um die Investitionen weiter zu erhöhen. Das kann man alles machen. Nur, bringt das kurzfristig den gewünschten Erfolg? Ist eine solche Forderung nicht etwas aktionistisch? Meine Frage an die Besucherinnen und Besucher hier auf der Tribüne oder am Fernseher zu Hause: Verstehen Sie uns Politiker, wenn wir in einer Zeit guter Konjunktur, niedriger Arbeitslosigkeit, hoher Steuereinnahmen und von Rekordhaushalten ohne Not jetzt Schulden machen, wissend, dass wir das Geld gar nicht ausgegeben bekommen? Würden Sie bei Ihrem auskömmlichen Einkommen zur Bank gehen und sich Geld holen für eine Anschaffung, die Sie am Ende gar nicht tätigen können? Kann ich Ihnen das erklären? Nein, kann ich nicht, und – ich bin ehrlich – ich will Ihnen das auch gar nicht erklären.
Gehen wir doch mal zusammen in die Rathäuser, in unsere Kommunen. Viele Bürgermeister werden uns erklären, dass sie gerne viel mehr investieren wollen und auch genügend Geld vorhanden ist. Aber sie werden ihr Geld nicht los. Kommen Sie nach Bayern; dann werden Sie es erleben. Beim Bund, in den Ländern und in den Kommunen liegen Milliarden Euro auf dem Konto, wie Kollege Rehberg von der CDU gerade erklärt hat. Viel von diesem Geld ist für Straßen, Schienen, Wohnungsbau und Datennetze gedacht. Aber gerade in den Ländern wird das Geld nicht immer umgesetzt. Es dient teilweise zur Schuldentilgung.
({3})
Meine Damen und Herren, da liegt doch das Problem. Einer der Hauptgründe für den Investitionsstau in Deutschland ist zurzeit nicht die vorhandene Schuldenbremse. Vielmehr sind es überforderte Planungsämter bei Bund, Ländern und Gemeinden, zu komplizierte Fördervorschriften sowie eine völlig ausgelastete Bauwirtschaft. Hier müssen wir zuerst ansetzen. Es ist auch nicht redlich, Bauaufträge zu völlig überteuerten Preisen zu vergeben, nur weil ausgelastete Baufirmen die Kommunen dann prioritär behandeln. Auch hier ist meine Erfahrung aus meinem Wahlkreis, dass Kommunen immer wieder Ausschreibungen aufheben, weil Kostenschätzung und Angebotspreis teilweise um das Dreifache auseinanderliegen. Liebe Steuerzahlerinnen und Steuerzahler im Land, ist es nicht Aufgabe der Politik, für den investierten Euro das Maximum an Leistung herauszuholen?
({4})
Oder wünscht sich der Steuerzahler, dass wir Mitnahmeeffekte in diesem Land finanzieren?
Die Diskussion, die Sie, geehrte Mitglieder der Linken, dann führen, kenne ich. Sie sprechen dann von Steuermissbrauch. Sie sprechen davon, dass wir verschwendungssüchtig sind,
({5})
und das dann nicht einmal zu Unrecht. Nein, meine Damen und Herren, bevor wir die Schuldenbremse verdammen und uns von der schwarzen Null verabschieden, was ich in Zukunft nicht ausschließen möchte, wenn dieser Krisenfall mal da wäre, den Sie heraufbeschwören, gibt es Mittel, um zu reagieren. Da werden wir hier auch entsprechend reagieren. Wichtig ist für mich, dass wir die Vorschriftenflut eindämmen, dass die Genehmigungsbehörden zügig Baugenehmigungen erteilen können, dass wir überbordende Bürokratie abschaffen und alles etwas vereinfachen.
({6})
Dann können wir letztendlich auch zielgerichtet investieren.
Lassen Sie mich zum Schluss noch Folgendes zu bedenken geben. Ich stimme Norbert Walter-Borjans zu, der auf dem SPD-Parteitag gesagt hat: „Wenn die schwarze Null einer besseren Zukunft für unsere Kinder im Wege steht, dann ist sie falsch“. Das gilt auch für die Schuldenbremse. Unsere Politik steht jedoch seit Jahren für eine gute und gerechte Zukunft in diesem Land. Deswegen ist im Moment auch keine Notwendigkeit für diese Maßnahmen.
Danke schön.
({7})
Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP der Kollege Otto Fricke.
({0})
Geschätzter Herr Vizepräsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Kollege Schwarz, wahrscheinlich waren Sie beim Parteitag der SPD gar nicht dabei; denn das, was wir hier gehört haben, hat große Unterstützung bei CDU/CSU und FDP gefunden. Ich kann Sie zu diesem Maß an Vernunft nur beglückwünschen und muss dann auch sagen: Insofern ist der Nachname Schwarz ja auch richtig.
({0})
Schuldenbremse, Investitionen – meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ganz ehrlich: Warum funktioniert das Thema überhaupt? Weil es mal wieder so ist, dass unser Hirn, dieses Ding, sagt: Oh, da gibt es ein Problem; ich habe eine schnelle Lösung. Ich weiß, was ich dagegen tun muss. – Das machen Sie, Herr De Masi, auch immer, wenn Sie das Wort „auch“ nur so halb benutzen. „Schuldenbremse bedeutet weniger Investitionen“ ist aber genauso ein Blödsinn wie: „Wenn ich meinen Teller nicht leer esse, gibt es morgen schlechtes Wetter“, „Wenn es viele Störche gibt, gibt es viele Kinder“, „Man hat Pech, wenn man eine schwarze Katze sieht“ oder – das könnte ich dann auch sagen – „Der Doctor humoris causa ist an bestimmten Stellen ein echter Doktor“.
Fakt ist jedoch was ganz anderes. Wenn Sie sagen, die Investitionen des Bundes seien zurückgegangen, dann sage ich: Auf die öffentliche Hand entfällt nur ein Zehntel der Investitionen in Deutschland. Es geht also vielmehr um private Investitionen. Sind die Investitionen seit Einführung der Schuldenbremse zurückgegangen? Der einzige Argumentationsstrang, den Sie verfolgen können, wäre: Wir investieren, dann kam die Schuldenbremse, und wir investieren weniger.
({1})
Bei aller Kritik am Finanzministerium: In absoluten Zahlen gehen die Investitionen hoch, viel zu wenig nach Meinung der FDP. In prozentualen Zahlen bewegen Sie sich nicht nach unten, sondern leicht nach oben.
({2})
Wobei – und da stimme ich ausdrücklich zu, Kollege Boehringer – die Frage, was die Bundesregierung inzwischen alles als Investitionen definiert, dann die nächste Frage wäre.
Wenn ich Antragsteller bin, muss ich doch ehrlicherweise sagen: Mir geht es gar nicht darum; denn als Linker weiß ich, dass das eine mit dem anderen nichts zu tun hat. Worum es Ihnen geht, ist was anderes: Warum wollen Sie eigentlich, dass mehr investiert wird? Ihnen geht es nicht um die Frage von mehr Investitionen, sondern Ihnen geht es darum, wie es immer im Sozialismus ist, dass man sagt: Wir wollen für Gutes mehr Geld ausgeben; wir wollen mehr Investitionen.
({3})
Am Ende geben Sie es aber für Wahlgeschenke aus.
({4})
Sie können sich alle sozialistischen Länder angucken: Am Ende ist immer eines runtergegangen: die Investitionen. Die Ruinen können Sie heute noch überall in der Welt sehen, wo der Sozialismus mal geherrscht hat.
({5})
Nein, wenn Sie wirklich mehr gewollt hätten, dann hätten Sie Anträge auf mehr Investitionen stellen können und das fordern können, was unser Land im Moment eigentlich benötigt: einen Strukturwandel. Darüber reden Sie aber gar nicht. Darüber redet auch die Große Koalition nicht. Wir brauchen einen Strukturwandel, übrigens – das sage ich in Richtung der Grünen – einen nachhaltigen Strukturwandel, in dem Reparaturen auch als Investitionen zählen
({6})
und nicht, wie in Ihrem Vorschlag, weiterhin nur Konsumption sind. Nur wenn wir einen Strukturwandel hinkriegen, werden wir ausreichend Mittel haben, um unseren Sozialstaat zu sichern, um in die Zukunft zu gehen, aber auch, um entscheidend zu investieren. Das ist in der Vergangenheit zu wenig passiert, und zwar aus einem ganz einfachen Grund, den ich Ihnen noch mal erklären will:
Es ist immer wohlfeil, als Politik auf den Wunsch, im nächsten Jahr mehr Geld für bestimmte Dinge auszugeben, zu reagieren und zu sagen: Das machen wir. Es ist als Politik aber viel schwieriger, zu sagen: Pass auf, das ist zwar ein guter Wunsch; ich verstehe ihn auch. Aber, ehrlich, wir investieren, und wir werden in den nächsten zehn Jahren Geld ausgeben, damit die Zukunft deiner Kinder darüber gesichert ist. – Das wird die Aufgabe sein.
Dazu kann ich Ihnen am Ende meiner Rede einen kleinen Hinweis geben. Wir haben seit 2007 368 Milliarden Euro an Zinsen gespart. Wir haben seit 2013 240 Milliarden Euro mehr Steuern eingenommen. Davon ist fast nichts in zusätzliche Investitionen gegangen, sondern die Politik insgesamt hat sich immer entschieden, zu konsumieren und kurzfristig zu beglücken. Das sollten wir innerhalb des Systems durch Strukturveränderungen ändern, aber nicht dadurch, dass wir uns verschulden und den falschen Weg in einen Staat gehen, der am Ende nicht die Zukunft unseres Landes sichern kann.
Herzlichen Dank.
({7})
Vielen Dank. – Als Nächstes spricht die Kollegin Anja Hajduk für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Botschaft von uns Grünen zu dieser Debatte lautet: Ja zu verlässlichen und mehrjährigen Investitionen. – Wir brauchen wirklich eine deutliche Steigerung bei den öffentlichen Investitionen.
({0})
Das ist klar belegt, weil wir bei den Kommunen einen Investitionsstau haben. Er beträgt sage und schreibe knapp 140 Milliarden Euro. Diese Zahl wird, glaube ich, von niemandem bestritten. Wir brauchen zweitens mehr Investitionen für eine moderne digitale Infrastruktur so zügig wie möglich. Ja, lieber Otto Fricke, und wir brauchen für den klimafreundlichen Umbau unserer Art, zu wirtschaften – das ist eine strukturelle Aufgabe des Wandels –, große Investitionen.
({1})
Das erinnert mich mehr an die Investitionsgrößenordnungen, die wir in den 70er-Jahren hatten, nämlich unser Land mit 5 Prozent unserer Wirtschaftsleistung zu modernisieren. Wir machen das heute mit weniger als der Hälfte davon. Für meine Fraktion ist klar: Wir brauchen zum einen mehr öffentliche Investitionen und zum anderen auch viel mehr private Investitionen. Aber diese privaten Investitionen brauchen als Rahmenbedingungen gute öffentliche Infrastruktur. Dafür müssen wir auch durch gute Politik sorgen.
({2})
Ich sage für uns Grüne als zweite Botschaft: Ja, wir brauchen, wenn wir zu mehr Investitionen in der Umsetzung kommen wollen, schnellere Planverfahren. Und – ich wiederhole hier noch mal das, was mein Fraktionsvorsitzender während der Haushaltsberatungen gesagt hat –: Wir Grünen sind auch bereit, dazu in gemeinsame Gespräche mit der Großen Koalition zu treten. Zu lange Planungsverfahren, zu viele Umsetzungsschwierigkeiten hemmen die Investitionen. Sie hemmen auch das Vertrauen in die Umsetzungsfähigkeit von Politik. Das meinen wir sehr wohl ernst.
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Außerdem halten wir es für ganz falsch, in eine viel zu schlichte Polarisierung zu gehen. Wir halten es für falsch, einfach zu sagen, die Schuldenbremse müsse weg. Die Schuldenbremse hat in den letzten Jahren zu einem stetigen Abbau unserer Gesamtverschuldung beigetragen. Das hat das Vertrauen in die Politik gestärkt. Wir hatten mit einer gesamtstaatlichen Verschuldung von über 80 Prozent einen viel zu hohen Wert. Jetzt, nach nur knapp einem Jahrzehnt, liegt dieser Wert bei unter 60 Prozent. Ich ergänze noch: In den 2020er-Jahren werden wir auch neue und andere Herausforderungen haben. Keiner von uns kann sie verlässlich voraussehen. Aber wir haben jeden Grund zu der Annahme, dass die demografische Entwicklung unseres Landes dann auch viel Druck auf die öffentlichen Haushalte ausüben wird; denken wir nur an unsere sozialen Sicherungssysteme. Deswegen wäre die Erwartung, „Schuldenbremse weg“ werde automatisch zur Lösung von Problemen führen, falsch. Wir Grünen meinen: „Schuldenbremse weg“ ist keine Antwort. Das wollen wir auch nicht.
Wenn die Schuldenbremse wegfällt, führt das auch nicht automatisch zu zusätzlichen Investitionen; denn man kann auch investieren, ohne Kredite zu machen. Aber wenn man das Vermögen des Gesamtstaates vermehrt, dann sollte man dies zum Teil sehr wohl – und das wäre ökonomisch sinnvoll – kreditär finanzieren können.
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Deswegen plädieren wir Grünen dafür, die schwarze Null nicht wie eine Monstranz vor sich herzutragen. Das hat die Große Koalition bisher getan, auch mit der SPD; Herr Schwarz hat das noch ein bisschen zelebriert. Jetzt muss die SPD umdenken, weil die neue Parteiführung der SPD das genaue Gegenteil will.
Also, was müssen wir eigentlich tun? Ich frage uns Politiker, die wir das professionell betreiben: Was ist eigentlich so schwer daran, achtsam mit unserer Verfassung umzugehen? Die Verfassung muss mit Zweidrittelmehrheit geändert werden. Deswegen müssen wir uns erst mal verfassungskonform verhalten. Viele Wissenschaftler, Gewerkschaften, Wirtschaftsverbände fordern uns auch viel differenzierter auf, zu sehen: Die schwarze Null ist das eine; die Schuldenbremse in der Verfassung ist das andere. – Deswegen plädieren wir Grünen dafür: Lassen Sie uns doch die vorhandenen Spielräume, die die Schuldenbremse uns gibt, für mehr Investitionen nutzen.
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Dann könnten wir schon im nächsten Jahr deutlich mehr in öffentliche Infrastruktur investieren, sei es in Bildungseinrichtungen, sei es für die Digitalisierung oder sei es für eine klimafreundliche Weise des Wirtschaftens. Wir könnten auch heute schuldenbremsenkonform mehr Investitionsgesellschaften nutzen. Öffentliche Unternehmen, die heute schon kreditär investieren, dürfen das – ein Glück; das wird auch in den Kommunen gemacht.
Dann lassen Sie uns in einem zweiten Schritt in Ruhe darüber reden: Lohnt es sich nicht vielleicht doch, die Schuldenbremse weiterzuentwickeln zu einer atmenden Schuldenbremse gemäß den europäischen Regeln, sodass wir den Gesamtschuldenstand, der so stark abgesunken ist, zu einer Maßgabe machen, inwieweit wir, und zwar begrenzt, bei gesunden wirtschaftlichen Verhältnissen noch deutlicher in die Zukunft investieren dürfen? Auch dazu fordern uns die Erfinder der Schuldenbremse auf. Das sollten wir uns trauen. Dafür stehen wir Grünen. Dafür haben wir zum Glück viel Unterstützung. Das wäre eine positive Nachricht für die Bürgerinnen und Bürger. Das braucht auch ein fortschrittliches und gutes Europa.
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Vielen Dank. – Als Nächster spricht der Kollege Dr. André Berghegger für die Fraktion der CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir beraten hier drei Anträge. Den der FDP haben wir schon im Haushaltsausschuss abgelehnt. Deswegen beziehe ich mich auf die beiden Anträge der Linken.
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Ich habe mir die Mühe gemacht, sie intensiv zu lesen. Wir haben auch vor einiger Zeit intensiv darüber diskutiert. Die Linken erwecken mit ihrem Antrag „Öffentliche Infrastruktur erhalten – Investitionspflicht einführen“ den Eindruck, der Bund müsse nur die Ansätze erhöhen und müsse mehr Geld zur Verfügung stellen, dann werde sich die Infrastruktur in Deutschland automatisch verbessern. Ganz so einfach ist es nicht. Sie beziehen sich in Ihrem Antrag auf das KfW-Kommunalpanel und beschreiben die Situationen in den Kommunen. Darin stimmen wir in der Analyse noch überein. Wir sagen, dass die größten Investitionsrückstände bei Schulen, bei Straßen und bei den Verwaltungsgebäuden vorherrschen – so weit, so gut. Aber zur Wahrheit gehört auch, dass die KfW sagt, woran das liegt, was also die Ursachen dafür sind. Die Ursachen, warum Investitionen vor Ort nicht umgesetzt werden, sind die drei Punkte: die Kapazitäten am Bau, zu wenig Personal und die Kostensteigerungen am Bau, und gerade nicht die fehlenden Finanzmittel auf irgendeiner staatlichen Ebene. Das zu verschweigen, ist unvollständig und, so würde ich sagen, unseriös.
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Der zweite Antrag „Investitionsstau beenden – Schuldenbremse aus Grundgesetz streichen“ bezieht sich auf den Jahresbericht des Sachverständigenrates 2007. Sie schreiben, kreditfinanzierte öffentliche Investitionen seien sinnvoll und als obere Grenze für Neuverschuldung biete sich die goldene Regel der Finanzpolitik an, dass Kredite maximal in Höhe der Investitionen aufzunehmen seien. Das Problem an der Sache ist nur: Die Schuldenbremse gilt erst seit 2009, und Sie beziehen sich auf ein Sachverständigengutachten von 2007. Das halte ich für ziemlich absurd. Der Sachverständigenrat konnte sich zu der Regel noch gar nicht äußern.
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Wenn Sie sich die Mühe gemacht und das aktuelle Jahresgutachten des Sachverständigenrates, das Jahresgutachten 2019/2020, gelesen hätten, hätten Sie Erstaunliches festgestellt. In dem Gutachten heißt es: Statt Schulden werden zur Erhöhung der Wachstumspotenziale Steuersenkungen empfohlen, um kurzfristige Impulse zu erzielen. – Na bitte: Steuersenkungen!
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Weiterhin wird ausdrücklich betont, dass zur Erhöhung der Wachstumspotenziale keine Änderung der Schuldenbremse und somit keine Erhöhung der Verschuldensmöglichkeiten des Staates nötig sind. – Wie deutlich brauchen Sie es denn noch? Es wurde – ganz im Gegenteil – gesagt, dass im vorhandenen System der Schuldenbremse Stabilisierungsfaktoren enthalten sind; wir haben es gerade schon gehört. Wir können unter dem bestehenden Regime im Zweifelsfalle 0,35 Prozent des BIP als Schulden aufnehmen. All das hat Vorrang, bevor man das System nach zehn Jahren gänzlich infrage stellt. Geben Sie sich also ein bisschen mehr Mühe bei der Erstellung der Anträge. Üben Sie etwas mehr Sorgfalt.
Zur Sache. Sie argumentieren in den Diskussionen makroökonomisch immer sehr theoretisch. Aber in der Praxis haben wir viele Argumente gehört, die ich an dieser Stelle wiederholen möchte: Wir haben kein Einnahmeproblem, sondern ein Umsetzungsproblem. Wir haben Rekordeinnahmen bei den Steuern. Die Rücklagen sind auf Höchststände gestiegen. Wir haben Spielräume durch niedrige Zinsen erwirtschaftet. Die Belastung hier ist in den letzten zehn Jahren von 40 auf 12 Milliarden Euro gesunken. Der Bund hat im nächsten Jahr das erste Mal weniger Steuereinnahmen als Länder und Kommunen zusammen. Der Bund unterstützt mit dieser kommunalfreundlichen Regierung und denen davor massiv die finanzschwachen Kommunen: im öffentlichen Nahverkehr, beim Kitaausbau, beim DigitalPakt Schule, beim sozialen Wohnungsbau usw. usf.
Aber die Gelder fließen eben nicht in ausreichendem Maße ab. Die Ausgabereste steigen auf rund 20 Milliarden Euro, davon alleine 4 Milliarden Euro beim Breitbandausbau; darauf rekurrieren Sie ja auch immer. Wenn Sie das KfW-Kommunalpanel richtig gelesen hätten, hätten Sie auch festgestellt, dass ein Drittel der Investitionen, die in den Kommunen geplant sind, nicht umgesetzt werden können, und zwar aus den Gründen, die ich vorhin genannt habe. Es liegt also nicht am fehlenden Geld, sondern an anderen Restriktionen. Es macht gar keinen Sinn, höhere Planzahlen ins Fenster zu stellen. Vielmehr müssen wir an die Ursachen heran;
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sonst würden bei einer höheren Summe an bewilligten Geldern lediglich die Preise steigen, und im Zweifel würde sogar die Qualität bei der Aufgabenerfüllung sinken.
Wir haben es vorhin schon gehört: Die Investitionen von Privaten sind viel bedeutsamer. Im öffentlichen Bereich werden im Jahr ungefähr 80 Milliarden Euro investiert, 40 Milliarden Euro auf der Bundesebene und 40 Milliarden Euro gemeinsam von Ländern und Kommunen. Fast das Achtfache davon, 630 Milliarden Euro, gibt es an privaten Investitionen. Das heißt, wir müssen die Rahmenbedingungen für private Investitionen deutlich verbessern und uns dem widmen. Hier zitiere ich noch mal den Sachverständigenrat: Steuersenkungen sind ein geeignetes Mittel. – Ich glaube, für eine Unternehmensteuerreform ist jetzt ein geeigneter Zeitpunkt.
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Ihr letztes Argument, Zinsen seien so niedrig, das Geld liege auf der Straße – so ähnlich habe ich es vorhin gehört –, hört sich zwar ganz gut an, aber Schulden bleiben Schulden, und man muss sie zurückzahlen, auch wenn die Zinsen noch so niedrig sind. Wir stehen dafür, Schulden zu vermeiden und die nächste Generation nicht zu belasten. Das ist generationengerecht.
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Der Sachverständigenrat sagt dazu ausdrücklich – aber das aktuelle Gutachten haben Sie ja nicht gelesen –: Die Ausweitung der öffentlichen Verschuldung kann nicht mit dem Argument der niedrigen Zinsen begründet werden. Er sagt weiterhin, die Rückführung der Schulden sei ein glaubwürdiges, wichtiges Signal für die Finanzmärkte und andere europäische Mitgliedstaaten. Diesem Urteil kann ich mich nur anschließen.
Sie argumentieren in der Vergangenheit, wir verweisen auf die Zukunft. Wir werden die Anträge ablehnen.
Vielen Dank fürs freundliche Zuhören.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP der Kollege Karsten Klein.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte könnte einen falschen Eindruck erzeugen. Deshalb will ich am Anfang klipp und klar sagen: Die Schuldenbremse ist ein Erfolgsmodell. Ich sage das deshalb so gerne, weil wir Freie Demokraten als erste politische Kraft in Deutschland 1997 die Schuldenbremse über die Wiesbadener Grundsätze eingefordert haben.
Die Schuldenbremse ist ein richtiges Signal an die Finanzmärkte. Sie sorgt dafür, dass wir äußerst niedrige Zinsen, zum Teil sogar Negativzinsen, zahlen dürfen, und sie ist ein wichtiger Baustein für die Generationengerechtigkeit. Deshalb ist alles, was die Schuldenbremse infrage stellt – egal wie die Grünen, die Linken und der neue Bundesvorsitzende der SPD das so schön ausformulieren –, ein Anschlag auf die Generationengerechtigkeit, auf den Generationenvertrag und auf eine solide und nachhaltige Haushaltsführung.
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Vielmehr wären folgende Maßnahmen nötig:
Erstens müssen wir dafür sorgen, dass endlich auch Schattenhaushalte von der Schuldenbremse umrissen sind.
Zweitens müssen wir dafür sorgen, dass auch die implizite Staatsverschuldung eingegrenzt wird. Die Große Koalition hat mit der Einführung der Rente mit 63 und der Mütterrente, mit der Haltelinie von 48 Prozent und durch die Grundrente dafür gesorgt, dass die implizite Verschuldung zulasten zukünftiger Generationen weiter angestiegen ist. Deshalb muss endlich eine entsprechende Regelung auf den Weg gebracht werden.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Schuldenbremse ist erfolgreich. Lassen Sie mich deshalb an dieser Stelle mit ein paar Gerüchten aufräumen; einige Kollegen haben das vorhin schon formuliert. Es ist eine Mär, dass die zu niedrigen Investitionen in der Vergangenheit irgendetwas mit der Schuldenbremse zu tun haben. Selbst der Bundesrechnungshof – Kollege Rehberg hat es schon angeführt – hat gesagt, dass es dafür keine Belege gibt. Also, hören Sie von den Grünen doch auf, dieses Schreckgespenst an die Wand zu malen.
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Sie vermischen eine Diskussion über Investitionen mit einer Diskussion über die Schuldenbremse und stellen Behauptungen auf, die absolut unzulässig und nicht belegbar sind.
Ein weiterer Punkt ist – das unterstützt meine Argumentation –: Die Schuldenbremse wurde zwar 2009 ins Gesetz geschrieben, aber sie wirkt erst seit 2016 für den Bund und erst ab nächstem Jahr für die Länder. Sie wollen etwas reformieren, was noch nicht mal so richtig durch eine Krise gegangen ist. Das ist also der völlig falsche Zeitpunkt, meine lieben Kolleginnen und Kollegen.
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Noch ein Wort zum Thema goldene Regel. Liebe Kollegen der Linken, Sie fordern die Wiederherstellung der Vorgaben Stand 2009. Dabei hat Herr Hüther 2010 festgestellt, dass im Zeitraum zwischen 1990 und 2010, in diesen 20 Jahren, 14-mal gegen diese Regel verstoßen worden ist – politisch, in diesem Haus. Das war damals ein Grund dafür, die Schuldenregel zu reformieren und die Schuldenbremse einzuführen. Deshalb ist dieser Weg der richtige Weg. Alle Infragestellungen von der linken Seite dieses Hauses sind wirklich ein Anschlag auf die Generationengerechtigkeit.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der SPD der Kollege Bernhard Daldrup.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal bin ich Eckhardt Rehberg nicht nur dafür sehr dankbar, dass er mich erwähnt hat,
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sondern auch dafür, dass er sozusagen die Arbeitsteilung einhält. Er hat ein bisschen auf die Vergangenheit hingewiesen, und dann ist es jetzt mein Teil, ein bisschen in die Zukunft zu gucken. Das ist die Arbeitsteilung.
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Mit Blick auf die Vergangenheit stelle ich fest: Es war nicht alles falsch. Aber es ist immer so eine Sache, wenn man mit einem Nordrhein-Westfalen redet. Norbert Walter-Borjans hatte tatsächlich verfassungswidrige Haushalte, weil er die Hinterlassenschaften von Linssen regeln musste.
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– Ja, das war nicht unerheblich. Das war eine Menge. Manche Länder sind mit ihren Strukturproblemen tatsächlich überfordert. Herr Fricke, ich greife gleich auf, was Sie gesagt haben; denn Ihr Hinweis war gar nicht so falsch.
Einen Punkt muss man auch erwähnen. Norbert Walter-Borjans hat nicht nur zur Ausgabe-, sondern zur Einnahmesituation des Staates ein gutes Verhältnis. Es war gut, dass er Steuerhinterziehung, Steuerbetrug und Steueramnestie im Zusammenhang mit Geld auf Schweizer Bankkonten verhindert hat und 7 Milliarden Euro für dieses Land eingespielt hat. Das muss man mit erwähnen. Darüber sind wir sehr froh.
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Ein weiterer Punkt. Wir reden heute einerseits auf Antrag der FDP darüber, die Schuldenbremse zu verschärfen, und andererseits auf Antrag der Linken darüber, die Schuldenbremse aufzugeben. Das Ganze ist garniert mit der schwarzen Null, neuerdings mit einer Lack- und Ledermütze und dem Bekenntnis seitens der CDU/CSU: „Wir stehen zu unserem Fetisch.“ So steht es auf einem CDU-Plakat. Ich finde das ganz witzig, und auch der FDP-Antrag, der sich ja gegen Lobbypolitik wendet, zeigt, dass Sie alle die Fähigkeit zur Selbstironie haben.
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Eins ist aber falsch, nämlich dass die schwarze Null etwas mit Generationengerechtigkeit zu tun hat. Unterlassene Investitionen gehen in der heutigen Zeit zulasten künftiger Generationen. Unterlassene Investitionen sind die Schulden von morgen. Schon deshalb – und übrigens auch, weil alle seriösen Fraktionen den Antrag der FDP ablehnen – will ich mich damit gar nicht weiter beschäftigen.
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Der Verzicht auf öffentliche Investitionen ist eigentlich nur dann zu rechtfertigen, wenn die damit verbundenen Kredite so hohe Zinslasten verursachen, dass sie die Handlungsfähigkeit künftiger Generationen behindern. „Hohe Zinsen bezahlen vor allem die Armen“, hat Oskar Lafontaine vor zehn Jahren gesagt. Und er hatte durchaus recht damit,
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weil wir zum damaligen Zeitpunkt über 40 Milliarden Euro Zinsen zahlen mussten. Heute – darauf hat der Kollege Rehberg eben auch hingewiesen – bewegen wir uns auf 10 Milliarden Euro zu. Die Differenz geht in Investitionen, jedenfalls nicht an die Banken, und das ist vernünftig.
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Deshalb haben wir einen Haushalt auf Rekordniveau, was die Investitionen angeht. Ich finde, es ist wichtig, das an dieser Stelle zu sagen.
Das alles geschieht ohne Neuverschuldung. Die Frage lautet: Ist das eigentlich ein Problem? Die schwarze Null ist zweifellos überhaupt kein Selbstzweck. Das bestätigt nicht nur Norbert Walter-Borjans, sondern auch der Bundesfinanzminister. Keine schwarze Null, also neue Schulden, ist aber auch kein Selbstzweck. Das muss man sagen. Dennoch ist die Frage berechtigt: Gibt es eigentlich Spielräume für den Bund? Die Antwort lautet: Ja. Man kann auf die Schuldenstandsquote zu sprechen kommen, man kann auf die Staatsquote insgesamt zu sprechen kommen, man kann beispielsweise auch auf die Spielräume, die die Schuldenbremse heute noch bietet, zu sprechen kommen.
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Da sind durchaus noch Milliardenbeträge drin, wenn man das wollte.
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– In der Tat. Das ist richtig.
Man könnte da überall noch etwas tun. Aber was spricht dagegen? Das ist eben dargestellt worden: Da sind zum einen die ausgelasteten Kapazitäten, zum anderen ist da die Tatsache, dass staatliche Investitionen in der Bauwirtschaft direkt in die Preise gehen – das ist etwas, was wir eigentlich nicht wollen können –, und wir haben massive Umsetzungsprobleme. All die Flaschenhälse, die hier beschrieben worden sind, lassen sich durch zusätzliche Investitionen nicht einfach beseitigen.
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Deswegen ist die Frage: Was muss man tun, um die Handlungsfähigkeit, also die Investitionsfähigkeit, zu verbessern? Wenn wir wissen, dass 60 Prozent der Investitionen von Kommunen und Gebietskörperschaften getätigt werden, müssen wir die Frage stellen: Wie ist die Investitionsfähigkeit der Kommunen zu verbessern?
An dieser Stelle will ich auf einen Punkt hinweisen. Ich bin Olaf Scholz sehr dankbar dafür, dass er im Zusammenhang mit dem Ziel der Beseitigung der Ungleichheit von Lebensbedingungen über die Altschuldenproblematik gesprochen hat; denn sie verhindert, im Großen und Ganzen jedenfalls, dass gleichwertige Lebensbedingungen vorliegen. Deswegen misst sich die Fähigkeit von Politik heute daran, ob Bund, Länder und Gemeinden in der Lage sind, ein solches Problem solidarisch zu lösen, auch gemeinsam mit den Ländern – den süddeutschen Ländern beispielsweise –, die nicht unmittelbare Vorteile davon haben. Das ist die Aufgabe. Das ist die Bewährungsprobe. Wenn wir diese Handlungsfähigkeit der Kommunen wiederherstellen, dann werden Investitionen auch greifen, dann werden sie umgesetzt.
Und das war jetzt der Schlusssatz.
Alles andere allein ist leider nicht genug.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Alois Rainer für die Fraktion der CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Um es mal gleich vorwegzunehmen: Als ich den Antrag gelesen habe,
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war ich schon etwas überrascht.
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Aber eigentlich ist es immer die gleiche Schallplatte, die hier aufgelegt wird.
Wir haben vor zwei Wochen einen Bundeshaushalt mit Mitteln beschlossen, mit denen Rekordinvestitionen getätigt werden können, nämlich mit 43 Milliarden Euro. Der öffentliche Investitionshaushalt beträgt laut Statistischem Bundesamt circa 80 Milliarden Euro. Ich finde es spannend, dass immer wieder gesagt wird: Bei den Kommunen ist ein großer Investitionsstau. – Ja, das mag durchaus sein. Lieber Kollege Daldrup, da Sie in diesem Zusammenhang von der Altschuldenproblematik gesprochen haben, muss ich Ihnen eines sagen: Manche Bundesländer haben es verschlafen, sich um ihre Kommunen zu sorgen. Die Südländer haben das nicht gemacht. In meinem Wahlkreis gibt es Kommunen an der Grenze zur Tschechei,
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die ähnliche Probleme haben. Sie wurden vom Freistaat massiv unterstützt. Aber diese Kommunen müssen ihre Hausaufgaben machen; erst dann bekommen sie Unterstützung. Und jetzt sollen wir als Bund Milliarden dafür zur Verfügung stellen? Ich werde dafür mit Sicherheit nicht meine Hand heben. Dafür sind wir nicht zuständig.
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Wenn man über Investitionen spricht, dann muss man folgende Problematik ansprechen: Ich freue mich, wenn die Grünen jetzt sagen, dass sie uns dabei unterstützen wollen, schneller zu Baurecht zu kommen; das hat der Fraktionsvorsitzende in seiner Rede zum Haushalt gesagt. Man muss aber auch sagen: Drei Wochen vorher kritisierte er noch den Bundesverkehrsminister, er würde Turbobaurecht einführen. Meine Damen und Herren, wenn es beim jetzigen Stand bleibt, dann sind wir zufrieden, und wir führen das Turbobaurecht zusammen mit den Grünen ein. Dann kommen wir bei den Investitionen ein großes Stück weiter, und zwar in allen Bereichen, auf der Schiene, auf der Straße und auf den Wasserwegen. Wenn wir da weiterkommen, freuen wir uns sehr. Dann können unsere Mittel gut verwendet werden.
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Meine Damen und Herren, noch einmal kurz zurück zu den Kommunen. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir in der letzten Legislaturperiode zweimal 3,5 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt haben, einmal 3,5 Milliarden Euro für Kommunen, die finanziell schwächer sind, und dann noch einmal 3,5 Milliarden Euro für die Sanierung von Schulgebäuden, obwohl wir dafür nicht zuständig sind. Wir geben für den Kitaausbau 4,4 Milliarden Euro aus. Meine Damen und Herren, ich wäre sogar dafür, dass wir da noch ein Stück weit nachbessern, weil wir – das muss man sagen – die Forderungen stellen und die Kommunen sie umsetzen müssen. Da bin ich dabei; man muss darüber diskutieren, ob man da ein Stück weit nachbessern kann. Ich nenne den DigitalPakt Schule, den sozialen Wohnungsbau, die Umsatzsteuerpunkte und vieles mehr. Sogar für die Ganztagsschulbetreuung werden wir ein Sondervermögen von 2 Milliarden Euro zur Verfügung stellen.
Meine Damen und Herren, ich bin ganz froh, dass in der Föderalismusreform II diese Schuldenregel gesetzlich verankert worden ist, die vorschreibt, dass die Haushalte von Bund und Ländern grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen sind. Das geht jetzt, in einer guten Zeit, sehr gut. Die Einhaltung der Neuverschuldungsgrenze durch Bund und Länder trägt zu einer deutlichen und nachhaltigen Rückführung der gesamtstaatlichen Schuldenstandsquote bei. Auch für die kommenden Jahre wird von einer sinkenden Schuldenstandsquote ausgegangen.
Wir dürfen nicht vergessen, dass der Großteil der Investitionen in unserem Land – das wurde heute schon angesprochen – im privaten Sektor durchgeführt wird. Wir können nicht alles öffentlich schultern. Wir sollten den privaten Investoren die Möglichkeit geben, vernünftig zu investieren. Aber hier haben wir ähnliche Probleme: Es kann einfach nicht abgearbeitet werden. Wir befinden uns in einem Investitionshochlauf. Warum geht es beim Breitbandausbau oft nicht weiter? Weil die Baufirmen keine Kapazitäten dafür haben. Das ist das andere Thema. Wenn noch mehr Geld in den Topf kommt, eventuell noch mehr Geld ins Schaufenster gestellt wird, was passiert dann am Ende des Tages? Ich gönne es jeder Firma, dass sie viel Geld verdient; aber die Projekte kosten Unsummen, sodass Ausschreibungen zum Teil zurückgezogen werden. Das ist nicht nur beim Bund und nicht nur bei den Ländern so, das ist auch bei den Kommunen so, auch dort werden viele Ausschreibungen zurückgezogen.
Lassen Sie mich abschließend noch Folgendes sagen: Wenn ich die Anträge in Gänze lese – ich bin ein großer Freund des Föderalismus –, dann kommt mir eigentlich nur ein Gedanke: Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, denken an einen Zentralstaat, den wir in dieser Form nicht wollen. Die Anträge sind in Gänze abzulehnen.
Danke schön.
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Vielen Dank. – Ich möchte die Gelegenheit nutzen, die Zuhörer auf den Tribünen zu begrüßen, ganz besonders eine Delegation aus dem Parlament der Republik Kroatien. Herzlich willkommen im Deutschen Bundestag!
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Als letzter Redner in der Debatte hat das Wort der Abgeordnete Michael Schrodi für die SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit Finanzminister Olaf Scholz haben wir die Rekordinvestition von 43 Milliarden Euro auf den Weg gebracht. Deutschland steht finanziell gut da, weil wir Sozialdemokraten regieren und den Finanzminister stellen. Das ist erst mal eine gute Nachricht; das muss man an dieser Stelle auch deutlich sagen.
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Wir können aber auch feststellen, dass DGB und BDI gemeinsam sagen – das können wir auch in der Bevölkerung feststellen –: Wir haben einen Investitionsstau. Es ist schon gesagt worden: Bei den Kommunen sind es 140 Milliarden Euro. DGB und BDI gemeinsam fordern deshalb ein großes Investitionsprogramm von 450 Milliarden Euro. Meine Partei hat gesagt: Wir sehen die Problematik ähnlich. Wir wollen auch ein großes Investitionsprogramm. Wir bleiben aber nicht bei einer Beschreibung stehen. Wir arbeiten an Lösungen.
Klar: Es geht um die Frage, Altschulden bei den Kommunen abzubauen. Da gibt es einen, wie ich finde, sehr guten Vorschlag von Finanzminister Olaf Scholz. Herr Rainer, die Werftenkrise und die Kohlekrise hat Bayern gut überstanden. Klar, das Problem hatten wir nämlich nicht.
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Also sollten wir mit ein bisschen mehr Demut auf die Kommunen in den davon betroffenen Regionen schauen und ihnen helfen, dass sie investieren können; denn das Geld muss zu den Kommunen, damit die Mittel abfließen können.
Im Vordergrund steht für uns aber die Einnahmeseite. Deswegen war es gut, dass wir den Soli für Bezieher unterer und mittlerer Einkommen abgebaut haben, aber dass ihn die Spitzenverdiener weiterhin zahlen. Wir wollen mit diesem Geld in die Zukunft unserer Gesellschaft investieren. Deswegen war es gut, wie wir das gemacht haben.
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Genauso müssen wir über den Spitzensteuersatz und über die Vermögensteuer nachdenken, weil wir die Einnahmen für Investitionen brauchen. Das ist kein Selbstzweck.
Auf der anderen Seite höre ich von der CDU/CSU mehrmals, die wollen Steuern senken und gleichzeitig mehr investieren, zum Beispiel in Rüstung oder in Flugzeugträger, wie man von manchen hört. Das wäre eine tolle Nummer: aus Mindereinnahmen einerseits und Mehrausgaben andererseits solide Haushaltspolitik zu machen. Das wäre wahre Magie, vielleicht auch schwarze Magie. Die ist mit uns aber nicht zu machen.
Viel eher sähe das Haus Deutschland in 20 Jahren, wenn wir so weitermachen würden, folgendermaßen aus: Nachdem das Dach wegen zu geringer Investitionen undicht ist, scheitert der Versuch, den Handwerker anzurufen, weil immer noch kein ausreichendes Handynetz da ist und auch der Breitbandausbau nicht funktioniert. Wenn der Handwerker dann kommen will, dann schafft er es nicht bis zum Haus, weil Straßen und Brücken marode sind oder die Bahn nicht fährt. Das wollen wir nicht. Deswegen wollen wir weiterhin investieren und mehr in die Zukunft unserer Gesellschaft investieren.
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Deshalb nehmen wir die Debatte auf, die in der Bevölkerung, aber auch unter Ökonominnen und Ökonomen geführt wird. DGB und BDI führen sie genauso. Es sind nämlich nicht, Herr Fricke, unsere Worte, nicht unser Wunsch. Ich zitiere Ihnen jetzt den BDI – das tut Ihnen besonders weh,
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das weiß ich aus der Veranstaltung –:
Das Unterlassen der gebotenen Investitionen seitens des Staates würde unter den Zinsbedingungen und den skizzierten Produktivitätseffekten ... die Generationengerechtigkeit verletzen.
Das sagt der BDI: Wenn wir Investitionen unterlassen würden, würde das die Generationengerechtigkeit verletzen.
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Die Ökonomen Michael Hüther vom Institut der deutschen Wirtschaft und Jens Südekum von der Universität Düsseldorf plädieren dafür, die Schuldenbremse nicht abzuschaffen, sondern zu reformieren. Das sagen welche, die eigentlich Ihnen nahestehen. Das müsste Ihnen zu grübeln geben.
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Wir jedenfalls werden darüber nicht hinwegsehen.
Lassen Sie mich eins verdeutlichen: Schulden sind nicht per se gut. Sie sind aber auch nicht per se schlecht. Sie können volkswirtschaftlich sinnvoll sein und auch generationengerecht. Deswegen wollen wir die Debatte führen – aus Verantwortung für unser Land, damit es ein soziales, ein wirtschaftlich starkes und ein sicheres Land bleibt. Deswegen brauchen wir Investitionen, langfristig und unabhängig von der konjunkturellen Lage, in Bahn, in Bildung, in bezahlbaren Wohnraum, in Klimaschutz. Ich lade alle ein, diese Debatte zu führen: sachorientiert, fundiert und undogmatisch.
Deswegen machen wir heute keinen Schnellschuss. Wir lehnen den Antrag der Linken ab. Übrigens müssen Sie auch selbst mal erklären, wohin Sie wollen. Der ehemalige linke Finanzminister in Brandenburg kritisiert ganz scharf die Aufnahme neuer Schulden der Kenia-Koalition in Brandenburg.
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Da müssen Sie auch mal sagen, was Sie an dieser Stelle wollen.
Aber wir werden diese Debatte führen müssen, wenn es notwendig ist, auch die Rahmenbedingungen so gestalten, dass wir investieren können. Ich hoffe, dass die Union, wie Michael Hüther es sagt, sich nicht weiter einmauert, sondern diese Debatte ganz offen führt, damit wir gemeinsam in eine gute Zukunft gehen und in die Zukunft dieses Landes investieren können.
Danke schön für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mehrere Kilometer läuft die Ukrainerin Anna Iwanowna aus dem Separatistengebiet auf die ukrainische Seite und wieder zurück – bei Kälte, bei Frost, jeden Tag. Anna Iwanowna ist eine von rund 200 000 Personen, die jeden Monat, wöchentlich, täglich die Kontaktlinie über die Brücke von Stanyzja Luhanska überqueren, um zur Bank zu gehen, Medikamente zu kaufen oder Verwandte zu besuchen. Dutzende, besonders ältere Menschen sind auf dem beschwerlichen Weg, der viele Jahre nur über eine unsichere Holzrampe führte, sogar gestorben. Inzwischen ist diese Holzrampe verschwunden. Sie ist ersetzt worden durch eine neue Brücke. Seit November fahren dorthin sogar Shuttlebusse. Das alles klingt wie ein kleiner Schritt, aber es ist auch ein Symbol. Und für Tausende Menschen, die diese Brücke täglich nutzen können, ist es noch mehr als das; für sie ist es ein gewaltiger, ein großer Schritt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir heute hier über den Konflikt in der Ostukraine reden, dann reden wir nicht nur über einen Krieg in unserer unmittelbaren Nachbarschaft – allein das wäre schon schlimm genug –; wir sprechen über mittlerweile 13 000 Tote, 30 000 Verletzte und über 1 Million Flüchtlinge. Wir reden über 2 Millionen Menschen, die Gefahren von Minen und Kampfmittelresten ausgesetzt sind. Wir reden über die Millionen von Menschen im Donbass, die den sechsten Kriegswinter vor sich haben. Es geht zuallererst um diese Menschen, wenn wir über die Ostukraine reden, wenn wir vor allen Dingen zusammen mit Frankreich im Normandie-Format bei der Konfliktlösung zwischen der Ukraine und Russland vermitteln, und das seit Jahren. Es ist für diese Menschen auch ein Hoffnungssignal gewesen, dass am Montag in Paris erstmals seit 2016 wieder ein Gipfeltreffen im Normandie-Format stattgefunden hat. Und: Wir haben darauf lange hingearbeitet.
Ich sage aber auch: Am Ende war es vor allem Staatspräsident Selenskyj, der durch seinen Friedenskurs neue Bewegung in die Umsetzung des Minsker Abkommens gebracht hat. Das ist uns, als wir zur Vorbereitung im November in der Ukraine gewesen sind, noch einmal ganz besonders deutlich geworden. Präsident Selenskyj hat ukrainische Soldaten aus drei Entflechtungszonen in der Ostukraine abgezogen. Um das umzusetzen, ist er persönlich dort vor Ort gewesen.
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Gefangene wurden ausgetauscht, und es gab eine Einigung auf die sogenannte Steinmeier-Formel. Deshalb muss man, glaube ich, feststellen, dass die Ukraine in den letzten Wochen und Monaten mutige Schritte unternommen hat, und zwar auch gegen den politischen Widerstand im Inland, und damit ganz maßgeblich die Grundlage dafür geschaffen hat, dass wir wieder über den politischen Prozess bei der Beseitigung des Konfliktes in der Ostukraine sprechen.
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Meine Damen und Herren, aber der Frieden im Donbass erfordert mehr als nur den Willen der ukrainischen Regierung. Deshalb haben wir uns am Montag in diesem Format zusammengesetzt, um weitere operative Schritte und, besonders wichtig, konkrete Fristen für die Umsetzung zu verabreden. Denn Vereinbarungen gibt es aus dem Minsker Abkommen wahrlich genug. Das Problem war, dass sie in den letzten Jahren nicht mehr umgesetzt worden sind.
Am wichtigsten ist, dass keine weiteren Menschen sterben, dass nicht mehr geschossen wird. Selbst an dem Tag, als wir in Paris verhandelt haben, sind drei ukrainische Soldaten gestorben. Deshalb ist ein umfassender Waffenstillstand vereinbart worden; er soll vor Jahresende stehen und dauerhaft halten – im Gegensatz zu denen, die es in der Vergangenheit gegeben hat.
Die weitere Entminung und drei weitere Entflechtungszonen sollen zur Entspannung der Sicherheitslage beitragen; auch das ist dort sehr konkret vereinbart worden. Die OSZE-Sonderbeobachtungsmission in der Ostukraine mit ihren knapp 800 Beobachtern – darunter sind im Übrigen 40 Deutsche – ist oft behindert worden; auch da haben wir Vereinbarungen getroffen, damit das in Zukunft unterbleibt.
Ein wichtiges humanitäres Anliegen ist schon immer ein umfassender Gefangenenaustausch gewesen; auch das haben wir vereinbart, und zwar soll er noch vor Jahresende stattfinden. Möglichst viele Gefangene sollen das Neujahrsfest zu Hause zusammen mit ihren Familien verbringen können.
Für die Verbesserung der Lebenslage vor Ort sollen weitere Übergangsstellen über die Kontaktlinie sorgen – so wie die Brücke, die ich eben erwähnt habe; auch das ist in Paris vereinbart worden.
Die Gipfelvereinbarungen enthalten außerdem Punkte zum weiteren politischen Prozess. Zum Beispiel sollen Rechtsfragen zum Sonderstatusgesetz für die derzeit nicht regierungskontrollierten Gebiete geklärt werden. Zudem hat sich die Ukraine verpflichtet, die sogenannte Steinmeier-Formel in ukrainisches Recht umzusetzen. All das sind wichtige Schritte. Es ist auch ein politischer Erfolg, zu dem Deutschland und Frankreich beigetragen haben. Es ist vor allen Dingen aber ein spürbarer Erfolg für die Menschen vor Ort. Wir wollen weiter dafür kämpfen, dass das, was auf dem Papier steht, jetzt auch umgesetzt wird, dass es bei den Menschen, die schon viel zu lange unter diesem Krieg leiden, endlich ankommt.
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Meine Damen und Herren, wir werden das weiter begleiten; auch dafür sind konkrete Schritte vereinbart worden, zum Beispiel weitere Treffen auf der Ebene der Berater im Normandie-Format. Wir werden uns eventuell auch auf Außenministerebene schon zu Beginn des nächsten Jahres noch einmal zusammensetzen – der nächsten Gipfel findet bereits in vier Monaten statt; so haben wir es vereinbart –, um alle noch nicht geklärten Fragen einer Lösung zuführen zu können.
Aber allen Beteiligten ist klar, was auf dem Spiel steht, und das geht über die Ostukraine und die Ukraine hinaus. Frieden in der Ukraine spielt auch für die Beziehungen Europas zu Russland eine wichtige Rolle. Denn diese Beziehungen werden sich nur dann verbessern, wenn die Minsker Vereinbarungen endlich umgesetzt werden und die Souveränität der Ukraine wiederhergestellt ist.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, Russland hat seinen Beitrag in diesen Verhandlungen erbracht; aber ich will die Gelegenheit nutzen, noch eines zu sagen: Die heutige Entscheidung Russlands, zwei deutsche Diplomaten auszuweisen, kommt für uns alles andere als überraschend. Aber dennoch: Diese Entscheidung sendet das falsche Signal, und sie ist mit Blick auf die Sache völlig ungerechtfertigt. Wir erwarten deshalb weiterhin von Russland, dass man sich ernsthaft und unverzüglich an der Aufklärung des Mordfalls im Tiergarten beteiligt und daran mitwirkt. Wir werden das Verfahren beim Generalbundesanwalt verfolgen, und wir werden uns auch weitere Schritte vorbehalten.
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Meine Damen und Herren, auch dieser Vorfall zeigt, dass noch ein langer und mühsamer Weg vor uns liegt. Viele Fragen sind noch nicht beantwortet worden. Wie können demokratische Lokalwahlen im Konfliktgebiet stattfinden? Wie kann die Ukraine die vollständige Kontrolle über die eigene Grenze zurückgewinnen? Aber eines kann man sagen: dass wir am Montag in Paris alldem einen wesentlichen Schritt nähergekommen sind. Die Wahl von Präsident Selenskyj hat viel Bewegung in den Prozess gebracht, und es war richtig, diese Dynamik für einen neuen Aufbruch im Normandie-Format zu nutzen. Wohin dieser Aufbruch nun führen kann, dafür steht vielleicht sinnbildlich die Brücke von Stanyzia Luhanska. Sie ist jetzt gut passierbar geworden, nicht nur für Fußgänger, sondern im Notfall auch für Rettungswagen. Die Brücke wurde von beiden Seiten so gebaut, dass sie zu schmal ist, als dass in Zukunft Panzer noch darüber fahren können.
Als Anna Iwanowna gefragt wurde, was die Menschen in der Ostukraine jetzt noch brauchen, sagte sie: Frieden. – Ja, meine Damen und Herren, Frieden in der Ukraine ist möglich. Die Brücke von Stanyzia Luhanska sollte uns allen Mut machen, daran mitzuwirken, genau wie es Anfang der Woche in Paris geschehen ist. Wir werden weiter dafür arbeiten, dass dieser Konflikt in unserer Nachbarschaft ein Ende findet und dass der sechste Kriegswinter für die Menschen in der Ostukraine ihr letzter Kriegswinter gewesen ist.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Minister Maas. – Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, einen schönen Nachmittag! – Nächster Redner oder erster Redner aus den Reihen der Abgeordneten: Armin-Paulus Hampel für die AfD-Fraktion.
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Vielen Dank. – Frau Vorsitzende!
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Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen! Liebe Gäste im Deutschen Bundestag und zu Hause an den Bildschirmen! Große Schritte, Herr Außenminister, haben wir uns schon lange gewünscht, nur hat es nicht Berlin gemacht – es waren nicht die Deutschen –, es war der französische Staatspräsident, der das gemacht hat, was wir in Berlin hätten schon längst machen sollen. Macron hat das Heft des Handelns in dem Ukraine-Konflikt in die Hand genommen, nicht Berlin. Wir hätten uns gewünscht, Frau Merkel und Sie, Herr Maas, hätten das längst getan.
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Der französische Staatspräsident hat gezeigt, wie man Türen öffnet, wie man Perspektiven aufzeigt, und er hat erkannt, dass Druck und Sanktionspolitik besonders gegenüber Russland zu keinerlei Erfolg führen.
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Deutsche Diplomatie – Fehlanzeige.
Herr Selenskyj hat sich gut geschlagen. Er hat die Sorge konterkariert, dass er von Herrn Putin, dem erfahrenen Politiker, über den Tisch gezogen wird. Das ist nicht der Fall gewesen. Die jetzigen Beschlüsse – Gefangenenaustausch, weitere entmilitarisierte Zonen – bieten eine Chance, in der Tat.
Vor allem aber ist es entscheidend für die Lösung des Konfliktes, dass in vier Schritten vorgegangen werden muss: die Entwicklung von gegenseitigem Verstehen, die Entwicklung von gegenseitigem Respekt, die Entwicklung von gegenseitiger Rücksichtnahme und – das ist das allerwichtigste Instrument in der Diplomatie – die Entwicklung von gegenseitigem Vertrauen, meine Damen und Herren; das ist die Grundlage allen diplomatischen Handelns.
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Der ukrainische Konflikt – das muss man sich immer wieder in Erinnerung rufen – ist nicht entstanden; er wurde herbeigeführt. Er wurde herbeigeführt durch eine falsche deutsche Außenpolitik, und er wurde herbeigeführt durch eine falsche europäische Außenpolitik. Eine aggressive Expansionspolitik der Europäischen Union war der Auslöser des Ukraine-Konfliktes, meine Damen und Herren.
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Russlands Interessen und Einflusszonen wurden mit Füßen getreten. Geheime Zusatzabkommen – das wissen auch Sie, Herr Hardt –, auch auf militärischem Gebiet, wurden geschlossen sowie Zollabkommen,
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die die Russen nicht akzeptieren konnten. Damit haben Sie das Feuer in der Ukraine erst entfacht.
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Eine Lösung gemeinsam mit Russland muss nicht nur ukrainische Interessen berücksichtigen, sondern auch russische.
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Dies erfordert Kompromissbereitschaft auf beiden Seiten. Die verfassungsgemäß garantierte Autonomie des Donbass muss darin stehen und eine faire Abstimmung, übrigens auch auf der Krim.
Ich sage Ihnen eins: Das, was Sie alle hier Ihren ukrainischen Freunden nicht zu sagen wagen, man muss es den Ukrainern sagen: Die Krim ist für die Ukraine verloren. Sie wird nie wieder zur Ukraine zurückkehren.
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Das wäre Ehrlichkeit gegenüber unseren ukrainischen Freunden.
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– Das ist Realpolitik, Herr Kollege, und keine Traumpolitik.
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Aus dieser Perspektive ergeben sich Chancen. Wir haben nämlich genau das Gleiche gemacht, als wir das Kosovo von Serbien abgetrennt haben, und die UN-Resolution 1244 sagt heute noch – sie besteht noch –, dass die territoriale Integrität Serbiens anerkannt werden muss. Das haben Sie in den vergangenen Wochen hier immer wieder durch Ihre Abstimmungen ignoriert.
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Das wäre der Ansatzpunkt, um mit Russland zu einer Verständigung zu kommen. Die Macht des Faktischen ist, wie sie ist: Das Kosovo wird nicht zu Serbien zurückkommen; das wissen wir. – Es wäre ein Ansatzpunkt, den Russen anzubieten, dass wir das akzeptieren, und zu sagen: Ein Teil, die serbische Zone, kommt zu Serbien, und der Rest – das wissen wir – wird irgendwann bei Albanien landen.
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Genauso wird es mit der Krim sein. Sie wird bei Russland bleiben.
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Aber: Dafür gibt es eine Garantie, dass der Donbass und Luhansk in der ukrainischen Verwaltung bleiben und die Russen aus dieser Region ihre Einflusskräfte und militärischen Kräfte zurückziehen. Das wäre eine Lösung, mit der auch die Ukrainer vielleicht leben können. Wenn wir ehrlich sind mit unseren ukrainischen Freunden, müssen wir sie davon überzeugen, dass das die Macht des Faktischen ist. Wir werden es nicht mehr ändern können.
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Und jeder von Ihnen, der behauptet: „Die Krim wird noch mal zur Ukraine zurückkommen“, sagt den Ukrainern – das wissen Sie ganz genau – die Unwahrheit.
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Da spielen wir nicht mit.
Nutzen wir also die Perspektiven, die durch den französischen Staatspräsidenten, nicht durch Frau Merkel, in dieser Diskussion entstanden sind! Verhandeln wir, wie Herr Macron es richtig erkannt hat, mit Herrn Putin über die Situation! Das einzig Deutsche in den gesamten Diskussionen der letzten Tage, die ich gehört habe, war der Begriff, der mit dem Namen eines deutschen Politikers verbunden ist: Steinmeier-Formel. Alles andere war nicht deutsch, war französisch und russisch.
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Und wir haben wieder mal am Katzentisch gesessen, meine Damen und Herren. Das muss sich schleunigst ändern.
Wir wollen wieder eine eigene, nationale deutsche Außenpolitik im deutschen Interesse
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– das ist das Entscheidende –, auch gegenüber unseren russischen und ukrainischen Freunden.
Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren.
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Vielen Dank, Armin-Paulus Hampel. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Jürgen Hardt.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dieser Rede hat sich der Kollege der AfD für einen Job bei Russia Today empfohlen
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im Anschluss an seine Bundestagskarriere, die hoffentlich bald zu Ende ist.
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Wenn wir auf die sechsjährige leidvolle Geschichte dieses Konflikts blicken, müssen wir uns immer vor Augen führen: Wer ist hier Aggressor, und wer ist Opfer?
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Wir reden auch im Normandie-Format häufig darüber, dass beide Seiten sich bewegen müssen. Das ist natürlich richtig, wenn es um ein Verhandlungsergebnis geht.
Aber es ist schon angebracht, sich die Ereignisse vom März 2014 in Erinnerung zu rufen,
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als tatsächlich russische Truppen auf der Krim auf jedem ukrainischen Militärstützpunkt die russische Fahne hissten und dann wenige Wochen später in der Ostukraine aktiv wurden. Russland hat lange bestritten, sich in irgendeiner Weise einzumischen. Lawrow hat dann am Ende zugegeben, dass es mit den „kleinen grünen Männchen“ eine direkte Militärintervention in der Ostukraine gegeben hat.
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Leider sind 13 000 Menschen – mindestens 13 000 Menschen! – diesem Konflikt zum Opfer gefallen. Deswegen ist es gut, dass die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Staatspräsident, der Vorgänger des amtierenden und auch der jetzige Staatspräsident Macron, es als eines ihrer vornehmsten außenpolitischen Themen ansehen, über das N4-Format, das Normandie-Format, eine Lösung des Konflikts anzustreben.
Das, was wir in Paris erlebt haben, ist allein angesichts der vielen Opfer, die dieser Konflikt mit sich gebracht hat, ein Erfolg. Wenn wir tatsächlich einen Waffenstillstand erreichen – das heißt, es muss keiner mehr sterben in diesem Konflikt –, wenn wir tatsächlich den Austausch von festgesetzten Personen, wie es, glaube ich, im Dokument heißt – ich sage jetzt mal: von Gefangenen auf beiden Seiten, die als solche entsprechend identifiziert sind –, erreichen, ist das schon als Erfolg zu werten.
Jetzt haben wir mit Blick auf den Ukraine-Konflikt und mit Blick auf Zusagen insbesondere des russischen Präsidenten natürlich leidvolle Erfahrungen. Vor drei Jahren hier in Berlin bei dem letzten Gipfel im N4-Format ist auch einiges zugesagt worden. Doch die Tatsache, dass die vier verabredet haben, sich bereits in vier Monaten wiederzusehen, öffnet ja vielleicht die Perspektive, dass sie im Hinterkopf haben, dass sie dann liefern müssen, dass sie etwas mitbringen müssen. Deswegen glaube ich, dass wir es schon als positives Signal der Selbstbindung der Hauptakteure sehen dürfen, wenn sie sagen: Wir sind bereit, in vier Monaten zusammenzukommen und auf den Tisch zu legen, was wir auf Basis der Vereinbarung erreicht haben.
Waffenstillstand, Gefangenenaustausch, der Zugang internationaler Beobachter der OSZE zu dem gesamten Gebiet, nicht nur dann, wenn es den russischen Vasallen in der Ostukraine gefällt, sondern immer dann, wenn es die OSZE für richtig hält, sich eine Stellung anzuschauen, sich einen Zugang zur Grenze zu verschaffen, sind mächtige Fortschritte. Die Entflechtung wird zur Umsetzung des Waffenstillstands sicherlich positiv beitragen.
Was nach wie vor eine Forderung von Minsk II ist, die so noch nicht erfüllt ist und die vielleicht auch aufgrund der Vereinbarung so nicht erfüllt wird, ist der komplette Abzug schwerer Waffen auf der ostukrainischen Seite. Dass dazu im Augenblick nicht so viel gesagt wird, stimmt mich etwas argwöhnisch im Blick auf die Frage, ob uns diese Beschlüsse von Paris auch der Umsetzung von Minsk II wirksam näher bringen.
Ich glaube, dass wir spätestens in vier Monaten diese Frage schwer ins Auge nehmen müssen, und ich glaube, dass ganz konkret die Frage der Demilitarisierung dieses Gebietes, der Entwaffnung in den russisch kontrollierten Gebieten ganz wichtige Punkte sind. Auch wenn das, was in Paris beschlossen wurde, vollständig umgesetzt wird, sind wir noch nicht wirklich da, wo Minsk II uns hinbringen sollte.
Die vollständige Erfüllung von Minsk II ist die Voraussetzung für die Aufhebung der Sanktionen gegenüber Russland. Deswegen muss man leider auch nach Paris sagen: Dafür gibt es zum jetzigen Zeitpunkt seitens der EU keinen Anlass. Deswegen werden die Sanktionen auch in Kraft bleiben.
Russland betreibt, wie ich finde, auch eine bedenkliche Politik im Hinterland und hinter den Kulissen. Wenn, wie wir hören, 125 000 Menschen in der Ostukraine mit einem russischen Pass ausgestattet wurden,
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so ist das etwas, das zumindest gegen den Geist von Minsk verstößt und im Übrigen ein klarer Verstoß gegen das Völkerrecht ist. Damit tut der russische Staat etwas auf fremdem Staatsgebiet, was er so nicht tun darf. Insofern ist auch das ein Punkt, der mich nachdenklich stimmt.
Dennoch: Die beste Hoffnung begleitet uns, dass die Menschen in der Ostukraine zum ersten Mal seit sechs Jahren wieder ein einigermaßen friedliches Weihnachtsfest erleben dürfen.
Danke schön.
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Vielen Dank, Jürgen Hardt. – Nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion Renata Alt.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach drei Jahren gibt es endlich Bewegung im russischen Krieg gegen die Ukraine. Einige, auch hier aus dem Haus, sprachen schnell von einem Durchbruch. Zugegeben: Es tut sich was. Die Bürger in der Ukraine werden ein etwas leichteres Leben haben durch zusätzliche Grenzübergänge, durch die Räumung von Minen und durch den Gefangenenaustausch. Aber trotzdem: Meine Euphorie hält sich im Moment immer noch in Grenzen.
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Die Region befindet sich in einem dramatischen Ausnahmezustand. Es ist noch immer de facto ein Protektorat in der Ostukraine. Jetzt mal ehrlich: Wir können hier doch nicht von einem wahren Durchbruch sprechen.
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Geben wir uns keiner Illusion hin: Präsident Putin wird seinen Griff nach der Ukraine nicht freiwillig lockern. Er nutzt jede Schwachstelle, um Druck auszuüben, und stellt, wie auch gerade jetzt geschehen, einfach neue Forderungen. Wladimir Putin will eine Verfassungsänderung in der Ukraine. Er will die Ukraine von Europa fernhalten. Das geht gar nicht.
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Wir dürfen weder Putin noch seinen Marionettenrepubliken im Osten der Ukraine nachgeben. Für uns Freie Demokraten ist die territoriale Integrität der Ukraine nicht verhandelbar.
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Gerade jetzt braucht Präsident Selenskyj unsere volle Unterstützung. Europa darf nicht blauäugig sein. Sie, liebe Bundesregierung, müssen Russland und die Ukraine auf die gemachten Zusagen verpflichten: beim ungehinderten Zugang der OSZE-Beobachter im gesamten Donbass, beim Abzug der russischen Kämpfer an der Kontaktlinie und beim Gefangenenaustausch. Politische Häftlinge dürfen nicht weiter als Druckmittel genutzt werden.
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So testen wir, ob es Russland wirklich ernst meint mit dem Frieden. Erst dann wissen wir, ob Russland das zurückgibt, was der Ukraine gehört. Die Bundeskanzlerin sprach über die Flexibilisierung des Minsker Maßnahmenpakets. Sie sprach über die Ausdehnung des OSZE-Mandats auf den gesamten Donbass. Das freut mich; denn das sind gerade zentrale Gedanken unseres Antrags, mit dem die FDP-Fraktion schon im Mai neue Impulse für den Frieden in der Ukraine gefordert hat. Sehr geehrter Herr Bundesminister, ich hoffe, Sie lesen jetzt auch noch den Rest unseres Antrags.
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Wir Freie Demokraten sind gerne Impulsgeber für gute Außenpolitik.
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Meine Damen und Herren, Sie haben es bereits erkannt: Echten Fortschritt kann es nur durch Sicherheit geben. Es muss aber auch geklärt werden, wer in der Ostukraine wählen darf. Wenn es freie Wahlen gibt, dann müssen auch Binnenvertriebene wählen dürfen. Die Ideen Russlands zum weiteren Verlauf sind jedoch völlig illusorisch. Wie soll politischer Wettbewerb stattfinden, wenn russische Kämpfer die Bevölkerung einschüchtern? Wie sollen sich Wähler unabhängig informieren, wenn russische Propaganda die einzige Informationsquelle ist? Und wie sollen Waffenabzug und Feuerpause überwacht werden, wenn OSZE-Beobachter bedrängt, beschossen und bei der Arbeit behindert werden? Das sind zentrale Fragen, die immer noch offen sind. Hier ist auch das diplomatische Geschick Deutschlands gefragt. Die Ukraine zählt auf Sie, liebe Bundesregierung. Bohren Sie die dicken Bretter, von denen die Bundeskanzlerin und auch Sie persönlich, Herr Maas, gesprochen haben; denn sonst liegt das Schicksal der Ukraine weiterhin in Russlands Händen, und das dürfen wir nicht zulassen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Renata Alt. – Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Andrej Hunko.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir reden hier über die Ergebnisse des Normandie-Gipfels am Montag und über deren Bewertung. Die Frage, wie man das bewertet, ist letztlich auch immer eine Frage der Perspektive, und zwar auch der historischen Perspektive. Wenn wir vor zehn Jahren hier über die Lösung für einen Krieg mitten in Europa mit über 13 000 Toten diskutiert hätten – der Donbass liegt ja mitten in Europa –, dann wäre man wahrscheinlich für verrückt erklärt worden. Aus dieser größeren historischen Perspektive sind die Ergebnisse von Paris natürlich ernüchternd, weil die zentrale Frage, wie das Ganze politisch gelöst werden soll, noch nicht beantwortet ist. Aber aus der Perspektive der letzten drei, vier Jahre, denke ich, ist es ein großer Fortschritt gewesen, sind es große Schritte gewesen in die richtige Richtung, und Die Linke unterstützt jeden dieser Schritte.
({0})
Wir haben ja schon in den letzten Monaten positive Entwicklungen gesehen. Wir haben einen Gefangenenaustausch gesehen. Wir haben in der Ukraine militärische Entflechtungen an drei Punkten gesehen. Das alles ist ja erst möglich geworden durch einen neuen Präsidenten in der Ukraine. Vorher hieß es immer, Herr Außenminister, unter Poroschenko: All das ist nicht möglich. – Auf einmal ist es möglich geworden. Dafür will ich Herrn Selenskyj auch noch mal nachträglich gratulieren und danken, dass hier eine neue Perspektive eingenommen wurde.
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In Paris sind jetzt zusätzliche Punkte vereinbart worden, sehr konkret vereinbart worden. Es ist ein Gefangenenaustausch, alle gegen alle, geplant. Alle Gefangenen sollen ausgetauscht werden. Es sind weitere konkrete Entflechtungspunkte benannt worden. Es ist ein vollständiger und umfassender Waffenstillstand vereinbart worden, und – vielleicht am wichtigsten – es ist ein konkreter Folgegipfel vereinbart worden – er soll in vier Monaten stattfinden – auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs, der sozusagen den Druck macht, dass diese Punkte umgesetzt werden. Ich glaube, es ist unglaublich wichtig, dass es zu einer Umsetzung kommt, weil das sozusagen die Vertrauensbildung schafft für die eigentlich große Aufgabe von Minsk II, nämlich die politische Lösung des Konflikts im Donbass.
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Ich denke, angesichts dieser Fortschritte – Angela Merkel sprach ja in Paris sogar von einem Durchbruch – sollte man wirklich darüber nachdenken, ob man nicht die jetzt anstehende Verlängerung der Sanktionen gegen Russland infrage stellt.
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Denn diese Sanktionen wurden ja explizit immer mit der Frage der Umsetzung von Minsk II in Verbindung gebracht.
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Hier gibt es jetzt Bewegung, und da wäre es natürlich auch sinnvoll, dass es Bewegung in dieser Frage gibt.
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Einen Punkt will ich auch noch ansprechen: Die Menschen im Donbass sind in diesem Prozess ja weitgehend Objekte. Sie sitzen nicht mit am Tisch. Herr Maas, Sie haben sehr eindrücklich Einzelschicksale dargestellt. Ich finde, man müsste auch schauen, wie die Menschen im Donbass hier möglichst politisch partizipieren können. Das fände ich auch sehr wichtig.
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Ein weiterer Punkt. Wenn wir hier Fortschritte konstatieren, sollte bei den folgenden Reisen des Bundestages im Jahre 2020 – es stehen ja einige an – die Frage berücksichtigt werden, ob wir nicht explizit auch in die Region fahren, um dort ein Signal zu setzen.
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– Das kann man ja hinkriegen.
Es ist hier oft die Steinmeier-Formel angesprochen worden. Ich glaube, das ist das eigentlich dicke Brett, von dem hier die Rede war, das eigentliche Problem, das gelöst werden muss. Sie beinhaltet ja drei Punkte: erstens einen Sonderstatus für den Donbass – dazu braucht es eine Verfassungsänderung; das ist keine neue Forderung –, zweitens Wahlen unter OSZE-Beaufsichtigung und drittens die Wiedererlangung der Grenzkontrolle durch die Ukraine. Das muss natürlich in einem entsprechenden Maße aneinander gekoppelt werden, und das ist der eigentliche Inhalt der Steinmeier-Formel. Es wäre dann sozusagen die Aufgabe des nächsten Gipfels, das tatsächlich in die Tat umzusetzen. Dafür wünschen wir dann auch viel Erfolg.
Einen letzten Satz will ich aber noch sagen: Dass diese positive Entwicklung jetzt durch den Tiergarten-Mord überlagert wird – es ist ja nicht nur so, dass die russische Seite heute zwei Diplomaten ausgewiesen hat, sondern auch die deutsche Seite hat im Vorfeld zwei russische Diplomaten ausgewiesen –,
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wobei die Bundeskanzlerin zu dem Ganzen sagte: „Wir haben im Augenblick einen Anfangsverdacht des Generalbundesanwalts, nicht mehr und nicht weniger“, halte ich für eine unglückliche, um es sehr freundlich zu formulieren, Überlagerung dieses Prozesses. Auch hier muss die Unschuldsvermutung gelten wie in jedem Rechtsstaatsprozess.
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Deswegen, denke ich, wären keine weitere diplomatische Eskalation und Kooperation von allen Seiten in dieser Frage wünschenswert.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Andrej Hunko. – Nächster Redner: für Bündnis 90/Die Grünen Manuel Sarrazin.
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Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In der Ostukraine herrscht seit fünf Jahren ein grausamer Krieg, ein Krieg, der vom Zaun gebrochen wurde durch den Kreml, der als Interventionskrieg mit regulären russischen Truppen geführt wurde und heute komplett von Putins engstem Umfeld, von Herrn Surkow und den von Putin abhängigen Warlords in Donezk und Luhansk, gesteuert wird, gegen einen souveränen unabhängigen europäischen Staat, gegen die Ukraine,
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dessen Grenzen Russland selber im Jahr 1994 garantiert hat.
Wenn Sie, Herr Hampel, sagen, das Ergebnis dieses Krieges zu akzeptieren, sei Realpolitik,
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dann befinden Sie sich nicht nur in sehr schlechter historischer Kontinuität mit anderen deutschen Parteien, dann säen Sie auch den Samen aus für neue Kriege und neues Leid. Das ist die Politik der AfD in diesem Haus.
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Das Leid der Menschen an der Kontaktlinie ist ganz einfach zu beschreiben. Es ist nicht so, dass die positiven Erfolge, die wir jetzt haben, ohne Probleme sind. Wenn ein Dorf wie Solote-4 entflechtet wird, heißt das, dass in dem Ort keine Sicherheit durch das Militär mehr gewährleistet ist. Aber wir haben schon heute keine Polizei dort. Wenn jetzt in Solote-4 eine Frau vergewaltigt wird, gibt es keine Polizei, keine Staatsanwaltschaft, keine Gerichte. Wir weiten durch die Entflechtung – zum Glück, damit weniger geschossen wird – die Graue Zone auf. Aber schon jetzt zeigt sich: Die Frage, wie Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit dann garantiert werden sollen, ist wirklich drängend. Das wird bei der Frage, wie man Wahlen organisiert, erst recht drängend werden. Wir müssen in die Situation kommen, dass, wenn wir Richtung Frieden gehen, die Menschen im Donbass eine Antwort auf die Frage erhalten, wie dann ihre Sicherheit gewährleistet werden wird. Das ist eine drängende Frage. Ich glaube, dass wir da in den kommenden Monaten auch deutsches Engagement brauchen.
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Die Sicherheit wird im Moment zwar durch das Verhalten der ukrainischen Seite verbessert, aber die russische Seite hat bisher noch nichts in den Prozess investiert.
Die sogenannten Volksrepubliken haben letzte Woche beschlossen, ihre Staatsgrenzen seien die Grenzen der Oblaste Donezk und Luhansk, lägen damit also weit in bisher regierungskontrolliertem Gebiet. Die Beschusszahlen haben im Vorfeld der Verhandlungen deutlich zugenommen. Die Ausgabe russischer Pässe hat zugenommen. Die ökonomische Verquickung der Assets in den besetzten Gebieten mit russischen Oligarchen aus dem Umfeld von Herrn Putin hat zugenommen. Herr Putin setzt darauf, dass nur Selenskyj sich bewegt, wartet ab, spielt den Nice Guy, sitzt am Tisch und zeigt allen: Ich bin ja willig. – Aber liefern tut er bisher nicht. Das dürfen wir Herrn Putin auf Dauer so nicht durchgehen lassen.
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Dazu gehört, darauf zu achten, dass die Zusage, die die russische Seite gemacht hat, bezüglich des Waffenstillstandes und des Mandates der OSZE, eingehalten wird. Es ist ja nicht das erste Mal, dass ein Waffenstillstand vereinbart wurde. Es ist auch nicht das erste Mal, dass betont wurde, dass die OSZE überall hinkommen darf. Wir werden mit spitzem Finger darauf achten, ob das passiert. Ich bin gespannt, ob die Jungs in Luhansk die OSZE-Beobachter wirklich in die Häfen am Asowschen Meer lassen. Ich wette mit Ihnen, das wird nicht stattfinden. Dann müssen auch wir aus Berlin das klar benennen und bei Putin vorstellig werden und sagen: Jetzt haltet euch daran. Es darf nicht mehr geschossen werden, und ihr müsst die OSZE ihre Arbeit machen lassen.
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Was die Bundesregierung außerdem machen muss, ist, dass sie jetzt Herrn Selenskyj politisch den Rücken stärkt. In den Gasverhandlungen mit Russland muss Selenskyj jetzt darauf bauen können, dass Deutschland hinter ihm steht, sowohl, um weiterhin einen relevanten Transit von Gas durch die Ukraine zu gewährleisten, als auch bei den Reformen sowie den Bemühungen, dem Osten die Hand auszustrecken; dabei geht es um humanitäre Hilfe entlang der Kontaktlinie und die Frage, wie die Ukraine die Renten auch in den besetzten Gebieten auszahlen kann. Wir müssen uns fragen, wie man gemeinsam – Deutschland, die EU – der Ukraine die Hand ausstrecken kann, sodass die Menschen in den Gebieten im Osten der Ukraine wissen: Ihr müsst euch nicht auf Putin verlassen, wir denken auch an euch. – Ich würde mir wünschen, dass Deutschland hier eine Rolle spielt, und ich hoffe auf Ihre Arbeit, Herr Außenminister, und natürlich auch der gesamten Regierung.
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Eins ist noch ganz wichtig: Wenn wir wirklich dazu kommen wollen, wie Andrej Hunko gesagt hat, in diesem Prozess eine Vertretung der Menschen im Donbass zu haben statt dieser kriminellen Warlords, die sich heute als Staatsoberhäupter bezeichnen,
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die nichts anderes machen, als die Menschenrechte mit Füßen zu treten und geheime Folterknäste bei sich zu haben, ohne jede Rechtsstaatlichkeit, dann müssen wir dafür sorgen, dass Wahlen stattfinden. Aber Wahlen um jeden Preis sind keine Wahlen, die Frieden bringen. Es müssen freie, faire, demokratische Wahlen sein, bei denen jeder kandidieren darf, bei denen jeder seine Zettel verteilen darf – von den Kommunisten bis zu Selenskyj –, und nicht Wahlen, wie wir sie in Moskau oder St. Petersburg in diesem Jahr erlebt haben. Ich habe großen Zweifel daran, dass Herr Putin in der Lage sein wird, diesen Schritt mit uns zu gehen. Deswegen ist ein gesundes Maß an Skepsis sicherlich richtig.
Danke sehr.
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Vielen Dank, Manuel Sarrazin. – Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Dr. Barbara Hendricks.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach meiner Auffassung können die Ergebnisse der Gespräche in Paris durchaus als Erfolg gewertet werden. Nach drei Jahren, in denen es keinen Austausch in diesem sogenannten Normandie-Format gab, konnten in dieser Woche auf Betreiben Deutschlands und Frankreichs wichtige Schritte hin zu einem dauerhaften Frieden erreicht werden. Herr Abgeordneter Hampel, es ist gut, dass Deutschland und Frankreich dabei zusammenarbeiten. Es geht auch nicht um eine nationale Außenpolitik, sondern es geht um ein gemeinsames europäisches Wirken in den Bereichen, in denen wir als Europäer gebraucht werden.
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Seit nunmehr fünf Jahren herrscht Krieg im Osten der Ukraine. Dabei sind die Dimensionen des Konfliktes komplex und – wir sollten uns nichts vormachen – nur durch Beharrlichkeit und beständige Ausdauer in Verhandlungen zu lösen. Mit den nun vereinbarten Zwischenergebnissen, muss man sagen, sind die Ukraine und Russland dennoch einen wichtigen Schritt in Richtung Frieden gegangen.
Bis Ende des Jahres wird es einen Gefangenenaustausch nach dem Motto „Alle gegen alle“ geben, also beide Konfliktparteien werden alle Gefangenen zurückkehren lassen. Überwacht und durchgeführt wird der Austausch über das Internationale Komitee vom Roten Kreuz.
Bis zum Jahreswechsel soll auch ein vollständiger Waffenstillstand durchgesetzt werden, der künftig rund um die Uhr überwacht werden wird. Ich hoffe sehr, dass der Waffenstillstand durch eine engere Überwachung seitens der OSZE diesmal von Dauer sein wird. Was wir dazu beitragen können, auch im Rahmen der OSZE, werden wir natürlich zur Verfügung stellen. Letztlich sind es aber die Konfliktparteien, die dafür Sorge zu tragen haben, dass die Kämpfe endlich aufhören.
Zur Einhaltung des Waffenstillstands soll auch die weitere Truppenentflechtung entlang der Frontlinie bis Ende März dienen. Ja, Herr Kollege Sarrazin, ich stimme Ihnen zu: Diese Entflechtung darf nicht dazu dienen, dass es Zonen ohne Sicherheit gibt, sondern an die Stelle müssen natürlich anerkannte Sicherheitskräfte treten. Auch dort kann die OSZE hilfreich sein.
Besonders die Zivilbevölkerung im Donbass und in den weiteren Teilen der östlichen Ukraine leidet unter der Auseinandersetzung. Wir alle kennen die Ausmaße, die das zum Teil angenommen hat. Ich will das den Bürgerinnen und Bürgern noch einmal an einem Beispiel erklären: Da der Geldverkehr zwischen der Ukraine und den selbsternannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk eingestellt ist, müssen zum Beispiel Rentnerinnen und Rentner weite Wege auf sich nehmen. So müssen sie jeden Monat den von den Separatisten kontrollierten Teil des Landes verlassen und die Frontlinie überqueren, um ihre Rente an ukrainischen Geldautomaten abheben zu können. Bislang ist dies ein äußerst mühsames Unterfangen, da es nur wenige Möglichkeiten gibt, diese abtrünnigen Provinzen an Checkpoints zu verlassen. Daher wurde jetzt in Paris beschlossen, innerhalb der kommenden 30 Tage weitere Übergangsmöglichkeiten für Zivilisten zu öffnen. Also: Das wird den Rentnerinnen und Rentnern helfen, obwohl es immer noch sehr mühsam ist und eigentlich nicht geht, wie es dort gehandhabt wird. Es wird nur ein bisschen erleichtert.
Ebenso einigte man sich darauf, die Minenräumung voranzutreiben.
Die Maßnahmen lösen zwar den eigentlichen Konflikt nicht, machen jedoch das Leben für die Menschen in der Region erträglicher.
Nicht nur für die Bevölkerung in den umkämpften Gebieten ist dauerhafter Frieden in der Region von elementarer Bedeutung. Auch die zukünftige Zusammenarbeit mit Russland und die weitere Ausgestaltung der Sicherheitsarchitektur Europas werden vom Ausgang des Konfliktes beeinflusst werden. Das Erreichte mag vor dem Hintergrund der festgefahrenen Lage nur ein kleiner Schritt sein. Es zeigt aber, dass es sowohl vonseiten Russlands als auch der Ukraine offenbar die Bereitschaft gibt, den Status quo zu verändern; wir hoffen jedenfalls, dass das für beide Seiten gilt. Gleichzeitig zeigen die Ergebnisse auch, dass Deutschland und Frankreich zusammen eine Außenpolitik der Diplomatie bestreiten, die das Ziel von Sicherheit und Stabilität in Europa hat.
Keine Frage: Es wird noch viel Zeit und erhebliche diplomatische Kraftanstrengungen erfordern, bis der Donbass befriedet ist. Ich sehe die Region nach den Gesprächen in Paris immerhin auf einem besseren Weg als in den vergangenen Jahren.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Barbara Hendricks. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion: Dr. Anton Friesen.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Liebe Bürger! Deutschland spielt für die Ukraine als wichtiger Partner eine besondere Rolle – bei der Anerkennung der ukrainischen Unabhängigkeit vor über 100 Jahren genauso wie heute. Diesen Worten des ukrainischen Botschafters Dr. Andrij Melnyk kann man nur zustimmen.
Deutschland hat ein grundlegendes Interesse an einer stabilen Ukraine und an einer europäischen Friedensordnung mit Russland. Alle politischen Entwicklungen sollten sich an diesem Maßstab orientieren. Bei den Ergebnissen des jüngsten Normandie-Gipfels kann man in diesem Sinne vorsichtig optimistisch sein. Zunächst einmal ist es ein Erfolg, dass die beiden Seiten überhaupt miteinander sprechen. Das letzte Treffen im Normandie-Format fand bekanntlich im Oktober 2016 statt. Damals hieß der ukrainische Präsident Petro Poroschenko. Unter der Deckung der Vereinigten Staaten und seiner persönlichen Freundin Frau Merkel gelang es Poroschenko, jegliche Fortschritte bei der Umsetzung von Minsk II zu verhindern.
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Aus dieser selbstverschuldeten Sackgasse befreite sich und sein Land der neue Präsident Selenskyj. Er war es, der bereits im Wahlkampf den Herzenswunsch der überwältigenden Mehrheit des ukrainischen Volkes nach Frieden in der Ostukraine aufgriff.
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Innerhalb eines halben Jahres gelangen unter seiner Führung mehr Fortschritte bei der Konfliktlösung als in fünf Jahren Poroschenko:
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der ukrainisch-russische Gefangenenaustausch, die angekündigte Umsetzung der Steinmeier-Formel und natürlich auch der Normandie-Gipfel. Wie so oft bei internationalen Verhandlungen über Friedensprozesse sind es kleine Schritte, die von allen Seiten gemeinsam gegangen werden müssen. Dazu zählen natürlich die Ausdehnung der OSZE-Beobachtermission, die Truppenentflechtung, der Gefangenenaustausch und nicht zuletzt auch der Normandie-Gipfel, der innerhalb von vier Monaten hier in Berlin stattfinden soll und bei dem es vor allem um die Durchführung von Regionalwahlen im Donbass gehen wird.
Hier steckt der Teufel jedoch im Detail: Laut dem Minsker Abkommen sollen die Wahlen vor der Übernahme der Grenzkontrolle durch die Ukraine stattfinden. Aus ukrainischer Sicht sollte es genau umgekehrt sein. Ein Kompromiss könnte darin bestehen, eine neue Spezialmission der OSZE einzurichten, die die Grenzkontrolle wahrnimmt, wie es auch der ukrainische Außenminister vorgeschlagen hat.
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Dies wäre sicherlich auch für die russische Seite gesichtswahrend.
Der Donbass ist und bleibt ein integraler Bestandteil der Ukraine. Damit er wieder vollständig in den ukrainischen Staat integriert wird, braucht es jedoch nicht nur Fortschritte auf internationaler Ebene. Der ehemalige polnische Außenminister Waszczykowski hat es auf den Punkt gebracht: Zentral ist die wirtschaftliche und soziale Attraktivität der Ukraine selbst. Hierzu hat der Ost-Ausschuss – Osteuropaverein der Deutschen Wirtschaft – kürzlich wichtige Vorschläge gemacht wie die Einrichtung einer Sonderwirtschaftszone in der Ostukraine, eine internationale Investitionskonferenz und einen internationalen Wiederaufbaufonds. Präsident Selenskyj wiederum hat angekündigt, den Bezug von Renten auch den vielen Senioren im Donbass zu ermöglichen. Die Blockadepolitik Poroschenkos, welche nur die Spaltung der Ukraine verschärft hat, ist damit endgültig passé.
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Deutschland sollte Selenskyj bei seinen konstruktiven und mutigen Schritten unterstützen. Wir sollten auf jeden Fall darauf hinwirken, dass mit den Fortschritten bei der Umsetzung von Minsk II auch die Sanktionen schrittweise aufgehoben werden.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Friesen. – Nächster Redner: für die CDU/CSU Frank Steffel.
({0})
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mehr als fünf Jahre nach Ausbruch des Krieges in der Ostukraine lassen die Bemühungen – das wurde zu Recht mehrfach betont – um eine Konfliktlösung in der Tat hoffen. Für die Menschen in der Ostukraine können die Beschlüsse des Gipfels vom Montag eine Erleichterung sein: Waffenstillstand noch in diesem Jahr, weitere Entflechtung, der Rückzug von Truppen und schwerer Waffen. Auch der Austausch von Gefangenen macht Hoffnung. Auf den ersten Blick ist das zweifelsfrei eine positive Entwicklung, und wir hoffen, dass sich nun endlich einmal alle Beteiligten, insbesondere die russische Seite, an diese Verabredungen halten.
Insbesondere in Richtung der Kollegen der AfD möchte ich aber sagen: Es ist blanker Zynismus, wenn Sie und auch Putin beteuern, Russland werde alles tun, um einen Frieden zu erreichen. Russland und Putin persönlich tragen die Hauptverantwortung dafür, dass der Krieg in der Ukraine mehr als 13 000 Menschenleben gefordert und über 1 Million Menschen zur Flucht gezwungen hat.
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Der russische Schachweltmeister Garri Kasparow hat mit Blick auf seinen Präsidenten zu Recht gesagt: Diktatoren fragen nie: Warum? Sie fragen immer nur: Warum nicht? – Der Schlüssel für einen Frieden – darauf will ich heute hier ausdrücklich hinweisen, auch nach den Gesprächen vom Montag – liegt unverändert und weiterhin in Moskau. Auf dieses Ziel muss und sollte sich die europäische Verhandlungsstrategie konzentrieren, nicht auf ein Nachgeben der Ukraine; das wird im Zweifelsfall ohnehin stattfinden.
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Vielmehr sollte man sich darauf konzentrieren, dass Russland seinen Beitrag leistet.
Die Sanktionen, Herr Hampel, sind zweifelsfrei richtig,
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aber alleine sie sind noch keine Strategie; da sind wir uns, glaube ich, in diesem Hause einig. Die Frage ist nur: Was wäre die Alternative? Was würden wir überhaupt tun außer reden, wenn andere Länder angegriffen werden und vor unserer Haustür Truppen einmarschieren? Denn während der Ukraine, dem Opfer der Aggression, unverändert viel abverlangt wird – Selenskyj war dazu ja auch bereit –, wird der Angreifer von Zumutungen weitgehend verschont.
Ich möchte auch das heute ausdrücklich noch einmal sagen: Die Forderung nach dem Abzug der russischen Truppen findet sich auch dieses Mal in der Pariser Erklärung nicht. Dabei müsste das in einer Situation wie in der Ostukraine eigentlich völlige Normalität sein. Es gibt auch kein Wort zur Krim, außer den sehr zynischen Worten, die die AfD-Fraktion hier eben verbreitet hat. Hier scheint die Europäische Gemeinschaft auch einfach einmal darüber hinwegzusehen, dass vor einigen Jahren russische Truppen in ein fremdes Land einmarschiert sind und wir alle uns schlicht und ergreifend kaum noch trauen, darüber laut zu sprechen.
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Das größte Hindernis, nämlich der Einmarsch der russischen Truppen und der damit verbundene Abzug der russischen Truppen, wird in dem Dokument mit keinem Wort erwähnt.
Für die Ukrainer ist der Krieg ein Hindernis auf dem Weg, ein wirtschaftlich und sozial erfolgreicher Teil Europas zu werden. Für Russland hingegen, meine Damen und Herren, ist der Krieg das Mittel, genau diesen wirtschaftlichen und sozialen Erfolg in der Ukraine zu verhindern. Ein Erfolg der Ukraine würde das System Putin nämlich in Russland auf innenpolitischer Ebene herausfordern. Eine positive Entwicklung der Ukraine als ehemaliger Flächenstaat der Sowjetunion zu einem erfolgreichen Nationalstaat würde deutlich machen, wozu die russische Politik für die russische Bevölkerung führt und wozu Europa in der Lage ist, wenn es in freien und geheimen Wahlen Demokratie nicht nur organisiert, sondern sie danach auch marktwirtschaftlich und mit allen Menschenrechten so durchsetzt, wie wir das in Europa tun.
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Ein Erfolg der Ukraine, meine Damen und Herren, würde übrigens auch die europäische Sicherheitsordnung verändern, ja, das wäre vielleicht gerade ein Schlüssel dazu. Um dieser Verantwortung gerecht zu werden, empfehle ich auch uns Europäern, unsere Ostpolitik in der Ukraine kritisch zu überdenken und die Ukraine nicht wie alle anderen Länder östlich von uns zu behandeln, sondern uns der strategischen Bedeutung und der Verantwortung sehr bewusst zu sein.
Putin deutet alles in seiner ideologischen Weise um. Die Entscheidung der Welt-Anti-Doping-Agentur, Russlands Staatsdoping zu sanktionieren, hat aus seiner Sicht ausschließlich politische Gründe. Nach dem Tod der Ehefrau, des Sohnes, des Bruders bezeichnete Putin die beinahe tödliche Vergiftung des ehemaligen russischen Geheimdienstmitarbeiters Skripal und seiner Tochter in Großbritannien als inszenierte Aktion der Briten. Und ganz aktuell: Die Vorwürfe, der russische Geheimdienst habe einen Auftragskiller nach Berlin geschickt, streitet Putin gar nicht ab, sondern er beschreibt stattdessen das Opfer als Terroristen und Banditen und begründet indirekt, warum es eigentlich richtig wäre, diesen Menschen, wo immer er sich auch befindet, einfach mal umzubringen.
Herr Steffel, bitte.
Sofort, Frau Präsidentin.
Ja, sofort!
Schuld sind für Putin immer die anderen. Er definiert sein eigenes Recht, hält sich nicht an Vereinbarungen und hält auch die Grenzen anderer Staaten nicht ein.
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Wie verhandelt man mit so einem? Das kommentiert die „Süddeutsche Zeitung“ heute, wie ich glaube, zu Recht so: Indem man genau das alles beim Verhandeln nicht vergisst.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Steffel. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Johannes Schraps.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ein knappes Jahr ist es jetzt her, da war ich gemeinsam mit meinem Kollegen Frank Schwabe auf einer Delegationsreise in der Ukraine. Wir haben dort unter anderem den Übergangspunkt Majorske, direkt an der Kontaktlinie zu den Separatistengebieten, besucht und haben vor Ort einen Eindruck davon gewinnen können, was es bedeutet, mitten in einem bewaffneten Konflikt unterwegs zu sein:
Wir haben dort lange Schlangen mit Tausenden Menschen erlebt, die zu Fuß am Checkpoint auf den Übertritt über eine Grenze gewartet haben, die es vorher nicht gab.
Wir mussten Granateinschläge erleben, nur wenige Hundert Meter entfernt von uns, die uns ziemlich haben zusammenzucken lassen. Der Kommentar der begleitenden Militärs: Machen Sie sich mal keine Sorgen. Die wollten nur zeigen, dass Sie wissen, dass sie da sind. – Im Gegensatz zu uns sind die Menschen, die in den Schlangen an dem Checkpoint gewartet haben, nicht zusammengezuckt, überhaupt nicht. Für sie waren die Kampfgeräusche ganz offensichtlich Alltag.
Diese Erlebnisse am Checkpoint Majorske haben mich tief erschüttert und nachhaltig Eindruck hinterlassen, auch weil sie so deutlich vor Augen führen, wie fragil das friedliche Umfeld ist, in dem wir uns auch hier in Deutschland so selbstverständlich bewegen: dieser Frieden, der Kunst und Kultur möglich macht, wie zum Beispiel die tollen Aufführungen der Freilichtbühne Osterwald in meinem Wahlkreis im Weserbergland. Das Ensemble ist hier zu Gast und hat gerade auf der Tribüne Platz genommen.
Die ausgelassene Stimmung, die man noch vor einigen Jahren in der Ukraine in einem friedlichen Umfeld bei der Fussballeuropameisterschaft, die gemeinsam mit Polen ausgerichtet wurde, erleben durfte, ist heute, liebe Kolleginnen und Kollegen, zumeist Frust und Resignation gewichen. Es wäre deshalb schlimm, wenn wir die Situation in der Ukraine einfach so hinnehmen würden, wenn der Krieg in der Ostukraine als Frozen Conflict langfristig Bestand hätte, ohne Perspektive auf Veränderung und ohne Perspektive auf Verbesserung. Dieser Konflikt ist gar nicht so frozen, weil – das hat der Außenminister zu Recht gesagt – immer noch jeden Tag geschossen wird.
Auch deshalb halte ich es für ungemein wichtig, dass nach mehr als drei Jahren endlich wieder ein Treffen im Normandie-Format stattgefunden hat.
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Alleine die Tatsache, dass die Regierungschefs der Ukraine und Russlands wieder an einem Tisch sitzen, ist ein wichtiges Zeichen.
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Es ist gut, dass wieder über eine friedliche Lösung des Donbass-Konflikts gesprochen wird. Und ich bin Bundesaußenminister Heiko Maas wirklich dankbar – du hast recht, Manuel Sarrazin, natürlich lobe ich den Außenminister –, weil er einen maßgeblichen Anteil daran hatte, dass diese Gespräche zustande kamen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Revolutionär oder ein Durchbruch, liebe Kollegin Alt, waren die Ergebnisse des Gipfels sicherlich nicht. Das hat der Außenminister hier aber auch gar nicht behauptet. Ich glaube, in Anbetracht der aktuellen politischen Lage konnte das auch niemand erwarten. Dennoch gab es einige positive Aspekte – viele davon sind hier schon angesprochen worden –:
Zum einen sind sicher der vereinbarte Gefangenenaustausch und die weitere Truppenentflechtung an drei ganz konkreten Punkten entlang der Konfrontationslinie zu nennen. Auch wenn es keine Einigung auf eine Entmilitarisierung der Pufferzone gab, kann der erreichte Kompromiss das Ziel einer vollständigen Waffenruhe im Donbass doch ein wenig näher bringen.
Zum Zweiten ist es wichtig, dass sich alle Seiten darauf verständigt haben, den Verhandlungsprozess weiter aufrechtzuerhalten. In spätestens vier Monaten will man sich erneut zusammensetzen und zu einem Gipfel treffen. Dann wird es hoffentlich weitere konkrete Ergebnisse geben.
Drittens. Die Bestätigung der Steinmeier-Formel, die hier schon mehrfach angesprochen worden ist, ist aus meiner Sicht ein Signal, dass man ganz rational einen Plan verfolgen möchte, um gemeinsam zu Lösungen zu kommen, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen. Natürlich liegt hier die Schwierigkeit im Detail; das wissen wir. Bei der Interpretation der Steinmeier-Formel gehen die Meinungen der Ukraine und Russlands an einem maßgeblichen Punkt auseinander: Die Ukraine hält Wahlen erst nach Abzug aller ausländischen Truppen, im Rahmen ukrainischer Gesetzgebung und unter Kontrolle der OSZE für möglich. Putin wiederum will zuerst in der Region abstimmen lassen und der Ukraine dann erst wieder die Kontrolle über ihre Grenzen gewähren. – Die konkrete Durchführung von Wahlen im Donbass ist unter diesen Umständen schwierig. Das stellt, glaube ich, keiner infrage. Dennoch ist es wichtig, dass es eine konkrete Zielformulierung gibt, Wahlen durchführen zu wollen und auch weiter darüber zu verhandeln.
Mit dem neuen ukrainischen Präsidenten ist bei aller Skepsis, die ihm gerade auch zu Beginn seiner Amtszeit entgegengebracht wurde, wieder Bewegung in die festgefahrene Sache gekommen. Selenskyj hatte bereits während seines Wahlkampfes angekündigt, dass er in direkte Verhandlungen mit Putin eintreten möchte. Das macht er jetzt. Das ist anzuerkennen und aus meiner Sicht auch ganz klar zu begrüßen.
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Es gibt starke Stimmen des Protests in der Ukraine – das sollten wir nicht vergessen –, was jedweden möglichen Kompromiss mit Russland angeht. Und wenn demnächst wieder unpopuläre innenpolitische Reformen in der Ukraine anstehen, dann könnte natürlich auch Selenskyj unter Druck geraten. Eine instabile Regierung in der Ukraine ist aber ganz sicher nicht im europäischen Interesse.
Herr Kollege.
Wir sollten den Kurs – damit komme ich zum Ende, Frau Präsidentin – des ukrainischen Präsidenten deshalb, so wie es der Außenminister in den letzten Tagen engagiert getan hat, unbedingt auf allen diplomatischen Wegen unterstützen und uns gemeinsam mit unseren europäischen Partnern für eine nachhaltige Konfliktlösung einsetzen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Johannes Schraps. – Nächster Redner in der Debatte: Alexander Radwan für die CDU/CSU-Fraktion.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir sprechen heute über das Normandie-Format. Über die beteiligten Personen möchte ich vorab sprechen: Ich fand die Bemerkungen zu Beginn schon bemerkenswert. An den Gesprächen haben ja auf ukrainischer Seite Präsident Selenskyj und auf russischer Seite Präsident Putin teilgenommen. Präsident Selenskyj hat ja versucht, Vorleistungen zu erbringen, ein Stück weit die Brücke zu bauen, damit man in diesen Gesprächen produktiv weiterkommt. Und auf der anderen Seite stand der russische Präsident Putin. Lassen Sie mich in Erinnerung bringen: Putin steht für mehrere Themen in der Welt. Er steht für das Thema Syrien, wo er auch nicht gerade dafür bekannt ist, einen Friedensprozess zu befördern, sondern eher genau das Gegenteil. Putin steht dafür, den INF-Vertrag schleichend zu unterlaufen.
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– Herr Hampel, ich komme gleich zu Ihnen. – Und zuletzt, neben den Verhandlungen mit der Ukraine, hatten wir gerade den Todesfall im Tiergarten, die Tötung im Tiergarten. Präsident Putin war über diese Situation bestens informiert.
Wissen Sie, was all dem die Krone aufsetzt, Herr Hampel? Dass Sie in Ihrer Rede sagen, Grundlage von Diplomatie ist Vertrauen,
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und damit in die Richtung des Außenministers der Bundesregierung deuten, aber mit keinem Wort erwähnen, dass die Aktionen der Russen in den letzten Jahren nach Ihrer Definition jegliche Diplomatie eigentlich unmöglich gemacht haben, weil jede Handlung letztendlich Vertrauen zerstört hat.
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Wenn Sie einen solchen Satz in den Mund nehmen, würde ich erwarten, dass Sie sowas hier auch ansprechen und dies nicht verschweigen, meine Damen und Herren.
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Lassen Sie mich noch etwas anderes erwähnen, weil Sie gefragt haben: Wo ist denn die Bundesregierung in diesem ganzen Prozess gewesen? Es war das Normandie-Format und es war der Minsker Prozess, den Kanzlerin Merkel angestoßen hat – vielleicht haben Sie das vergessen -
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und den sie seitdem regelmäßig begleitet. Sie arbeitet daran, ihn weiterzuentwickeln.
Jetzt hatten wir die Gespräche. Es sind kleine Schritte in diesem Bereich. Es müssen kleine Schritte sein, mit denen wir Stück für Stück vorankommen. Es wurde ja angesprochen: Das ist der Waffenstillstand, der hoffentlich dieses Jahr greift. Das ist die militärische Entflechtung. Und es sind der Gefangenenaustausch und die humanitäre Unterstützung, mit der den Menschen vor Ort hoffentlich geholfen werden kann.
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Es muss in unserem Fokus stehen, den Menschen vor Ort im Umgang mit einem Gesprächspartner zu helfen, den Sie ja regelmäßig loben.
Jetzt stehen natürlich politische Fragen im Raum, etwa die Fragen: Wie ist zukünftig der rechtliche Status dieser Region? Wird es zu Kommunalwahlen kommen? Wenn ja, in welcher Form? Wir werden innerhalb von vier Monaten wieder zusammentreffen – die vier Monate sind hoffentlich ein Druckmittel –, um hier ein Stück weit voranzukommen und Signale zu senden.
Es muss unsere klare Aussage sein: Der Umgang und die Weiterentwicklung der Ukraine sind für uns für den zukünftigen Umgang mit Russland essenziell. Wir können schlicht und ergreifend nicht sagen: Wie es mit Russland weitergeht, ist unabhängig von der Ukraine. – So habe ich es bei der Darlegung Ihrer Außenpolitik sowohl mit Blick auf die Ukraine als auch mit Blick auf Syrien wahrgenommen.
Eines müssen wir aus dieser Situation auch lernen: Der Konflikt ist in Europa. Es ist symbolhaft: Gott sei Dank sind es Frankreich und Deutschland, Deutschland und Frankreich, die hier die Initiative ergreifen. Das führt uns vor Augen: Wir müssen in Europa auch zukünftig Schritte gehen und eigene Verantwortung für unsere Nachbarschaft übernehmen, für den Frieden in Europa.
Darum gilt auch in diesem Rahmen die aktuelle NATO-Doktrin: Dialog und Abschreckung. Dialog ist notwendig. Aber wir müssen auch die Kapazitäten bilden, meine Damen und Herren, jemandem wie Putin entsprechend zu begegnen. Das werden aus meiner Sicht die Aufgabe und die Aufforderung an die nächste Kommission sein.
Sanktionen sind ein Schwert, das wir auf der wirtschaftlichen Seite haben. Aber, meine Damen und Herren, das reicht nicht; da schaue ich gerade nach rechts. Appelle allein werden zukünftig nicht reichen, sondern wir brauchen Verantwortung. Da ist Europa gefordert. Da müssen wir erwachsen werden und entsprechend handeln. Das muss für uns der Auftakt für die zukünftige Außenpolitik sein.
Besten Dank.
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Vielen Dank, Alexander Radwan. – Nächster Redner für die SPD-Fraktion: Josip Juratovic.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 6. Juni 2014 fand das erste Treffen auf der Regierungsebene zwischen Deutschland, Frankreich, Russland und der Ukraine statt. Anfang dieser Woche kamen die Regierungschefs der beteiligten Länder – Selenskyj, Putin, Macron und Bundeskanzlerin Merkel – im sogenannten Normandie-Format wieder zusammen.
Seit mehr als fünf Jahren tobt in der Ostukraine der Konflikt mit mehr als 13 000 Todesopfern, darunter fast 3 500 Zivilisten. Weitere 30 000 Menschen wurden in dieser Zeit verwundet, ein knappes Drittel davon ebenfalls Zivilisten. Rund 1,5 Millionen Menschen haben ihre Heimat in den Konfliktregionen verlassen und sind auf humanitäre Unterstützung durch die ukrainische Regierung und internationale Organisationen angewiesen.
Die Menschen vor Ort versuchen, in diesem Kriegsalltag irgendwie zu überleben. Unsere Aufgabe als Europäer ist es, den Menschen in der Ostukraine wieder Hoffnung auf Frieden zu geben. Dieses Zusammentreffen auf höchster Regierungsebene war daher mehr als nötig. Dieser sinnlose Krieg dauert schon viel zu lange. Die Menschen sind ausgelaugt und wollen endlich Frieden.
Das erste persönliche Aufeinandertreffen zwischen den Präsidenten Putin und Selenskyj und die dabei erzielte Einigung vom Wochenende geben in diesem Kontext Anlass für vorsichtige, aber doch neue Hoffnung.
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Neben einem klaren, erneuten grundsätzlichen Bekenntnis zum Plan von Minsk einigten sich die Beteiligten nun mit der sogenannten Steinmeier-Formel auf eine Reihenfolge für dessen Implementierung. Bis Ende des Jahres sollen nun alle notwendigen Maßnahmen für einen Waffenstillstand getroffen werden sowie ein Truppenabzug aus einigen Gebieten der Ostukraine und ein großer Gefangenenaustausch stattfinden.
Langfristiges Ziel bleibt das Inkrafttreten eines Sonderstatusgesetzes für die nicht von der Regierung kontrollierten Gebiete der östlichen Regionen Luhansk und Donezk. Es soll die Durchführung von Lokalwahlen und den vollständigen Rückzug von Truppen und Geräten der Konfliktparteien beinhalten.
Während hierzu am Wochenende keine Übereinkunft gefunden werden konnte, sind die nun beschlossenen Maßnahmen wichtige Schritte der Vertrauensbildung. Sollte ihre Implementierung gelingen, formen sie eine starke Grundlage für weiter gehende Schritte beim nächsten Zusammentreffen im Normandie-Format in vier Monaten.
Aber bereits jetzt senden die Beschlüsse vom Wochenende ein starkes und lebensnotwendiges Signal für die Menschen in der Ukraine. Es ist ein Signal, das ankommt. Vertreter aller politischen Lager der Ukraine äußerten sich in den letzten Tagen vorsichtig optimistisch über die Ergebnisse des Gipfels. Entgegen aller Propaganda von einer faschistischen Machtübernahme infolge der Maidan-Proteste, einer Verschwörungstheorie, die auch von einigen von ganz links wie ganz rechts hier im Hause immer wieder verbreitet wird, halten die Demokraten der Ukraine im Ringen um eine friedliche Zukunft für ihr Land in einem geeinten Europa zusammen. Wir wünschen ihnen dabei allen Erfolg und stehen fest an ihrer Seite.
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Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, das ist auch ein Verdienst der unermüdlichen diplomatischen Anstrengungen von Bundesaußenminister Heiko Maas und Bundeskanzlerin Merkel. Auch dem Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier gilt Dank für seine jahrelangen Bemühungen um den Frieden dieser Region Europas während seiner Amtszeit als Außenminister.
Es ist die außenpolitische Leitlinie der Bundesrepublik Deutschland und auch der Europäischen Union, dass Konflikte nur diplomatisch zu lösen sind. Diplomatie und Kompromissbereitschaft brauchen einen langen Atem, aber sie sind unumgänglich. 1 000 Tage Verhandlung sind besser als ein Tag Krieg!
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Das Normandie-Format liefert hierfür ein gutes Beispiel. In einer Welt, in der die Autokraten und säbelrasselnden Akteure immer mehr an Aufmerksamkeit gewinnen und ihre Interessen mit Gewalt durchzusetzen versuchen, ist dieses Signal der friedenstiftenden Diplomatie von großer Bedeutung. Ich kann daher die Aussage von unserem Außenminister Heiko Maas an dieser Stelle nur wiederholen:
Wir übernehmen Verantwortung ... wenn es darum geht, am Verhandlungstisch nachhaltig Frieden zu sichern ... und nicht auf den Schlachtfeldern dieser Welt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Josip Juratovic. – Letzter Redner in der Aktuellen Stunde: Dr. Andreas Nick für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Treffen im Normandie-Format am Montagabend in Paris war ein wichtiger Schritt nach vorne. Zunächst mal ist es ein Riesenfortschritt, dass nach über drei Jahren ein solches Gipfeltreffen wieder stattgefunden hat.
Es konnten konkrete Schritte zur weiteren Umsetzung des Minsker Abkommens verabredet werden. Diese sind nicht nur in einem Abschlusskommuniqué festgehalten, sondern dieses ist auch erstmals in diesem Format veröffentlicht worden. Dass ein Folgetreffen innerhalb von vier Monaten verabredet ist, gibt der Vereinbarung ein höheres Maß an Verbindlichkeit, als wir das bisher im Minsk-Prozess gesehen haben.
Damit sind aber auch klare Erwartungen auf der Zeitachse verbunden. Es ist schon angesprochen worden: der Austausch und die Freilassung aller verbliebenen Gefangenen nach dem Grundsatz „alle gegen alle“ bis Ende dieses Jahres, die vollständige Umsetzung des Waffenstillstandes und die weitere Entflechtung von Truppen und militärischem Gerät bis Ende März 2020.
Lassen Sie mich festhalten: Unsere Position zum Konflikt in der Ostukraine und zur Annexion der Krim ist unverändert und völlig klar. Deshalb bleiben die EU-Sanktionen auch in Kraft und werden erneut verlängert.
Mit der Wahl von Präsident Selenskyj in der Ukraine hat sich aber in den letzten Monaten ein neues Fenster geöffnet, um Fortschritte bei der Lösung des Konflikts erreichen zu können. Präsident Selenskyj verdient dabei unsere Unterstützung. Wir würden es begrüßen, wenn ihm diese schwierige Aufgabe auch in der innenpolitischen Diskussion der Ukraine nicht noch schwerer gemacht würde, als sie ohnehin schon ist. Bereits im September ist ein erster Gefangenenaustausch gelungen. Mit der Freilassung der 24 ukrainischen Seeleute wurde eine der Kernforderungen erfüllt, die die Parlamentarische Versammlung des Europarates im Januar in einer Dringlichkeitsdebatte erhoben hat. Ich war damals der zuständige Berichterstatter.
Zum Kontext, der diese Entwicklung erst möglich gemacht hat, gehört aber auch die durchaus schwierige Entscheidung, die wir im Juni getroffen haben: die Rückkehr Russlands in die Parlamentarische Versammlung des Europarates zu ermöglichen. Dafür haben insbesondere wir und unsere französischen Partner erhebliches politisches Kapital investiert. Damit ist aber auch eine klare Erwartungshaltung gegenüber der Russischen Föderation verbunden.
Im Rahmen ihrer Möglichkeiten ist die Parlamentarische Versammlung als umfassende und inklusive Dialogplattform auch bereit, zur Wiederherstellung von Frieden in der Ukraine beizutragen. Einen entsprechenden Antrag haben wir bereits im Oktober auf den Weg gebracht. Wir appellieren daher an das ukrainische Parlament, die ja bereits benannte neue Delegation in der Januarsitzung der Parlamentarischen Versammlung in Straßburg auch endlich akkreditieren zu lassen, damit Dialog in diesem Format auch möglich ist und bleibt.
Fragen der Menschenrechte und der humanitären Sicherheit bilden für den Europarat einen Kernbereich. Es muss zunächst darum gehen, für die Menschen in der Ostukraine eine konkrete Verbesserung der Situation und humanitäre Erleichterungen zu erreichen. Das ist schon angesprochen worden. Dazu müssen das Internationale Komitee vom Roten Kreuz und andere Hilfsorganisationen uneingeschränkten und sicheren Zugang zu den Konfliktgebieten erhalten. Insbesondere die trilaterale Kontaktgruppe und die Sonderbeobachtermission der OSZE müssen, wie am Montag vereinbart, endlich alle Möglichkeiten ausschöpfen können, die in ihrem Mandat jeweils vorgesehen sind.
Der am Montag wiederangestoßene Prozess muss auch durch die Einbettung in weitere multilaterale Formate verstetigt werden. Keine Frage: Wir werden am Ende bei der Umsetzung der Steinmeier-Formel um die Lösung der Frage, wie die Grenze zwischen der Ukraine und Russland durch mögliche internationale Bemühungen verstärkt abgesichert werden kann, nicht herumkommen.
Ich will daran erinnern: Im kommenden Jahr begehen wir nicht nur den 30. Jahrestag der Deutschen Einheit, sondern auch den 30. Jahrestag der Charta von Paris der OSZE. Diese bleibt für uns der zentrale Bezugspunkt der europäischen Friedensordnung und Sicherheitsarchitektur von Vancouver bis Wladiwostok, die durch den Konflikt in und um die Ukraine nachhaltig verletzt ist und bleibt. Es ist deshalb nicht nur im dringenden Interesse der betroffenen Menschen vor Ort, sondern ein zentrales Anliegen aller Europäer, diesen Konflikt schrittweise zu lösen und seine Ursachen zu überwinden.
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Deshalb ist es gut und richtig, dass sich die Bundeskanzlerin und der französische Präsident persönlich in so hohem Maße im Normandie-Format engagieren. Denn nur so können wir den Weg dafür freimachen, dass Europa in seiner Gesamtheit zu einem Raum der Menschenrechte, der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie wird, ein gemeinsamer Raum, in dem es keine Zonen unterschiedlicher Sicherheit und Souveränität geben darf und der Chancen zu wirtschaftlicher Entwicklung und Prosperität für alle bietet. Das ist der Auftrag unserer Generation, und dafür lohnt es sich zu arbeiten.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Andreas Nick. – Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.
Frau Präsidentin! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Leistungen der betrieblichen Altersversorgung sind in der gesetzlichen Krankenkasse als sogenannte Versorgungsbezüge beitragspflichtig. Auf Versorgungsbezüge werden Krankenversicherungsbeiträge nach dem allgemeinen Beitragssatz und im Fall der Fälle auch der kassenindividuelle Zusatzbeitragssatz erhoben. Betriebsrentnerinnen und ‑rentner haben diese Beiträge in der Regel allein zu tragen. Das ist eine Belastung für die Attraktivität von Betriebsrenten und führt heute vielfach dazu, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gegenüber entsprechenden Angeboten zurückhaltend sind. Die Erhebung von Krankenkassenbeiträgen auf Versorgungsbezüge stellt also ein gewisses Hindernis für den weiteren Auf- und Ausbau der betrieblichen Altersversorgung dar.
Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Einführung eines Freibetrages in der gesetzlichen Krankenversicherung zur Förderung der betrieblichen Altersvorsorge entlasten wir einen großen Teil der Beitragszahler. Mit der Einführung eines monatlichen Freibetrages in Höhe von 159,25 Euro ab dem 1. Januar 2020 sorgen wir für diese Entlastung.
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Von diesem Freibetrag werden ab 2020 Rentnerinnen und Rentner profitieren, deren Rentenbezug vor 2020 begonnen hat oder deren Kapitalauszahlung 2020 weniger als zehn Jahre zurückliegt. Der Freibetrag ist dann in Zukunft an die Entwicklung der sozialversicherungsrechtlichen Bezugsgröße gekoppelt und steigt damit jährlich in etwa mit der durchschnittlichen Lohnentwicklung an.
Das ist der wesentliche Charakter der Neuregelung, und diese Neuregelung führt dazu, dass auch Betriebsrenten oberhalb der bisherigen Freigrenze finanziell entlastet werden. Denn bisher musste bei dem geringsten Überschreiten der Freigrenze der volle Beitrag auf die gesamte Betriebsrente gezahlt werden. Bezieherinnen und Bezieher von Betriebsrenten ab einer Höhe von 159,25 Euro erhalten jetzt mit der Neuregelung eine Entlastung von rund 300 Euro im Jahr.
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Das bedeutet: 60 Prozent der betroffenen Personen zahlen künftig maximal die Hälfte des bisherigen Beitrags.
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Insgesamt werden die Betriebsrentnerinnen und Betriebsrentner so jedes Jahr um mindestens 1,2 Milliarden Euro entlastet.
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Von dem Wechsel von der Freigrenze zum neuen Freibetrag profitieren auch die rund 4 Millionen pflichtversicherten Betriebsrentner oberhalb der bisherigen Freigrenze. Auch sie haben in Zukunft rund 300 Euro mehr pro Jahr.
Für 2020 werden die Mittel vollständig aus der Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds übernommen, dann schrittweise durch abnehmende Beiträge aus demselben Fonds in Höhe von 900 Millionen Euro 2021, 600 Millionen Euro 2022 und 300 Millionen Euro 2023 finanziert. Ab 2024 wären die Beitragsausfälle in voller Höhe durch die Kassen zu tragen.
Mit dem Gesetz wird die bisherige Mindestreserve des Gesundheitsfonds von 25 Prozent auf 20 Prozent einer Monatsausgabe gesenkt. Die Krankenkassen haben in der Anhörung erklärt, dass das eine für sie tragbare und gangbare Lösung ist.
In den Beratungen des Ausschusses haben wir dann noch einen Änderungsantrag eingebracht, der dazu dienen soll, das Verfahren so zu beschleunigen, dass keine umständlichen Anträge und keine umständlichen Zinsberechnungen notwendig sind, sondern dass bei den Zahlstellen die ganz große Anzahl der entsprechenden Zahlungen zügig abgerechnet werden kann.
Insofern glaube ich, dass das nach vielen Jahren der Debatte über das, was wir 2003 mit dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz erlebt haben, und nach vielen Jahren der Suche nach einer gangbaren Lösung jetzt einen pragmatischen Weg darstellt.
Herr Henke, „zügig“ war das Stichwort.
Ja. – Er wird nicht jeden vollständig glücklich machen, aber es ist eine pragmatische Lösung, die vielen hilft und die die Attraktivität des Betriebsrentensystems steigert.
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Ich empfehle Ihnen deswegen die Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf.
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Vielen Dank, Herr Henke. – Ich bitte, liebe Kolleginnen und Kollegen: Halten Sie die Redezeit ein. Sonst ziehe ich es bei Ihren Kollegen ab. Das ist so. – Nächster Redner: Detlev Spangenberg für die Fraktion der AfD.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! „Systemfehler beseitigen – Betriebliche Altersvorsorge attraktiver gestalten“ – so der Titel unseres Antrags –, im Rahmen des GKV-Betriebsrentenfreibetragsgesetzes. Der Ansatz ist grundsätzlich richtig. Wir haben das im Ausschuss ja auch besprochen. Das ist eine tolle Sache; das ist der richtige Weg, meine Damen und Herren. Aber Sie müssen natürlich gleich wieder einen Schritt zurückgehen: Die Pflegeversicherung haben Sie außen vor gelassen.
Die Gründe, warum es überhaupt notwendig ist, dass wir das Ganze jetzt im Sinne der Beitragszahler wieder zurückfahren, gehen eigentlich auf SPD und Grüne 2003 zurück. Damals hat die SPD ihre sogenannte Klientel, die Arbeitnehmer, total verlassen. Sie sind gar keine Arbeitnehmerpartei. Sie haben sie richtig abgezockt, kann man sagen. Und die Grünen haben sich sowieso nicht für diese Menschen interessiert. Denn diese Zielgruppe spart an; sie klettert nicht auf Bäume oder kettet sich an Eisenbahnschienen an. Also war das auch für Sie uninteressant, meine Damen und Herren.
Durch die Gesetzesänderung wurden sehr viele mit einer sogenannten Doppelverbeitragung belastet. Diese ist durch das neue Gesetz zurückgefahren worden, aber sie bleibt bestehen. Sie entfaltet nur nicht mehr eine so große nachteilige Wirkung.
Die Kritikpunkte an dem Gesetzentwurf sind zunächst einmal, dass Sie keine eindeutige Abkehr von einer möglichen Doppelverbeitragung erklären. Auch haben Sie die Einmalauszahlung nicht angegriffen. Es bleibt also bei den 120 Monaten. Auch wenn jemand die Summe auf einmal erhält, wird das über 120 Monate verbeitragt. Das kritisieren diejenigen, die die Versicherung abgeschlossen haben, nach wie vor.
Sie erwähnen auch nicht die Betroffenen, die auf die Verträge von bis 2002 gebaut haben. Sie hatten eine Lebensplanung. Was sie in dieser Form so hart getroffen hat, war, wie gesagt, das Gesundheitsmodernisierungsgesetz. Damals war die Begründung, die Leistungsfähigkeit dieser Leute würde das hergeben. Meine Damen und Herren, wer will denn das beurteilen?
Die Menschen haben das meist deswegen gemacht, damit sie im Alter die Annuitätendarlehen für ihre Häuschen abzahlen konnten. Und jeder, der ein bisschen weiter denkt, weiß, dass er als Rentner kaum die Möglichkeit hat, eine Arbeit aufzunehmen, wenn er in Probleme finanzieller Art gerät. Wenn Sie diesen Leuten mit höheren Beiträgen die Annuitätenzahlung erschweren, dann ist das einfach unfair. Es ist nicht sauber, meine Damen und Herren.
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Eine nicht nachvollziehbare Begründung für eine nachträgliche Verbeitragung war ja auch das umstrittene Rückwirkungsverbot. Da haben Sie noch die Justiz mit ins Boot geholt, um das irgendwie zu begründen.
Ein weiterer Trick ist: Niedrige Rentenbeiträge entstehen bei der Entgeltumwandlung. Auch das sollte nicht sein. Das wird ebenfalls von den bisher über 6 Millionen Betroffenen kritisiert. Einige werden jetzt aufgrund Ihrer Änderung, die ja positiv ist, herausfallen. Aber Sie machen das ja nicht, um den Leuten zu helfen, sondern weil Sie Angst haben, dass diese 6 Millionen plus Familienangehörige Ihnen als Wähler verloren gehen. Das ist der einzige Grund, den ich hier sehe – und nicht, weil Sie den Menschen helfen wollen.
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– Das hoffe ich.
Auch die Einkommensersatzleistung, wie gesagt, ist nicht nachvollziehbar, wenn der Arbeitnehmer die Beiträge gezahlt hat, aber der Arbeitgeber Versicherungsnehmer war, und er dann schließlich, wenn er Pech hat, auch noch den Arbeitgeberbeitrag weiter zahlen muss, wenn es zur Auszahlung kommt.
Wir fordern als AfD, dass wir den Freibetrag, der ja wirklich gut ist, auf 200 Euro erhöhen, um damit möglichst viele Beitragszahler zu erreichen -
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das würde die Attraktivität noch mehr begründen –, und Neuverträge erst dann zu verbeitragen, wenn die Rendite des eingesetzten Kapitals erwirtschaftet wurde. Die Entgeltumwandlung darf nicht zu einer Verringerung der Rentenbeiträge führen; das sagte ich schon. Und wir erwarten eine eindeutige vollständige Abkehr von einer sogenannten Doppelverbeitragung.
Eine Entschädigung für Doppeltverbeitragte wurde von Ihnen ebenfalls nicht angesprochen. Hier erwarten wir, dass Sie noch einmal in diese Richtung nachdenken.
Das Problem ist: Sie haben damals, 2004, Vertrauen verspielt. Die Menschen hatten keine Planungssicherheit. Viele beziehen sich bei dieser Angelegenheit sogar auf Artikel 20 Grundgesetz. Die Betroffenen sehen sich getäuscht. Sie hätten in vielen Fällen die Verträge gar nicht abgeschlossen, wenn sie gewusst hätten, wie Sie mit den Beitragszahlern, mit diesen Sparern, umgehen.
Herr Spangenberg, kommen Sie bitte zum Ende.
Jawohl. Ein letzter Satz. – Jetzt frage ich Sie konkret: Wer garantiert denen, die heute Verträge abschließen, dass Sie nicht wieder Recht brechen und dass Sie ihnen nicht wieder die Freibeträge wegnehmen, wenn es gerade mal passt? Das können Sie nicht garantieren; Sie haben schon mal sehr, sehr unseriös gehandelt.
In diesem Fall können wir uns, weil einige gute Ansätze dabei sind, bei der Abstimmung über den Antrag nur enthalten.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Detlev Spangenberg. – Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Sabine Dittmar.
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Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Für die betriebliche Altersvorsorge ist heute ein guter Tag. Mit dem GKV-Betriebsrentenfreibetragsgesetz, das wir heute verabschieden, stärken wir zum einen die betriebliche Altersvorsorge, wir heilen zum anderen aber auch endlich eine alte Wunde des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes.
2004 gab es viele nachvollziehbare Gründe für das GMG: 5 Millionen Arbeitslose; die Sozialkassen waren leer; die Sozialversicherungsbeiträge galoppierten davon.
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Deshalb hat auch eine breite parlamentarische Mehrheit Verantwortung übernommen: SPD, Grüne, CDU/CSU. Auch wenn das GMG höchstrichterlich abgeklärt wurde und die Verbeitragung der Betriebsrenten seinerzeit ein notwendiger Schritt war, um die gesetzliche Krankenversicherung zu stabilisieren, so schauen auch wir Sozialdemokraten kritisch auf dieses Gesetz zurück.
Ich bin froh, dass wir die Union davon überzeugen konnten, gesetzgeberisch tätig zu werden.
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Sie sehen, meine Damen und Herren, wir können auch Dinge behandeln und lösen, die im Koalitionsvertrag noch nicht vereinbart wurden.
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Es ist gut, dass wir heute nach langen und intensiven Verhandlungen eine wirklich gute Lösung für die Betriebsrentnerinnen und Betriebsrentner verabschieden. Mit der Umwandlung der Freigrenze in einen echten Freibetrag sorgen wir dafür,
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dass alle Empfänger von Betriebsrenten, die in der gesetzlichen Krankenversicherung pflichtversichert sind, ab dem 1. Januar 2020 finanziell entlastet werden.
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Das gilt im Übrigen auch für die Empfänger von Renten und Landabgaberenten nach dem Gesetz über die Alterssicherung der Landwirte.
Die Entlastung wird automatisch erfolgen, ohne dass extra ein Antrag gestellt werden muss. Der Freibetrag gilt ab dem 1. Januar 2020, ganz egal, ob man die monatliche oder die einmalige Auszahlung wählt. Aufgrund der Umstellungsphase kann es allerdings zu einer Verzögerung der Umsetzung in den ersten Monaten kommen. Zu viel gezahlte Beiträge werden aber auf jeden Fall zurückerstattet,
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ohne dass die Betroffenen selbst aktiv werden müssen.
Konkret bedeutet die Neuregelung, dass Betriebsrentner künftig monatlich um circa 25 Euro entlastet werden – oder, bei Einmalzahlung, um gut 3 000 Euro für die Laufzeit. Wenn Sie beispielsweise 300 Euro Betriebsrente beziehen, sind derzeit 46,50 Euro Krankenversicherungsbeiträge fällig, ab 1. Januar 2020 nur noch 21,82 Euro. Oder, noch sehr viel krasser, das Beispiel aus dem gestrigen „Morgenmagazin“: Bei einer Betriebsrente von 160 Euro zahlen Sie aktuell 24,80 Euro Beitrag, ab dem 1. Januar 2020 sind es nur noch 11 Cent.
Sie sehen, wir entlasten alle pflichtversicherten Betriebsrentner, aber ganz besonders die Rentner mit kleinen und mittleren Betriebsrenten,
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und das sind über 60 Prozent der Bezieher von Betriebsrenten. Auch für Betriebsrentner, die ihre Einmalauszahlung bereits erhalten haben, gilt der Freibetrag für die Restlaufzeit.
Sehr geehrte Damen und Herren, mit dem GKV-Betriebsrentenfreibetragsgesetz wird die betriebliche Altersvorsorge heute wieder attraktiver und ein Stück weit gestärkt. Damit setzen wir ein Signal, dass sich Vorsorge lohnt und sinnvoll ist.
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Klar ist aber auch: Die Entlastung der Betriebsrentner muss gegenfinanziert werden. Die Entlastung der Betriebsrentner schlägt ab 1. Januar 2020 mit rund 1,2 Milliarden Euro pro Jahr zu Buche. Die Mittel werden in der Umstellungsphase bis 2023 mit Zuschüssen aus der Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds kofinanziert und sind deshalb für den Zusatzbeitrag nicht relevant.
Heute, Kolleginnen und Kollegen, haben wir eine Gerechtigkeitslücke im Beitragsrecht geschlossen.
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Die wiederholten Reparaturbemühungen zeigen aber auch, dass wir eine grundlegende Reform im Beitragsrecht benötigen. Uns geht die Arbeit also nicht aus. Aber heute entlasten wir erst einmal die Betriebsrentner. Ich bitte daher um Zustimmung für das gelungene Gesetz.
Danke für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Sabine Dittmar. – Nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion Christine Aschenberg-Dugnus.
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Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Delegation des Vereins der Direktversicherungsgeschädigten auf der Besuchertribüne!
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Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ziel des von Ihnen vorgelegten Gesetzes ist es, die betriebliche Altersvorsorge attraktiver zu gestalten. Leider bleiben Sie hinter diesen hohen Erwartungen weit zurück. Da hilft auch Ihre Schönrederei hier nichts. Denn Ihre Entlastung findet ja nur bis zu einem Beitrag von 159 Euro statt; alles, was darüber hinausgeht, muss ja weiter doppelt verbeitragt werden. Im Ergebnis wird Ihr Vorschlag dazu führen, dass eine betriebliche Altersvorsorge über den Freibetrag hinaus gar nicht mehr attraktiv ist. Und diejenigen, die in der Vergangenheit bewusst mehr eingezahlt haben, um hinterher auch mehr Betriebsrente zu erhalten,
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die sind weiter die Gekniffenen.
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Ihr Vorschlag schafft den fatalen Fehlanreiz, nur bis zur Höhe des Freibetrags vorzusorgen. Meine Damen und Herren, wir finden, das ist ein falsches Zeichen.
Was wir dringend benötigen, ist eine einfache, nachvollziehbare, transparente private Altersvorsorge. Der Entschließungsantrag, den wir eingebracht haben, hat so eine einfache Regelung zum Inhalt: keine Krankenkassenbeiträge bei der Auszahlung, wenn bereits in der Ansparphase Krankenversicherungsbeiträge abgeführt worden sind.
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Das bedeutet konkret: Diejenigen, die etwas verbeitragt eingezahlt haben, können sich darauf verlassen, dass sie am Ende nicht noch ein Fünftel ihrer Erträge abgezogen bekommen. Finanziert werden muss das selbstverständlich aus Steuermitteln und nicht auf dem Rücken der GKV-Beitragszahler!
Uns ist auch ganz wichtig, dass unser Vorschlag – im Gegensatz zu dem der Regierung – eben nicht diejenigen benachteiligt, die mehr Vorsorge betreiben wollen. Für Sie – für die Regierung – ist die Doppelverbeitragung bis 159 Euro der falsche Weg, bei allem, was darüber hinausgeht, aber komischerweise der richtige Weg – das erklären Sie mal den Menschen! Wir können es nicht.
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Ich muss noch einmal darauf hinweisen: Der Grund für die bis heute anhaltende ungerechtfertigte Mehrfachverbeitragung ist das im Jahr 2003 eingeführte GKV-Modernisierungsgesetz. Ich kann immer nur wiederholen: Dieses Gesetz hat Rot-Grün eingeführt, die CDU/CSU hat zugestimmt. Die FDP-Fraktion hat damals als Einzige nicht zugestimmt,
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und das aus gutem Grund: Wir wussten, dass die Ungerechtigkeit vorprogrammiert ist, meine Damen und Herren.
Was wir an dem Gesetzentwurf außerdem noch kritisieren, ist: Warum setzen Sie bei der Aufteilung der Kapitalauszahlung zehn Jahre als Berechnungsfrist an und nicht 20 Jahre? Auch das erklärt sich uns nicht.
Unser Vorschlag ist der richtige Schritt, die betriebliche Altersvorsorge tatsächlich einfach und verständlich zu stärken. Wir werden uns bei diesem Gesetz enthalten, weil wir anerkennen, dass wenigstens eine kleine Entlastung darin enthalten ist. Ich danke Ihnen. Die anderen Anträge werden wir ablehnen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Christine Aschenberg-Dugnus. – Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Matthias W. Birkwald.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Misere begann im Jahr 2001, als SPD und Grüne das Niveau der gesetzlichen Rente in den Sinkflug schickten. Anschließend wurden die Menschen mit Steuervorteilen massiv in überwiegend selbstfinanzierte Betriebsrenten, Direktversicherungen und vor allem in schlechte Riester-Verträge gedrängt, um die Rentenlücke zu schließen.
Und ohne jeden Vertrauensschutz haben dann Ulla Schmidt, SPD, und Horst Seehofer, CSU, ab 2004 Millionen von Versicherten fast 20 Prozent des Wertes ihrer Direktversicherungen und Betriebsrenten wieder weggenommen. Völlig willkürlich wurde auf einmal der Krankenversicherungsbeitrag verdoppelt. Zwei Parteien stimmten damals gegen diesen Unsinn: die FDP und die PDS – danke dafür!
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Von der Doppelverbeitragung sind sehr viele Menschen betroffen, die schon auf ihre Einzahlungen Krankenkassenbeiträge gezahlt hatten und bei denen der Arbeitgeber keinen Cent dazubezahlt hat – von wegen Betriebsrente! Viele Betroffene sagen: Erst wurden wir mit den Steuervorteilen angelockt und dann mit den vollen Krankenkassenbeiträgen abgezockt. Ich kann gut verstehen, dass sie sauer sind; denn ihr Geld wäre in vielen Fällen auf dem Sparbuch besser aufgehoben gewesen. Eine 21-jährige Frau nannte die Doppelverbeitragung in einer Mail mit Blick auf die Betriebsrente ihres Großvaters Unsinn – recht hat sie!
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Viele Direktversicherungsgeschädigte wollen aber nicht länger zwei- oder dreimal Krankenversicherungsbeiträge zahlen. Darum hat Die Linke 2015, 2017 und 2018 insgesamt drei Anträge in den Bundestag eingebracht, um diesen Unsinn zu beenden.
Nun ist die Koalition endlich aufgewacht: Ab kommendem Jahr werden viele Direktversicherte und Betriebsrentner um rund 25 Euro im Monat entlastet, weil es zusätzlich zur Freigrenze einen Freibetrag von 159,25 Euro geben wird. Damit werden die Krankenkassenbeiträge bei Betriebsrenten zwischen knapp 160 Euro und rund 318 Euro de facto halbiert. Ja, rund 25 Euro mehr im Monat sind ein erster Schritt in die richtige Richtung,
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vor allem für Menschen mit kleinen Betriebsrenten und Direktversicherungen. Das ist ein Erfolg der Betroffenen, der Linken, der Gewerkschaften, der Sozialverbände und der Vernünftigen in Ihren Parteien.
Das Problem ist damit aber höchstens zu 20 Prozent gelöst. Wir Linken fordern:
Erstens. Die Entgeltumwandlung muss abgeschafft werden. Volle Beitragspflicht beim Ansparen und Beitragsfreiheit bei der Rentenauszahlung!
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Zweitens. Auf Direktversicherungen, die vor 2004 abgeschlossen wurden, wird gar kein Beitrag mehr erhoben – auch keiner für die Pflegeversicherung.
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Drittens. Betriebsrentnerinnen und ‑rentner und Direktversicherte mit Renten oberhalb des Freibetrags sollten grundsätzlich nur den halben Beitragssatz zahlen müssen.
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Viertens. Der Freibetrag muss auch für die Pflegeversicherung gelten.
Fünftens. Krankenkassenbeiträge für Kapitalauszahlungen sollten auf 240 Monate gestreckt werden.
Dieses Maßnahmenpaket kostet Durchschnittsverdienende nur gut 5 Euro im Monat.
Herr Minister Spahn, Die Linke hat gute Vorschläge gemacht. Legen Sie nun bald den nächsten Gesetzentwurf vor! Ich weiß, Sie schaffen das.
Danke schön.
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Vielen Dank, Kollege Birkwald. – Keine Sorge, wir achten hier akribisch auf die Redezeiten, und beim nächsten Redner werden wir das auch tun. – Der nächste Redner ist Markus Kurth für Bündnis 90/Die Grünen.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In meiner ersten Wahlperiode – im Jahre 2004; ich glaube, es war auch Jens Spahns erste Wahlperiode; wir waren damals beide Mitglied im Ausschuss für Gesundheit – habe ich dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz in der Tat zugestimmt – Sie ebenfalls.
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Dabei ist uns etwas unterlaufen, was tatsächlich korrigiert gehört: Diejenigen, die vor 2004 aus eigenen Nettogeldern, also bereits verbeitragten Geldern, ganz alleine eine Betriebsrente angespart haben, sahen sich in der Auszahlungsphase mit den doppelten Beiträgen konfrontiert und mussten die entsprechenden Beiträge zahlen.
In der Tat: Für diese klar umrissene Gruppe müsste es eine Vertrauensschutzregelung geben. Ich habe auch kein Problem damit, zuzugeben, dass wir da was anders machen müssen. Das Sinnvolle und Zielgenaue wäre gewesen, eine Antragslösung einzuführen, dass also genau diese Gruppe auf Antrag hin keine Beiträge mehr zahlen muss. Das wäre sauber gewesen.
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Der allgemeine Freibetrag, der jetzt eingeführt wird, befriedet höchstens teilweise – Sie erreichen noch nicht mal, dass sozusagen der politische Protest aufhört – und belastet alle Beitragszahlerinnen und Beitragszahler in der gesetzlichen Krankenversicherung – und genau auch diejenigen, die überhaupt gar keine Betriebsrente haben.
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Die Friseurin und die Kassiererin im Supermarkt zahlen also den Freibetrag mit, den ein möglicherweise früherer leitender Angestellter erhält, der weit entfernt von irgendwelchen Niedriglohn- oder Armutsproblemen ist. Das ist nicht gerecht.
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Sie schaffen an der Stelle einfach auch neue Ungerechtigkeiten, und es wird in Zukunft sogar eine Gruppe geben, die überhaupt gar keine Beiträge mehr zahlt – weder während der Einzahlungsphase noch während der Auszahlungsphase –, nämlich die Gruppe derjenigen – das gilt ja jetzt für alle und nicht nur für diejenigen, die vor 2004 aus eigener Tasche gezahlt haben –, die über die sogenannte beitragsfreie Entgeltumwandlung in die Betriebsrente einzahlen, also während der Einzahlungsphase keine Sozialversicherungsbeiträge abführen – weder vom Arbeitgeber noch selbst. Diese wird in Zukunft in der Auszahlungsphase ebenfalls von diesem Freibetrag profitieren. Wie geht das denn, dass man weder während der Einzahlungsphase noch während der Auszahlungsphase Beiträge zahlt? Das ist doch vollkommen widersinnig und systematischer Unsinn!
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Man muss an der Stelle auch sagen: Das hat im Übrigen nichts mit der Solidargemeinschaft zu tun. Diesen Griff in die Sozialkassen kennen wir von der Mütterrente und von der Arbeitslosenversicherung. Meine Damen und Herren von der Union, ich sage Ihnen eines: Wenn es mit uns noch mal zu Gesprächen über eine Regierungsbildung kommen sollte
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– könnte ja sein –, dann tun Sie eines nicht: Reden Sie nicht mehr von höchstens 40 Prozent Gesamtsozialversicherungsbeitrag! Halten Sie da den Mund. Das haben Sie hier selbst mit solchen Schritten ruiniert.
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Vielen Dank, Markus Kurth. – Nächster Redner: Jens Spahn für die Bundesregierung.
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Frau Präsidentin!
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– Bitte?
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– „Haupt“ nicht; so viel Ehre wollte ich dem Ganzen auch nicht geben.
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Unabhängig davon, Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen, glaube ich, der politische Wettbewerb schadet nicht.
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Ich glaube, wenn Menschen zur Wahl gehen, wollen Sie auch eine Auswahl haben, und deswegen schadet es nicht, wenn man ab und zu auch mal einen Unterschied merkt.
Frau Lemke, ich glaube, zwischen Ihnen und mir – bei aller Wertschätzung im Persönlichen – gibt es halt ein paar inhaltliche Unterschiede.
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Das muss doch auch gar nicht schlimm sein. Deswegen kann man ja trotzdem eine gute Debatte miteinander führen, und man muss auch nicht immer alles irgendwie gleichmachen, sondern es ist gut, auch Unterschiede rauszuarbeiten. Ich glaube, es tut dem politischen Betrieb und übrigens auch der Akzeptanz von Politik insgesamt gut, wenn man Unterschiede merkt – auch in der Debatte.
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Jetzt aber zum eigentlichen Punkt. Ich glaube, es gibt ein Thema, bei dem den allermeisten Kolleginnen und Kollegen in ihren Wahlkreisen nicht Unterschiedliches, sondern sehr Ähnliches widerfährt. Wir alle haben nämlich in den letzten Jahren in vielen Gesprächen mit Bürgerinnen und Bürgern erlebt, dass dort viel Wut, viel Frust und viel Vertrauensverlust ist: zum einen bei denjenigen, die sich heute und in den vergangenen Jahren als Betriebsrentner durch das, was geregelt worden ist, beschwert und vielfach betrogen fühlten und fühlen – das ist gerade schon dargestellt worden; insbesondere für die Bezieher mittlerer Betriebsrenten ist dieser finanzielle Beitrag spürbar –, und zum anderen – und das ist für mich mindestens genauso wichtig – bei möglichen, potenziellen künftigen Betriebsrentnerinnen und Betriebsrentnern, jungen Menschen, die vor der Frage stehen: Lohnt es sich überhaupt, einen Vertrag zur betrieblichen Altersvorsorge abzuschließen? Debatten über dieses Thema hat jeder von uns Abgeordneten in den letzten Jahren nicht nur hier, sondern vor allem auch vor Ort erlebt.
Es geht im Kern um Vertrauen, um Vertrauen in den Staat, in die Entscheidungen des Staates und in die betriebliche Altersvorsorge, aber es geht auch um Vertrauen in die Entscheidungskraft und in den Entscheidungswillen der Bundesregierung; auch das ist mir sehr, sehr bewusst. CDU/CSU und SPD als die diese Koalition tragenden Parteien haben nämlich jeweils entschieden und beschlossen, dass sie an dem heutigen Zustand etwas verändern wollen, und ich finde, es reicht nicht, nur auf Parteitagen etwas zu beschließen, sondern das muss dann eben auch gemeinsam zügig umgesetzt und ins Gesetzesblatt gebracht werden. Das tun wir mit diesem Gesetzentwurf.
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Deswegen war es mir eben auch wichtig, es zügig zu machen, nachdem wir uns vor wenigen Wochen darauf geeinigt hatten, dass wir es jetzt in dieser Koalition tatsächlich angehen, das zum 1. Januar 2020 im wahrsten Sinne des Wortes spürbar zu machen – im Sinne von geringeren Beiträgen für die Betriebsrentnerinnen und Betriebsrentner.
Und, ja, etwa ein Drittel der Betriebsrentnerinnen und Betriebsrentner zahlt weiterhin keinen Beitrag zur gesetzlichen Krankenversicherung; das sind diejenigen, die heute schon unter der Freigrenze liegen. Ein weiteres Drittel wird maximal den halben Beitragssatz zahlen; die allermeisten deutlich weniger als den halben Beitragssatz.
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Herr Kurth sagte gerade, das sei doch nur ein kleiner Unterschied.
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– Doch, hat er wohl gesagt. – Nein, damit ist im Kern den über 60 Prozent, die bisher den vollen Beitragssatz zahlen mussten, geholfen.
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Das nächste Thema: Ja, wir haben ein weiteres Drittel, für die es dann nicht der halbe Beitragssatz, sondern mehr ist. Aber auch diese haben immerhin noch eine Entlastung um 300 Euro im Jahr. Ich finde – auch mit Blick auf die Maßnahmen, die wir hier sonst miteinander vereinbaren –, eine Entlastung bzw. Verbesserung um 300 Euro im Jahr ist durchaus eine spürbare Summe.
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Ich kenne das ja: Warum nicht mehr? Klar kann man die Frage stellen, warum es nicht mehr an Entlastung als diese 1,2 Milliarden Euro gibt. Es ist aber doch bezeichnend genug, dass bei diesem Thema FDP und PDS, wie Sie so schön gesagt haben – die Linkspartei –, gemeinsam klatschen.
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Sie machen hier nämlich einen Wettbewerb miteinander, wer allen mehr verspricht, ohne jemals zu sagen, wie das bezahlt werden muss.
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Sie machen typische Oppositionsarbeit: Wir versprechen allen alles, aber wir erklären niemandem, wer das bezahlen muss.
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Den Teil vergessen Sie dann immer.
Sie haben fünf schöne Punkte aufgezählt, Herr Birkwald; den sechsten Punkt haben Sie leider vergessen,
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dass das nämlich am Ende entweder Steuerzahler oder Beitragszahler finanzieren müssen.
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Deswegen: Es geht um einen sauberen Ausgleich von Interessen, und genau das machen wir mit diesem Gesetzentwurf.
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Denn es geht zum Ersten vor allem auch um Fairness innerhalb der Beitragszahler heute. Es ist ein Grundprinzip der gesetzlichen Krankenversicherung, dass höhere Einkommen in den Aufwendungen auch mehr zur gesetzlichen Krankenversicherung beitragen. Ich dachte immer, dass höhere Betriebsrenten ein Stück mehr beitragen als kleinere oder mittlere Betriebsrenten, wäre ein Grundprinzip, das Sie richtig finden.
Zum Zweiten geht es auch um Fairness zwischen den Generationen. Ich dachte, auch das ist ein Prinzip, das Ihnen immer so wichtig war, wenn es um die Frage geht: Wer trägt eigentlich welchen Beitrag zu den Aufwendungen der gesetzlichen Krankenversicherung insgesamt?
Deswegen ist das ein in sich ausgewogenes Paket,
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ein zügig umgesetztes und damit aus meiner Sicht ein entscheidungs- und zustimmungsfähiges Paket.
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Darum bitte ich Sie heute um Zustimmung für dieses Gesetz.
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Vielen Dank, Jens Spahn. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Ralf Kapschack.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor ein paar Monaten schien es noch ausgeschlossen, dass wir bei diesem Thema etwas hinbekommen; denn es gibt dazu keine Vereinbarung im Koalitionsvertrag. Der ein oder andere erinnert sich auch an das kategorische Nein der Bundeskanzlerin. Jetzt haben wir einen großen Schritt vereinbart, der viele Betriebsrentner deutlich entlastet, und das ist gut so.
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Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten steht die gesetzliche Rente im Mittelpunkt der Altersversorgung, und die beste Ergänzung dazu ist die betriebliche Altersversorgung; deshalb wollen wir sie attraktiver machen. Das haben wir bereits in der vergangenen Wahlperiode mit dem Betriebsrentenstärkungsgesetz gemacht. Ich erinnere an den Freibetrag in der Grundsicherung und an den BAV-Förderbetrag.
Aber es gibt nach wie vor einen großen Hemmschuh, der die Attraktivität von Betriebsrenten schmälert, und das ist die volle Verbeitragung. Derzeit werden Betriebsrenten, die über 155,75 Euro liegen, um knapp ein Fünftel gekürzt. Unser Ziel – ich will das noch mal sagen, und auch deutlich sagen – war der halbe Beitrag, so wie wir ihn auch aus der gesetzlichen Rente kennen.
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Als einen ersten Schritt haben wir zusätzlich gefordert, einen Freibetrag einzuführen; denn davon profitieren vor allem kleine und mittlere Betriebsrenten. Diesen ersten Schritt gehen wir jetzt mit dem Gesetz, das wir heute beschließen.
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Mit dem Freibetrag, der jährlich angepasst wird, erreichen wir das Ziel des halben Beitrags für circa 60 Prozent der Betriebsrenten. Das ist schon mehrfach gesagt worden; aber ich glaube, man muss das noch mal unterstreichen. Aber auch die restlichen 40 Prozent profitieren; denn der Freibetrag wird immer beitragsfrei bleiben. Deshalb wirkt der Freibetrag auch bei Einmalzahlung. Das ist aus unserer Sicht ein großer Schritt, und deshalb können wir diesen Kompromiss auch gut vertreten.
Es gab in der Union lange das Argument: Am besten machen wir gar nichts bei diesem Thema; denn wir können nicht alle zufriedenstellen.
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Wenn wir diese Argumentation zur Leitlinie unseres politischen Handelns machen, dann können wir eigentlich relativ wenig machen; denn alle zufriedenstellen werden wir relativ selten. Es ist gut, dass die Union ihren Widerstand aufgegeben hat. Das, was jetzt zur Verabschiedung ansteht, ist der Kompromiss, das ist das, was jetzt möglich ist. Das heißt natürlich nicht, dass wir das Nachdenken einstellen.
Die Direktversicherten sind mit dem Kompromiss nicht zufrieden; das kann ich nach der Vorgeschichte, die zur Doppelverbeitragung geführt hat, auch nachvollziehen. Was ich allerdings nicht nachvollziehen kann und auch nicht akzeptiere – das will ich an dieser Stelle auch sagen –, ist der Ton, in dem viele der Direktversicherungsgeschädigten uns alle, vermutlich täglich, angehen. Das finde ich nicht akzeptabel.
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Wir haben jetzt etwas auf den Weg gebracht, das nicht alle zufriedenstellt – okay –, das aber einen Großteil der Betriebsrentnerinnen und Betriebsrentner deutlich besserstellt. Einer der Sachverständigen hat es bei der Anhörung am Montag auf den Punkt gebracht: Es ist keine perfekte Lösung; es ist ein pragmatischer Kompromiss. – Ich hoffe, dass zumindest Teile der Opposition diesem guten Vorschlag auch zustimmen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Ralf Kapschack. – Letzte Rednerin in dieser Debatte: Emmi Zeulner für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Frau Präsidentin, Sie stellen mich mit zwei Minuten Redezeit vor große Herausforderungen, aber ich werde es versuchen zu meistern.
Daran sind aber Ihre Kollegen schuld.
Es war 2017, als mich in Königsfeld in meiner Heimat jemand angesprochen und gesagt hat: Emmi, bei den Direktversicherungen, bei den Betriebsrenten, da liegt was im Argen. Hör dich mal um! Was ist denn da die Stimmung bei euch in der Fraktion? – Wie der Minister schon angesprochen hat, geht es ganz vielen Kollegen so. Dieses Thema stand auf der Agenda und hat uns bewegt.
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Deswegen bin ich froh, dass wir heute einen entsprechenden Gesetzentwurf auf den Weg bringen, um diese klaffende Wunde, die bei den Betroffenen vorhanden ist, wirklich zu schließen, eine Antwort zu geben und zukünftig die Betriebsrentner signifikant zu entlasten.
Zukünftig werden 60 Prozent maximal nur noch die Hälfte vom Krankenversicherungsbeitrag zahlen,
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und rund 40 Prozent haben künftig weniger Ausgaben für die Krankenversicherung bei der Auszahlung ihrer Betriebsrente. Diejenigen, deren Betriebsrenten oberhalb des Freibetrags von 160 Euro liegen, werden ab 2020 mit rund 300 Euro im Jahr entlastet. Im Vergleich zu anderen Maßnahmen ist das schon was. Es ist ein gutes Gesetz, das wir hier auf den Weg bringen, und es spiegelt auch die Ungerechtigkeit wider, die empfunden wird, gibt eine Antwort darauf, dass rückwirkend die Spielregeln geändert wurden, damit Menschen, die während ihres Arbeits- und Erwerbslebens auf Konsum verzichtet haben, bei der Auszahlung nicht noch doppelt gestraft sind.
Es stärkt aber auch die betriebliche Altersversorgung für die Zukunft. Es ist also ein ganz klares Signal, dass wir als Politik Vertrauen zurückgewinnen wollen. Deswegen gilt mein Dank unserem Gesundheitsminister Jens Spahn, der hier wirklich was Gutes auf den Weg gebracht hat, aber auch den Kollegen Carsten Linnemann und Ralf Kapschack. Wir haben auch vonseiten der Mittelstandsunion der CSU in Bayern beim Parteitag Anträge eingebracht. Es ist ganz klar nicht nur ein Interesse der Arbeitnehmer, hier etwas zu verbessern, sondern auch der Arbeitgeber; denn der Mittelstand bei uns daheim, die Unternehmer haben ein Interesse daran, dass die Beschäftigten, die für sie gearbeitet haben, im Alter auch eine gute Versorgung haben.
Zum Schluss möchte ich sagen: Die FDP hat im Wahlkampf getitelt mit „Mehr Mut“. Deswegen finde ich es erneut ganz, ganz schade, dass Sie diesen Mut bei den Koalitionsverhandlungen zu Beginn der Legislatur nicht bewiesen haben.
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Es gilt für den Soli, aber es gilt auch hier bei der Abschaffung der Doppelverbeitragung.
Frau Kollegin.
Und dass die Grünen heute nicht zustimmen, obwohl sie damals maßgeblich Verantwortung getragen haben, finde ich einfach schlechten Stil.
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Frau Kollegin.
Deswegen bin ich froh, dass wir das hier für die Union und die SPD gemeinsam machen.
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Vielen Dank, Emmi Zeulner. – Damit schließe ich die Aussprache.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Letzte Sitzungswoche war ich auf einem Podium beim Selbstständigentag 2019.
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Ein Kollege der Koalition wurde dort gefragt, warum aus seiner Sicht die Gründungsquote in Deutschland eigentlich immer weiter sinke. Seine ernstgemeinte Antwort war: Weil der Arbeitsmarkt brummt und jede und jeder jetzt eine gute Anstellung findet; da will sich niemand selbstständig machen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, da steckt eine ganze Menge drin. Selbstständige sind aber keine Erwerbstätigen zweiter Klasse.
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Ich habe zu oft bei den Debatten hier im Haus das Gefühl, dass große Teile immer noch von einer vermeintlichen Norm geprägt sind, nämlich Vollzeit, sozialversicherungspflichtig angestellt, nicht Zeitarbeit. Alles, was nicht dieser Norm entspricht, ist dann ganz schnell atypisch, und aus atypisch wird dann in der politischen Debatte ganz schnell prekär.
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Das hat aber mit der Realität von Selbstständigen und Freelancern in diesem Land nichts zu tun.
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Ein positives Bild von Selbstständigkeit? Fehlanzeige! Das wollen wir heute ändern.
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Lassen Sie uns doch die Chancen der modernen Arbeitswelt endlich mutig umarmen! Das betrifft ja nicht nur das Thema Selbstständigkeit. Wo bleiben denn das moderne Arbeitszeitgesetz und der Rechtsrahmen für Homeoffice und mobiles Arbeiten, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition?
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Wo ist der Sozialstaat, der zur modernen Arbeitswelt passt und zum Beispiel auch Zickzacklebensläufe, das heißt den Wechsel von einer Anstellung in die Selbständigkeit und Gründung zurück in die Anstellung, einfacher macht? Fehlanzeige, liebe Kolleginnen und Kollegen! Nicht die Menschen in unserem Land sind zu vielfältig, sondern die Regeln sind zu starr. Das müssen wir verändern, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Und wo sind die Maßnahmen für eine neue Gründerzeit und eine Kultur der Selbstständigkeit? Es ist doch eine Frage der Selbstbestimmung, dass die Menschen frei entscheiden wollen,
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wann, von wo und wie sie arbeiten. Das ist aber auch eine Frage der Innovationskraft unserer Gesellschaft. Umfragen zeigen, dass heute schon Firmen in diesem Land wegen der Rechtsunsicherheit davon absehen, IT-Freelancer zu beschäftigen. Da müssen wir endlich aufhören, den Menschen Steine in den Weg zu legen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Deshalb schlagen wir Freie Demokraten hier eine konkrete Agenda für Selbstständigkeit vor. Ich nenne drei Beispiele:
Erstens: ein modernes Statusfeststellungsverfahren. Das klingt megakompliziert, und das Problem ist: Genau das ist es heute auch. Es ist bürokratisch, unzuverlässig, schwer kalkulierbar
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und schon in der Theorie grotesk; denn heute kann Selbständigkeit in Deutschland rechtlich gesehen nur festgestellt werden, indem man beweist, dass man nicht angestellt ist. Das ist doch absurd, liebe Kolleginnen und Kollegen!
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Da brauchen wir ein modernes, digitales und eben verlässliches Verfahren. In Großbritannien gibt es ein Onlinetool, mit dem man in 10 Minuten unbürokratisch feststellen kann, dass man selbstständig ist. Wenn die Briten das schaffen, dann schaffen wir das in Deutschland doch auch.
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Zweitens: echte Wahlfreiheit bei der Altersvorsorge. Selbstständige sorgen schon heute weit überwiegend gut für das Alter vor, und das sollen künftig alle. Aber was planen CDU, SPD, Grüne und Linke? Sie wollen eine Pflichtmitgliedschaft in der gesetzlichen Rentenversicherung, mit ein bis zwei Ausnahmen.
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– Ja, da klatschen Sie. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, Selbstständige entscheiden so viele Fragen in unternehmerischer Freiheit selbst; sie können auch selbst entscheiden, wie sie fürs Alter vorsorgen. Deshalb brauchen wir Wahlfreiheit.
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– Ich nehme gern eine Zwischenfrage an, Herr Präsident.
Wenn Sie eine zulassen, dann soll sie gestellt werden. – Lieber Kollege Dehm.
Er hat sich gemeldet.
Natürlich.
Das klingt genau nach dem unerbittlichen Freiheitsbegriff der FDP. Haben Sie mal erlebt, wie es Solo-Selbstständigen geht, wenn sie nach einer gewissen Zeit merken, dass sie kein Geld in der Alterssicherung haben? Haben Sie mal erlebt, was es heißt, wenn man – das trifft auf jede Selbstständigentätigkeit zu, auch auf das Handwerk – nur eine Krankheit von der Armutsgrenze entfernt ist? Ich meine, wovon reden Sie? Sie reden von Unternehmern, die so erfolgreich sind, dass sie es sich leisten können, FDP zu wählen; aber ich glaube, der Großteil der Selbstständigen braucht den Rest des demokratischen Hauses.
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„Unerbittliche Freiheit“, das ist schon eine ganz bemerkenswerte Aussage, lieber Herr Kollege Dehm von den Linken. Reden wir doch mal über die Realität! Wir wollen ja, dass es eine Pflicht zur Vorsorge gibt; da ist sich das Haus weitestgehend einig. Aber die Frage ist doch: Ist es bei der Gruppe der Selbstständigen, die so vielfältig ist, richtig, vorzuschreiben, auf welchem Weg das passieren soll?
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Und ist es auf der anderen Seite noch zeitgemäß – um das klar zu beantworten, Herr Kollege –, dass wir gleichzeitig Selbstständigen zum Beispiel verbieten, zu riestern?
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Deswegen kann man heute, wenn man von der Anstellung in die Selbstständigkeit wechselt, oft seine Altersvorsorge nicht mitnehmen. Das ist doch absurd!
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Drittens und letztens, Herr Kollege Dehm: Ist es eigentlich noch zeitgemäß – ein weiteres Beispiel dafür, dass wir Selbstständige in diesem Land schlechter behandeln –,
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dass Selbstständige, wenn sie sich freiwillig für die gesetzliche Krankenversicherung entscheiden, in vielen Fällen höhere Beiträge zahlen müssen als identisch verdienende Angestellte?
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Wir müssen doch alle Erwerbsformen materiell gleichbehandeln, Herr Kollege. Das können wir gerne schaffen. Aber dann müssen wir die Schlechterbehandlung an ganz vielen anderen Stellen in der Sozialversicherung endlich beenden.
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Das sind drei Eckpunkte unserer Agenda für Selbstständigkeit. Das ist der Beitrag, den wir als Arbeitsmarkt- und Sozialpolitiker ganz konkret für eine neue Kultur der Selbstständigkeit leisten können. Uns als Freien Demokraten ist ganz egal, wie jemand selbstständig ist. Ob das die wachstumsorientierte Start-up-Gründerin ist, ob das der gemeinwohlorientierte Social Entrepreneur ist oder die Freelancerin mit einer genialen Produktidee oder einer besonderen Fähigkeit:
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Sie alle sollen Möglichkeiten haben. Von der Politik brauchen sie dafür endlich Fairness und eine Politik, die die moderne Arbeitswelt und ihre Lebensrealität versteht. Dafür stimmen Sie gerne unserem Antrag zu, liebe Kolleginnen und Kollegen!
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren Zuhörer! Wir beraten heute einen Antrag der FDP zur Selbstständigkeit mit dem Titel „Fairness für Selbstständige – Statusfeststellungsverfahren reformieren, Altersvorsorge ermöglichen, Kranken- und Arbeitslosenversicherung öffnen“. Ich teile die Auffassung, dass gerade bei den Solo-Selbstständigen in jüngster Vergangenheit sicherlich eher Unsicherheit entstanden ist oder in der Vergangenheit Unsicherheit bestand im Hinblick auf die Frage: Sind sie wirklich Selbstständige, oder sind sie Arbeitnehmer?
Da bin ich auch schon beim Statusfeststellungsverfahren, Herr Kollege Vogel, das Sie angesprochen haben. Da haben wir in der Tat eine Problemlage. Ich schicke allerdings gleich vorweg, dass wir sie im Koalitionsvertrag erwähnt haben und auch an Lösungen arbeiten. Ja, Sie kommen mit dem Antrag etwas früher als wir mit unseren Ausarbeitungen. Das hat aber auch damit zu tun, dass das Verfahren sehr kompliziert und sehr komplex ist.
Sie kommen jetzt daher und sagen: Dann muss man einfach mal entscheiden, und dann ist das eben so; man kann ja auch vorab entscheiden. – Sie schreiben in den Antrag hinein: Wir können das, wenn das einmal festgestellt worden ist, ja einfach unbefristet für die Zukunft festmachen. – Nein, so geht es nicht. Es geht deswegen nicht, weil wir akzeptieren müssen, dass wir die Frage, ob jemand sozialversicherungspflichtig beschäftigt ist oder nicht und sich damit in einem Arbeitnehmerverhältnis befindet oder selbstständig ist, leider Gottes meistens erst im Nachhinein beantworten können. Erst dann können wir sagen, wie das Vertragsverhältnis tatsächlich gelebt worden ist. Das ist genau das Problem, vor dem wir stehen.
Rechtssicherheit – da bin ich mit Ihnen sofort einer Meinung – wünsche ich mir in diesem Punkt auf jeden Fall.
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Ich würde viel dafür tun. Wir tun auch alles dafür, mehr Rechtssicherheit herzustellen. Nur: Mit den von Ihnen vorgeschlagenen Maßnahmen wird das in meinen Augen nicht ganz funktionieren.
Ich nehme das Beispiel Positivkatalog, den Sie angesprochen haben. Sie erinnern sich vielleicht noch an die Zeit um 2002, 2003. Damals hat die rot-grüne Bundesregierung versucht, das Thema Scheinselbstständigkeit besser in den Griff zu bekommen; so wurde ein Kriterienkatalog in den § 7 SGB IV eingeführt. Man hat den Kriterienkatalog nachher wieder aus dem Gesetz genommen, weil er nicht funktioniert hat. Warum nicht? Weil gerade die Kriterien, die man eingeführt hat, wiederum zu mehr Rechtsunsicherheit führten und mehr Auslegungsmöglichkeiten bestanden.
Deswegen halte ich, ehrlich gesagt, einen schlanken Katalog für besser, der vor allen Dingen auf eine Vielzahl von Lebensverhältnissen angewandt werden kann. Natürlich muss das durch die Rechtsprechung entsprechend ausgelegt werden. Manche sagen: Man kann das doch nicht der Rechtsprechung überlassen. – Doch, dafür ist die Rechtsprechung in meinen Augen da. Gerade die jüngste Vergangenheit hat gezeigt, dass einige Entscheidungen des Bundessozialgerichtes gezielt dazu geführt haben, dass mehr Rechtssicherheit entstand und Fälle entschieden werden konnten. Deswegen wird – egal ob wir den Kriterienkatalog positiv oder negativ nennen – dieser keine Lösung sein.
Ich nenne ein Beispiel. Wir haben in der letzten Legislaturperiode den § 611a BGB eingeführt, den Arbeitnehmerbegriff. Da war auch die Frage: Was ist eigentlich ein Arbeitsvertrag, und was ist Selbstständigkeit? Damals gab es eine Diskussion über einen Kriterienkatalog, mit dem man versuchte, das voneinander abzugrenzen. Wenn man sich diesen Kriterienkatalog nahm und ihn auf die Rechtsprechung projizierte, dann kam man zu dem Ergebnis, dass in einem Fall fünf Kriterien aus dem Katalog erfüllt waren, ein Kriterium jedoch nicht. Jetzt hätte man sagen müssen: „Dann hätte es ein Arbeitsverhältnis sein müssen“; aber die Rechtsprechung kam zu einem anderen Ergebnis. Das heißt, Kriterienkataloge helfen dabei in meinen Augen nicht weiter.
Sie fordern, künftig den Status nach einem Feststellungsverfahren zeitlich unbefristet aussprechen zu können und nur bei wesentlichen Abweichungen der Umstände eine Änderung vorzunehmen. Das ist, wie ich eben schon gesagt habe, zu kurz gesprungen, weil man sich immer separat das Verhältnis anschauen muss, man muss erfassen, wie es tatsächlich gelebt wird, und das können wir erst im Nachhinein.
Ich will einen weiteren Vorschlag aufgreifen; Sie sagten: Man braucht eine neutrale Stellung. – Dem kann ich einiges abgewinnen, vor allen Dingen weil wir im medizinischen Bereich, im Medizinischen Dienst, hingegangen sind, das in eine Anstalt des öffentlichen Rechts zu überführen. Natürlich kommt man damit dem Vorwurf, in eigener Sache zu entscheiden, etwas entgegen; aber an der Stelle muss man aufpassen.
Zunächst einmal ist wichtig, mehr Personal in diesen Stellen zu bekommen.
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Für die Verfahrensbeschleunigung muss nicht nur mehr Personal in diese Clearingstellen kommen, sondern auch die Möglichkeit einer mündlichen Anhörung im Verfahren eröffnet werden; denn nur nach reiner Faktenlage zu entscheiden, wird den Tatsachen nicht gerecht. Dazu gehört auch eine mündliche Anhörung. Und vor allen Dingen: Wenn die Clearingstellen einmal entschieden haben, dann sollte diese Entscheidung für alle Sozialversicherungsträger gelten, sodass nicht jede Versicherung neu entscheiden kann; denn das führt auch zu mehr Unsicherheit.
Letztes Beispiel – ich komme zum Schluss, Herr Präsident – ist, dass auch Betriebsprüfungen, die beanstandungsfrei gelaufen sind, durchaus zur Rechtssicherheit beitragen können. Man könnte sagen: Bis jetzt ist alles gut gelaufen und weiter in die Vergangenheit gehen wir nicht, auch wenn das ein wirtschaftliches Risiko birgt.
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Wir nehmen den Antrag gerne zur Kenntnis, werden ihn mit beraten. Aber an den Vorschlägen als solche muss man noch ein bisschen arbeiten.
Danke schön.
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Für die AfD-Fraktion hat das Wort der Kollege Martin Hebner.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Oellers, man muss jetzt ganz klar sagen: Das war ja schon fast peinlich. – Denn Sie haben gerade klar gesagt: Hier sind Unsicherheiten entstanden. – Bitte schön, wenn Sie das erkennen, warum regeln Sie das nicht?
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Ich meine, wir haben ja komplettes Verständnis dafür, dass Sie Rücksicht auf Ihren Koalitionär, die SPD, nehmen. Aber Sie müssen doch auch genauso versuchen, Ihrem gesunden Menschenverstand zu folgen.
Wir kennen doch alle die Zahlen der Wissensträger, die jedes Jahr aus diesem Land abwandern. Ja, dann regeln Sie doch mal, dass diese nicht noch in ihrer Berufsausübung behindert werden. Man kann ganz klar sagen: Die eingeschleusten Migranten werden diese Menschen nicht ersetzen. Wir müssen schauen, dass wir die Personen, die hier Wissensträger sind, im Lande halten. Anders geht’s nicht.
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Selbstständige in Deutschland sind in dem Falle bei dieser Regierung, aber leider auch schon bei der Vorgängerregierung – fast immer, könnte man sagen – eine verfolgte Beschäftigtengruppe. Das ist nun leider so. Im Übrigen, liebe FDP, wurde auch in den Jahren 2009 bis 2013 daran nicht viel geändert. Da haben Sie auch nicht viel dazu beigetragen, dass sich das entspannt; denn Klientel sind allenfalls Arbeitnehmer.
Nur: Jedem selbstständig Berufstätigen oder, noch viel schlimmer, jedem selbstständig Denkenden wird hier in diesem Lande misstraut. Das Misstrauen geht so weit, dass man Bewertungsmaßstäbe, sogenannte Statusfeststellungsverfahren, mit Kriterien aus dem 19. Jahrhundert nimmt. Bitte schön, schauen Sie sich doch mal die Kriterien an; die sind doch für die heutige berufliche Praxis völlig untauglich. So können wir doch nicht weitermachen, und das ist uns allen bewusst. Zeigen Sie doch bitte mal etwas mehr Courage, und ändern Sie das, was auch Sie festgestellt haben.
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Denn – das kann man ganz klar an Ihrem Koalitionär sehen – mangels eigener beruflicher Praxis glaubt man, Selbstständige kontrollieren oder sogar noch gängeln zu müssen. Man muss ganz klar sagen: Es ist interessant, dass Menschen, die in ihrem Leben noch nie eine Beschäftigung – natürlich außerhalb der parlamentarischen Tätigkeit – ausgeübt haben, anderen vorschreiben wollen, wie sie ihre Arbeit durchzuführen haben. Es ist einfach hanebüchen, was hier passiert in diesem Lande.
Wir müssen bei den Kriterien des Statusfeststellungsverfahrens ganz klar auf die heutige berufliche Praxis Rücksicht nehmen; denn es kann nicht sein, dass jemand, der jahrelang erfolgreich selbstständig war, plötzlich als Scheinselbstständiger eingeordnet wird – und das, meine Damen und Herren, als Gipfel des Ganzen auch noch vier bis fünf Jahre rückwirkend mit entsprechenden Zahlungen. Diese Unsicherheit – das ist nicht nur Unsicherheit, das ist eine komplette Rechtsunsicherheit und Verunsicherung – der Personen, die unsere Wirtschaft am Laufen halten, ist untragbar.
Ich will Ihnen jetzt noch ganz klar sagen: Ich gehe davon aus, dass Sie wahrscheinlich auch von der normalen beruflichen Praxis gerade im IT-Bereich wenig Kenntnis haben. Ein Beispiel: Sie haben ein IT- Projektgeschäft. Dieses Projektgeschäft erfordert neben firmeneigenem Personal – Projekte sind Weiterentwicklungen – den Zukauf von Know-how. Diese zusätzlich benötigten Kräfte hat keine Firma vor Ort verfügbar. Dieser Zukauf ist eine Tätigkeit auf Zeit. Ich möchte Sie nicht überfordern, aber bitte stellen Sie sich vor:
(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Sie überfordern doch schon Ihre eigenen Leute!
Es gibt in diesem Bereich Personen, die nicht in Organisationen eingegliedert werden wollen, sondern selbständig tätig sind und die definitiv ihren Marktwert kennen und definitiv sagen können, welchen Preis sie für ihre Arbeit verlangen.
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Ich kann Sie beruhigen, die Personen, die Sie unterstützen wollen – es ist fast eine vergiftete Förderung; ich nenne als Beispiel einen Orga-DBa, einen Datenbankadministrator –, verdienen definitiv mehr als Sie, wahrscheinlich mehr als das Doppelte. Solche Personen sind selbständige Wissensarbeiter, und die müssen wir in Deutschland unterstützen. Wir dürfen sie nicht weiter gängeln und auch noch mit einer rechtlichen Unsicherheit rückwirkend belasten. Im Übrigen sieht die jetzige Praxis vor, dass sie auch noch rückwirkend als Scheinselbständige eingeordnet werden. Das ist nicht tragbar. Hier ist etwas zu ändern, und hier stehen wir auch den Kollegen von der FDP, aber auch den Kollegen von der Union, die da mutwillig rangehen, gerne für Abstimmungen zur Verfügung.
Herzlichen Dank.
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Die Kollegin Gabriele Hiller-Ohm hat das Wort für die SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrter Herr Kollege Vogel! Ich fange einmal mit dem Positiven an: Ich finde es gut, dass wir uns hier und heute mit der Situation von Selbstständigen beschäftigen und nach Wegen suchen, auch für Selbstständige eine bessere soziale Absicherung hinzubekommen. Denn es ist ja richtig, dass sich in der modernen Arbeitswelt Arbeit und damit auch Arbeitsverhältnisse weiter verändern. Die Übergänge zwischen Selbstständigkeit und abhängiger Beschäftigung werden immer fließender werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, lieber Herr Vogel, die Große Koalition hat deshalb schon 2007 auch Selbstständige verpflichtet, sich gegen Krankheit zu versichern, um im Ernstfall somit den vollen Schutz der Krankenversicherung in Anspruch nehmen zu können. Damit vor allem Solo-Selbstständige an dieser Stelle nicht überlastet werden, haben wir die Mindestbeitragsbemessungsgrundlage halbiert und damit die Beiträge für Solo-Selbstständige bezahlbarer gemacht. Das ist auf Initiative der SPD passiert.
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Das war ein erster wichtiger Schritt. Jetzt soll ein Gesetz zur Alterssicherung für Selbstständige folgen. Das hat unser Arbeitsminister Hubertus Heil bereits angekündigt, und das Ministerium, so habe ich erfahren, arbeitet mit Hochdruck an einem entsprechenden Gesetzentwurf. Wir brauchen Ihren Antrag an dieser Stelle also überhaupt nicht.
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Sie fordern in Ihrem Antrag darüber hinaus, dass das Prüfverfahren, ob es sich bei einer Arbeit um selbstständige oder abhängige Beschäftigung handelt, reformiert wird. Das ist das sogenannte Statusfeststellungsverfahren, das von der Deutschen Rentenversicherung kostenlos durchgeführt wird.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, auch mit dieser Forderung kommen Sie zu spät. Wir haben mit unserem Koalitionspartner eine Überprüfung und Vereinfachung im Koalitionsvertrag bereits festgeschrieben.
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Auch das ist auf Druck der SPD so in den Koalitionsvertrag hineinverhandelt worden;
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Kollege Oellers hat schon ausgiebig darauf hingewiesen, wie das einmal aussehen kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, Sie wollen, dass zukünftig nicht mehr die Deutsche Rentenversicherung prüft. Sie wollen damit auch Steuerberaterinnen und Steuerberater beauftragen.
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– Das steht in Ihrem Antrag. – Die werden sich, liebe Kolleginnen und Kollegen, über Ihre Initiative wirklich sehr freuen, da bin ich mir sicher; denn umsonst werden die Steuerberater diesen Job nicht machen wollen.
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Da wird wieder einmal deutlich, für wen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, Politik machen:
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mit Sicherheit nicht für Menschen, die in die Scheinselbstständigkeit getrieben werden, damit Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber Sozialversicherungsbeiträge sparen können. Leider wurden und werden die Grauzonen zwischen selbstständiger und nichtselbstständiger Beschäftigung zulasten der Beschäftigten ausgenutzt. Deshalb fordert die SPD einen guten sozialen Schutz für alle, auch für Selbstständige. Der Sozialstaat muss für alle da sein. Dafür kämpft die SPD.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Die nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke die Kollegin Jessica Tatti.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Johannes Vogel,
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ich hätte ja nicht gedacht, dass ich das je sagen würde, aber eigentlich kann ich Ihren Antrag in relevanten Teilen unterstützen.
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Sie schreiben, dass eine gesetzliche Neuregelung des Statusfeststellungsverfahrens auf das Ziel gerichtet sein muss – ich zitiere wörtlich –,„dass Auftraggeber sich nicht aus der sozialen Verantwortung stehlen und etwa Mindestlöhne durch Scheinselbständigkeit umgehen“. Zudem fordern Sie eine Vorsorge, die zu Renten oberhalb der Grundsicherung führt. Diesen Tenor habe ich in Ihrer Rede vermisst. Ihr Antrag ist auf jeden Fall besser als die Rede, die Sie hier gehalten haben.
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Herr Vogel, ich gratuliere Ihnen, dass Sie zumindest in der schriftlichen Version Ihres Antrags in der Realität angekommen sind und sich den Positionen meiner Fraktion angeschlossen haben.
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Begrüßenswert ist trotz der schlechten Rede, Herr Vogel, dass Sie Selbstständige endlich differenzierter betrachten; denn natürlich gibt es viele hochqualifizierte und hochdotierte Selbstständige, die ihre Tätigkeit selbstbestimmt ausüben, und das ist auch gut so.
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Wir haben aber ein Problem damit, dass immer mehr Beschäftigte aus reiner Profitgier der Unternehmen in die Selbstständigkeit gedrängt werden, und das oft, ohne dass sie es wollen. Oftmals leisten sie als Selbstständige weiterhin die gleiche Arbeit wie zuvor als Angestellte, mit dem gravierenden Unterschied, dass sie als Solo-Selbstständige keinen Anspruch auf eine vom Arbeitgeber mitfinanzierte Rente und Krankenversicherung haben. Sie haben keinen Anspruch auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, keine gesetzlichen Urlaubsansprüche, keine Mitbestimmung und keinen Anspruch auf den Mindestlohn. Denken wir an den prominenten Fall des Essenslieferdienstes Deliveroo in Köln, der kurzerhand komplett auf Solo-Selbstständige umstellte, nachdem die Beschäftigten einen Betriebsrat gegründet hatten. Das ist ein trauriges Beispiel dafür, wie ungeniert sich Arbeitgeber ihren sozialen Pflichten für die Gesellschaft entziehen. Dem müssen wir endlich einen Riegel vorschieben.
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Für viele sind Phasen prekärer Selbstständigkeit Phasen ohne Absicherung fürs Alter. Ein großer Teil der Solo-Selbstständigen verdient weniger als den gesetzlichen Mindestlohn. Da bleibt kaum etwas übrig. So kommt es, dass heute nur rund ein Viertel aller Solo-Selbstständigen eine Altersvorsorge haben. Diesen Zustand werde ich, wird meine Fraktion nicht akzeptieren.
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Mit Ihren Ideen, Kolleginnen und Kollegen der FDP, zum Beispiel die Riester-Rente auch für Selbstständige zu fördern, sind Sie völlig auf dem Holzweg. Der Bund der Versicherten sagt: Geld fürs Alter ist unterm Kopfkissen besser angelegt als in einem Riester-Vertrag.
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Deshalb ist unsere Lösung die richtige. Wir wollen, dass alle, auch die Selbstständigen, grundsätzlich in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen, und zwar zuBeiträgen, die sie sich leisten können.
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Davon profitieren auch alle. 2017 lag die Rendite der gesetzlichen Rente bei über 5 Prozent. Vergleichen Sie das einmal mit den derzeitigen Garantiezinsen der privaten Vorsorge. Falls Sie, Johannes Vogel, lernfähig sind, nehmen Sie das als Hausaufgabe mit. Bis dahin macht die Linke weiterhin die bessere Politik.
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Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort der Kollege Markus Kurth.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir, Bündnis 90/Die Grünen, wollen Selbstständigkeit ermöglichen. Wir wollen die Freiheit, Risiken eingehen zu können, stärken, und darum wollen wir gerade Gründerinnen und Gründer von bürokratischen Verfahren wie dem Statusfeststellungsverfahren entlasten.
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Wir wollen das stärken, woran es der FDP vor zwei Jahren gemangelt hat und auch heute wieder mangelt. Wir wollen Mut stärken und Mut machen.
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Da muss man aber auch sagen: Zur Freiheit, Risiken einzugehen, gehört eben auch soziale Sicherheit; denn wenn ich mich auf ein Fundament verlassen kann, kann ich auch unternehmerisch besser tätig werden. Da gehören zwei Dinge zusammen; die stehen nicht gegeneinander.
Neben dem oder der kreativen Selbstständigen, der oder die dieses Land voranbringt, gibt es eben auch leider Auftraggeberinnen und Auftraggeber, die diese Form von Selbstständigkeit ausnutzen und Menschen in prekäre Situationen drängen, um zu vermeiden, Sozialversicherungsabgaben zahlen oder den Mindestlohn einhalten zu müssen. Ich spreche zum Beispiel von Kurierfahrern – meistens sind es Männer –, die 16 Stunden am Tag arbeiten, in ihrem Lieferwagen schlafen müssen und auf Stundenlöhne von 2 Euro kommen. Das gibt es auch.
Viele von den erfolgreichen Gründerinnen und Gründern und Selbstständigen ärgern sich ja selbst über diese ausbeuterischen Praktiken, weil das nämlich leider dann auf sie zurückfällt. Ich glaube, so differenziert dürfen wir die Debatte sehen.
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Frau Tatti hat hier gerade – das ist angesichts der kurzen Redezeit vielleicht doch einen Vorteil – aufgezählt, welches Leistungsspektrum und welche Renditen beispielsweise eine Rentenversicherung bieten kann. Ich finde, wir müssen darauf tatsächlich einen unverstellten Blick haben.
Johannes Vogel, du hast behauptet, dass die Vielfalt der Selbstständigkeit so groß sei, dass man das doch nicht mit einer einheitlichen Sozialversicherung abdecken könnte. Was ist denn das – frage ich mal umgekehrt – für ein Bild von abhängiger Beschäftigung?
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Laufen denn da alle in grauen Mao-Jäckchen herum und tun dasselbe?
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Abhängige Beschäftigung ist sehr vielfältig. Gerade weil sie so vielfältig ist, weil die Erwerbs- und Einkommenssituation so unterschiedlich sein kann, braucht es ein großes Risikokollektiv, eine große Solidargemeinschaft; denn diese kann Vielfalt am besten absichern.
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Das gilt übrigens auch für den Wechsel zwischen Selbstständigkeit und abhängiger Beschäftigung, was auch immer häufiger vorkommen kann. Spielen Sie das nicht gegeneinander aus!
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Ich glaube, so differenziert sollten wir uns mit der Frage „soziale Absicherung von Selbstständigkeit“ auseinandersetzen;
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denn sonst wird man den dynamischen Gründerinnen und Gründern nicht gerecht, und man hilft auch denjenigen nicht, die in prekäre Verhältnisse gedrängt worden sind.
Vielen Dank.
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Für die CDU/CSU-Fraktion ist der nächste Redner der Kollege Max Straubinger.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die FDP beglückt uns heute ja mit einem Antrag, der zweigeteilt ist. Erstens geht es darum, das Statusfeststellungsverfahren zu reformieren, und zweitens soll der Antrag die Altersvorsorge für die Selbstständigen besser ins Blickfeld rücken. Das sind ja beides auch wesentliche Ziele der Koalitionsvereinbarung, die wir getroffen haben, in der wir uns dazu bekennen, beim Statusfeststellungsverfahren, wenn es notwendig ist, entsprechende Änderungen herbeizuführen und gleichzeitig vor allen Dingen die Vorsorgeverpflichtung für Selbstständige zu formulieren, entsprechend auszugestalten und in ein Gesetz zu gießen. So weit, so gut.
Es ist aber auch festzustellen, dass das Statusfeststellungsverfahren nicht nur eine Gängelung bzw. die Verhinderung des Sich-selbstständig-Machens ist, wie es Johannes Vogel versucht zu insinuieren. Vielmehr ist es ja entscheidend für alle Seiten, nämlich einmal für den, der sich selbstständig macht, aber auch für denjenigen, der später an einen sogenannten Selbstständigen Aufträge vergibt. Es gibt auch die umgekehrte Situation, dass sich plötzlich jemand als Selbstständiger vielleicht in einen Betrieb einschleicht und sich später aufgrund seiner Arbeit und seiner Tätigkeit, die er ausgeführt hat, feststellen lässt, dass er Arbeitnehmer ist.
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Das gibt es auch. Das kann passieren. Ich sage nicht, dass es bewusst gemacht wird; aber man hat solche Fälle gehabt. Deshalb ist ein Statusfeststellungsverfahren unbedingt notwendig, um Rechtssicherheit zu haben für alle Seiten, lieber Johannes Vogel. Man sollte hier nicht nur sozusagen grenzenlose Freiheit propagieren, die hinterher dann doch in irgendeinen Rahmen gesetzt werden muss.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Vogel?
Ja, selbstverständlich.
Ja, lieber Max Straubinger, sehr geehrter Herr Kollege, habe ich das gerade richtig verstanden? Das erste Beispiel, das du in deiner Rede erwähnst, sind Selbstständige, die sich in Betriebe einschleichen, um dann doch noch irgendwie angestellt werden zu können? Ist das wirklich das Bild der Koalition von Selbstständigen in diesem Land?
Nein. Das ist nicht das Bild der Koalition und auch nicht unser Bild. Vielleicht ist der Ausdruck jetzt auch im Überschwang etwas unglücklich gewesen. Das gebe ich ja zu.
({0})
Es gibt das aber natürlich. Das sollte man nicht verkennen, lieber Johannes Vogel.
Es geht beim Statusfeststellungsverfahren um Rechtssicherheit – für beide Seiten. Ich glaube nicht, dass mit diesen Vorstellungen, die die FDP in ihrem Antrag gebiert, vollendete Rechtssicherheit gewährt werden kann und sich nicht auch wieder Abgrenzungsfragen stellen.
Wenn ich in Ihrem Antrag lese, dass ein Positivkatalog formuliert werden soll, der zum Beispiel einen Mindeststunden- oder Mindesttagessatz enthalten soll, frage ich mich: Was stellt sich die FDP vor? Einen Stundensatz von 200 Euro? Oder darf es ein bisschen mehr sein?
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300 oder 400 Euro? Oder – gehen wir ein bisschen nach unten – sind es 50 Euro? Wo ist die konkrete Antwort, was hier letztendlich die Grundlage sein soll? Ich glaube, dass man der Realität damit nicht gerecht werden kann.
Die FDP sagt dann auch noch, dass eine ausreichende Altersvorsorge vorhanden sein muss. Das muss man mal einem abverlangen, der sich gerade selbstständig gemacht hat. Er soll dann, bevor er sich selbstständig macht, nachweisen, dass er eine ausreichende Altersvorsorge hat. Das steht in eurem FDP-Antrag. Das ist nicht meine Vorstellungswelt. Wenn sich jemand selbstständig macht, kann es nicht sein, dass er als Erstes nachzuweisen hat, dass er eine ausreichende Altersvorsorge hat.
({2})
Dann soll das besondere betriebliche Know-how, das er vorzuweisen hat, geprüft werden. Ich bin ja mal gespannt, wer das prüft. Die FDP vielleicht in ihrer Großartigkeit?
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Oder vielleicht Bündnis 90/Die Grünen? Oder wir als CDU/CSU? Wir könnten es natürlich; das sage ich ganz offen.
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Für den, der dieses besondere Know-how – vielleicht auch noch ein Politikberater – festzustellen hat, wird es interessant. Darauf freue ich mich schon; das wird eine tolle Nummer.
Schließlich komme ich noch zu dem „erklärten Parteiwillen“. Ja, gut, wenn der Parteiwille allein ein positives Kriterium ist, dann brauche ich überhaupt kein Statusfeststellungsverfahren; denn wenn der Parteiwille allein entscheidet, dann ist das nicht nötig. Lieber Johannes Vogel, das ist dünne Suppe, was ihr da aufgeschrieben habt. Das muss ich wirklich sagen.
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Da hätte ich euch beim Überlegen schon etwas mehr zugetraut.
Ich komme zum zweiten Teil des Antrags: die schöne Pflicht zur Vorsorge. Wir sind uns einig, dass Selbstständige Vorsorge leisten müssen. Dass aber die FDP gleich als Erstes anbietet, alle, die jetzt der gesetzlichen Rentenversicherung als Selbstständige, also Handwerker, aber auch Freiberufler – sie haben ja nur ein berufsständisches Versorgungswerk –, unterworfen sind, aus der gesetzlichen Rentenversicherung herauszunehmen und von diesem Joch zu befreien, ist allerhand. Sie fordern, dass alle eine Altersvorsorge betreiben müssen, nehmen aber gleichzeitig die Selbstständigen heraus, die sich dann entscheiden können, ob sie irgendeine Vorsorge betreiben wollen, etwa in obskuren Anlagemöglichkeiten, möglicherweise im eigenen Unternehmen, das dann unter Umständen nichts mehr wert ist. Liebe Kollegen von der FDP, da müsste man schon etwas näher an der Realität bleiben, statt im Wolkenkuckucksheim irgendwelche Dinge zu gebären.
Wir werden diesen Antrag natürlich bestens beraten. Aber ich habe nicht den Eindruck, dass er sehr zielführend geschrieben worden ist.
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Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Dr. Martin Rosemann.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als Allererstes meinen Respekt an alle, die selbstständig sind, die sich selbstständig machen wollen, die gründen oder sich entscheiden, einen Betrieb zu übernehmen. Ja, sie leisten einen wertvollen Beitrag, einen wichtigen Beitrag für den Wohlstand in diesem Land und für Innovationen in Deutschland.
({0})
Wir haben, meine Damen und Herren, seit etwa zwei Jahrzehnten ein verändertes Bild der Selbstständigkeit. Die Hälfte der Selbstständigen sind Solo-Selbstständige ohne Beschäftigte. Wir haben eine große Spanne beim Einkommen. Nicht alle Selbstständigen haben heute die dicken Einkommen oder das große Vermögen. Ganz im Gegenteil: Das Armutsrisiko ist im Alter unter Selbstständigen sogar höher. Die Abgrenzung zwischen abhängiger Beschäftigung und Selbstständigkeit wird schwieriger, und die Übergänge haben zugenommen. Die Digitalisierung wird die Erwerbsformen weiter flexibilisieren. „Plattformarbeit“ ist nur ein Stichwort. Auch die abhängige Beschäftigung verändert sich. Meine Damen und Herren, all das spricht doch für eine verbindliche Absicherung in unseren solidarischen Systemen der sozialen Sicherung, im Übrigen nicht nur für Solo-Selbstständige.
({1})
Ich sage es auch noch mal grundsätzlicher: Für uns als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist es ein Wert, dass wir die großen Lebensrisiken in diesem Land solidarisch absichern und dass eben nicht jeder für sich verantwortlich ist.
({2})
Deshalb ist unser Weg auch die Einbeziehung von Selbstständigen in die gesetzliche Rentenversicherung. Das würde im Übrigen auch die Frage der Abgrenzung im Statusfeststellungsverfahren deutlich entschärfen. Im Koalitionsvertrag haben wir uns für ein Opt-out-Modell entschieden – das war der Kompromiss mit dem Koalitionspartner –, ein Modell, das aber eng begrenzt ist auf eine geeignete insolvenzsichere Vorsorge, eine Rente, die in der Regel oberhalb der Grundsicherung liegt. Das erfüllt für viele wahrscheinlich nur die Rürup-Rente. Ich glaube – Max Straubinger hat darauf hingewiesen –, dass es gut ist, da auch eng zu definieren. Wir hatten hier im Deutschen Bundestag einen Kollegen, dessen Vater geplant hatte, dass sein Unternehmen seine Altersvorsorge sein werde. Das Unternehmen war dann irgendwann weg, und die Folge war Altersarmut. Deswegen müssen wir da sehr genau hingucken, meine Damen und Herren.
Dabei ist natürlich wichtig, wenn wir Selbstständige in stärkerem Maße einbeziehen, dass wir dann auch die Sozialversicherungen auf die besondere Situation von Selbstständigen einstellen, auf ihre schwankenden Einnahmen, und auch der Situation von Gründerinnen und Gründern besonders Rechnung tragen.
Meine Damen und Herren, wir wollen den Weg gemeinsam mit den Selbstständigen gehen. Dass wir als SPD das können, das haben wir im Übrigen gezeigt, als wir die Halbierung der Mindestbeiträge in der gesetzlichen Krankenversicherung ganz am Anfang dieser Koalition durchgesetzt haben.
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Zum Schluss, meine Damen und Herren: Wir wollen Schutz und Chancen durch den Sozialstaat als Partner in einer veränderten Arbeitswelt für alle Beschäftigten in Deutschland, auch für Selbstständige.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Einsatz gegen Steuertrickserei ist keine Frage von links gegen rechts, sondern es ist eine Frage von anständig gegen unanständig.
({0})
Das sage nicht nur ich. Das sagen inzwischen ganz viele. Das sagt auch schon lange unser neuer Parteivorsitzender Norbert Walter-Borjans. Und ich sage: Er hat recht damit.
({1})
Denn während die Anständigen, also die große Mehrheit der Menschen, penibel und genau und ehrlich ihre Steuer zahlen, gibt es Unanständige, die meinen, sie könnten von all der Infrastruktur des Staates profitieren, ohne ihren eigenen Anteil dazu beizutragen.
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Das reicht dann von aggressiver Steuergestaltung und dem Verschieben von Gewinnen in Niedrigsteuerländer bis zum Ausrauben der öffentlichen Kassen à la Cum/Cum und Cum/Ex. Darum, meine Damen und Herren, zeigen wir mit dem vorgelegten Gesetz klare Kante gegen Steuertrickserei und Steuerbetrug; denn niemand darf sich seiner Mitverantwortung für ein solide finanziertes Gemeinwesen entziehen.
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Wo aber diese simple Steuermoral fehlt, da werden wir zukünftig stärker und konsequenter auf die Einhaltung der Spielregeln achten. Dazu benötigen wir jetzt in einem ersten Schritt weitreichende und präzise Informationen über die Methoden und Praktiken dieser Steuertrickser und Steuervermeider. Mit dem jetzt vorliegenden Gesetz zur Einführung einer Pflicht zur Mitteilung grenzüberschreitender Steuergestaltungsmodelle etablieren wir ein Frühwarnsystem in der Europäischen Union.
({4})
Die Finanzbehörden der Mitgliedstaaten sollen sich zukünftig gegenseitig über unerwünschte Steuerumgehung informieren können. Sie sollen sich austauschen können und sollen dann wirksame Schritte zur Schließung von Steuerlücken und von Steuerschlupflöchern abstimmen können. Es ist ein Erfolg der SPD-Bundestagsfraktion, dass aufgenommen wurde, dass der Finanzausschuss zukünftig regelmäßig darüber informiert wird; denn die Verantwortung, dagegen gesetzlich vorzugehen, liegt doch bei uns, beim Parlament.
Der vorliegende Gesetzentwurf, meine Damen und Herren, ist Teil eines umfassenden Maßnahmenbündels der Bundesregierung; denn wir haben bereits die Personalausstattung des Zolls gestärkt, um Steuer- und Sozialversicherungsbetrug zu bekämpfen. Die Umsetzung der Fünften EU-Geldwäscherichtlinie haben wir bereits beschlossen und damit den Kampf gegen Geldwäsche durch zahlreiche Maßnahmen verbessert. Zudem beraten wir derzeit auch einen Gesetzentwurf gegen die missbräuchliche Steuervermeidung bei Immobiliengeschäften, den sogenannten Share Deals. Während wir heute für das Parlament, für den Finanzausschuss, das Frühwarnsystem etablieren, hat bereits die Exekutive unter Olaf Scholz gehandelt und eine Taskforce für den Kampf gegen Steuergestaltungsmodelle angekündigt.
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Meine Damen und Herren, Sie sehen: Klare Kante gegen Steuertrickserei und Steuerbetrug. Die Bundesregierung handelt in diesem Sinne, und das ist gut.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Der nächste Redner: für die AfD-Fraktion der Kollege Albrecht Glaser.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir sprechen über den Entwurf eines Gesetzes zur Einführung einer Pflicht zur Mitteilung grenzüberschreitender Steuergestaltungen. Mit Trickserei, wie gerade eben ausgeführt worden ist, hat das, worum es hier im Kern geht, eigentlich nichts oder mindestens wenig zu tun.
({0})
Es geht um die Umsetzung einer EU-Richtlinie des letzten Jahres. Da Weihnachten vor der Tür steht, wurden einige kleine Aufmerksamkeiten in dem Gesetz untergebracht, zum Beispiel eine Beschränkung der Verlustverrechnung bei Einkünften aus Termingeschäften und aus dem Ausfall von Kapitalanlagen in Privatvermögen. Es dürfen demzufolge Verluste aus Kapitalvermögen aus der Uneinbringlichkeit einer Kapitalforderung nur in Höhe von 10 000 Euro mit Einkünften aus Kapitalvermögen ausgeglichen werden. Damit werden Gewinne und Verluste aus Kapitalvermögen steuerlich unterschiedlich behandelt. Hierdurch soll eine entgegenstehende Rechtsprechung des BFH teilweise ausgehebelt werden.
Aber nun zum Hauptanliegen des Gesetzentwurfs. Durch die neue Melde- und Anzeigepflicht sollen die Finanzbehörden umfassende Informationen über alle als relevant eingestuften Steuergestaltungen, die mehrere Steuerrechtsordnungen betreffen, erlangen. Bei den Zielen und den Grundsätzen zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung sind wahrscheinlich alle einer Meinung. Der Zweck heiligt jedoch nicht alle Mittel.
({1})
Die vorgelegte Legislation wird durch eine Richtlinie der EU erzwungen. Sie ist an Komplexität jedoch nicht zu übertreffen. Es ist die komplexeste Rechtsnorm, die ich je in meinem Leben gelesen habe.
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Der Steuerbürger wird nicht in der Lage sein, diese Regelung überhaupt nur zu verstehen, und Fachleute werden an der Komplexität verzweifeln.
In der Anhörung haben sich unzählige Kritikpunkte und Schwachstellen ergeben. Zugegebenermaßen wurden einige davon im Rahmen der Beratungen mit 13 Umdrucken durch die Koalitionsfraktionen beseitigt, was wir begrüßen. Was bleibt, ist trotzdem ein Gesetzesmonster mit unzähligen, unbestimmten Rechtsbegriffen, unzähligen Querverweisen und auslegungsbedürftigen Formulierungen.
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So gilt als ein Merkmal einer Steuergestaltung, wenn ein Hauptvorteil eine steuerliche Ersparnis darstellt.
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Die Erbschaft aus Irland, das vermietete Ferienhäuschen in Dänemark oder die Entsendung eines Montagemitarbeiters nach Nahost sind alles Vorgänge, die teilweise auf standardisierten Rechtsvorgängen beruhen und allein wegen der Unterschiede der jeweiligen Steuersätze in den verschiedenen Ländern eine Anzeigepflicht auslösen.
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– Die Whitelist gibt es nicht. Das wissen Sie ja.
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Die viel beklagte Politikverdrossenheit stellt sich wieder ein; denn der normale Steuerbürger wird ohne Berater nicht auskommen, und dieser wird ihm zureden, im Zweifel anzuzeigen, weil die Nichtanzeige mit hohem Bußgeld bewehrt ist. Für international agierende Konzerne in Deutschland, die tagtäglich rechtliche oder finanzielle Transaktionen mit ausländischen Tochtergesellschaften oder Betriebsstätten durchführen, müssen die Anzeigepflichten Albträume auslösen. In einer entsprechenden Stellungnahme der deutschen Industrie heißt es:
Es ist zu befürchten, dass es ... zu einer Flut von Meldungen ... kommen wird, die erkennbar weder missbräuchlich noch aggressiv sind.
Das ist eine milde Umschreibung.
Da jede Nichtanzeige mit einem hohen Bußgeld bewehrt ist, wird man in der Steuerverwaltung Tausende von Anzeigen erhalten – welcher Personalaufwand! Man wird feststellen, dass die hochkarätigen Fachleute, die man braucht, um diese Steuermodelle zu überprüfen, gar nicht vorhanden sind. Es werden viele Fachleute eingestellt werden müssen, und man muss überlegen, woher man sie bekommt.
Jedes demokratische nationale Parlament, das noch Rückkoppelung zu seiner Wahlbevölkerung hat, würde sich weigern, ein solches Gesetz zu beschließen.
Herzlichen Dank.
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Der Kollege Sebastian Brehm hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Rahmen des gemeinsamen Projekts der OECD und der G-20-Länder im Kampf gegen Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung – Base Erosion and Profit Shifting, kurz: BEPS – ist einer der wesentlichen Punkte die Nummer 12 dieses Plans:
Entwicklung von Offenlegungsregelungen für aggressive Steuerplanungen
Mit dem heutigen Entwurf eines Gesetzes zur Einführung einer Pflicht zur Mitteilung grenzüberschreitender Steuergestaltungen setzen wir dieses Ziel in nationales Recht um, das in der Richtlinie (EU) 2018/822 verankert ist, und zwar fristgerecht, so wie es sich gehört, bis zum Jahresende. Mit dieser Umsetzung setzen wir ein klares Zeichen gegen aggressive Steuerplanung, gegen Gewinnverlagerung in Niedrigsteuerländer und für mehr Transparenz.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir setzen aber auch ein Zeichen der Vernunft. Hätte man den ursprünglichen Gesetzesvorschlag des Finanzministers eins zu eins umgesetzt, wäre zu der grenzüberschreitenden Anzeigepflicht auch noch eine Anzeigepflicht für nationale Steuergestaltungen hinzugekommen. Das hätte dazu geführt, dass wir Millionen von Meldungen an das Bundeszentralamt für Steuern geschickt hätten – eine überbordende Bürokratie. Die gezielte Filterung der eigentlich wichtigen Informationen aus der grenzüberschreitenden Steuergestaltung wäre verloren gegangen. Deswegen haben wir uns von Anfang an dagegen gewehrt und konnten uns auch in der Koalition durchsetzen.
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Wenn man national mehr Informationen erhalten will, dann geht das durch zeitnahe Betriebsprüfungen oder durch die Einführung einer veranlagungsbegleitenden Betriebsprüfung, also einer Betriebsprüfung, die schon im Veranlagungszeitraum stattfindet. Hier liegen die Daten transparent vor. Das haben wir auch in unserem CDU/CSU-Steuerpapier so gefordert, und das werden wir in den nächsten Wochen und Monaten noch mal konkretisieren.
Die Frage des Erfüllungsaufwandes, also der Bürokratiekosten für Wirtschaft und Verwaltung, war von Anfang an bedeutsam und wurde zu Recht auch durch den Normenkontrollrat thematisiert. Es geht darum, die relevanten Fälle grenzüberschreitender Steuergestaltungen von vornherein herauszufiltern. In der Anhörung hat der Chef der Deutschen Steuer-Gewerkschaft, Herr Eigenthaler, gesagt, es gehe um 10 bis 15 Fälle in fünf Jahren. Die anderen Fälle müssten aus der Anzeigepflicht herausgenommen werden. Die Anzeigepflicht sollte sich auf modellhafte und gewerblich entworfene aggressive Steuergestaltungen beschränken und nicht auf das ganz normale steuerberatende Tagesgeschäft. So sieht es übrigens auch die EU-Richtlinie vor.
Aus diesem Grund haben wir in das Gesetz eine Öffnungsklausel hineinverhandeln können, eine sogenannte Whitelist. Diese Whitelist wird erstellt in Form eines BMF-Schreibens, das bis zur Scharfstellung des Gesetzes zum 1. Juli 2020 erscheinen soll. Ich hoffe, dass wir in die Erstellung großzügig eingebunden werden. Wir haben auch schon entsprechende Vorschläge gemacht, dass die laufenden Steuergestaltungen, die eine normale Steuerberatung darstellen, aus dieser Anzeigepflicht herausgenommen werden. Das sind zum Beispiel ganz normale Bankgeschäfte. Das sind die gerade genannten Geschäfte von Leasingunternehmen, aber auch die ganz normalen Steuerberatungstatbestände. Diese Whitelist bezieht sich auf alle Kennzeichen, auf alle Hallmarks, die in der Richtlinie genannt sind. Deswegen ist es wichtig, diese zu erstellen, damit wir nur diejenigen herausfiltern, die anzeigepflichtig sind, die aggressiv sind und die wir nicht in unserem Steuerrecht sehen wollen.
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Ein weiterer wichtiger Punkt, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind die sogenannten Intermediäre. Grundsätzlich sieht die Richtlinie vor, dass die Intermediäre, also diejenigen, die die Steuergestaltungen erstellen oder zur Umsetzung bereitstellen, anzeigepflichtig sind. Wir haben in Deutschland eine Besonderheit, etwas, was in Europa anders ist. Wir haben in Deutschland die Steuerberater, Rechtsanwälte und Wirtschaftsprüfer, die als Organ der Steuerrechtspflege zur Verschwiegenheit verpflichtet sind. Sie sind mitwirkungspflichtig bei einer rechtlich korrekten Erhebung der Steuern. Das ist anders als in anderen Ländern, in denen das Kammersystem nicht gegeben ist. Wir hätten in Deutschland eine Riesenproblematik für die zur Verschwiegenheit verpflichtenden Berufe – Steuerberater, Wirtschaftsprüfer, Rechtsanwälte –, wenn die Mitteilungspflicht über die Verschwiegenheitspflicht hinausgegangen wäre. Insofern bin ich dankbar, dass wir am Schluss bei den Verhandlungen erreichen konnten, dass, wenn eine Entbindung von der Verschwiegenheit nicht erfolgt, die Meldepflicht auf den Nutzer übergeht. Somit haben wir die verfassungsrechtlich geschützte Verschwiegenheit auch für diese Berufsgruppen entsprechend schützen können.
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Das ist eine gute Lösung.
Ein weiterer Punkt, den wir erreichen konnten, ist, dass wir nur für einen gewissen Zeitraum, bis 2021, eine Anzeige in der Steuererklärung kenntlich machen. Wenn der elektronische Abgleich erfolgt, dann kann eine Anzeige auch in der Steuererklärung unterbleiben. Das funktioniert dann automatisch. Auch das ist ein Beitrag für weniger Bürokratie und für elektronische Verfahren in der Verwaltung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will eins sagen: Frau Esdar, Sie haben von Steuertricksereien und Steuerbetrug gesprochen. Sie machen den Eindruck, dass der Mittelstand und die Industrie in Deutschland Steuertricksereien und Steuerbetrug machen. Das muss man mal entschieden zurückweisen. Es sind ein paar wenige. Es geht um die 10 bis 15 Fälle in fünf bis zehn Jahren. Deswegen muss man sagen: Steuergestaltung ist in unserem Gesetz so vorgesehen; ansonsten müssten wir eine Flat Tax einführen. Das wären 10 oder 15 Prozent Tax für alle. Dann wären aber genau die Dinge, die wir im Steuerrecht berücksichtigt wissen wollen – Anzahl der Kinder, Behindertenpauschbetrag, Alleinerziehendenpauschbetrag – alle weg. Es wäre nicht ein soziales Steuersystem.
Wir stehen zu unserem Steuersystem und sagen: Steuergestaltung ist durchaus gewollt. Aber diejenige Steuergestaltung, die dazu führt, dass Steuer in Niedrigsteuerländer verschoben wird oder ungewollt ins Ausland gebracht wird, wollen wir mit der Umsetzung der Richtlinie packen. Deswegen setzen wir es heute um.
Ich danke herzlich für die gute Besprechung und die gute Kooperation in diesem Fall.
Danke schön.
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Für die FDP hat das Wort der Kollege Dr. Florian Toncar.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute über die Umsetzung einer europäischen Richtlinie. Insofern muss etwas im Zusammenhang mit der Anzeige grenzüberschreitender Steuergestaltungen gemacht werden. Aber die Art und Weise, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, wie Sie das umsetzen wollen, wird in der Praxis große Rechtsunsicherheit bei den Betroffenen hinterlassen.
Was ist eigentlich anzuzeigen? Es gibt 21 zum Teil sehr auslegungsfähige Kennzeichen eines solchen Modells. Die Praxis muss fast auf sich allein gestellt bestimmen, was ihre Pflicht ist. Sie wollen das lösen durch eine weiße Liste, die das klarstellen soll. Mal sehen, ob das gelingt. Aber in jedem Fall glaube ich, dass eine ganze Menge fehlen wird:
Erstens müsste es möglich sein, dass man Modelle, die schon zigfach angezeigt worden sind, nicht weiter anzeigen muss. So etwas müsste eigentlich ausgenommen werden.
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Es ist zum Beispiel auch so, dass der wirtschaftliche Wert einer Gestaltung, der regelmäßig angezeigt werden muss, noch nicht klar definiert ist. Das sind Dinge, mit denen die Praxis in wenigen Monaten alleingelassen werden wird. Das wird – das sage ich jetzt schon voraus – große Unordnung und große Unsicherheit bei den Betroffenen verursachen. Daher ist es umso wichtiger, dass es keine nationale Anzeigepflicht gibt und dass man nicht über die Richtlinie hinausgeht, sondern sich strikt auf die Umsetzung beschränkt. Aber auch so, wie Sie es machen – sage ich Ihnen voraus –, werden wenige ihre Freude daran haben.
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Zweitens. Ein Ziel der Richtlinie war ausdrücklich auch, dass die steuerliche Veranlagung durch die Anzeigepflichten erleichtert wird. Natürlich soll der Gesetzgeber, soll das Finanzministerium erkennen: Gibt es in irgendeinem Bereich der Steuergesetzgebung eine Anwendung in der Praxis, die nicht gewollt ist? Dann kann man sie durch entsprechende Rechtsetzung korrigieren. Das ist ein Ziel der Richtlinie. Ein zweites, gleichberechtigtes Ziel ist, dass es für die Steuerpflichtigen Erleichterungen bei der steuerlichen Veranlagung gibt, dass das schneller geht und man auch schneller eine Rückmeldung bekommt: Ist in einem angewandten Modell eine steuerliche Gestaltung so oder so zu würdigen? Das genau wird in der Umsetzung überhaupt nicht beachtet. Wir fordern Sie auf, so schnell wie möglich die Veranlagungsunterstützung zum Teil des Gesetzes zu machen. Wenn man den Steuerpflichtigen neue Pflichten auferlegt, ist es nur recht und billig, dass die Veranlagung schneller und verbindlicher geschehen kann.
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Dritter Punkt. Mit dem vorliegenden Gesetz einigen Sie sich auf die Lösung eines Koalitionskonflikts, der im Zusammenhang mit der Besteuerung von Verlusten aus Termingeschäften und anderen Kapitalanlagen seit Wochen schwelt. Die Lösung, die Sie jetzt ins Gesetz schreiben, ist, dass der Gewinn aus solchen Geschäften steuerlich voll erfasst wird, aber Verluste nur begrenzt steuermindernd erfasst werden können. Es gibt von der Systematik her keinen einzigen Grund, diese Regelung so zu beschließen. Sie ist systemwidrig und falsch. Auch das muss man sagen: Wenn das jetzt die neue Politik der Union ist – Dienstag kriegt Herr Scholz die Finanztransaktionsteuer von der Bundeskanzlerin, und Mittwoch kriegt die SPD eine begrenzte Berücksichtigung von Verlusten im Steuerrecht –,
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wenn diese Art von Gefälligkeiten zur Erhaltung der Koalition so weitergeht, wäre das ganz bestimmt der falsche Weg.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, aus den genannten Gründen lehnen wir das Gesetz ab. Wir haben heute einen eigenen Antrag zur Berücksichtigung von Negativzinsen im Steuerrecht vorgelegt. Darüber werden wir im Ausschuss diskutieren. Auf die Beratung freue ich mich; denn es ist ein wichtiger Punkt, dass Steuerzahler auf Negativzinsen nicht auch noch Steuern zahlen müssen.
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Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege Fabio De Masi.
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Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Die Luxemburg Leaks zeigten, wie Amazon, Google und Co. ihre Steuern durch Steuertricks auf bis zu unter 1 Prozent der Gewinne drückten. Grenzüberschreitende Steuergestaltungen sollen Steuerbehörden zukünftig gemeldet werden. Das ist gut, aber nicht gut genug. Uns stören an dem vorliegenden Gesetzentwurf folgende drei Punkte:
Erstens. Eine nationale Meldepflicht ist nicht vorgesehen. Steuertricks mit Aktiendeals wie Cum/Ex oder Cum/Cum wären so nicht entdeckt worden. Auch Gestaltungen bei der Erbschaftsteuer wären weiterhin möglich. Die Steuergewerkschaft, Kollege Brehm, hat sich explizit für eine solche nationale Anzeigepflicht ausgesprochen, das heißt, sie war nicht besorgt, dass sie überflutet werden mit Anzeigen. Wir brauchen aber natürlich mehr Personal in den Finanzbehörden, damit endlich Waffengleichheit mit der Steuerindustrie herrscht.
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Zweitens. Wir sind von den vorgeschlagenen Bußen nicht überzeugt. Maximal 25 000 Euro bei Verstößen gegen die Meldepflicht sind nichts im Vergleich zu den Milliarden, die durch Steuertricks erwirtschaftet werden können. Das schreckt nicht ab. Der Verweis darauf, dass Verstöße gegen Meldepflichten nur eine Ordnungswidrigkeit und keine Straftat darstellen und man deswegen nicht höher gehen könnte, überzeugt mich nicht. Wir werden das mit unserem Starjuristen Friedrich Straetmanns eingehend beraten.
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Auch im Geldwäschebereich gibt es durchaus höhere Sanktionen, und auch da haben wir es ja mit Ordnungswidrigkeiten zu tun.
Gut ist, dass Sie die Steuergestaltung von Familienstiftungen per Änderungsantrag eingrenzen und unsere Finanzbehörden durch eine Whitelist, eine Weiße Liste harmloser und legitimer Steuergestaltungen, entlasten. Fatal ist es allerdings, die Finanzverwaltung abzuschotten. Natürlich müssen Steuerbehörden geschützt diskutieren können. Das ist aber bereits heute über Ausnahmen vom Informationsfreiheitsgesetz möglich. Sie haben im Jahressteuergesetz aber nun einen Passus eingefügt, der Diskussionen von Steuerbehörden weiter abschottet. Dies verhindert, dass die politische Verantwortung für Steuerskandale wie Cum/Ex selbst Jahre später aufgeklärt wird. Wir legen dazu heute einen entsprechenden Änderungsantrag vor.
Zum Schluss. Um die Steuertricks der Konzerne einzuhegen, sind internationale Mindeststandards, wie sie derzeit bei der OECD diskutiert werden, ein bedeutender Fortschritt, aber nicht hinreichend; denn dort sitzen die Steueroasen immer mit am Tisch. Die USA – die größte Steueroase der Welt – boykottiert selbst die Vorschläge, Internetkonzerne behutsam zu besteuern. Donald Trump hat jetzt Strafzölle gegen Frankreich angekündigt. Die Bundesregierung hat sich versteckt. So geht Europa nicht.
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Wir brauchen endlich Quellen- und Strafsteuern auf Finanzflüsse in Steueroasen. Das ist im Übrigen auch möglich, weil Apple seine iPhones nicht in Luxemburg oder Malta, sondern vor allem in Deutschland und Frankreich verkaufen möchte.
Zum Schluss eine Denksportaufgabe. Ab welchem Betrag müsste man bei einer Flat Tax den Spitzensteuersatz zahlen? Ab dem ersten verdienten Euro. Das ist grob ungerecht. Deswegen ist das kein seriöser Vorschlag.
Vielen Dank.
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Die Kollegin Lisa Paus hat nun das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dass wir heute das vorliegende Gesetz verabschieden, haben wir der Europäischen Union zu verdanken. Es geht um die Anzeigepflicht betreffend grenzüberschreitender, aggressiver Steuergestaltung. Es ist gut, dass wir das heute vorliegen haben; denn aggressive Steuergestaltung schadet dem gesellschaftlichen Zusammenhalt und der Wirtschaft. Wenn das Café um die Ecke 30 Prozent Steuern zahlen muss, aber Starbucks null Prozent, dann zerstört das den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
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Dass wir das Gesetz erst heute, auf den letzten Drücker, verabschieden – das ein Beispiel für ein Gesetz, bei dem es keine Eins-zu-eins-Umsetzung der europäischen Richtlinie gibt –, liegt in der Tat insbesondere an der Union, die über zwei Jahre lang mit Unterstützung von massivem Lobbyeinfluss der Big Four und anderen alles versucht hat, um das Gesetz weiter auszuhöhlen. Das ist nicht gut an diesem Gesetz.
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Es ist ein umfangreiches Gesetz. Der Vorsitzende der Deutschen Steuer-Gewerkschaft hat es in folgendes Bild gekleidet: Dieses Gesetz schafft tatsächlich, dass wir Milch in relevanter Menge in eine Milchkanne bekommen. Dann gibt es aber einen Paragrafen, das ist der § 138d, und der hat tatsächlich das Potenzial, die ganze Milchkanne mit einem Schlag wieder auszukippen. Das ist das Problem an diesem Gesetz.
Sie haben zwar einen Änderungsantrag gemacht, in dem Sie sagen, eine Whitelist solle vorgelegt werden, aber diese Whitelist liegt uns bisher nicht vor. Deswegen können wir das heute nicht beurteilen, und wir haben große Bauchschmerzen bei der Umsetzung dieses Gesetzes.
Außerdem haben Sie tatsächlich nationale Steuergestaltungen ausgenommen, obwohl es dafür einen fertigen Gesetzentwurf und eine Mehrheit der Finanzminister im Bundesrat gab. Auch das ist auf Widerstand der Union gestoßen und deshalb nicht Teil des Gesetzes.
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Auch das ist nicht gut, aber das können Sie heute wieder ändern. Wir haben einen entsprechenden Änderungsantrag vorgelegt. Wir können das nicht goutieren. Es wäre viel besser, wenn wir nationale Steuergestaltungen mit aufnehmen würden; denn es gibt sie in Deutschland. Um zwei Beispiele zu nennen: Das erste Beispiel sind die Share Deals. Laut Schätzungen haben wir wegen dieser Steuergestaltung 1 Milliarde Euro an Steuerausfällen. Ein zweites Beispiel ist die Erbschaftsteuer. In der letzten Woche wurde bekannt, dass allein im letzten Jahr 26 Deutsche mehr als 1 Million Euro geerbt haben, aber dafür nicht einen Euro Steuern gezahlt haben. Das sind Gestaltungsmodelle, die es gibt, die wir aber gerne noch besser verstehen würden. Dafür bräuchten wir das.
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Sie von der Union haben das verhindert.
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Das ist weiterhin nicht anzeigepflichtig.
Schließlich haben Sie – es wurde erwähnt – bereits im November in das Jahressteuergesetz reingeschmuggelt, dass die Auskunftsrechte, die die Bürgerinnen und Bürger durch das Informationsfreiheitsgesetz haben, bei Steuerfragen nicht mehr gelten sollen. Wenn der Bund und die Länder zu Steuerfragen zusammensitzen und ihre Strategien miteinander besprechen, ob man noch etwas ändern soll oder nicht, dann ist das nicht mehr öffentlich.
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Das scheint eine Reaktion auf die Untersuchungen und Aufdeckungen im Zusammenhang mit Cum/Ex zu sein; denn da waren diese Dokumente wichtig.
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Ihre Konsequenz ist nicht, das tatsächlich aufzuarbeiten, sondern, stattdessen die Informationsrechte zu reduzieren. Auch das finden wir nicht in Ordnung. Deswegen werden wir uns bei der Abstimmung über das Gesetz enthalten. Mit unseren Anträgen geben wir Ihnen noch eine letzte Möglichkeit, diese gewichtigen Fehler zu korrigieren.
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Der Kollege Lothar Binding hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Lisa, „geschmuggelt“ wurde gar nichts. Das Jahressteuergesetz ist für alle Leute öffentlich, auch für alle in diesem Raum, auch für dich. Da wurde nichts „geschmuggelt“. Noch etwas: Es gibt Vorgänge, bei denen man es besser erst mal für sich behält, dass man sie untersucht. Denn wenn man diesen Sachen nachgeht und es bekannt wird, dann kannst du gar nicht so schnell gucken, wie der Markt diese Gestaltung aufnimmt und sie gegen uns wendet. Es ist klug, dass man, wenn man bestimmte Dinge untersucht, das zunächst für sich behält. Das ist richtig gut.
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Ich will noch etwas zu Florian Toncar sagen. Er hat gesagt, der Steuerpflichtige soll nicht durch weitere Pflichten belastet werden.
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Das ist eine gute Idee. Aber dieses spezielle Gesetz ermöglicht es doch, sich ganz vieler Pflichten zu entledigen,
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indem man einfach auf die Gestaltung verzichtet. Stell dir mal vor, man würde auf die unendlich vielen Gestaltungen verzichten, welchen Bürokratieabbau das bedeuten würde, welche Entlastungen sich der Steuerpflichtige damit verschaffen könnte, und zwar durch eigenes Zutun!
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Eine kleine Sache hat mich an den Ausführungen von Sebastian Brehm gewundert. Er hat das Gesetz gelobt, weil es mehr Transparenz bringt – im internationalen Fall. Er hat dann aber gesagt, die nationale Anzeigepflicht sei nicht so gut. Du hast weiter gesagt, ihr hättet euch dagegen gewehrt. Das kann ich gar nicht verstehen, weil du doch gerade noch für Transparenz warst. Wir sind für Transparenz, auch im nationalen Fall.
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Insofern: Dieser kleine Punkt bleibt noch offen.
Wir setzen einen großen Teil des BEPS-Projekts, unseres großen Projektes zur Vermeidung von Steuergestaltung, um. Jeder weiß, dass Steuergestaltung zu Wettbewerbsstörungen führt, weil derjenige, der geschickt gestaltet, einen Wettbewerbsvorteil hat. Das führt zur Erosion der Unternehmensbesteuerung, was ein großes Problem ist. Und das führt – Wiebke Esdar hat darauf hingewiesen – zur Untergrabung der Moral und der Verantwortung. Auch das ist eine Sache, die wir bei Steuergestaltung und Steuerzahlung berücksichtigen müssen.
Es stimmt: Die Richtlinie, die wir umsetzen, hat den Mangel des unbestimmten Rechtsbegriffs. Aber ich frage mal, ob jemand hier überhaupt ein Gesetz im deutschen Rechtsraum nennen kann, in dem es keine unbestimmten Rechtsbegriffe gibt.
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Rechtsanwälte, Steuerberater und auch wir Parlamentarier können damit umgehen. Gleichwohl war es eine richtig große Schwierigkeit, das ein bisschen einzudämmen. Deshalb finde ich die Idee der Whitelist, über die im Gesetz steht, dass wir sie brauchen, sehr gut. Die Whitelist beinhaltet ja das Gegenteil von den Dingen, die wir anzeigen sollen. Darin ist das aufgeschrieben, was wir nicht anzeigen sollen, damit der Steuerberater – wir sagen „Intermediär“ – oder das Rechtsanwaltsbüro weiß, was nicht getan werden soll. Das ist schon mal eine ganz gute Sache. Aber jeder, der sagt: „Das ist damit noch nicht eineindeutig definiert“, hat recht. Damit müssen wir leben.
Ich glaube, im Laufe der Jahre wird man rausfinden, was meldepflichtig ist und was nicht. Modellfabriken jedenfalls, die sozusagen mäanderartig um die Gesetzgebung herumfließen, um eine Gestaltung zu entwickeln, sind – das weiß jeder – anzeigepflichtig. Wenn das Modell verkauft wird, dann muss jemand dafür bezahlen, und der weiß auch, warum, weil er nämlich Steuern damit spart. Was nicht gemeint ist, ist die normale Steuerberatung. Dabei geht es um normale Wahlrechte, um das, was üblicherweise passiert. Ich will es ganz kurz machen, weil die Zeit knapp ist: Wer bisher Anteile überträgt, der kann das nach § 8c KStG machen, riskiert dann den Verlustuntergang. Oder er macht das nach § 8d KStG und hat dann eine fortführungsgebundene Verlustbehandlung; die ist dann gut. Das ist die freie Wahlentscheidung des Steuerberaters. Diese Freiheit hat er jetzt immer noch.
Den Hinweis auf die Verschwiegenheitspflicht habe ich nicht ganz verstanden. Da ist jemand; der geht zum Steuerberater und wird beraten. Jetzt ist die Frage: Wer meldet eigentlich dieses Modell? Jetzt entbindet der Kunde den Steuerberater, seinen ihm vertrauten Steuerberater, der ja tiefe Einblicke in seine Lebenslage bekommt, davon, es zu melden; er will es selber melden. Was ist das für ein Vertrauensverhältnis? Das verstehe ich gar nicht. Der kann das doch gar nicht selber, ohne Steuerberater, machen. Ich glaube, da besteht eine übertriebene Angst, die man nicht zu haben braucht.
Insofern ist klar: Dieses Gesetz bringt eine wunderbare Entlastung für den Steuerpflichtigen, es ist eine wunderbare Möglichkeit, uns von Bürokratie zu entlasten, und es ist eine wunderbare Möglichkeit, Transparenz zu schaffen – drei gute Gründe, das Gesetz anzunehmen.
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Der letzte Redner zu diesem Punkt ist der Kollege Fritz Güntzler, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Nun haben wir die Anzeigepflichten. Wie Kollege Brehm zu Recht ausgeführt hat, haben wir sie zum Glück nur für grenzüberschreitende Steuergestaltungen.
Ziel ist es, Steuervermeidungstaktik, Steuergestaltungen, Gewinnverlagerungen zeitnah zu identifizieren und zu verringern; denn wir wissen alle nicht zuletzt seit Veröffentlichung der Panama Papers und Paradise Papers im Jahr 2016, dass in bis dahin unbekannter Dimension Geld in der Welt durch die Gegend geschoben wurde, um individuelle Steuerlasten zu minimieren. Aggressive Steuersparmodelle waren die Grundlage dafür.
Für uns erschreckend war aber nicht nur, dass Steuergestaltung in diesem Ausmaß stattgefunden hat, sondern auch, dass sie systematisch und standardisiert stattgefunden hat, dass es einen ganzen Markt gab, auf dem Intermediäre diese Dinge angeboten haben. Von daher glaube ich, dass man in diesen grenzüberschreitenden Fällen eine Anzeigepflicht braucht, und auch, dass man eine Sanktionierung braucht, wenn ihr nicht nachgekommen wird.
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Der Kollege Glaser von der AfD wohnt der Debatte leider nicht mehr bei, obwohl er das Thema ja so komplex findet. Er hätte hier ja vielleicht noch ein paar Erkenntnisse gewinnen können.
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Das ist bedauerlich. Ich wundere mich schon, dass bei jedem Gesetz gegen Steuermissbrauch, gegen nicht erlaubte Steuergestaltung, das wir hier beraten, die AfD dagegen ist. Das war bei einem Gesetz zum Umsatzsteuerbetrug bei Onlineplattformen so; jetzt ist das wieder so. Ich meine, Kolleginnen und Kollegen von der AfD, Sie machen sich zunehmend zum Handlanger von Steuertricksern in Deutschland. Das akzeptieren wir nicht. Wir sind da der genau anderen Auffassung.
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Wir setzen die Richtlinie eins zu eins um; denn die nationale Anzeigepflicht, die hier schon eine gewisse Rolle gespielt hat, ist nicht Bestandteil dieser Richtlinie. Das Ministerium unter der damaligen Führung von Wolfgang Schäuble und Staatssekretär Michael Meister hat immer gesagt: Lasst uns doch erst mal die grenzüberschreitende Anzeigepflicht umsetzen und gucken, ob sie wirkt; dann können wir immer noch über eine nationale Anzeigepflicht nachdenken. – Die Bereitschaft dazu besteht auch bei uns. Aber bis jetzt gibt es keine Antwort auf die Frage, was in Vergangenheit gemeldet worden wäre, wenn es die nationale Anzeigepflicht gegeben hätte. Alle Dinge, über die wir reden – Cum/Ex, Cum/Cum, „Goldfinger“, alles, was man sich vorstellen kann –, laufen nur grenzüberschreitend. Die nationale Gestaltung, die tatsächlich anzeigepflichtig gewesen wäre, kenne ich bis jetzt nicht. Die liegt nicht auf dem Tisch.
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Von daher wird hier ein Phantom aufgebaut. Von daher sage ich: Lassen Sie uns erst mal den Anfang machen. Wenn es denn notwendig ist, können wir weitergucken.
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Ich finde es aufgrund der Rechtsunsicherheit, die tatsächlich besteht, wichtig, dass wir die Steuergestaltung erst einmal über die Anzeigepflicht erkennen. Wir kennen die Art der Steuergestaltung jetzt ja nicht. Von daher bedarf es der Umschreibung möglicher Sachverhalte, die eine Steuergestaltung darstellen können. Und von daher sind das unbestimmte Rechtsbegriffe, die ausgelegt werden müssen. Für uns ist aber auch wichtig, dass nicht Alltagsfälle anzeigepflichtig werden. Von daher ist die Whitelist eine gute Lösung. Die muss jetzt zeitnah vom BMF vorgelegt werden, damit die Nutzer und die Intermediäre wissen, was anzuzeigen ist und was nicht anzuzeigen ist. Von daher muss das schnell kommen.
Ich sage: Wir gehen mit den Steuerpflichtigen fair um. Die wenigsten wissen vielleicht – diejenigen, die heute zuhören, wissen es, nachdem ich es gesagt habe –, dass Gestaltungen seit dem 25. Juni 2018 grundsätzlich anzeigepflichtig sind und diese Anzeigen bis zum 30. August 2020 zu erfolgen haben. Wir wollen die Anzeigen haben, aber da Unsicherheit besteht, haben wir sie nicht mit Sanktionen belegt – das gilt nur für die neuen Gestaltungen –, um die Chance zu bieten, sich in dem neuen System zurechtzufinden.
Dass wir uns noch andere Dinge hätten vorstellen können, ist klar. Die Verschwiegenheitsverpflichtung ist angesprochen worden. Die Richtlinie hat eine Möglichkeit vorgesehen, dass Intermediäre, die zur Verschwiegenheit verpflichtet sind, grundsätzlich raus sind, dass die Pflicht beim Nutzer liegt und sie nur bei Freigabe übergehen kann. Das hat Deutschland sogar in die Richtlinie reinverhandelt. Der Gesetzentwurf sah dann anders aus. Das ist dann so.
Noch zwei andere Dinge, die mir persönlich wichtig sind, sind bereits angesprochen worden:
Ich glaube, wir müssen mehr darüber nachdenken, wie wir zu einer zeitnahen Betriebsprüfung kommen, wie wir zu einer kooperativen Betriebsprüfung wie in Österreich kommen, damit die Finanzverwaltung viel schneller die Fälle erkennt, ohne Anzeigepflicht, sodass wir als Gesetzgeber darauf reagieren können, aber auch in der Veranlagung.
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Den zweiten Punkt hat der Kollege Toncar angesprochen. Dieser Punkt ist sehr wichtig. Wenn man sich damit beschäftigt, dann weiß man, dass es von Professor Schön vom MPI für Steuerrecht und Öffentliche Finanzen in München ein Gutachten dazu gibt. Er hat gesagt: Wir können Anzeigepflichten machen, aber dann muss das fair sein. Also: Der Steuerpflichtige meldet etwas, aber der Staat muss dann auch sagen können, was in Ordnung ist und was nicht in Ordnung ist. Man braucht also eine verbindliche Auskunft. Ich glaube, wir sollten noch mal darüber nachdenken, ob wir nicht zu diesem fairen Ausgleich kommen können, wenn die Anzeigepflicht weiterbesteht und zum Erfolg führt.
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Von daher werden wir heute diesem Gesetz zustimmen. Wir sind alle aufgefordert, das zu beobachten. Wir haben über einen Umdruck einen Änderungsantrag des Inhalts eingebracht, dass wir uns im Finanzausschuss regelmäßig berichten lassen: Das Gesetz soll kein Bürokratiemonster werden, es soll angemessen sein, und es soll dazu führen, dass die wirklichen Fälle gemeldet werden. Wie Kollege Brehm schon gesagt hat, werden es gar nicht so viele sein, wie manche glauben; denn die Mehrheit der Deutschen ist steuerehrlich, und das ist auch gut so.
Herzlichen Dank.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Beim Wettbewerb zwischen den Kassen soll es um die beste Versorgung, um den besten Service und um die beste Qualität für die Patienten gehen. Mit dem Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetz sorgen wir dafür, dass die Kassen zielgenau auch die dafür notwendigen Mittel erhalten.
Die Patienten und Versicherten müssen sich zum einen darauf verlassen können, dass mit ihren Beiträgen weder Juliustürme angehäuft werden noch an notwendiger Versorgung gespart werden muss. Zum anderen müssen sie sich natürlich auch darauf verlassen können, dass die Kassen ihre Kunden nicht nach guten oder schlechten Gesundheitsrisiken auswählen.
Das dafür notwendige Instrument, der sogenannte Risikostrukturausgleich, hat sich grundsätzlich bewährt. Er war aber immer als lernendes System gedacht. Nun haben Fehlanreize und Wettbewerbsverzerrungen über die Jahre dazu geführt, dass die Zuweisungen an die Kassen für einige Versichertengruppen die tatsächlichen Ausgaben übersteigen und bei anderen die Zuweisungen nicht auskömmlich sind. Das führt dazu, dass die systematisch unterdeckten Kassen im Wettbewerb bestraft werden. Das heißt, sie müssen höhere Zusatzbeiträge erheben. Für uns heißt das: Der Finanzausgleich muss zielgenauer werden. Deshalb machen wir mit dem neuen Gesetz die Zuweisungen für unsere Versicherten besser, genauer und damit auch insgesamt gerechter.
Konkret stärken wir zum Beispiel die Prüfungskompetenz beim Bundesversicherungsamt, damit von dort aus Manipulationen, die es gegeben hat, erfolgreicher unterbunden werden können. Künftig wird es auch eine sogenannte Manipulationsbremse geben, die sicherstellt, dass es sich für einige schwarze Schafe unter den Kassen nicht mehr lohnt, Ärzte ausschließlich für die Dokumentation von Diagnosen zu bezahlen, um sich so ungerechtfertigt höhere Zuweisungen zu erschleichen. Aber selbstverständlich – das sei auch hier angesprochen – wollen wir gute Versorgungsverträge nicht verhindern, die dann natürlich an Diagnosen gekoppelt sind. Darüber werden wir in den nächsten Wochen reden müssen.
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Wir wollen, dass die Bundes- und Länderaufsicht besser kooperieren; denn auch unterschiedliches Aufsichtshandeln führt zu Wettbewerbsverzerrungen.
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Mit dem neuen Gesetz führt es vor allen Dingen auch kleinere Kassen nicht mehr an den Rand des Ruins, wenn ihre Versicherten bei einmaligen und kurzfristigen Behandlungen teure Medikamente benötigen. Mit einem Hochrisikopool werden künftig 80 Prozent der Leistungsausgaben, die über einem Schwellenwert von 100 000 Euro liegen, erstattet.
Wir schaffen auch einen Anreiz für die Krankenkassen, sich dafür einzusetzen, dass ihre Versicherten mehr Vorsorge- und Früherkennungsmaßnahmen in Anspruch nehmen.
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Wir stärken diese Kassen, die dafür sorgen, dass Krankheit gar nicht erst entsteht. Dass die Krankheiten abhängig vom Alter der Patienten zu unterschiedlichen Behandlungskosten führen, wird künftig ebenso berücksichtigt, wie zum Beispiel positive Effekte von strukturierten Behandlungsprogrammen berücksichtigt werden.
Die hausärztliche Versorgung, meine Damen und Herren, führt bei vielen Krankheiten zu niedrigeren Ausgaben als die Versorgung über die Fachärzte. Deswegen werden künftig Zuschläge für eine Kasse abhängig davon gezahlt, ob die Diagnose vom Hausarzt oder vom Facharzt gestellt wurde.
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Der Risikostrukturausgleich wird überdies um eine Regionalkomponente erweitert. Das ist umstritten. Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesversicherungsamt will damit einer Marktkonzentration vorbeugen, die sich in einigen Bundesländern zugunsten einer Kassenart sehr deutlich herausgestellt hat. Wir werden hierbei natürlich auch darauf achten, dass ein etwaiger Ausgleich nicht zulasten innovativer und effizienter Gesundheitssysteme an anderer Stelle geht.
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Schließlich werden wir uns in unserem weiteren Verfahren auch mit den Änderungen bei den Strukturen des GKV-Spitzenverbands beschäftigen: Mit einem neuen Lenkungs- und Koordinierungsausschuss führen wir ein Mitspracherecht der versorgenden Kassen ein. Bei den Entscheidungen sollen so die Interessen der Versicherten, der Patienten, besser berücksichtigt werden.
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Die vorgesehenen Maßnahmen gegen die Lieferengpässe im Arzneimittelbereich wird der Kollege Hennrich beurteilen.
Ich freue mich jetzt auf die weiteren Beratungen zu einem guten Gesetzentwurf.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Der nächste Redner: für die AfD-Fraktion der Kollege Dr. Robby Schlund.
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Herr Präsident! Werte Kollegen! Liebe Gäste auf den Rängen, besonders von der BPA-Gruppe aus meinem Wahlkreis! Herzlich willkommen! Wir reden heute über ein Gesundheitsthema. Das Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetz ist aber nichts weiter als ein Sammelsurium verschiedener Stellschrauben, mit dem Fehler der Vergangenheit und auch aus dieser Legislatur nachjustiert werden sollen.
Herr Spahn, auch hier gilt: Nach fest kommt lose. Ja, Fehler müssen korrigiert werden. Aber bitte vermischen Sie nicht alles. Man bekommt dann sehr schnell den Eindruck, es solle etwas vertuscht werden. Machen Sie nicht mit der einen Hand ein neues Gesetz, während Sie mit der anderen die Probleme Ihres Pflegepersonal-Stärkungsgesetzes korrigieren wollen! Denn wer die Hände voll hat, kann nichts Neues mehr tragen. Das, meine Damen und Herren, ist altbekannt.
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Zum Beispiel sollen auf der einen Seite die Geldzuweisungen unter den gesetzlichen Krankenkassen neu geregelt werden. Auf der anderen Seite aber sollen Arzneimittelrabatte weiter verreguliert werden. Damit wollen Sie wirklich Wettbewerbsverzerrungen vermeiden? Ehrlich, gerade die Rabattverträge sind es, die Kostendruck und Lieferengpässe verursachen sowie den Wettbewerb in der Tat verzerren. Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, machen wir Deutschland erpressbar und abhängig, weil wir Arzneimittel aus Schwellenländern beziehen müssen.
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Von der einstmaligen „Apotheke der Welt“ sind wir nun Arzneistoffimporteur mit allen zugehörigen negativen Folgen geworden: erstens Lieferengpässe für Blutdruckmittel, Antidepressiva und das Schmerzmittel Ibuprofen sowie zweitens Abhängigkeit von chinesischen und indischen Pharmaprodukten.
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Sprechen wir dabei nicht von den Umweltverschmutzungen des Ganges mit pharmazeutischen Chemikalien, die die Menschen vor Ort krank machen, und sprechen wir bitte auch nicht von den lebensgefährlichen Verunreinigungen in chinesischen Arzneimitteln.
Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte führt aktuell 529 Arzneimittel auf, die nicht binnen zwei Wochen zu bekommen sind. Innerhalb der letzten vier Jahre – stellen Sie sich das einmal vor! – stiegen die Engpässe um sage und schreibe 700 Prozent. Selbst Notfallmedikamente sind zum Teil nicht mehr erhältlich.
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Deshalb fordert die AfD-Fraktion erstens die Modifizierung der Rabattverträge, zweitens Zuschläge an mindestens zwei Anbieter. Drittens. Einer dieser Anbieter soll das Fertigarzneimittel und den Wirkstoff in der EU herstellen lassen.
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Aber wir fordern vor allem eines: mehr Qualität statt Quantität. Meine Damen und Herren, das sind wir unseren Bürgern schuldig, die jeden Tag ihr Bestes für unser Land geben.
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Sie geben den Kliniken in den kommenden Jahren unbürokratisch 250 Millionen Euro für die Pflege aus den Liquiditätsreserven des Gesundheitsfonds. Wie sieht es aber mit den Personalkosten von zum Beispiel Ärzten, Physiotherapeuten oder Ergotherapeuten aus, die im Trümmerhaufen des völlig überholten Fallpauschalensystems verblieben sind?
Wir, die AfD, fordern deshalb, dass ein Gesetzentwurf vorgelegt wird, in dem die Kosten aller Berufsgruppen aus den Fallpauschalen entflochten werden. Aber ehrlich gesagt: Besser noch ist es, Sie schaffen einfach dieses alte Fallpauschalensystem ab und ersetzen es durch ein Capitation-Modell mit Regionalfaktor. – Einer Überweisung in den Gesundheitsausschuss stimmen wir zu.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
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Für die SPD-Fraktion hat das Wort die Kollegin Sabine Dittmar.
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Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Schön, dass wir nach den langen Ressortabstimmungen nun endlich das Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetz im parlamentarischen Verfahren beraten können. Sie wissen: Auslöser für die monatelangen Verzögerungen waren die umstrittenen Vorschläge zum Organisationsrecht der Kassen. Nun liegt ein Gesetzentwurf vor, der die Kassenfinanzierung umfassend reformieren soll. Das bedeutet viel Detailarbeit. Kassenfinanzierung und Risikostrukturausgleich sind eher „Feinschmeckerthemen“. Diskutiert wird darüber oft in einem kleinen Zirkel der betroffenen Krankenkassen.
Deshalb möchte ich hier zunächst herausstellen, wie immens wichtig der Risikostrukturausgleich für die gesetzliche Krankenversicherung, für die Stabilität der Beitragssätze und vor allem für eine gute Versorgung der über 70 Millionen gesetzlich Krankenversicherten ist.
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Das geht mir in der Debatte allzu oft unter. Für uns Sozialdemokraten stellt der Risikostrukturausgleich sicher, dass kein einziger Versicherter von seiner Krankenkasse aufgrund seines Alters, seines Geschlechts oder seiner Erkrankung diskriminiert wird. Der Rosinenpickerei wird durch einen funktionierenden Risikostrukturausgleich ein Riegel vorgeschoben.
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Hier zeigt sich auch, wie weit das System der gesetzlichen Krankenversicherung dem privaten Krankenversicherungssystem voraus ist.
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Aus den zahlreichen Bürgerbriefen, die mich täglich erreichen, weiß ich, wie viele Privatversicherte händeringend in die Solidargemeinschaft zurückkehren wollen. Der Kitt, der diese Solidargemeinschaft zusammenhält, ist der Risikostrukturausgleich. Im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart, dass wir den Finanzausgleich unter Berücksichtigung der Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesversicherungsamt mit dem Ziel eines fairen Wettbewerbs weiterentwickeln und ihn vor Manipulationen schützen werden. Das gehen wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf an. Wir gehen dabei in die richtige Richtung.
In den vergangenen Jahren gab es zwischen den verschiedenen Kassenlagern heftige Auseinandersetzungen um den RSA. Ein Auftragsgutachten löste das andere ab. Dabei ist manchmal der differenzierte Blick dafür verlorengegangen, dass auch innerhalb der Kassenarten die Finanzergebnisse sehr unterschiedlich sind. Zukünftig wird der Wissenschaftliche Beirat regelmäßig eine Evaluation durchführen. Die Kassen können sich dann wieder ihrem Kerngeschäft, der guten Versorgung, zuwenden.
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Mir ist wichtig: Es geht beim Risikostrukturausgleich nicht um den Ausgleich von Finanzergebnissen. Es geht um den Ausgleich von unterschiedlichen Risiken und um die Schaffung gleicher und fairer Wettbewerbsbedingungen für alle.
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Deshalb, Kolleginnen und Kollegen, müssen wir ordnungspolitisch sauber vorgehen. Hierfür sind die Empfehlungen des Wissenschaftlichen Beirats eine gute Grundlage. Handlungsleitend muss sein, dass der RSA noch zielgenauer und manipulationsresistent wird. Kassen sollen Anreize haben, sich um gute Versorgung zu kümmern, statt mit fragwürdigen Satzungsleistungen um junge gesunde Versicherte zu buhlen.
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Über- und Unterdeckungen gibt es in den verschiedenen Versichertengruppen immer noch. Die müssen wir abbauen. Deshalb werden wir die im Gesetzentwurf vorgeschlagenen Maßnahmen im parlamentarischen Verfahren sehr genau prüfen und ihre Wirkung hinterfragen. Das gilt genauso für die Nichtberücksichtigung der Erwerbsminderungsrentner wie für die Ausgestaltung des Hochrisikopools oder die Regionalkomponente.
Für uns Sozialdemokraten ist es außerdem sehr wichtig, den Finanzausgleich immun zu machen gegen Manipulationsversuche. Der Gesetzentwurf setzt hier gute Akzente. Es ist richtig, die Prüfkompetenzen des Bundesversicherungsamtes zu verstärken und eine noch engere Abstimmung der Aufsichtsbehörden und damit ein einheitlicheres Aufsichtshandeln zu erreichen. Im Übrigen hege ich auch Sympathie für den Vorschlag, die Finanzaufsicht beim Bund und die Versorgungsaufsicht beim Land für alle Kassen zu verorten. Die Vertragstransparenzstelle, die bereits beschlossenen Kodierrichtlinien und die Einführung einer zertifizierten Praxissoftware werden die Manipulationsresistenz sicher weiter erhöhen.
Es gibt jedoch auch Maßnahmen, deren Effizienz und deren Auswirkungen sich mir nicht erschließen. Ich spreche zum einen von der Manipulationsbremse: Wie ist ihre Auswirkung auf die Morbiditätsorientierung des RSA? Kann sie überhaupt präventiv wirken, oder sanktioniert sie nur kollektiv? Zum anderen spreche ich vom geplanten Diagnoseverbot in Versorgungsverträgen. Betreuungsstrukturverträge, die reine Vergütung für Diagnosen vorsahen, sind bereits seit drei Jahren verboten. Das ist auch gut so. Aber wie ein Vertrag aussehen soll, der ärztliche Leistung ohne irgendeinen Diagnosebezug vergütet, hat man mir noch nicht schlüssig darlegen können. Für mich als Ärztin ist die Diagnose die Sprache der Medizin. Deshalb werden wir in den anstehenden Beratungen sorgfältig darauf achten, dass bewährte Versorgungsstrukturen nicht zerstört und innovative Versorgungskonzepte nicht unmöglich gemacht werden.
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Den Fokus werden wir auch auf den geplanten Lenkungs- und Koordinierungsausschuss richten. Der Spitzenverband darf nicht durch Gremienvorbehalte in seiner Arbeit eingeschränkt werden. Wir werden deshalb kritisch nachhaken, welche Verbesserungen ein solches Gremium mit sich bringen soll.
Ich freue mich auf die parlamentarischen Beratungen, danke für die Aufmerksamkeit bei dieser knochentrockenen Materie und wünsche noch einen schönen Abend!
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Für die FDP-Fraktion hat das Wort die Kollegin Christine Aschenberg-Dugnus.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die beabsichtigten Neuregelungen beim Risikostrukturausgleich begrüßen wir ausdrücklich; denn eine Reform des „morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs“ – ich sage das nur einmal, dann nicht mehr – haben wir als FDP immer gefordert. Als Fraktion der Freien Demokraten sind wir der festen Überzeugung, dass die Krankenkassen in einem fairen und transparenten Wettbewerb miteinander stehen müssen. Die bestehenden Regelungen ermöglichen das nicht, und das ist uns auch allen bewusst. Ursächlich für die jetzige Misere ist die derzeitige Ausgestaltung des RSA. Er ist nämlich manipulationsanfällig und setzt Fehlanreize, Stichwort „Upcoding“. Die Milliarden, die in das Upcoding geflossen sind, hätten wir lieber in der Patientenversorgung gesehen.
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Die angestrebte Reform ist also ein wichtiger und richtiger Schritt. Wir begrüßen zum Beispiel auch die Einführung einer Regionalkomponente, weil dadurch regionale Unterschiede ausgeglichen werden. Ebenso ist die Einführung eines Risikopools für Hochkostenfälle sachgerecht, weil insbesondere kleine Krankenkassen dadurch spürbar entlastet werden können.
Auch dass Präventionsangebote im RSA jetzt besser abgebildet werden, ist sehr erfreulich. Dass dies notwendig ist, haben wir seit Jahren auf jeder Podiumsdiskussion angemahnt. Insofern freuen wir uns, dass mit der Vorsorgepauschale das Ziel erreicht ist, Präventionsmaßnahmen auch langfristig attraktiver zu machen.
Wir kommen also dem Ziel näher. Ob möglicherweise noch mehr geht, werden wir in der Anhörung klären.
Nächstes Thema. Die geplante Ersetzung des ehrenamtlichen Verwaltungsrates durch hauptamtliche Kassenvorstände wurde aufgrund der Proteste Gott sei Dank aus dem Gesetzentwurf gestrichen. Herr Minister, da wurden Sie zu Recht von den eigenen Leuten oder von Ihrem Koalitionspartner zurückgepfiffen, und das ist auch gut so. Der neu vorgesehene Lenkungs- und Koordinierungsausschuss aus hauptamtlichen Vorständen der Krankenkassen birgt aber unseres Erachtens genauso gut die Gefahr, die Sozialpartner zu schwächen.
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Es handelt sich hier um ein völlig systemfremdes Gremium, für das überhaupt keine Notwendigkeit besteht. Deswegen sagen wir: Das muss weg.
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Nächster Punkt. Es war richtig, von einer bundesweiten Öffnung der AOKen abzusehen. Dennoch wünschten wir uns ein Mehr an einheitlichem Aufsichtshandeln. Meine Damen und Herren, die Genehmigung von Hausarztverträgen oder Verträgen zur integrierten Versorgung müssen im Sinne der Patientinnen und Patienten von den Aufsichten in Bund und Ländern gleich bewertet werden. Nur wenn die Regeln für alle identisch sind, ist ein fairer Wettbewerb sichergestellt.
Letzter Punkt. Auch wir werden in der Anhörung ganz genau nachfragen, ob durch das Gesetz mit seinem Verbot von spezifischen Behandlungsdiagnosen innovative Versorgungsformen verhindert werden, so wie es die Allianz deutscher Ärzteverbände vermutet. Das wollen wir nicht. Das wäre auch nicht im Patientenwohl.
Ich freue mich auf die Diskussion und die weitere Beratung.
Vielen Dank.
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Der nächste Redner für die Fraktion Die Linke: der Kollege Dr. Achim Kessler.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Gäste auf der Tribüne! Herr Minister Spahn, schon 2012 haben Sie vom „einheitlichen Versicherungsmarkt“ als Ihrer Zukunftsvision gesprochen. Nach Ihrer Vorstellung sollen sich die gesetzliche und die private Krankenversicherung angleichen – in einem, wie Sie sagen, „offenen Wettbewerbssystem“.
Mit dem vorliegenden Gesetz kommen Sie dieser Horrorvision wieder ein Stück näher. Noch unterliegt die gesetzliche Krankenversicherung dem Sozialrecht. Aber erstmals schreiben Sie den Wettbewerb in das fünfte Sozialgesetzbuch. Schritt für Schritt bereiten Sie vor, dass die gesetzliche Krankenversicherung wie die private dem Wettbewerbsrecht und damit letztendlich dem EU-Recht unterworfen wird. Dem stellt sich Die Linke konsequent entgegen.
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Herr Minister, Sie untergraben die Selbstverwaltung durch Gewerkschaften und Arbeitgeber, indem Sie dem betriebswirtschaftlichen Management der Kassenvorstände mehr Macht geben. – Jetzt hätte ich eigentlich Applaus von der FDP erwartet. – Aus Krankenkassen, die den Versicherten gehören, werden Unternehmen, die aus den Bedürfnissen ihrer Kunden Profit schlagen. Meine Damen und Herren, Sie müssen sich entscheiden: Wollen Sie entweder den Wettbewerb, oder wollen Sie einen funktionsfähigen Sozialstaat? Beides zusammen geht nicht.
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Die Linke jedenfalls will einen Sozialstaat, auf den sich die Menschen auch wirklich verlassen können.
Aber ein wenig scheint auch Ihnen zu dämmern, dass Markt und Gesundheit nicht zusammenpassen; denn in diesem Gesetz stehen auch Maßnahmen, die einige Auswüchse des Wettbewerbs immerhin begrenzen sollen. Wir begrüßen, dass Sie endlich eine seit zehn Jahren von der Linken vorgetragene Forderung umsetzen. Statt wie bisher nur 80 sollen künftig alle Krankheiten zur Berechnung der Erstattungen an die Kassen herangezogen werden. Das ist ein Fortschritt. Aber, meine Damen und Herren, das reicht nicht aus;
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denn weiterhin profitieren solche Kassen im Wettbewerb, die viele Ablehnungsbescheide verschicken und Filialen vor Ort schließen, und es gewinnen diejenigen, die mit Hochglanzwerbebroschüren und oft unsinnigen freiwilligen Leistungen Versicherte ködern.
Die Versicherten müssen Brillen und Zahnersatz zum großen Teil selbst bezahlen. Gleichzeitig werden Leistungen aus ihren Beiträgen finanziert, deren Nutzen – wie zum Beispiel bei der Homöopathie – wissenschaftlich nicht nachgewiesen ist. Meine Damen und Herren, das ist Unsinn, und das muss beendet werden.
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Die Kassen bekommen Geld für die Krankheitsdiagnosen ihrer Versicherten, und nicht für die tatsächlichen Kosten, die sich aus der Behandlung ergeben. Solange das so ist, wird es Manipulationsversuche geben. Niemand käme auf die Idee, Schulen nach den Noten ihrer Schülerinnen und Schüler, niemand käme auf die Idee, die Polizei nach der Anzahl ihrer Festnahmen zu finanzieren. Aber bei den Krankenkassen soll das funktionieren? Meine Damen und Herren, das ist absurd.
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Hören Sie auf, immer mehr Markt und Wettbewerb in die Gesundheitspolitik zu bringen! Das schadet den Versicherten.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Die Kollegin Maria Klein-Schmeink hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind froh, dass man insbesondere bei der CDU/CSU, aber auch, glaube ich, bei der SPD endlich zu der Einsicht gekommen ist, dass man beim Finanzausgleich zwischen den Kassen etwas tun muss.
Wir haben bereits im August 2016 einen entsprechenden Antrag in den Bundestag eingebracht. Jetzt ist es vier Jahre später, und wir kommen endlich – endlich! – dazu, dass die Vorschläge, die – größerenteils jedenfalls – aus dem Gutachten der Sachverständigen kommen, jetzt für die Weiterentwicklung des Finanzausgleichs zwischen den Kassen vorgelegt werden. Das ist gut so, aber es ist auch mehr als überfällig.
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Überfällig ist es nicht einfach aus abstrakten Gründen, sondern weil diese Schieflage im Finanzausgleich gravierende Folgen für die einzelnen Kassen hat. Zwischen den Zusatzbeiträgen haben wir eine Spreizung von 0,2 Prozent bis 2,5 Prozent. Das ist erheblich. Wir haben Kassen, die deutlich mit dem Rücken an der Wand stehen und deshalb ihre Leistungen für die Patientinnen und Patienten einschränken. Das können wir nicht wollen.
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Von daher ist es höchste Zeit, dass Sie endlich in die Gänge kommen und dass der Minister – vielleicht auf Druck der Koalition – seinen Streit mit den Ländern beiseitegepackt hat und wir hier jetzt etwas vorliegen haben. Wir müssen etwas tun, auch deshalb, weil, wie wir wissen, ein enormer Ausgabenberg auf die Kassen zukommt, was zu weiteren Beitragserhöhungen führen wird. Wenn das noch auf der gleichen Grundlage wie heute im Finanzausgleich passiert – das wird für das nächste Jahr so sein –, dann wird sich die Diskrepanz zwischen den Kassen verschärfen. Deshalb ist das mehr als überfällig.
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Um einen fairen Kassenwettbewerb zu haben, brauchen wir in der Tat ein einheitliches Aufsichtshandeln. Aber das brauchen wir nicht auf Bundesebene, sondern wir brauchen ein unterschiedliches Aufteilen von Aufsichtszuständigkeiten für die Versorgungsebene, da ist ganz klar die Länderebene gefragt, und für die Finanzebene, da wäre der Bund gefragt. Eine solche Lösung ist leider nicht gefunden worden – obwohl sie schon lange vorgeschlagen wird –, unter anderem deshalb, weil der Minister es vorgezogen hat, in den Streit mit den Ländern zu gehen, statt konstruktiv nach Wegen für eine vernünftige Aufsicht zu suchen. Schade, Chance vertan!
Weiter wurde die Chance vertan, einen Qualitätswettbewerb voranzubringen. Wir haben Ihnen einen Antrag vorgelegt, damit es endlich möglich wird, nicht nur den Zusatzbeitrag zu vergleichen, sondern zu sehen: Was tut eigentlich meine Kasse für mich? Wie geht sie mit meinen Anträgen um? Das muss sichtbar sein, es muss vergleichbar sein, und es muss ein Anreiz da sein, dass die Kassen dann auch wirklich mit ihren Leistungen punkten können.
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Weiterhin haben Sie, zum Glück, eine Regelung gefunden, endlich die Repräsentanz von Frauen in den Aufsichtsgremien zu stärken. Da kommen Sie uns sehr entgegen. Wir haben viele Initiativen in dieser Richtung unternommen, die Spitzenfrauen im Bereich der Gesundheit ebenso. Da können Sie auch noch nachlegen. Ich hoffe, dass im Anhörungsprozess da noch einiges geklärt wird.
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In diesem Sinne: Nutzen Sie die Chance, sich mit unseren Anträgen auseinanderzusetzen!
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Michael Hennrich.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich wollte ich schwerpunktmäßig etwas zu den Arzneimittelthemen sagen. Aber, liebe Frau Kollegin Klein-Schmeink, Sie haben eine Antwort provoziert. Sie haben zum einen gesagt, das habe so lange gedauert, und zum Zweiten den Streit mit den Ländern erwähnt.
Ich möchte zum Thema Verfahrensdauer sagen: Wir haben ganz bewusst entsprechende Gutachten in Auftrag gegeben. Wir haben das sehr, sehr ausführlich diskutiert. Das ist vielleicht auch ein Grund dafür, dass wir jetzt beim Thema Morbi-RSA eine Regelung gefunden haben, die weitestgehend akzeptiert wird. Es gibt immer noch Befindlichkeiten; aber in groben Zügen ist Übereinstimmung da.
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Das zweite Thema, das Sie angesprochen haben, ist das Thema „Streit mit den Ländern“. Ich gebe ganz offen zu, dass ich ein großer Fan einer bundesweiten Öffnung der AOKen gewesen wäre. Warum soll denn der Versicherte in Mecklenburg-Vorpommern nicht an dem Hausarztvertrag in Baden-Württemberg teilnehmen? Warum soll der Versicherte in Baden-Württemberg nicht an einem speziellen Diabetesprogramm teilnehmen, das es in einem anderen Bundesland gibt? Das sind Fragen, die die Versicherten bewegen und bei denen die veröffentlichte Meinung, die Sachverständigen uns alle gesagt haben: Das wäre der richtige Weg.
Doch die Chefs und die Minister auf Landesebene haben sich vor ihre AOKen gestellt – ich sage aber eines auch: Sie sind auch zuständig für Versicherte anderer Krankenkassen – und haben das unmöglich gemacht. Ihr Vorschlagen – ich sage das ganz offen – zu einer getrennten Aufsicht beim Thema Finanzen und beim Thema Versorgung, den Sie vor einigen Wochen im „Ärzteblatt“ gehabt haben, habe ich mich gar nicht mehr an die Presse zu bringen getraut, weil das Konsens zwischen allen Beteiligten ist. Überzeugen Sie Ihren Minister von den Grünen in Baden-Württemberg, den Herrn Lucha, dass wir dieses Modell machen, und ich sichere Ihnen zu, dass wir das auch umsetzen werden; da bin ich sicher.
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Jetzt komme ich noch ganz kurz zu den Arzneimittelthemen. Ich bin Ihnen, Herr Minister Spahn, dankbar dafür, dass Sie unsere Initiative aus dem September aufgegriffen haben, dass wir über das Thema Lieferengpässe diskutieren und schauen, was die richtigen Maßnahmen sind. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir die verbindliche Meldepflicht einführen, dass wir mehr Transparenz über die Liefersituation bekommen, dass wir uns mit der Frage auseinandersetzen: Was machen wir mit Bevorratungspflichten, wo siedeln wir die an?
Natürlich gehört auch dazu, dass wir uns mit den Rabattverträgen auseinandersetzen. Es ist keine komfortable Situation, dass es Parteien im Parlament gibt, die die Abschaffung der Rabattverträge wollen. Das wollen wir nicht. Ich glaube, dass die Rabattverträge in der Tat ein hohes Einsparpotenzial gebracht haben. Aber wir müssen darüber nachdenken, ob wir die Rabattverträge modifizieren, ob wir da etwas verändern. Ich glaube, da sind wir in einem guten Prozess. Das schauen wir uns genauer an: ob wir Vergabekriterien diskutieren, ob wir zur Mehrfachvergabe kommen. Das ist ein Schwerpunkt in diesem Gesetzgebungsverfahren. Ich bin Ihnen, wie gesagt, Herr Minister, dankbar, dass Sie die Initiative aufgegriffen haben. Wir haben Lösungsansätze. Wir werden die ergänzen. Aber das wird das Verfahren bringen.
Ich freue mich auf eine konstruktive Debatte und auf gute Beratungen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion hat das Wort die Kollegin Martina Stamm-Fibich.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich mache jetzt noch ein bisschen mit den Arzneimitteln weiter. Leider sind Arzneimittellieferengpässe in unserem Land keine Seltenheit mehr. Im letzten Jahr wurden sage und schreibe 268 Lieferengpässe gemeldet. Lieferengpässe schränken die Qualität der Gesundheitsversorgung in unserem Land ein, und sie tragen vor allem zur Verunsicherung der Bevölkerung bei. Das darf in einem reichen Industrieland wie Deutschland nicht geschehen!
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Wir sind wirklich froh, dass wir mit dem vorliegenden Gesetz schnell handeln können. Mit den fachfremden Änderungseinträgen, die wir einbringen, ergreifen wir Maßnahmen, um dieses Problem zeitnah anzugehen. Zu diesen Maßnahmen gehören Regelungen zur Austauschbarkeit von Arzneimitteln in der Apotheke, zur Marktüberwachung sowie zur Bevorratung von wichtigen Medikamenten.
Hierbei möchte ich insbesondere die Erweiterung der Meldepflichten erwähnen. Aktuell zeigt sich, dass die bisherigen Meldepflichten nicht funktionieren. Deshalb müssen wir dort ganz dringend nachschärfen, sowohl den Großhandel als auch die pharmazeutischen Hersteller dazu verpflichten, dass diese Engpässe gemeldet werden. Eine bessere Datenlage – da sind wir uns, glaube ich, einig – wird zur Verbesserung der Situation beitragen und uns allen etwas bringen. Deshalb müssen wir darauf hinarbeiten, da schnell zu einer Lösung zu kommen.
Der Beirat Lieferengpässe beim BfArM ist beauftragt, eine Liste der versorgungskritischen Arzneimittel aufzustellen. Wir wissen alle, dass die Natur dieses Problems wirklich komplex ist. Die einfachen Lösungen, die hier vorgetragen wurden, werden diesem Problem nicht gerecht. Ich glaube, wir sind in diesem parlamentarischen Verfahren auf einem guten Weg, beim Thema Engpässe etwas zu machen. Wir können uns noch die eine oder andere Maßnahme vorstellen. Ich freue mich auf das Verfahren, dass wir dieses Problem angehen.
Vielen Dank.
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Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Stephan Pilsinger, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der solidarische Wettbewerb zwischen den Krankenkassen ist einer der Grundpfeiler unseres Gesundheitssystems, eines Systems, das auf den Wettbewerb um Qualität und Wirtschaftlichkeit ausgerichtet ist.
Der vor über 25 Jahren eingeführte Risikostrukturausgleich sorgt seitdem für einen fairen Wettbewerb zwischen den Krankenkassen, er gleicht die unterschiedlichen Risikostrukturen zwischen den Kassen aus und verhindert, dass es zu einem schädlichen Wettbewerb um junge und gesunde Versicherte kommt.
Um Wettbewerbsverzerrungen zwischen den Krankenkassen auch in Zukunft zu verhindern, müssen wir den Risikostrukturausgleich stets den Entwicklungen im Gesundheitsweisen anpassen, und das tun wir nun auch. Eine grundlegende Anpassung haben wir zuletzt im Jahr 2009 vorgenommen, mit der Einführung des Gesundheitsfonds und der direkten Morbiditätsorientierung des Risikostrukturausgleichs. In den vergangenen Jahren hat sich jedoch gezeigt, dass eine faire Zuweisung der Mittel trotz der Nachbesserung nicht immer gegeben ist. So konnte es in einigen Fällen dazu kommen, dass Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds die Ausgaben für bestimmte Versicherungsgruppen überstiegen oder nicht ausreichten. Aufgrund der regional unterschiedlichen Ausgabenstruktur der Krankenkassen konnte es darüber hinaus zu erheblichen Ungleichgewichten zwischen regional begrenzten und bundesweit geöffneten Krankenkassen kommen.
Genau diese Ungerechtigkeiten in den wettbewerblichen Rahmenbedingungen der Krankenkassen beseitigen wir mit dem vorgelegten Gesetz dauerhaft. Unsere systematische und zielgenaue Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleichs umfasst drei wesentliche Punkte.
Als erste Maßnahme werden wir künftig das gesamte Krankheitsspektrum im Risikostrukturausgleich berücksichtigen, nicht nur die höchstens 80 Krankheiten.
Zweitens schaffen wir eine Regionalkomponente im Finanzausgleich. Damit sollen die bestehenden regionalen Über- und Unterdeckungen abgebaut werden. Zudem wirken wir einer Machtkonzentration einzelner Kassen entgegen.
Drittens. Mit dem neuen Risikopool werden die finanziellen Belastungen, die sich aus Hochkostenfällen ergeben, besser abgefedert. Das ist insbesondere aufgrund der wachsenden Bedeutung hochpreisiger Therapien wichtig.
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In einigen Bereichen müssen wir den bestehenden Entwurf jedoch nachbessern. Zahlreiche besondere Versorgungsformen in der GKV basieren auf Regelungen, die von der Dokumentation ärztlicher Diagnosen abhängig sind. Ein Beispiel ist die hausarztzentrierte Versorgung. Gerade in diesem Bereich greift der aktuelle Entwurf aus meiner Sicht etwas zu weit. Wir haben bereits mit dem Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetz 2017 Regelungen eingeführt, die Manipulation in der selektivvertraglichen Versorgung erfolgreich verhindern. Der vorliegende Entwurf hat hier das Ziel, bestimmte Mittelzuweisungen aus dem Gesundheitsfonds für einige Vertragsformen gänzlich auszuschließen. Zudem wird im vorliegenden Entwurf darüber nachgedacht, Diagnosen von Hausärzten und Fachärzten künftig unterschiedlich zu bewerten. Darüber werden wir noch einmal reden müssen, wie die Kollegin Maag bereits ausgeführt hat.
Ich finde, wir sind auf einem guten Weg. Ich freue mich, in den Beratungen dieses Gesetz gemeinsam mit Ihnen zum Abschluss zu bringen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Pilsinger. – Damit schließe ich die Debatte.
Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 25. November war der Internationale Tag gegen Gewalt an Frauen. Wie jedes Jahr wurde wieder beklagt, dass es um den Gewaltschutz für Frauen immer noch schlecht bestellt ist, dass die Kapazitäten zur Unterstützung von Frauen in den Frauenhäusern, in den Frauenberatungsstellen und bei Notrufen bei Weitem nicht ausreichen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will nicht mehr klagen. Ich will, dass sich endlich etwas ändert -
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für die betroffenen Frauen, für die mitbetroffenen Kinder und auch für die überlasteten Mitarbeiterinnen in Frauenhäusern und Frauenberatungsstellen.
Wir haben uns als Staat mit der Istanbul-Konvention verpflichtet, Gewalt gegen Frauen viel stärker zu bekämpfen. Der Bund ist hier zusammen mit den Ländern und Kommunen gefragt. Weiter die Schultern zu zucken und beim Gewaltschutz für Frauen allein die Länder für verantwortlich zu erklären, geht nicht mehr, und das wissen Sie alle.
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Wir Grünen legen heute daher zwei wegweisende Anträge vor, die die notwendige Verantwortungsübernahme und Finanzierung von Gewaltschutz auch durch den Bund ermöglichen. Wir wollen, dass Gewaltschutz dauerhaft und besser finanziert wird.
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An jedem dritten Tag wird eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner ermordet. Das macht mehr als deutlich, wie nötig bessere Prävention, Intervention und Unterstützung sind. Gerade hier spielen die Frauenberatungsstellen eine zentrale Rolle. Sie sind Anlaufstelle für gewaltbedrohte und ‑betroffene Frauen und Mädchen, aber auch für Angehörige und Fachkräfte, und darin wollen wir sie mit unserem Antrag zukünftig stärker unterstützen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn eine Frau Schutz vor Gewalt in einem Frauenhaus braucht, dann darf es keine Hürden geben. Das darf nicht scheitern an der Finanzierung, am Platzangebot, am Wohnort oder am Status der Betroffenen. Gewaltschutz geht vor.
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Und – das sage ich mit Nachdruck – dies muss der Staat gewährleisten.
Jede Frau, die von häuslicher oder partnerschaftlicher Gewalt betroffen ist, erhält nach unserem Vorschlag – unabhängig vom Einkommen und Vermögen, vom Herkunftsort, von der Wohnsituation oder vom Aufenthaltsstatus – einen Rechtsanspruch auf eine Geldleistung für den Zweck des Aufenthalts in einem Frauenhaus oder in einer vergleichbaren Schutzeinrichtung. Das gilt für eine geflüchtete Frau aus einer Unterkunft genauso wie für eine Studentin. Dieser Rechtsanspruch gilt für alle Frauen – ausnahmslos.
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Es darf keine Zugangsvoraussetzungen beim Gewaltschutz geben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Rechtsanspruch stärkt Frauen, und er erzeugt Druck. Und der ist auch notwendig. Die Länder sind weiter in der Pflicht, den Aus- oder Umbau von Plätzen in Frauenhäusern voranzutreiben – insbesondere von Plätzen für Frauen mit Behinderung, für Mütter mit älteren Söhnen und anderen. Zu oft müssen Frauen derzeit von Frauenhäusern abgewiesen werden. Wir brauchen endlich gleichwertige und bedarfsgerechte Standards, und zwar bundesweit.
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Der Clou am Grünen-Vorschlag ist, dass der Bund 100 Prozent der Leistungen für die Unterbringung im Frauenhaus finanziert. Die Länder werden dadurch entlastet. Sie müssen ihrerseits die Verantwortung übernehmen und die freiwerdenden Mittel in mehr Plätze und vor allem in angemessenere Personalkosten investieren. So schaffen wir es schrittweise, bundesweit Unterstützungsangebote für Gewaltschutz auszubauen.
Zum Schluss: Wir begrüßen es, dass die Ministerin 30 Millionen Euro investive Mittel im Jahr einsetzt, aber da geht mehr. Der Bund steht in der politischen Verantwortung, gemeinsam mit den Ländern dauerhaft und ausreichend Gewaltschutz zu finanzieren.
In diesem Sinne: Lassen Sie uns gemeinsam gute Lösungen finden! Ich freue mich auf die Beratung.
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Vielen Dank, Ulle Schauws. – Nächste Rednerin: für die CDU/CSU-Fraktion Sylvia Pantel.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Jeder einzelne Angriff und jede einzelne Gewalttat gegen einen anderen Menschen ist zu verabscheuen und durch nichts zu rechtfertigen; darin sind wir uns alle einig. Besonders schlimm ist die Gewaltausübung in der Familie oder in der familiären Umgebung. Leider findet Gewalt häufig gerade in aktuellen oder ehemaligen Partnerschaften statt.
Die kürzlich veröffentlichten Zahlen des Bundeskriminalamtes zur Partnerschaftsgewalt im Jahr 2018 sind für uns alle alarmierend. Die Anzahl der Opfer von partnerschaftlicher Gewalt ist im Vergleich zum Vorjahr erneut gestiegen. Im Jahr 2014 belief sich die Anzahl der Opfer auf 126 230. Vier Jahre später waren bereits 140 755 Personen betroffen. Über 80 Prozent dieser Opfer von häuslicher Gewalt waren im Jahr 2018 Frauen.
Es ist wichtig, dass wir über häusliche Gewalt sprechen, öffentliche Kampagnen unterstützen und keine Tabus akzeptieren, wenn es um Aufklärung und Hilfe geht.
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Wir bieten derzeit ein Bündel verschiedener Maßnahmen gegen Gewalt an, und viele von uns fragen sich, wieso die Anzahl der festgestellten Opfer von häuslicher Gewalt weiter steigt.
Eine Antwort könnte sein, dass sich die Scheu, diese Gewalttaten anzuzeigen, verringert hat. Eine andere Erklärung könnte sein, dass die Kritik der Soziologin Necla Kelek von Terre des Femmes zutrifft, die uns vorwirft, die kulturellen, religiösen und ethnischen Gründe dieser Gewalttaten gegen Frauen nicht ausreichend zu beleuchten. Wenn dem so wäre, benötigten wir eventuell andere Antworten und müssten wir mehr Prävention anbieten, um gegenzusteuern.
Mit dem bundesweiten Hilfetelefon gegen Gewalt an Frauen haben wir ein notwendiges und wichtiges niederschwelliges Angebot geschaffen. Dort können sich die Opfer zu jeder Zeit anonym, vertraulich, kompetent, sicher, barrierefrei beraten lassen – telefonisch, per Mail und Chat, kostenfrei in 17 Sprachen. Auf Wunsch kann eine Weitervermittlung an erreichbare Unterstützungseinrichtungen vor Ort erfolgen. Das Hilfetelefon berät überwiegend weibliche, aber auch männliche Opfer.
Das 2002 in Kraft getretene Gewaltschutzgesetz schützt Opfer häuslicher Gewalt durch die Möglichkeit, erst einmal die eigene Wohnung zu nutzen, ohne sie mit der gewalttätigen Person teilen zu müssen und in Ruhe zu überlegen, was zu tun ist. Die Polizei kann dem Täter einen Platzverweis aus der Wohnung von bis zu 14 Tagen erteilen. Zudem können Opfer von häuslicher Gewalt per Eilverfahren die vorläufige Zuweisung der gemeinsamen Wohnung beim zuständigen Familiengericht beantragen. Ist der Täter oder die Täterin allein an der Wohnung berechtigt, so beträgt der Zeitraum der Zuweisung bis zu sechs Monate. Gelingt es dem Opfer während dieser Zeit nicht, eine Ersatzwohnung zu finden, kann das Gericht die Frist um höchstens sechs weitere Monate verlängern.
2016 haben wir mit der Reform des Sexualstrafrechts weitere Verschärfungen im Strafrecht in Bezug auf sexuelle Übergriffe gegenüber Frauen erreicht. In diesem Jahr wurden außerdem zwei wichtige Maßnahmen beschlossen, erstens dass eine diskrete Spurensicherung bei Misshandlungen und sexualisierter Gewalt von den gesetzlichen Krankenkassen finanziert wird und zweitens dass Traumaambulanzen für die von sexueller oder psychischer Gewalt Betroffenen zeitnah eingeführt werden sollen.
Um den Opfern besser helfen zu können, hat der Bund das Bundesinvestitionsprogramm „Gemeinsam gegen Gewalt an Frauen“ mit der Beteiligung der Länder ins Leben gerufen. In diesem Zusammenhang hat es bereits mehrere Treffen gegeben. Ziel des runden Tisches ist der bedarfsgerechte Ausbau von Frauenhäusern und ambulanten Hilfs- und Betreuungseinrichtungen für von Gewalt betroffene Frauen und ihre Kindern.
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Für den Ausbau von Frauenhäusern und Beratungsstellen stellt der Bund in seinem Programm in den nächsten vier Jahren insgesamt 120 Millionen Euro bereit. Mit den Ländern soll geprüft werden, ob und inwieweit analog zum Unterhaltsvorschussgesetz eine vorläufige Übernahme der Kosten bei gleichzeitigem Übergang der Unterhaltsforderungen auf den Kostenträger verankert werden kann, um die Frauenhausbetreiber nicht auf den Kosten sitzen zu lassen. Diese Maßnahmen sollen weitere Lücken im Hilfesystem schließen und den Zugang für die Opfer verbessern. Die Bundesmittel für den Ausbau von zusätzlichen Frauenhausplätzen sollen auch den barrierefreien Ausbau von Frauenhäusern voranbringen.
Im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend stehen aktuell 16 Stellen für den Schutz von Frauen vor Gewalt zur Verfügung. Derzeit wird durch das Deutsche Institut für Menschenrechte eine Konzeption für die Ausgestaltung und das Aufgabenprofil einer unabhängigen Monitoringstelle zur Umsetzung der Istanbul-Konvention erarbeitet. Diese Monitoringstelle soll nach aktuellem Stand in 2020 seine Arbeit aufnehmen.
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Zudem haben wir durch die intensiven Gespräche mit dem federführenden Bundesinnenministerium erreicht, dass die Adressen für schutzsuchende Frauen in Frauenhäusern einer automatischen Auskunftssperre unterliegen.
Wir haben zusätzliche Mittel zur Errichtung einer digitalen Plattform zur besseren Vermittlung von Frauenhausplätzen eingesetzt. Die Umsetzung ist deshalb schwierig, da die Frauenhäuser in der Zuständigkeit der Länder liegen, und wir sind auch da auf die freiwillige Mitwirkung dieser angewiesen.
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– Ja, den haben wir gelesen, na selbstverständlich.
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Wir zeigen hier auf, dass wir nicht untätig sind, dass wir eine ganze Menge an Maßnahmen getroffen haben. Ich war auch bei den Gesprächen dabei und habe gesehen, wie schwierig es ist, die Interessen der unterschiedlichen Länder zusammenzuführen, und das machen wir gerade.
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Kommen Sie bitte zum Ende.
Sie haben gehört, dass wir eine ganze Menge vereinbart und auch schon beschlossen haben, dass die Maßnahmen jetzt greifen, wir die Gelder zur Verfügung gestellt haben. Wir sehen die Not der Frauen, und wir helfen und arbeiten daran, Verbesserungen mit den Ländern gemeinsam auf den Weg zu bringen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Sylvia Pantel. – Nächste Rednerin: für die AfD-Fraktion Mariana Harder-Kühnel.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Gewalt gegen Frauen ist ein großes Problem, und sie nimmt in den letzten Jahren dramatisch zu. Jede dritte Frau in Deutschland ist in ihrem Leben mindestens einmal von Gewalt betroffen. In jeder Stunde wird eine Frau hierzulande Opfer von Gewalt, und an jedem dritten Tag stirbt eine Frau an den Folgen dieser Gewalt. Oft gibt es nur einen Zufluchtsort: Frauenhäuser. Jährlich finden rund 16 000 Frauen hier Schutz, und sie bringen etwa ebenso viele Kinder mit, die leider oft selbst Opfer wurden.
Aber nicht immer wird diese Zuflucht gewährt. Es fehlen Zehntausende von Plätzen, und dieser Platzmangel ist häufig tödlich. Grund: fehlende räumliche Kapazitäten, fehlende Finanzierung, bürokratischer Ballast. Nun stellt sich die Frage, wie man diese eklatanten Probleme lösen kann. Man kann natürlich immer mehr finanzielle Mittel für Frauenhäuser, einen Rechtsanspruch auf zusätzliche Geldmittel für die betroffenen Frauen und immer mehr Bürokratie fordern – kann und muss man kurzfristig auch, um den betroffenen Frauen und Kindern Schutz zu gewähren.
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Aber dies wird an den Ursachen für die steigende Gewalt gegenüber Frauen und Kindern nichts ändern. Man muss die Probleme an der Wurzel packen, indem man ein gesellschaftliches Klima schafft, in dem nicht immer mehr und mehr Frauen mit ihren Kindern gezwungen sind, Zuflucht in Frauenhäusern zu suchen.
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Das langfristige Ziel sollten nicht mehr und mehr Frauenhausplätze sein. Das langfristige Ziel sollte sein, dass immer weniger Frauenhausplätze benötigt werden.
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Denn jede Frau, die mit ihren Kindern in einem Frauenhaus Schutz suchen muss, ist ein Zeichen der Kapitulation unserer Gesellschaft vor Schlägern und vor Mördern.
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Und es ist Ihre Politik, die ein Klima der Gewalt gegen Frauen massiv begünstigt.
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– Hören Sie gut zu! Wer Frauen schützen will, der muss sich auch ideologiefrei mit den Ursachen für die angestiegene Gewalt gegenüber Frauen und Kindern in Deutschland auseinandersetzen.
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Die Fakten liegen auf dem Tisch: Gegen Frauen gerichtete Gewalt wird stark überproportional von Migranten begangen.
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Bei einem Ausländeranteil von nur 12 Prozent an der Gesamtbevölkerung sind 33 Prozent der Täter häuslicher Gewalt Migranten, und dabei wird die Zahl deutscher Staatsbürger mit Migrationshintergrund noch nicht einmal erfasst.
Weitere Fakten gefällig? Fast 70 Prozent der Frauen in Frauenhäusern haben Migrationshintergrund.
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Vor sieben Jahren waren es nicht einmal die Hälfte. Es ist Ihre Politik der grenzenlosen Migration, die millionenfach archaische Vorstellungen nach Deutschland gebracht hat,
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die Mädchen und Frauen zu Menschen zweiter Klasse degradiert – Menschen zweiter Klasse, die nach Belieben begrapscht, geschlagen und zur Verteidigung der sogenannten Familienehre sogar getötet werden dürfen und deshalb Schutz suchen müssen.
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Nun werfen Sie mir bitte nicht vor, ich würde mit Fakten hetzen. Selbst die grüne Heinrich-Böll-Stiftung gibt unumwunden zu, dass beispielsweise fast alle Ehrenmorde auf das Konto von Migranten gehen.
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Also seien Sie nicht realitätsferner als Ihre eigene Stiftung! Kinderehen, Zwangsehen, Ehrenmorde, Genitalverstümmelungen – all das, meine Damen und Herren, hat mit Migration aus archaisch geprägten Kulturen zu tun.
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Auch und vor allem deshalb platzen Frauenhäuser aus allen Nähten.
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Wer aus Gründen devoter Kultursensibilität, politischer Korrektheit oder schlicht ideologischer Feigheit absichtlich ganze Tätergruppen und deren kulturelle und religiöse Hintergründe ausblendet, der befördert eine Kultur der Gewalt gegen Frauen.
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Also hören Sie endlich auf mit Ihrer verlogenen Multikulti-Romantik! Gerade diejenigen auf der linken Seite, die sich so gerne als Frauenrechtlerinnen bezeichnen, betreiben eine Politik, die archaische Vorstellungen und die Unterdrückung der Frau millionenfach nach Deutschland holt.
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Sie gefährden damit unsere über Jahrhunderte erkämpften Freiheiten.
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Kommen Sie bitte zum Schluss.
Wachen Sie endlich auf!
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Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Gülistan Yüksel.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, diese Rede muss man nicht mehr kommentieren.
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Gewalt gegen Frauen wird zu oft immer noch als eine Privatsache gesehen, weil sie meist hinter verschlossenen Türen stattfindet. Ich sage: Gewalt ist kein Privatproblem. Gewalt geht uns alle an, meine Damen und Herren.
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– Hören Sie einfach mal zu!
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– Ich habe die ganze Zeit zugehört. Wenn Sie geguckt hätten, hätten Sie es gesehen.
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Ich sage: Gewalt gegen Frauen, ob physische oder psychische, ist eine der schwersten Menschenrechtsverletzungen und eine der am weitesten verbreiteten Straftaten.
Dazu gehört auch die digitale Gewalt. Im Netz sind besonders Frauen Zielscheibe von Hassrede und Beleidigungen, von Rufschädigung und Erpressung. Wir alle sind aufgerufen, den betroffenen Mädchen und Frauen beizustehen. Wir müssen eine starke Stimme sein für eine gesellschaftliche und rechtliche Gleichstellung und die tatsächliche Gleichberechtigung von Frauen.
Gestern haben wir uns im Familienausschuss mit einer Vertreterin der Gewaltschutzambulanz der Charité ausgetauscht. Uns wurden Zahlen vorgelegt, dass nur etwas mehr als die Hälfte aller Frauen, die Opfer von Gewalt wurden, ihre Täter anschließend anzeigen. Warum? Sie scheuen den Gang zu einer Behörde oder der Polizei aus zwei Gründen: aus Angst vor dem Täter und aus Scham.
Die vom Bundeskriminalamt vorgelegten Zahlen zu Gewalt in der Partnerschaft legen nahe, dass wir alle eine Frau kennen, die von Gewalt betroffen ist. Wir müssen Strukturen schaffen, um Strafverfolgung durchzusetzen. Wir müssen den Frauen die Angst und die Scham nehmen und ihnen helfen, die Gewaltspirale zu durchbrechen.
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Wir müssen sie ermutigen, das Schweigen zu brechen, sich Hilfe zu holen und Gewalt anzuzeigen. Es ist in meinen Augen unerlässlich, dass wir hier über Partei- und Ländergrenzen hinweg zusammenarbeiten. Gewalt gegen Frauen muss von uns allen, Politik und Gesellschaft, gemeinsam bekämpft werden.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind uns einig: Keine Frau darf wegen Platzmangels an einem Frauenhaus abgewiesen werden.
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Deshalb haben wir im Koalitionsvertrag festgeschrieben, einen runden Tisch einzuberufen, um von Gewalt betroffenen Frauen und Kindern den gesicherten Zugang zu Schutz und Beratung in Frauenhäusern zu ermöglichen. Ich möchte unserer Frauenministerin Giffey für ihren Einsatz und die Einberufung des runden Tisches an dieser Stelle ganz herzlich danken.
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Endlich sitzen Bund, Länder und Kommunen an einem Tisch, um gemeinsam den Ausbau und die finanzielle Absicherung der Arbeit von Frauenhäusern und ambulanten Hilfs- und Betreuungseinrichtungen anzugehen. Zentrales Ziel der Gespräche sind Selbstverpflichtungen aller Beteiligten zur Weiterentwicklung der Unterstützungsangebote. Dabei sollen auch weiter gehende bundesgesetzliche Lösungen für ein einheitliches Vorgehen im Notfall gemeinsam geprüft werden, zum Beispiel in Form einer Kostenübernahme für die Unterbringung im Frauenhaus oder in Form eines Rechtsanspruches auf Schutz und Beratung.
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Hierbei bedarf es einer sorgfältig geprüften und vorbereiteten Lösung seitens aller Beteiligten. Wir brauchen eine gemeinsame Strategie, um im Sinne der Frauen und Mädchen zu handeln. Die Anträge heben zu Recht hervor, dass wir nur mit den Ländern und Kommunen etwas erreichen können, da sie in unserem föderalen System dafür zuständig sind.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, 2017 hat Deutschland die Istanbul-Konvention ratifiziert. Sie ist das wichtigste internationale Rechtsinstrument gegen Gewalt an Frauen in Europa. Mit ihr verpflichten wir uns, ausreichende Maßnahmen zur Bekämpfung von Gewalt unter anderem in den Bereichen Prävention, Schutz, Beratung, Strafverfolgung und Monitoring zu ergreifen.
Wir haben in den letzten Jahren zusammen im Kampf gegen die Gewalt einiges erreicht. Durch unseren unermüdlichen Einsatz wird nun eine unabhängige Monitoringstelle eingerichtet. Im Bundeshaushalt sind hierfür 800 000 Euro bereitgestellt worden. Diese Stelle überwacht die Maßnahmen der Gewaltbekämpfung und des Gewaltschutzes und schlägt gegebenenfalls Verbesserungen vor. Die Arbeit der Monitoringstelle ist menschenrechtsbasiert, das heißt, sie stellt immer die betroffenen Frauen als Rechteträgerinnen in den Mittelpunkt.
Wir haben ein niedrigschwelliges und barrierefreies Hilfetelefon eingerichtet – ich glaube, das kann man ganz deutlich sagen –: 08000 116 016.
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Wir haben das Sexualstrafrecht reformiert hin zum Prinzip „Nein heißt Nein“,
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und wir haben die Kostenübernahme für Leistungen der anonymisierten Spurensicherung abgesichert.
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Zudem fördert der Bund seit 2017 ein Modellprojekt, welches die Länder dabei unterstützt, die bestehenden Hilfesysteme zu optimieren und an Bedarfe anzupassen; der Abschlussbericht wird im nächsten Frühjahr vorgelegt. Vor zwei Wochen ist die bundesweite Öffentlichkeitskampagne „Stärker als Gewalt“ gestartet. Außerdem wird der Bund in den kommenden vier Jahren insgesamt 120 Millionen Euro in ein Bundesförderprogramm investieren. Dabei geht es um die Sanierung und den Ausbau von Frauenhäusern, insbesondere um den barrierefreien Ausbau, neue räumliche Kapazitäten sowie innovative Wohnformen.
Sie sehen: Viele der von Ihnen hier geforderten Punkte gehen wir bereits an.
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Lassen Sie uns also gemeinsam dafür kämpfen, dass Gewalt – in welcher Form auch immer – in unserer Gesellschaft keinen Platz hat.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Gülistan Yüksel. – Nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion Nicole Bauer.
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Montags, donnerstags, sonntags – jeden dritten Tag wird eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet. Schwere Misshandlungen und andere körperliche Verletzungen finden jeden Tag mehrmals statt, mitten in unserer Gesellschaft. Das ist eine unvorstellbare Größenordnung für ein modernes Land wie Deutschland. Dabei ist das nur die Spitze des Eisbergs. Die Demütigungen, die verbalen Erniedrigungen, die Spyware auf dem Handy – all das beginnt schon lange, lange vorher.
Gewalt hat also viele Gesichter, und jede hinterlässt Spuren. Das eigene Zuhause ist für viele Frauen ein gefährlicher Ort, die Flucht ins Frauenhaus oft der einzige Ausweg und gleichzeitig der erste Schritt aus der häuslichen Gewalt – wenn, ja wenn dort ein Platz frei ist. Aktuell wird jede zweite Frau abgewiesen. Diesen Zustand, meine Damen und Herren, müssen wir schnellstens beenden.
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Menschen, die häusliche Gewalt erleben und Schutz suchen, müssen Schutz finden. Wir dürfen hier als Politik nicht länger versagen.
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Die Bundesregierung kommt ihrer Aufgabe bei der Umsetzung der Istanbul-Konvention nicht nach. Es gibt immer noch Landkreise im ganzen Bundesgebiet, die sagen, sie bräuchten überhaupt keine Frauenhausplätze. Wachen Sie endlich auf, meine Damen und Herren!
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Ein entschiedenes Nein zu jeglicher Form von Gewalt, das erwarte ich mir, auch trotz Föderalismus,
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und dazu konkrete Lösungen:
Erstens. Wir müssen die massive Unterversorgung angehen. Wir brauchen mehr Frauenhausplätze, und zwar regional verteilt und an den wirklichen Bedarfen orientiert. 2,5 Plätze pro 10 000 Einwohner, das ist eine klare Zielgröße. Es geht aber weiter: Mehr Frauenhausplätze erfordern zugleich mehr Personal; wir kennen das aus dem Kitabereich. Frauen haben besondere Bedürfnisse. Das ist also die Voraussetzung, damit wir eine gute und individuelle Unterstützung gewährleisten können, und deshalb setzen wir uns dafür ein.
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Zweitens muss Frau Giffey endlich die Ergebnisse des runden Tisches vorlegen. Die eklatanten Finanzierungsfragen sind aktuell nicht geklärt. Gewalt macht nun einmal nicht an den Ländergrenzen halt.
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Wir brauchen deshalb ein einheitliches System der Kostenerstattung.
Und wir brauchen – drittens – vor allem eine ganzheitliche Strategie des Bundes zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen in unserer Gesellschaft, inklusive Koordinierung, Monitoring und Präventionsarbeit. Dann – und nur dann – haben wir einen ersten großen Schritt erreicht und können uns über einen Rechtsanspruch unterhalten.
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Vielen Dank, Nicole Bauer. – Nächste Rednerin: Cornelia Möhring für die Fraktion Die Linke.
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Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erst einmal Danke an die Grünen, dass ihr den TOP „Frauenhausfinanzierung“ auf die Tagesordnung holt. Ob allerdings euer Vorschlag eines einklagbaren Rechtsanspruchs wirklich die Lösung ist, da bin ich sehr skeptisch. Aber das werden wir ja im Ausschuss weiter beraten.
Für Die Linke ist klar: Alle – und zwar wirklich alle – Frauen, die von Partnerschaftsgewalt betroffen sind, und ihre Kinder brauchen einen Platz im Frauenhaus, und zwar unbürokratisch, barrierefrei, sicher und schnell.
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Die Pflichtaufgabe des Staates, Bürgerinnen vor Gewalt zu schützen, wird hier ganz offensichtlich nicht ausreichend erfüllt. Auch die Umsetzung der Istanbul-Konvention des Europarats läuft eher schleppend an und hat mit der Einrichtung der Monitoringstelle und der Zurverfügungstellung von Geldern gerade erst begonnen. Es gibt also keinen Grund, sich dafür jetzt schon abzufeiern, wie ich finde.
({1})
Ja, es gibt das Gewaltschutzgesetz, es gibt das Hilfetelefon, es gibt Mittel im Haushalt für dringende Investitionen und auch wieder eine neue Kampagne gegen Gewalt. Das ist alles sinnvoll; überhaupt keine Frage. Es fehlen allerdings mindestens 15 000 Frauenhausplätze, und auch die anderen notwendigen Bereiche des Hilfesystems wie Beratungsstellen oder Gewaltschutzambulanzen sind am Limit und müssen jedes Jahr erneut um ihre Existenz bangen.
Jetzt haben wir schon einige Zahlen gehört, aber ich kann es Ihnen nicht ersparen, sie zu wiederholen und noch einen draufzusetzen; denn Deutschland ist im europäischen Vergleich ein überdurchschnittlich gefährliches Land für Frauen.
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Wir haben gehört: Jeden dritten Tag wird eine Frau getötet, jeden Tag gibt es einen Tötungsversuch. Im Jahr 2018 gab es 9 324 Opfer von Vergewaltigung, sexueller Nötigung oder schweren sexuellen Übergriffen. Das sind 25 Taten täglich! Die Täter sind Männer, und sie kommen meist aus dem sogenannten Nahfeld der Frauen. Es sind Männer aus allen Berufen, Einkommensgruppen, aller Bildungshintergründe und Nationalitäten. Männer quälen und schlagen ihre Frauen, mit Folgen bis hin zum Tod. Es handelt sich dabei nicht um Familientragödien oder Eifersuchtsdramen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben ein massives strukturelles Problem mit Gewalt gegen Frauen in unserer Gesellschaft. Diese Gewaltstrukturen werden auch von Personen aufrechterhalten, zum Beispiel immer dann, wenn Richter Verständnis mit dem mordenden Mann haben und Eifersucht als strafmildernd und nicht als strafverschärfend ansehen, immer dann, wenn Medien verharmlosend über einen Mord als „Familientragödie“ schreiben, immer dann, wenn Frauen von Polizei und Staatsanwaltschaft eine Mitschuld unterstellt wird. Und wenn die Politik nicht genug tut, dann wird diese Gewalt zu institutioneller Gewalt und damit außerordentlich gefährlich.
({3})
Ich finde, liebe Kolleginnen und Kollegen, bei einem solch krassen gesellschaftlichen Problem wie diesem wäre es jetzt wirklich an der Zeit, dass die Regierung ressortübergreifend gemeinsam handelt und das beschleunigt,
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und zwar unter anderem mit der konsequenten Umsetzung der Istanbul-Konvention; die muss nämlich Aufgabe der gesamten Regierung und des Parlamentes sein.
Denken Sie an die Redezeit.
Ja, ich komme zum letzten Satz. – Die bedarfsgerechte Finanzierung der Frauenhäuser ist ein sehr wichtiger Baustein für die Lösung.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank, Cornelia Möhring. – Letzte Rednerin in dieser Debatte: Silvia Breher für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ganz ehrlich: Erst mal vielen Dank für diese Debatte; denn wir alle sind gemeinsam stark gegen Gewalt an Frauen. Diese Debatte, dieses Thema gehört einfach in die Öffentlichkeit. Das ist so ein wichtiges Thema, und – es wurde schon gesagt – das findet hinter verschlossenen Türen statt. Das findet in den eigenen vier Wänden statt. Die Frauen, die betroffen sind in diesem Land, haben es verdient, dass wir darüber ganz laut und deutlich sprechen und dass die Debatte in diesem Haus stattfindet.
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An dieser Stelle möchte ich mich bedanken, bedanken bei den vielen Mitarbeitern in den Frauenhäusern und in den verschiedenen Beratungseinrichtungen für von Gewalt betroffene Frauen – sei es hauptamtlich oder ehrenamtlich –, wie auch bei mir im Wahlkreis im Frauenhaus in Vechta mit den Frauen des SkF. Diese vielen Ehrenamtlichen und auch Hauptamtlichen leisten einen riesigen Dienst für die Frauen. An dieser Stelle ein ganz großes Dankeschön für ihre Arbeit!
({1})
Die Kriminalstatistik wurde schon genannt. Jede vierte Frau – laut offizieller Statistik – wird in ihrem Leben einmal Opfer von Partnerschaftsgewalt. Die Dunkelziffer ist wesentlich höher. Jede vierte Frau! Wenn wir hier durch die Reihen gucken, können wir feststellen – das garantiere ich Ihnen –: Auch eine der Frauen, die hier sitzen, wird davon betroffen sein. – Diese Frauen sind zu 70,6 Prozent – die offizielle Zahl – deutsche Staatsangehörige. Frau Kollegin Harder-Kühnel, ganz ehrlich: Ihre Rede verhöhnt die Opfer.
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Niemand von uns in diesem Haus grenzt irgendein Opfer aus.
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Niemand von uns in diesem Haus grenzt irgendetwas bei diesem Thema aus. Die Einzige, die heute Abend etwas ausgegrenzt hat, sind Sie,
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indem Sie einfach nur den Blick auf die Täter richten, einen kleinen Bruchteil der Täter, und das lassen wir nicht zu. Ich bin nicht bereit, wir alle in diesem Haus – bis auf Sie – sind nicht bereit, dieses Problem hinzunehmen. Wir sehen uns alle Frauen an, die betroffen sind von partnerschaftlicher Gewalt.
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Ich freue mich und bin wirklich dankbar, dass die Bundesregierung mit unserer Ministerin das Aktionsprogramm auf den Weg gebracht hat, und zwar mit einer umfassenden Strategie zu Prävention, Unterstützung der von Gewalt betroffenen Frauen, aber eben auch der Kinder, und Verbesserung der gesamten Hilfsstrukturen. Und ja, wir brauchen mehr Frauenhäuser. Wir brauchen mehr Plätze für Frauen und ihre Kinder.
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Aber das haben wir auf den Weg gebracht, was Sie wüssten, wenn Sie beim Haushalt aufgepasst hätten.
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Jeweils 30 Millionen Euro in den nächsten vier Jahren! Damit werden neue Plätze geschaffen.
Und ja, es gibt ein Problem bei der Kostenübernahme, wenn Frauen von einem Bundesland ins nächste gehen. Und ja, es gibt ein Problem, das organisatorisch hinzubekommen. Aber auch daran arbeiten wir. Da spielen nämlich die verschiedenen Ebenen eine Rolle: Bund, Länder, Kommunen. Genau dafür haben wir den runden Tisch eingerichtet, und das ist richtig so. Denn da geht es darum: Wie führen wir einen bedarfsgerechten Ausbau durch in den nächsten Jahren?
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Insbesondere geht es darum, die Bundesländer mit an den Tisch zu holen, um zu klären: Wie schaffen wir es, dass die Gelder über Bundeslandgrenzen erstattet werden? Eine Mustervereinbarung ist in der Diskussion.
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Wir wollen uns aber auch um eine Lösung kümmern, wenn es so nicht klappt; ich bin dabei. Dann machen wir den Unterhaltsvorschuss analog für die Frauen, die ins Frauenhaus gehen. Das ist ein Thema der Zukunft. Aber wir versuchen, das hinzubekommen.
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Ich kann natürlich Ihre Ungeduld bei diesem Thema verstehen. Absolut! Ich bin auch total ungeduldig bei diesem Thema. Aber ein Beispiel: die digitale Plattform. Die Frauenhäuser wissen nämlich nicht: Wo ist ein freier Platz? Sie müssen abtelefonieren, mühsam suchen, wo ein freier Platz ist. Ja, es gibt einzelne Bereiche, in denen das geht; aber in der Regel geht es nicht. Dafür wollen wir diese digitale Plattform in Kooperation mit den Bundesländern.
Ich kann echt nur an Sie alle, die in Regierungsverantwortung in den Ländern sind, appellieren: Ich weiß nicht, was daran so schwer ist. Eine Ampel mit rot, grün und gelb ist doch einfach einzurichten. Aber die Bundesländer scheinen dafür ein bisschen länger zu brauchen und andere Vorstellungen zu haben. Insofern: Helfen Sie mit, dass wir diese Themen auf den Weg bekommen! All die Dinge, die Sie angesprochen haben, haben wir angeschoben, sind auf dem Weg.
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Ganz zum Schluss noch ein kurzes Wort: Es gibt auch von partnerschaftlicher Gewalt betroffene Männer. Auch wenn es heute nicht das Thema ist: Das ist nicht zu unterschätzen. Das werden wir im Blick behalten, und auch darum werden wir uns kümmern.
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Wir haben vieles auf den Weg gebracht. Wir haben diese Themen im Blick. Deswegen lassen Sie uns gemeinsam dafür streiten, dass wir Besserungen auf den Weg bekommen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Silvia Breher. – Ich schließe die Aussprache.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bringe heute einen Gesetzentwurf der Bundesregierung ein, den man am besten mit einem Beispielsfall erläutert:
Der Vater zweier Kinder war verstorben. Seine Witwe lebte mit ihrem neuen Partner in nichtehelicher Lebensgemeinschaft zusammen. Das Paar hatte ein gemeinsames Kind. Alle fünf – die Witwe, ihr neuer Partner, ihr gemeinsames Kind und die beiden Kinder der Witwe – lebten glücklich und zufrieden zusammen. Folgerichtig wollte der neue Partner nun irgendwann die beiden Kinder der Witwe als Stiefkinder adoptieren. Aber durch die Adoption wäre nach geltendem Recht die Elternschaft der Mutter zugunsten der alleinigen Elternschaft des Stiefvaters beseitigt worden. Das wollten die Beteiligten natürlich nicht. Die Mutter sollte in jedem Fall rechtliche Mutter bleiben. Der nichteheliche Stiefvater sollte nur zusätzlicher Elternteil werden.
Der Fall kam bis zum Bundesverfassungsgericht, das feststellte, dass der Ausschluss der Stiefkindadoption in nichtehelichen Familienkonstellationen gegen das Grundgesetz verstößt. Bislang ist eine zur gemeinsamen Elternschaft führende Adoption eines Stiefkindes nur möglich, wenn der Stiefelternteil mit dem rechtlichen Elternteil verheiratet ist. In einer nichtehelichen Stieffamilie kann der Stiefelternteil das Kind nur allein adoptieren mit der – unerwünschten – Folge, dass die Verwandtschaft des Kindes zu beiden bisherigen Eltern erlischt.
Diese Rechtslage, meine Damen und Herren, hat das Bundesverfassungsgericht als Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz gewertet, da Kinder in nichtehelichen Stieffamilien gegenüber Kindern in ehelichen Stieffamilien ohne ausreichenden Grund benachteiligt werden. Zwar sei es legitim, eine Stiefkindadoption nur zuzulassen, wenn die Beziehung zwischen Eltern- und Stiefelternteil längeren Bestand verspricht, aber auch nichteheliche Stieffamilien könnten langfristig angelegt und stabil sein.
Die Bundesregierung legt nun einen Gesetzentwurf vor, mit dem der Gesetzgeber dem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts nachkommen kann. Die Stiefkindadoption wird nun auch in nichtehelichen Familien ermöglicht. Gesetzestechnisch wird dies über eine Generalverweisung gelöst, nach der die Vorschriften über die Annahme des Kindes des anderen Ehegatten für Personen in einer verfestigten Lebensgemeinschaft entsprechend anwendbar sind.
Voraussetzung für die Stiefkindadoption ist, dass die Partner in einem gemeinsamen Haushalt leben. Beide Personen sollen sich um die Kinder kümmern. Ferner sieht der Gesetzentwurf zwei Regelbeispiele vor, die die verfestigte Lebensgemeinschaft verdeutlichen: Zusammenleben von mindestens vier Jahren oder Zusammenleben mit einem gemeinsamen Kind. Durch diese Regelungen soll weiter sichergestellt werden, dass die Adoption eines Kindes nur in Stabilität versprechenden Lebensgemeinschaften zugelassen und so dem Kindeswohl schon bei Eröffnung der Adoptionsmöglichkeit neben der zusätzlich durchzuführenden Einzelfallprüfung Rechnung getragen wird.
Mit der Änderung geht im Übrigen auch eine Anpassung des internationalen Privatrechts einher.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte um Ihre Zustimmung.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Christian Lange. – Nächster Redner: Fabian Jacobi für die AfD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Adoptionsrecht, also die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs über die rechtliche Annahme eines Kindes als eigenes, stammt im Wesentlichen aus dem Jahr 1976, als dieses Rechtsgebiet zuletzt grundlegend neu geordnet wurde. Seitdem stellt das Gesetz weniger die Interessen der beteiligten Erwachsenen als die des betroffenen Kindes in den Mittelpunkt.
Das tut auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 26. März 2019, zu deren Umsetzung das heute in erster Lesung behandelte Gesetz dienen soll. Das Gericht hatte über folgende Situation zu entscheiden: Eine Witwe mit zwei Kindern lebt mit einem neuen Partner und dem dritten, gemeinsamen Kind zusammen.
({0})
Die beiden älteren Kinder sollten von dem neuen Lebenspartner und Vater des jüngsten Kindes adoptiert werden. Es stellte sich allerdings heraus, dass die bisherige Fassung des BGB dies nur in der Weise zuließe, dass der Adoptivvater zwar rechtlich Vater wird, zugleich aber die Mutter die rechtliche Elternschaft verliert – ein offenkundig absurdes Ergebnis. Eine Adoption als gemeinsames Kind wäre nur dann möglich, wenn die beteiligten Erwachsenen auch heirateten. Damit hängt hier die Möglichkeit der Kinder, durch Adoption wieder zwei rechtliche Elternteile zu erhalten, davon ab, ob die beteiligten Erwachsenen vor der Adoption eine Ehe schließen.
Das Gericht hat nun verneint, dass die Erwachsenen durch diese Rechtslage in Grundrechten verletzt seien; wohl aber hat es eine Grundrechtsverletzung der Kinder bejaht. Zwar könne eine Ehe als positives Zeichen für die zu erwartende Stabilität der Beziehung der Erwachsenen gelten; der Umkehrschluss allerdings, wonach dann ohne Heirat eine gemeinsame Elternschaft durch Stiefkindadoption immer ausgeschlossen sei, benachteilige die davon betroffenen Kinder in gleichheitswidriger Weise.
Der Bundestag als Gesetzgeber ist nun gefordert, diesem Grundrechtsverstoß durch Änderung des Gesetzes abzuhelfen. Die Bundesregierung hat dazu einen Gesetzentwurf vorgelegt, der sich recht eng an die Vorgaben und die Begründung des Verfassungsgerichts hält und der damit im Grundsatz zustimmungsfähig erscheint. Im Einzelnen gibt es sicher noch Formulierungsfragen. So schlägt etwa der Notarverein in seiner Stellungnahme zum Referentenentwurf vor, anstelle der verfestigten Lebensgemeinschaft besser von der eheähnlichen Gemeinschaft zu sprechen, da die erstere Formulierung in einen unterhaltsrechtlichen Kontext gehöre. Auch weitere Anregungen aus den zahlreichen Stellungnahmen zu dem Referentenentwurf erscheinen bedenkenswert; darüber wird im Ausschuss zu sprechen sein.
Allerdings gibt es auch bereits das Ansinnen, diesen vorliegenden Gesetzentwurf noch deutlich auszuweiten. In diesem Sinne haben sich zwei Ausschüsse des Bundesrates geäußert; noch offen ist, ob sich der Bundesrat selbst dies in seiner nächsten Sitzung zu eigen machen wird.
In dieselbe Richtung zielt der heute hier vorliegende, erkennbar etwas hektisch zusammenkopierte Antrag der FDP-Fraktion. Dabei geht es jeweils darum, über die Fälle der Stiefkindadoption hinaus, von denen die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts handelt, pauschal für unverheiratete Paare die Möglichkeit der gemeinsamen Adoption auch fremder Kinder zu schaffen. Die These, auch eine solche viel weiter gehende Änderung werde durch die aktuelle Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gefordert, erscheint uns auf den ersten Blick wenig überzeugend. Diesen weiter gehenden Forderungen werden wir uns deshalb wohl nicht anschließen.
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Einstweilen steht zu hoffen, dass trotz der Kürze der Zeit – die Gesetzesänderung soll spätestens im März bereits in Kraft treten – eine sorgfältige Erörterung möglich sein wird. Schauen wir mal!
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Fabian Jacobi. – Nächster Redner in der Debatte: Thorsten Frei für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man sich den Koalitionsvertrag von Union und SPD anschaut, dann findet man genau zwei Sätze, die sich mit der Adoption beschäftigen. Zum einen wollen wir das Adoptionswesen in Deutschland modernisieren und zum anderen auch die Strukturen für Beratung und Vermittlung im Adoptionsverfahren verbessern. Der aktuelle Gesetzentwurf zur Stiefkindadoption – das ist in der Debatte schon deutlich geworden – ist allerhöchstens mittelbar aus diesen zwei programmatischen Sätzen ableitbar, wenngleich es natürlich so ist, dass wir ein Stück weit auch die unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten in unserem Land, in unserer Gesellschaft, unterschiedliche Lebensentwürfe in das Gesetz übernehmen und damit Wirklichkeit abbilden. Es hat also auch etwas mit Modernisierung zu tun.
Das Bundesverfassungsgericht hat mit seiner Entscheidung vom 26. März dieses Jahres sehr klare Leitplanken gesetzt, als es formuliert hat, dass durch den generellen Ausschluss der Stiefkindadoption für nichteheliche Familien eine Ungleichbehandlung im Sinne von Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes besteht. Ich finde dabei wirklich interessant, welche Perspektive das Verfassungsgericht eingenommen hat, nämlich explizit nicht die Perspektive der Erwachsenen. Es geht also überhaupt nicht darum, dass ein Kinderwunsch erfüllt werden soll. Es geht überhaupt nicht darum, dass Partnerschaften in nichtehelicher Gemeinschaft gleichbehandelt werden sollen mit Partnerschaften in ehelicher Gemeinschaft. Vielmehr wurde eindeutig die Perspektive der Kinder eingenommen und deshalb die Frage beantwortet, ob eine Ungleichbehandlung besteht, wenn Kindern unter den vorgetragenen Kautelen eine Adoption in einer nichtehelichen Gemeinschaft nicht ermöglicht wird.
Ich glaube, dass der Gesetzentwurf, den die Bundesregierung hier vorgelegt hat, nicht nur die sehr kluge Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts abbildet, sondern auch sehr gut die Leitplanken des Verfassungsgerichts übernimmt. Ich halte das für absolut richtig. Und ich halte es auch für richtig, dass viele Erwägungen, die man im Vorfeld dieses Gesetzentwurfs angestellt hat, nicht in den eigentlichen Text übernommen worden sind.
Ich glaube, es ist wichtig, an dieser Stelle festzustellen, dass das Gericht – das tut auch der Gesetzentwurf – weiter am Leitbild der Ehe als einer auf Lebenszeit ausgerichteten und abgeschlossenen Gemeinschaft festhält. Deswegen ist es richtig, im Sinne des Kindeswohls die Frage zu stellen, wann denn von einer gefestigten Lebensgemeinschaft auszugehen ist. Anders als bei der Ehe ist diese nicht einfach dadurch gegeben, dass es eine solche Verbindung gibt, sondern es braucht zusätzliche Erkenntnisbeispiele.
Hier arbeitet der Gesetzentwurf mit zwei Regelbeispielen, die das, glaube ich, sehr gut abbilden. Regelbeispiele zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht zu 100 Prozent und kumulativ gegeben sein müssen; vielmehr sind sie – in diesem Fall – Beispiele dafür, wann eine gefestigte Lebensgemeinschaft anzunehmen ist. Ich glaube, es ist richtig, dass man mit vier Jahren als Indizwirkung eine nicht zu kurze Dauer gewählt hat. Diese Zahl kann im Einzelfall auch unterschritten werden, bietet aber eben eine hinreichende Gewähr dafür, dass diese Lebensgemeinschaft gefestigt ist und damit auch die richtige Grundlage nicht nur für eheähnliches Zusammenleben, sondern eben auch für Stabilität für das in dieser Beziehung lebende Kind oder die in dieser Beziehung lebenden Kinder schafft.
({0})
Ein weiterer Punkt ist, glaube ich, auch eine Selbstverständlichkeit. Wenn zwei Menschen mit einem gemeinsamen Kind zusammenleben, ist es, glaube ich, eine Selbstverständlichkeit, anzunehmen, dass automatisch mehr als eine Haushalts- und Wirtschaftsgemeinschaft vorliegt. Auch das übernimmt der Gesetzentwurf. Deshalb, glaube ich, ist das ein guter Ansatz.
Zuletzt ist eben auch klar – es ist, finde ich, wichtig, dass das im Gesetzentwurf festgestellt wird –, dass dann, wenn eine dieser beiden Personen mit einer dritten Person verheiratet ist, automatisch eben keine gefestigte Lebensbeziehung angenommen werden kann. Es ist, glaube ich, in Respekt vor den ganz individuellen Lebensumständen von jedem Einzelnen wichtig und entscheidend, dass wir klarstellen, dass das eine nicht ohne das andere geht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, der Gesetzentwurf, der uns vorliegt, ist ein guter Gesetzentwurf. Das wird uns auch erlauben, Herr Jacobi, in guter Beratung bis zum Ende des ersten Quartals zum Abschluss der parlamentarischen Beratungen zu kommen. Aus meiner Sicht gibt es da nicht wirklich viel zu verbessern.
Das ist ein sehr, sehr guter Ansatz, der für etwa 250 bis 300 Kinder in Deutschland für deutlich bessere Rahmenbedingungen und Verhältnisse sorgen wird. Ich glaube, für jedes einzelne dieser Kinder, die da möglicherweise in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft adoptiert werden können, ist es ein guter Schritt, heute das Gesetzgebungsverfahren zu eröffnen. Deswegen hoffe ich, dass wir das auch so im Verfahren durchsetzen können.
Herzlichen Dank.
({1})
Vielen Dank, Thorsten Frei. – Nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion Katrin Helling-Plahr.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen der Großen Koalition! Am 26. März dieses Jahres hat Ihnen das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil zur Stiefkindadoption in nichtehelichen Familien wieder einmal bescheinigt: Ihr Familienbild ist antiquiert, Ihre Politik mutlos.
Nun tun Sie gezwungenermaßen das laut expliziter Urteilsfeststellung im Mindesten Nötige und ermöglichen die Stiefkindadoption auch unverheirateten Paaren. Aber Sie gehen auch nicht einen einzigen Schritt weiter.
Es ist in Deutschland zwischenzeitlich nicht nur gesellschaftliche Realität, sondern längst Normalität, eine Familie zu gründen, ohne zu heiraten. In mehr als jeder zehnten Familie wachsen Kinder bei unverheirateten Elternteilen auf. Und es gibt natürlich keinen Hinweis darauf, dass es diesen Kindern irgendwie schlechter geht. Da können Sie, je nach Couleur aus Überzeugung oder Koalitionsräson, versuchen, die Augen davor zu verschließen, wie Sie wollen; das ändert nichts.
Warum ermöglichen Sie unverheirateten Paaren nicht auch, gemeinsam ein fremdes Kind zu adoptieren, gemeinsam Verantwortung zu übernehmen? Und wenn wir einmal dabei sind: Warum ist eine Einzeladoption, wenn man heiratet, plötzlich nicht mehr möglich? Jeder Adoption hat ohnehin eine intensive Kindeswohlprüfung vorauszugehen. Wird ohne Ansehung der konkreten Umstände des Einzelfalls eine Adoption von vornherein verwehrt, bleiben dem Kind die mit der Adoption verbundenen Entwicklungschancen von vornherein verschlossen, und zwar ohne dass es überhaupt zu einer Prüfung der Vor- und Nachteile der Adoption im konkreten Fall kommt. Das, finde ich, ist nicht haltbar.
({0})
Und genau so hat ja auch das Bundesverfassungsgericht in dem ihm vorliegenden Fall argumentiert. Was glauben Sie, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Großen Koalition, wie das Bundesverfassungsgericht urteilen wird, wenn es über einen Fall eines Adoptionsbegehrens einer Pflegefamilie mit unverheirateten Elternteilen zu entscheiden hat? Wir können sicher sein, dass das Gericht den Pflegekindern die mit einer Adoption einhergehenden Chancen nicht vorenthalten wird. Aber Sie tun das weiterhin. Kindeswohlorientierte Politik sieht anders aus.
({1})
Das Bundesverfassungsgericht wird Sie ein weiteres Mal zum Jagen tragen müssen – leider –; es sei denn, Sie kommen doch noch zur Vernunft und stimmen dem von uns heute hier vorgelegten Antrag zu. Ich bin gespannt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Vielen Dank, Frau Helling-Plahr. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Gökay Akbulut.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Bundesverfassungsgericht hat mit seiner Entscheidung vom 26. März 2019 den Gesetzgeber dazu verpflichtet, die Ungleichbehandlung im Bereich der Stiefkindadoption durch verfassungskonforme Regelungen zu beheben. Der von der Bundesregierung vorgeschlagene Gesetzentwurf, insbesondere die Einfügung von § 1766a BGB, trägt zwar dazu bei, dennoch handelt es sich hierbei nur um eine Minimallösung. Es müsste mindestens noch der § 1741 Absatz 2 BGB zur Klarstellung geändert werden, so wie es auch die FDP in ihrem kurzfristig vorgelegten Antrag fordert, was auch wir ausdrücklich unterstützen.
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Als Linke sehen wir bei dem Gesetzentwurf der Bundesregierung ein zentrales Problem: Insgesamt ist das Adoptionsrecht immer noch ehezentriert, und das muss sich grundlegend ändern.
({1})
Eine Annahme von Kindern ist nach diesem Gesetzentwurf nur für zwei Personen möglich, die in einer verfestigten Lebensgemeinschaft in einem gemeinsamen Haushalt leben. Dort steht ausdrücklich, dass eine verfestigte Lebensgemeinschaft vorliegt, wenn die Personen seit mindestens vier Jahren oder als Eltern eines gemeinsamen Kindes mit diesem in einem eheähnlichen Verhältnis zusammenleben. Die Bezugnahme auf die Eheähnlichkeit als entscheidendes Zugangskriterium für die Stiefkindadoption ist aber mit der Lebensrealität in Deutschland heutzutage nicht mehr vereinbar.
Diese grundlegende Kritik stammt nicht nur von uns, sondern findet sich auch in zahlreichen Stellungnahmen der Fachverbände wie des Paritätischen Gesamtverbandes, aber auch des Deutschen Juristinnenbundes zum Referentenentwurf. Maßstab der Zugangsbedingung für die Ermöglichung einer Stiefkindadoption sollte nicht die Eheähnlichkeit als formales Konstrukt sein. Das Formale entscheidet nämlich nicht darüber, ob das Kind unter tatsächlich guten Bedingungen aufwächst oder nicht.
Entscheidend für die Kindeswohlperspektive ist, dass es eine Verantwortungsgemeinschaft für das Kind gibt, in der es geliebt und gefördert wird, unabhängig davon, ob eine Ehe oder Eheähnlichkeit besteht oder nicht. Und wer bestimmt denn darüber, wie eheähnlich eine Partnerschaft ist?
({2})
Es gibt viele Personen, die in ganz unterschiedlichen Konstellationen leben, diese Verantwortung übernehmen wollen und dies auch können, wie wir vielfach sehen, gerade in unserer vielfältigen, modernen Lebens- und Arbeitswelt. Dem sollten traditionelle Familienkonstruktionen und ‑vorstellungen, die weiterhin auf rechtlicher Ebene verankert sind, nicht im Wege stehen. Entscheidend ist, dass das Kind rechtlich abgesichert ist und dass unabhängig von der jeweiligen Partnerschaftsform für das Kind gesorgt wird; denn für uns als Linke steht nach wie vor das Kindeswohl im Mittelpunkt.
Der Gesetzentwurf ist ein Schritt in die richtige Richtung. Dennoch bezieht er nicht die wichtigen Erwägungen ein, die wir aus der Anhörung und den zahlreichen Stellungnahmen der Fachverbände mitgenommen haben. Der Gesetzentwurf geht im Grunde genommen am Ziel, das Kindeswohl zu schützen, vorbei; denn das Kindeswohl wird nicht durch Konstruktionen wie eheähnliche Partnerschaften geschützt, sondern durch Personen, die die Verantwortung für die Erziehung des Kindes übernehmen.
Vielen Dank.
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Danke schön, Gökay Akbulut. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Katja Dörner.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Für eine wachsende Zahl von Familien trifft das klassische Bild der Eheleute mit Kind oder Kindern heute nicht mehr zu. Familien sind vielfältig. Es gibt höchst unterschiedliche Familienkonstellationen. Die Ehe ist längst nicht mehr das einzige Familienmodell, und sie ist auch kein Garant für Dauerhaftigkeit. Das kann man bedauern oder auch nicht, aber die Zahlen sprechen da eine ganz klare Sprache.
Genauso wenig definiert sich Familie ausschließlich über genetische Abstammung. Familie bedeutet vielmehr, Verantwortung füreinander zu übernehmen. Unser Familienrecht muss die Vielfalt der Familienkonstellationen abbilden und diesen Rechnung tragen. Es muss dabei insbesondere das Wohl und die Interessen der Kinder in den Mittelpunkt stellen.
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Leider hinkt unser Familienrecht vielen gesellschaftlichen Entwicklungen hinterher. Ich will hier nur die Situation der Kinder, die in eine lesbische Ehe hineingeboren werden, nennen oder die rechtliche Absicherung von Patchworkfamilien. Immer wieder muss die Bundesregierung vom Bundesverfassungsgericht in die richtige Richtung geschubst werden. So war es 2009, 2010, 2012 und 2013 gleich zweimal bei der Frage der rechtlichen Gleichstellung lesbischer und schwuler Paare in eingetragenen Lebenspartnerschaften im Beamten-, Steuer- und Adoptionsrecht, und so war es eben jetzt auch mit Blick auf die Stiefkindfamilien. Es wäre besser, wenn die Bundesregierung endlich mal von sich aus den Mumm hätte, das Familienrecht zu modernisieren.
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Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wir begrüßen es, dass das Bundesverfassungsgericht erneut die Vielfalt von Familienmodellen als Tatsache anerkannt hat und die Richterinnen und Richter im vergangenen März entschieden haben, dass die Ungleichbehandlung zwischen Kindern in nichtehelichen Familien gegenüber Kindern in ehelichen Familien aufzuheben ist. Es ist natürlich gut, dass die Bundesregierung sich nun bemüht, diesen Beschluss umzusetzen. Paare in einer verfestigten Lebensgemeinschaft werden mit Ehepaaren gleichgestellt. Das ist aus unserer Sicht auch überfällig.
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Beseitigt wird jedoch ausschließlich die diskriminierende Rechtslage im Hinblick auf die Stiefkindadoption. Das ist ein Schritt, aber doch ein sehr zaghafter. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hat mehr Potenzial, und ihre Umsetzung sollte nicht bei der Beseitigung der diskriminierenden Rechtslage mit Blick auf die Stiefkindadoption enden. Bei Fremdkindadoptionen soll sich leider weiterhin nichts ändern. Braucht es erst eine weitere Klage, damit der Gesetzgeber aktiv wird? Ich finde, das wäre doch ein Armutszeugnis.
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Uns geht der vorgelegte Gesetzentwurf daher nicht weit genug.
Der Antrag der FDP geht in die richtige Richtung. Wir werden uns im weiteren Verfahren ebenfalls mit konkreten Vorschlägen einbringen.
Vor dem Hintergrund danke ich für die Aufmerksamkeit und freue mich auf die weitere Debatte zu diesem wichtigen Thema.
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Vielen Dank, Katja Dörner. – Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Sonja Amalie Steffen.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Dörner, auch wir von der SPD-Fraktion begrüßen, dass das Bundesverfassungsgericht im März dieses Jahres eine sehr fortschrittliche und sehr lebensmoderne Entscheidung getroffen und richtigerweise – Herr Frei hat das vorhin auch gesagt – tatsächlich aus der Sicht des Kindes entschieden hat. Es hat gesagt, dass unser jetziges Recht gegen Artikel 3 Absatz 1 Grundgesetz verstößt, also gegen den Gleichheitsgrundsatz, weil es Kinder in nichtehelichen Stiefkindfamilien gegenüber Kindern in ehelichen Stiefkindfamilien ohne ausreichenden Grund benachteiligt. Das heißt also, ein Stiefkind kann nur adoptiert werden, wenn der Stiefelternteil mit der Mutter oder dem Vater verheiratet ist. Das Bundesverfassungsgericht hat das übrigens auch wunderbar begründet – ich zitiere –:
Für die Kinder ist das Kriterium der Ehelichkeit … nicht verfügbar. Es liegt allein in der Macht des Elternteils und des Stiefelternteils, die Ehe zu schließen. Die Kinder haben keinen Einfluss darauf …
Aber um genau sie, um die Kinder, geht es bei der Adoption. Und da geht es nicht nur um die Fürsorge, sondern auch um die soziale und wirtschaftliche Absicherung der Kinder. Denn zunehmend entscheiden sich Elternpaare tatsächlich gegen die Ehe, aber für Kinder; Frau Helling-Plahr hat das vorhin schon erwähnt. Inzwischen sind in 12 Prozent der Familien mit Kindern die Eltern nicht verheiratet. Im Osten sind es übrigens sogar 26 Prozent der Eltern.
Was kann das Kind dafür, ob die Eltern verheiratet sind oder nicht? Das Bundesverfassungsgericht hat uns daher also völlig zu Recht den Auftrag erteilt, die nichtehelichen Stiefkinder den ehelichen Stiefkindern gleichzustellen. Dies tun wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf. Dies ist zwar ein wichtiger Schritt, mit dem wir als Gesetzgeber dem modernen Familienbild den Weg ebnen, aber wir sollten uns fragen: Inwieweit wollen wir nichteheliche Lebensgemeinschaften zukünftig anerkennen? Bisher haben sie nämlich praktisch ganz viele Pflichten, aber kaum Rechte.
Schauen wir uns mal im Sozialrecht um: Als Bedarfsgemeinschaft wird heutzutage schon zusammengewürfelt, wer auch nur in einer Wohngemeinschaft lebt, und man muss füreinander einstehen, wenn es um SGB II oder SGB XII geht. Aber wenn es um Steuerrecht geht, wenn es um Erbschaften geht, wenn es bisher um die Adoption ging, muss man sagen: Da sind die nichtehelichen Lebensgemeinschaften im Gesetz gar nicht erst vorgesehen. Deshalb ist es an der Zeit, auch diese Familien zu stärken.
Dann ist es auch an der Zeit, tatsächlich generell die Adoption von Kindern für nichteheliche Paare zu öffnen, also auch dann, wenn die Kinder von keinem Elternteil abstammen. Wir haben das vorhin „fremde Kinder“ genannt. Das ist ein schwieriger Begriff. Es ist schwer zu verstehen, dass bis zum heutigen Tag nur Ehepaare und übrigens auch Einzelpersonen Kinder adoptieren dürfen, aber nichteheliche Lebensgemeinschaften zusammen keine Kinder adoptieren können.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ja, ich komme zum Schluss. – Deshalb hoffe ich, dass wir im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens vielleicht noch ein bisschen Schwung in die Debatte bringen.
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In guter Eintracht übrigens mit dem Deutschen Anwaltverein werden wir uns weiterhin für eine große Lösung einsetzen, die sowohl die Stiefkindadoption als auch die Volladoption für verfestigte Lebensgemeinschaften ermöglicht.
Vielen Dank.
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Vielen herzlichen Dank, Sonja Amalie Steffen. – Letzter Redner in dieser Debatte: Alexander Hoffmann für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist schon angeklungen: Wir setzen die Bundesverfassungsgerichtsentscheidung vom 26. März 2019 um. Das Problem ist in der Tat, dass es in Deutschland zwar kein Verbot – das will ich klarstellen – der Stiefkindadoption für nichteheliche Lebensgemeinschaften gibt, aber doch einen faktischen Ausschluss. Der sieht nämlich so aus: Wenn einer der Partner ein Kind mit in diese Gemeinschaft bringt und der andere Partner es adoptieren möchte, dann geht das eben letztendlich nur unter Wegfall des Verwandtschaftsverhältnisses zum realen Elternteil. Das ist also ein realer Ausschluss, und das Bundesverfassungsgericht sagt: Das ist ein Verstoß gegen Artikel 3 Absatz 1 Grundgesetz.
Die Neuregelung, die wir jetzt auf dem Tisch haben, ist auch schon skizziert worden. Sie ermöglicht jetzt eine Adoption, wenn eine sogenannte verfestigte Lebensgemeinschaft vorliegt, und die ist in der Regel dann gegeben, wenn die Partner mindestens vier Jahre zusammenleben oder ein gemeinsames Kind vorhanden ist und die Partner mit diesem Kind zusammenleben. Dabei ist wichtig, dass keiner der Partner mit einer weiteren Person verheiratet ist. Damit ist zunächst einmal gewährleistet, dass die Adoption nur dann möglich ist, wenn eine Verbindung vorliegt, die eine gewisse Stabilität verspricht.
Ich glaube, es ist richtig, dass wir bei der Frage „Ab wann können wir von einer gewissen Stabilität ausgehen?“ nicht von zwei Jahren ausgehen, sondern von vier Jahren. Das kann man sogar sozialwissenschaftlich begründen. Es gibt sozialwissenschaftliche Untersuchungen, nach denen in Stiefkindfamilien dieses Gefühl von Familienverbundenheit ab einem Zeitfenster von drei bis fünf Jahren entsteht. Auch Fachkräfte in Adoptionsvermittlungsstellen gehen von Stabilität, im Übrigen auch bei einer Ehe, bei einem Zeitfenster von drei bis fünf Jahren, die eine Beziehung Bestand hat, aus.
Wenn es jetzt um die Frage geht: „Wäre denn eine weitreichendere Öffnung noch möglich?“, dann ist es ja immer relativ populär zu sagen: Das Bundesverfassungsgericht will doch eigentlich mehr. – Da empfehle ich schon, dass man mal einen genauen Blick in die Entscheidung wirft. Beim Durchlesen wird man dann nämlich ein ganzes Stück schlauer. Das Bundesverfassungsgericht schreibt ausdrücklich, dass es legitim ist, die Adoption nur bei Beziehungen zu ermöglichen, die eine gewisse Stabilität versprechen. Und dann geht das Bundesverfassungsgericht sogar noch einen Schritt weiter und sagt: Es ist sogar auch legitim, vor allem die Ehelichkeit als einen wesentlichen Indikator für Stabilität heranzuziehen. Allerdings darf es umgekehrt nicht so sein, dass außerhalb einer ehelichen Lebensgemeinschaft jedwede Adoption faktisch ausgeschlossen ist. – Ich finde gerade diese zweite Hälfte der Entscheidung durchaus bemerkenswert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will hier in der Runde auch mal postulieren: Ich glaube, dass wir schon die Aufgabe haben, die Rolle der Institution Ehe zu stärken. Und deswegen, glaube ich, ist es sehr gut, wenn wir das eine vom anderen unterscheiden. Es ist ja auch immer sehr schön herausgearbeitet worden, wo gerade die Unterschiede zwischen einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft und einer Ehe liegen.
Ich darf auch mal an die Debatte erinnern, die wir zur Ehe für alle geführt haben. Da war doch dann auch immer die Argumentation: Die Ehe ist eine so einmalige und großartige Institution, dass wir sie jetzt auch für gleichgeschlechtliche Partnerschaften öffnen wollen. Und jetzt plötzlich, wo wir über die Adoption reden, verschiebt sich – Entschuldigung – ein bisschen die Perspektive. Es geht nach meiner Wahrnehmung ein bisschen zu viel um Selbstverwirklichung, als darum, dass wir schauen, dass die Ehe nach wie vor eine wichtige und eine einzigartige Institution bleibt.
Ich freue mich auf die weiteren Beratungen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Alexander Hoffmann. – Damit schließe ich die Aussprache.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lange vor den ersten Tarifverträgen gab es im Schusterhandwerk den Brauch, dass der Meister seinem Gesellen zum Weihnachtsfest ein Stück Leder schenkte. Der Meister wollte sich damit für die geleistete Arbeit erkenntlich zeigen. Der Geselle konnte sich daraus zu Weihnachten ein paar Schuhe fertigen.
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Viele Jahre später entstand aus dieser Tradition das sogenannte Weihnachtsgeld. Immerhin 76 Prozent aller Beschäftigten, die unter den Schutz eines Tarifvertrages fallen, erhalten heute zum Jahresende eine solche Sonderzahlung. Im Durchschnitt sind das rund 2 600 Euro brutto, die nicht nur gut gebrauchen kann, wer zusätzliche Aufwendungen für Weihnachten hat und seine Liebsten beschenken möchte. Ich finde, ein solches Weihnachtsgeld ist das Mindeste, das Beschäftigte am Jahresende als Anerkennung verdient haben.
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Klar ist aber auch: Das Weihnachtsgeld bringt nicht der Weihnachtsmann oder das Christkind, sondern nur ein guter Tarifvertrag. Denn von den Beschäftigten, die nicht unter den Schutz eines Tarifvertrages fallen, erhalten lediglich 42 Prozent eine solche Sonderzahlung.
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Die Zahl der Unternehmen, die sich durch Tarifflucht ihrer sozialen Verantwortung entziehen, nimmt bedrohlich zu. Waren vor 15 Jahren immerhin noch rund sieben von zehn Beschäftigten von einem Tarifvertrag geschützt, so ist es heute noch mehr als jeder Zweite. Lohndumping und schlechte Arbeitsbedingungen wird durch diese Tarifflucht Tür und Tor geöffnet. Meine Damen und Herren, ich finde, das ist und bleibt eine völlig inakzeptable Entwicklung.
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Deshalb haben auch all diejenigen, die in diesen Tagen zum Beispiel beim Onlinehändler Amazon oder bei Karstadt bzw. Kaufhof für einen Tarifvertrag streiten, unser aller Solidarität mehr als verdient.
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Doch auch die Bundesregierung muss endlich ihrer Verantwortung nachkommen, allein schon, weil die Politik der vergangenen 15 Jahre eine maßgebliche Mitverantwortung für diese Entwicklung trägt. Denn wer vom Rückgang der Tarifbindung redet, darf von der Schwächung der Gewerkschaften durch die Agenda 2010 und deren Folgen nicht schweigen.
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Fakt ist jedoch, dass es diese Bundesregierung bisher weitestgehend bei wohlklingenden Appellen an die Tarifpartner belassen hat. Fakt ist auch, dass Sie damit billigend in Kauf nehmen, dass Millionen Beschäftigte in nichttarifgebundenen Unternehmen von der Entwicklung der Tariflöhne abgekoppelt werden. Warum sorgen Sie also nicht endlich dafür, dass die anhaltende Tarifflucht gestoppt wird? Warum erleichtern Sie nicht endlich die Möglichkeit, Tarifverträge für alle Unternehmen der jeweiligen Branche für allgemeinverbindlich zu erklären? Nur so können doch auch diejenigen Unternehmen geschützt werden, die einen anständigen Tariflohn zahlen.
Als Linke haben wir dazu heute wieder konkrete Vorschläge vorgelegt. Dazu gehört, die Antragstellung für die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen zu erleichtern.
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Dazu gehört auch, das Vetorecht der Arbeitgeberverbände gegen solche Allgemeinverbindlichkeitserklärungen zu streichen.
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Ich freue mich, dass auch die SPD auf ihrem jüngsten Parteitag einen gleichlautenden Beschluss gefasst hat. Aber dann handeln Sie jetzt bitte auch entsprechend!
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Ich weiß natürlich auch, dass einige von Ihnen gleich wieder versuchen werden, mit Verweis auf die Tarifautonomie ihre eigene Untätigkeit zu kaschieren.
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Deswegen klar und deutlich: Ja, die Tarifautonomie ist ein hohes Gut, auch für uns als Linke.
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Aber Tarifautonomie bedeutet auch, Verantwortung zu übernehmen für eine funktionierende Sozial- und Wirtschaftsordnung.
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Wenn jedoch ein wachsender Teil der Unternehmen diese Verantwortung nicht mehr länger wahrnehmen möchte und keine Tarifverträge mehr akzeptiert, dann muss das Tarifvertragssystem gesetzlich gestützt werden.
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So war das übrigens – das können Sie nachlesen – bei der Entstehung unseres modernen Tarifvertragssystems vor rund 100 Jahren. Und anders wird es – das zeigt die Entwicklung der letzten Jahre – aktuell nicht gehen.
Deshalb: Hören Sie auf, bei diesem Thema den Kopf in den Sand zu stecken! Unterstützen Sie unsere Vorschläge! Sorgen Sie also mit dafür, dass Millionen Menschen in diesem Land künftig einen anständigen Tariflohn bekommen und am Ende des Jahres dann auch ein Weihnachtsgeld!
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Pascal Meiser. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Uwe Schummer.
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Verehrtes Präsidium! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Damen und Herren! Tarifautonomie kommt aus dem Griechischen und bedeutet: nach eigenen Gesetzen lebend. Wer Tarifautonomie will, will auch starke Gewerkschaften, starke Arbeitgeberverbände, und er will auch, dass das, was miteinander verhandelt wird, respektiert wird.
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Wir haben seit 1949 soziale Marktwirtschaft. Soziale Marktwirtschaft bedeutet eben auch, dass die inneren Steuerungskräfte entsprechend der Tarifautonomie ihre Geschicke möglichst autonom organisieren. Im Grunde ist es nach dem Subsidiaritätsprinzip die Verantwortung der betroffenen Arbeitgeberverbände und der betroffenen Fachgewerkschaften, für den gerechten Ausgleich zu sorgen.
Es gibt eine produktive Kraft des sozialen Friedens in Deutschland. Bei uns gehen mehr Arbeitstage durch Festreden verloren als durch Arbeitskämpfe.
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Es gibt kein Land in Europa, in dem weniger gestreikt wird als in Deutschland. Auch das muss man einmal festhalten.
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– Beim Vatikan mag es noch etwas anders aussehen. Es ist aber kein Modell für uns; denn dort gilt der Zölibat.
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Das Bundesarbeitsgericht hat für Verhandlungen im Zuge der Tarifautonomie festgelegt, dass auf beiden Seiten – bei den Arbeitgebern und bei den Gewerkschaftern – Augenhöhe, also partnerschaftlicher Umgang, und Waffengleichheit herrschen muss. Das ist das Problem bei dem Antrag, den Sie, Herr Meiser, vorgestellt haben. Bei der Lösung, die Sie vorschlagen, wäre es so, dass bei der Allgemeinverbindlichkeit, die eingefordert wurde, die eine Tarifseite die andere Tarifseite de facto erpressen könnte. Das heißt, eine Tarifseite würde ausgeschaltet mit ihren Interessen. Das ist nicht Waffengleichheit, das ist auch nicht Augenhöhe, sondern das ist ein Stück weit ein Verstoß gegen die Grundsätze des Bundesarbeitsgerichtes.
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Wir sind für eine starke Tarifautonomie. Deswegen haben wir in der letzten Legislaturperiode mit dafür gesorgt, dass das Tarifautonomiestärkungsgesetz verankert wurde.
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Wir wollen jetzt die Tariflöhne in der Pflege durch eine Allgemeinverbindlicherklärung auf alle Pflegebedienstete erstrecken. Wir haben auch im Koalitionsvertrag vereinbart, dass wir die Tarifautonomie, aber auch die betriebliche Mitbestimmung stärken. Wir wissen – das ist ein Nachteil, den wir korrigieren wollen –, dass in Österreich nicht darüber diskutiert wird, ob der gesetzliche Mindestlohn bei 12, 11 oder 10 Euro liegen soll, weil es in Österreich eine 90-prozentige Tarifbindung gibt. Bei uns liegt die Tarifbindung bei 54 Prozent. Wir wollen sie wieder in Richtung 90 Prozent bringen.
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Darüber sollten wir diskutieren und dafür sorgen, damit die Selbststeuerung der Wirtschaft und der Arbeitnehmerverbände wieder funktioniert. Das ist das Ziel. In dem Ziel sind wir uns einig, auch im Koalitionsvertrag.
Wir wissen auch, dass die Tarifbindung in den Unternehmen am stärksten ist, die betriebliche Mitbestimmung haben. Wir wollen die betriebliche Mitbestimmung auch durch die Gründung von Betriebsräten erleichtern, indem wir das einfache Wahlverfahren ausweiten und indem wir die Initiatoren bei der Bildung eines Betriebsrates in den ersten drei, vier Wochen schützen. Letztendlich wollen wir auch die Welten von betrieblicher Mitbestimmung – Stichwort „Betriebsverfassung“ – und Digitalisierung zusammenführen – es arbeiten 2 Millionen Beschäftigte in der Plattformökonomie –, indem wir sie vernetzen und sich nicht parallel entwickeln lassen. Dort, wo betriebliche Mitbestimmung herrscht, liegt die Tarifbindung bei 70 Prozent. Dort, wo keine betriebliche Mitbestimmung herrscht, liegt die Tarifbindung bei 25 Prozent. Deshalb stehen beide Themen so elementar zueinander.
Wir sind am Ende des Jahres, aber nicht am Ende dieser Koalition. Diese beiden Themen werden uns nächstes Jahr sehr zentral beschäftigen.
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Vielen Dank, Uwe Schummer. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Jürgen Pohl.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Werte Kollegen! Die Tarifbindung ist bekanntlich ein wesentlicher Bestandteil der sozialen Marktwirtschaft. Die einen wollen sie lockern, die anderen wollen sie stärken; so weit alles normal. Interessant ist allerdings, wie diesmal versucht wird, die eigenen Interessen durchzusetzen. Während die Regierungskoalition in der Vergangenheit moderate Eingriffe in die Tarifbindung vorgenommen hat – Stichwort „Allgemeinverbindlicherklärung“ –, wollen die Kollegen von der Linken den vollen staatlichen Eingriff. Sie verzichten auf den Arbeitskampf und setzen auf staatliche Kontrolle. Wenn man sich den Antrag ganz genau durchliest, wird man feststellen, dass hier die Uhr bis zur Planwirtschaft zurückgedreht werden soll.
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– Na! – Es wird gefordert, dass Tarifverträge nur noch mit Mehrheit im Tarifausschuss abgelehnt werden können. Das bedeutet im Umkehrschluss: Bei Stimmengleichheit oder fehlender Mehrheit wird der Tarifvertrag automatisch, also staatlich verordnet, angenommen.
Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin ein Anhänger und großer Verfechter von Arbeitnehmerrechten.
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Aber unser Arbeits- und Tarifrecht funktionierte in der Vergangenheit deshalb so gut, weil wir ein gut austariertes Verhältnis von Parität hatten. Ich habe es Ihnen bereits in der ersten Lesung gesagt: Das Dilemma mit fehlenden Branchen- und Flächentarifverträgen ist bei den Linken und Sozialdemokraten hausgemacht. Gewerkschaften, die als Handlanger linker politischer Wirrköpfe dienen, vertreten keine Arbeitnehmerinteressen und verhandeln keine anständigen Tarifverträge.
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Solche Gewerkschaften haben abgewirtschaftet genau wie die hier vor mir sitzenden Parteien.
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Es heißt Tarifau-to-no-mie: Die Tarifparteien sollen sich selber einigen. Jeder Eingriff von außen sollte eine Ausnahme bleiben und nicht zum Regelfall werden.
Wir als AfD, als die neue Arbeitnehmer- und Volkspartei, fordern:
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Wir brauchen Gewerkschaften, die sich auf ihre Kernaufgabe konzentrieren, Gewerkschaften wie ALARM! oder AVA. Die Gewerkschaften, die wir damals hatten, waren echte Arbeitnehmervertreter. Sie waren ein starker Part in der Sozialpartnerschaft.
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Sie haben damals starke Tarifverträge verhandelt: gut für die Arbeitnehmer, gut für den Wohlstandszuwachs, gut für den sozialen Frieden in unserem Land.
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Auch Ihre zweite Forderung nach Schaffung eines Tariftreuegesetzes ist reine Augenwischerei. Fakt ist, dass wir in fast allen Bundesländern, außer in Bayern und Sachsen, bereits Tariftreueverpflichtungen der öffentlichen Hand haben, und von den Landesvergabegesetzen spricht auch keiner. Was wollen Sie mit so einem Gesetz bewirken? Wir haben ein Mindestlohngesetz, wir haben Tariftreueverpflichtungen auf Länderebene, wir haben ein Arbeitnehmer-Entsendegesetz. Durch Letzteres werden sogar Löhne gezahlt, die oberhalb des Mindestlohns liegen. Das eigentliche Problem ist nicht die Vergabepraxis der öffentlichen Hand, da haben wir Regularien.
Meine Herren und Damen von den Linken, das eigentliche Problem – Sie haben es selber angesprochen – sind die prekären Arbeitsverhältnisse und die Löhne, die ein würdiges Leben unmöglich machen.
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Daran zeigt sich nämlich das ganze Versagen der Bundesregierung, aber auch der restlichen Altparteien. Eine Arbeitsmarkt- und Lohnpolitik, die solche prekären Beschäftigungsverhältnisse schafft und fördert, ist das Kernproblem, die eigentliche Katastrophe.
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Ehrlich, das eigentliche Ziel Ihres Antrages hätte sein sollen: weg von prekär bezahlten Arbeitsverhältnissen hin zu vernünftigen Löhnen.
Ich sage zum Schluss noch eines: Lassen Sie den Weihnachtsmann und das Weihnachtsgeld außen vor. Er hat zwar einen roten Mantel, aber mir ist in der Tarifpolitik ein beherzter Arbeiter im blauen Arbeitsanzug lieber.
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Wir werden den Antrag ablehnen.
Danke schön.
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Vielen Dank, Jürgen Pohl. – Nächster Redner für die SPD-Fraktion: Bernd Rützel.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Pohl,
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mit Ihrem Hetzen versuchen Sie, zu verbergen, dass Sie blank sind,
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was das Wissen um die Bedingungen der Menschen in unserem Land, die arbeiten, die jeden Tag aufstehen, die um ihren Lohn kämpfen müssen, betrifft.
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Sie haben denen nichts zu bieten. Es nützt auch nichts, dass Sie hier über alles hetzen. Die Menschen wissen genau, wem Sie vertrauen können.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, Pascal Meiser hat richtig angefangen mit seinem Beispiel von dem Schuster, der ein Stück Leder zu Weihnachten verschenkt. Die Anfänge des Weihnachtsgeldes liegen in der Zeit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert.
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Gerade vor Weihnachten regte sich bei den Fabrikbesitzern ihr soziales bzw. ihr schlechtes Gewissen. Sie gingen durch ihre Fabrikhallen und verteilten Lebensmittel, Geschenke oder auch ein Geldstück. Es war eine freiwillige Spende, in gewisser Weise waren das Almosen, was verteilt worden ist. Niemand konnte den Fabrikbesitzer darauf verpflichten. Die Arbeiter schuldeten ihm dafür Dank.
Erst in den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts hat die ÖTV – die Älteren von uns erinnern sich an die Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr –,
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und zwar erstmals 1952, den Anspruch auf Weihnachtszuwendung per Tarifvertrag durchgesetzt.
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Aus der gönnerhaften Geste war ein Anrecht für viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geworden, wenn auch nicht für alle und auch nicht in gleicher Höhe. Auf die Zahlung des Weihnachtsgeldes konnte man sich aber nun verlassen. Das ist dem Tarifvertrag zu verdanken. Von daher ist es richtig und gut, dass Sie von den Linken heute den Antrag auf die Tagesordnung gesetzt haben, auch wenn ich schon sagen muss, dass er etwas dünn ist; da könnte man viel mehr machen.
Selbst der Inhalt stammt von der Hans-Böckler-Stiftung; aber nichtsdestotrotz ist er ja richtig. Sie haben es selbst gesagt: 76 Prozent der Beschäftigten mit Tarifvertrag bekommen Weihnachtsgeld, bei Beschäftigten, die durch keinen Tarifvertrag geschützt werden, sind es nur 42 Prozent. Die Beschäftigten ohne Tarifvertrag haben doppelt das Nachsehen: zum einen, weil sie weniger verdienen, und zum anderen, weil sie am Jahresende oft leer ausgehen. Oft bekommen sie zudem auch keine Überstunden ausbezahlt. Sie haben schlechtere Rahmenbedingungen bei Arbeits- und Urlaubszeiten. Bei der Altersvorsorge sieht es nicht so gut aus für die, die keinen Tarifvertrag haben. Viele bekommen auch kein Urlaubsgeld, wenn es nicht durch Tarifvertrag vorgesehen ist. Deshalb ist es der SPD so wichtig, dass wir die Tarifbindung stärken. Wir wollen auch die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen erleichtern, weil es eben den Menschen besser geht, die in tarifgebundenen Unternehmen arbeiten. Wer unter einen Tarifvertrag fällt, hat ein besseres Leben, der hat bessere Arbeitsbedingungen.
Sie verweisen auf die Tarifbilanz 2019, die in dieser Woche vom WSI – das ist ein Institut in der Hans-Böckler-Stiftung – vorgestellt worden ist. Anhand dieser Tarifbilanz kann man sehen, dass die Löhne in tarifgebundenen Unternehmen in diesem Jahr im Durchschnitt um 3 Prozent gestiegen sind. Die Tariflöhne sichern den Beschäftigten eben Reallohnzuwächse, die in die private Nachfrage fließen können.
Ich will an dieser Stelle erneut sagen – wir haben oft darüber gesprochen –, dass wir, dass unsere Koalition in der letzten Legislaturperiode und auch in dieser viel für die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen getan hat. Wir haben bei allen Vorhaben, die wir hatten – ob das der Mindestlohn war, ob das die Leiharbeit war, ob das die Werkverträge waren –, in die Gesetze hineingeschrieben, dass Flexibilität im Gegenzug zu Sicherheit zu haben ist, dass Abweichungen nur möglich sind, wenn es Tarifverträge gibt. Das stärkt das Ganze.
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Wir haben am vergangenen Wochenende auf unserem Parteitag beschlossen – das ist auch den Kollegen der Linken nicht entgangen; darüber freue ich mich –, dass wir Gewerkschaftsmitglieder steuerlich besserstellen wollen und dass wir auch tarifgebundene Unternehmen steuerlich besserstellen wollen. Wir wollen und werden das Vetorecht der Arbeitgeber bei Allgemeinverbindlicherklärungen abschaffen. Das hat nichts damit zu tun, dass man das aus der Balance bringt. Nein, das würde gleiche Bedingungen schaffen, das würde Augenhöhe herstellen. Deswegen muss dieses Vetorecht weg.
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Und der Tarifvertrag muss auch bei Betriebsübergängen weiterhin gelten, muss auch bei Abspaltungen von Abteilungen und von Betrieben fortgelten; denn das wird immer mehr und nicht weniger. Ich will auch noch sagen, dass wir die Tariftreue unbedingt bei Auftragsvergaben durch den Bund berücksichtigt wissen wollen.
Der Tarifvertrag beschert den Menschen weitaus mehr als nur Weihnachtsgeld. Das ist aber wichtig. Deshalb sage ich jetzt schon: Frohe Weihnachten!
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Vielen Dank, Bernd Rützel. – Nächster Redner: für die Fraktion der FDP Carl-Julius Cronenberg.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zwei Wochen vor Ostern forderte Die Linke mehr allgemeinverbindliche Tarifverträge, zur Not auch ohne Zustimmung der Sozialpartner. Jetzt, zwei Wochen vor Weihnachten, wiederholt sie fast wortgleich diesen Antrag. Dass Sie sich beim Einbringen Ihrer Anträge an christlichen Feiertagen orientieren, begrüßen wir.
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Dass Sie jedoch das Grundprinzip der christlichen Soziallehre, die Subsidiarität, zu missachten bereit sind, lehnen wir ab.
Sie stellen zu Recht fest: Das Weihnachtsgeld kommt nicht vom Weihnachtsmann. Falsch ist die Behauptung, nur ein guter Tarifvertrag beschere Weihnachtsgeld. Zahlreiche Unternehmen im Sauerland berichten mir, dass sie auch ohne Tarifbindung Weihnachtsgeld nach Tarif zahlen oder sogar mehr.
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Sie schreiben ja selbst, dass über 40 Prozent der Beschäftigten ohne Tarifvertrag Weihnachtsgeld erhalten. Sie lassen auch außer Acht, dass am Jahresende nur verteilt werden kann, was übers Jahr erwirtschaftet wurde. Das hängt also auch davon ab, wie leistungsstark die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren. Kurz: Das Weihnachtsgeld kommt zuallererst von der Wettbewerbsfähigkeit und nicht vom Weihnachtsmann.
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Die Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland ist nicht schlecht. Wie sonst hätten wir mit über 46 Millionen Erwerbstätigen dieses Jahr einen neuen Beschäftigungsrekord erzielen können? Wie sonst hätten wir die Arbeitslosenquote seit 2009 halbieren können? Und wie sonst hätten wir über 5 Millionen neue sozialversicherungspflichtige Jobs geschaffen? Das alles übrigens bei Lohnsteigerungen von immerhin 4 Prozent per anno im Mittel der letzten fünf Jahre.
Wer Subsidiarität und Tarifautonomie achtet, schafft mehr Gemeinwohl und Zusammenhalt, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wer jedoch anstelle der Sozialpartner Löhne und Standards staatlich festlegt, der darf sich nicht wundern, wenn es mit der Tarifbindung weiter nach unten geht.
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Wenn der Staat sich einmischt, kommt meistens eh nur Mumpitz dabei raus. Der Staat weiß eben nicht besser, was gut für Unternehmen und Beschäftigte ist. Deshalb sind wir klug beraten, an den hohen Hürden für die Allgemeinverbindlichkeit festzuhalten.
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Sie schreiben im Antrag, die Tarifbindung befinde sich „im freien Fall“. Laut IAB-Betriebspanel, aus dem Sie selbst zitieren, arbeiteten 2009 21,1 Millionen Beschäftigte tarifgebunden. 2017 waren es 21,7 Millionen, also 600 000 mehr als vor zehn Jahren. Wo ist denn da bitte schön der „freie Fall“?
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Richtig ist allerdings auch, dass in derselben Zeit 5 Millionen neue Jobs außerhalb der Tarifbindung entstanden sind. Woran liegt das? Offensichtlich waren die Tarifverträge nicht attraktiv, weder für traditionelle Unternehmen noch für Start-ups, im Bereich Maschinenbau beispielsweise. Warum man jetzt aber unattraktive, oft überkomplizierte und unflexible Tarifverträge politisch für allgemeinverbindlich erklären will, erschließt sich mir nicht.
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Drehen wir lieber den Spieß um. Sorgen wir dafür, dass Tarifverträge wieder attraktiver werden. Die Freien Demokraten setzen auf Öffnungsklauseln, zum Beispiel auf die Befreiung von Dokumentationspflichten für tarifgebundene Unternehmen.
Dem Antrag der Linken stimmen wir zu, wenn Ostern und Weihnachten zusammenfallen. Ansonsten freuen wir uns auf die Beratung im Ausschuss.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Carl-Julius Cronenberg. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Beate Müller-Gemmeke.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste! Die Tarifbindung muss unbedingt gestärkt werden. Das fordern wir Grünen schon lange. Deshalb ist es gut, dass wir heute erneut über das Thema diskutieren. Das Thema Tarifbindung ist wichtig für die Menschen, aber auch für den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft.
Bei der Tarifbindung geht es natürlich nicht nur um das Weihnachtsgeld, sondern es geht vor allem um höhere Löhne. Tarifverträge regeln auch Arbeitszeit, Urlaub, Weiterbildung und beispielsweise auch die betriebliche Altersvorsorge. All das müssen die Beschäftigten eben nicht alleine, individuell für sich erkämpfen, sondern das sind kollektive sozialpartnerschaftliche Regelungen. Wenn diese Tarifpartnerschaft nicht mehr funktioniert, dann muss das Tarifvertragssystem politisch gestützt und auch gestärkt werden.
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Deshalb fordern auch wir schon lange, dass Tarifverträge leichter für allgemeinverbindlich erklärt werden können. Heute können diese Anträge blockiert werden. Das wird im vorliegenden Antrag ausgeführt. Diese Vetomöglichkeit muss natürlich abgeschafft werden; denn die zuständigen Tarifpartner sollen selber entscheiden können, ob in ihren Branchen Allgemeinverbindlicherklärungen notwendig sind oder nicht.
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Das allein reicht aber nicht aus. Studien zeigen, dass in Betrieben mit Betriebsrat die Tarifbindung höher ist. Das ist auch nachvollziehbar; denn wenn die Beschäftigten gut von einem Betriebsrat vertreten werden, dann motiviert das natürlich auch, sich gewerkschaftlich zu organisieren – gegen Tarifflucht oder für einen Tarifvertrag. Deshalb müssen wir auch die Mitbestimmung stärken.
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Wenn es um Löhne geht, dann müssen wir auch über die öffentliche Auftragsvergabe reden; denn hier geht es immerhin um 400 bis 500 Milliarden Euro im Jahr. Mit diesem öffentlichen Geld werden heute die Unternehmen belohnt, die billiger sind, weil sie beispielsweise unter Tarif bezahlen. Damit muss Schluss sein. Auch Tariftreueregelungen sind ein effektives politisches Instrument, um die Tarifbindung zu stärken.
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Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, insbesondere der Union, Sie reden viel und häufig mit großen Worten über die Sozialpartnerschaft. Aber die Entwicklung hin zur Tarifflucht ignorieren Sie. Reden Sie nicht nur über die Sozialpartnerschaft, sondern schaffen Sie dafür auch gute gesetzliche Rahmenbedingungen; denn die Beschäftigten haben faire Löhne verdient, und damit meine ich tarifliche Löhne.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Beate Müller-Gemmeke. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Wilfried Oellers.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren auf den Besuchertribünen! Wir beraten heute den Antrag der Linken, die Tarifbindung zu stärken. An der Stelle muss ganz deutlich hervorgehoben werden, dass die Tarifpartnerschaft in unserem Land das Rückgrat unserer sozialen Marktwirtschaft ist. Sie hat uns groß gemacht und gerade auch durch schwierige Situationen geführt. Ich denke da zum Beispiel an die Jahre 2008 und 2009 zurück, in denen wir in einer wirtschaftlich wirklich schwierigen Situation waren. Da waren es gerade die Tarifpartnerschaften, die gute Übergangslösungen gefunden haben. Auch die Tatsache, dass wir hier in Deutschland die wenigstens Streiktage haben, ist besonders hervorzuheben. Deswegen ist diese Tarifpartnerschaft hoch zu schätzen und auch zu würdigen.
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Dass die Tarifbindung abnimmt, ist ein Punkt, der nicht nur zu bedauern ist, sondern dem man als Gesetzgeber auch entgegentreten muss.
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Ich denke aber, dass wir das in der letzten Legislaturperiode schon gemacht haben, Herr Meiser. Wenn Sie die Allgemeinverbindlicherklärungen ansprechen – das ist ja auch ein maßgeblicher Punkt Ihres Antrages –, dann muss man sagen: Mit dem Streichen der 50-Prozent-Grenze, die ja immer der entscheidende Faktor dafür war, ob ein Tarifvertrag überhaupt für allgemeinverbindlich erklärt werden kann, haben wir eine maßgebliche Erleichterung geschaffen.
An diese Stelle ist das öffentliche Interesse getreten. Dieses öffentliche Interesse wird dadurch deutlich, wenn Tarifverträge eben eine überwiegende Bedeutung haben oder – ich zitiere jetzt noch mal aus dem Tarifvertragsgesetz – „die Absicherung der Wirksamkeit der tarifvertraglichen Normsetzung gegen die Folgen wirtschaftlicher Fehlentwicklung“ zu befürchten ist.
Ein weiterer Punkt ist, dass wir natürlich im Gesetzgebungsverfahren oft mit tariflichen Öffnungsklauseln arbeiten und da natürlich die Tarifpartnerschaft genug Luft hat, Dinge zu regeln, was in meinen Augen die Tarifpartnerschaft attraktiver macht.
Aber wenn Sie jetzt in Ihrem Antrag fordern, dass Anträge, die zunächst mal gemeinsam an den Tarifausschuss zu stellen sind, dort nur noch mit Mehrheit abgelehnt werden können, anstatt mit Mehrheit angenommen zu werden, dann verdrehen Sie hier Voraussetzungen in einer Art und Weise, die nicht zu akzeptieren sind.
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Das ist ja quasi eine Beweislastumkehr, nach dem Motto: Wenn man doch einen gemeinsamen Antrag gestellt hat – so schreiben Sie es ja in Ihrem Antrag –, dann könnte man ihn nur noch mit Mehrheit ablehnen, weil man ihn ja schon gemeinsam gestellt hat.
Aber wenn Sie das so sehen, verkennen Sie allerdings die Aufgabe des Tarifausschusses. Der Tarifausschuss hat nämlich zu prüfen, ob Tarifkollisionen bestehen. Ein Tarifvertrag, der für allgemeinverbindlich erklärt wird, egal ob er vor oder nach kollidierenden Tarifverträgen abgeschlossen ist, hat erst mal Vorrang. Damit kommt hier natürlich Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes schon deutlich zur Anwendung. Deswegen ist ganz zwingend und dringend zu prüfen, ob tarifvertragliche Kollisionen vorliegen. Das ist ja auch der häufigste Grund, warum derartige Anträge nicht durch den Tarifausschuss kommen: weil nämlich Tarifkollisionen bestehen.
Die Auswirkungen solcher Tarifkollisionen konnte man an dem damaligen Verfahren sehen, das wir mit den Sozialkassensicherungsgesetzen hatten. Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichtes, die dem damals vorausging, hatte in ihrer Streitigkeit Abgrenzungen bezüglich der Tätigkeiten und Branchen. So etwas möchte ich hier in Deutschland nicht haben. Deswegen ist Ihr Antrag abzulehnen.
Die Tariftreuegesetze – nur ein letzter Satz – sind europarechtlich auch sehr umstritten. Deswegen muss man auch an dieser Stelle aufpassen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Wilfried Oellers. – Letzte Rednerin in dieser Debatte: Dr. Astrid Freudenstein für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Es ist wie so oft in diesem Haus, werte Kolleginnen und Kollegen der Linken: Sie nehmen eine Statistik, ziehen Zahlen heraus,
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und interpretieren den Untergang der Welt hinein. Jetzt muss ich doch Religionsunterricht geben: Der Advent ist die Zeit der Vorfreude und nicht der Endzeitstimmung.
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Deswegen zunächst zu den Fakten. Ja, die Tarifbindung, vor allem bei den Flächentarifverträgen, geht in unserem Land zurück. Gleichzeitig verändert sich natürlich unsere Arbeitswelt rasant. Und, ja, wir wollen das Gut der Tarifautonomie weiter schützen; denn eine funktionierende Tarifautonomie ist die beste Gewähr für Lohngerechtigkeit. Sie hat eine Schutz- und Ordnungsfunktion. Wir haben in den vergangenen Jahren auch schon einiges für die Stärkung der Tarifbindung getan. Beispiele sind das Tarifautonomiestärkungsgesetz und der Mindestlohn, der zu Recht verhindert, dass ein Wettbewerb auf Kosten der Löhne entsteht.
Bei uns in Bayern zeigt das auch gute Wirkung. Für fast 80 Prozent der Beschäftigten gelten in Bayern direkt oder indirekt tarifvertragliche Regelungen; denn der Anteil der Beschäftigten mit einer Orientierung am Tarifvertrag ist in den letzten Jahren sehr deutlich gestiegen.
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Wir haben also keine Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt oder zwischen den Sozialpartnern.
Der vorliegende Antrag zeigt vielmehr, was uns wirklich unterscheidet. Wir denken die Politik vom Menschen her und orientieren uns weniger an Zahlen oder Begriffen. Der Großteil der Menschen in unserem Land kommt ziemlich gut damit zurecht, wie es derzeit auf dem Arbeitsmarkt läuft: Der Durchschnittslohn hat sich um 30 Prozent erhöht, seit Angela Merkel Bundeskanzlerin ist. Dafür müssen die Menschen deutlich weniger arbeiten. Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit ist gesunken. Wir haben die niedrigste Arbeitslosigkeit seit der Wiedervereinigung. Und immer mehr Menschen möchten zu uns nach Deutschland zum Leben und auch zum Arbeiten kommen – Zeit, sich darüber zu freuen.
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Ja, die Tarifbindung bringt natürlich Sicherheit für Arbeitnehmer wie für Arbeitgeber. Das zu erreichen, ist aber auch die Aufgabe der Tarifparteien. Der Staat und die Politik setzen die Rahmenbedingungen dafür, dass die Gewerkschaften und die Arbeitgeberverbände diese Aufgabe auch umsetzen können. Die Tarifvertragsparteien sind dann auch in guter Tradition selbst für attraktive und zeitgemäße Tarifverträge zuständig.
Noch mal ein kleiner Blick in die Praxis. In meiner Heimatstadt zum Beispiel ist die Tarifbindung ziemlich hoch, weil es viele große Unternehmen gibt. Die Arbeitnehmer haben derzeit auch keine Angst vor einer sinkenden Tarifbindung. Ich will Ihnen sagen, wovor die Arbeitnehmer derzeit Angst haben: Sie haben Angst vor einer sich abschwächenden Konjunktur. Sie haben Angst vor einer Delle in der Wirtschaft, die ihre Arbeitsplätze kosten könnte. Sie haben Angst vor einer Beschädigung der Automobilindustrie. Sie haben Angst davor, dass ihre Arbeitsplätze nicht mehr sicher sind. Das treibt sie derzeit um.
Kommen Sie bitte zum Ende.
Wenn Sie uns jetzt helfen, die Wirtschaft am Laufen zu halten, wenn Sie uns vielleicht noch helfen, eine Unternehmensteuerreform durchzubringen,
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dann haben wir auch alle gemeinsam Grund, uns auf Weihnachten zu freuen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Frau Freudenstein. – Damit schließe ich die Aussprache.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz ist ja in Bundestagsdebatten immer mal wieder Thema und wird mal mehr, mal weniger konstruktiv diskutiert. Es ist auch notwendig, dass wir über das Gesetz sprechen; denn es gibt erheblichen Verbesserungsbedarf. Die Debatte heute ist aber vor allem eines: ärgerlich. Wir debattieren heute leider nicht unseren Antrag und die anderen Vorlagen zum Netzwerkdurchsetzungsgesetz, sondern nur einen Geschäftsordnungsbericht zu unserem Antrag – und das geschieht, weil die Koalition seit Wochen die Befassung in den Ausschüssen immer und immer wieder von der Tagesordnung nimmt.
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Das ist Arbeitsverweigerung und wirft ein ziemlich schlechtes Bild auf Sie; denn hätten Sie gute Argumente und Vorschläge, könnten Sie sich unserem Antrag einfach stellen. Ziemlich blamabel, meine Damen und Herren.
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Gestern hat Ministerin Lambrecht gesagt, dass eine Novellierung im Frühjahr kommen soll. Dann verstehe ich aber nicht, dass sie vorher einen Neun-Punkte-Plan präsentiert, der auch Änderungen des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes vorsieht. Das ist der zweite vor dem ersten Schritt. Da kommt man schnell ins Stolpern, und das ist bisher noch nie gut gegangen.
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Ja, Hass und Hetze, digitale Gewalt und Rechtsextremismus müssen bekämpft werden. Wenn das Internet der Kommunikationsraum ist, in dem sich immer mehr Menschen informieren, wenn im Netz gesellschaftliche Debatten geführt werden und der Meinungsbildungsprozess stattfindet, dann dürfen digitale Gewalt, Hass und Hetze eben nicht dazu führen, dass Menschen sich zurückziehen und nicht mehr an öffentlichen Debatten teilnehmen. Dafür muss der Staat Sorge tragen.
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Aber statt ein neues Gesetzespaket anzukündigen, sollten Sie die Mängel des bestehenden Gesetzes erst einmal beheben. Jede Woche, die Sie verstreichen lassen, ist eine vertane Woche, in der Verbesserungen für die Betroffenen auf den Weg gebracht werden könnten. Das ist das Tragische an der ganzen Sache.
Es liegen ja Konzepte auf dem Tisch. Wir haben in unserem Antrag eine ganze Reihe von Vorschlägen gemacht, zum Beispiel die Meldewege für Beschwerden zu vereinfachen, die auf den Plattformen zum Teil sehr schwer zu finden sind; oder ein Put-back-Verfahren, mit dem unrechtmäßig gelöschte Inhalte schnell wieder eingestellt werden können; oder eine Clearingstelle, an die sich Nutzerinnen und Nutzer im Streitfall wenden können. All dem verweigern Sie sich.
Stattdessen gehen Sie jetzt mit einem „Maßnahmenpaket zur Bekämpfung von Hasskriminalität und Rechtsextremismus“ deutlich weiter und wollen eine Meldepflicht für Diensteanbieter einführen. Die sollen zukünftig entscheiden, ob eine Straftat vorliegt, und dann sämtliche digitalen Identifikationsmerkmale wie zum Beispiel IP-Adressen, Portnummern und sogar Passwörter ans BKA weiterleiten. Noch mal zum Mitschreiben: Private Unternehmen bekommen eine Gatekeeper-Funktion für eine massenhafte staatliche Datenerhebung zur Strafverfolgung. Es ist völlig unklar, was mit den Hunderttausenden Datensätzen beim BKA passiert; von einer Löschfrist habe ich jedenfalls nichts gelesen. Das wäre die Einführung einer Vorratsdatenspeicherung durch die Hintertür, und das können wir nicht zulassen.
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Ich habe auf jeden Fall ein großes Störgefühl und bezweifle, dass dies der Vorstellung eines bürgerrechtskonformen staatlichen Rechtsdurchsetzungsprozesses entspricht. Ich appelliere daher an Sie: Machen Sie keine halbgaren Vorschläge für Maßnahmenpakete, sondern bringen Sie endlich die dringend notwendigen Nachbesserungen auf den Weg!
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Tabea Rößner. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Carsten Müller.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben in der Tat in den letzten Wochen das Netzwerkdurchsetzungsgesetz vielfältig diskutiert, im Übrigen auch im Rechtsausschuss. Das ganze Thema zieht sich intensiv bearbeitet durch die ganzen letzten sechs Monate.
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Insofern wundert es mich, Frau Kollegin Rößner, dass Sie das überhaupt nicht mitbekommen haben.
Wir reden heute tatsächlich über insgesamt vier Anträge der Opposition. Aber, Hand aufs Herz: Über diese Anträge ist die Zeit hinweggegangen, und zwar nicht erst in den letzten sechs Monaten, sondern schon vor zwei Jahren.
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– Stellen Sie doch eine Zwischenfrage!
Ich will im Einzelnen zu den antragstellenden Fraktionen kommen. Der Antrag der Grünen enthält tatsächlich, das muss man sagen, den einen oder anderen Vorschlag, den die Unionsfraktion auch für sinnvoll hält und im Übrigen zur Diskussion gestellt hat. Sehr geehrte Frau Rößner, das wollen wir Ihnen gerne zugestehen.
Aber Sie müssen sich den Geist vergegenwärtigen, der auch in Ihrer Rede ein bisschen durchgeschienen ist. Ich zitiere gerne Ihren Fraktionskollegen von Notz, der bei der Einführung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes von massiven Schäden durch das Gesetz geredet hat. Er hat eine wesentliche Beschneidung der Meinungsfreiheit gesehen und ein massives Overblocking vorausgesagt. Gott sei Dank ist er nicht Wahrsager geworden. Er wäre arbeitslos. All das ist nämlich nicht eingetreten,
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um nicht zu sagen: Er lag meilenweit daneben. Und Sie lagen heute zu meiner Überraschung auch ein gutes Stück weit daneben.
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Wahrscheinlich hätten Sie – die Kollegin Künast sitzt hinter Ihnen – nach Eintritt der Causa Künast das Thema etwas anders anmoderiert. Sie haben die Möglichkeit, zur Koalition aufzuschließen.
Im Gesetzentwurf der Linken ist die Rede von einer teilweisen Abschaffung. Meine Damen und Herren, das Netzwerkdurchsetzungsgesetz hat sich in praktisch allen Teilen bewährt. Aber Gutes kann man besser machen.
Ich will in aller Kürze zu der sogenannten Alternative und zu den Kollegen der FDP sagen: Wie gesagt, die Zeit ist über Ihre Ideen hinweggegangen.
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Das trifft bei Ihnen ganz besonders zu, weil Sie eine Abschaffung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes vor einiger Zeit vorgeschlagen hatten. Sie haben die Zeit bislang leider nicht genutzt, diese irrigen Weichenstellungen, die Sie für sich vornehmen wollen, zu korrigieren. Meine Damen und Herren, wir machen das.
Wir machen ein zweistufiges Verfahren. Wir reden zunächst über das „Maßnahmenpaket zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität“ und werden die notwendigen Nachjustierungen im strafrechtlichen und strafprozessualen Bereich sehr kurzfristig vornehmen. Das basiert auf Vorschlägen des Innenministers und der Justizministerin. Meine Damen und Herren, was hat das Paket zum Inhalt? Die strafrechtlich relevanten Einträge sollen nicht nur gelöscht werden, sondern wir wollen diejenigen, die diese Hetze verfassen, konsequent verfolgt sehen. Deswegen werden Diensteanbieter verpflichtet werden, Strafverfolgungsbehörden unverzüglich Auskunft zu erteilen und Bestandsdaten für die Ermittlung zu überstellen. Meine Damen und Herren, uns ist wichtig, dass es sich nicht nur um eine formale Unterrichtung der Strafverfolgungsbehörden handelt, sondern dass wir materiell etwas damit anfangen können. Diese Meldepflicht soll sich auf Offizialdelikte erstrecken.
Meine Damen und Herren, das ist mir sehr wichtig: Wir sind darauf angewiesen, dass auch die 16 Bundesländer hierbei mitziehen und dem bestimmt nicht geringen Anfall dieser Meldungen so begegnen, dass wir personell und sachlich eine hervorragende Ausstattung in den Ländern und bei den möglicherweise zu bildenden Schwerpunktstaatsanwaltschaften antreffen.
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Meine Damen und Herren, in einem zweiten Schritt – den hatten wir Ihnen in diesem Hause schon mehrfach dargelegt – kommt genau das, was wir vor zwei Jahren bei der Einführung des NetzDG zugesagt haben: eine Evaluierung und eine deutliche Verbesserung. Das wird auf Drängen der Unionsfraktionen noch im ersten Quartal 2020 erfolgen.
Ich will Ihnen dazu einige wenige Themen nennen. Wir werden die Transparenzberichte vergleichbar und klar gestaltet sehen. Wir werden eine Regelung zum Put-back-Verfahren, zum einfachen Wiedereinstellen, treffen. Wir werden die Kommunikation zwischen den Beteiligten und der Aufsichtsbehörde, dem Bundesamt für Justiz, deutlich erleichtern. Und wir werden Forscherinnen und Forschern Zugang zu Daten gewähren, um diesen wichtigen Bereich der Netzpolitik wissenschaftlich begleitet zu unterstützen.
Meine Damen und Herren, für uns ist eines klar: Wir regeln das Verhältnis von Gemeinschaftsregeln zu gesetzlichen Regelungen, und zwar unter der großen Überschrift, die überhaupt gar nicht verrückt werden kann: Niemand steht über dem Gesetz.
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Es gilt für uns: Gesetz vor Gemeinschaftsregeln.
Ebenfalls wichtig ist eine staatsferne Selbstregulierung. Wir sprechen hier von der Einrichtung der regulierten Selbstregulierung, und wir sind sicher, dass wir mit einem sehr sachlich geführten Diskurs das Netzwerkdurchsetzungsgesetz, das sich im Übrigen tatsächlich von einem Prototyp zu einem weltweit viel beachteten Modell entwickelt hat, erheblich verbessern können.
Wir werden, wie gesagt, dieses Thema in den nächsten wenigen Wochen intensiv beraten, im Übrigen nicht nur in den Fachausschüssen, sondern auch hier im Plenum. Darauf freuen wir uns.
Ich will Ihnen gerne auch noch mal zurufen: Schließen Sie sich der hohen Geschwindigkeit der Koalition an! Sie können es noch schaffen. Schmeißen Sie alte Anträge über Bord! Diesen kann nämlich bedauerlicherweise sozusagen wegen sachlicher Erledigung nicht zugestimmt werden.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Carsten Müller. – Nächster Redner: Tobias Matthias Peterka für die AfD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kollegen! Zuschauer!
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Dass in einer Demokratie die Mehrheit entscheidet, sollte jedem so weit klar sein. Entscheidungen des Souveräns, des Volkes sind zu respektieren, auch wenn es manchem hier im Haus wahrscheinlich langsam nicht mehr so schmeckt, nach Trump und Brexit und, wer weiß, ganz speziell auch vielleicht nach Frau Esken und Herrn Walter-Borjans.
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Aber was definitiv nicht geht, ist, dieses „The Winner takes it all“-Prinzip auf die Geschäftsordnung und den Ablauf des Parlaments ebenfalls anzuwenden. Ein Vizepräsident für die AfD – ach, wo kommen wir denn da hin?
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Aufsichtsgremium für Geheimdienste – lieber nicht für die AfD. Abwahl von Ausschussvorsitzenden – das wird ganz plötzlich nach 70 Jahren in der GO ausfindig gemacht.
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Reduzierung der Debattenzeit auf Kosten der Opposition – gar kein Problem, die Mehrheit hat es ja so beschlossen. Wir haben es gestern gehört: Die FDP hat auch zugestimmt und sich damit eines Viertels ihrer Redezeit begeben. Gratulation für diesen vorauseilenden Gehorsam an Ihre Adresse!
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Liebe Parlamentarier hier, es ist eine Sache, die eigentlichen Inhalte mit Regierungsmehrheit niederzustimmen, um eine politische Linie durchzusetzen.
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Das ist noch die Repräsentanz hier im Bundestag, in Ordnung.
Aber es ist etwas ganz anderes, im Maschinenraum des Parlaments ebenfalls Machtpolitik zu betreiben. Hier geht es jetzt um die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, die ganz allgemein, wie sich gezeigt hat, ordentlich reformiert gehört.
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Und es ist der Umstand, wie das NetzDG hier gerade nur indirekt ins Plenum kommt. Dieser Umstand ist ja nicht contra legem, er ist vielmehr die legale perfekte Beschreibung des Problems.
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Die Anträge gegen das faule Ei von Herrn Maas wurden im federführenden Rechtsausschuss so lange, und zwar nicht nur wochenlang, sondern monatelang, von der TO runtergestimmt, dass jetzt eine Berichterstattung hier im Plenum erst erzwungen werden musste.
Ist damit alles gut? Das Minderheitenrecht wurde ja eingehalten – pro forma vielleicht, aber ich sage: in der Sache auf gar keinen Fall.
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Demokratietechnisch ist das ein absolutes Armutszeugnis, und erst diese Woche hieß es bei uns im Rechtsausschuss wieder: Wir müssen als GroKo das NetzDG noch ein wenig bewerten; wir brauchen noch mehr Informationen dazu, wir brauchen noch ein bisschen mehr Zeit.
Dabei gab es von beidem reichlich, und es gab dazu noch obendrauf eine Anhörung zu mehreren Gesetzentwürfen, die das NetzDG abschaffen oder reformieren wollten. Und wie schade: Die Anhörung konnte als Minderheitenvotum nicht verhindert werden. Da war die FDP mal auf der richtigen Seite.
Was ergab die Anhörung, die vor Monaten stattgefunden hat? Durchaus die Erkenntnis, dass das Bundesamt für Justiz gar keine sinnvollen Evaluationsfortschritte macht. Auch heute, ein halbes Jahr später, Schweigen im Wald, was die Wirkung des NetzDG angeht. Sind die Personalstellen inzwischen ausgelastet? Nehmen die Bürger die Beschwerdewege inzwischen etwas an? Keine aktuelle Auskunft dazu.
Ja, natürlich gab es auch einige Sachverständige, die den ganzen Ansatz des Gesetzes super fanden: Schaffung von Schutzzonen, frei von abweichenden Meinungen in Chat-Gruppen und sozialen Medien. Also wie erwartet: Auch bei der Anhörung standen sich apodiktische Lobhudelei auf der einen Seite und ein freiheitlicher Ansatz auf der anderen Seite, zu dem natürlich die AfD gehört hat, gegenüber.
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Im Zweifel soll nämlich der Einzelfall vor Gericht entschieden werden, und das geht auch, wenn man die Gerichte nicht komplett kaputtspart.
Wir verfolgen weiterhin den Ansatz: Abschaffung des NetzDG bei Erhaltung sinnvoller Vorschriften an anderer Stelle wie zum Beispiel die zu Zustellungsbevollmächtigten. Und vielleicht kommt ja auch mal die eigentliche Diskussion auf die Tagesordnung im Rechtsausschuss und dann auch hier wirklich offen ins Plenum – da lasse ich mich gerne positiv überraschen –, vielleicht auch noch vor den Neuwahlen.
Vielen Dank.
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Entschuldigen Sie, Herr Kollege Peterka, ich war noch gerade bei einer anderen Frage. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Florian Post.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Peterka, ich weiß nicht, wovor Sie Angst haben. Mark Twain hat mal gesagt: „Das Recht auf Dummheit gehört zur Garantie der freien Entfaltung der Persönlichkeit.“ Auch Ihnen wird dieses Recht mit Sicherheit nicht beschnitten werden.
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Wir können ja jeden Tag im Internet sehen und verfolgen, was dort Trolle, die ich Ihrer politischen Richtung zuordnen möchte, von sich geben. Dieses Recht bleibt unbeschnitten. Aber es gibt natürlich Grenzen, es werden rote Linien aufgezeigt, und das ist auch gut so.
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Wir haben das NetzDG verabschiedet, um ein höheres Maß an Transparenz bei den sozialen Netzwerken zu schaffen, Hasskriminalität zu bekämpfen
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und Opfer von diesen Straftaten bei der Durchsetzung ihrer Rechte zu stärken.
Befürchtungen, dass ein sogenanntes Overblocking stattfinden würde bzw. dass die Plattformbetreiber lieber zu viel als zu wenig löschen würden, haben sich nicht bestätigt.
Natürlich sehen auch wir in der Koalition weiter Entwicklungspotenzial. Auch der Antrag der Grünen leistet hier einen wichtigen Beitrag. In Ihrem Antrag sind sehr wohl sehr sinnvolle Punkte enthalten, die wir genauso sehen. Aber, Frau Rößner, den Vorwurf, dass wir uns einer Weiterentwicklung verweigern, möchte ich entschieden zurückweisen. Wir sprechen ganz explizit eine Verbesserung der Meldewege für die Nutzer und eine Stärkung der Nutzerrechte durch eine Pflicht zur Wiedereinstellung bei zu Unrecht gelöschten Inhalten an. All das dient, glaube ich, der Weiterentwicklung dieses Gesetzes und geht in dieselbe Richtung, auf die Ihr Antrag zielt.
Ich möchte mich auch ausdrücklich beim Bundesministerium der Justiz, namentlich bei unserer Bundesministerin Christine Lambrecht, bedanken, die hier mit hohem Engagement vorangeht. Das zeigt auch das zusammen mit dem Bundesinnenminister vorgelegte Maßnahmenpaket zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität.
All diese Initiativen zeugen davon, dass wir das Vorhaben sehr ernst nehmen, und ich finde, wir sollten jetzt noch die wirklich wenigen Wochen bis zum Beginn des neuen Jahres – wir haben jetzt noch eine Sitzungswoche im alten Jahr – nutzen. Im neuen Jahr sollten dann ganz konkrete Vorschläge vorgelegt werden.
In diesem Zusammenhang freuen wir uns natürlich und können es auch von unserer Seite zusagen – ich glaube, dass ich da auch im Namen des Koalitionspartners sprechen darf –, dass wir die Vorschläge der Kolleginnen und Kollegen der Grünen mit beraten werden.
Wie gesagt – ich wiederhole mich –, wir sollten uns jetzt noch diese wenigen Wochen Zeit nehmen, um dann auch wirklich etwas sehr Konstruktives, Positives und vor allen Dingen Zielführendes zu verabschieden.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Florian Post. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Stephan Thomae.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen! Verehrte Kollegen! § 62 Absatz 2 unserer Geschäftsordnung sagt: Wenn eine Vorlage länger als zehn Wochen in einem Ausschuss ruht und nicht beraten bzw. behandelt wird, dann kann die antragstellende Fraktion vom Ausschussvorsitzenden einen Sachstandsbericht verlangen und auch verlangen, dass dieser Bericht im Plenum des Deutschen Bundestages beraten wird.
({0})
Das Bürgerrechtsstärkungsgesetz der FDP-Fraktion ist nicht etwa seit 10 Wochen im Rechtsausschuss unberaten, sondern seit mehr als 100 Wochen,
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nämlich auf den Tag genau seit zwei Jahren.
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Seit dem 12. Dezember 2017, als dieser Gesetzentwurf hier im Plenum beraten worden ist, liegt er im Rechtsausschuss und wird nicht beraten. Er wird von Woche zu Woche geschoben. Das ist ein unhaltbarer Zustand, meine Damen und Herren.
({3})
Denn es geht bei dem Gesetzentwurf nicht etwa um Nichtigkeiten. Ein Teil des Gesetzentwurfes betrifft die Abschaffung der globalen, flächendeckenden, anlasslosen Vorratsdatenspeicherung.
Nun weiß ich, dass viele hier im Haus diese Vorratsdatenspeicherung für ein unverzichtbares Instrument der Verbrechensbekämpfung und ‑aufklärung halten.
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Nur, drei Entscheidungen – des Bundesverfassungsgerichtes und des Europäischen Gerichtshofes, von 2010, 2014 und 2016 – sagen ganz klar, dass eine anlasslose globale Vorratsdatenspeicherung nun einmal verfassungswidrig und europarechtswidrig ist.
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Dann müssen Sie sich eben einmal überlegen, wie Sie das Thema regeln wollen.
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Das zweite Thema ist das Netzwerkdurchsetzungsgesetz, in dem verlangt wird, dass Äußerungen im Netz, die wir alle ablehnen – Hate Speech, Hassreden –, von den Anbietern der Internetforen innerhalb kurzer Frist gelöscht werden müssen. Nun sind das ja manchmal wirklich schwierige Fragen der Abwägung, wann eine Äußerung noch von der Meinungsfreiheit, einem wirklich wesentlichen Grundrecht, gedeckt ist und wann nicht mehr. Solche Fragen, die auch von Gerichten manchmal nur schwer geklärt werden können, kann man nicht einfach auslagern an private amerikanische Internetunternehmen. Diese Klärung kann man nicht privatisieren.
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Solche wichtigen Fragen kann man nicht einfach über 100 Wochen, auf den Tag genau zwei Jahre, unbehandelt im Rechtsausschuss liegen lassen!
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Wir erwarten von den Regierungsfraktionen, dass sie diese Vorlagen, die heute hier auch beraten werden, endlich im Rechtsausschuss auf die Tagesordnung setzen, damit sie dort beraten werden können und eine Beschlussempfehlung für den Deutschen Bundestag abgegeben wird.
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Vielen Dank, Stephan Thomae. – Nächster Redner in der Debatte für die Fraktion Die Linke: Niema Movassat.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir als Linke wollen das Netzwerkdurchsetzungsgesetz, kurz NetzDG, teilweise aufheben. Einen Gesetzentwurf dazu haben wir vor exakt zwei Jahren eingebracht. Aber seit vielen Monaten verhindern CDU/CSU und SPD, dass wir über Gesetzentwürfe zum NetzDG im Rechtsausschuss abstimmen.
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Die Begründung ist, dass Sie erst abwarten wollen, bis die Bundesregierung einen eigenen Entwurf zur Überarbeitung des NetzDG vorlegt.
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Es ist zwar durchaus üblich, ähnliche Gesetzentwürfe gemeinsam im Bundestag zu behandeln. Allerdings gibt es keine Ähnlichkeit zwischen dem, was wir wollen, und dem, was die Bundesregierung will.
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Denn die Bundesregierung will das NetzDG erweitern. Wir wollen es weitgehend aufheben.
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Weil es nicht einmal im Ansatz inhaltliche Gemeinsamkeit gibt, spricht sachlich nichts dagegen, den Gesetzentwurf der Linken und alle anderen Gesetzentwürfe zum NetzDG endlich im Rechtsausschuss zu behandeln und darüber abzustimmen. Ihre Begründung für die ständige Verschiebung der Behandlung der Gesetzentwürfe der Opposition zum NetzDG ist schlicht absurd.
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Klar ist, dass die Bekämpfung von Hate Speech, also von Hass und Hetze im Internet, wichtig ist. Sie darf jedoch nicht, wie durch das NetzDG geschehen, zu einer Privatisierung der Rechtsdurchsetzung führen, indem die Verantwortlichkeit für das Erkennen und Entfernen von strafbaren Inhalten an private Konzerne wie Facebook delegiert wird. Denn Rechtsdurchsetzung ist staatliche Aufgabe.
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Unser Gesetzentwurf streicht die schädlichen Teile des NetzDG und erhält seine sinnvollen Bestandteile wie die Benennung eines Ansprechpartners mit einer zustellfähigen Anschrift sowie die Regeln zum Berichts- und Beschwerdeprozess. Wir wollen nur die Teile des NetzDG streichen, bei denen die Gefahr besteht, dass es zu einem Overblocking kommt.
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Denn ein Overblocking, also eine übermäßige Löschung von Beiträgen, würde die Meinungsfreiheit verletzen.
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Ich will kurz noch etwas zu der geplanten Verschärfung des NetzDG durch die Bundesregierung sagen. Laut Medienberichten will das Justizministerium eine Regelung schaffen, nach der Facebook, Twitter und Co eine Vielzahl von strafbaren Inhalten an das Bundeskriminalamt melden müssen. Das klingt zwar erst einmal nicht schlecht; es ist immer besser, Straftaten werden verfolgt, als dass Hass-Postings, wie es beim NetzDG bisher der Fall ist, einfach gelöscht werden. Das erste Problem ist aber, dass es so unfassbar viele strafbare Inhalte in den sozialen Medien gibt, dass vermutlich die schon jetzt völlig überlasteten Staatsanwaltschaften der Vielzahl von Meldungen gar nicht nachkommen werden können. Am Ende bleibt dann nur eine massenhafte Datenspeicherung beim BKA, bei der keiner weiß, was mit diesen Daten geschieht. Einer solchen Massendatenspeicherung wird Die Linke niemals zustimmen.
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Meine Damen und Herren, es ist an der Zeit, dass CDU/CSU und SPD ihren peinlichen Eiertanz beenden. Lassen Sie uns endlich über alle vorliegenden Gesetzentwürfe zum NetzDG abstimmen! Lassen Sie uns vor allem über die gesellschaftlichen Ursachen von Hass und Hetze im Internet sprechen und diese gesellschaftlichen Ursachen bekämpfen, statt mit zweifelhaften rechtspolitischen Mitteln Symptome zu bekämpfen.
Danke schön.
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Vielen Dank, Niema Movassat. – Nächster Redner: Alexander Hoffmann für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Bei der Frage „Wie aktiv geht diese Regierungskoalition mit dem Thema Netzwerkdurchsetzungsgesetz um?“ lohnt sich ein Blick in die Chronologie dieses Gesetzes. Wir haben dieses Gesetz in der letzten Legislaturperiode auf die Schiene gesetzt, und wir haben immer gesagt: Das ist für uns das letzte Mittel; das letzte Mittel deshalb, weil Gespräche mit Facebook, YouTube und Co einfach nicht, trotz wiederholten Stattfindens, den gewünschten Erfolg gebracht haben – immer nur freundliches Lächeln, freundliche Sätze, aber keinerlei Ergebnisse.
Ich empfehle Ihnen – gerade denjenigen, die meinen, man müsse dieses Gesetz wieder abschaffen –: Unterhalten Sie sich einmal mit einem Betroffenen! Mir hat vor 14 Tagen ein Familienvater berichtet, dass er über Monate hinweg versucht hat, verleumderische Inhalte auf YouTube löschen zu lassen. Seine Wortwahl war interessant, er hat gesagt: Ich habe über Monate hinweg YouTube angefleht – „angefleht“ war die Wortwahl –, diese Inhalte herauszunehmen, auch im Interesse meiner Familie, und es ist nichts passiert.
Heute, in der Rückschau, glaube ich: Unsere Entscheidung, die wir uns nicht leicht gemacht haben, ist richtig gewesen.
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Wir haben es uns allein deshalb schon nicht leicht gemacht, weil wir von Anfang an gesagt haben: Das ist ein komplexes Thema, das ist Neuland, es geht auch um Meinungsfreiheit, und deswegen vereinbaren wir eine Evaluierung.
Bei der Opposition war es aber so, ehrlich betrachtet, dass Sie ab dem ersten Tag an diesem Gesetz kein gutes Haar gelassen haben.
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Bevor die ersten Ergebnisse der Evaluation überhaupt auf den Tisch gekommen sind, kamen Anträge auf sofortige Abschaffung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes.
Und dann kam es doch, im Mai 2019, zu einer, wie ich finde, sehr bemerkenswerten Anhörung. Diese Anhörung war allein schon deswegen bemerkenswert, weil da zeitweise bestimmte Fraktionen der Opposition gar nicht vertreten waren.
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Sie war aber vor allem auch deswegen bemerkenswert, weil alle Sachverständigen, bis auf einen, dem Grunde nach sagten: Der Schritt zum Netzwerkdurchsetzungsgesetz ist der richtige. Es mag sein, dass in diesem Gesetz nicht alles richtig ist. Aber es ist wichtig, dass es solche Regelungen gibt.
Bemerkenswert war auch, dass zutage gefördert wurde: Das, was Sie prophezeit haben, nämlich dass das Netzwerkdurchsetzungsgesetz das Ende der Meinungsfreiheit im Netz sei – das war doch die Originalaussage –, dass es zu Overblocking kommen wird, all das ist nicht eingetreten.
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Es hat – das will ich ehrlicherweise sagen, auch positiv in Ihre Richtung – bei Ihnen ja ein Lernprozess stattgefunden. Der Kollege Müller hat kritisch angemerkt, dass Sie sicher im Lauf der Zeit noch mehr hätten zugeben können und auch mehr hätten lernen können. Aber gestern war es zum Beispiel so, dass ein Vertreter der AfD im Ausschuss sogar erklärt hat, dass man eben nicht mehr für eine völlige Abschaffung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes ist.
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Deswegen muss man, liebe Kolleginnen und Kollegen, im Ergebnis sagen, dass wir zwar Neuland betreten haben
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– Sie waren gestern nicht dabei, als der Kollege Brandner das gesagt hat –, aber wir alle haben Erfahrungen sammeln können, und die ursprüngliche Idee war die richtige. Hätten wir Ihren Intentionen am Anfang Folge geleistet, wären das jeweils übereilte Entscheidungen gewesen. Wenn wir heute zurückschauen, ist es, glaube ich, richtig, dass wir Qualität vor Eile stellen. Es geht in der Tat um wichtige Rechtsgüter wie Meinungsfreiheit.
Kollege Müller hat es vorhin skizziert: Bereits in den nächsten Wochen werden wir unsere Vorschläge ins parlamentarische Verfahren einbringen. Wir werden das zudem um umfassende Maßnahmen zur Bekämpfung von Hassreden im Netz ergänzen.
Wir müssen uns auch um das StGB Gedanken machen. Da gibt es gute Vorschläge aus Bayern. Wir müssen einfach konstatieren, dass es etwas anderes ist, ob es zu Beleidigungen, übler Nachrede und Verleumdungen vor sechs Personen in der analogen Welt oder eben im Internet kommt. Deswegen glaube ich, dass wir uns Zeit für diese Lösungen nehmen sollten, und es gibt eigentlich überhaupt keinen Grund für diese Aufregung.
Ich glaube, dass das, was wir hier vorhaben – und das meine ich auch fraktionsübergreifend –, ein wichtiges gesellschaftspolitisches Projekt ist, weil die Gesetze am Ende darüber entscheiden, welche Gesellschaft wir in der analogen Welt haben und welche Gesellschaft wir in der digitalen Welt haben. Das ist unsere Verantwortung, und lassen Sie uns das bitte gemeinsam gestalten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Alexander Hoffmann. – Ich komme zum letzten Redner in dieser Debatte: Dr. Jens Zimmermann für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unsere Demokratie und unser Rechtsstaat brauchen Regeln. Wir haben heute hier auch bei dieser Debatte ganz klargemacht, dass wir als Deutscher Bundestag auch Regeln haben; die sind gut und richtig. Dafür haben wir eine Geschäftsordnung, und deswegen haben wir heute auch diese Debatte. Ich glaube, das ist ein wichtiges Thema, und diese Regeln stehen allen zu.
Es ist gut, dass wir hier mal wieder über das Netzwerkdurchsetzungsgesetz reden; denn das Netzwerkdurchsetzungsgesetz ist eben auch ein Gesetz, das Regeln für die Kommunikation im Internet vorgibt, und – das ist in der Debatte schon gesagt worden – es ist ein Gesetz, das auch international Signalwirkung entfaltet hat.
Was wir als Koalition schon zu Beginn gesagt und im Koalitionsvertrag festgeschrieben haben, ist, dass wir das Netzwerkdurchsetzungsgesetz weiterentwickeln wollen, und das sind wir auch angegangen. Es ist eben auch schon gesagt worden: Die Bundesregierung arbeitet an dieser Weiterentwicklung.
Ich will aber doch auch mal in die Historie schauen: In der vergangenen Wahlperiode hätte der Antrag der Kolleginnen und Kollegen von den Grünen wahrscheinlich noch einen ganz anderen Titel getragen. Der hätte dann wahrscheinlich „NetzDG verhindern“ geheißen. So erinnere ich mich zumindest an die Diskussion aus der letzten Wahlperiode; ich kann mich sehr gut daran erinnern, was der Kollege Konstantin von Notz hier vorne alles erzählt hat.
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Wenn ich mir Gedanken darüber mache, wie der Antrag vonseiten der FDP damals wahrscheinlich gelautet hätte, dann wäre es wahrscheinlich „Bedenken second“ gewesen, und wenn man sich den vorliegenden Antrag der Linken anschaut, der wirklich sehr, sehr dünn ist, dann scheint mir dieser Antrag den Titel „Sorry, es war Anfang der Legislaturperiode, und wir wollten halt auch noch was präsentieren“ zu tragen. Das gehört eben zu dieser Debatte auch mit dazu.
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Nichtsdestotrotz ist eine Sache doch ganz klar – und das zeigt die Bandbreite der Anträge der Opposition –: Es ist notwendig, über das Netzwerkdurchsetzungsgesetz zu diskutieren und es weiterzuentwickeln.
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Wir haben klare Vorschläge gemacht.
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Wir wollen zum Beispiel eine Schärfung bei den Vorgaben für den Zustellungsbevollmächtigten, wir wollen den Beschwerdemanagementprozess deutlich stärker definieren, weil wir genau wissen, dass einige Unternehmen das besser machen als andere, und wir wollen auch die Chancen zur regulierten Selbstregulierung weiterentwickeln.
All das sind Themen, die diskutiert werden und die die Bundesjustizministerin auch bereits am Mittwoch in der Fragestunde angesprochen hat. Deswegen: Es ist gut, dass wir diese Diskussion geführt haben. Ich glaube aber, die Aufregung ist ein wenig übertrieben, weil wir zu Beginn des nächsten Jahres zu einer Lösung kommen werden, wie wir das Netzwerkdurchsetzungsgesetz weiterentwickeln.
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Vielen Dank, Dr. Zimmermann. – Ich bitte jetzt um Ihre Aufmerksamkeit. – Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Kollege Thomae.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Da wir es hier mit Vorlagen zu tun haben, die schon sehr, sehr lange im Ausschuss ruhen, stelle ich hiermit gemäß § 62 Absatz 2 unserer Geschäftsordnung den Antrag, dass der Deutsche Bundestag beschließen möge, den Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz aufzufordern, bis längstens 31. Januar 2020 zu den hier debattierten vier Vorlagen eine Beschlussempfehlung an das Plenum abzugeben.
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Gut; der Antrag hat sich hier oben schon angedeutet. – Wir haben jetzt folgenden Vorschlag zum Verfahren: Herr Dr. Buschmann darf ihn begründen, und die Fraktionen, die sich dazu äußern wollen – positiv oder negativ –, haben drei Minuten lang die Möglichkeit dazu.
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– So wird es jetzt gemacht.
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Zuallererst hat gleich Dr. Buschmann das Wort
Und bitte sagen Sie uns, welche Fraktionen sich maximal drei Minuten dazu äußern wollen. Danach stimmen wir über den Geschäftsordnungsantrag der Fraktion der FDP ab. – Herr Dr. Buschmann.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag ist erforderlich, weil seit über zwei Jahren Arbeitsverweigerung stattfindet. Das kann sich der Deutsche Bundestag nicht gefallen lassen.
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Erstens. Demokratie heißt Transparenz. Man braucht eine Meinung. Man kann eine andere Meinung haben, aber man muss der Öffentlichkeit klar sagen, was man will, und darf sich nicht wegducken.
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Zweitens. Der Antrag ist zulässig. Die Kommentierung besagt eindeutig, dass es einer Fraktion auch erlaubt sein muss, Verfahrensanträge zum Umgang mit Vorlagen zu stellen; denn sonst passiert das, was Sie vorhaben, dass Sie das Vorhaben nämlich auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben.
Drittens. Wenn es so ist, wie Sie hier sagen, dass Sie Anfang des kommenden Jahres, im Januar, Ihr Konzept vorlegen wollen, dann kann Ihnen der Antrag ja gar nicht wehtun, weil wir nichts anderes verlangen, als eine Meinungsbildung bis Ende Januar des kommenden Jahres herbeizuführen. Wenn Sie hier die Wahrheit gesagt haben, dann müssen Sie dem Antrag zustimmen.
Herzlichen Dank.
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Wir sammeln jetzt gerade noch die Namen der Kollegen und Kolleginnen, die sich beteiligen wollen. – Wir fangen an mit der CDU/CSU. Herr Schnieder, drei Minuten!
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Hier geht es nicht um Arbeitsverweigerung – jedenfalls nicht in Bezug auf die Frage, ob wir uns damit auseinandersetzen und etwas vorlegen wollen. Arbeitsverweigerung hat aber offensichtlich in der Debatte stattgefunden; denn die Gründe dafür, warum wir noch etwas Zeit brauchen, sind ausführlich dargelegt worden. Uns geht es um Sorgfalt, uns geht es darum, dass wir das auf einer breiten Ebene diskutieren.
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Der Referentenentwurf befindet sich schon in der Ressortabstimmung. Es wäre nicht sinnvoll, wenn wir das nicht noch mit ausschöpfen könnten. Deshalb: Wir werden das in Kürze – in absehbarer Zeit – ausführlich beraten und eine Beschlussempfehlung vorlegen.
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Deshalb brauchen wir diese Fristsetzung überhaupt nicht, und wir werden den Antrag deswegen ablehnen.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Jetzt hat das Wort der Kollege Peterka für die AfD-Fraktion.
Vielen Dank. – Natürlich ist der Antrag zu begrüßen, und es war auch bezeichnend, dass ich hier, als ich vorhin mit der Kritik an der Geschäftsordnung ein bisschen länger ausgeholt habe, von der linken Seite komplett und unsäglich angegangen wurde.
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– Ja, man muss das auch mal sagen, weil man im Fernsehen gar nicht hört, was Sie hier immer reinrufen.
Also, wie gesagt: Die Hälfte der Redner hat hier gar nicht den Punkt getroffen.
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Es geht nämlich nicht darum, ob man für das Gesetz ist oder nicht, sondern es geht darum, dass hier seit Monaten – bis hin zu zwei Jahren – im federführenden Ausschuss Anträge von der Tagesordnung gestimmt werden – und immer mit der Begründung: Wir brauchen noch mehr Zeit.
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Bei einem Antrag auf völlige Abschaffung trifft es auch den Punkt nicht, wenn man sagt: Wir legen ja bald eine Reform vor. – Das hat gar nichts damit zu tun, wenn die andere Seite das sowieso abschaffen will, und das wurde hier wieder nur verschleiert.
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– Ich sehe schon: Bei Ihnen kann ich da wohl nicht mehr durchdringen.
Der Punkt ist: Wir wollen das Gesetz abschaffen.
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– Der Herr Brandner hat genau das gesagt, was ich vorhin auch gesagt habe.
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Im TMG wollen wir wichtige Teile aufrechterhalten. Definition der sozialen Plattformen, Zustellungsbevollmächtigter: Das wollen wir aufrechterhalten; da haben wir gelernt. Aber das war nur ein ganz kleiner Teil des ganzen Gesetzes.
Der restliche Ansatz ist kompletter Schwachsinn. Deswegen verfolgen wir die Linie weiter: Weg damit!
Vielen Dank.
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Wir sind übrigens in einer Geschäftsordnungsdebatte über den Antrag der Fraktion der FDP. Dazu hat jetzt das Wort Dr. Fechner für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch wir lehnen diesen Antrag ab. Es wie der Vorredner als kompletten Schwachsinn zu bezeichnen, dass wir dafür sorgen wollen,
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dass Hass und Hetze im Internet nicht mehr in diesem ekelhaften Ausmaß vorhanden sind, das kann ja wohl nicht wahr sein, Herr Kollege.
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Jetzt wirft uns die FDP hier Arbeitsverweigerung vor
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oder dass wir die Oppositionsrechte beschneiden würden,
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dass wir Sie am Gestalten hindern. Dagegen hätte es ein ganz einfaches Mittel gegeben: Hätten Sie sich nicht vor der Verantwortung gedrückt,
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wären Sie in die Regierung gegangen, dann hätten Sie die Vorstellungen, die Sie haben, längst umsetzen können.
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Das, was Sie betrieben haben, ist Arbeitsverweigerung.
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Dass Sie hier nur mit zehn Leuten auflaufen, spricht ja für sich; aber okay.
Ich glaube, wir sollten uns Zeit lassen.
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Deswegen ist es richtig, dass wir hier in aller Ruhe dieses wichtige Gesetz beraten. Wir haben ganz im Ernst schlimme Anschläge, schlimme Straftaten erleben müssen, und oft war die Ursache, dass sich die Täter im Netz radikalisiert haben. Deswegen ist es wichtig, dass wir verhindern, dass sich Leute über das Netz radikalisieren und dann irgendwann auch zur Tat schreiten.
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Deswegen müssen wir uns in aller Ruhe das NetzDG anschauen, uns mit Fachverbänden unterhalten, uns mit den Ländern austauschen, mit der Polizei, mit Verbänden und Organisationen, die sich hier gut auskennen, um zu einer guten Lösung zu kommen.
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Das wird zu Beginn des nächsten Jahres kommen; darauf können Sie sich verlassen.
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Ich habe den Eindruck, dass Sie den Vergleich scheuen. Offensichtlich wissen Sie genau, dass wir einen guten Entwurf, der besser ist als Ihrer, präsentieren werden. Deswegen haben Sie jetzt hier diesen Geschäftsordnungsantrag gestellt. Das machen wir nicht mit, das werden wir ablehnen, weil wir ein gutes Gesetz wollen, und das braucht dann eben noch die eine oder andere Woche Vorbereitung.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Fechner. – Für Die Linke hat Niema Movassat das Wort – zur Geschäftsordnung.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir werden dem Geschäftsordnungsantrag der FDP zustimmen.
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Wenn der Rechtsausschuss nicht in der Lage ist,
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über vom Plenum überwiesene Gesetzentwürfe abzustimmen, dann muss das Plenum eine Entscheidung darüber treffen, bis wann der Rechtsausschuss endlich abzustimmen hat. Der 31. Januar nächsten Jahres ist ein gutes Datum,
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ist ein Datum, bei dem noch genug Zeit für Beratung ist.
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Dann wurde gerade von Herrn Fechner gesagt: Wir wollen noch in Ruhe Experten hören. – Wir haben eine Expertenanhörung gehabt zu den Gesetzentwürfen der Opposition.
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Die Experten wurden angehört. Die Gesetzentwürfe sind entscheidungsreif.
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Also, das immer weiter hinauszuschieben, ist pure Hinhaltetaktik.
Seit über 100 Wochen sind die Gesetzentwürfe auf dem Tisch.
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Sie haben doch hier in der Debatte deutlich gemacht, dass Sie die Gesetzentwürfe ablehnen. Ja, dann stimmen Sie doch dagegen, wenn Sie das meinen. Aber die ganze Zeit eine Hinhaltetaktik zu betreiben, ist völlig unverständlich und völlig inakzeptabel.
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Und dann hier in der Debatte noch zu erzählen: „Es gibt kein Overblocking“,
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setzt dem wirklich die Krone auf.
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„Reporter ohne Grenzen“ hat schon letztes Jahr gesagt: Es gibt die Gefahr von Overblocking; es gibt reale Fälle. – Deshalb gehört das NetzDG in weiten Teilen abgeschafft.
Danke schön.
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Vielen Dank, Kollege Movassat. – Die letzte Kollegin zur Geschäftsordnung für Bündnis 90/Die Grünen ist Renate Künast.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
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Also, ich muss mal den Koalitionsfraktionen sagen: Irgendwie klingelt es mir in den Ohren, wenn ich höre, mit welcher Begründung Sie immer wieder das „Und jetzt machen wir es sorgfältig“ erfinden.
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– Nehmen Sie es ruhig spaßig!
Wir sind ja nicht blöd. Wir wissen, wie sorgfältig diese Dinge passieren. Das ganze Netzwerkdurchsetzungsgesetz wurde im Jahr 2017 mit Tempo durchgezogen – unter Leiden von vielen CDU/CSU-Abgeordneten, die das so nicht wollten; ich erinnere mich. Es hat von Anfang an Fehler gehabt,
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die wir jetzt, zwei Jahre später, immer noch in unserem Antrag, um den es hier geht, verbessern wollen; das wollen die anderen Fraktionen auch.
Ich weiß gar nicht, was Sie da noch in Ruhe beraten wollen.
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Die Anhörung ist schon Monate her. Sie hätten doch hin und wieder mal einen Abend finden können, um die Anhörung auszuwerten. Sie machen hier eines: Für meine Begriffe höhlen Sie systematisch die Rechte der Opposition aus, indem Sie, weil Sie so langsam sind und nie zueinanderfinden oder sich nicht entscheiden können, unsere Anträge in die Unendlichkeit vertagen. Das ist nicht akzeptabel.
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Es ist wirklich nicht parlamentarischer Brauch, an der Stelle zu vertagen und zu vertagen, um dann, wenn Sie Ihren Koalitionsausschuss überlebt haben, zu sagen: Zack, zack! Nächste Woche Anhörung, zwei Tage später möglichst unter Fristverzicht,
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ohne die Anhörung auswerten zu können, dann das Gesetz machen.
Nein, meine Damen und Herren! Der Kollege von der CDU hat es vorgeschlagen. Sie haben gesagt, Sie seien da schon weiter, wir sollten uns Ihrem Tempo anschließen. Ich für meinen Teil habe nicht vor, Schneckenrennen zu verlieren.
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Deshalb werde ich mich Ihrem Tempo auch nicht anschließen.
Wir haben keine Zeit, meine Damen und Herren. Es ist durchaus ein Minderheitenrecht, solche Dinge irgendwann zu Ende zu beraten. Wir haben keine Zeit. Warum? Weil das Netzwerkdurchsetzungsgesetz Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrechte gegenüberstellt, übrigens auch, wenn es zum Beispiel um Put-back-Verfahren geht. Da haben Sie eine Verpflichtung, die Grundrechte der Menschen zu wahren und nicht auf dieser ganzen Geschichte sitzen zu bleiben.
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Davon unabhängig ist die Frage der Bekämpfung von Rechtsextremismus.
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Da sage ich Ihnen schon mal vorab: Das müssen wir später auch in Ruhe beraten, und nicht „Zack, zack!“. Sonst werden Sie sich später wieder beklagen. Ich bin ja froh, dass Sie gemerkt haben, dass wir beim Rechtsextremismus ein Problem haben – spät genug, und die Straftaten waren hart genug. Das ändert aber nichts daran, dass dieser Teil der Gesetze jetzt endlich beraten und abgeschlossen werden muss.
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Deswegen schließen wir uns dem Antrag an.
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