Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vielen Dank für die Gelegenheit, Ihnen den aktuellen Sachstand einiger weniger Punkte meines Ressortbereichs darzustellen. Ich möchte insbesondere kurz auf das Maßnahmenpaket gegen rechts eingehen.
Die Bundesregierung hat Ende Oktober ein Eckpunktepapier gegen Hass und Hetze und gegen sich immer breiter machende Bedrohungslagen beschlossen, aber auch gegen die Versuche, Menschen mundtot zu machen. Insbesondere bei Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitikern drückt sich das mittlerweile sehr bedrohlich aus, auch für die Demokratie. Deswegen haben wir dieses Maßnahmenpaket als Eckpunktepapier beschlossen. Die Fragen, für die mein Ressort zuständig ist, habe ich mittlerweile in einem Referentenentwurf zusammengefasst. Gestern habe ich die Ressortabstimmung eingeleitet. Ein wesentlicher Punkt dieses Paketes bezüglich meines Ressorts ist die Meldepflicht für Provider. In Zukunft können Inhalte, die als löschenswürdig oder sperrenswürdig eingeordnet wurden und gemeldet wurden, bei einer Zentralstelle des BKA gemeldet werden, damit der Verfolgungsdruck entsprechend aufgebaut werden kann und nicht nur gesperrt oder gelöscht wird, sondern dass dem entsprechend nachgegangen werden kann. Diese Regelung werden wir im NetzDG schärfen, damit nicht nur gesperrt, sondern auch gelöscht wird.
Darüber hinaus habe ich einen Vorschlag unterbreitet, dass Beleidigungen im öffentlichen Raum strafrechtlich besonders gewürdigt werden. Das ist eine Entwicklung, die uns alle sehr betroffen macht. Eine Beleidigung ruft offensichtlich andere dazu auf, noch widerlicher, noch schärfer zu beleidigen. Es gibt also eine Spirale. Es ist ein Unterschied zwischen einer Beleidigung in einem geschlossenen Raum, vielleicht in irgendeiner Kneipe, und einer Beleidigung in einem öffentlichen Raum, nämlich im Internet. Das wollen wir strafschärfend stellen. Dafür ist § 185 StGB vorgesehen. Wir wollen Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker unter den besonderen Schutz des § 188 StGB stellen, indem wir klarstellen, dass politisches Leben bis in die kommunalpolitische Ebene hineinreicht. Das wurde in der Rechtsprechung bisher nicht so gesehen. Deswegen war diese Klarstellung notwendig.
Das sind nur einige wenige Punkte, die ich einführend nennen möchte. Ich möchte Sie aber auch über einen Sachverhalt in Kenntnis setzen, den wir heute im Kabinett zum Gegenstand hatten. Ich kann Ihnen mitteilen, dass das Bundeskabinett heute meinem Vorschlag zugestimmt hat, dass wir Thomas-Cook-Kunden nicht im Regen stehen lassen wollen. Die Kunden haben zu Recht darauf vertraut, dass durch die Sicherungsscheine ihre Anzahlung gegen eine Insolvenz des Reiseveranstalters abgesichert ist.
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Es war nicht vorhersehbar, dass die Höhe des Versicherungsschutzes nicht ausreichend ist. Es ist streitig, ob die Höhe der Haftungssumme, die der Kundenversicherer ansetzt, um auszugleichen, richtig berechnet ist. Es stellt sich beispielsweise die Frage, ob die Kosten für die Rückholung von Urlauberinnen und Urlaubern on top zu den 110 Millionen Euro kommen oder ob sie darin enthalten sind. Wir als BMJV vertreten die Meinung, dass sie zusätzlich zu den 110 Millionen Euro gerechnet werden müssen. Darüber hinaus ist auch noch streitig, ob es beispielsweise Ansprüche gegenüber andere Beteiligte gibt.
Mit diesen offenen Rechtsfragen und auch mit dieser unsicheren Situation wollen wir die Kundinnen und Kunden, die Reisenden, nicht alleine, nicht im Regen stehen lassen, sondern wir wollen als Staat diese Ansprüche vertreten und geltend machen. Wir erwarten aber auch, dass die Reisenden ihre Ansprüche wiederum an den Staat abtreten. So können wir eine Klageflut vermeiden, die ein nicht kalkulierbares Prozesskostenrisiko mit sich bringt. Das wollen wir vermeiden, um den Schaden für den Steuerzahler so gering wie möglich zu halten.
Ich kann Ihnen ankündigen, dass wir im BMJV mit Hochdruck daran arbeiten, zu klären, wie wir die Umsetzung der EU-Reiserichtlinie entsprechend ausgestalten, damit solche Fälle in Zukunft durch den Schutz über eine Versicherung oder eine Fondslösung oder auch beides – dies beraten wir derzeit unter Hochdruck – abgewendet werden können.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Bundesministerin. – Die erste Frage stellt der Kollege Dr. Lothar Maier, AfD.
Frau Bundesministerin, bei den sogenannten Dauerschuldverhältnissen, Telefon-, Strom- und Wasserlieferverträgen und dergleichen, gilt es allgemein als eine Bringschuld dessen, der die Leistung erbringt, dass er dem Kunden eine Rechnung zur Verfügung stellt, und zwar in der vom Kunden gewünschten Form, also entweder in Papierform oder online. Es ist aber nun so, dass immer mehr Unternehmen dazu übergehen, die Papierform nicht mehr anzubieten; es geht nur noch online. Das bringt erstens diejenigen in Schwierigkeiten, die keine E-Mail-Adresse haben, und das bereitet zweitens auch denen Probleme, die zwar eine E-Mail-Adresse haben, sie aber nicht zur Verfügung stellen wollen, weil sie befürchten, sonst mit Werbung zugemüllt zu werden. Die Telekom geht sogar so weit, zu verlangen, dass man ihre Geschäfte aufsucht, um dort die Rechnung einzusehen. Wie sehen Sie diese Entwicklung, die ja fast auf die Verweigerung einer ordnungsgemäßen Rechnungslegung hinausläuft?
Vielen Dank für die Frage. – Wie Sie wahrscheinlich mitbekommen haben, ist es mir ein ganz großes Anliegen, dass Verträge, insbesondere solche Dauerschuldverhältnisse, in der Zukunft verbraucherfreundlicher ausgestaltet werden. Mir ist es ein ganz großes Anliegen, dass insbesondere der Vertragsabschluss bei wesentlichen Verträgen wie Stromlieferverträgen in Zukunft noch bestätigt werden muss, wenn er beispielsweise durch eine Telefonanbahnung zustande gekommen ist. Das zeigt, dass ich ein großes Interesse daran habe, diesen Bereich der Verbraucherschutzpolitik sehr genau zu überarbeiten.
Ich habe dazu einen Vorschlag unterbreitet. Ich nehme Ihre Anregung, sehr gerne mit, zu prüfen, ob wir hier die Interessen der Verbraucherinnen und Verbraucher ausreichend berücksichtigt haben. Denn es darf nicht dazu kommen, dass Verbraucherinnen und Verbraucher beispielsweise durch telefonische Verträge überrumpelt werden. Sie müssen die Möglichkeit haben, Verträge bzw. Rechnungen dann auch nachzuvollziehen. Ich nehme die Anregung daher gerne mit.
Möchten Sie eine Nachfrage stellen, Herr Maier?
Ja, die Nachfrage ergibt sich aus dem, was Sie eben gesagt haben, Frau Ministerin.
Bitte, gerne.
Können wir damit rechnen, dass es in Kürze einen Gesetzentwurf dazu geben wird?
Es gibt mittlerweile einen Entwurf, den ich in die Ressortabstimmung gegeben habe; da wird er momentan beraten. Auf dieser Ebene sind wir, und sobald diese Abstimmung abgeschlossen ist, wird selbstverständlich unverzüglich das Parlament davon unterrichtet und hat dann die Möglichkeit, darüber ausgiebig zu beraten.
Danke sehr. – Die nächste Frage stellt die Kollegin Katharina Willkomm, FDP.
Sehr geehrte Frau Ministerin, Sie haben in den letzten Wochen der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ gesagt: „Die Mietpreisbremse wirkt und hält den Mietenanstieg auf.“ Der Immobiliendatenspezialist empirica regio hat jetzt errechnet, dass das für die deutschen Metropolen nicht stimmt. Die nicht als neoliberal verschriene „Zeit“ schreibt, die großen Erwartungen wurden enttäuscht, man könne keinen „gravierenden Einfluss der Reform auf die Preisentwicklung erkennen“. Ob Berlin, München oder Köln, die Mieten steigen nach der Einführung der Mietpreisbremse an. Fazit: Sie können Ihre These mit Fakten nicht belegen.
Angenommen, meine tatsachenbasierten Hinweise haben Sie jetzt nicht überzeugt: Warum wollen Sie die wirkungslose Mietpreisbremse verlängern und verschärfen, und wann können wir mit Ihrem entsprechenden Gesetzentwurf rechnen?
Frau Bundesminister.
Vielen Dank. – Ich kenne die von Ihnen genannten Gutachten nicht. Ich kenne aber ein Gutachten des DIW, das besagt, die Mietpreisbremse wirkt; wenn auch nur maßvoll, aber sie wirkt.
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Dieses Gutachten will ich nicht unbedingt in die allzu linke Ecke stellen. Es wird sicherlich sehr sachgerecht zustande gekommen sein.
Sie haben aber recht: Die Mietpreisbremse, so wie sie bisher ausgestaltet war, war durchaus verbesserungswürdig. Deswegen haben wir uns in der Koalition im Sommer darauf verständigt, dass wir die Mietpreisbremse verschärfen. Zum einen wird der Betrachtungszeitraum erweitert, zum anderen wird es in Zukunft die Möglichkeit geben, in der Vergangenheit zu viel gezahlte Miete zurückzufordern. Das war bei der bisherigen Mietpreisbremse nicht der Fall. Vermieter müssen nun damit rechnen, dass zu viel gezahlte Miete zurückverlangt wird. Das wird ein Anreiz für die Vermieter sein, solche Überforderungen dem Mieter in Zukunft nicht mehr anzulasten.
Danke sehr. – Nachfrage, Frau Willkomm?
Sehr geehrte Frau Ministerin, die Mietpreisbremse, zumindest hier in Berlin, zeigt keine Wirkung. Jetzt wollen Ihre Berliner Kollegen den Mietendeckel einführen. Im Innenministerium gibt es ein Gutachten, das aufzeigt: Dieser Mietendeckel ist verfassungswidrig. Ist der Mietendeckel aus Ihrer Sicht als Justizministerin verfassungswidrig, und wirken Sie als Ministerin darauf hin, dass die Bundesregierung als Verfassungsorgan ein abstraktes Normenkontrollverfahren durchführen lässt, sobald das Abgeordnetenhaus Berlin den Senatsentwurf beschlossen hat?
Ich muss Ihre erste These, dass die Mietpreisbremse nicht wirkt, zurückweisen. Sie wirkt.
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Sie wirkt umso mehr, als dass die Veränderungen, die Schärfungen, die wir im Sommer beschlossen haben, umgesetzt werden. Ich habe es schon ausgeführt: Dazu gehört beispielweise die Verlängerung des Berechnungszeitraums, und dazu gehört auch, dass in Zukunft zu viel verlangte Miete zurückgefordert werden kann. Die Mietpreisbremse wirkt, und sie wirkt immer besser. Das ist ein gutes Signal für Mieterinnen und Mieter.
Ich füge hinzu: Es ist gute Praxis – und ich halte mich an diese Praxis –, dass die Bundesregierung Gesetzesvorhaben aus den Ländern nicht kommentiert.
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Jetzt gibt es eine Nachfrage aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Kollege Kühn.
Frau Ministerin, danke für Ihre Ausführungen zur Mietpreisbremse. Auch wir von Bündnis 90/Die Grünen halten die Mietpreisbremse für ein adäquates Instrument, um den Mietenwahnsinn, den Mietenanstieg in den Städten abzubremsen. Das Problem dieses Instruments ist aber die Vielzahl der Ausnahmen. Beispielsweise gibt es eine Ausnahme bei möblierten Wohnungen. Durch die Möblierung einer Wohnung fällt diese nicht mehr unter die Mietpreisbremse. Viele Statistiken zeigen, dass gerade in großen Ballungsräumen die Möblierung von Wohnungen zugenommen hat, um die Mietpreisbremse zu umgehen. Wie stehen Sie als Bundesjustizministerin zur Möblierung von Wohnungen? Werden Sie in Ihrer Amtszeit eine Initiative starten, um der Möblierung sozusagen den Garaus zu machen? Denn das ist nichts anderes als der Versuch, eine Regelung, die mit Bedacht gewählt ist, um den sozialen Zusammenhalt in den Städten zu erhalten, zu umgehen.
Frau Bundesministerin.
Bitte haben Sie Verständnis, dass ich Möblierungen nicht den Garaus machen möchte, sondern wenn, dann dem Versuch, darüber die Mietpreisbremse auszuhebeln.
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Die Entwicklung der letzten Jahre zeigt, dass man immer beobachten muss, wie bestimmte gesetzliche Regelungen wirken und ob versucht wird, sie zu umgehen.
Ich habe schon darauf hingewiesen: Die Mietpreisbremse, so wie sie ursprünglich konzipiert war, hat Schwachstellen aufgezeigt. Diese Schwachstellen sind wir angegangen. Wir haben im Sommer Verschärfungen vorgenommen. Wir werden genau beobachten, ob das, was wir jetzt durch weitere Verschärfungen auf den Weg gebracht haben, entsprechend wirkt oder ob wir da noch mal ran müssen.
Der Schutz von Mieterinnen und Mietern ist eine der herausragenden Aufgaben in der Politik. Es geht nicht, wie oft geredet wird, um Wohnraum, sondern es geht um das Zuhause von Menschen und darum, dass sie keine Angst davor haben müssen, dieses aufgrund von Mietsteigerungen verlassen zu müssen. Deswegen werden wir uns selbstverständlich in der Bundesregierung insgesamt, auch ich als Justizministerin, genau anschauen, wie die Regelungen wirken und welche Wege gesucht werden, um die Mietpreisbremse womöglich zu umgehen. Das werden wir genau beobachten. Ich kann Ihnen zusagen, dass ich das sehr genau im Blick habe.
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Danke sehr. – Die nächste Frage stellt der Kollege Johannes Fechner, SPD.
Frau Ministerin, Sie haben ein wichtiges Thema angesprochen, nämlich die Insolvenz von Thomas Cook. Das betrifft Hunderttausende Menschen, die eine Reise gebucht haben, sich darauf gefreut haben, sie auch schon bezahlt haben und wegen der Insolvenz die Reise dann nicht antreten konnten. Deswegen finde ich es sehr gut, dass Sie im Kabinett eine Lösung präsentiert und auch durchgesetzt haben, die den Betroffenen hilft.
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Die Zurich Versicherung, die ja gesetzlich absichert, hat angekündigt, die Quote bekannt zu geben. Zu befürchten ist, dass das nur 10 bis 15 Prozent sind. Deswegen lautet meine Nachfrage, ob nach dem Modell, das auf Ihren Vorschlag hin im Kabinett beschlossen wurde, die Kunden vollständig entschädigt werden.
Vielen Dank. – Ja, Herr Kollege Fechner, genau so wird es sein. Wir haben uns darauf verständigt. Ich glaube, es ist ein ganz wichtiges Zeichen, dass die Kunden sich darauf verlassen können, dass der Sicherungsschein, der sie ja gerade gegen eine solche Insolvenz absichern sollte, auch gilt. Deswegen werden wir die Differenz zwischen dem, was vom Kundengeldabsicherer, der Zurich, gezahlt wird – die Quote wird noch bekannt gegeben – und der vom Kunden gezahlten Summe erstatten, also die offene, die ausstehende Summe, allerdings unter der Voraussetzung, dass die Kunden ihre Ansprüche, die sie selbst hätten geltend machen müssen, an uns abtreten. Denn wir müssen immer auch im Blick haben, dass wir den Schaden für den Steuerzahler so gering wie irgend möglich halten. Deswegen besteht die Verpflichtung, die Ansprüche abzutreten. Dafür erhält man aber die Sicherheit, dass das, was offenbleibt, übernommen wird.
Ich glaube, das sind wir den Reisenden schuldig.
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Das sind Leute, die zum Teil wirklich sehr lange auf ihre Reise gespart haben. Ich kann Ihnen sagen, dass die durchschnittlichen Kosten pro Reise bei circa 800 Euro liegen. Das zeigt, das sind keine exorbitant teuren Luxusreisen; da haben Leute Geld zurückgelegt, gespart. Sie haben sich auf ihre Reise gefreut und sie angezahlt. Deswegen ist das ein wichtiges Signal mit Blick auf das Vertrauen in das System.
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Die Kollegin Tabea Rößner, Bündnis 90/Die Grünen, möchte gerne eine Nachfrage stellen.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Ministerin, Sie haben darauf hingewiesen, dass es keine eindeutige Haltung dazu gab, wie hoch die Versicherungssumme sein sollte, um den Insolvenzschaden in so einem Fall wie jetzt bei Thomas Cook auch wirklich tragen zu können. Es gab aber diverse Untersuchungen zum Reisevolumen. Danach sind die Kosten erheblich gestiegen, und zwar innerhalb von 14 Jahren von 19 Milliarden Euro auf 27 Milliarden Euro. Was sagen Sie den Steuerzahlern auf die Frage, wer die Verantwortung dafür trägt? Wir haben Nachbesserungen gefordert. Unseren Antrag dazu haben Sie abgelehnt, gerade in den Tagen, in denen die Insolvenz bekannt wurde.
Frau Bundesministerin.
Die Umsetzung der EU-Pauschalreiserichtlinie in nationales Recht erfolgte in Deutschland durch eine Versicherungslösung. Das heißt, diejenigen, die solche Pauschalreisen anbieten, können sich gegen eine Insolvenz absichern. Die Versicherungssumme hat eine Obergrenze von 110 Millionen Euro. Diese Summe ist damals gewählt worden, weil es bis zu diesem Zeitpunkt keine Insolvenz gab, die mehr als 30 Millionen Euro umfasst hat. Daraus ergab sich die Festlegung: Auch bei mehreren solcher Insolvenzen können wir mit 110 Millionen Euro einen vernünftigen Schutz gewährleisten. – Das ist der Hintergrund gewesen. Darum ist es damals zu dieser Summe von 110 Millionen Euro gekommen.
Ich sage Ihnen: Das, was bei Thomas Cook passiert ist, halte ich für eine unvorhergesehene Entwicklung; denn das, was bei Thomas Cook passiert ist, war nicht abzusehen. Noch im August wurde seitens des Unternehmens dazu aufgefordert, zu buchen; es sei alles okay. Das zeigt, dass das keineswegs absehbar war.
Wir werden für die Zukunft allerdings vor dem Hintergrund des Wissens, das wir heute haben – nachher ist man immer schlauer –, eine Lösung suchen, die das anders abdeckt, damit wir diese Rechtssicherheit gewährleisten können, ohne dass der Steuerzahler gegebenenfalls in Anspruch genommen wird.
Frau Bundesministerin.
Ich will aber auch für diesen Fall sagen, dass wir sehr wohl alle Möglichkeiten ausschöpfen. Dazu gehört die Frage: Sind in den 110 Millionen Euro die 60 Millionen Euro für die Rückholung enthalten? Wir sagen Nein. Das kann man aus der gesamten Entwicklung des Gesetzgebungsverfahrens und auch aus der Begründung so lesen. Das vertreten wir. Deswegen sind das aus unserer Sicht keine 110 Millionen Euro, sondern 170 Millionen Euro. Damit würde sich dann auch die Quote des Kundengeldabsicherers erhöhen.
Es stellt sich eine weitere Frage. Das neue Reisejahr hat am 1. November begonnen. Reisen auch für dieses Reisejahr sind jetzt mit in dieser Masse. Erhöht sich dadurch auch die Summe?
Frau Bundesminister.
Es ist so ein spannendes und so ein umfangreiches Thema.
Ja, ich verstehe das. Aber wir haben für die Regierungsbefragung gewisse Regeln. Zur Hilfestellung haben wir dort oben eine Ampel.
Die habe ich bewusst ausgeblendet.
Das sollten Sie nicht tun. Denn Sie bringen mich dadurch in die unangenehme Lage, Sie zu bitten, Ihre Antwort zu beenden, bzw. Sie zu unterbrechen. – Möchten Sie noch eine Nachfrage stellen? Sie dürfen eine stellen. Die Nachfrage sollte sich aber auf 30 Sekunden beschränken und die Antwort darauf möglichst auch.
Ich möchte Ihnen widersprechen, Frau Ministerin. Es gab Hinweise. Wir haben das in unserem Antrag deutlich gemacht. Es wurde immer eine Versicherungssumme in Höhe von 300 bis 400 Millionen Euro geschätzt. Deshalb noch mal die Frage: Wer trägt die Verantwortung dafür, dass diese Nachbesserung nicht gemacht wurde? Wie hoch wird der Schaden sein, den Sie tatsächlich ausgleichen müssen?
Frau Bundesminister.
Ich kann Ihnen die Summe nicht nennen. Denn, wie gesagt, es sind zahlreiche Rechtsfragen offen, die sich auf die Schadenssumme auswirken, also 110 Millionen oder 170 Millionen Euro. Letzteres ist eine ganz andere Hausnummer. Es geht um die Frage des neuen Versicherungsjahres. Auch da rechnen wir mit 20, 30 Millionen Euro. Es stellt sich auch noch die Frage, ob sich Zahlungen an die britische Mutter in irgendeiner Weise auswirken. Solche rechtlichen Fragen müssen geklärt werden.
Kunden sind auch verpflichtet, schadensmindernd zu handeln, zum Beispiel das Chargeback-Verfahren durchzuführen, wenn sie über Kreditkarte gebucht haben, und sich das Geld auf diese Weise zurückzuholen. Deswegen ist die Schadenssumme momentan nicht zu benennen. Wir werden alle rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen, damit so wenig wie möglich beim Steuerzahler hängen bleibt. Ich sage es noch mal: Diese 110 Millionen Euro sind damals zustande gekommen, weil man keine einzige Insolvenz über 30 Millionen Euro hatte und demnach mit 110 Millionen Euro einen ausreichenden Rahmen gesehen hat. Für die Zukunft werden wir uns anders aufstellen.
Vielen Dank. – Die nächste Frage stellt der Kollege Friedrich Straetmanns, Die Linke.
Sehr geehrte Frau Ministerin, ich muss Sie jetzt zu einem sehr ernsten Thema befragen.
Ich fand das Thema eben auch schon ernst.
Es geht um Gewalt gegen Frauen. Im letzten Jahr sind 122 Frauen in Deutschland von ihren Partnern getötet worden. Halten Sie die vorhandenen gesetzlichen Maßnahmen für ausreichend? Haben Sie beobachtet, was in anderen europäischen Ländern, zum Beispiel in Frankreich, hinsichtlich dieses Problems gemacht wird?
Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Ich bin sehr bedrückt über diese Entwicklung. Das ist eine Entwicklung, die wir nicht akzeptieren können. Dazu gehört natürlich auch, dass wir genau beobachten: Wie ist das Ermittlungsverfahren in solchen Fragen – das ist ja das Entscheidende –, welche Präventionsmaßnahmen gibt es? Schaffen wir es, dass Frauen, die erwarten, dass solch eine Gewalt gegen sie auftritt – das gibt es ja ganz oft –, beispielsweise in Frauenhäusern Plätze bekommen, um einer solchen Aggression, um einer solchen Gewalt entgehen zu können? Denn ich möchte nicht erst abwarten, bis es zu solchen Delikten kommt. Ich glaube, auf dem Vorbeugen, darauf, Möglichkeiten zu schaffen, solch einer Gewalt zu entgehen, muss unser Hauptaugenmerk liegen. Deswegen ist es wichtig, dass die Kollegin Giffey das Thema angestoßen hat: Wie schaffen wir es, ausreichend Plätze in Frauenhäusern für von Gewalt bedrohte Frauen und ihre Kinder – es ist ja auch eine Gewalt gegen die Familienangehörigen – zur Verfügung zu stellen? Darauf werden wir jetzt unser Augenmerk legen. Das ist, glaube ich, einer der ganz wichtigen Punkte, damit es gar nicht erst zu dieser furchtbaren Gewalt kommt.
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Vielen Dank. – Herr Straetmanns, Nachfrage?
Ich habe eine Nachfrage. Unter Ihrem Vorgänger Heiko Maas wurde eine Reform des Mordparagrafen 211 Strafgesetzbuch vorbereitet. Wie ist der Stand dieses Reformvorhabens? Was können wir in der Hinsicht von Ihnen erwarten?
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Das ist jetzt aber eine ganz andere Frage.
Sie bezieht sich auch auf die Mordmerkmale bei Morden an Frauen.
Aber die Mordmerkmale beziehen sich nicht auf Frauen oder Männer. Da muss ich Ihnen jetzt widersprechen.
Gut.
Sie sind zu Recht geschlechtsneutral. Mord an einer Frau und an einem Mann wird gleich behandelt und auch gleich bewertet. So soll es auch in Zukunft bleiben. Deswegen: Die Mordmerkmale stehen in diesem Zusammenhang überhaupt nicht zur Debatte. Das ist eine davon völlig unabhängige Diskussion. Es ist wirklich eine sehr spannende Diskussion, weil in der Öffentlichkeit oft etwas ganz anderes verstanden wird als das, was im Reformvorhaben angestrebt wird. Es gibt oftmals eine schwierige Unterscheidung zwischen einem Mord, weil ein bestimmtes Merkmal erfüllt ist, und einem Totschlag, wenn aus Affekt, aber wahrscheinlich genauso verwerflich gehandelt wird. Diese schwierige Situation aufzulösen, das war damals Gegenstand dieser Untersuchung.
Ich bin jetzt seit fünf Monaten im Amt. Ich habe ein Maßnahmenpaket gegen rechts aufgelegt und unglaublich viele andere Maßnahmen auf den Weg gebracht.
Frau Bundesminister.
Das Thema ist tatsächlich momentan nicht ganz oben auf der Tagesordnung – und schon gar nicht in diesem Zusammenhang.
Vielen Dank. – Jetzt möchte die Kollegin Canan Bayram, Bündnis 90/Die Grünen, eine Nachfrage dazu stellen, wobei ich jetzt nicht weiß, ob zur Mordqualifikation oder zum Thema „Gewalt gegen Frauen“, aber sie wird es uns sagen.
Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Ich wollte tatsächlich zu dem ersten Themenfeld noch mal nachfragen. Frau Ministerin, Sie sind insoweit eine Antwort schuldig geblieben, als ja konkret nach Femiziden und Ihrer Verantwortung in diesem Zusammenhang gefragt war, und Sie haben auf Frau Giffey verwiesen.
Es gibt aktuell eine Debatte darüber, wie darüber geredet, berichtet, aber auch gerichtet wird, und das wirft viele Fragen hinsichtlich des Umgangs mit dem Thema auf, dass Frauen häufig vom Partner getötet werden. Hier ist wirklich die Frage, ob Sie Ihre Amtszeit nutzen werden, um bei diesem Thema rechtlich weiterzukommen.
Ich kann Ihnen zusagen, dass wir uns intensiv mit diesem Thema beschäftigen. Ich freue mich darauf, diese Diskussion mit den Parlamentarierinnen und Parlamentariern zu führen, weil es spannend sein wird, welche rechtlichen Möglichkeiten wir da am besten gemeinsam finden.
Ich sage es aber noch mal: Am wichtigsten ist, dass es überhaupt nicht zu dieser Gewalt kommt, dass wir Präventionsarbeit leisten und dass wir diesen Frauen, die in akuten Bedrohungssituationen sind, auch die entsprechenden Hilfemöglichkeiten zur Verfügung stellen. Dazu gehört ein Hilfetelefon, an das sie sich wenden und bei dem sie die entsprechenden Informationen bekommen können; denn oftmals sind Frauen in solchen Situationen völlig überfordert. Wer will es ihnen verdenken! Deswegen: Ein Hilfetelefon ist wichtig. Außerdem ist ganz wichtig, dass in akuten Situationen eben auch Räume in Frauenhäusern zur Verfügung stehen.
Lassen Sie uns die Diskussion darüber, wie wir das Ganze darüber hinaus mit rechtlichen Möglichkeiten flankieren können, gerne führen. Sie werden mich da auf jeden Fall an der Seite der Frauen haben.
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Danke sehr. – Jetzt möchte die Kollegin Cornelia Möhring, Die Linke, dazu eine Nachfrage stellen.
Vielen Dank. – Ich will eine Nachfrage stellen und damit auch deutlich machen, dass es natürlich einen Zusammenhang zwischen der Gewalt gegen Frauen und der Diskussion um den Mordparagrafen gibt.
Sie haben natürlich völlig recht, dass Prävention außerordentlich wichtig ist, aber im Zuge der Diskussion um Femizide wurde nach meiner Meinung ja auch zu Recht festgestellt und kritisiert, dass zum Beispiel Täter bei häuslicher Gewalt oft nur wegen Totschlags und nicht wegen Mordes angeklagt werden, und zwar aus dem Grund, weil es ihnen – angeblich – an den niederen Beweggründen fehle, weil sie ihre Partnerin ja „nur“ aus Eifersucht oder deshalb ermordet haben, weil sie sich von ihnen trennen wollte.
Ich würde schon gerne genauer von Ihnen hören, welche Maßnahmen Sie ergreifen wollen, damit sich das Recht und die Rechtsprechung so ändern, dass Frauen nicht mehr als Besitz des Mannes angesehen werden und nicht auch noch ein gewisses Verständnis für den Täter entgegengebracht wird.
Es gibt überhaupt kein Verständnis gegenüber Tätern, die Gewalt gegenüber Frauen, Männern, Kindern, wem auch immer ausüben. Das erwarte ich auch bei der entsprechenden Rechtsprechung. Ich kann aber die einzelnen Urteile nicht kommentieren; das steht mir nicht an, und das wäre auch nicht in Ordnung. In der Verantwortung jedes Richters und jeder Richterin steht aber natürlich, den Einzelfall zu betrachten.
Sie haben jetzt das Beispiel Eifersucht gebracht. Man kann hier als Richterin oder Richter schon darüber nachdenken – natürlich immer den konkreten Einzelfall zugrunde legend –, wie das zu bewerten ist und ob das nicht doch ein Mordmerkmal in einer bestimmten Ausprägung ist, wenn das dazu führt, dass man den anderen töten möchte. Ich sage es aber noch mal: Das hat nichts mit der Diskussion zu tun, die unter der Federführung vom Kollegen Maas geführt wurde; denn da ging es ja gerade um die Frage, ob man an diesen Mordmerkmalen festhält.
Es gibt einen klassischen Fall, den alle Jurastudentinnen und ‑studenten bei der Abgrenzung zwischen Mord und Totschlag einmal durchgehen müssen, und der macht deutlich, wie schwierig das manchmal zu bewerten ist: Eine Frau, die 20 Jahre lang gequält wird, geschlagen wird, das erträgt, irgendwann nach 20 Jahren sagt: „Ich halte das nicht mehr aus“, und ihren Mann im Schlaf erschlägt, hat mit einer Anklage wegen Mordes zu rechnen, und zwar wegen Heimtücke, weil er eben schläft und nicht mit dem Angriff rechnen muss. Der Mann, der seine Frau immer wieder schlägt, jedoch immer davon ausgeht, dass ihr nichts passiert – aber irgendwann passiert ihr etwas –, hat mit einer Anklage wegen Totschlags zu rechnen, weil eben gerade dieses Mordmerkmal fehlt.
Vielen Dank.
Das ist die Diskussion. Die Diskussion über die Mordmerkmale hat aber mit diesem Fall wenig zu tun.
Vielen Dank.
Aber ich sage es noch mal: Sie haben mich da an Ihrer Seite, wenn wir eine rechtliche Lösung finden wollen.
Frau Bundesministerin, ich hätte doch die dringende Bitte, dass Sie die Ampel dort oben nicht aus Ihrem Gesichtskreis ausblenden; sonst muss ich da ganz energisch werden, und das möchte ich doch gar nicht.
Jetzt würde ich gerne der Kollegin Katja Dörner das nächste Fragerecht geben.
Vielen Dank, Frau Ministerin. – Aus Ihrem Haus liegt ein Referentenentwurf zur Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz vor. Im Vorfeld hat eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe mehrere Monate gearbeitet und einen Bericht vorgelegt, der mehrere Formulierungsvorschläge enthält.
Ich möchte Sie fragen: Warum haben Sie sich bei der Bandbreite der vorgeschlagenen möglichen Formulierungen in Ihrem Vorschlag für die in der Substanz schwächste Formulierung entschieden, über die beispielsweise der Deutsche Kinderschutzbund sagt, dass sie in der Substanz und in ihren Auswirkungen hinter die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zurückfällt?
Ich mache es ungern, aber ich muss in dem Moment dem Kinderschutzbund deutlich widersprechen. Ich halte den Vorschlag, den ich vorgelegt habe, für eine Fortschreibung bzw. Abbildung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, und darüber hinausgehend gibt es einen Vorschlag dazu, wie Kinder in Verfahren altersgerecht zu berücksichtigen sind.
Deswegen ist es ein Vorschlag, der – ich will es mal gemäß der Skala der Bund-Länder-Arbeitsgruppe sagen – zwischen den Regelungsvarianten 1 und 2 – das ist für all diejenigen, die sich damit so intensiv beschäftigen wie Sie – liegt. Es geht darum, dass Kinderrechte abgebildet werden. Das wird durch meinen Vorschlag der Fall sein. Es geht darum, dass Kinder nicht nur in Gerichtsverfahren – dort ist es heute schon festgeschrieben –, sondern auch in Verwaltungsverfahren gehört werden. Einige Verfahren haben uns gezeigt, wie wichtig es ist, dies noch mal festzuschreiben. Darum geht es. Das bildet mein Entwurf ab.
Ich kann Sie alle nur auffordern, darüber kräftig zu diskutieren, weil diese Diskussion schon zeigt, dass wir jetzt eine Möglichkeit haben, 30 Jahre nach der Verabschiedung der Kinderrechtskonvention – 30 Jahre danach! –, endlich Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern. Kinder sind keine kleinen Erwachsenen, sondern sie haben unsere besondere Berücksichtigung verdient. Das bilde ich mit diesem Vorschlag ab.
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Frau Dörner möchte eine Nachfrage stellen.
Also, der Kindeswohlvorrang, wie ihn die UN-Kinderrechtskonvention formuliert, die ja für uns bindend ist, findet in Ihrer Formulierung keinen Widerspruch.
Kein Widerspruch.
Sie sprechen davon, dass in der Abwägung das Kindeswohl „angemessen berücksichtigt“ werden muss. Dieses Wort „angemessen“ gibt ganz offensichtlich keine Zielrichtung vor. Was beinhaltet bei Ihnen diese Formulierung „angemessene Berücksichtigung“?
Grundrechte bilden die Werteordnung unseres Gemeinwesens ab. Da werden verschiedene Grundwerte festgeschrieben. Unter Juristen nennt man es „praktische Konkordanz“, wenn verschiedene Grundrechte gegeneinander abzuwägen sind.
Dadurch, dass ich Kindergrundrechte ausdrücklich erwähne, erfahren sie selbstverständlich eine Berücksichtigung auf Augenhöhe, die sie bisher nicht hatten. Deswegen ist es keineswegs so, wie Sie es beschreiben, dass ich diese Rechte nicht abbilden würde. Im Gegenteil: Sie bekommen jetzt sogar eine Extrabenennung. Das ist gut so. In dieser Abwägung muss das Kindeswohl bei jedem staatlichen Handeln, sei es bei der Verwaltung, sei es im Gerichtsverfahren, sei es bei uns als Gesetzgeber, angemessen berücksichtigt werden. Ich glaube, das ist längst überfällig. Deswegen habe ich diesen Vorschlag vorgelegt.
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Michel Brandt, Die Linke, möchte auch eine Nachfrage stellen. – Nein, das ist offenbar ein Irrtum.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Norbert Müller ist mein Name, nicht Michel Brandt.
Ich bitte um Entschuldigung. Das ist mir falsch aufgeschrieben worden. Irren ist menschlich.
Das ist überhaupt kein Problem. Allerdings ist „Müller“ auch ein schöner Name.
Frau Ministerin, Sie haben jetzt wortreich ausgeführt, warum Sie an Ihrem Vorschlag festhalten. Dann stelle ich mir die Frage, wie Sie sich angesichts der öffentlichen Debatte, die danach eingesetzt hat, eigentlich vorstellen, dass dieser Vorschlag Bundestag und Bundesrat passieren soll.
Die Koalitionsfraktionen scheinen ja nicht in der Lage zu sein, Gespräche zu führen, um die nötige Zweidrittelmehrheit zu erreichen, und verschieben es oder warten auf die Kabinettsentscheidung und darauf, dass die Bundesregierung einen Schritt weitergeht und Ihren Vorschlag bestätigt. Mich würde interessieren: Planen Sie denn im Bundesrat und im Bundestag mit den notwendigen Partei-, Fraktions- und Ländermehrheiten zusammenzukommen und diesen Vorschlag möglicherweise noch zu qualifizieren? Oder was ist der Plan B, wenn Sie damit ins Rennen gehen, wohl wissend, dass er möglicherweise so keine Mehrheit findet?
Eine Veränderung der Grundrechte ist schon eine ganz besondere gesetzgeberische Maßnahme. Deswegen ist es gut und richtig, dass wir eine ganz intensive Debatte darüber führen. Die Debatte der letzten Wochen hat gezeigt, dass dabei ganz unterschiedliche Interessen und auch Befürchtungen eine Rolle spielen. Diese Befürchtungen müssen entsprechend berücksichtigt und ausgeräumt werden, weil ich finde, dass viele von ihnen einer Grundlage entbehren. Es wird keinen Eingriff in das Kind-Eltern-Verhältnis geben; das ist mir auch bei diesem Vorschlag ganz wichtig.
Sie haben zu Recht angemerkt, dass wir für eine Änderung des Grundgesetzes eine Zweidrittelmehrheit brauchen, sowohl hier im Bundestag als auch im Bundesrat. Selbstverständlich werden wir mit allen Fraktionen über diesen Entwurf sprechen und im parlamentarischen Verfahren die nötigen Mehrheiten organisieren. Ich sage es noch mal: Wir haben jetzt ein Zeitfenster, das wirklich genutzt werden muss. – Im Koalitionsvertrag haben wir uns auf die Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz verständigt. In 15 Landesverfassungen sind die Kinderrechte verankert. Ich freue mich, dass Frau Kramp-Karrenbauer, die Vorsitzende der CDU, -
Ampel, Ampel!
– sich in einem Interview ausdrücklich dazu bekannt hat. Diese Möglichkeit will ich nutzen.
Vielen Dank. – Die Kollegin Katja Keul, Bündnis 90/Die Grünen, möchte noch eine Nachfrage stellen. Das ist die letzte Nachfrage, die ich zulasse. Die nächste Frage stellt dann der Kollege Peterka von der AfD.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Ministerin, wir haben jetzt mehrere Vorschläge im Raum. Wir kennen Ihren Referentenentwurf. Es gibt presseöffentliche Vorschläge aus der Union, die davon abweichen; es gibt einen Grünengesetzentwurf. Sie haben uns ermuntert, wir sollten doch jetzt die Debatte führen und das Zeitfenster nutzen. Genau das wollen wir auch tun. Deswegen frage ich Sie: Geben Sie mir recht, dass es sinnvoll wäre, wenn zu dem Gesetzentwurf der Grünen zeitnah eine Anhörung durchgeführt würde? Der Gesetzentwurf wurde in den Bundestag eingebracht, und wir warten seit Monaten auf einen Termin für eine Anhörung im Rechtsausschuss. Dieser Termin wird von den Koalitionsfraktionen nicht vereinbart.
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Aufgrund der Anhörung würden wir über weitere Expertise verfügen, sodass wir intensiv diskutieren können.
Frau Kollegin, ich halte es für sinnvoll, wenn eine solche Anhörung den Entwurf der Bundesregierung mit umfasst. Dann wäre das eine sehr sinnvolle Anhörung. Sie wird zu Recht eine große Dimension haben, weil viele Aspekte zu berücksichtigen sind. Wir befinden uns in der Regierung in der Abstimmung. Das ist manchmal nicht ganz so einfach. Aber mein Lebensmotto ist: Wenn es einfach wäre, würden es andere machen. – Deswegen bemühe ich mich darum, dass wir alsbald einen abgestimmten Entwurf in das parlamentarische Verfahren einbringen können.
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Vielen Dank. – Ich möchte dafür plädieren, Frau Kollegin, dass wir die Tagesordnung für das Parlament und die Ausschüsse möglichst im Bundestag selbst festlegen und dazu nicht die Regierung befragen. Das ist in anderen Ländern auch so. Ich glaube, wir sollten dabei bleiben, dass wir das selber machen. Sie haben in Ihrer früheren Eigenschaft als Parlamentarische Geschäftsführerin genau so agiert.
Ich bin ja auch Teil des Parlaments.
Jetzt stellt der Kollege Tobias Peterka, AfD, die nächste Frage.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Ministerin, Sie haben eingangs erneut betont: Sie treten vor allem dafür ein, vermeintliche oder tatsächliche Strafbarkeitslücken zu schließen. Da gibt es sinnvolle konkrete Ansätze, wie zum Beispiel die Strafbarkeit des Upskirtings bei Frauen. Derzeit steht ein sehr unkonkreter Ansatz im Raum, nämlich die Wiedereinführung der Strafbarkeit des bloßen Gutheißens von Straftaten. Er wird unter anderem prägnant vertreten durch den Bundesinnenminister.
Jetzt meine Frage: Teilen Sie meine Befürchtung und meine Meinung, dass dies mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung in Konflikt steht und dass das bei dieser allgemeinen Formulierung des bloßen Gutheißens von Straftaten sehr schnell der Fall ist? Das geht über die §§ 111 und 140 des Strafgesetzbuchs hinaus.
Frau Bundesminister.
Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Bei manchen Äußerungen, die Mord, schlimmste Gewaltverbrechen, Volksverhetzung und hassschürende Aussagen gutheißen, habe ich den Eindruck: Nein, das ist nicht mehr von der Meinungsfreiheit gedeckt.
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Das muss entsprechend berücksichtigt werden. Es geht eben nicht darum, dass etwas bloß gutgeheißen wird, sondern wir können ganz klar eine Entwicklung erleben, dass es andere quasi als Aufforderung empfinden, aus Worten Taten werden zu lassen. Deswegen teile ich die Einschätzung, dass wir das Gutheißen schwerster Straftaten – damit gibt man das Signal: „Das ist in Ordnung“ – eingrenzen müssen.
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Herr Kollege Peterka, Nachfrage? – Bitte.
Vielen Dank für das Zulassen der Frage. – Ihnen ist bekannt, dass die Vorschrift in den 80ern schon mal existierte und nach fünf Jahren abgeschafft wurde, zum Teil durchaus wegen grundgesetzlicher Bedenken, aber auch wegen deren Irrelevanz, weil über die Undefiniertheit des bloßen Gutheißens kaum ein Nachweis erfolgen konnte. Natürlich sind gewisse Äußerungen auch jetzt schon strafbewehrt; ich habe die beiden Paragrafen erwähnt. Es gibt noch die Volksverhetzung. Das teilt natürlich auch die AfD. Aber Sie gehen hier einen sehr gefährlichen Weg, wenn durch die Rechtsprechung gegebenenfalls in das Recht auf freie Meinungsäußerung eingegriffen wird und dann alles im Nachhinein durch eine Aufhebung wieder aufgefangen werden muss, vielleicht dieses Mal nach nur wenigen Monaten. Deswegen meine Frage: Sind Sie vielleicht auch in Zukunft bereit, Grundrechte über solch ungenaue Formulierungen einzuschränken?
Ich bin nie bereit, Grundrechte einzuschränken über unkonkrete Formulierungen. Wenn ich eine Formulierung vorlege, dann wird sie sehr konkret sein und auch die Voraussetzungen erfüllen, dass sie bei einer Überprüfung vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand hat. Ich sage es noch mal: Meinungsfreiheit bedeutet nicht, dass ich alles sagen kann, was ich möchte,
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sondern Meinungsfreiheit findet da ihre Grenzen, wo das Strafrecht beginnt.
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Deswegen ist der § 140 durchaus der richtige Ansatz, um auch gegen das Billigen von Straftaten und das Gutheißen von zukünftigen Straftaten vorzugehen. „Vor Gericht und auf hoher See …“, Sie kennen den Spruch. Ich bin fest davon überzeugt, dass durch die Regelung, die ich vorlegen werde, die verfassungsrechtlich geschützte Meinungsfreiheit sehr wohl gewahrt bleibt. Aber, wie gesagt: Da, wo Strafrecht beginnt, endet die Meinungsfreiheit.
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Die Bestimmung in § 140, die Sie angesprochen haben, ist damals nicht wegen Rechtsprechung außer Kraft gesetzt worden, sondern weil es keine Anwendungsfälle gab. Aber wenn Sie sich heute mal anschauen, was im Internet alles geschieht, dann erkennen Sie: Wir haben eine völlig veränderte Situation. – Und auf völlig veränderte Situationen muss der Staat auch reagieren.
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Vielen Dank. – Dr. Gero Hocker, FDP, möchte dazu eine Frage stellen.
Vielen Dank, Herr Präsident, dass Sie diese Frage zulassen. – Verehrte Frau Ministerin, vor dem Hintergrund der Debatte, die wir jetzt gerade führen über die Wiedereinführung des Straftatbestands des Gutheißens von Straftaten im Kampf gegen Internethetze, möchte ich von Ihnen gerne erfahren, ob Sie, wenn Repräsentanten von Vereinen wiederholt dazu auffordern, Straftaten zu begehen, oder es gutheißen, dass Straftaten erfolgen – ich denke an das Eckpunktepapier und den Referentenentwurf, den Sie eingangs angesprochen haben –, beabsichtigen, gegen die Zuerkennung der Gemeinnützigkeit und die damit verbundenen Steuerbegünstigungen vorzugehen?
Also, mein Entwurf wird nichts mit Steuervergünstigungen zu tun haben, sondern er wird eine Veränderung im Strafrecht vorsehen. Deswegen bitte ich Sie um Verständnis, dass ich zur Gemeinnützigkeit in diesem Zusammenhang jetzt gar nichts sagen kann. Das Billigen von Straftaten bezieht sich nicht auf eine bestimmte Gruppe, eine bestimmte Klientel, sondern Strafrecht gilt für jeden und wird von jedem dann auch entsprechend zu berücksichtigen sein. Die steuerlichen Konsequenzen einer Änderung des § 140 stehen damit jetzt nicht im konkreten Zusammenhang, bzw. sie werden nicht geregelt.
Danke sehr. – Frau Rößner möchte dazu auch noch eine Frage stellen.
Vielen Dank, dass ich die Nachfrage stellen darf. – Sie haben das Maßnahmenpaket angesprochen. Da geht es ja darum, die sozialen Netzwerke stärker in die Pflicht zu nehmen. Deshalb stellt sich uns die Frage: Wollen Sie dazu eine spezielle Strafanzeigepflicht der Diensteanbieter normieren?
Ja.
Oder welchen Charakter soll das haben? Wie soll gegebenenfalls eine Nichtmeldung sanktioniert werden, bzw. macht sich ein Diensteanbieter, wenn er nicht meldet, dann strafbar?
Ja. – Wir werden neben die Pflicht, die heute schon nach dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz besteht, bei bestimmten rechtswidrigen Inhalten zu sperren oder zu löschen, die Pflicht zur Meldung einführen; das wird eine Verpflichtung sein. Gemeldet werden soll an eine Zentralstelle beim Bundeskriminalamt, die quasi eine Vorprüfung vornehmen soll und es dann an die örtlich zuständigen Ermittlungsbehörden weiterleiten kann. Selbstverständlich wird das dann auch so sanktioniert sein: So, wie auch heute schon das Nichtsperren bzw. das Nichtlöschen sanktioniert ist, werden wir es auch bei der Meldepflicht handhaben.
Danke sehr. – Der Kollege Jan Nolte, AfD, möchte dazu eine Frage stellen.
Vielen Dank. – Ich glaube, es ist hier Konsens, dass das Gutheißen schwerster Straftaten nicht in Ordnung ist. Es wurde auch zu Recht angesprochen, dass das andere animieren könnte, solche Straftaten zu begehen.
Vor Kurzem ist ein Musikvideo von der Band K.I.Z erschienen, in der man auf detaillierteste Weise sehen kann, wie unser Fraktionsvorsitzender enthauptet wird, wie andere Mitglieder unserer Partei auf bestialische Weise umgebracht werden. Viele hören das vielleicht zum ersten Mal; das hat nämlich zu keinem Aufschrei geführt in Deutschland. K.I.Z ist übrigens die Band, für die auch unser Bundespräsident geworben hat; bei „Wir sind mehr“ haben die gespielt. Mich würde interessieren, wie Sie ein solches Video einschätzen. Sollte die Politik hier handeln? Soll so etwas auch weiterhin von der Kunstfreiheit gedeckt sein? Wie bewerten Sie das?
Ich habe schon ausgeführt: Strafrecht gilt nicht für eine bestimmte Gruppe oder für eine bestimmte politische Ausrichtung oder für eine besondere Gruppierung, nein, Strafrecht gilt für alle und für jedermann. Wenn wir so etwas unter Strafe stellen, dann gilt das auch für jeden und für jede.
Sie haben sicherlich Verständnis dafür, dass ich ganz konkrete Vorgänge nicht kommentiere. Das hat auch was mit dem Respekt vor Richterinnen und Richtern zu tun. In diesem Land sprechen Richterinnen und Richter Urteile und nicht die Bundesjustizministerin; und diese Gewaltenteilung ist auch gut so.
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Vielen Dank. – Jetzt möchte dazu noch die Frau Kollegin Renate Künast, Bündnis 90/Die Grünen, eine Frage stellen.
Ich freue mich auf die Debatte über die Bestimmtheit von Straftatbeständen. Wir sollten den Rechtsstaat ja auch nicht überdehnen; denn das wirkt sich überall negativ aus.
Ich habe allerdings eine Frage zu Ihrem ganzen Vorhaben im Rahmen des Maßnahmenpakets und speziell zum Netzwerkdurchsetzungsgesetz, weil davon nicht die Rede ist. Wenn ich mir das anschaue, habe ich den Eindruck, dass Sie gar nicht mehr davon reden, was es beim Netzwerkdurchsetzungsgesetz ansonsten noch an Novellierungsbedarf gibt, und zwar in Bereichen, die auch den Rechtsextremismus betreffen. Die Chatfunktion bei Games: Werden Sie die auch mit reinnehmen in die Meldepflichten? Und wie werden Sie dafür Sorge tragen, dass andere, die zum Beispiel wie TikTok mittlerweile 2 Millionen Nutzer haben, auch ihren Pflichten nachkommen? Werden Sie dann auch in diesem Verfahren so etwas wie Put-back-Verfahren, einfache Meldewege, Clearingstellen mit umsetzen? Das ist ja dringend nötig und hat alles mit Bekämpfung von Rechtsextremismus zu tun.
Vielen Dank. – Frau Kollegin, es gibt einmal das Maßnahmenpaket. In dem haben wir jetzt quasi vorgeschaltet, was auf die Schnelle aus unserer Sicht erforderlich ist, und das wird jetzt auch ganz schnell umgesetzt.
Daneben ist eine Novellierung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes etwa bei den Meldewegen dringend notwendig. Da hat das Bundesamt für Justiz beispielsweise eine Auseinandersetzung mit Facebook, ob die Meldewege so, wie sie vorgegeben sind, eingehalten werden, oder ob daneben auch andere Meldewege, die diese Vorgaben nicht erfüllen und deswegen auch nicht in Gänze zur Meldung kommen, ausreichend sind. Deswegen wird es insgesamt eine Novellierung geben. Diese Novellierung ist noch nicht ganz abgeschlossen, aber wir sind ganz kurz davor.
Ich bitte aber um Verständnis, dass wir diese Meldepflicht, die mir ganz wichtig war, vorgezogen haben. Selbstverständlich gehört insgesamt die Novellierung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes, wie Sie zu Recht anmahnen, auf die Tagesordnung und wird auch auf die Tagesordnung kommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, schönen Nachmittag von mir Ihnen!
Vielleicht etwas zu der 30-Sekunden-Regelung: Wir können die Uhr nicht richtig einstellen. Solange sie sich nicht richtig einstellen lässt, werden wir diese Regelung nicht strikt exerzieren.
Sie haben die Möglichkeit für eine Rückfrage, Frau Künast, und dann kommt Herr Jacobi.
Meine Rückfrage bezieht sich auf die Meldepflicht. Ich lese, dass Beleidigungsdelikte nicht meldepflichtig sein werden, sondern Sie sich auf schwere Delikte konzentrieren. Das kann ich vom Arbeitsaufwand her verstehen, aber nicht vor dem Hintergrund, dass der Rechtextremismus die Strategie hat, systematisch durch Beleidigungen Leute fertigzumachen, und zwar nicht nur Leute in diesem Haus, sondern quer durchs Land engagierte Menschen. Was sind dann also in dem Maßnahmenpaket, wenn nicht die Meldepflicht das Werkzeug ist, Ihre Werkzeuge, um dieser Zersetzungsstrategie durch systematische Beleidigungen entgegenzutreten?
Frau Ministerin.
Beleidigung ist ein Antragsdelikt, und das ist auch aus gutem Grund so. Das hat eben den Hintergrund, dass Beleidigungen von den Betroffenen manchmal zur Anzeige gebracht werden, aber manchmal eben auch nicht zur Anzeige gebracht werden, weil die Betroffenen das gar nicht wollen.
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Deswegen, glaube ich, macht es keinen Sinn, Beleidigungen insgesamt in die Meldepflicht mit aufzunehmen. Aber immer dann, wenn Beleidigungen dazu führen, dass die öffentliche Ordnung, dass der öffentliche Friede gestört wird, nämlich wenn sie systematisch erfolgen, so wie von Ihnen beschrieben, werden sie selbstverständlich von dieser Meldepflicht erfasst sein. Genau so ist es auch formuliert. Lassen Sie uns da in den Beratungen vielleicht noch um weitere Präzisierungen ringen. Aber immer dann, wenn Beleidigungen, so wie von Ihnen beschrieben, systematisch Hass schüren und dazu führen, dass Menschen mundtot gemacht werden sollen – und diese Strukturen erkennen wir ja in solchen Beleidigungszusammenhängen –, werden sie selbstverständlich von dieser Meldepflicht erfasst.
Vielen Dank, Frau Ministerin. – Herr Jacobi, bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Ministerin, ich komme noch mal auf das vorige Thema zurück. Sie haben gerade auf die letzte Nachfrage geantwortet, dass Sie als Justizministerin keine konkreten Gerichtsentscheidungen kommentieren und bewerten. Das ist richtig und lobenswert; das war aber nicht ganz die Frage. Die Frage bezog sich nach meinem Verständnis – und in diesem Sinne möchte ich sie neu formulieren – vielmehr auf Ihr Gesetzesvorhaben betreffend die Gutheißung von Straftaten. Es wurde dann ein aktuelles Internetvideo angeführt, in dem Mord an Angehörigen meiner Fraktion beworben wird; so kann man das durchaus verstehen.
Die Frage, die ich noch mal stellen möchte, ist, ob Sie mit diesem Gesetzesvorhaben – und das ist jetzt keine Kommentierung eines Gerichtsverfahrens, sondern das bezieht sich auf Ihr Gesetzesvorhaben – die Intention verfolgen, auch solche Erscheinungen zu erfassen und zu verhindern. Soll in Ihr Gesetzesvorhaben einbezogen werden, dass solche Aufrufe – so verstehen wir das – zum Mord an AfD-Abgeordneten dann strafbewehrt sein sollen, und, wenn nein, warum nicht? Das wäre meine Frage. – Vielen Dank.
Ich habe bereits in mehreren Antworten deutlich gemacht, dass eine Verschärfung oder eine Konkretisierung des § 140 StGB dazu führen soll, dass die Billigung von schwersten Straftaten erfasst ist, und deswegen, glaube ich, brauche ich dazu auch keine weiteren Ausführungen zu machen.
Und die Bewertung von einzelnen Videos, Liedern, Pamphleten gehört nicht in meinen Aufgabenbereich. Es geht auch nicht darum, bestimmte Gruppen zu erfassen, sondern es geht darum, einen generellen Straftatbestand zu formulieren; und den habe ich vorgelegt.
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Herr Jacobi, haben Sie eine Rückfrage? – Sie müssen nicht. – Gut.
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Dann kommt als Nächster Kollege Roman Müller-Böhm.
Sehr geehrte Frau Ministerin, Sie sprachen gerade schon von der Thomas-Cook-Pleite und davon, dass sich die Bundesregierung bereit erklärt hat, die fehlenden Gelder, die nicht im Rahmen der Kundenabsicherung abgesichert sind, nun doch zur Verfügung zu stellen, damit der Schaden der Kundinnen und Kunden abgewendet werden kann.
Meine Frage geht in die Richtung: Warum tun Sie das, da das, wenn man so will, ja im Grunde bereits einem Schuldeingeständnis gleichkommt, dass die Pauschalreiserichtlinie damals eben nicht richtig umgesetzt wurde? Es gab damals in der Anhörung diesbezüglich mehrere Anmerkungen, beispielsweise auch vom vzbv. All das hat anscheinend keinen Niederschlag gefunden. Dementsprechend möchte ich Sie fragen: Ist das nicht an der Stelle ein vorgezogenes Schuldeingeständnis, dass die Richtlinie nicht richtig umgesetzt wurde?
Frau Ministerin.
Das ist es definitiv nicht, und das muss ich auch noch mal deutlich machen. Ich habe es auch in einigen Ausführungen, glaube ich, schon sehr konkretisiert, dass bei der Umsetzung der EU-Richtlinie in nationales Recht selbstverständlich beobachtet wurde: Welche Insolvenzen gab es denn bisher schon? Das heißt, in welchem Rahmen müssen wir denn da vernünftig und erwartbar – so ist, glaube ich, der Wortlaut der Richtlinie – kalkulieren? Es gab keine Insolvenz, die bei über 30 Millionen Euro lag. Und wenn man dann von 110 Millionen Euro und, wie wir sagen, plus eventuell anfallenden Rückholungskosten, so wie es damals formuliert wurde, ausgeht, dann bin ich der Meinung, dass das durchaus den Vorgaben dieser EU-Richtlinie entspricht. Deswegen geht es uns bei der Entscheidung, die wir heute im Bundeskabinett getroffen haben, darum, deutlich zu machen, dass das Vertrauen der Reisenden, der Kunden darauf, dass mit diesem Versicherungsschein ihre Ansprüche, ihre Anzahlungen abgesichert sind, berücksichtigt wird.
Ich habe aber auch deutlich gemacht, dass zahlreiche rechtliche Fragen offen sind. Diese rechtlichen Fragen werden zu klären sein. Wir haben die Einschätzung, dass es nicht bei dem bleibt, was bisher von einigen in Aussicht gestellt wurde.
Haben Sie eine Rückfrage? – Schön, aber bitte die Redezeiten einhalten.
Auf jeden Fall. – Dann möchte ich Sie aber konkret fragen, da es die rechtlichen Bedenken, die Sie gerade eben ausgeführt haben, nicht erst seit heute gibt, sondern schon seit geraumer Zeit: Warum ist die Bundesregierung an der Stelle nicht bereits früher tätig geworden, um diese Bedenken auch in der nationalen Umsetzung vorher auszuräumen?
Die rechtlichen Fragen, die ich deutlich gemacht habe, beziehen sich nicht auf das Gesetz, sondern darauf, wie das Gesetz offensichtlich verstanden wird. Ich habe versucht, klarzumachen, dass es von der Versicherung so verstanden wird, dass im Höchstbetrag der Versicherungssumme, in diesen 110 Millionen Euro, die Rückholungskosten enthalten seien. Wenn Sie sich mal die Beratungen, die Protokolle zum gesamten Gesetzgebungsverfahren anschauen und auch die Begründungen lesen, dann stellen Sie fest, dass darin ausdrücklich enthalten ist, dass die Rückholungskosten on top kommen. Das heißt, wir reden nicht bloß über 110 Millionen Euro, sondern auch über die Rückholungskosten. Das hat aber nichts mit der Gesetzesformulierung – mit den 110 Millionen Euro –, sondern mit der Auslegung zu tun.
Rechtliche Frage wird sein, zu klären – das neue Reisejahr hat begonnen –: Sind die Reisen, die in dieses neue Jahr hineinfallen, ebenfalls zu berücksichtigen? Durften die 100 Millionen Euro, die an die britische Muttergesellschaft gezahlt wurden, zu diesem Zeitpunkt bezahlt werden? Das alles sind rechtliche Fragen, die wir jetzt zu klären haben, die aber mit der Ausgestaltung des Gesetzes nichts zu tun haben.
Vielen Dank. – Eine Rückfrage von Frau Rößner, und dann kommt die SPD dran.
Vielen Dank, dass ich die Rückfrage noch stellen darf. – Der Wissenschaftliche Dienst hat dazu ein Gutachten erstellt und hat darauf hingewiesen und es als problematisch eingestuft, dass seit 1993 keine Anpassung der Versicherungssumme erfolgt ist, obwohl der Reisemarkt sehr stark gewachsen ist, es eine Inflation gegeben hat usw. In das gleiche Horn bläst übrigens auch die Stellungnahme des Bundesrates aus dem Jahr 2016, in der ebenfalls die festgelegte Höchstgrenze als zu niedrig bemessen angesehen wurde. Deshalb meine Frage: Wer trägt dafür in der Bundesregierung die Verantwortung, und wer vermittelt das den Steuerzahlern?
Frau Ministerin.
Ich mache es gerne noch mal deutlich. Bei der Abwägung, welche Versicherungssumme man wählt, sind damals
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die Insolvenzen betrachtet worden, die es nach damals aktuellem Stand bislang gab. Das heißt, es ging nicht darum, den Reisemarkt einzuschätzen, sondern darum: Welche Insolvenzen gab es? – Wenn der höchste Schadensfall bei einer Insolvenz 30 Millionen Euro betrug und man dann sagt: „110 Millionen Euro halten wir für entsprechend vertretbar“, macht das deutlich, dass sehr wohl die gesamte Entwicklung auf dem Reisemarkt berücksichtigt wurde.
Wenn Sie das Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes in Gänze zitieren würden, dann müssten Sie auch darstellen, dass der Wissenschaftliche Dienst keineswegs von einer Staatshaftung, einer Verantwortung des Gesetzgebers ausgeht, sondern ebenfalls davon ausgeht, dass eine Staatshaftung hier nicht auf der Hand liegt.
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Danke schön. – Dann kommt jetzt die Kollegin Esther Dilcher für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin, vielen Dank. – Frau Ministerin, Sie haben in Ihrer Einführung schon auf das Maßnahmenpaket gegen Rechtsextremismus abgestellt. Wir haben auch schon einige Maßnahmen erörtert. Wir sehen, dass die Hemmschwellen in unserer Gesellschaft offensichtlich immer geringer werden. Eine Maßnahme ist, dass Sie im Melderecht Änderungen vornehmen wollen zum Schutz von Personen, die durch Hass und Drohung gefährdet werden. Meine Frage: Welche Änderungen wollen Sie konkret im Recht des Melderegisters vorsehen, und für wen konkret sollen diese Regelungen anwendbar sein?
Danke schön. – Frau Ministerin.
Ich habe deutlich gemacht, dass das, was ich jetzt in die Ressortabstimmung gegeben habe, die Umsetzung all der Vorgaben ist, die in mein Ressort fallen. Dazu gehört das NetzDG, dazu gehört das StGB. Das Melderecht ist tatsächlich beim BMI angesiedelt. Deswegen bin ich mit dem Kollegen dort in ganz intensivem Austausch.
Uns ist es wichtig, dass es in Zukunft einfacher sein wird, seine Adresse sperren zu lassen. Es sollen nicht die Hürden angehoben werden, um eine Auskunft zu bekommen; vielmehr soll es für Betroffene einfacher sein, ihre Adresse sperren zu lassen. Denn gerade für Menschen, die gemeinnützig engagiert sind in Kirchen, in Verbänden, in Flüchtlingshilfen,
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ist es ein riesiges Problem, dass ihre Privatadressen zum Teil im Internet herumgereicht werden, nicht etwa, um einen Weihnachtsgruß zu schicken, sondern mit anderen Absichten.
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Da sind wir in der Abstimmung; wie gesagt, der Kollege Seehofer ist dafür zuständig. Aber ich bin sehr zuversichtlich, dass wir alsbald eine entsprechende Lösung hinbekommen, da wir das gleiche Ziel verfolgen.
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Frau Dilcher, haben Sie noch eine Frage? – Dann danke schön, Frau Dilcher.
Der Kollege Niema Movassat stellt die nächste Frage.
Danke schön. – Frau Lambrecht, meine Frage bezieht sich auf das Drogenstrafrecht. Sie sind ja als Justizministerin zuständig für die Einheitlichkeit der Rechtsanwendung und auch dafür zuständig, Rechtsunsicherheit im Bereich des Strafrechts zu vermeiden bzw. zu beseitigen. Die Bürgerinnen und Bürger müssen ja bei jeder Handlung, die sie vornehmen, wissen: Ist es strafbar, oder ist es nicht strafbar?
Jetzt möchte ich Ihnen mal ein Beispiel geben; daran schließt dann meine Frage an. Wenn jemand hier in Berlin mit 10 Gramm Cannabis in einen Zug steigen würde, dann wäre das nach den Regelungen des Landes Berlin nicht als Straftat zu verfolgen, sondern 10 Gramm wären eine geringe Menge im Sinne des § 31a BtMG. Würde er eine halbe Stunde später in Potsdam aus dem Zug steigen, würde er sich mit denselben 10 Gramm strafbar machen, er würde strafrechtlich verfolgt werden, weil dort die geringe Menge bei 6 Gramm endet. Mich würde interessieren, ob Sie diese Regelung, diesen Flickenteppich, den es bundesweit gibt, für sinnvoll erachten oder nicht.
Frau Ministerin.
Was strafbar ist, regelt der Bundesgesetzgeber, und das ist auch entsprechend normiert. Wie es in den einzelnen Ländern in Bezug auf geringfügige Mengen bzw. Mengen für den Eigengebrauch gehandhabt wird, ist dann wiederum Aufgabe der zuständigen Gerichte. Die Strafbarkeit ist selbstverständlich bundeseinheitlich geregelt; und so soll und wird es auch bleiben. Aber, wie gesagt, die Ausgestaltung ist Gegenstand von Gerichtsentscheidungen.
Danke, Frau Ministerin. – Herr Movassat.
Jein. Die Bundesländer machen ja durch Anweisung an die Staatsanwaltschaften Vorgaben, wann eine Strafverfolgung stattfindet und wann nicht und wann durch § 31 BtMG eine entsprechende Grundlage dafür vorhanden ist. Für die Bürgerinnen und Bürger macht es de facto ja keinen Unterschied, ob es eine strafrechtliche Regelung ist oder ob eine Strafverfolgungsregelung umgesetzt wird; denn für die Bürgerinnen und Bürger gibt es sozusagen keine einheitliche Rechtsanwendung.
Es gab ja in der Justizministerkonferenz schon mal den Vorschlag, bundeseinheitlich eine geringe Menge zu definieren, damit bundesweit Rechtssicherheit besteht, damit in Berlin die gleiche Handlung strafbar ist wie auch in Potsdam. Mich würde interessieren, ob Sie sich als Ministerin für eine bundeseinheitliche Geringe-Menge-Regelung einsetzen.
Frau Ministerin.
Ich sage es noch mal: Die Strafbarkeit ist schon heute bundeseinheitlich geregelt. Bei der Auslegung, wann verfolgt wird und wann nicht, gibt es zwischen den Bundesländern Unterschiede. Ich muss zugeben: Es steht nicht ganz oben auf meiner Agenda, die Bestimmung einer bundeseinheitlich geringen Menge für Cannabiskonsum auf die Tagesordnung zu setzen.
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Vielen Dank, Frau Ministerin. – Jetzt lasse ich noch eine Frage zu. Die Fragestellerin ist nach unserer Reihung Ulle Schauws.
Danke, Frau Präsidentin. – Frau Justizministerin, Sie sind letztendlich verantwortlich für den § 219a StGB in der jetzigen Fassung. Wie bewerten Sie, dass die Reform des Paragrafen weiterhin dazu führt, dass Ärztinnen verurteilt werden und dass sie in diesem Land dementsprechend kriminalisiert werden, wenn sie über Schwangerschaftsabbrüche informieren? Wir haben jetzt die Situation, dass in Berlin zwei Ärztinnen verurteilt wurden, zwei Ärztinnen in Kassel freigesprochen wurden. Ist das für Sie die Rechtssicherheit, die Ärztinnen in diesem Land brauchen, die Informationen zum Schwangerschaftsabbruch an ungewollt Schwangere geben?
Frau Ministerin.
Uns allen, auch mir als damalige Abgeordnete, war es bei der Neuregelung des § 219a wichtig, dass sich Frauen, die sich in dieser ganz schwierigen Situation befinden, informieren können, welche Möglichkeiten es gibt, wo es solche Möglichkeiten gibt; denn ich glaube, es ist das Allerwichtigste, dass man sich, bevor man eine solche Entscheidung trifft, entsprechend informieren kann. Ich glaube, das ist mit der Neuregelung des § 219a auch ermöglicht worden.
Was ich für eine bedenkliche Entwicklung halte, ist, dass sich immer mehr Ärztinnen und Ärzte nicht mehr in Listen, zum Beispiel bei der Bundesärztekammer, eintragen lassen, weil sie in Sorge sind, dass diese Eintragung dann zu Repressalien vor Ort, in ihren Praxen, gegenüber ihren Familien, führt. Das ist etwas, was sie davon abhält, dieses Angebot kundzutun, und das führt dazu, dass Frauen eben weniger Ansprechpartner in solchen ganz schwierigen Situationen haben.
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Deswegen ist es wichtig, dass wir deutlich machen: Das ist eine ganz schwierige Situation, und selbstverständlich muss es für Frauen dieses Angebot geben. § 219a bietet so, wie er jetzt neu geregelt ist, die Möglichkeit, sich entsprechend zu informieren.
Die Urteile, die Sie angesprochen haben, beruhen zum Teil noch auf der alten Rechtslage.
Frau Ministerin.
Sie haben bitte Verständnis dafür, dass ich auch da konkrete Entscheidungen nicht kommentiere.
Rückfrage?
Ja. – Das macht die Sache, dass Ärztinnen und Ärzte weiter durch diesen Paragrafen kriminalisiert werden, nicht besser. Das sehen wir an diesen Urteilen.
Sie haben aber gerade noch einmal die Situation der Frauen angesprochen. Es war übrigens absehbar, dass sich Ärztinnen und Ärzte auf dieser Grundlage nicht in diese Listen eintragen lassen. Das war vorhersehbar.
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Wir hören an dieser Stelle aber, dass Sie hier auf diese Listen bzw. die Informationen der Bundesärztekammer verweisen. Ich frage deshalb: Finden Sie denn, dass die sehr allgemeinen Informationen auf der Seite der Bundesärztekammer die Informationsersatzleistung sind, die die Ärztinnen und Ärzte als die Wissenden im Jahr 2019 auf die eigene Internetseite stellen könnten? Sagen Sie mir, ob Sie der Meinung sind, dass das ausreichende Informationen für Frauen in Not sind, die eine ungewollte Schwangerschaft haben und schnell Informationen brauchen?
Frau Ministerin, bitte.
Frauen in dieser Konfliktsituation haben die Möglichkeit, Informationen über Einsicht dieser Liste bei der Bundesärztekammer bundesweit abzufragen. Sie haben nicht nur die Möglichkeit, diese für ihren Ort einzusehen. Manchmal entscheiden sie sich ja, gerade nicht vor Ort, da wo sie leben, zum Arzt zu gehen, um sich in solch einer Konfliktsituation beraten zu lassen. Vielmehr entscheiden sie sich ganz bewusst, einen anderen Arzt aufzusuchen, um sich entsprechend beraten zu lassen. Deswegen glaube ich, dass diese Liste bei der Bundesärztekammer diese Möglichkeit gibt, diese Informationen eben bundesweit zu bekommen, um dann die Entscheidung zu treffen, von welchem Arzt man sich darüber informieren lassen möchte.
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Das gibt der § 219a in der Neuregelung her.
Vielen Dank, Frau Ministerin. – Damit beende ich jetzt die Befragung der Bundesregierung. Die Zeit ist abgelaufen. – Danke schön, Frau Lambrecht.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es gibt immer mehr Menschen in Deutschland, die auf die Tafeln angewiesen sind. Mittlerweile gibt es 1,6 Millionen „Kunden“. Das ist eine ziemlich beschönigende Bezeichnung für Menschen, die arm sind und ihren Lebensunterhalt sonst nicht bestreiten könnten. Das, meine Damen und Herren, ist nicht nur in der Vorweihnachtszeit eine Schande für dieses reiche Land!
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Eine besonders große Gruppe derjenigen, die auf die Tafeln angewiesen sind, sind die Rentnerinnen und Rentner. Hier ist die Zahl im Vergleich zum Vorjahr um 20 Prozent gestiegen.
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Hinter dieser anonymen Zahl verbergen sich Schicksale, verbirgt sich Armut. Ältere Menschen, die Flaschen sammeln, sind in den Großstädten mittlerweile ein alltägliches, trauriges Bild. 1 Million Rentnerinnen und Rentner haben einen Minijob; die Zahl hat sich seit 2003 verdoppelt. Diese Menschen tun das sicher mehrheitlich nicht aus Spaß oder Langeweile, sondern aus purer Existenznot. Dass Tafeln überhaupt notwendig sind, ist ein Symbol eines Sozialstaates, der an entscheidenden Stellen nicht mehr richtig funktioniert, und das werden wir als Linke niemals akzeptieren.
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Diese Situation ist nicht vom Himmel gefallen, sondern politisch verursacht worden durch unterschiedliche Regierungskoalitionen, die die gesetzliche Rentenversicherung demontiert haben, und eine verfehlte Arbeitsmarktpolitik, die Befristung, Leiharbeit und andere Formen der prekären Beschäftigung gefördert hat. Deutschland hat mittlerweile einen der größten Niedriglohnsektoren in Europa. Mittlerweile arbeitet jeder Fünfte in Deutschland zu einem Niedriglohn, in Ostdeutschland sogar jeder Dritte. Das offenbart doch das sozialpolitische Versagen; denn wer von seiner Arbeit schon nicht leben kann, wird auch im Alter arm sein. Um es deutlich zu machen: Wer ein Leben lang unter 12 Euro pro Stunde gearbeitet hat, dem bleibt nichts anderes übrig, als im Alter aufs Amt zu gehen und Grundsicherung zu beantragen.
Meine Gewerkschaft NGG führt zurzeit Tarifverhandlungen in der Systemgastronomie – Burger King, McDonald’s, Starbucks usw. Die Kolleginnen und Kollegen kämpfen gegen die Hungerlöhne in dieser Branche. Kein Lohn unter 12 Euro pro Stunde; denn damit ist Altersarmut vorprogrammiert!
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Ich wünsche den Kolleginnen und Kollegen an der Stelle ganz viel Erfolg.
Um Altersarmut zu verhindern, müssen die Löhne, muss der Mindestlohn steigen. Wir fordern schon lange einen Mindestlohn von 12 Euro. Auch bei SPD und Grünen scheint diese Einsicht jetzt zu reifen; wir haben ja schon öfter die Vorreiterrolle innegehabt. Die Union behauptet allerdings nach wie vor scheinheilig, dass die Erhöhung des Mindestlohns Aufgabe der Tarifpartner sei,
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und trägt die Tarifautonomie wie eine Monstranz vor sich her,
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wohl wissend, dass die Mindestlohnkommission gegen das Veto der Arbeitgeber den Mindestlohn eben nicht mit einer kräftigen Erhöhung auf ein armutsfestes Niveau anheben kann.
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Selbst Ihr eigener Arbeitnehmerflügel gesteht ein: „Die Entwicklung des Mindestlohns ist eine Riesenenttäuschung.“ Also: Zeit zu handeln, meine Damen und Herren!
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Aber stattdessen blockieren Sie von der Union wieder jeglichen Fortschritt.
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Neun Monate lang haben Sie in der Großen Koalition um den Kompromiss zur Grundrente gerungen. Neun Monate! Herausgekommen ist dabei wahrlich kein großer Wurf, aber immerhin eine Verbesserung für fast 1,5 Millionen Menschen. Und jetzt stellt Ihre Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer diesen kleinen Kompromiss wieder infrage, nur weil ihr das Verhalten der SPD an dieser Stelle nicht gefällt. Es geht Ihnen also nicht um Respekt vor der Lebensleistung; es geht Ihnen auch nicht darum, die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern.
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Dafür sollten Sie sich als Union wirklich schämen!
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Länder wie Österreich beweisen uns, dass es anders möglich ist: mit einer Versicherung, in die alle einbezahlen,
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Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer genauso wie Selbstständige, Beamte und, ja, auch Politikerinnen und Politiker.
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Ich bin der Meinung, wir Abgeordnete sollten bei uns selber anfangen.
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Ich will es an einem Beispiel klarmachen: Ich habe in den 27 Jahren, in denen ich im Betrieb gearbeitet habe, einen ähnlich hohen Rentenanspruch erworben, wie ich ihn nach vier Jahren im Bundestag haben werde. Das ist wirklich absurd, meine Damen und Herren.
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– Ich kann Ihnen den Rentenbescheid zeigen, wenn Sie es nicht glauben. – Um eine Lebensstandardsicherung im Alter zu erreichen, brauchen wir höhere Löhne durch eine hohe Tarifbindung – der Mindestlohn kann letztendlich nur die Auffanglinie sein – und eine starke gesetzliche Rentenversicherung mit einem höheren Rentenniveau und einer Mindestrente.
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Dafür steht Die Linke.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Susanne Ferschl. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Peter Weiß.
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Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Tafeln sind eine nützliche Einrichtung, und es ist toll, wie viele Mitbürgerinnen und Mitbürger sich da ehrenamtlich engagieren.
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Aber daraus Rückschlüsse auf das Thema „Armutsgefährdung in Deutschland“ zu ziehen, ist eine sehr subjektive Einschätzung.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, von denjenigen, die bei uns in Deutschland eine gesetzliche Rente beziehen, sind nach wie vor knapp 3 Prozent auf Grundsicherung im Alter angewiesen.
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Das zeigt, dass die gesetzliche Rente in Deutschland nach wie vor leistungsfähig ist.
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– Es ist so.
Das viel größere Problem bilden diejenigen, die gar keine Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung beziehen, weil sie nie eingezahlt haben oder nur über ein paar wenige Jahre in die Rente eingezahlt haben und ansonsten nicht mehr. Deswegen ist die entscheidende Frage nicht, welche Veränderungen ich bei der gesetzlichen Rente vornehme, sondern, wie ich die Löcher stopfe, die dadurch entstehen, dass jemand gar keinen Anspruch gegenüber der gesetzlichen Rentenversicherung hat.
Da fällt einem zuallererst auf, dass viele ehemalige Selbstständige nur wenig oder ungenügend fürs Alter vorgesorgt haben und dass es Personenkreise gibt, die nie in der Rentenversicherung waren. Durch das zentrale Armutsbekämpfungsinstrument, das wir als Große Koalition angehen werden – wir verpflichten alle Selbstständigen vom ersten Tag, an dem sie sich selbstständig machen, bis ins Rentenalter hinein fürs Alter vorzusorgen –, werden auch all diejenigen, die heute keine Rentenbiografie haben, eine verlässliche Altersversorgung aufgrund von Beiträgen, die sie in ein Pflichtsystem eingezahlt haben, erzielen.
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Das Zweite. Wenn man sich fragt: „Was sind das für Mitbürgerinnen und Mitbürger, die trotz gesetzlicher Rente im Alter nicht genug zum Leben haben?“, dann stellt man fest, dass das vor allen Dingen Rentnerinnen und Rentner sind, die neben der gesetzlichen Rente kein zusätzliches Alterseinkommen haben, sprich: keine Zusatzrente. Deswegen ist das Entscheidende zur Vorsorge gegen Altersarmut, dass wir dafür sorgen, dass künftig möglichst alle Mitbürgerinnen und Mitbürger neben der gesetzlichen Rente auch eine Zusatzrente in Form der Betriebsrente oder privaten Altersvorsorge beziehen können. Mit der Zusatzrente ist quasi die Sicherheit gegeben, dass man im Alter nicht zusätzlich auf Grundsicherung angewiesen ist.
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Deswegen hat die Große Koalition bemerkenswerte und wichtige Reformen verabredet. Erstens. Neue Verträge der betrieblichen Altersvorsorge können seit dem 1. Januar dieses Jahres nur dann abgeschlossen werden, wenn auch der Arbeitgeber 15 Prozent dazugibt. Zweitens. Wir haben uns entschlossen, die Geringverdienerförderung, eine rein arbeitgeberfinanzierte Förderung der betrieblichen Altersvorsorge, zu verdoppeln. Drittens. Wir beschließen in dieser Woche, dass es bei der Verbeitragung durch die Krankenkasse im Alter einen Freibetrag von – ab nächstem Jahr – 179 Euro gibt.
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Jetzt ist der Herr Weiß dran.
Das ist ein dynamischer Freibetrag in der Krankenversicherungspflicht.
Ich finde, jetzt ist es höchste Zeit, dass wir mit diesem Angebot in Zukunft eine Verpflichtung schaffen, damit jeder eine Form der zusätzlichen Altersversorgung erhalten kann. Wir werden die Geringverdiener in diesem starken Maß fördern, so wie wir es in der Koalition miteinander verabredet haben.
Ein dritter Punkt ist in der Tat das Projekt Grundrente. Wir wollen, dass derjenige, der lange in das System eingezahlt hat, im Alter besser dasteht als derjenige, der nicht eingezahlt hat. Deswegen ist es folgerichtig, und darin sind wir uns einig – in der Ausgestaltung sind vielleicht viele Fragen noch strittig –: Wir wollen, dass derjenige, der 35 Jahre in das System der gesetzlichen Rente eingezahlt hat, besser dasteht als derjenige, der nie eingezahlt hat, und damit die Chance hat, deutlich über das Grundsicherungsniveau zu kommen.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, man kann vieles beklagen und auch skandalisieren. Die Frage ist: Handeln wir? Wir haben beim Thema „betriebliche Altersvorsorge für jeden Geringverdiener möglich machen“ gehandelt. Wir werden beim Thema „Alterssicherung der Selbstständigen“ handeln – wir sind in der Vorbereitung der entsprechenden Gesetzentwürfe –, und wir werden beim Thema Grundsicherung handeln. Am Handeln der Großen Koalition soll es nicht fehlen, um Altersarmut in Zukunft zu vermeiden.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Peter Weiß. – Nächste Rednerin: für die AfD-Fraktion Ulrike Schielke-Ziesing.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Bürger!
Wir sprechen heute über das Thema Altersarmut, weil die Tafeln aktuell Alarm geschlagen haben, weil sie dem Ansturm auf ihre Lebensmittel nicht mehr gewachsen sind und weil es immer mehr alte Menschen sind, die dort anstehen müssen, Menschen im Rentenalter. Diese Menschen haben oft ein ganzes Leben lang gearbeitet und sind nun trotzdem auf gespendete Lebensmittel angewiesen.
Mit der gleichen Berechtigung, liebe Kolleginnen und Kollegen, könnten wir heute eine Aktuelle Stunde abhalten, weil das DIW vor Kurzem festgestellt hat, dass mehr Menschen keine Grundsicherung im Alter beantragen, obwohl sie Anspruch darauf hätten, als es Menschen gibt, die tatsächlich zum Amt gehen und Hilfe beantragen. Mit der gleichen Berechtigung könnten wir jede Woche eine Aktuelle Stunde abhalten, weil immer mehr alte Menschen ihre Miete nicht bezahlen können oder ihre Stromrechnung. Und mit der gleichen Berechtigung könnten wir heute eine Aktuelle Stunde beantragen, weil Senioren, die Pfandglas aus den Mülleimern ziehen, inzwischen – auch in der Vorweihnachtszeit – zum Bild deutscher Innenstädte dazugehören.
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Mit anderen Worten: Wir reden hier über das völlige Versagen in der Renten-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik und das jahrzehntelange Kaputtsparen der gesetzlichen Rentenversicherung.
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Nirgendwo in Europa zahlen die Bürger so hohe Beiträge von ihrem Einkommen, nirgendwo in Europa erhalten sie im Vergleich so wenig an Leistungen und nirgendwo in Europa müssen sie so lange dafür arbeiten.
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Das ist seit 2001 politisch so gewollt; das ist die traurige Bilanz Ihrer Politik.
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Die gesetzliche Rentenversicherung, ehemals verlässliche Basis für die Altersversorgung aller Beitragszahler, ist nur noch eine Säule. Für die anderen Säulen, das heißt die betriebliche und die private Altersvorsorge, durften die Menschen dann in aller Wahlfreiheit selbst aufkommen.
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Mit den Hartz-IV-Reformen wurde von der SPD ein dauerhafter Niedriglohnsektor geschaffen. Dieser Niedriglohnsektor ist keine Randerscheinung, sondern bis heute ein strukturelles Problem. 2017 hatten über 32 Prozent der Menschen in meinem Bundesland, in Mecklenburg-Vorpommern, weniger als 2 000 Euro brutto zur Verfügung. Wohlgemerkt: Die 2 000 Euro beziehen sich auf qualifizierte Angestellte, geringqualifizierte Arbeitnehmer verdienen natürlich weniger. Wissen Sie, in welchen Berufen die Menschen in Deutschland sehr wenig verdienen? Das sind die Reinigungsberufe, gefolgt von der Tourismusbranche, also den Angestellten in Hotels und Gaststätten. Der Tourismus ist bei uns in Mecklenburg-Vorpommern ein bedeutender Wirtschaftszweig, da können die Angestellten der Tourismusbranche sogar in Zwölf-Stunden-Schichten schuften, allerdings für einen Hungerlohn.
Was hat das nun mit dem Thema Rente zu tun? Nun, aus niedrigen Löhnen werden später niedrige Renten. Hinzu kommt eine kontinuierliche Absenkung des Rentenniveaus von 55 Prozent im Jahr 1990 auf rund 48 Prozent heute. Und wer die Möglichkeit hatte, privat, zum Beispiel mit einer Betriebsrente, vorzusorgen, dem wurden durch die Doppelverbeitragung der Kranken- und Pflegeversicherung die Zahlbeträge um rund 19 Prozent gekürzt. Und wer als Kleinanleger seine Rente mit einem Aktiensparplan aufbessern möchte, so wie es die Politik seit Jahren fordert, dem wird demnächst der Ertrag weggesteuert.
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Außerdem wurde die Deutsche Rentenversicherung über Jahre hinweg mit immer mehr versicherungsfremden Leistungen belastet. Die Zahlen dazu sind inzwischen bekannt: 2017 waren das über 31 Milliarden Euro, und dieses Jahr werden es über 34 Milliarden Euro sein; Geld, mit dem die Altersarmut gemildert werden könnte, wenn es die Rentenversicherung denn hätte. Insofern ist es gut – und ich begrüße das –, dass wir hier und heute die Gelegenheit haben, darüber zu reden, vor allem, da die Koalitionsfraktionen derzeit mehr mit sich selbst und ihren Beziehungsproblemen beschäftigt sind als mit einem vernünftigen Rentenkonzept.
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Ich finde es erfrischend ehrlich, dass die Grundrente das Erste ist, was die CDU/CSU über Bord werfen möchte, wenn sich die SPD aus der Regierung verabschiedet. Das ist verständlich; denn das Konzept ist Mist. Es ist teuer, wirkungslos und sozial ungerecht.
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Da sind sich alle Experten, angefangen von der Bertelsmann-Stiftung bis hin zur OECD, einig.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen nicht nur von der Linksfraktion, dann frage ich Sie doch: Wenn Ihnen die Bekämpfung der Altersarmut so sehr am Herzen liegt, warum haben Sie dann unserem Antrag im Ausschuss nicht zugestimmt, der genau das enthält, was einhellig von Experten gefordert wird, nämlich eine Freibetragslösung für die Grundsicherung im Alter?
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Das wäre doch der einfachste und sicherste Weg für die Entlastung der Rentner mit niedrigem Einkommen. Kann es sein, dass Sie dem Antrag nur deshalb nicht zugestimmt haben, weil er von uns kommt?
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Sie sollten Ihre Einstellung gegenüber den armen Rentnern noch einmal überdenken.
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Die heutige Aktuelle Stunde sollte Ihnen Gelegenheit dazu geben.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Schielke-Ziesing. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Ralf Kapschack.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nur ein Gedanke: Apropos Rentenkonzept, Frau Schielke-Ziesing – wo ist denn Ihres?
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Wollen Sie wie Herr Meuthen die gesetzliche Rentenversicherung zerschlagen? Oder wollen Sie eine völkische Rente à la Höcke? Das müssten Sie innerparteilich mal klären. Dann können Sie wieder herkommen und über Rentenkonzepte reden.
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– Blöken Sie nicht dazwischen, sondern äußern Sie sich sachlich! Klären Sie Ihre innerparteilichen Differenzen! Und dann kommen Sie mit einem Rentenkonzept her.
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Aber zurück zum Thema. Eines vorweg: Die knapp 1 000 Tafeln im Lande liefern und realisieren eine wirklich gute Arbeit. Sie sorgen dafür, dass noch brauchbare Lebensmittel nicht auf dem Müll landen, sondern bei Menschen, die sie wirklich gebrauchen können. Dafür sage ich auch an dieser Stelle herzlichen Dank an die vielen Ehrenamtlichen, die das vor Ort machen.
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Klar ist: Die Arbeit ist sinnvoll; denn dort gehen Leute hin, die sonst schwer über die Runden kommen; das ist ja unbestritten. Wenn die Zahl der älteren Tafelkunden steigt, ist das ein Hinweis auf ein drängendes Problem. Diese Menschen haben oft eine zu niedrige Rente und scheuen sich ebenso häufig, zum Amt zu gehen. Altersarmut ist in diesem Land ein Thema; das ist überhaupt keine Frage. Sie ist kein Massenphänomen; aber sie nimmt zu.
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Die Zahl derjenigen, die Grundsicherung im Alter beziehen, kann da nur ein Anhaltspunkt sein.
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Das DIW – die Studie ist ja eben schon erwähnt worden – hat vor ein paar Tagen veröffentlicht, dass 60 Prozent derjenigen, die Anspruch auf Grundsicherung im Alter haben, diesen Anspruch nicht realisieren -
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aus Unwissenheit, aus Angst, dass die Kinder finanziell in Anspruch genommen werden, aber auch aus Scham. An diesem Phänomen hat sich leider seit Jahrzehnten nichts verändert.
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Ich habe meine Diplomarbeit über dieses Thema geschrieben.
Es ist allerdings ein Armutszeugnis für ein reiches Land wie Deutschland und einen Sozialstaat wie unseren, dass es Menschen gibt, die trotz Sozialleistungen aufgrund steigender Mieten und Lebenshaltungskosten zusätzlich zur Tafel gehen, weil sie sonst nicht über den Monat kommen.
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Es gibt viele, die ihren Anspruch beim Staat gar nicht geltend machen, weil sie sich schämen oder weil sie Angst vor der Bürokratie haben.
Wir wollen und wir werden künftig denjenigen den Gang zum Amt ersparen, die jahrzehntelang gearbeitet haben, die Kinder erzogen haben und die Angehörige gepflegt haben. Mit der Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung lösen wir dieses Versprechen endlich ein.
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Wir wollen den Sozialstaat wieder stärker zum Partner der Menschen machen, damit sie ihn nicht als Obrigkeitsstaat verstehen und erleben, wie das noch viel zu oft der Fall ist.
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Die SPD hat jüngst auf ihrem Parteitag mit dem Sozialstaatspapier den Grundstein dafür gelegt. Da heißt es:
Leistungen des Sozialstaats sind soziale Rechte, die Bürgerinnen und Bürgern zustehen. Sie sind Inhaberinnen und Inhaber dieser Rechte, keine Bittsteller.
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Da heißt es auch:
Der Sozialstaat hat gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern eine Bringschuld …
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Armut beginnt nicht erst mit dem Bezug von Grundsicherung; Armut beginnt viel früher, unabhängig davon, ob die Rente 10, 50 oder 100 Euro über dem Existenzminimum liegt. Wenn man sich keinen Kaffee oder kein Stück Kuchen beim Bäcker und keinen Kinobesuch mehr leisten kann, dann führt das zu einem Gefühl der Ausgrenzung. Diesem Gefühl, von der Gemeinschaft, vom Staat im Stich gelassen zu werden, müssen wir Rechnung tragen. Im besten Fall sorgt eine ordentliche gesetzliche Rente dafür, dass die Menschen im Alter ihren einmal erarbeiteten Lebensstandard halten können.
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Da gibt es noch einiges zu tun, in der Tat; aber wir haben auch schon einiges auf den Weg gebracht. In den vergangenen Jahren gab es so viele Leistungsverbesserungen bei der gesetzlichen Rente wie jahrzehntelang nicht. Und wir haben auch das Rentenniveau stabilisiert.
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Da gab es und gibt es Schlaumeier, die sagen: Ja, okay, aber was hat das mit dem Kampf gegen Altersarmut zu tun? – Das hat eine ganze Menge damit zu tun.
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Wenn das Rentenniveau weiter sinkt – Frau Schielke-Ziesing, Sie müssten das ja eigentlich wissen –, dann muss man immer länger arbeiten, um einen Rentenanspruch zu erwerben, der oberhalb der Grundsicherung liegt. Insofern hat die Stabilisierung des Rentenniveaus sehr wohl etwas damit zu tun.
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Wir wollen nicht, dass das Rentenniveau weiter sinkt. Mit der Stabilisierung stärken wir auch das Vertrauen in den Sozialstaat.
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Die SPD will das Rentenniveau langfristig stabilisieren, um den erworbenen Lebensstandard von Rentnerinnen und Rentnern zu sichern. Wir wollen auf dem Arbeitsmarkt die Voraussetzungen dafür schaffen, dass eine Erhöhung des Niveaus perspektivisch möglich ist. Das beste Rezept gegen Altersarmut sind eine gute Arbeitsmarktpolitik, gute Löhne, eine starke Tarifbindung, ein Schutz vor sachgrundloser Befristung und eine deutliche Erhöhung des Mindestlohns.
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Das hat auch etwas mit Generationengerechtigkeit zu tun; denn wir müssen heute auch dafür sorgen, dass es morgen gute Renten gibt.
Danke.
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Vielen Dank, Ralf Kapschack. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Pascal Kober.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, es gibt in diesem reichen Land auch Menschen, die im Alter arm sind. Aber zur Wahrheit gehört zunächst einmal auch, festzustellen, dass es derzeit nicht die Mehrheit ist. Die Mehrheit ist im Alter nicht arm.
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97 Prozent sind nicht arm.
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Aber jeder Einzelne, der im Alter auf Grundsicherung angewiesen ist, ist natürlich arm, und das ist nicht in Ordnung. Dagegen müssen wir natürlich etwas tun.
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Und deshalb ist es für mich vollkommen unverständlich, warum Sie sich vonseiten der Koalition, insbesondere Sie von der SPD, einer klugen, einer gerechten Lösung hartnäckig verweigern. Sie sind ja seit Monaten unterwegs, kämpfen für eine Grundrente, die aber nur dem kleinsten Teil der Menschen überhaupt hilft. Nur wer 35 Jahre einbezahlt hat, bekommt bei Ihnen noch extra oben etwas drauf auf seine Grundsicherung. Was ist aber mit den Menschen, die 15 Jahre gearbeitet haben und eingezahlt haben? Was ist mit denen, die 20 Jahre gearbeitet haben und eingezahlt haben?
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Was ist mit denen, die 30 Jahre gearbeitet haben und eingezahlt haben? Die gehen bei Ihnen alle leer aus, und das ist ungerecht, und das ist unverständlich. Das ist nicht sozialdemokratisch.
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Lassen Sie doch den Rentnerinnen und Rentnern ein bisschen was von ihrem selbstverdienten Geld, wenn sie in die Grundsicherung fallen. Wir schlagen 20 Prozent vor. Wenn jemand einen Rentenanspruch von 250 Euro hätte, dann würde er nach unserem Modell zur Grundsicherung noch 50 Euro dazubekommen. Wenn er 450 Euro Rentenanspruch hat, wären es schon 90 Euro. Das ist eine kluge Lösung, das ist eine gerechte Lösung. Aber da zeigen Sie sich von einer Hartherzigkeit, die vollkommen unverständlich ist. Im Übrigen nicht nur beim Thema Altersarmut: Auch bei Hartz IV verweigern Sie sich einer Verbesserung der Situation. Wenn es um die Hinzuverdienstgrenzen geht, dann nehmen Sie den Menschen fast alles weg. 80 Cent von jedem verdienten Euro nehmen Sie weg. Wir haben hier gefordert, dass den Menschen mehr bleibt. Wir haben gesagt: Lasst den Menschen mehr Geld. Da sind Sie vollkommen hartherzig und gönnen den Menschen nichts. Ich verstehe das nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD. Das ist keine soziale Politik.
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Wir haben hier im Bundestag ein Konzept eingebracht, mit dem Sie 300 000 Menschen in Arbeit bekommen würden. 300 000 Menschen! Sie haben es abgelehnt. Ich kann es nicht verstehen, dass eine sozialdemokratische Partei es ablehnt, Menschen in Arbeit zu bringen. Das ist nicht in Ordnung, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD.
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Womit beschäftigen Sie sich stattdessen? Stattdessen philosophieren Sie darüber, dass Sie Unternehmen wie BMW enteignen wollen, die Erbschaftsteuer erhöhen wollen, eine Vermögensteuer einführen wollen. Das sind alles lauter alte Kamellen aus der Vor-Godesberg-Zeit, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD. Das ist der falsche Weg. Gehen Sie voraus in die Zukunft und nicht in die Vergangenheit.
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Wo, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist die sozialliberale SPD der 70er-Jahre? Damals galt bei Ihnen noch: Aufstieg durch Bildung. Damals galt bei Ihnen noch, die Menschen zu befähigen. Damals galt bei Ihnen noch, die Menschen durch Bildung starkzumachen. Nichts davon ist bei Ihnen noch zu spüren, und nichts davon ist bei Ihnen noch zu hören. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Sozialdemokratie, befreien Sie sich von diesem falschen Weg. Gehen Sie mit uns zurück in die Zukunft. „Zurück in die Zukunft“, das hieße, die Menschen starkzumachen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kann so weitermachen. Wenn es um die Bekämpfung der Altersarmut in der Zukunft geht, dann wird es darum gehen, die Menschen starkzumachen. Das beginnt im Kindesalter. Wir haben Anfang dieses Jahres einen Antrag in den Deutschen Bundestag eingebracht, um die Teilhabe der jungen Menschen, der Kinder, an Sportvereinen, an Musikschulen besser zu bezuschussen. Wir haben Sie aufgefordert, den Zuschuss von 10 Euro auf 20 Euro zu erhöhen; Sie sind auf 15 Euro gegangen. Bei den restlichen 5 Euro sind Sie hartherzig geblieben. Das ist nicht in Ordnung. Wenn es um die Kinder geht, dann sollten Sie etwas mehr Verantwortungsgefühl zeigen. Ich kann Ihnen nicht empfehlen, diesen Weg weiterzugehen. Vor wenigen Wochen haben wir hier die Forderung eingebracht, diese 15 Euro auf 30 Euro zu erhöhen, Stichwort „Bildungschancen für Kinder“. Auch das haben Sie abgelehnt. Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, das ist nicht in Ordnung, und das werden wir auch weiterhin kritisieren.
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Eines möchte ich am Schluss aber auch noch sagen: Die Tafeln sind eine gute Einrichtung, und es ist sehr wertvoll, dass sich hier im Wesentlichen Menschen im Ehrenamt engagieren.
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Bei den Tafeln geht es nämlich nicht nur um Lebensmittel, die Menschen dort günstig bekommen; die Tafeln sind auch Orte der Begegnung, sie eröffnen die Möglichkeit, dass Menschen, die nicht altersarm sind, die nicht arm sind, auf Menschen treffen, die es im Leben vielleicht etwas knapper haben. Bei den Tafeln geht es auch darum, dass die Sozialarbeit an die Menschen andocken kann. Insofern kann ich Ihnen nur sagen: Die Tafeln sind eine wirklich gute Einrichtung. Ich bin dankbar für jede, die es gibt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das sollten wir auch weiter unterstützen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Pascal Kober. – Nächster Redner: für Bündnis 90/Die Grünen Markus Kurth.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kober, Sie wollen die SPD nehmen und mit ihr zurückgehen. Sie haben die SPD ja aufgefordert, mit Ihnen zurückzugehen. Also, wissen Sie, wo Sie herkommen? Ich glaube nicht, dass es für die SPD wirklich eine attraktive Perspektive ist, sich ins Jahr 2013 zurückzubewegen.
({0})
Das, was Sie hier erzählen, zeigt allerdings, dass Sie wirklich ganz weit zurückwollen. Kann es denn sein, dass wir hier in einer Debatte über Armut im Alter allen Ernstes quasi als Empfehlung geben, dass die Armen im Alter arbeiten gehen? Das ist wirklich wirklichkeitsfremd, muss ich sagen.
({1})
Wir sind auch dafür, dass man das Arbeiten auf freiwilliger Basis auch nach Erreichen der Regelaltersgrenze erleichtern und ermöglichen sollte.
({2})
Aber in diesem Kontext von Armutsbekämpfung durch Arbeiten im Alter zu reden, das ist schon – ich benutze das Wort nicht so inflationär – zynisch.
({3})
Auf der anderen Seite, Herr Kober, machen Sie dann auch noch den Vorschlag, als Armutsbekämpfungsmöglichkeit einen Freibetrag in der Grundsicherung einzuführen. Wissen Sie, was das wiederum bedeutet? Das bedeutet, dass die Rentnerinnen und Rentner möglicherweise trotz sehr langer Versicherungszeiten in der Grundsicherung bleiben. Das heißt also, die Angemessenheit der Wohnung wird überprüft; das Ersparte wird angerechnet. Das ist überhaupt keine Lösung für Leute, die auf viele Jahrzehnte Mitgliedschaft in der gesetzlichen Rentenversicherung zurückblicken.
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Da ich jetzt sehe, dass die SPD an der Stelle klatscht, worüber ich mich freue, muss ich leider doch sagen: Sie räumen dieses Problem mit Ihrer Grundrente zu weiten Teilen nicht aus. Wenn man Krankenversicherungs- und Pflegeversicherungsbeiträge nach Anwendung Ihres Berechnungsmechanismus anrechnet, und wenn man sich anguckt, wie gerade in den hochpreisigen Städten die Wohnkosten sind, dann stellt man fest – wir werden ja vielleicht irgendwann in ein Gesetzgebungsverfahren dazu kommen –, dass ein großer Teil derer, die Sie erreichen wollen, trotzdem in der Verfahrensmühle Grundsicherung stecken bleibt, obwohl es einen Freibetrag gibt.
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Darum schlagen wir, Bündnis 90/Die Grünen, auch vor, eine Garantierente einzuführen: Nach 30 Versicherungsjahren bekommt man 30 Rentenpunkte. Es soll dabei keine Vermögensprüfung geben,
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und es soll nur sichergestellt werden, dass die Ehe nicht bessergestellt ist. Es braucht einfache, unbürokratische Leistungen, auf jeden Fall oberhalb der Grundsicherung. Das wäre ein prima Modell, und dieser Richtung sollten Sie folgen. Geben Sie sich einen Ruck!
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Eines muss ich jetzt zu Frau Schielke-Ziesing und der AfD sagen: Was Sie in der Rentenpolitik möchten, ist gar nicht klar. Herr Meuthen – das ist immerhin einer Ihrer Bundesvorsitzenden – hat auf dem Podium mehrerer Rentenveranstaltungen, bei denen ich mit ihm saß, das Vorbild Chile genannt. Chile hat die gesetzliche Rentenversicherung
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komplett zerstört und durch eine Kapitaldeckung ersetzt. Dort ist die Armut im Vergleich zu allen OECD-Ländern mit Abstand am allerhöchsten. Das ist das, was Sie den Leuten in Mecklenburg-Vorpommern offenbar vorschlagen.
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Und der andere da – wie heißt er, der aus Thüringen? –, Bernd Höcke ist auch völlig auf dem Holzweg. Er sagt, er will einen Rentenaufschlag nur für Deutsche. Das ist verfassungswidrig. Das läuft dem Versicherungsprinzip zuwider, bei dem die eingezahlten Beiträge über das Ausgezahlte bestimmen. Das ist das kleine Einmaleins jeder Versicherung, nicht nur der Rentenversicherung.
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Das ist natürlich vollkommener Unsinn und überhaupt kein rentenpolitisches Konzept.
Da Sie von der AfD gerade noch die Niedriglohnbeschäftigung in Mecklenburg-Vorpommern beklagten und Sie gleichzeitig, wie mir eine Kollegin sagte, heute im Wirtschaftsausschuss die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen bekämpft haben,
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sage ich Ihnen: Gerade die Beschäftigten, die Zwölf-Stunden-Schichten im Sommer an der Ostseeküste, auf Usedom, auf Rügen machen, gerade die Beschäftigten im Nahrungsmittel- und Gaststättengewerbe, gerade diejenigen, die von Altersarmut tatsächlich risikoreich betroffen sind, sind Ihnen vollkommen egal. Sie wollen die Leute instrumentalisieren
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und Wasser auf die Mühlen gießen. In Wirklichkeit verraten Sie von vorne bis hinten deren Interessen.
Danke.
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Vielen Dank, Markus Kurth. – Herr Kober, Sie haben sich zu einer Zwischenfrage gemeldet. Aber bei einer Aktuellen Stunde ist das nicht vorgesehen.
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Als nächster Redner: Frank Heinrich für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf gewisse Weise sind die Tafeln ein Spiegelbild unserer Gesellschaft. Sie auf dieser Seite sprachen hauptsächlich über einen Aspekt, und von der anderen Seite habe ich etwas anderes gehört. Aber wenn wir in den Spiegel schauen, dann sehen wir zum einen gewisse Unwuchten in unserer Gesellschaft, die von einem Ihrer Kollegen bis hin zur Menschenrechtsverletzung bezeichnet wurden. Dagegen bin ich als Menschenrechtspolitiker ein bisschen allergisch.
Zweitens sehen wir im Spiegel ein großes Engagement auf der Seite derer, die sich einsetzen. 60 000 Menschen, x Firmen – auch das macht unsere Gesellschaft aus.
Drittens sehen wir sogar – zumindest in den letzten Jahren – eine ökologische Facette des Ganzen; denn die Lebensmittel landen nicht im Müll.
Beim Thema Tafeln hätte ich mich als Redner beworben, wenn ich nicht vorgeschlagen worden wäre. Ich selber habe zwei Tafeln gegründet. In dem Thema bin ich zu Hause. Ich habe mehrere Jahre jede Woche ein bis zwei Tafeln besucht. Die Erlebnisse, die ich gemacht habe, der Blick in die Augen, in die ich gesehen habe – einerseits die dankbaren, andererseits die der begeisterten Helfer –, das Engagement, die Zeit, das Geld, die Umstände, die man dabei hatte, sind unglaublich. Im Übrigen – das ist mir wichtig –: Die Gründung der Tafeln, die ich zu verantworten hatte, wie auch die der anderen Tafeln entstand in erster Linie aus dem Überfluss unserer Gesellschaft und aus dem Ausgleich, der innerhalb der Gesellschaft möglich gemacht werden konnte. Eine sinnvolle Verbindung von Überfluss und Mangel – geile Idee! Als Ansatz für eine Mangelbekämpfung und natürlich eine Armutsbekämpfung fand die erste Gründung in Berlin statt. Wenn ich es recht in Erinnerung habe, war das 1993. Sie entstand aufgrund von Obdachlosigkeit. Es war eine Suppenküche, ein Gegenentwurf zu den Nebenwirkungen von Armut. Da haben Sie, Herr Kapschack, vollkommen recht. Es ist eine Art Ausgrenzung. Es entsteht Einsamkeit. Dann gab es ein Gemeinschaftserlebnis. Das passiert nicht nur in den Läden und im Schlangestehen, sondern auch in der Gemeinschaft, die hervorgerufen wurde. Über Jahre hinweg habe ich als Mitarbeiter gesehen, was passiert ist. Deshalb weiß ich, dass die Zahlen – 1,65 Millionen – nicht automatisch Rückschlüsse darauf zulassen, wie viel Armut ist und wie viel davon Armut im Alter ist. Hierfür gibt es viele andere Facetten.
Dann gab es den Unmut, warum der eine etwas bekommt und der andere nicht. Wir haben in diesem Jahr eine große mediale Debatte dazu geführt. Teilweise haben mir Spender gesagt: Aber denen dürft ihr nichts geben! Woher wisst ihr denn, dass die arm sind? – Ärger, Neid und Unklarheit darüber, wer überhaupt arm ist. Auf der anderen Seite heißt es: Ihr seid die Tafel, ihr müsst uns doch versorgen. – Diese Haltung wurde manchmal durch eine Suggerierung von Behörden sogar bestätigt. Auch ein Freund, der die Tafel weiter leitete, die ich damals verantwortete, bestätigte mir gestern Abend: Oft sind es Leute ohne deutschen Pass, die gesagt kriegen: Ja wenn es nicht reicht, dann geben wir Ihnen einen Tipp: Es gibt die Tafel. – Und die glaubten das und haben den Eindruck erweckt bekommen, dass sie ein Recht haben, dort versorgt zu werden – staatlich. Die Tafeln wollen nicht als offiziell soziale Leistung verstanden werden, und das sind sie auch nicht; natürlich sind sie eine soziale Leistung, aber on top. Sie sind ein zusätzliches strukturelles Angebot, worauf aber keiner einen Anspruch hat.
Unsere staatliche Aufgabe ist die Verhinderung von Armut. Die Tafeln entbinden uns nicht von der Daseinsvorsorgepflicht.
({0})
Die Tafeln arbeiten nicht im öffentlichen Auftrag, obwohl es zu unserem gesamten Land dazugehört und ein schönes Bild in diesem Spiegel ist. Die Tafeln stellen sich der gesellschaftlichen Aufgabe und den negativen Folgen von Armut – das habe ich gerade genannt. Und das ist großartig.
Nun bekommen wir das Thema von Ihnen vorgesetzt. Was passiert dann? Soziale Einrichtungen sind ein Gradmesser für unsere Gesellschaft. Wir als Politik, als Koalition – ja, das wurde schon genannt, das muss ich nicht wer weiß wie ausführen – haben einiges getan: Die Grundrente ist eine große Anpassung. Es gibt die Geringverdienerförderung; mein Kollege Weiß hat es gesagt. Die Bundesregierung hat den Armuts- und Reichtumsbericht vorgelegt. Wir werden übermorgen darüber debattieren, ob die Erhebung einer Wohnungslosenstatistik – aus der Gruppe der Wohnungslosen werden sehr wahrscheinlich einige bei den Tafeln landen – sinnvoll ist, und möglicherweise werden wir neue Erkenntnisse für die Politik daraus ableiten.
Einiges ist an Erfolg zu verzeichnen, wir sind aber noch lange nicht am Ende. Ja, das muss man auch in dem Spiegel wahrnehmen. Aber – mein Kollege hat es vorhin gesagt – letztlich muss man natürlich die Arbeitslosigkeit bekämpfen, wenn man Armut im Alter bekämpfen will. Gut ausgebildete Personen sind in aller Regel dauerhaft vor sozialem Abstieg geschützt.
Letzter Gedanke – dritter Teil im Spiegel –: Es geht um mehr als um Geld oder um Armut oder um den Ausdruck von Reichtum in diesem Spiegel. Tafeln retten jährlich 265 000 Tonnen Lebensmittel, aber immer noch werden 18 Millionen Tonnen Lebensmittel vernichtet. Die Lebensmittelverschwendung zu halbieren und Potenzial beim Klimaschutz zu heben: Da ist eine Menge Schönes in dem Spiegel wahrzunehmen. Deshalb werden wir nicht den Teil ausixen, den Sie uns genannt haben.
Dazu könnte eine Neubewertung des Ehrenamts beitragen; in Sachsen tun wir das gerade.
Und ein letzter Gedanke. Vielleicht wäre es charmant, darüber nachzudenken, ab einer gewissen Stunden- plus Monats- plus Jahreszahl über einen Rentenpunkteanspruch für Menschen im Ehrenamt nachzudenken. Darüber würde ich mich freuen.
Danke sehr.
({1})
Der nächste Redner ist der Kollege Norbert Kleinwächter für die AfD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Lehmann, ehemalige Kreistagskollegin, herzlichen Glückwunsch zum Einzug in den Bundestag und auf eine gute gemeinsame Zusammenarbeit für den Heimatwahlkreis!
Ich komme gerade zurück aus Paris.
({0})
Es war eine Dienstreise. Ich war bei der Sitzung der Parlamentarischen Versammlung des Europarats. Es ging um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Ich weiß, da haben gewisse Parteien hier in diesem Haus leider gewisse Berührungsängste.
({1})
Ich war der einzige deutsche Abgeordnete dort – leider.
Auf jeden Fall: In Paris demonstrieren und streiken die Leute gerade. Sie demonstrieren und streiken gegen genau die Politik, die in Deutschland existiert und die Macron dort einführen will.
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Macron will faktisch die deutsche Rente nach Frankreich kopieren, genauso wie Ursula von der Leyen den Green New Deal von irgendwelchen US-amerikanischen Ökokommunistinnen kopiert und Merkel den Politikstil des Zentralkomitees. Diese Arbeitsattitüde der Großen Koalition bringt niemanden voran.
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Die Leute gehen auf die Straße, weil sie sehen: Das bringt uns in Armut. Wenn dieses System kommt, dann bedeutet die Zukunft Armut, und das ist leider die Gegenwart in Deutschland. Insofern danke ich Ihnen von der Linken, dass Sie das Thema heute auf die Tagesordnung gesetzt haben;
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denn es ist eine Schande für Deutschland, wenn immer mehr Rentner zur Tafel gehen müssen, um überhaupt überleben zu können.
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Das zeigt doch: Es stimmt etwas nicht zwischen Einnahmen und Ausgaben.
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Es kommt erstens zu wenig rein, und zweitens steigen die Ausgaben zu stark. Und das hat natürlich mit dieser makroökonomischen Politik zu tun, die insbesondere von den regierenden Parteien hier betrieben worden ist und betrieben wird.
Ein großes Stichwort heißt „Riester-Dämpfung“. Die Reform, die SPD und Grüne – ich spreche es offen an – damals eingeführt haben: Die Leute werden am Rande alle noch ein bisschen riestern, und dann werden sie letztendlich eine private Vorsorge haben. – Pustekuchen! Ich frage mich schon, wie die Bundesregierung überhaupt noch die Frechheit besitzen kann, im Rentenversicherungsbericht mit 4 Prozent per annum Verzinsung für die Riester-Rente zu rechnen. Wir wissen alle – das IVFP hat es nachgewiesen –, es kommen zwischen 0 und 2 Prozent Rendite raus, nicht 4 Prozent. Deswegen werden die Leute kaum mehr ausgezahlt bekommen, als sie eingezahlt haben, wenn sie in Rente gehen. Das bedeutet: Dieser private Vorsorgeteil scheitert, die gesetzliche Umlagerente haben Sie im Prinzip nach unten reformiert, auf einen niedrigen Standard reformiert, und dass wir heute Altersarmut zu beklagen haben, ist kein Zufall, sondern das Ergebnis Ihrer Politik. Das haben Sie als Ziel definiert.
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Es ist übrigens kein Ausweg, dass die Rentner im Alter einfach weiterarbeiten, Herr Kober. Ich weiß nicht, warum Sie das formulieren. Auch in einem Zeitungsinterview haben Sie das formuliert. Vielleicht betreibt die FDP ja demnächst einen Sarglieferservice für Büros.
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Ich weiß nicht, was das soll. Menschen haben im Alter ein gutes Auskommen verdient, und dafür müssen wir in der Politik sorgen.
Jetzt kommt die schwere Aufgabe für die Zukunft – viele von Ihnen haben darüber gesprochen –: Wir müssen Löhne anheben, wir müssen für Bildung sorgen usw. Das ist richtig, und das ist wichtig für die nächste Generation. Aber wir haben schon jetzt ein Altersarmutsproblem bei den Leuten, die bereits in Rente sind. Und da müssen wir letztendlich mit anderen ökonomischen Mitteln herangehen.
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Wir haben zweierlei Lösungskomplexe, die ich Ihnen ganz kurz vorstelle.
Das eine ist ganz klar: die Ausgaben zu reduzieren. Wir haben jede Menge Dinge, die die ganz normalen Menschen in unserem Land immer mehr belasten. Ich sage nur: Ökospinnereien aller möglichen Arten, neue Heizungsverpflichtungen, neue Autoverpflichtungen, Erneuerbare-Energien-Gesetz. Das muss weg. Das treibt unseren Strompreis in die Höhe, und diesen Strom zahlen natürlich auch unsere Rentner.
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Wir sollten die Grundsteuer abschaffen. Wir müssen den Mehrwertsteuersatz senken. Das sind doch alles Dinge, die zu Ausgaben führen.
Und vor allem: Wir müssen raus aus diesem Euro; denn der ist die Grundlage der großen Probleme, die wir in Deutschland haben.
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Wir haben den Euro mit einer ständigen Geldmengensteigerung. 13 Billionen ist die Geldmenge aktuell. Die EZB druckt jedes Jahr eine halbe Billion nach. Das wird einfach in den Markt gestreut, und zwar nicht an alle, sondern an Investoren. Die investieren wieder in Immobilien, damit werden die Wohnungen teurer, damit werden die Mieten wieder teurer, und diese Mieten müssen natürlich auch unsere Rentner bezahlen. Deswegen sind sie am Ende dann arm. Diese Situation haben wir.
Wir haben die Abwertung der Währung, sodass unsere Löhne und unsere Renten tatsächlich immer weniger wert sind.
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Das ist natürlich ein Problem, weil das letztendlich unsere Währung billiger macht und Investoren aus dem Ausland anlockt, was dann letztendlich wiederum zu einer Preissteigerung im Sachwertesegment führt.
Und wir haben die Negativzinspolitik, die auch ein Grund dafür ist, dass Riester nicht funktioniert. Die Leute kriegen keine Zinsen mehr auf ihre Spareinlagen. Die Leute können gar nicht mehr ordentlich fürs Alter vorsorgen. Und am Ende sind sie arm, weil unsere deutschen Rentner im Prinzip für die insolventen Broker aus dem Ausland zahlen. Das ist doch die Wahrheit der Politik, die die Regierung hier an den Tag legt.
Deswegen sagen wir: Runter mit den Ausgaben und raus aus dem Euro.
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Das ist die wahre makroökonomische Lösung für das Problem der Altersarmut in Deutschland.
Herzlichen Dank.
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Für die SPD hat das Wort die Kollegin Daniela Kolbe.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Was ich nicht mehr hören kann, sind diese Äußerungen, es gebe überhaupt gar kein Problem mit der Altersarmut, jedenfalls nicht jetzt, sondern irgendwann später.
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Dann werden oft die Zahlen der Grundsicherung im Alter hervorgezaubert, dass nur etwa 3 Prozent der Rentnerinnen und Rentner Grundsicherung bekämen, im Osten sogar noch viel weniger. Wenn das etwas mit der Realität zu tun hätte, der jetzigen, würde ich alle armen Rentner in meinem Wahlkreis persönlich kennen; denn die waren dann alle schon mal bei mir. Ich habe nämlich sehr viele Gespräche mit armen Menschen im Rentenalter geführt. Die meisten Gespräche bestätigen mir, dass die Leute gar nicht den Anspruch wahrnehmen, den sie gegenüber dem Sozialstaat haben.
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Die Menschen kommen mit ihrem GEZ-Bescheid für die Rundfunkgebühr, die sie natürlich zahlen müssen, wenn sie keine Grundsicherung beantragt haben. Darunter sind DDR-Geschiedene mit erbärmlichen Rentenbescheiden. Es gibt Menschen, die mit einer Mieterhöhung kommen, die sie nicht stemmen können. Es kommen Leute, die mich fragen, ob ich eine Idee hätte, wo sie noch zusätzlich erwerbstätig sein könnten, obwohl sie in der Rente sind. Und viele kommen und fragen, ob die Grundrente etwas ist, von dem sie profitieren könnten.
Ich frage dann nach. Ich frage nach ihrer Biografie: Wie ist es zu einer so niedrigen Rente gekommen? Aber ich frage auch – das muss ich in den meisten Fällen tun –: Wieso haben Sie noch keinen Antrag auf Grundsicherung oder auf Wohngeld gestellt?
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Die Geschichten, die dann kommen, treiben mir die Schamesröte ins Gesicht. In diesem reichen Land! Für ganz viele ist es eine Frage der Würde. Aus Gründen der Würde sagen sie: Nein, nach einem Leben voller Arbeit, nachdem ich Kinder großgezogen und mein Leben ohne Hilfe gemeistert habe, gehe ich nicht zum Amt und mache mich am Ende meines Lebens „nackig“. Wenn ich die Leute anschaue, wird mir auch immer wieder bewusst, dass sie ganz doll auf Äußerlichkeiten achten und dass es da um Würde geht: Ich bewahre mir meine Würde, obwohl ich ganz wenig Geld habe.
Es geht in den Gesprächen ganz oft um Sachen, die mir, wie gesagt, die Schamesröte ins Gesicht treiben. Da geht es darum, dass die Menschen Angst haben, dass ihre Familie mit den Beerdigungskosten alleingelassen ist und dass sie sozusagen Kosten hinterlassen. Sie nennen ganz lakonisch den genauen Euro-Betrag, den sie pro Woche für Lebensmittel zur Verfügung haben, oder sagen, wie viel sie noch im Kühlschrank haben. Sie sagen, dass sie im Herbst natürlich nicht heizen werden, sondern sich einen Pulli mehr anziehen, oder sie heizen nur ein Zimmer.
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So haben sich diese Menschen ihr Alter nicht vorgestellt. Und es gibt einen Moment, bei dem ganz vielen die Tränen kommen, nämlich wenn es darum geht, dass sie kein Geld haben, um ihren Enkeln irgendwie mal was zuzustecken. Da muss auch ich echt tief durchatmen.
Dieser Zustand, dass ganz viele einen Rechtsanspruch gegenüber dem Sozialstaat haben, ihn aber nicht geltend machen, kann so nicht bleiben, liebe Leute.
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Ich wehre mich auch mittlerweile gegen den Begriff „verdeckte Armut“. Denn es kann eigentlich jeder sehen, der es sehen will: bei den Tafeln, die Rentnerinnen und Rentner beim Flaschensammeln, aber auch, wenn man genau hinguckt und auch auf die Einkaufswagen achtet, beim Einkaufen im Supermarkt in bestimmten Stadtteilen.
Man kann gerne über die Höhe der Leistungen reden, finde ich. Das ist eine legitime Debatte. Aber noch viel zentraler ist für mich die Frage: Wie muss ein Sozialstaat sein, dass Menschen ihre Rechte gegenüber dem Sozialstaat auch geltend machen?
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Dazu hat die SPD auf ihrem Parteitag in ihr Sozialstaatspapier geschrieben und einstimmig beschlossen: Wir brauchen einen Sozialstaat, der auf Augenhöhe ist, der die Menschen nicht klein macht, der Partner ist und der die Menschen nicht zum Bittsteller werden lässt.
Die Grundrente macht es ja vor. Das ist nicht nur per se ein Instrument, das vielen hilft, Altersarmut zu vermeiden; es ist auch eines, das es, wenn wir es so umgesetzt bekommen – ich gucke meinen Koalitionspartner an: wenn die Geiselhaft dann beendet ist –,
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vormachen würde, nämlich dass kein Antrag nötig ist. Das ist richtig so. Dass kein Antrag nötig ist, um eine Leistung zu bekommen, und dass der Staat auf die Menschen zugeht, wenn es darum geht, Leistungen in Anspruch zu nehmen, das finde ich den richtigen Weg.
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Deswegen: Lassen Sie uns bei der Grundrente mit der Umsetzung loslegen! 1,5 Millionen Menschen in diesem Land warten darauf.
Was ist noch zu tun? Wir haben ja auch die zukünftigen Rentnergenerationen. Denen müssen wir helfen, indem wir Selbstständige besser absichern. Ich hoffe, wir bekommen da noch was Gutes hin.
Der Mindestlohn muss rauf, und wir brauchen eine höhere Tarifbindung.
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Und für die jetzige Rentnergeneration müssen wir dringend den Sozialstaat reformieren, und zwar zu einem Sozialstaat, der auf Augenhöhe ist, damit die Menschen die Hilfe, die ihnen zusteht, auch wirklich annehmen.
Wir müssen auch etwas für eine Gruppe tun, die ich schon genannt habe: für die in der DDR geschiedenen Frauen; Sie kennen das von mir. Da muss es einen Entschädigungsfonds geben, damit diese Menschen bessergestellt werden.
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Und wir müssen in einem ersten Schritt zügig die Grundrente einführen. Dann tun wir effektiv was gegen Altersarmut.
Vielen Dank.
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Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege Matthias W. Birkwald.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Altersarmut in Deutschland steigt von Jahr zu Jahr. Die Linke sagt: Eine Politik, die dazu führt, dass immer mehr ältere Menschen sich gezwungen sehen, zu den Tafeln zu gehen oder in Mülleimern oder Glascontainern nach Pfandflaschen zu suchen, ist eine Politik der unwürdigen Zustände. Und solche unwürdigen Zustände, meine Damen und Herren, müssen dringend abgeschafft werden.
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Wenn die Altersarmut nicht so rasant zunähme, dann hätten im vergangenen Jahr nicht 420 000 Menschen im Rentenalter Lebensmittel von den Tafeln holen müssen. Nach den Kriterien der Europäischen Union sind in Deutschland heute schon, Herr Weiß, liebe Union, Herr Straubinger, 18,2 Prozent der Menschen über 65 Jahre als arm zu bezeichnen. Das sind 1,3 Millionen Männer und 1,7 Millionen Frauen; das sind heute schon 3 Millionen arme Alte, und deswegen hat Daniela Kolbe mit dem, was sie eben gesagt hat, recht. Das sind 60 Fußballstadien voll mit armen Menschen im Alter, und da kann ich nur sagen, liebe Union: „Schämen Sie sich“, weil Sie überhaupt nichts gegen Altersarmut tun.
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Altersarmut ist kein Problem von morgen; sie ist schon heute ein Riesenproblem. Altersarmut fällt nicht vom Himmel. Sie ist menschengemacht, und sie hat handfeste Ursachen. Eine der wesentlichen Ursachen ist, dass SPD, Grüne und Union das Rentenniveau von 53 Prozent an in den Sinkflug geschickt haben. Heute erhalten Rentnerinnen und Rentner, alle 21 Millionen, im Durchschnitt einen Zahlbetrag von 1 000 Euro. Viele Rentnerinnen und Rentner erhalten aber wesentlich weniger.
Der nächste Punkt: der Mietenwahnsinn. 860 000 Seniorenhaushalte müssen mehr als 40 Prozent ihres Nettoeinkommens für die Miete aufwenden, und über 270 000 Rentnerinnen- und Rentnerhaushalte beziehen deshalb Wohngeld. Darum sage ich: Wir brauchen die Mietpreisbremse nicht nur in Berlin, die brauchen wir in ganz Deutschland.
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Wer Wohngeld bezieht, hat keinen Anspruch auf Grundsicherung oder Sozialhilfe im Alter. Die Grundsicherung im Alter – das Rentner-Hartz-IV – beträgt durchschnittlich 809 Euro, und davon sollen die Menschen essen, trinken, Kleidung kaufen, die Kosten für Miete, Heizung, Warmwasser und Strom und dann auch noch das bezahlen, was Bürokratinnen und Bürokraten „gesellschaftliche Teilhabe“ nennen und worunter wir hier Kaffee, Wasser, Bier, Theater, Kino, eine Fahrt mit dem Schiff auf der Spree oder auf dem Rhein verstehen. 809 Euro! Ich weiß nicht, wie man das davon bezahlen soll. Wissen Sie es? Nein, Sie wissen es auch nicht.
Seit 2003 hat sich die Zahl der Älteren, die auf dieses Rentner-Hartz-IV angewiesen sind, verdoppelt. Nun sind das 566 000 Menschen, also elf Fußballstadien voll mit armen Menschen. Hinzu kommt, Herr Weiß, dass 400 000 davon eine gesetzliche Rente haben. Deswegen kann ich nur sagen: Was Sie hier vorhin vorgetragen haben, war unterkomplex.
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Ja, das sind nicht mal 3 Prozent aller Altersrentnerinnen und ‑rentner, aber das sind in unserem reichen Land definitiv 566 000 Menschen zu viel, und darum müssen wir jetzt dringend handeln.
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Das Ausmaß dieser unwürdigen Zustände, der Altersarmut, ist viel größer, als uns Bundesminister Spahn, die Arbeitgeber oder Rainer Hank von der „FAZ“ weismachen wollen. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat das in seinem jüngsten Wochenbericht sehr deutlich gesagt: Die 566 000 armen Alten, die wirklich aufs Amt gehen und sich Sozialhilfe holen, sind nur 38 Prozent von denen, die eigentlich einen Anspruch hätten.
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Das bedeutet: Schon heute hätte eine knappe Million Menschen einen Anspruch auf Grundsicherung im Alter, aber sie nehmen ihn aus vielen Gründen nicht wahr.
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Insgesamt könnten heute 1,5 Millionen Menschen einen Anspruch auf Grundsicherung im Alter geltend machen, und da sage ich: So darf man mit unseren Alten nicht umgehen. Das muss aufhören.
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Die Dunkelziffer ist riesengroß, weil sich viele schämen oder nicht informiert sind oder weil sie die zehn Seiten des Antrags auf Grundsicherung in Bürokratensprache nicht verstehen – weil das zu kompliziert ist – oder weil sie glauben, dass die Kinder das Geld, das sie vom Sozialamt erhalten, zurückzahlen müssen. Dabei müssen das nur die Kinder tun, die 100 000 Euro und mehr im Jahr verdienen, und davon gibt es nicht so viele.
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Viele Menschen stellen darum keinen Antrag und sammeln stattdessen Pfandflaschen oder gehen zur Tafel. Meine Damen und Herren, schon heute rauscht eine Welle enormer Altersarmut gut hörbar auf uns zu, und darum sagt Die Linke: Unser aller Aufgabe hier im Parlament – vor allem auf der linken Seite des Hauses – ist es, sie zu verhindern. Wir müssen gemeinsam mit den Gewerkschaften, mit den Kirchen und mit den Sozialverbänden dafür sorgen, dass alle Menschen auch nach ihrem 65. Geburtstag in Würde leben können und dass ihre Rente zum Leben reicht. Die Altersarmut zu bekämpfen und für mehr sozialen Zusammenhalt zu sorgen, ist eine der wichtigsten und dringendsten Aufgaben in unserer demokratischen Gesellschaft.
Ich danke Ihnen.
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Der Kollege Max Straubinger hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Linken nehmen jede Möglichkeit wahr, wieder das Lied der Armut in Deutschland zu singen. Anders kann ich es nicht feststellen.
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Die Pressemitteilung, die es zu diesem Thema gab, dass sich immer mehr Menschen bei den Tafeln zusätzlich mit Lebensmitteln versorgen, bedeutet noch nicht, dass dies ein Armutsquotient ist. Sie haben richtigerweise die Arbeit der großartigen Ehrenamtlichen bei den Tafeln – es gibt fast 1000 Tafeln in Deutschland – angesprochen. Da danke ich ausdrücklich allen, die sich dieser ehrenamtlichen Arbeit verschrieben haben.
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Hier wird Menschen zusätzlich die Möglichkeit eröffnet, Lebensmittel zu erwerben, um damit neben der finanziellen Unterstützung des Staates – entweder durch Grundsicherung oder durch Wohngeld – mehr Freiraum zu haben. Diese ehrenamtliche Tätigkeit ist doch ein großartiges Engagement für den sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft; das möchte ich hier würdigen.
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Das Zweite ist: Die Linke zeichnet mal wieder ein verzerrtes Bild der Situation.
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– Doch, natürlich. Der Kollege Peter Weiß hat völlig recht gehabt, als er darauf hingewiesen hat, dass die Tatsache, dass nur knapp 3 Prozent im Alter auf Grundsicherung angewiesen sind,
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ein großartiges Ergebnis unserer Gesellschaftsform bedeutet. Wenn über 97 Prozent grundsätzlich nicht auf solche sozialen Unterstützungsleistungen angewiesen sind,
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so beruht das auf vergangener Arbeit, auf vergangenem Erwerb und darüber hinaus darauf, dass sich die Menschen selbst eine Lebensgrundlage geschaffen haben und nicht von staatlichen Leistungen abhängig sind. Es muss ja das Ziel einer Gesellschaft sein, dass letztendlich die eigenen Möglichkeiten der Menschen besonders gefördert werden.
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Das tut die Union, auch in dieser ab und zu etwas schwierigen Koalition.
Ich möchte doch einen kleinen Verweis auf die Vergangenheit geben. Wir haben die Regierung Ende 2005/Anfang 2006 angetreten. Arbeitslosigkeit: 10,8 Prozent. Jetzt sind wir bei 5 Prozent.
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Das heißt, wir haben die Arbeitslosigkeit kräftig halbiert. Das bedeutet Rentenansprüche in der Zukunft.
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Die Arbeitslosen der vergangenen rot-grünen Regierung haben keine Rentenansprüche erworben. Das muss man hier mit sehen.
Wir haben die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse gesteigert. 2006: 26,5 Millionen. Mittlerweile sind es über 33 Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäftigte.
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Das ist die Grundlage, damit zukünftig keine Altersarmut entsteht. Das ist mit das Entscheidende.
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Wir haben die Zahl der Erwerbstätigen kräftig gesteigert: 2006, also am Ende von Rot-Grün, 39,1 Millionen Erwerbstätige in unserem Land, jetzt 44,8 Millionen Erwerbstätige.
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Das ist die Grundlage für zukünftige Alterssicherung.
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Sie propagieren hier im Prinzip ein bedingungsloses Grundeinkommen.
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– Ja, natürlich. Das sind doch die Vorschläge, die hinter Ihren Worten schlummern.
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– Natürlich. – Die Frau Kollegin Ferschl, die ja Betriebsratsvorsitzende war, ist mittlerweile als Gewerkschafterin dazu übergegangen, die Tarifpolitik auf den Staat zu übertragen, indem sie hier einen Mindestlohn von 12 Euro einfordert.
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Sie haben in diesem Zusammenhang die NGG genannt, die Gewerkschaft für einen Bereich, in dem besonders niedrige Löhne gezahlt werden. Es wäre besser, die Gewerkschaften würden eine bessere Tarifpolitik machen,
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und man kann diese Verantwortung nicht dem Staat zuschieben, so wie Sie das tun, liebe Frau Kollegin Ferschl.
Das zeigt sehr deutlich: Wir haben die besseren Konzepte, damit Altersarmut gar nicht entsteht. Das ist mit das Entscheidende für uns und für die Menschen in unserem Lande. Daran sollten wir uns orientieren, nicht an irgendwelchen Pseudoergebnissen von fragwürdigen wissenschaftlichen Untersuchungen. Die Angabe, dass 60 Prozent angeblich nicht ihre Ansprüche anmelden, kann ich in keinster Weise nachvollziehen.
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– Ja, Studien mag es genügend geben. Die Praxis ist etwas anderes.
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Beim BAföG jammert keiner, dass er zum Amt gehen muss und seine Einkommensverhältnisse offenlegen muss.
Herr Kollege.
Bei vielen anderen Dingen ist es genauso. Man sagt immer: Man muss zum Amt gehen. – Es sind Rechtsansprüche der Bürgerinnen und Bürger; da braucht sich niemand zu scheuen. Es ist auch eine Verhöhnung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Ämtern, wenn man ihnen immer unterstellt, -
Kommen Sie bitte zum Ende.
– dass die Menschen zu ihnen nicht gehen wollen, weil sie möglicherweise unwürdig behandelt werden.
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Das sollten Sie sich auch mal zu Gemüte führen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Für die SPD-Fraktion hat das Wort die Kollegin Ursula Schulte.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Als ehemalige Mitarbeiterin der Tafel in meiner Heimatstadt Vreden sind mir viele Schicksale bekannt, die am Ende dazu geführt haben, dass Menschen Kunden der Tafel wurden. Denn Tafelmitarbeiter retten nicht nur Lebensmittel, sie haben auch ein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte der Menschen. Für dieses großartige Engagement möchte ich mich von ganzem Herzen bei allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Tafeln bedanken.
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1,6 Millionen Menschen waren im letzten Jahr Kunden der Tafeln. Die Kundschaft ist vielfältig: Familien und Alleinstehende, Menschen mit und ohne Migrationshintergrund, junge und alte Menschen. Sie alle haben aber eines gemeinsam: Ihr Einkommen ist so niedrig, dass der normale Wocheneinkauf zur Herausforderung wird oder ein kaputter Kühlschrank eine Katastrophe ist. Besonders bedrückend sind für mich die Kinderarmut und die Altersarmut, weil in beiden Fällen die betroffenen Bevölkerungsgruppen an ihrem Umstand, arm zu sein, kaum etwas ändern können.
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Viele der älteren Kunden bei den Tafeln sind Frauen. Altersarmut ist in der Regel weiblich. Frauen arbeiten in schlechter bezahlten Berufen, und sie unterbrechen ihre Erwerbstätigkeit öfter. Sie haben Kinder erzogen oder ihre Eltern oder Schwiegereltern gepflegt, gar nicht so selten beide Elternpaare. Diese Aufgaben werden auch heute noch in der Regel von Frauen übernommen. Immer wieder frage ich mich: Was tut unsere Gesellschaft gerade diesen Frauen an, die eine so wichtige Aufgabe wie die Pflege von Angehörigen übernehmen, die ihre Bedürfnisse und Wünsche für viele Jahre hintanstellen und dann als „Belohnung“ in die Grundsicherung geschickt werden? Und das, nachdem sie der Gesellschaft durch ihre Arbeit viele Kosten erspart haben!
Die Koalition hat die Situation der pflegenden Angehörigen durch die Pflegestärkungsgesetze verbessert; das muss man wirklich anerkennen. Der nächste wichtige Schritt wäre jetzt das von der SPD am Wochenende beschlossene Familienpflegegeld analog zum Elterngeld. Denn der Mensch ist ganz besonders auf die Hilfe und die Solidarität anderer angewiesen, wenn er klein und hilflos oder alt und pflegebedürftig ist.
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Armut im Alter und der Gang zur Tafel haben fast immer mit Armut im Erwerbsleben zu tun. An dieser Wahrheit führt kein Weg vorbei. Wer wenig verdient, erwirbt geringe Rentenansprüche, kann kaum für das Alter vorsorgen und erbt in den seltensten Fällen große Vermögen. Dagegen wird Armut oft vererbt. Wer diesen Zusammenhang übersieht und so tut, als wären die Menschen selbst schuld, wenn sie arm sind, der ist einfach nur zynisch.
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Gute Arbeit braucht gute Löhne. Das muss unser sozialpolitischer Anspruch sein und bleiben. Wir brauchen starke Sozialpartnerschaft, wir brauchen starke Gewerkschaften, die auf Augenhöhe mit den Arbeitgebern verhandeln können. Ich bin froh, dass wir als SPD das am Wochenende noch mal bekräftigt haben.
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Die Große Koalition war auch in den letzten Jahren in Sachen Armutsbekämpfung nicht untätig; das will ich durchaus honorieren. Wir haben den Mindestlohn trotz großer Proteste aus der Wirtschaft eingeführt. Wir haben die Arbeitsbedingungen in einigen Bereichen, zum Beispiel bei den Paketboten, verbessert. Aber über 1 Million Rentner in Deutschland haben eigentlich Anspruch auf Grundsicherung im Alter, und nur die Hälfte, Herr Straubinger, beantragt diese Leistung. Dafür gibt es insbesondere zwei Gründe: Viele kennen diese Leistung nicht; andere schämen sich, zum Sozialamt zu gehen. Dieses Amt haben sie in ihrem ganzen Leben noch nie in Anspruch nehmen müssen, und das möchten sie auch nicht im Alter tun. Es ist also ihr Stolz, der sie daran hindert.
Ich will auch noch an eine ganz besondere Armut erinnern: Menschen, die Hilfe zur Pflege erhalten und in einer stationären Pflegeeinrichtung leben, erhalten um die 100 Euro Taschengeld. Ich schäme mich für dieses reiche Land, wenn mir alte Damen dann erzählen, dass ihnen im Monat kein Geld für den Friseurbesuch übrig bleibt. Auch das ist ein Stück Würde, die wir den Menschen vorenthalten.
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Wenn mir gerade auch Frauen erzählen, mit wie wenig Geld sie auskommen müssen, dann weise ich natürlich auf die Grundsicherung hin. Doch sie sagen mir: Nein, diese beantrage ich nicht; meine Kinder müssen dann für mich zahlen. – Davor haben viele ältere Menschen die meiste Angst: ihre Armut gegenüber den eigenen Kindern zuzugeben. Während erwachsene Kinder nicht so große Scheu haben, ihre Eltern einmal um Geld zu bitten, ist es umgekehrt fast ein Tabu. Viele Betroffene sind überrascht, wenn ich dann sage: Aber Ihre Kinder werden doch erst ab einem Einkommen von 100 000 Euro zum Unterhalt verpflichtet. – Ob sie dann zum Sozialamt gehen, entzieht sich meiner Kenntnis. Denn zuzugeben, arm zu sein, fällt vielen sehr, sehr schwer.
Deswegen ist die Einführung der Grundrente gerade für Frauen so wichtig. Ich bin unserem Arbeitsminister Hubertus Heil und allen Beteiligten, auch den Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, die ja über ihren Schatten springen mussten, dankbar, dass diese Leistung ohne Bedürftigkeitsprüfung gewährt werden soll.
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Alles andere wäre auch keine Anerkennung von Lebensleistung gewesen. Diese Anerkennung hätten wir dann wiederum vor allem Frauen vorenthalten, die unter ganz anderen Umständen als heutzutage berufstätig waren, Kinder erzogen und gepflegt haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, solange Löhne und Renten noch nicht armutsfest sind, bin ich froh, dass es die Tafeln gibt. Sie geben den Menschen ein bisschen mehr finanziellen Spielraum. Das ist einfach die Realität, die ich nicht akzeptieren will, die ich ändern will,
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aber vor der ich auch nicht die Augen verschließen darf. Die Mitarbeiter der Tafeln tun im Übrigen alles, damit die Kunden sich nicht als Bittsteller fühlen. Natürlich gelingt das nicht immer. Gerade in kleinen Orten, wo jeder jeden kennt, stellt man sich nicht gern bei der Tafel an. Es geht auch nicht an, dass Sozialämter Menschen Leistungen verweigern mit dem Hinweis auf die Tafel.
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Die Tafeln sind kein Sozialamt light. Hier darf sich der Staat keinen schlanken Fuß machen.
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Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.
Ja. – Wenn ich zu Weihnachten dann noch einen Wunsch frei hätte, Herr Präsident, dann würde ich mir wünschen, dass in einem so reichen Land wie Deutschland niemand aus Not zur Tafel gehen muss, sondern freiwillig und selbstbewusst und einzig, um Lebensmittel zu retten.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Die letzte Rednerin mit ihrem Weihnachtswunsch: die Kollegin Antje Lezius, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wie wahrscheinlich viele meiner Kolleginnen und Kollegen habe ich vor Ort in meinem Wahlkreis Tafeln besucht, habe dort hospitiert, mit den Menschen gesprochen und mir ihre Geschichten angehört. Die Menschen, die ich dort angetroffen habe, leben nicht von der Tafel, wie der Antrag für diese Aktuelle Stunde es behauptet; aber sie sind dankbar, dass es die Tafel gibt. Ich bin dankbar, dass Ehrenamtler sich hier so stark einbringen.
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Wir wünschen uns alle, dass niemand in unserem Land für zusätzliche Lebensmittel anstehen muss. Besonders schmerzhaft ist es, wenn ältere Menschen, Rentnerinnen und Rentner, die vielleicht schon ein entbehrungsreiches Leben hinter sich haben, mit persönlichen Widrigkeiten gekämpft haben und nicht mehr im vollen Besitz ihrer Kräfte sind, für eine Lebensgrundlage anstehen müssen.
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Gerade weil es schmerzt, sind wir verpflichtet, ganz genau hinzusehen, um richtig einordnen zu können, um nicht nur Symptome, sondern Ursachen zu bekämpfen, um nachhaltige Lösungen zu finden. Schauen wir nur auf die gesetzliche Rente und ignorieren Vermögen, private oder betriebliche Altersvorsorge, das Einkommen des Ehepartners, dann sind Millionen Deutsche im Alter armutsgefährdet. Schauen wir hingegen nur auf die Bezieher von Grundsicherung im Alter, liegt die Zahl bei circa 500 000. Folgen wir dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, ergibt sich, dass etwa 1,5 Millionen ältere Menschen arm sind.
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Dies zur Einordnung. Dass selbst eine geringe Zahl immer noch zu hoch wäre, das versteht sich für mich von selbst.
Was können wir tun, um Altersarmut zu verringern? Die Rente, die wir erhalten, entspricht im Grundsatz dem, was wir vorher verdient haben. Das Rentensystem ist keine Sozialfürsorge, sondern eine Sozialversicherung, umso mehr wir einzahlen, desto mehr erhalten wir im Alter. Eine gute Wirtschaftspolitik, eine gute Arbeitsmarktpolitik, das sind die wichtigsten Hebel gegen Altersarmut. Unter den unionsgeführten Regierungen wurde in den vergangenen 14 Jahren die Arbeitslosigkeit massiv gesenkt. Wir haben eine stete Zunahme von sozialversicherungspflichtig Beschäftigten; mein Kollege hat es schon erwähnt. Wir haben Lohnsteigerungen. Wir haben ein konstantes Wirtschaftswachstum. Wir investieren Rekordsummen in Bildung. Wir unterstützen Qualifizierung und Weiterbildung.
Was können wir außerdem tun? Wir können uns die Gruppen anschauen, die besonders von Altersarmut gefährdet sind: Es sind die Frauen; es sind Selbstständige; es sind Langzeitarbeitslose; es sind Menschen mit fehlender Ausbildung; es sind Menschen, die schon in jungen Jahren krank geworden sind oder einen Unfall erlitten haben. Herr Birkwald, wir haben bereits viel getan – Sie waren dabei –: Für Letztere haben wir bereits in der 18. Wahlperiode mehrfach die Ansprüche bei der Erwerbsminderungsrente erhöht. Menschen mit fehlender Ausbildung helfen wir durch die Unterstützung bei der Nachqualifizierung, beim Nachholen von Abschlüssen. Aber wir setzen auch schon viel früher an: Wir haben Jugendberufsagenturen eingeführt, unterstützen durch Berufsausbildungsförderung, durch BAföG, durch das Vermittlungsbudget. Um Langzeitarbeitslosen den Weg zurück in die Beschäftigung zu erleichtern, haben wir das Teilhabechancengesetz auf den Weg gebracht. Und um den sozialen Schutz von Selbstständigen zu verbessern, werden wir jetzt eine gründerfreundlich ausgestattete Altersvorsorgepflicht einführen.
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– Demnächst. – Frauen haben wir nicht nur durch eine Erhöhung der Mütterrente gestärkt, sondern ermöglichen durch eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie auch eine konstantere Berufstätigkeit. Mit der Grundrente honorieren wir die Lebensleistung von Menschen, die jahrelang gearbeitet haben, aber dennoch zu niedrige Rente daraus beziehen. Mit dem Freibetrag in der betrieblichen Altersversorgung entlasten wir die Betriebsrentner ab Januar 2020 und steigern die Attraktivität, betrieblich vorzusorgen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Altersarmut hat viele Gesichter. Dank unseres Sozialstaats muss niemand Hunger und Not leiden. Aber wir wollen, dass es den Menschen besser geht. Daran arbeitet die Große Koalition mit einer klugen Arbeits- und Sozial-, Bildungs- und Wirtschaftspolitik.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Lezius. – Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Gäste auf der Tribüne! Ich bin seit ungefähr sechs Jahren im Deutschen Bundestag als Berichterstatter im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zuständig für den Maghreb-Raum und für den nordafrikanischen Bereich insgesamt. Ich bin sehr froh, dass es uns gelungen ist, einen sehr fortschrittlichen, einen sehr zukunftsweisenden gemeinsamen Antrag hier heute vorzulegen. Deshalb danke ich auch ganz herzlich den Kollegen von der SPD, dass wir ihn inhaltlich so stark aufstellen konnten.
Wir reden in all den Jahren, in denen ich mich mit diesem Thema beschäftigen darf, immer wieder über das Markantum: Wir brauchen eigentlich eine europäische Mittelmeerstrategie. Ich glaube, das würde uns insgesamt etwas überfordern; denn der Mittelmeerraum ist natürlich sehr divers. Nicht nur, dass dort drei Kontinente aufeinandertreffen, der asiatische, der afrikanische und der europäische, auch die Strukturen sind natürlich sehr viel diverser, als wir das innerhalb der Europäischen Union kennen. Deshalb haben wir uns in der Fraktion und auch mit dem Koalitionspartner darauf verständigt, dass wir uns mehr auf einen Bereich konzentrieren müssen, in dem man mit vergleichbaren, homogenen Strukturen miteinander arbeiten kann: Das wäre der westliche Mittelmeerraum. Auf der nordafrikanischen Seite sind das im Wesentlichen die Staaten Tunesien, Algerien, Marokko. Auf der europäischen Seite gehören dazu südliche Regionen, die wir nach dem europäischen Maßstab als strukturschwach bezeichnen könnten: Süditalien, Spanien, Griechenland nicht zu vergessen, Malta gehört dazu, aber sicherlich auch Frankreich – um einmal die Partner zu nennen, mit denen wir es hier zu tun haben.
Jüngst ist beispielsweise in Tunesien bei den Präsidentschaftswahlen ein Demokratieprozess zutage getreten, den man nur sehr begrüßen kann. Ich war am Tag nach den Wahlen selber in Tunesien und habe ein sehr aufgeräumtes, unaufgeregtes Miteinander erlebt und habe allen Tunesierinnen und Tunesiern, die ich getroffen habe, gesagt: Herzlichen Glückwunsch! Ihr seid jetzt wahre Demokraten. – Das zu unterstützen, ist auch ein Kernanliegen unseres gemeinsamen Antrags.
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Auch im Nachbarland Algerien kann man Ähnliches beobachten. Die Zeit nach Bouteflika ist, glaube ich, eingeläutet. Wenn man sich in Frankreich mit Exilalgeriern unterhält – meistens sind es sehr junge Leute –, sagen diese jungen Leute, dass sie zum ersten Mal wieder stolz auf ihr Land sind. Selbst die Perspektive, zurückzugehen und in ihrem Heimatland etwas auf die Beine zu stellen, etwas zu entwickeln, erscheint ihnen greifbar. Ich glaube, es ist ein wichtiges Anliegen der gesamten europäischen Gemeinschaft, diesen jungen Leuten die Unterstützung zu geben, damit sie diesen Weg gehen können und damit sie ihrem Volk – von wo aus auch immer – helfen können, sich wirtschaftlich, sozial, politisch, aber auch ökologisch aufzustellen und ein wichtiger Teil unserer Wertegemeinschaft zu sein.
Ich möchte ein Beispiel nennen; ich bin auch Mitglied im Ostseeparlament. Wir haben zwei Binnenmeere auf dem europäischen Kontinent: Das sind die Ostsee und das Mittelmeer. Das sind europäische Binnenmeere. Strukturell betrachtet ist Wasser eigentlich etwas Verbindendes. Aber warum ist der Ostseeraum auf der einen Seite eine der prosperierendsten Regionen auf der Welt,
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und warum gibt es im Mittelmeerraum auf der anderen Seite so viele Probleme? Wenn man sich die Geschichte einmal anschaut, stellt man fest, dass im Mittelmeerraum eigentlich alle europäischen Hochkulturen entstanden sind. Dort gab es vor dreieinhalbtausend Jahren schon Hafenstädte, von denen aus mit Segelschiffen Handel in der ganzen Welt betrieben worden ist, während wir im Ostseeraum noch nicht einmal Häfen hatten und wahrscheinlich noch im Einbaum unterwegs waren.
Welcher Prozess hat also dazu geführt, dass sich das so auseinanderentwickelt hat? Ich glaube, da ist es ganz wichtig, zu schauen, wie wir es hinbekommen, dass die europäische Seite und die afrikanische Seite im Handelsraum, im Wirtschaftsraum, im Sozialraum und im politischen Raum Mittelmeer mehr miteinander kooperieren. Das zu unterstützen, ist auch ein wesentlicher Teil unseres gemeinsamen Antrags.
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Wir brauchen also eine Best-Practice-Region „westliches Mittelmeer“, die vielleicht auch für andere Mittelmeerregionen beispielgebend sein kann für ein Miteinander im Austausch von Parlamentariern, aber auch im Austausch von Wirtschaftsleistungen. Ich glaube, wir haben allerbeste Voraussetzungen, um das dort hinzubekommen.
Ein wichtiger Punkt ist am Ende unseres Antrags beispielsweise der Vorschlag zu einem sogenannten Deutschen Haus, um das, was Deutschland an aktiven Entwicklungspartnerschaften mit unseren Einheiten, mit unseren Durchführungsorganisationen und mit dem Goethe-Institut in den Ländern bereits hat, zu bündeln und eine Adresse für die deutsche Wirtschaft, für Unternehmen, für Vereine, für das Ehrenamt, für Kultur und für Sport zu schaffen, damit man weiß, an wen man sich zu wenden hat, und damit man weiß, an welcher Stelle man Hilfe bekommt. Das ist wichtig für uns, aber natürlich auch für die Menschen in diesen Ländern.
Und dann kommt ein AfD-Antrag dazu, der hier überhaupt nicht hinpasst und der sich offensichtlich überhaupt nicht mit dem Kernanliegen unseres Antrags beschäftigt hat, nämlich mit der Europäischen Nachbarschaftspolitik, dem Miteinander von Europa und Afrika. Der Antrag der AfD kümmert sich ausschließlich um den afrikanischen Kontext. Deshalb hat es mich sehr geärgert, dass er hier so eingespeist worden ist. Aber zum Glück ist er so flach wie eine Flunder; inhaltlich ist da nicht viel drin.
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Das einzig Markante, das ein bisschen herausragt, ist das, was immer herausragt, nämlich die Überschrift „Migration stoppen“. Da kann ich Ihnen nur sagen: Migration lässt sich nicht stoppen, Migration lässt sich steuern.
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Das ist gar keine Frage. Migration ist immer auch ein Motor der Entwicklung der Menschheit gewesen. Sie haben wahrscheinlich kein Problem damit, wenn von den europäischen Migranten, die zu Hunderttausenden einmal nach Südafrika ausgewandert sind, der eine oder andere zurückkommt; Sie haben ein Problem damit, wenn die Menschen aus dem Kongo und aus Nigeria kommen.
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Sagen Sie doch ganz offen, was Sie wollen – damit komme ich zum Schluss –: Sie wollen Rassentrennung am Mittelmeer machen. Nichts anderes steht in Ihrer Überschrift.
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Nicht anders kann ich das auch verstehen.
Ich freue mich darüber, dass der Kollege Stefinger die restlichen Punkte des Antrags darstellen wird.
Herzlichen Dank.
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Der nächste Redner ist der Kollege Dietmar Friedhoff, AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer! Herr Stein, zuhören und lernen. Der vorliegende Antrag der CDU/CSU und SPD ist wie die Regierungsarbeit dieser Parteien Stückwerk und geht am Ziel vorbei. Aber wir von der S- –, AfD
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setzen uns gewohnt sachlich damit auseinander und zeigen auf, warum unser Antrag doch der bessere ist. – Immer ein bisschen Humoristik, Herr Raabe.
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Zu Ihrem Antrag „Mittelmeerraum stabilisieren – Entwicklungspolitische Kooperationen im westlichen Mittelmeerraum ausbauen“. Herr Stein, bereits 1995 wurde die Euro-Mediterrane Partnerschaft ins Leben gerufen, der sogenannte Barcelona-Prozess. 2008 wurde die Union für den Mittelmeerraum gegründet, 2013 die ersten Projekte lanciert und 2015 – zum 20. Jahrestag des Barcelona-Prozesses – die Wiederbelebung und die Erneuerung des Ansatzes von 1995 beschlossen. Dazwischen war ja noch etwas: der Arabische Frühling im Jahr 2010, Bomben auf Libyen 2011 und viele weitere Kriege und Konflikte.
Wie so oft in Ihrer Entwicklungspolitik: Es läuft nach 25 Jahren nicht so wirklich, oder? Was also soll Ihr Antrag denn nun bewerkstelligen, außer Papier zu bedrucken und wieder etwas zu erklären? Ich würde sogar behaupten, dass dieses Vorgehen kontraproduktiv zu den eigenafrikanischen Zielen ist. Wer Nordafrika europäisieren will, schafft dadurch mehr Migrationsbewegung innerhalb Afrikas, und er verhindert die Vollendung der Einheit Afrikas, wie es die Afrikanische Union ihrerseits beschlossen hat -
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ein historischer Moment! Ihr Antrag, Herr Stein von der SPD, mag dazu überhaupt nicht passen.
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Beim Gipfeltreffen der Afrikanischen Union – jetzt schön zuhören, Frau Sommer -
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im Juli 2019 in Niger fiel der Startschuss zur Umsetzung des afrikanischen Freihandelsabkommens: Aufbau der größten Freihandelszone der Welt mit dem langfristigen Ziel, 2063 ein vereinigtes, wohlhabendes, selbstbestimmtes und friedliches Afrika zu schaffen – jetzt wird es spannend –, ein Afrika mit einer starken kulturellen Identität. „The Africa we want“, sagen die Afrikaner – ein Afrika, wie es die Afrikaner wollen. Afrika ist nicht Afropa.
Genau deswegen gibt es unseren Antrag: den afrikanischen Binnenmarkt stärken, mitgestalten, aufbauen; denn nur das wird für Nachhaltigkeit und Teilhabe und damit zu einer echten, realen Perspektive Heimat führen.
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Hier liegt doch die deutsche, die europäische Chance, es nun einmal richtig zu machen mit dem Binnenmarkt: keine Währungsunion, aber eine Union, wie sie sich Europa in der Gründungsphase gedacht hatte, keine ausufernde Bürokratie, kein Vorgabenwahn, wie wir es gerade in Europa durch die EU erleben. Das wäre Deutschlands Chance, in Afrika zu einem handelnden Schwergewicht zu werden und China auf Augenhöhe auf diesem Kontinent zu begegnen. Es kann Deutschland ein zweites Wirtschaftswunder bescheren, gerade in den Bereichen Automobilindustrie, Maschinenbau, Bergbauindustrie, Energie- und Umwelttechnik. Für die grünen Klimatologen eine Information: Produzieren die Afrikaner ihre Produkte für Afrika in Afrika selber, senkt das maßgeblich den CO2-Ausstoß in Deutschland.
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Um den Binnenmarkt zu vollenden, braucht es einen starken politischen und wirtschaftlichen Willen und den Mut und die Ausdauer, Herr Kekeritz, von Visionären, von Machern und von Pionieren. Es bedarf auch und gerade großer Zeichen, die verbinden und den Weg in die Zukunft zeigen: eine Route 66 oder der Bau einer Panafrikanischen Eisenbahnstrecke vom Atlantik zum Indischen Ozean, von West nach Ost. Der Bau einer Eisenbahn vom Pazifik zum Atlantik einte 1869 einmal eine große Nation: die Vereinigten Staaten von Amerika. Was im 19. Jahrhundert in sieben Jahren möglich war, wird doch im 21. Jahrhundert irgendwie umsetzbar sein. Der Vorteil für uns in Deutschland: Hier bräuchten wir zumindest keinen Flughafen zu bauen.
Bitte stimmen Sie unserem Antrag zu.
Vielen lieben Dank.
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Das Wort hat für die SPD-Fraktion die Kollegin Dagmar Ziegler.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! „Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein und werden, im Inneren und nach außen.“ In Zeiten der Europäischen Union bezieht dies eben nicht nur unsere europäischen Nachbarn mit ein, sondern vor allem auch die Nachbarn unseres Europas. Unser Antrag ist auch Ausdruck dieses vielzitierten Satzes aus Willy Brandts Regierungserklärung 1969. Deshalb ist Ihre Sichtweise auf den Mittelmeerraum eine ganz andere als die unsere, liebe AfD. Die nordafrikanischen Staaten sind Nachbarn unseres Europas und somit wichtige Partner in sicherheitspolitischen, in wirtschaftlichen und auch in außenpolitischen Fragen. Es liegt im gegenseitigen, aber eben auch in unserem deutschen strategischen Interesse, diese Kooperationen weiter auszubauen, und dafür tragen wir hier im Parlament eine sehr große Verantwortung.
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Die aufeinandertreffenden verschiedenen Kulturen und Religionen ebenso wie die gesellschaftlichen Ungleichgewichte in der Region beherbergen aber auch Konflikte, die bis nach Europa reichen; das wissen wir alle. Neben dem Verbindenden kennzeichnet den Mittelmeerraum auch sehr viel Trennendes: Wohlstand gegenüber Armut, staatliche Stabilität gegenüber Fragilität, Rechtssicherheit versus Rechtsunsicherheit sowie Staaten zwischen Demokratie und Diktatur, religiösen Fundamentalismus und Nationalismus. Da hilft die Eisenbahnstrecke wenig. Schlechte Regierungsführung, politische Krisen, fundamentalistische Gewalt stehen Menschenrechten, individuellen Freiheiten, Demokratisierung und wirtschaftlichem Aufstieg entgegen. Während beispielsweise Tunesien – mit großen Abstrichen in Bezug auf Menschenrechte – es schafft, sich immer weiter zu entwickeln, werden Staaten wie Libyen immer instabiler. Um genau dem entgegenzutreten, gilt es, den Zusammenhalt innerhalb der Region zu fördern, den Blick auf gemeinsame Interessen zu richten und den politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Austausch zu intensivieren, im Übrigen auch zwischen Parlamentariern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere Aufgabe muss es sein, die Region bei ihrer politischen, demokratischen und rechtsstaatlichen Entwicklung langfristig durch strukturelle Reformmaßnahmen zu unterstützen, die Einhaltung der Menschenrechte vor Ort ohne Wenn und Aber zu erreichen, die Region wirtschaftlich zu stärken und als verlässlichen Partner Europas zu gewinnen.
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Das Werkzeug, um an diesen Zielen weiterzuarbeiten, ist in unserem Antrag beschrieben. Ich möchte mich bei unserem Koalitionspartner bedanken, dass das so gut gelungen ist.
Die Koalitionsfraktionen fordern die Bundesregierung erstens auf, in den Verhandlungen der Europäischen Union mit den südlichen Anrainerstaaten des Mittelmeers zu vertieften, umfassenden Handelsabkommen zu gelangen, die verbindliche soziale, menschenrechtliche und auch ökologische Standards ebenso wie konkrete Beschwerdeüberprüfungs- und Reaktionsmechanismen enthalten.
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Für Herrn Rabe explizit, aber auch für uns alle ist die Aussage sehr wichtig, dass die Handelsabkommen die wirtschaftliche Stabilisierung und nachhaltige Entwicklung der Region fördern müssen und da insbesondere auf die Einhaltung der ILO-Kernarbeitsnormen geachtet werden muss.
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Zweitens sind alle Vorhaben dahin gehend zu überprüfen, ob sie geeignet sind, vor allem junge Menschen in angemessene Beschäftigung zu bringen, um nachhaltige Lebensperspektiven vor Ort zu schaffen. Es geht eben nicht um eine Europäisierung von Afrika.
Drittens ist auf eine Verbesserung der menschenrechtlichen Lage hinzuwirken. Vor allem damit wird ein wichtiger Beitrag zur Stabilisierung und Konfliktprävention in der Region geleistet, besonders die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien, die Pressefreiheit und die Umsetzung demokratischer Beteiligungsformen sind von zentraler Bedeutung. Auch hier, muss ich sagen, ist der Austausch zwischen Parlamenten, Kommunalpolitikern, Landespolitikern und eben auch Regierungsvertretungen so wichtig, damit wir auch da Einfluss nehmen im guten Sinne.
Bei allen Verhandlungen muss darauf hingewirkt werden, dass die zunehmende Einschränkung der Arbeit der deutschen politischen Stiftungen in einigen Ländern Nordafrikas beendet wird. Das ist etwas, worauf wir bestehen sollten. Im Hinblick auf die künftige Zusammenarbeit mit den afrikanischen Staaten ist das elementar.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit, bitte um Zustimmung, damit die Bundesregierung dies zum Anlass nimmt, die vielen Maßnahmen, die wir beschlossen haben – es sind sehr viele Maßnahmen – auch tatsächlich schnellstmöglich in Angriff zu nehmen und umzusetzen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Ziegler. – Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Till Mansmann.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Die Sicherung und Entwicklung des, wie Sie schreiben, westlichen Mittelmeerraums, aber eigentlich meinen wir den südlichen Mittelmeerraum, ist ein wichtiges Anliegen und aus vielen Gründen richtig; aber insgesamt lässt mich Ihr Antrag ein wenig ratlos zurück. Denn auch nach sechs Jahren Ihrer Regierungsarbeit in der sogenannten Großen Koalition ist die Situation nach wie vor so kritisch wie zu Anfang vor einigen Jahren. Für Regierungslobhudelei ist da wenig Spielraum.
Dazu, wie Sie das alles praktisch umsetzen wollen, finde ich in Ihrem Antrag sehr wenig Konkretes und Handfestes. So erklären Sie zum Beispiel, im Schulterschluss „mit Ländern wie Frankreich, Italien, Malta und Spanien“ sollten „Schwerpunkte einer vertieften regionalen Zusammenarbeit der westlichen Staaten Nordafrikas“ identifiziert und gefördert werden. Das wird aber schon bei unseren eigentlich engsten Partnern schwierig. Allein zwischen Berlin und Paris wird gern Geschlossenheit zur Schau gestellt. Dabei gibt es deutlich sichtbar große Unterschiede, etwa über die Reform des Sicherheitsrates, über Rüstungsexporte und die Lage in Libyen. Aber das sind alles Aspekte, die hier eine sehr große Rolle spielen. Stichwort „Libyen“: Das Land versinkt im Chaos. Das hat gravierende Folgen für die gesamte Region und letztlich für alles, was Sie in Ihrem Antrag fordern.
Ein weiterer Aspekt, den man in unseren Augen sehr viel prominenter herausstellen müsste und der in Ihrem Antrag leider nur unter „ferner liefen“ auftaucht, ist die Frage der erneuerbaren Energien. Sie schreiben ganz pauschal: „Deutsches Know-how“ sollte eingebracht werden, „um die … Potenziale eines gemeinsamen Ausbaus der lokalen und regionalen Energieversorgung auszuschöpfen …“ Das ist viel zu klein gedacht. Dem Ausbau der Energieversorgung auf erneuerbare Energien und die Gewinnung zum Beispiel von E-Fuels kommt gerade in diesen Ländern die zentrale Bedeutung in unserer gemeinsamen Zukunft zu.
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In Deutschland gibt es zu wenig Sonne und zu wenig Flächen, um die Energieversorgung komplett CO2-frei zu ermöglichen. In sonnenreichen Ländern wie den Mittelmeeranrainerstaaten könnten dagegen genug E-Fuels für den Export produziert, gleichzeitig Jobs vor Ort und damit Sicherheit, Stabilität und Wohlstand geschaffen werden. Insbesondere die Power-to-Liquid-Technologie könnte nachhaltig zur Förderung des Wohlstands in diesen Ländern beitragen.
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Von alldem einmal abgesehen: Dass Sie alles, was Sie in diesem Antrag anstreben, zudem unter Haushaltsvorbehalt stellen, dann aber nichts dafür in den Haushalt einstellen, macht Ihren Antrag leider zu einem reinen Schaufensterantrag.
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Es ist schon erstaunlich, dass wir uns in Europa gerade extrem ambitionierte Ziele setzen, die unsere Industrie vor so große Herausforderungen stellen, dass man sich die Frage stellen muss, ob sie diese überhaupt bewältigen kann. Aber hier, wo ein Teil der Lösung liegen könnte, kommen Sie nur mit Allgemeinplätzen daher. Im Einzelnen sind diese nicht falsch, aber so verzagt, wie Sie sie vorlegen, sind sie eben doch insgesamt nicht richtig. Deswegen werden wir diesen Antrag ablehnen.
Vielen Dank.
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Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Kollegin Eva-Maria Schreiber.
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Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Es ist gut, dass wir uns heute mit dem Mittelmeerraum befassen. Diese Region ist für Frieden, Stabilität und wirtschaftliche Zusammenarbeit von großer Bedeutung. Dagmar Ziegler hat es gerade schon betont. Es gibt sehr viele Maßnahmen.
Aber ich war doch erschrocken: Die Koalition begrüßt in dem Antrag das mit Marokko geschlossene Abkommen über Landwirtschafts- und Fischereiprodukte. Damit legitimieren Sie die völkerrechtswidrige Besetzung der Westsahara durch Marokko. Sie missachten nämlich ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs von 2018.
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Darin wird der EU untersagt, mit Marokko Abkommen über Fischerei vor der Küste der Westsahara zu schließen. Das ist wirklich ein starkes Stück. Hiermit schwächen Sie den Europäischen Gerichtshof und das Völkerrecht gleich mit. Das verurteilen wir.
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In meinen Augen ist Kern Ihres Antrags die Forderung nach bilateralen, vertieften und umfassenden Freihandelsabkommen, DCFTA, mit Tunesien und Marokko und weiteren unmittelbar an das Mittelmeer angrenzenden Staaten Nordafrikas. Sie schreiben, Sie wollen die afrikanischen Staaten beim Ausbau einer eigenen wirtschaftlichen Entwicklung unterstützen. Das würde aus unserer Sicht auch bedeuten, die Bemühungen der Afrikanischen Union zur Schaffung einer kontinentalen afrikanischen Freihandelszone zu respektieren und zu unterstützen. Stattdessen geht es mit diesen Freihandelsabkommen um den erleichterten Zugang zu neuen Absatzmärkten, den Sie mit Ihrem Antrag im Kern auch wollen, also vor allem um eigene Interessen. Dadurch konterkarieren Sie alle Erfolge Ihrer eigenen Entwicklungspolitik.
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Wie wir wissen, hat das BMZ eine Studie bei der Österreichischen Forschungsstiftung für Internationale Entwicklung in Auftrag gegeben. Diese Studie warnt vor den negativen Folgen des geplanten EU-Freihandelsabkommens mit Tunesien. Die Studie sagt:
Erstens. Es bedroht die tunesische Landwirtschaft, da diese mit den subventionierten EU-Agrarprodukten nicht konkurrieren kann.
Zweitens. Es drohen massive Arbeitsplatzverluste.
Drittens. Es gefährdet die makroökonomische Stabilität Tunesiens; denn der Wegfall von Steuereinnahmen wird die ohnehin schon hohe Staatsverschuldung weiter vergrößern.
Viertens. Es ist eine Gefahr für das tunesische Wirtschaftswachstum, das durch das Freihandelsabkommen zu schrumpfen droht.
Minister Müller, Sie wollen aber mit den Reformpartnerschaften ausdrücklich die makroökonomische Stabilität in den Partnerländern steigern. Was nun? Sie sollten sich entscheiden; denn Sie können sich teure Studien ersparen, wenn Sie wider besseres Wissen mit der einen Hand einreißen, was Sie mühsam mit der anderen gerade aufbauen.
Meine Damen und Herren, wer vom Mittelmeer spricht, darf von Ertrinkenden nicht schweigen.
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Bringen Sie endlich eine zivile staatliche Seenotrettung auf den Weg.
Danke.
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Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort der Kollege Ottmar von Holtz.
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Dass wir uns über die Zukunft des Mittelmeerraums Gedanken machen müssen, ist natürlich völlig richtig. Aber, Herr Stein und Frau Ziegler, ganz ehrlich, Ihr Antrag ist hierfür, glaube ich, nicht sehr gut geeignet. Diesen Antrag kann die Bundesregierung so gar nicht umsetzen. Überall bleiben Sie an der Oberfläche, reißen die Themen nur an, und überall hängt ein Zettel des Finanzierungsvorbehalts dran. Dabei ist eigentlich entscheidend, was hinter Ihren vagen Ausführungen steht und wie das finanziert werden kann. Beim Lesen des Antrags bleiben viele offene Fragen. Ich möchte zwei Beispiele nennen.
In Forderungspunkt 10 sagen Sie, dass Sie alle vorhandenen Maßnahmen und Mittel dahin gehend überprüfen wollen, ob sie zuallererst geeignet seien, nachhaltige Lebensperspektiven vor Ort zu schaffen. Was heißt denn das genau? Welche Mittel? Meinen Sie damit die Sonderinitiativen? Können wir damit rechnen, dass das eine Abkehr von der Politik ist, mit Sonderinitiativen Flucht und Migration zu bekämpfen?
Oder Forderungspunkt 12. Sie wollen Wirtschaftspartnerschaften. Wie stellen Sie sich diese vor? Um zu wissen, ob wir Ihnen folgen können, müssten wir das wissen. Sie reden einfach von Wirtschaftspartnerschaften, ohne in die Tiefe zu gehen.
Es sind 22 Forderungspunkte, die alle genug Stoff bieten, um einen eigenständigen Antrag bilden zu können. Dann würde man ins Detail gehen. Dann würde es auch spannend werden. Dann könnten wir darüber sprechen, ob wir dem folgen können oder nicht. Gerade mit Blick auf die Instabilität in der Region fehlen aus unserer Sicht im Antrag ein paar wesentliche Punkte. Bisherige sogenannte Hilfsprogramme mit dem Fokus auf Migration und Terrorismus gehen nämlich völlig am Bedarf vorbei. Wir müssen endlich an die Ursachen ran.
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Das sind unter anderem schlechte Rahmenbedingungen für die Menschen vor Ort und schlechte Regierungsführung. Reine Symptombekämpfung, wie sie mit den Sonderinitiativen betrieben wird, bringt uns nicht weiter.
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Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Kollege, aus den Reihen der FDP-Fraktion?
Bitte, Herr Hoffmann.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Lieber Kollege von Holtz, vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Sie haben gerade von der Stabilität des Mittelmeerraumes gesprochen und davon, dass es eine wichtige Rahmenbedingung sein müsse, Stabilität in diesem Raum zu haben. Wie ist denn Ihre Auffassung bezüglich der Stabilität in Libyen? Was macht die Große Koalition, was macht diese Bundesregierung strategisch, um diesen Raum zu sichern? Wir haben gerade die Ankündigung von Herrn Erdogan gehört, dass er Truppen in diese Region schicken will, dass er bereit ist, sich hier einzusetzen. Ist die Bundesrepublik dazu bereit? Wie ist Ihre Einschätzung dazu? Ist die EU bereit, da etwas zu tun? Was ist Ihre Einschätzung?
Wir wissen, dass die EU in Bezug auf Libyen leider nicht mit einer Stimme spricht. Ich glaube, wichtig ist, dass wir sowohl in Libyen – da ist es schwierig; das gebe ich zu – als auch anderswo lokale Friedensstifter, lokale Menschenrechtsorganisationen mit allen diplomatischen, die zivile Krisenprävention betreffenden Mitteln, die wir zur Verfügung haben, unterstützen müssen, um Stabilität zustande zu bringen. Es geht mir aber nicht nur um Libyen, sondern auch um alle anderen Anrainerstaaten des Mittelmeers. Das ist genau das Problem, das wir haben: Wir sollten weniger Symptome bekämpfen oder Fluchtwege zu schließen trachten; vielmehr sollten wir uns vor Ort die Rahmenbedingungen anschauen und dort ansetzen.
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Lokale Friedensstifter, Frauen vor allen Dingen, aber auch andere marginalisierte Gruppen sind diejenigen, die wir bei der bisherigen Politik leicht aus dem Blick verlieren. Wir dürfen nicht am Ende die belohnen – das tun wir womöglich in Libyen –, die für die schlechte Regierungsführung verantwortlich sind.
Aber wo bleibt die Afrikanische Union, und wo bleiben die lokalen Wirtschaftsräume? Grenzüberschreitende Herausforderungen, finde ich, müssen wir auch grenzüberschreitend unterstützen.
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Die Afrikanische Union erwähnen Sie in Ihrem Antrag nicht ein einziges Mal. Die zivile Krisenforschung erklärt uns schon seit Jahrzehnten, wie die Ansätze aussehen müssten und wer geeignete Partner vor Ort sind. Es gibt nämlich durchaus Ansätze, was wir ändern können. Ein Beispiel: Durch die langfristige Ausstattung ziviler Projektpartner können wir es schaffen, vor Ort wirklich verlässliche Friedenskapazitäten dauerhaft einzurichten. Mit der derzeitigen einjährigen Projektfinanzierung ist das nicht möglich.
Ihrem Antrag fehlt vor allen Dingen eine kohärente Strategie, die die Agenda 2030, die Nachhaltigkeitsziele, die Agenda 2063 der Afrikanischen Union und das Pariser Klimaabkommen mit Friedensbedarfen übereinbringt. Das vermissen wir, und das wäre dringend erforderlich. Deswegen werden wir Ihren Antrag ablehnen müssen.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt: der Kollege Dr. Wolfgang Stefinger, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben alle noch die Bilder im Kopf – es ist vorher schon angesprochen worden – vom Arabischen Frühling. Damals ist die Jugend in den betreffenden Ländern auf die Straßen gegangen, mit der Hoffnung auf und dem Wunsch nach Freiheit, nach Mitbestimmung, nach guten Chancen, nach einer guten Zukunft, nach Jobs und vor allem nach einem selbstbestimmten Leben. Ja, wir müssen sagen: Neun Jahre später ist an die Stelle der Euphorie Ernüchterung getreten. Die Lage in der Region ist zwar unterschiedlich, aber größtenteils labil. Positiv ist – das ist schon angesprochen worden –: Tunesien hat sich auf den Weg zur Liberalisierung und auch zur Demokratie gemacht.
Ich habe gesagt: Die Euphorie ist gewichen. Geblieben ist die Hoffnung auf ein besseres Leben. Deswegen ist uns wichtig, zu betonen – das geschieht auch mit diesem Antrag –, dass wir, dass diese Bundesregierung die reformwilligen Länder nach Kräften unterstützen soll,
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dass wir die Partnerschaften mit diesen Ländern ausbauen und vertiefen, dass wir die Länder auf ihrem Weg zur Demokratisierung, zum Aufbau von Verwaltungsstrukturen, von Bildung und von wirtschaftlicher Stärke unterstützen und dass wir die wirtschaftliche Entwicklung fördern.
Ein großes Problem vor Ort, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist häufig die schlechte Qualifizierung, die mangelnde Bildung, die schlechte berufliche Qualifizierung. Wir haben eine hohe Arbeitslosigkeit in den nordafrikanischen Staaten; die Arbeitslosenquote wird jetzt zum Teil auf 28,6 Prozent geschätzt. Insbesondere junge Frauen sind betroffen.
Nicht zu vergessen ist das Bevölkerungswachstum, das uns natürlich ebenfalls vor eine Herausforderung stellt. Auch hier ist im Übrigen Bildung ein wichtiger Schlüssel. Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben wir im Antrag eben auch formuliert, dass wir alle Maßnahmen und Mittel dahin gehend überprüfen, ob sie geeignet sind, vor allem junge Menschen in Beschäftigung zu bringen, das heißt vor allem, zu qualifizieren und ihnen Bildung nahezubringen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eines ist klar: Es braucht Perspektiven vor Ort. Es braucht Stabilität in der Region, und es braucht vor allem gut ausgebildete Menschen, die ihre Heimatländer voranbringen, die ihre Heimatländer entwickeln und wirtschaftlich aufbauen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, weil nach konkreten Maßnahmen gefragt wurde: Die Sonderinitiative zur Stabilisierung und Entwicklung von Nordafrika und Nahost legt den Schwerpunkt gerade auf Jugend und auf Beschäftigung. Weil immer wieder die Sonderinitiative „Perspektive Heimat“ kritisiert wird: Gerade Tunesien und Marokko sind Schwerpunktländer von uns, in denen Beratungszentren entstanden sind, nämlich die Beratung vor Ort, die Entwicklung von Ideen mit den Menschen vor Ort. Wie kann ich mich selbstständig machen? Welche Perspektiven bietet mir der heimische Arbeitsmarkt? Oder: Wie kann ich initiativ werden und Initiative ergreifen, um mein Land nach vorne zu bringen?
Ich möchte einen wichtigen Aspekt anbringen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das ist die Zusammenarbeit mit den Kommunen, die Zusammenarbeit auf kommunaler Ebene, die wir in unserem Antrag erwähnt haben. Ich meine nicht nur die hervorragende Initiative, die von den Landkreisen initiiert wurde, nämlich 1 000 Schulen für Afrika, sondern ich meine vor allem die Zusammenarbeit im Bereich der Daseinsvorsorge, nämlich bei Verwaltungsabläufen, bei der Einführung eines Meldewesens, beim Abfallmanagement, beim Wasser- und Abwassermanagement und bei der Energieversorgung. Deswegen ist es uns besonders wichtig, dass wir die Möglichkeit geben und unterstützen, dass sich kommunale Versorgungsunternehmen vor Ort engagieren und in die Zusammenarbeit einbezogen werden.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, die kommenden Jahre – das ist unbestritten – werden entscheidend sein. Es muss uns – damit meine ich nicht nur Deutschland, sondern Europa – allen gelingen, diese Region zu stabilisieren. Bleibt diese Region labil, wird Europa unmittelbar betroffen sein. Deswegen muss es uns gelingen, einen gemeinsamen europäisch-nordafrikanischen Wirtschaftsraum aufzubauen mit Perspektiven für die Jugend und selbstverständlich auch mit Perspektiven für die Wirtschaft. Ich bin davon überzeugt, dass wir alle davon profitieren werden. Deshalb bitte ich um Zustimmung für unseren Antrag.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Wolfgang Stefinger. – Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucher auf den Tribünen, Zuschauer vor den Fernsehbildschirmen, Kameraden in den Kasernen der Einsatzgebiete und deren Familien!
Die Armee ist die vornehmste aller Institutionen in jedem Lande; denn sie allein ermöglicht das Bestehen aller übrigen Einrichtungen. Alle politische und bürgerliche Freiheit, alle Schöpfungen der Kultur, der Finanzen stehen und fallen mit dem Heere.
Das sagte zu seiner Zeit Otto Fürst von Bismarck.
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Ersetzen Sie in der heutigen Zeit die Begrifflichkeit „Heer“ mit der Bundeswehr.
Gerade weil jeder Soldat unsere besondere Aufmerksamkeit verdient und der Dienst in den Streitkräften nicht zu vergleichen ist mit anderen Tätigkeiten, debattieren wir heute über unseren Antrag zur Einführung eines Verwundetenabzeichens in der deutschen Bundeswehr. Ein Soldat gelobt, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit der Bundesrepublik Deutschland tapfer zu verteidigen.
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Dieser Schwur, wie ich ihn und Tausende vor und nach mir geleistet haben, bedingt, das eigene Leben und die körperliche und geistige Unversehrtheit einzusetzen. Wenn wir all das konsequent zu Ende denken, dann stellen wir fest: Den Kameraden, welche verwundet an Körper und Seele aus dem Einsatz, von ihrem Dienst zurückkehren, gebührt eine besondere Auszeichnung, und diese besondere Auszeichnung ist das von uns geforderte Verwundetenabzeichen. In allen Bereichen der Streitkräfte gibt es Ehrenzeichen, sei es das Ehrenkreuz der Bundeswehr für Tapferkeit, sei es die Einsatzmedaille „Gefecht“, das Veteranenabzeichen oder viele weitere. Genau hier wollen wir mit unserem vorliegenden Antrag die noch offene Lücke in der von mir eben aufgeführten Aufzählung schließen.
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Dass eine besondere Absicherung und Fürsorge für unsere Soldaten selbstverständlich ist, darüber müssen wir uns hier in diesem Kreis nicht unterhalten; das ist jedem von uns klar und bewusst. Es geht hier nun um die nach außen hin sichtbaren Zeichen der Anerkennung der Kameraden. Das Verwundetenabzeichen dient als Zeichen der Wertschätzung für die erbrachten Opfer an Körper und Seele. Jeder Kamerad, der im Einsatz auf dem Schlachtfeld verwundet wurde, verdient diese Auszeichnung. Es mag nach außen hin erkennbar sein, wenn ein Soldat in seinem Einsatz für das Vaterland einen Arm oder ein Bein verloren hat. Aber wir müssen auch die Soldaten einbinden, welche grausame Bilder gesehen haben, als der Kamerad zur Rechten durch eine Sprengfalle zerfetzt oder im Gefecht niedergestreckt wurde. Alle Erwähnten haben persönliche Opfer erbracht, um ihren Auftrag zu erfüllen, den wir, der Bundestag, ihnen mit auf den Weg gegeben hat. Gerade für die Verletzten an der Seele ist es die Möglichkeit, das Schweigen, die stille Stigmatisierung zu durchbrechen.
Einzelne mögen – so habe ich es bereits gelesen – herablassend sagen: Es ist doch nur ein Stück Blech, welche Bedeutung soll das denn haben? Denen möchte ich entgegnen, dass sie nicht verstanden haben, was diese Auszeichnung bedeutet, ja, dass sie das Wesen eines Soldaten, dass sie das Wesen unserer Streitkräfte nicht verstanden haben.
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Es geht um die Wertschätzung gegenüber jedem Einzelnen, der seinem Vaterland dient und der gerade in der heutigen Zeit dazu bereit ist, das zu geben, was für viele von uns selbstverständlich ist, nämlich die körperliche und seelische Unversehrtheit. Zeigen wir unseren Soldaten, dass wir bereit sind, ihnen dieses Zeichen zuzugestehen, so wie es andere Länder auch tun, zum Beispiel die Vereinigten Staaten mit der Verleihung des Purple Heart. Es ist an uns, ein Zeichen zu setzen für die Anerkennung der Einsatz- und Opferbereitschaft unserer Soldaten. Wer sein Land liebt, der liebt seine Soldaten.
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Er ist dazu bereit, ihnen das nach außen hin sichtbare Zeichen der Anerkennung für ihre Opferbereitschaft zu gewähren, und redet es ihnen nicht ab. Ich ersuche jeden Einzelnen, den vorliegenden Antrag zu unterstützen. Es ist einer der letzten Schritte hin zu Akzeptanz und Wertschätzung unseren Streitkräften gegenüber.
All denen, die glauben, sie müssen den vorliegenden Antrag zerreden, sie müssen ihn ablehnen, nur weil er von der AfD kommt, möchte ich mit auf den Weg geben: Es geht nicht um uns, um die AfD. Es geht um unsere Soldaten, es geht um unser Land, und es geht um unsere Heimat. Wenn Sie meinen, Sie müssen den Antrag umschreiben, Sie müssen ihn anders stellen, dann tun Sie das. Wir werden Sie dabei unterstützen. Es geht uns hierbei um unsere Soldaten. Und deswegen: Wenn Sie ihn schon nicht mittragen können, dann stellen Sie ihn neu. Unsere Stimmen haben Sie.
Vielen Dank.
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Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Peter Tauber.
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Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Es ist noch nicht allzu lange her, da haben hier, direkt vor dem Reichstag, junge Rekrutinnen und Rekruten gelobt, dieses Land tapfer zu verteidigen, und zwar im Zweifel unter Einsatz ihres Lebens und unter Inkaufnahme eines seelischen oder körperlichen Schadens oder Leidens.
Jürgen Busch hat einmal gesagt: Der Soldat muss handeln, obwohl es gefährlich und der Erfolg unsicher ist, und der Soldat muss handeln, weil es gefährlich und der Erfolg unsicher ist. Sich in Gefahr zu begeben und in die Gefahr hinein zu handeln, ist sozusagen ein Wesenskern des soldatischen Selbstverständnisses. Deswegen ist es richtig, dass wir immer wieder darüber nachdenken: Welche Form der Wertschätzung erfahren die Männer und Frauen, die sich auf diese Art und Weise in den Dienst unseres Landes stellen? Dass das Parlament darüber nachdenkt, ist noch einmal wichtiger; denn die Abgeordneten des Deutschen Bundestages schicken unsere Soldatinnen und Soldaten in diese bisweilen lebensgefährlichen Einsätze.
Wenn wir heute diskutieren, dann sollten wir uns auch die Zeit nehmen, von diesem Rednerpult aus diesen Dank gegenüber unseren Soldatinnen und Soldaten zum Ausdruck zu bringen, egal welchen Schwerpunkt wir bei der Frage, wie diese Wertschätzung aussehen muss, setzen.
Diese Wertschätzung hat – um im Bild zu bleiben – wie eine Medaille zwei Seiten: Da ist die äußere Wertschätzung, die sich in Symbolen und Gesten zeigt. Aber vor allem auch die Fürsorge kann Ausdruck von Wertschätzung sein. Hier haben wir in den letzten Jahren viel erreicht. Wir müssen uns natürlich immer prüfen: Können wir noch besser werden? – Wenn das das Ziel dieses Antrags ist, dann – da bin ich ziemlich sicher – wird es in dieser Frage keinen großen Streit geben.
Die Bundeswehr hat für Soldaten, die im Gefecht verwundet werden, bereits eine Form der Auszeichnung und Wertschätzung: die Verleihung der Gefechtsmedaille. Sie kann explizit auch dann verliehen werden, wenn ein Soldat im Gefecht verwundet worden ist. Nicht eingeschlossen ist die Frage: Wie gehen wir mit den Männern und Frauen um, die im Einsatz einen seelischen Schaden erlitten haben? Darauf komme ich gleich noch einmal kurz zu sprechen.
Die Wertschätzung über eine mögliche Auszeichnung, ein Abzeichen hinaus ist vielfältig. Die Bewerbung um die Austragung der Invictus Games ist Ausdruck der Wertschätzung für die Einsatzbereitschaft der Soldatinnen und Soldaten. Das Ehrenmal, das Veteranenabzeichen – all das sind Symbole der Wertschätzung für diesen nicht immer leichten Dienst. Und die Fürsorgemaßnahmen – auch das, was wir jüngst auf den Weg gebracht haben –, die Einbeziehung der Familien, die Erstattung von Aufwendungen, die Schaffung einer zentralen Koordinierungs- und Ansprechstelle, das Einsatz-Weiterverwendungsgesetz, von dem über 800 Soldaten derzeit profitieren – all das ist Ausdruck der Wertschätzung. Der Beauftragte für einsatzbedingte PTBS, der Beauftragte für Veteranenangelegenheiten – all diese Entscheidungen sind Zeichen der Wertschätzung für unsere Soldatinnen und Soldaten. Ich glaube, eine wichtige Aussage von uns hier muss sein: Wir bleiben dabei nicht stehen, sondern wir werden weiter darüber nachdenken, was zu tun ist, um unseren Soldaten, die im Einsatz einen Schaden erlitten haben, zu helfen und der Gesellschaft das Zeichen zu geben, dass wir uns Wertschätzung wünschen.
Damit bin ich bei einem Punkt, den ich zum Schluss nennen will. Wir haben derzeit eine geltende Definition für Verwundung. Die lautet: Verwundung ist ein personeller Ausfall, der durch unmittelbare gegnerische Aktivität oder in einem Gefecht oder infolge eines Gefechts oder auf dem Hin- oder Rückweg zu oder von einem Gefecht erfolgt. – Nach dieser geltenden Definition würde ein Verwundetenabzeichen an einen Soldaten mit PTBS nicht verliehen werden. Das heißt, wir müssen an diese Definition heran, wenn wir es ernst meinen, wenn wir von seelischer Verwundung sprechen.
Damit bin ich bei einem zweiten Punkt. An dieser Stelle macht Ihr Antrag, Soldaten, die an PTBS erkrankt sind, zu PTBS-Erkrankten erster und zweiter Klasse, weil Sie nur von den Kameradinnen und Kameraden sprechen, die im Gefecht oder aus einem Gefecht heraus an PTBS erkranken. Das ist aber nur ein kleiner Teil. Was ist mit der Soldatin, die zwei Kinder hat und im Einsatz erlebt, wie zwei Kinder entführt werden, in den Kofferraum gesteckt werden und sie wegen der Rules of Engagement nicht eingreifen darf, und PTBS bekommt? Nach Ihrem Antrag darf sie kein Verwundetenabzeichen bekommen. Was ist mit dem Soldaten, der bei der Seenotrettung Leichen im Wasser treiben sieht, ein Kind aus dem Wasser zieht, das dann in seinen Armen stirbt? Der darf nach Ihrer Definition, obwohl er an PTBS erkrankt, kein Verwundetenabzeichen bekommen. Was ist mit dem Soldaten, der im Kosovo ein Massengrab exhumiert und deswegen an einer PTBS erkrankt? Er darf nach Ihrer Definition kein Verwundetenabzeichen bekommen.
Wir können gerne über all diese Fragen reden, und Fragen der Wertschätzung sind wichtig. Aber dann nehmen wir uns bitte auch die Zeit und machen das so, dass wir nicht wieder Konfliktfälle schaffen. Ich bin für Anregungen aus dem parlamentarischen Raum immer dankbar. Der Kollege Faber hat uns vor Kurzem darauf hingewiesen, was wir beim Thema „Stichtagsregelung für die Gefechtsmedaille“ tun müssen. Das werden wir aufgreifen.
Wir können über all diese Fragen reden, aber es darf nicht sein, dass das am Ende zulasten der Soldatinnen und Soldaten geht. Das ist eine gemeinsame Aufgabe des Parlaments, und wenn wir als Ministerium die Unterstützung aus dem Hohen Haus haben, dann freut uns das sehr.
Herzlichen Dank.
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Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Alexander Müller.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die letzten Träger eines Verwundetenabzeichens in Deutschland waren die Verletzten des Attentats vom 20. Juli 1944 auf der Wolfsschanze. Das Abzeichen beinhaltete damals eine Widmung des Führers persönlich.
Davor schon wurden freiwillige deutsche Söldner, die beispielsweise in der Legion Condor aufseiten des Diktators Franco für den spanischen Faschismus kämpften, geehrt. Auch dieses Abzeichen wurde von derselben Person gestiftet. Wer ein neues Verwundetenabzeichen in Deutschland einführen will, muss ganz klar wissen, in welche historische Tradition er sich damit begibt.
Der aktuelle Traditionserlass der Bundeswehr nennt klare Kriterien, was genau traditionsstiftend für die Bundeswehr sein kann und was nicht. Man sollte also besser zweimal oder dreimal überlegen, welche Traditionen es wert sind, in der Bundeswehr wieder eingeführt zu werden, und welche nicht.
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Dazu kommt ein grundlegender Wandel in Kultur und Gesellschaft: In den beiden Weltkriegen mögen Soldaten noch stolz darauf gewesen sein, an blutigen Kämpfen beteiligt gewesen zu sein, überlebt zu haben und für die erlittenen Verwundungen oder Behinderungen geehrt zu werden. Meine Erfahrung als Reservist der Bundeswehr ist heute eine völlig andere. Soldatinnen und Soldaten sind stolz, für Frieden und Stabilität weltweit einzustehen, die Zivilbevölkerung zu schützen, den Wiederaufbau in Konfliktregionen abzusichern. Auf diese Erfolge ist die Truppe stolz. Aber es will doch niemand ernsthaft für Tapferkeit im Kampf oder für erlittene Verwundungen oder Behinderungen mit einem Orden geehrt werden. Diese Zeiten sind lange vorbei. Und der Begriff „Opferbereitschaft“ ist im Jahre 2019 völlig daneben.
Es stellen sich auch ganz praktische Probleme – Staatssekretär Tauber hat sie schon genannt –: Für die Einsatzmedaillen der Bundeswehr wird man vorgeschlagen. Wie soll das für ein Verwundetenabzeichen funktionieren? Es geht hier immerhin um medizinische Befunde, um höchstpersönliche Daten. Sollen die Sanis die Krankenakten einfach an die Vorgesetzten weiterleiten? Sollen die Sanis selbst die Vorschläge machen? Oder sollen sich die betroffenen Soldatinnen und Soldaten für das Verwundetenabzeichen selbst bewerben und dabei die Umstände im Detail offenlegen? Darauf gibt Ihr Antrag keine Antworten.
Wir sollten uns viel stärker darüber Gedanken machen, wie wir unseren Soldatinnen und Soldaten im Falle einer geistigen oder körperlichen Verwundung wirklich helfen können. Die Weiterentwicklung der Forschung von Therapiemaßnahmen zum Beispiel für von einer posttraumatischen Belastungsstörung Betroffene, die weiter gehende Förderung und Bezuschussung von modernen tierbasierten Therapien, weitere Aufklärungsmaßnahmen in der Bevölkerung und den Streitkräften gegen die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen, das Fördern der gesellschaftlichen Anerkennung der Soldatinnen und Soldaten und die Ehrung der Rückkehrer aus internationalen Stabilisierungseinsätzen: Das wären Maßnahmen, die den Betroffenen wirklich helfen würden.
Wir danken an dieser Stelle all unseren Soldatinnen und Soldaten, die täglich ihr Leben und ihre körperliche Unversehrtheit für den Einsatz riskieren, und wir werden den Antrag ablehnen.
Vielen Dank.
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Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Fritz Felgentreu.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die AfD will ein Verwundetenabzeichen für die Bundeswehr einführen. Laut Antragstext sollen damit symbolisch der Einsatz verwundeter Soldatinnen und Soldaten gewürdigt und die Moral und Motivation der Streitkräfte gestärkt werden.
Zu Recht bekennt die Antragstellerin selbst, dass es um Symbolik geht, nicht um eine bessere Versorgung von aktiven oder ehemaligen Soldatinnen und Soldaten, die an Leib und Seele verwundet aus dem Einsatz zurückgekehrt sind. Es gibt in diesem Haus einen breiten Konsens, dass wir es diesen Männern und Frauen schuldig sind, sie in der Heilung und auf dem weiteren Lebensweg so zu begleiten und abzusichern, wie sie es brauchen.
Wir haben sie in den Einsatz geschickt, bei dem sie zu Schaden gekommen sind. Wir haben die Pflicht, ihnen Dank und Anerkennung, Beistand und Sicherheit auf dem weiteren Lebensweg zu geben.
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Und das tun wir auch, zuletzt mit dem vor wenigen Monaten beschlossenen Gesetz zur Stärkung der Einsatzbereitschaft, mit dem wir neben anderen Maßnahmen für Angehörige die Möglichkeit geschaffen haben, traumatisierte Soldaten bei ihrer Therapie zu begleiten.
Es geht hier also um eine angemessene äußere Form von Anerkennung für Einsatzkräfte. Wir haben zu beraten, ob ein Verwundetenabzeichen dafür das richtige Symbol ist. Unsere Verbündeten haben diese Frage übrigens unterschiedlich beantwortet: die USA, Kanada, Frankreich, Polen und die Niederlande – nach unterschiedlichen Kriterien – mit Ja, Großbritannien, Spanien und Italien mit Nein. In der SPD-Fraktion haben wir große Zweifel, dass ein Verwundetenabzeichen die damit verbundenen Erwartungen der AfD-Fraktion erfüllen kann.
Richtig ist sicherlich, dass ein solches Abzeichen in einer zeitgemäßen Form nicht auf die Verletzung des Körpers reduziert werden darf, sondern auch die seelischen Verletzungen mit einschließen müsste; wir haben darüber gesprochen. Dass es aber die Anerkennung des Soldatenberufes in der Gesellschaft fördern könnte, ist eine illusorische Annahme. Wenn überhaupt, hat es eine Signalwirkung nach innen, gegenüber der Truppe.
Wie wir am Beispiel der Niederlande sehen, die den Kreis der Berechtigten ständig ausgeweitet haben, kann ein solches Abzeichen angesichts unterschiedlicher Formen und Grade von Traumatisierung oder der Ursachen von Traumatisierung aber auch sehr leicht eine permanente Diskussion über Gleichbehandlung hervorrufen. Für Zusammenhalt, Moral und Motivation in den Streitkräften ist das nicht unbedingt hilfreich.
Zum anderen bleibt fraglich, ob sich eine Verwundung überhaupt als Gegenstand einer Auszeichnung eignet.
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Was wir auszeichnen und anerkennen wollen, ist doch nicht die Verwundung als solche, sondern alles, was für Verwundung oder Trauma ursächlich war. Die Pflichterfüllung, die Einsatzbereitschaft, der Mut der Verwundeten im Einsatz und im Gefecht, das ist das, was nach Auszeichnung verlangt. Die Wunde hingegen bedarf der Behandlung, der Heilung, und ihre Folgen bedürfen der Nachsorge und der Solidarität.
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Diese Auszeichnung für Einsatzbereitschaft, Pflichterfüllung und Mut gibt es bereits. Mit der Einsatzmedaille, der Einsatzmedaille Gefecht und dem Ehrenkreuz der Bundeswehr für Tapferkeit werden in unterschiedlichen Stufen die Leistungen unserer Soldatinnen und Soldaten im Einsatz gewürdigt und sichtbar gemacht. Die aus der Truppe vernehmbare Kritik daran, dass die Einsatzmedaille Gefecht nicht rückwirkend verliehen wird, scheint mir nachvollziehbar, aber eine Lücke, was die sichtbare Würdigung soldatischer Leistung im Einsatz angeht, kann ich nicht erkennen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben uns hier im Deutschen Bundestag dennoch bereits mit großer Mehrheit gemeinsam entschieden, Verwundung und Trauma von Soldatinnen und Soldaten im Dienst unseres Landes und im Auftrag dieses Parlaments in der Gesellschaft deutlicher sichtbar zu machen und zu würdigen. Mit der Ausrichtung der Invictus Games 2022 in Düsseldorf wollen wir ja nicht nur zeigen, was Soldatinnen und Soldaten im Einsatz verloren haben; wir wollen der Gesellschaft in ihrer ganzen Breite auch vor Augen führen, zu welchen Höchstleistungen sie fähig sind und welches Gut ihr Beitrag für uns alle bedeutet. Uns scheint das ein besserer Weg zur Stärkung von Moral und Motivation zu sein als die Verleihung eines Abzeichens, das keinem Soldaten und keiner Soldatin ersetzen kann, was sie verloren haben.
Meine Damen und Herren von der AfD-Fraktion, ich traue auch der Lauterkeit Ihres Anliegens nicht.
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– Ja, das ist völlig klar. – Der Grund dafür ist die Sprache, die Sie verwenden. Nicht nur in diesem Antrag, sondern auch in Schriften wie dem AfD-Konzept zur Entwicklung der Bundeswehr schwelgen Sie in Begriffen, die an die Rhetorik der Weltkriege anknüpfen; wir haben das beim Kollegen Kestner ja gerade eben erlebt. Da wird die Fähigkeit „zum unerbittlichen Kampf“ gepriesen, da werden im Anklang an das Motto der SS „Ehre“ und „Treue“ als soldatische Tugenden beschworen.
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Oder es soll, wie hier in Ihrer Überschrift, der Soldat in seiner „Opferbereitschaft“ als Ausdruck von Mut und Pflichterfüllung gestärkt werden.
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Auch der Begriff des Verwundetenabzeichens selbst greift auf eine Auszeichnung zurück, die im Zweiten Weltkrieg millionenfach verliehen wurde – übrigens nicht nur an Soldaten. Sie rufen damit bewusst das Bild eines Stahlhelms mit Hakenkreuz in einem Kranz aus Eichenlaub auf.
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Ich glaube da nicht an einen Zufall und nicht an ein Versehen, sondern wir erkennen in Ihrem Antrag einen weiteren Versuch, die stolze Tradition der Bundeswehr als Armee der freien Republik abzuwerten und die Wehrmacht wieder als Vorbild zu etablieren.
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Mit Ihrer „Armee der Deutschen“ führen Sie Bilder und Begriffe in den parlamentarischen Raum ein, an denen sich Rechtsextreme und Rechtsradikale nur zu gerne orientieren. Dafür können Sie von der SPD-Fraktion nur den entschiedensten Widerstand erwarten.
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Herr Kollege, die Redezeit ist um.
Wir werden immer zu den Männern und Frauen stehen, die in unserem Auftrag ihr Leben und ihre Gesundheit riskieren. Aber Ihren Antrag werden wir ablehnen.
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Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege Matthias Höhn.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich hatte erst letzte Woche die Gelegenheit, an einer Sitzung des Vergabeausschusses der Härtefallstiftung teilzunehmen. Die Härtefallstiftung ist noch nicht so bekannt, wie sie eigentlich bekannt sein müsste. Wie ich erfahren habe, ist ihre Existenz auch vielen Soldatinnen und Soldaten immer noch nicht bekannt. Sie kümmert sich in der Tat sehr intensiv darum, geschädigten Soldatinnen und Soldaten, ob seelisch oder körperlich geschädigt, zum Teil über Jahre hinaus soziale und finanzielle Hilfe zukommen zu lassen. Ich will an dieser Stelle sagen: Diese Arbeit ist bei Weitem wertvoller als jedes Abzeichen, für das wir uns hier entscheiden.
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Ich will hier – ich hatte letzte Woche die Gelegenheit, das an konkreten Fällen ein Stück weit nachzuvollziehen und auch Schilderungen von Soldaten aus dem Einsatz und von den Ereignissen ihrer Traumatisierung zu lesen – die Möglichkeit nutzen, zu sagen: Ich finde, dass in unseren sicherheitspolitischen Debatten, auch wenn wir darüber reden, mehr Verantwortung zu übernehmen und als Parlament in der Zukunft möglicherweise mehr Einsätze weltweit zu bewilligen, die Frage der Konsequenz für unsere Soldatinnen und Soldaten, das Risiko, das damit verbunden ist, und die Schädigungen, die sie mit nach Hause bringen, regelmäßig zu kurz kommt. Das will ich ausdrücklich bedauern. Das ist ein Mangel unserer Debatten. Das gehört zu den Folgen unserer politischen Entscheidungen hier im Deutschen Bundestag dazu.
Die zweite Bemerkung, die ich machen will – das schließt an das an, was der Kollege Felgentreu eben auch schon ausgeführt hat –: Wenn man sich vergegenwärtigt, was das Bild der AfD-Fraktion von der Bundeswehr ist, dann kann man das besagte Papier zur Hand nehmen. Man kann sich noch mal ihre Reden durchlesen, die hier im Parlament gehalten worden sind. Da ist die Feminisierung der Bundeswehr beklagt worden. Da ist der Trend zur Verweichlichung in der Bundeswehr beklagt worden. Gleichzeitig werden vernünftige Arbeitszeitmodelle für die Bundeswehr abgelehnt, weil das in einer Armee nichts zu suchen habe. Wir hören, dass es endlich wieder Zeit sei, stolz zu sein auf Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen. Die Debatte ist mit einem Zitat aus der Kaiserzeit eröffnet worden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist ein Verständnis von Armee, von Bundeswehr, von Soldaten, das wir nicht teilen.
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Deswegen, weil er genau diese Sprache spricht, werden wir Ihren Antrag auch ablehnen.
Herzlichen Dank.
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Der Kollege Tobias Lindner hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich aus dem Traditionserlass der Bundeswehr zitieren:
Historische Beispiele für zeitlos gültige soldatische Tugenden, etwa Tapferkeit, Ritterlichkeit, Anstand, Treue, Bescheidenheit, Kameradschaft, Wahrhaftigkeit, Entschlussfreude und gewissenhafte Pflichterfüllung, aber auch Beispiele für militärische Exzellenz, z. B. herausragende Truppenführung, können in der Bundeswehr Anerkennung finden ...
Von „Opferbereitschaft“ – das Wort, das die AfD in ihren fünf Minuten fast ein Dutzend Mal gebraucht hat – ist darin zu Recht keine Rede, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Um es klar und deutlich zu sagen, Herr Kollege Kestner: Sie stellen sich hier an dieses Pult und suggerieren den Soldatinnen und Soldaten, die an Seele oder Körper verwundet worden sind, es gehe Ihnen um ihr Schicksal. Wenn dem wirklich so wäre, dann hätten Sie doch diese Debatte nicht erst vor zwei Sitzungswochen auf die Tagesordnung setzen lassen, dann gegen einen anderen Tagesordnungspunkt getauscht und wieder absetzen lassen. Wenn Ihnen wirklich daran gelegen wäre, dann hätten Sie doch Ihren Antrag nicht erst gestern Abend gegen 18 Uhr den anderen Fraktionen zukommen lassen. Um hier mal die Dinge beim Namen zu nennen!
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Wenn Sie fragen: „Was hat das damit zu tun?“, dann antworte ich Ihnen: Das hat etwas mit ehrlicher und vernünftiger parlamentarischer Arbeit zu tun. Wer nicht in der Lage ist, einen einseitigen Antrag im Deutschen Bundestag etwas früher als 18 Uhr am Vortag vorzulegen, dem geht es doch, ehrlich gesagt, nicht um die Sache, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Um noch was ganz deutlich zu sagen: Wir haben keine Lücke bei Auszeichnungen in der Bundeswehr. Wir haben das Ehrenkreuz für Tapferkeit, und wir haben die Gefechtsmedaille. Wenn wir Lücken haben, dann in der Versorgung und bei der Fürsorge, wenn Menschen an Körper oder Seele verwundet worden sind.
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Es war in der Vergangenheit immer dieses Parlament mit seinen Fraktionen, das die Bundesregierung dazu angehalten hat, hier mehr zu tun. Ich will hinzufügen: Man kann an diesen Stellen weitere Schritte gehen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Ich will Ihnen einen letzten Punkt nennen: Die Bundeswehr ist ganz bewusst in einem Bruch mit der Tradition aller deutschen Vorgängerarmeen gegründet worden. Darauf bin ich stolz, und ich finde, darauf können wir stolz sein. Wenn wir dieses Bild der Bundeswehr an dieser Stelle ernst nehmen, dann passt ein Abzeichen, das uns an die düstersten Zeiten der deutschen Geschichte erinnert, nicht zu dieser unserer Bundeswehr.
Herzlichen Dank.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort die Kollegin Kerstin Vieregge.
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Guten Abend! Es sind wir Abgeordnete, die im Deutschen Bundestag über Auslandseinsätze der Bundeswehr entscheiden. Dieses hohe Recht des Parlaments macht es selbstverständlich notwendig, soldatische Leistungen anzuerkennen, zu respektieren und auch zu ehren. Wir müssen das Bewusstsein für diese Leistungen in die Mitte der Gesellschaft holen.
In der vergangenen Woche war ich erstmals in Afghanistan und habe mir in Kabul, Masar-i-Scharif und Kunduz selbst ein Bild von der großen Herausforderung machen können, die dort von der Truppe zu bewältigen ist. Dort habe ich nicht den Eindruck gewonnen, dass durch ein Abzeichen einem Verwundeten geholfen würde. Nach mehreren ganz unterschiedlichen Truppenbesuchen im In- und Ausland und vielen Gesprächen sehe ich eine viel größere Dringlichkeit. Den Soldatinnen und Soldaten ist vielmehr daran gelegen, gar nicht erst verwundet zu werden,
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zum Beispiel durch Ausrüstung und eine Ausbildung, die ihnen eine klare Überlegenheit gegenüber dem Gegner gewährt. Hierauf sollten wir unsere Anstrengungen viel stärker konzentrieren. Und wenn doch Umstände dazu führen, dass ein Angehöriger unserer Streitkräfte verwundet wird, dann ist eine optimale medizinische Versorgung das oberste Gebot. Und würde ein Abzeichen wirklich bei der Genesung helfen?
Ich möchte noch einen anderen Aspekt benennen. Mit einem Verwundetenabzeichen wird auch zum Ausdruck gebracht, dass in einem unglücklichen Moment ein Gegner dem betroffenen Soldaten einen Schritt voraus war. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass man daran ständig erinnert werden will oder ein Zeugnis darüber an der eigenen Brust tragen möchte.
An diesem Punkt würde ich sogar noch einen Schritt weitergehen: Der vorliegende Antrag nutzt die Formulierung „feindliche Handlungen“ als Verleihungsvoraussetzung. Somit wird indirekt die Wirkung dieser feindlichen Handlungen anerkannt. Auf diese Art der Anerkennung können wir meiner Meinung nach aber ganz getrost verzichten.
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Unsere Soldatinnen und Soldaten wissen, wie gefährlich ihr Dienst ist. Daher wollen sie sich so gut wie möglich schützen können. Die jüngste Initiative zur Bewaffnung unserer Drohnensysteme ist daher deutlich zielführender als der heute diskutierte Antrag.
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Letztlich will ich eine Lanze für die Anerkennungskultur brechen. Es gibt viele Wege, die Leistungen der Bundeswehr in die Mitte der Gesellschaft zu holen, zum Beispiel, indem darüber gesprochen wird und indem die Bundeswehr mutig öffentlich auftritt. Daher finde ich, dass dafür nicht nur öffentliche Gelöbnisse ein Mittel sein sollten, sondern auch öffentliche Appelle zur Verabschiedung in den Einsatz und vor allem auch zur Begrüßung bei der Heimkehr. Dass man dabei auch Auszeichnungen verleihen und Beförderungen vornehmen kann, steht außer Frage.
Zum Abschluss will ich mich bewusst in der Vorweihnachtszeit an alle im Einsatz befindlichen Angehörigen der Bundeswehr richten. Seien Sie versichert, dass unsere Gedanken bei Ihnen sind!
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Verlassen Sie sich darauf, dass wir im Deutschen Bundestag für Sie da sind, so wie Sie für unser Land da sind! Vielen Dank für Ihren Dienst!
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Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Thomas Erndl, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Soldatin oder Soldat sein ist kein Beruf wie jeder andere. Dieser Grundsatz muss sichtbar sein. Unsere Armee muss sichtbar sein in unserer Gesellschaft. Wir bilden das ab in unserer Politik: mit öffentlichen Gelöbnissen, mit dem kostenfreien Bahnfahren in Uniform und mit dem politischen Rückhalt, den eine leistungsfähige Armee braucht. Soldatin oder Soldat ist eben kein Beruf wie jeder andere. Wer unsere Grundwerte und unsere Demokratie, ja, das Recht und die Freiheit unseres Volkes tapfer verteidigt, auch unter Einsatz von Leib und Leben, hat Anspruch auf eine besondere Anerkennung und Wertschätzung.
Vor 24 Jahren war ich bei den ersten Kampftruppeneinheiten mit dabei, die unser Land in einen Auslandseinsatz, damals nach Bosnien-Herzegowina, geschickt hat. Seitdem hat sich bei der Frage Anerkennung viel getan – es ist schon angesprochen worden –: Neben den Einsatzmedaillen sind besonders das Ehrenkreuz für Tapferkeit und die Einsatzmedaille Gefecht hervorzuheben.
In der heutigen Debatte wird ein Verwundetenabzeichen vorgeschlagen. Dabei sind viele Fragen offen, gerade mit dem Verweis auf erlittene seelische Schäden. Wollen Soldatinnen und Soldaten wirklich gerade seelische Schäden nach außen sichtbar machen, wie es im Vorschlag formuliert ist? Sie bringen den Begriff „Opferbereitschaft“. Wollen die Soldatinnen und Soldaten wirklich eine Opferrolle zuerkannt bekommen? Ich meine: Bei körperlicher und seelischer Verwundung ist wirkliche und reale Fürsorge entscheidend und keine Symbolpolitik.
Wir haben hier bereits eine Menge auf den Weg gebracht. Verwundete und Versehrte brauchen bestmögliche Versorgung und nicht nur Sichtbarkeit, und davon steht in Ihrem Antrag, Kolleginnen und Kollegen der AfD, nichts. Wir brauchen aufrichtige Wertschätzung und keinen Populismus.
Meine Damen und Herren, die größte Wunde, die wir als Gesellschaft den Soldatinnen und Soldaten, die in einem gefährlichen Einsatz waren, zufügen können, die wir den Soldatinnen und Soldaten, die mit einer Verletzung heimgekehrt sind, zusätzlich zufügen können und die wir den Familien und Angehörigen der über 100 Soldatinnen und Soldaten, die gefallen und nicht mehr heimgekehrt sind, zufügen können, ist, vergessen zu werden.
Es ist unsere Aufgabe, dass das nicht geschieht. Es gibt hier viele Initiativen: den Marsch zum Gedenken, die Invictus Games; sie sind angesprochen worden. Es ist unser Ziel, dass die Mehrheit der Menschen in unserem Land den Soldaten sagt: „Danke, dass ihr da seid“, anstatt bei öffentlichen Gelöbnissen zu pfeifen. Es ist unsere Verantwortung, dass Verletzte und Verwundete die bestmögliche Versorgung bekommen. Die Wege, auf denen Wertschätzung und Anerkennung geleistet werden, entwickeln sich sicherlich weiter. Ihr Vorschlag des Verwundetenabzeichens ist nicht stimmig.
Wir sagen Danke allen Soldatinnen und Soldaten, die für unser Land im Einsatz sind und ihren Dienst tun. Wir stehen an der Seite der Bundeswehr, unserer Soldatinnen und Soldaten.
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Herzlichen Dank.
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Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Herbst 1989 – wir erinnern uns alle – war eine bewegte, aber auch eine bewegende Zeit. Der 11. Dezember 1989, also heute vor 30 Jahren, war ein Montag. Bei dieser Montagsdemonstration wurde nun auch, nach dem Fall der Mauer, der bereits vier Wochen zurücklag, die Forderung nach einer Wiedervereinigung der beiden deutschen Teile laut.
Auch ich – mit Verwandten in Magdeburg und in West-Berlin – erlebte diesen Herbst zunächst mit Sorge, dann mit Freude und vor allem mit viel Dankbarkeit für den Mut der Menschen in der damaligen DDR. Nach dem Mauerfall war es uns endlich möglich, uns gegenseitig ungehindert, ohne Schikanen, ohne Ängste zu besuchen, aber auch Regionen Deutschlands in Ost und West zu erkunden, die wir bisher jeweils nur aus Büchern oder aus Erzählungen kannten. Reisefreiheit hatten die Ostdeutschen mit dem 9. November 1989 also nicht nur für die Bürger der DDR, sondern auch für die Bürger Westdeutschlands erstritten – herzlichen Dank dafür!
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Die erkämpfte Reisefreiheit und die Restaurierung ostdeutscher Städte und Landschaften boten eine große Chance für den Tourismus in ganz Deutschland. Heute sind Orte in Ost und West für uns Deutsche beliebte Reiseziele. Auch für Gäste aus dem Ausland ist das vereinte Deutschland ein Magnet: Die Zahl ausländischer Gäste hat sich seit der Wiedervereinigung in den alten Ländern verdoppelt, in den neuen Ländern sogar verfünffacht. Berlin stand 2018 mit 33 Millionen Übernachtungen auf Platz drei der beliebtesten Städte in Europa – nach London und Paris.
Um dieses Potenzial weiter zu entfalten, werben wir in unserem Antrag dafür, die Gelder für die Deutsche Zentrale für Tourismus für das Auslandsmarketing auch in Zukunft zu verstetigen.
Wie Umfragen aber zeigen, können wir auch unseren Inlandstourismus durchaus noch ausbauen. Ich las neulich, dass etwa jeder sechste Westdeutsche noch nicht privat in den ostdeutschen Bundesländern war.
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Da ist also durchaus noch Luft im System.
Ebenso wichtig ist uns, dass in der nationalen Tourismusstrategie auch die Förderung der deutsch-deutschen Erinnerungskultur berücksichtigt wird. Dazu gehört aber auch, dass wir nie, wirklich nie vergessen, dass die Verbrechen des Nationalsozialismus erst die Teilung Deutschlands nach sich gezogen haben.
Verehrte Damen und Herren, heute ist freies Reisen für viele Menschen selbstverständlich. Das kann aber nur so bleiben, wenn wir den Wert von Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit erkennen und verteidigen. Dafür müssen wir vor allem bereits bei jungen Menschen werben. Deshalb wollen wir den interkulturellen Jugendaustausch weiter fördern und für ein Klima eintreten, in dem Besucher aus anderen Ländern bei uns willkommen sind
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und unsere Jugend andere Länder und Kulturen kennenlernt.
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Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Reisefreiheit war eine große Motivation für die Friedliche Revolution 1989. Wir möchten mit unserem Antrag diese Errungenschaft aus touristischer Sicht würdigen, dabei aber auch nicht außer Acht lassen – wir hatten das in der Diskussion im Ausschuss –, dass die Wiedervereinigung in der Folge durchaus auch Probleme geschaffen hat, die noch nicht alle gelöst sind, dass nicht alles perfekt gelaufen ist.
Aber wir konzentrieren uns in unserem Antrag eben auf den touristischen Aspekt der Reisefreiheit. Deshalb bitte ich noch mal herzlich um Ihre Zustimmung zu unserem Antrag. Denn er soll einen Teil würdigen, ohne Probleme zu vernachlässigen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Für die AfD-Fraktion hat das Wort der Kollege Christoph Neumann.
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Sehr geehrter Präsident! Wertgeschätzte Kollegen! Liebe Gäste auf den Tribünen und zu Hause vor den Fernsehgeräten!
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30 Jahre Mauerfall sind ein guter Anlass, um tourismuspolitische Maßnahmen im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung in den Vordergrund zu rücken. Die Wiedervereinigung hat den Menschen in den neuen Bundesländern nicht nur die langersehnte Reisefreiheit gebracht; sie hat auch ermöglicht, dass dieser Teil von Deutschland in aller Welt immer stärker als Reiseziel gesehen wird. Heute begeistern die östlichen Bundesländer die Gäste aus aller Welt nicht nur mit ihren Kulturdenkmälern, sondern auch mit malerischen Landschaften und Städten. Sie sind auch ein Reiseziel, das offen zeigt, welche Schwierigkeiten 30 Jahre nach der Maueröffnung immer noch bestehen.
Wir Deutsche sind gute Gastgeber, aber wir spielen nicht heile Welt. Wir nennen das „ehrlichen Tourismus“, meine Damen und Herren. Zur Ehrlichkeit gehört auch, dass die Forderungen des Antrages von Union und SPD sinnvoll sind. Wir werden dem Antrag daher zustimmen. Ja, meine Kollegen von der Koalition, wir sprechen es offen aus, wenn Sie vernünftige Dinge vorschlagen.
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Leider gelingt Ihnen das umgekehrt bisher nicht. Da sollten Sie sich endlich mal ein Herz fassen und über Ihren Schatten springen.
Soweit es Ihren Antrag betrifft, werte Kollegen, sind wir bei Ihnen, wenn Sie die erfolgreiche Auslandsvermarktung Deutschlands als Reiseziel weiter fördern wollen. Dabei sollte selbstverständlich auch die deutsch-deutsche Geschichte eine besondere Rolle spielen. Sie ist einzigartig in Europa. Das wollen unsere Gäste hautnah erleben.
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Deshalb ist es auch gut, im Rahmen der nationalen Tourismusstrategie die deutsch-deutsche Erinnerungskultur zu berücksichtigen. Die Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn oder das Deutsch-Deutsche Museum Mödlareuth sind wichtige Orte, die Besuchern helfen, unser Land besser zu verstehen.
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Sie müssen weiter durch den Bund gefördert werden.
Neben der Erinnerung an die schmerzliche Teilung müssen wir tourismuspolitisch aber auch in die Zukunft blicken. Deutschland muss als starker Wirtschaftsstandort mitten in Europa auch das berufliche Reisen stärker in den Blick nehmen. Der Marktanteil der Geschäftsreisen an allen europäischen Reisen nach Deutschland lag 2018 laut der Deutschen Zentrale für Tourismus auf dem niedrigsten Stand seit 2004. Deshalb soll die Auslandsvermarktung dringend mehr Gewicht auf die Geschäftsreisen legen. Auch hier stimmen wir Ihrem Antrag zu.
Meine Damen und Herren, Deutschland gilt zu Recht als weltweit attraktives und gastfreundliches Reiseland. Wir alle müssen uns deshalb bemühen, das Erreichte hier in diesem Haus nicht zu gefährden. Aus diesem Grund teilen wir auch Ihre Sorge um das positive Image des vereinten Deutschlands. Dieses Image wird durch Extremismus und Gewaltbereitschaft aktuell bedroht.
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Um es ganz deutlich zu sagen: Extremismus, gleich von welcher Seite, gefährdet unser Land und unser Ansehen in der Welt.
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Die Krawalle der Autonomen anlässlich des G-20-Gipfels 2017 in Hamburg oder die Wellen linksextremer Gewalt in meiner Heimatstadt Leipzig schaden Deutschland.
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Wenn Linksextreme in Leipzig Baumaschinen in Brand stecken, Menschen in ihren Wohnungen überfallen und das Landesamt für Steuern und Finanzen anzünden, ist das kein Aushängeschild für unser Land.
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Werte Parlamentarier und Staatsdiener, diese Auswüchse müssen wir gemeinsam beenden. Genauso wie rechte Gewalt muss auch diese Gewalt von links unterbunden werden. Wir wollen eine sichere Heimat, und wir wollen Sicherheit für unsere Gäste.
Danke schön.
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Der Kollege Frank Junge ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir feiern in diesem Jahr 30 Jahre Friedliche Revolution und damit ein Ereignis, in dessen Folge die innerdeutsche Mauer niedergerissen wurde. Das war möglich – es kam hier schon zur Sprache –, weil ostdeutsche Frauen und Männer mutig in den Protest, auf die Straße gegangen sind und sich für Demokratie und Freiheit eingesetzt haben. Sie taten das in völliger Ungewissheit darüber, welche Konsequenzen oder Repressalien sie und ihre Familien zu erleiden gehabt hätten. Ich bin diesen Menschen unendlich dankbar; denn am Ende dieses couragierten Protestes haben wir in Ostdeutschland wirklich demokratische Wahlen bekommen, und die Teilung der beiden deutschen Staaten ist sozusagen ohne Blutvergießen beendet worden.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, neben Meinungsfreiheit, Freiheit von Zensur und Pressefreiheit sind die Menschen im Herbst 1989 auch für Reisefreiheit auf die Straße gegangen. Andere Länder, andere Kulturen, andere Lebensverhältnisse kennenzulernen und den eigenen Horizont so zu erweitern, war ihnen genauso wichtig, wie die Verwandtschaft im Westen zu besuchen. Dass das möglich wurde und dass dieser Aspekt zum Tragen gekommen ist, ist im Zuge dieser Protestsituation geleistet worden. Hier hatten die Menschen die Reglementierungen des Staates so satt, dass dieses große unerfüllte Bedürfnis am Ende mit zur Wiedervereinigung Deutschlands geführt hat.
Seitdem – das wissen wir alle, und wir haben es hier auch schon mehrfach debattiert – hat die Entwicklung in den alten und den neuen Ländern eine Erfolgsgeschichte durchlaufen, die ihresgleichen sucht. Vor allem in strukturschwachen Bereichen war und ist der Tourismus immer noch Motor der gesamten wirtschaftlichen Entwicklung. Das gilt es hier auch noch mal herauszustellen.
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Mit unserem Antrag möchten wir daran anknüpfen. Wir wollen unter anderem bewirken, dass der Aspekt der Friedlichen Revolution von 1989 als einzigartige historische Besonderheit unserer deutsch-deutschen Geschichte für die weltweite Vermarktung unseres Reiselandes Deutschland über die Deutsche Zentrale für Tourismus mit aufgenommen wird.
Außerdem soll das Thema der Friedlichen Revolution für die deutsch-deutsche Erinnerungskultur bei der Erarbeitung von Aktionsplänen im Rahmen unserer auch hier schon beschlossenen nationalen Tourismusstrategie fest verankert werden.
Und wir wollen – das kam hier auch schon zur Sprache –, dass die Bedeutung der deutschen Wiedervereinigung und der Reisefreiheit für das friedliche Miteinander der Völker in einem geeinten Europa für den interkulturellen Austausch aufgearbeitet und genutzt wird. Denn ich finde: Ein Land wie unseres, das sich friedlich vereint hat und das jetzt für eine starke Demokratie im Herzen Europas steht, kann damit nicht nur für sich selbst werben. Wir stellen damit auch weit sichtbar heraus, was mutige Menschen im Rahmen gesellschaftlicher Umbruchprozesse auf friedlichem Weg bewirken können.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, Reisen bedeutet Weltoffenheit, friedliches Miteinander und Völkerverständigung. Unter diesem Aspekt gilt unser wiedervereintes Deutschland heute weltweit als attraktives, sympathisches und gastfreundliches Reiseziel. Sorgen wir dafür, dass das in Zukunft so bleibt. Stellen wir uns alle gemeinsam gegen jegliche Form von Nationalismus, Ausgrenzung und Rassismus und, Herr Neumann, gegen das Geschäftsmodell der AfD, das genau auf diesen Säulen beruht. Denn Ausländerfeindlichkeit, Hass und Hetze widersprechen nicht nur unseren humanistischen Wertevorstellungen, sie schaden auch dem Wirtschafts- und Tourismusstandort Deutschland.
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Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Dr. Marcel Klinge für die Fraktion der FDP.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Das ganze Land redet über 30 Jahre Mauerfall, und ich finde es großartig, dass wir uns heute im Deutschen Bundestag auch mit der sehr erfolgreichen Entwicklung des Tourismus in Ostdeutschland beschäftigen. Es ist schon beeindruckend, was die Menschen in den neuen Bundesländern mit großem unternehmerischen Einsatz, mit großem unternehmerischen Risiko und mit großem Mut – nämlich nach der Wiedervereinigung vielleicht noch mal was ganz Neues zu starten – zusammen mit ihren fleißigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den letzten drei Jahrzehnten aufgebaut haben.
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Dass sich der Tourismus in Ostdeutschland zu einer dynamischen und erfolgreichen Branche entwickelt hat, sollte uns alle, glaube ich, sehr stolz machen.
Wie jeder gute Unternehmer sollte sich der Blick aber nicht nur in die Vergangenheit richten, sondern auch in die Zukunft. Uns Freie Demokraten beschäftigt natürlich die Frage, wie wir unsere Tourismusbetriebe in Ostdeutschland und darüber hinaus für die Zukunft fit machen, wie wir sie bestmöglich unterstützen. Dabei sind aus unserer Sicht drei Themen zentral.
Erstens das Thema Digitalisierung. Die, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, gestalten Sie eben nicht, indem Sie eine Kassenbonpflicht einführen.
Das ist zweitens das Thema Bürokratieabbau. Wir wollen für jede neue Regel zwei alte Vorschriften abschaffen.
Und das ist drittens der Fachkräftemangel, der für viele kleine und mittlere Betriebe vor allem in Ostdeutschland zur Existenzfrage Nummer eins geworden ist.
Ohne ausreichend gutes Personal, meine Damen und Herren, läuft im Tourismus nichts. Deswegen ist die Tourismusbranche in besonderem Maße von einem modernen Zuwanderungsrecht abhängig.
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Zu diesem modernen Zuwanderungsrecht – das ist meine innerste Überzeugung – gehört eben auch der sogenannte Spurwechsel, also die Möglichkeit, dass Flüchtlinge, die bereits gut in den Arbeitsmarkt integriert sind, die sich nichts haben zuschulden kommen lassen, die für ihren eigenen Lebensunterhalt sorgen, dauerhaft bei uns in Deutschland bleiben können.
Das ist ein Riesenthema für die Tourismusbranche und für unsere Mittelständler im Allgemeinen, so auch in meinem Wahlkreis. Buba Jaiteh, 21, aus Gambia, wohnt im Gemeindehaus in Blumberg-Hondingen, hat einen unbefristeten Vertrag bei einem Mittelständler im Schwarzwald-Baar-Kreis, trainiert in seiner Freizeit die F-Jugend des SV Hondingen und hangelt sich aktuell von einer Duldung zur nächsten. Er hat – genauso wie seine beiden Chefs, die ihm eine Chance gegeben haben, die das umgesetzt haben, was wir in Berlin einfordern – alles richtig gemacht. Die Große Koalition macht aber mit ihrer aktuellen Politik alles falsch,
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indem sie die Anständigen in diesem Land, die Schaffer in unserem Land, bestraft und unseren Unternehmen benötigte Arbeitskräfte wegnimmt.
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Deswegen fordere ich Sie auf: Ändern Sie Ihre Haltung zum Thema Spurwechsel. Wenn Sie etwas gegen den Fachkräftemangel in West- wie in Ostdeutschland machen wollen, dann führen Sie den Spurwechsel ein
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und helfen Sie dabei, dass junge Menschen wie Buba Jaiteh etwas aus ihrem Leben in Deutschland machen können.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Als Nächstes spricht für die Fraktion Die Linke die Kollegin Kerstin Kassner.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn es um den Tourismus im Osten geht, können Sie mir glauben, dass ich als Bewohnerin der schönen Insel Rügen
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und als Wirtin einer Pension, die ich 1992 mit meinem Mann gegründet habe, weiß, wovon ich spreche. Deshalb sage ich: Es ist gut, dass sich vieles im Bereich Tourismus getan hat. Wir können wirklich auf viele Erfolge stolz verweisen; aber es bleibt noch viel zu tun, und das sollten wir nicht leugnen.
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Ich möchte dafür drei Gründe nennen.
Der erste Grund ist die Lage der Kommunen. Trotz erfolgreicher Tourismuspolitik ist es selbst in touristischen Hotspots nicht gelungen, einen selbsttragenden Aufschwung zu erreichen. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass viele Infrastrukturprojekte noch immer notleidend sind: Die Digitalisierung ist ein Thema, an dem wir weiterarbeiten müssen, nicht geschlossene Radwegesysteme ist ein weiteres Thema, und beim ÖPNV gibt es wirklich dringend Nachholbedarf. Beispielsweise hat auch meine Insel aufgrund des vom Tourismus verursachten Verkehrschaos Probleme. Wir drohen an bestimmten Tagen zu bestimmten Zeiten im Verkehr zu ersticken. Wir brauchen einen guten ÖPNV. Das wäre für die Einwohner genauso wie für die Touristen gut.
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Ein zweites Thema, bei dem ich mir wünschte, dass wir uns damit intensiver beschäftigten, betrifft die Fragen: Wie stellen wir uns auf für die Zukunft? Wie schaffen wir es, dass unser Tourismus nachhaltig ist? Ich wünschte mir, dass wir viel mehr in Forschung und Kreativität investieren. Wenn ich höre, dass 4,4 Millionen Euro an Forschungsmitteln für den Tourismus zur Verfügung gestellt werden und nur 2 Prozent davon in den Osten fließen, dann sage ich: Das ist eindeutig viel zu wenig. Hier brauchen wir neue Ansätze.
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Gerade am Montag wurde uns vorgestellt, welche Projekte im Rahmen einer Kreativitätsförderung durch das Kompetenzzentrum Tourismus gefördert werden. Von den elf dort vorgestellten Projekten ist nur eins, ein einziges, tatsächlich im Osten zu verzeichnen. Und auch hier sage ich: Das ist zu wenig. Das muss verändert werden.
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Abschließend noch ein Wunsch: Wer Beschäftigter in dieser Branche ist, hat es verdient, dass er auskömmlich entlohnt wird, dass er nicht von Altersarmut bedroht ist, dass er die Chancen der Reisefreiheit nicht nur theoretisch, sondern auch tatsächlich nutzen und sich in anderen Gegenden davon überzeugen kann, dass es dort auch schön ist.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Markus Tressel.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Forderung nach Reisefreiheit war ja ein wichtiger Antrieb und die zentrale Forderung während der Friedlichen Revolution von 1989. Dieses Freiheitsrecht wurde in der DDR massiv eingeschränkt. Unter anderem durch die auf die Straße getragene nachdrückliche Forderung nach Reisefreiheit und mehr Freiheit im Allgemeinen kam es in jener Nacht des 9. November zur Maueröffnung. Dieses denkwürdigen Ereignisses, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir angemessen gedenken. Mit den Feierlichkeiten im November ist das aus meiner Sicht auch in guter Weise gelungen. Wir müssen es uns aber auch jeden Tag vor Augen führen, gerade in Zeiten, in denen Forderungen lauter werden, Grenzen wieder dicht zu machen. Das ist ein wichtiger Aspekt, den wir auch heute diskutieren müssen. Das ist kein Thema von gestern, sondern das ist auch ein Thema von heute.
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Die Reisefreiheit, die Freiheit jedes Einzelnen, sein Land verlassen zu dürfen und wiederkommen zu können, ist ein Menschenrecht. Die Reisefreiheit – das muss man an dieser Stelle auch sagen – ist konstitutiv für einen erfolgreichen Tourismusstandort und für eine erfolgreiche Tourismusbranche insgesamt. Die Erinnerung an Zeiten, in denen das in Deutschland nicht so war, müssen wir lebendig halten und erfahrbar machen. Dafür sind nicht nur Bildungsangebote notwendig, sondern auch zahlreiche andere Ansätze.
In Ihrem Antrag stellen Sie den Radweg Deutsche Einheit heraus. Die Forderung, diesen zu fördern, unterstützen wir ausdrücklich; aber wir möchten noch mehr gefördert wissen. Ein größerer Einsatz zum Beispiel für den Berliner Mauerweg oder für den Iron Curtain Trail auf europäischer Ebene wäre wünschenswert. Darüber finde ich in Ihrem Antrag nichts, liebe Kolleginnen und Kollegen. Oder das Grüne Band! Das Grüne Band ist mit seinen fast 1 400 Kilometern ein einzigartiges Naturdenkmal dieser Zeit. Es ist ja ein besonderes Paradoxon, dass sich gerade auf dem ehemaligen Todesstreifen und auf den angrenzenden Arealen eine der wertvollsten Naturlandschaften Deutschlands erhalten hat. Das ist historisch und touristisch bedeutsam. In Ihrem Antrag wird es aber erst gar nicht erwähnt, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das ist absolut bedauerlich. Das Grüne Band hätte es verdient, in diesem Antrag Erwähnung zu finden, auch weil es ein touristisches Aushängeschild ist.
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Meine Damen und Herren, lassen Sie uns gemeinsam den Tourismus in Ost und West fördern, aber grundlegend. Dazu gehört auch die Benennung der Herausforderungen. Das heißt, wir müssen den Blick auch nach vorne und nicht nur zurück wagen. Die Kollegin Kassner hat es angesprochen: Viele Themen sind in Ihrem Antrag nicht erwähnt. Ich nenne die Themen Fachkräftemangel, Rechtsradikalismus und Abwanderung. Da hätte ich von Ihrem Antrag deutlich mehr erwartet.
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Dieser Antrag wird der hohen Erwartung, die Sie mit dem Titel wecken, auch angesichts der Bedeutung der Reisefreiheit nicht gerecht, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Ich sage Ihnen noch etwas – ich habe das ja bereits im Ausschuss gesagt –: Sie hätten diesen Antrag schon vor einem Jahr im Hinblick auf die Frage, wie wir die Feierlichkeiten zu dem Jubiläum gestalten, einbringen müssen. Sie haben ihn dann zwei Tage vor dem Jubiläum eingebracht. Das ist ein bisschen spät.
Wir brauchen also eine gesamtdeutsche Perspektive auf dieses Thema. Ich finde, ganz ehrlich, dass dieser Antrag dem hohen Anspruch, den Sie selbst formulieren, nicht gerecht wird, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Bundesregierung der Kollege Thomas Bareiß.
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Herr Präsident! Liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Tat: Der Fall der Mauer am 9. November 1989, die Friedliche Revolution im Osten, die Wiedervereinigung Deutschlands knapp ein Jahr später und die Überwindung des Sozialismus sind auch nach 30 Jahren für uns alle noch eine große Freude und Anlass, zu feiern. Wir verspüren hierfür in besonderer Weise das Bedürfnis, unserer Dankbarkeit Ausdruck zu verleihen.
Wie so oft – das kam auch in den Beiträgen meiner Vorredner zum Ausdruck – finden die stillen Helden dieser Revolution viel zu wenig Beachtung. Es waren die Menschen, die damals Mut und Zivilcourage hatten, auf die Straße zu gehen, für ihre Meinungsfreiheit zu kämpfen, für ihre Pressefreiheit, für ihr Privateigentum, für freie Wirtschaft, für Wohlstand und auch für das freie Reisen. Auch das war ein ganz wichtiger Antrieb. Seit dieser Zeit vor 30 Jahren sind Tourismus und Reisefreiheit ganz eng mit dem Fall der Mauer, der Wiedervereinigung und auch dem Erfolg Gesamtdeutschlands verbunden.
Tourismus ist ein ganz wichtiger Faktor. Die Zahlen haben gezeigt, dass wir hier die letzten Jahre sehr erfolgreich waren. Immer wieder konnten wir neue Erfolgsmeldungen liefern.
Ich glaube zunächst einmal, dass Tourismus ein ganz wichtiger Faktor bei der Überwindung der deutsch-deutschen Teilung war. Gerade wenn man sieht, dass viele Menschen in Deutschland Urlaub machen und dabei auch in Regionen gehen, die sie noch nicht kennen, wird klar, dass es ein wichtiger Faktor ist, dass man andere Länder kennt, dass man sich kennt und dass man die Teilung nach vielen Jahrzehnten überwindet und auch ein Stück weit das neue Deutschland, das andere Deutschland, den Nachbarn kennenlernt. Auch das ist ein ganz wichtiger Punkt, der, glaube ich, die letzten Jahre dazu beigetragen hat, dass Deutschland stärker zusammengewachsen ist, als das noch vielleicht vor Jahren der Fall war.
Darüber hinaus ist Tourismus ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, der dazu beiträgt, dass ländliche Regionen bzw. schwache Regionen entwickelt werden. Auch das ist ein ganz wichtiger Faktor, gerade in den neuen Ländern. Hier hat Tourismus ganz viel dazu beigetragen, dass schwache Regionen neue Betriebe bekommen, neue Perspektiven bekommen. Auch das, denke ich mal, ist etwas, was Tourismus in besonderer Weise auszeichnet.
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Der dritte Punkt, den ich noch erwähnen will, ist, dass Tourismus nicht nur ein Wirtschaftsfaktor ist, sondern auch etwas, was Menschen verbindet. Tourismus ist auch etwas, was unser Land nach außen hin trägt und eine Visitenkarte für unser Land ist. Wenn man sieht, dass im letzten Jahr 88 Millionen Menschen nach Deutschland kamen, dass immer mehr Menschen nach Deutschland kommen wollen, auch aus Ländern, die nicht gerade mit Demokratie und Freiheit gesegnet sind, bietet das uns auch die Möglichkeit, ein Stück weit für unser Lebensmodell zu werben, für Freiheit, für Demokratie, für Meinungsfreiheit. Wir können so das sympathische, das offene, das weltoffene Deutschland präsentieren und damit nicht nur in Deutschland ein Stück weit etwas verändern, sondern auch die Welt ein Stück weit verändern. Auch das ist etwas, was, denke ich mal, an Deutschland herausragend ist, weil Deutschland eine sehr wechselhafte Geschichte hat. Auch davon können wir einiges erzählen.
Insofern ist es gut, dass wir hier enorm viel Geld investieren, um einerseits das zu präsentieren, andererseits aber auch die schönen Dinge. Damit machen wir Deutschland zu einem Modell für die Welt und zeigen auf, dass Demokratie, Freiheit und soziale Marktwirtschaft etwas sind, was nachahmenswert ist in einer Welt, die immer stärker von Nationalismus bestimmt ist. Damit verteidigen wir auch ein Stück weit unsere Art, zu leben, und werben dafür. Das macht Tourismus in besonderer Weise aus, und das treibt dann Beschäftigte vor Ort, die eine erfolgreiche Arbeit machen, noch mal in besonderer Weise an.
Danke schön.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin in der Debatte ist für die Fraktion der SPD die Kollegin Gabi Hiller-Ohm.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich sehr, dass wir heute hier über Mauerfall und Reisefreiheit debattieren. Auch ich, obwohl ein Wessi, fühle mich direkt betroffen. Ich wurde in Lübeck, der einzigen Großstadt direkt an der Grenze zur damaligen DDR, geboren. Meine Großeltern hingegen hatten sich nach dem Krieg in Wismar eine neue Heimat geschaffen. Beide Städte – das muss man sich mal vorstellen – liegen nur 60 Kilometer voneinander entfernt. Aber sie waren über meine ganze Kindheit und über meine Jugend bis in mein Erwachsenenalter stets durch Grenzzaun, Todesstreifen und Mauern getrennt. Von meinem Zuhause waren es nur wenige Hundert Meter bis zum BRD-Schlagbaum. „Halt! Hier Grenze“ – das hat mich in meiner Kindheit total geprägt.
Wenn man in die DDR wollte, musste man ein nervenaufreibendes Prozedere durchmachen, das einschüchternd und teilweise auch demütigend war. Die Einreise in die DDR, anfangs nur mit der Bahn und nur mit Visum zum Besuch von Familienangehörigen, musste schon sehr lange vorher beantragt werden und konnte auch ohne Weiteres verweigert werden, Zugfahrten mit zermürbenden Aufenthalten in der damaligen DDR, beängstigenden Kontrollen im Zug durch bewaffnete Grenztruppen mit Hunden und Passkontrolleinheiten, die der Stasi unterstanden.
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Dann kleiner Grenzverkehr von Lübeck mit dem Auto in die DDR nach Wismar über vorgeschriebene Transitrouten, und auch hier wieder einschüchternde, angstmachende und zum Teil entwürdigende Kontrollen am Grenzübergang.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben es schon gehört – mein Kollege Frank Junge hat darauf hingewiesen –: Die Bürgerinnen und Bürger der damaligen DDR haben sich ihre Reisefreiheit schwer erkämpft. Viele haben dafür mit Tod, langen Haftstrafen und Ausgrenzung bezahlt. Das alles liegt hinter uns, und das ist ein riesengroßer Erfolg.
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Reisefreiheit war ein wichtiger Schlüssel für die Wiedervereinigung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, am Beispiel der Wiedervereinigung erkennen wir den hohen Wert der Reisefreiheit als wichtigen Garant für Frieden und Völkerverständigung. In 30 Jahren nach dem Mauerfall ist in Sachen Reisefreiheit nicht nur innerdeutsch viel passiert. Werfen wir einen Blick auf die Europäische Union. Auch hier ist es gelungen, Grenzzäune abzureißen und den freien Verkehr von Waren und Personen zu ermöglichen. Von Polen bis nach Portugal gibt es keine Passkontrollen mehr. Man merkt noch nicht einmal, wenn man eine Staatsgrenze überschreitet. Dies, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist ein wesentlicher Grundpfeiler der Europäischen Union. Diesen Meilenstein dürfen wir uns nicht nehmen lassen, schon gar nicht von Nationalisten und Rechtspopulisten, die die Grenzzäune wieder aufbauen wollen; denn die Freiheit, Grenzen zu überwinden, Mauern, auch in den Köpfen, einzureißen, diese Freiheit ist elementar für unsere Demokratie.
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Und, liebe Kolleginnen und Kollegen, für diese Freiheit kämpfen wir.
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Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Dr. Klaus-Peter Schulze.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister! Nachdem meine Vorredner viel auf den Mauerfall und dessen Würdigung eingegangen sind, möchte ich an einigen ganz konkreten Zahlen verdeutlichen, wie die Entwicklung in Ostdeutschland war.
Wir hatten 1989 433 Hotels. Jetzt sind es 3 078. Es war eigentlich nicht möglich, spontan am Sonnabendvormittag mit seiner Frau auszumachen: Wir fahren ein verlängertes Wochenende irgendwohin. – Wenn man kein Hotel vorgebucht hatte, war das einfach nicht möglich.
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– Dazu kommen wir. – Wir hatten damals auch nur 531 Campingplätze, teilweise in einem sehr schlechten Zustand. Mittlerweile sind es 631. Die Zahl der Besucher in Ostdeutschland ist seit 1993 von 3,4 Millionen auf mehr als 20,5 Millionen im Jahr 2018 angestiegen, wobei ich auch sagen muss: Ich würde mir wünschen, dass der eine oder andere aus den „gebrauchten“ Bundesländern doch mal in die neuen Bundesländer kommen sollte.
Am Beispiel der Entwicklung des Radtourismus will ich noch mal deutlich machen, welche großen finanziellen Anstrengungen in Ostdeutschland und darüber hinaus in den letzten Jahren unternommen wurden. Ich erinnere mich persönlich sehr gut an den 8. März 1995, nicht nur weil da Internationaler Frauentag war, sondern auch weil an dem Tag der Förderausschuss des Landes Brandenburg dem Landkreis Spree-Neiße, in dem ich Baudezernent war, 40 Millionen D-Mark zum Ausbau der touristischen Radwege zur Verfügung gestellt hat.
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Es ist uns gelungen, innerhalb von fünf Jahren 400 Kilometer Radwege zu bauen, unter anderem den Spreeradweg oder den Oder-Neiße-Radweg.
Damit nahm der Radtourismus in Ostdeutschland, speziell in unserer Region, den Anfang – ein Trend, der sich fortgesetzt hat. Mittlerweile haben wir im Land Brandenburg 12 000 Kilometer touristisches Radwandernetz, und mittlerweile ist es so, dass der Radtourismus etwa ein Fünftel des touristischen Aufkommens in unserem Bundesland ausmacht. Das ist nicht nur in Brandenburg so, sondern auch in den anderen neuen Bundesländern. Ich glaube, es ist uns hier gelungen, im Bereich des Radtourismus gegenüber den alten Bundesländern aufzuholen und vielleicht auch hier und da zu überholen. Mir sagen viele Radtouristen: Das Netz in Ostdeutschland ist besser als das in den alten Bundesländern.
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Das ist aus meiner Sicht ein guter Erfolg.
Aber – das muss man an dieser Stelle auch sagen –: Wir sollten uns nicht auf diesen Lorbeeren ausruhen. Wir müssen etwas tun. Ein Teil der Wege muss saniert werden. Dafür wird beispielsweise in unserem Bundesland zusätzliches Geld für die Sanierung zur Verfügung gestellt, was ich sehr gut finde. Wir haben allerdings auch die Tendenz, dass viele ländliche Gasthöfe und andere Versorgungseinrichtungen im ländlichen Bereich schließen, weil es keine Betriebsnachfolger gibt, weil der Bürokratismus zu groß ist, weil die Fachkräfte fehlen oder weil die Arbeitszeitregelungen, die wir haben, nicht sehr günstig sind.
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– Lieber Kollege Klinge, ich habe eigentlich darauf gewartet, dass Sie das Thema ansprechen. – Im Koalitionsvertrag zwischen SPD, CDU und Grünen im Land Brandenburg ist deshalb vermerkt, dass es eine Bundesratsinitiative des Landes Brandenburg geben wird, die Arbeitszeitregelungen im touristischen Bereich flexibler zu gestalten. Vielleicht schaffen wir es gemeinsam, hier einen kleinen Schritt nach vorne zu kommen.
Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrte Damen und Herren! Die PISA-Ergebnisse der letzten Woche waren mal wieder eine Klatsche für die deutsche Bildungspolitik. Bei der Lesekompetenz sind unsere Kinder zurück auf dem Stand von 2009. Bei Mathematik und den Naturwissenschaften sind sie sogar auf dem niedrigsten Niveau seit 2003. Und wir liegen weiterhin nur im Mittelfeld. Diese Ergebnisse müssten alle Bildungspolitiker nachts um den Schlaf bringen. Ich befürchte aber, die meisten von Ihnen schlafen seelenruhig weiter. Wachen Sie endlich auf!
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Erinnern wir uns an das Jahr 2000, den PISA-Schock.
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Damals haben die Ergebnisse ganz Deutschland aufgerüttelt. Die Verantwortlichen haben sich für Innovationen in der Bildung ins Zeug gelegt. Zunächst wurde es auch besser. Und heute? Das Ergebnis ist noch schlechter, aber der Ehrgeiz ist verflogen. Einen Schock wie damals gibt es nicht, nicht einmal Unruhe. Diese Sorglosigkeit, diese Gleichgültigkeit, meine Damen und Herren, können wir uns nicht leisten! Es darf nicht sein, dass die Verantwortlichen die neuerliche PISA-Klatsche schönreden. Wir brauchen ein PISA-Sofortprogramm, damit unsere Kinder weltbeste Bildungschancen bekommen, und zwar jedes einzelne, egal ob die Eltern Ärzte oder Arbeiter sind und egal ob es in Bremen oder in Bayern zur Schule geht. Das sind wir unseren Kindern schuldig, meine Damen und Herren.
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Drei Punkte aus unserem umfangreichen PISA-Sofortprogramm sind mir besonders wichtig:
Erstens müssen wir den deutschen Bildungsföderalismus reformieren.
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Die letzten Wochen haben die Probleme eindrucksvoll gezeigt. Bildungsministerin Karliczek hat sich beim Nationalen Bildungsrat von den Ministerpräsidenten Kretschmann und Söder abservieren lassen. Ihr bleibt nicht einmal ein Platz am Katzentisch. Und während die bayerische Regierung die Ferienzeiten zur wichtigsten bildungspolitischen Frage der Nation erhebt,
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erwischt Gesamtdeutschland die nächste PISA-Klatsche. Wir müssen endlich weg von dieser Kleinstaaterei und Kleingeistigkeit. Eine überwältigende Mehrheit der Deutschen ist es leid, dass jedes Bundesland seine eigene Suppe kocht, dass Umzüge in ein anderes Bundesland für Schüler eine Katastrophe sind und dass bei Schulabschlüssen, von der Hauptschule bis zum Abitur, die Vergleichbarkeit fehlt.
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Wir brauchen einheitliche, hochwertige und verbindliche Standards und zentrale Prüfungen. Wir brauchen ein Kooperationsgebot anstelle des Kooperationsverbotes.
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Zweitens müssen wir unsere Lehrer stärken. Der Lehrerberuf muss wieder für die Besten attraktiv sein. Wir müssen die Lehrerausbildung flexibler, praxisnäher und zukunftsfähiger machen. Mit einem Institut für beste Schulpraxis wollen wir die wissenschaftlichen Erkenntnisse so aufbereiten, dass Lehrkräfte sie für ihren Unterricht nutzen können. Wir wollen auch, dass Lehrkräfte, die sich häufiger fortbilden, mehr verdienen. So bekommen die Lehrer endlich wieder die Anerkennung und Unterstützung, die ihnen für ihre wichtige Aufgabe zusteht.
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Drittens muss der Bund Länder und Kommunen stärker dabei unterstützen, die Chancen der digitalen Bildung zu nutzen.
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Der beschlossene DigitalPakt ist ein wichtiger Schritt, aber er geht nicht weit genug. Der Bund fördert zwar mit Milliardenbeträgen die technische Ausstattung an den Schulen, aber Länder und Kommunen sind komplett auf sich allein gestellt, wenn es darum geht, Medienkonzepte zu entwickeln, Geräte zu warten, Lehrkräfte zu schulen, Datenschutzstandards zu entwickeln und digitale Schulbücher anzuschaffen. Ohne das alles kann digitale Bildung an den Schulen aber nicht gelingen. Wir brauchen deshalb einen Digitalpakt 2.0.
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Meine Damen und Herren, es darf uns nicht kaltlassen, wenn Deutschland bei den PISA-Ergebnissen weiter abrutscht. Wir müssen ein PISA-Sofortprogramm auflegen, um endlich einen Platz an der Spitze der Bildungsnationen zu erklimmen.
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Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Tankred Schipanski für die Fraktion der CDU/CSU.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Kollegin Suding, ich glaube, keiner der Verantwortlichen redet die Ergebnisse der PISA-Studie schön. Keinen von uns stimmt das Ganze gleichgültig. Die PISA-Ergebnisse zeigen leider Gottes wiederholt, dass es in der deutschen Schulpolitik objektive Probleme gibt und sehr dringender Handlungsbedarf besteht. Mit diesen Problemen beschäftigt sich die Bildungspolitik schon sehr lange. Der Bund gibt seit Jahren aktive Hilfestellung, kann selbst jedoch nur beschränkt handeln, weil es sich hier um Schuldbildung und um Bildungsinhalte handelt, bei denen die Bundesländer die alleinige Zuständigkeit haben.
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Der Bundestag hat fraktionsübergreifend verschiedene Initiativen angestoßen und den Bundesländern immer wieder die Hand gereicht, um die Probleme in gesamtstaatlicher Verantwortung zu lösen. Jüngst wurde diese Hand wiederum ausgeschlagen, indem zwei Bundesländer aus dem gemeinsam zwischen Bund und Ländern ausgehandelten Projekt Nationaler Bildungsrat ausgestiegen sind.
Das Gremium, das gegenwärtig auf die erneut schlechten PISA-Ergebnisse reagieren und konkrete Maßnahmen ergreifen muss, ist die Kultusministerkonferenz, kurz KMK. Dieses Gremium hat das Hohe Haus fraktionsübergreifend über Jahrzehnte konstruktiv begleitet und kritisiert, jedoch ohne Erfolg. Ergebnisse der Arbeit der KMK sind: Deutschland ist im internationalen Bildungsvergleich seit Jahrzehnten nur Mittelmaß, und Besserung ist nicht in Sicht. – Danke an Bundesministerin Anja Karliczek, die sehr richtig formuliert hat: Mittelmaß kann nicht unser Anspruch sein.
Ergebnis der Arbeit der Kultusministerkonferenz ist – das musste selbst das Bundesverfassungsgericht am 19. Dezember 2017 feststellen –, dass die innerdeutschen Bildungsabschlüsse nicht vergleichbar sind. Und bei dem Themenfeld „Transparenz von Bildungsabschlüssen“ ist das Bild nicht einen Deut besser. Das erleben wir tagtäglich in unserer bildungspolitischen Arbeit.
Mit dem von der FDP vorgeschlagenen Sofortprogramm werden diese Probleme nicht gelöst. Zudem laufen bereits viele Programme; das werde ich Ihnen am Schluss meiner Rede gerne aufzeigen. Wir haben eine umfangreiche Reformagenda; da gebe ich der FDP recht. Zur Umsetzung bedarf es aber eines Reformmotors. Auch an dieser Stelle sage ich voller Überzeugung, dass die KMK nicht der Reformmotor ist, den wir für diese Reformagenda dringend brauchen.
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Obwohl der Nationale Bildungsrat gegenwärtig auf Eis liegt, halten die Länder – Gott sei Dank, so will ich sagen – an der Idee des Bildungsstaatsvertrages fest. Die Ministerpräsidentenkonferenz, kurz die MPK, ist dringend gefordert, diesen Bildungsstaatsvertrag zu verabschieden, genauso wie wir das vom Rundfunkstaatsvertrag – neu: Medienstaatsvertrag – kennen. Nur so erreichen wir verbindliche, einheitliche, allgemeine Bildungsstandards. Das wäre ein notwendiges Zeichen vonseiten der Länder, dass sie ihrer gesamtstaatlichen Verantwortung gerecht werden.
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Die KMK wird dies meines Erachtens nicht leisten können. Daher mein dringlicher Appell an die Ministerpräsidenten: Wir brauchen Transparenz, Qualität und Vergleichbarkeit der Schulsysteme. Wir brauchen endlich abgestimmte Bildungsstandards, die wesentliche Inhalte der allgemeinen Schulbildung verbindlich festlegen.
Sollte der Bildungsstaatsvertrag durch die MPK scheitern oder bei der Ratifizierung in den Landtagen scheitern, dann müssen wir als Bund im Sinne des Bundesstaatsprinzips, das sich aus Artikel 20 Grundgesetz ergibt, sowie aufgrund des Verfassungsauftrags der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse neue Handlungsstränge entwickeln, um die Chancengerechtigkeit im deutschen Bildungssystem zu sichern.
Meine Damen und Herren, die Zielsetzung des FDP-Antrags mithin ist zu begrüßen. Den Begründungen des Antrags will ich aber ausdrücklich widersprechen. Da lese ich etwas von „kleinkariertem Kompetenzgerangel“. Nein, liebe Frau Suding, das ist unsere Verfassung, um die es da geht. Da lese ich schon wieder etwas von „Kooperationsverbot“. Nein, wir haben über das Bundesstaatsprinzip ein Kooperationsgebot. Das haben wir aber alles schon in vielen Debatten hier besprochen.
Noch ein Blick auf die sogenannten PISA-Sofortmaßnahmen, die die FDP fordert. Sie wollen eine Strategie entwickeln. Ich glaube, es fehlt wirklich nicht an Erkenntnissen, es fehlt an Umsetzung.
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Zu dem, was Sie hier zur frühkindlichen Bildung schreiben, sage ich: Ohne eigene Zuständigkeit macht der Bund mit allen Kitapaketen da schon eine ganze Menge. Ansonsten, was die Erzieherausbildung und Ähnliches angeht, liest sich der Antrag wie das CDU-Parteiprogramm.
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– Nein, umgekehrt.
Zur Forderung nach einem zweiten DigitalPakt sage ich – ich glaube, darüber haben wir uns schon oft genug ausgetauscht –: Wollen wir doch erst einmal den ersten ordentlich umsetzen, sodass das Ganze läuft.
Sie sprechen die MINT-Fächer an. Ich nenne den MINT-Aktionsplan und zwei Förderrichtlinien. Zur vorgeschlagenen Reform der Lehrerausbildung sage ich: Ohne Annette Schavan und die Qualitätsoffensive Lehrerbildung würde da noch gar nichts laufen. Die setzen wir im Übrigen aktiv fort. – So könnte ich die Aufzählung weiterführen.
Wenn ich dann noch lese, dass Sie uns über den Bildungsföderalismus belehren wollen, indem Sie auf Artikel 91b Absatz 2 des Grundgesetzes abstellen, den Sie selber mitbeschlossen haben, dann sage ich: Wir wissen doch gemeinsam, wer den abgeändert hat – das war letztlich der Bundesrat im Vermittlungsausschuss –, und dass wir gemeinsam nicht glücklich darüber waren.
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Aber ich glaube, man muss der Realität da ins Auge sehen.
Wenn ich am Ende Ihres Antrags lese: „Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung zur Einwirkung auf die Länder auf …“, dann sage ich: Ich bin sehr gespannt, mit welcher Rechtsgrundlage Sie das konkret begründen wollen.
Zum Schluss. Reformagenda für unsere Bildungsnation? Ja. Der Ball liegt jetzt bei der Ministerpräsidentenkonferenz. Wenn diese das Tor nicht trifft, dann müssen wir sie als Bund aus gesamtstaatlicher Verantwortung heraus beim Treffen unterstützen. Hierfür gilt es präventiv, geeignete Formate zu entwickeln, ganz im Sinne von Anja Karliczek: „Mittelmaß kann nicht unser Anspruch sein.“
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist für die Fraktion der AfD der Kollege Dr. Götz Frömming.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Von nun an geht es bergab, könnte man in Anspielung auf einen bekannten Schlager der 60er-Jahre mit Blick auf die PISA-Ergebnisse sagen. Rund 20 Prozent der 15-jährigen Schüler können nicht einmal auf Grundschulniveau lesen. Dabei wäre es so einfach, unsere Schulen wieder auf Vordermann zu bringen. Dafür müssten zunächst die Klassen verkleinert werden. An jeder dritten Grundschule in Berlin wird die zulässige Größe von 26 Schülern überschritten, konnten wir vor Kurzem in der Presse lesen. Meine Damen und Herren, haben Sie einmal in einer Klasse mit 30 Schülern oder mehr in einem Brennpunktviertel unterrichtet? Dann wissen Sie, wovon ich spreche. Maximal 20 Schüler in der Grundschule und 25 in den Oberschulen: Mehr sollten es im Idealfall nicht sein.
Dann brauchen wir eine Rückbesinnung auf bewährte Tugenden und Unterrichtsmethoden. Wir brauchen mehr Disziplin, Wiederherstellung der Autorität des Lehrers und ein nach Leistung differenzierendes Schulsystem, das Erfolge und Niederlagen kennt. Eine Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen Schultypen: Ja, das soll und muss es geben. Alle Schulgebäude müssen dringend renoviert werden. Das ist wichtiger, als einer konzeptlosen Digitalisierung des Lernens das Wort zu reden.
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Schließlich muss eine langfristig denkende Bildungspolitik auch den Mut haben, eine Neuordnung der Asyl- und Einwanderungspolitik zu fordern. Die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte haben gezeigt, dass sich ein niedriger Bildungsstand der Eltern trotz aller Anstrengungen unseres Bildungssystems über Generationen hinweg vererbt oder, wenn Sie so wollen, tradiert. Deshalb fordert die AfD-Fraktion einmal mehr: Bildungsstand und Bildungsfähigkeit müssen ein zentrales Kriterium eines zukünftigen Einwanderungsgesetzes sein.
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Meine Damen und Herren, jetzt kurz zum Antrag der FDP. Im Kern will die FDP den Föderalismus überwinden und die Schulbildung von Berlin aus steuern.
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Dazu bedienen Sie sich politischer Kampfbegriffe und fordern genau wie die Linken die Abschaffung eines vermeintlichen Kooperationsverbots zwischen Bund und Ländern, das es bekanntlich gar nicht gibt.
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Für die FDP stehen die deutschen Schüler im Wettbewerb mit Schülern in Kanada oder Japan. Sie folgt damit dem von der Lobbyorganisation OECD vorgegebenen Kurs hin zu einer Ökonomisierung und Globalisierung des Bildungswesens.
Dem halten wir entgegen: Erstens. Schulen sind keine Fabriken. Zweitens. Schüler sind auch keine Arbeiter. Und drittens. Meine Damen und Herren, Bildung ist keine Ware.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, Bildung ist dann am besten, wenn sie ihren Zweck zunächst nur in sich selbst hat. Das hat bereits Wilhelm von Humboldt erkannt. Er legte damals in Preußen die Grundlagen für ein Bildungssystem, aus dem im Laufe der Jahre zahlreiche Forscher, Erfinder und Nobelpreisträger hervorgingen.
Deutschlands Wiederaufstieg nach dem Zweiten Weltkrieg, das Wirtschaftswunder und der internationale Erfolg unserer Unternehmen: All dies war möglich, obwohl oder vielleicht auch weil die Schulpolitik von den Ländern und nicht vom Bund gemacht wird. Wir als AfD-Fraktion sind deshalb der Anwalt der Länder, und wir bekennen uns auch zum Grundgesetz, das die föderale Ordnung unseres Staates zu Recht unter einen besonderen Schutz gestellt hat.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin in der Debatte ist für die Fraktion der SPD die Kollegin Marja-Liisa Völlers.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bildung ist das zentrale Aufstiegsversprechen unserer Gesellschaft. Gehen Sie mal an einer Universität in eine Vorlesung und fragen Sie die Anwesenden, wie viele von ihnen aus einem wohlsituierten Haushalt kommen. Das sind nach wie vor weit mehr, als es rein statistisch der Fall sein sollte. Genau das spiegelt sich auch in Teilen der vorliegenden PISA-Studie wider.
Die Schere zwischen Arm und Reich geht auch im Bildungssektor nach wie vor weit auseinander. Kinder aus wohlhabenderen Familien schneiden deutlich besser ab als Kinder aus ärmeren Verhältnissen. Das gilt vor allem für die Lesekompetenz, aber auch für die Bereiche Rechnen und Naturwissenschaft. Besonders ernüchternd ist natürlich: Diejenigen, die aus schwierigen sozialen Verhältnissen kommen und trotzdem gute Ergebnisse erzielen, glauben nicht an ihre Chancen.
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Zwei Drittel von ihnen rechnen nicht damit, später einen Hochschulabschluss machen zu können. Das dürfen wir nicht einfach so hinnehmen.
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Jedes Kind in diesem Land hat Potenzial. Und es ist unsere Aufgabe – von uns allen hier –, alles daranzusetzen, dass alle diese Kinder die Möglichkeit haben, das Beste aus sich zu machen.
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Wenn Kinder und Jugendliche in ihrem sozialen Umfeld aber nicht die notwendige Unterstützung bekommen können, dann müssen wir als Politik ihre Lernorte umso stärker machen. Deshalb war es richtig, dass wir mit der SPD dafür gesorgt haben, Schulen in sozial schwierigen Lagen über ein Forschungs- und Förderungsprogramm zu unterstützen. 125 Millionen Euro werden der Bund und die Länder gemeinsam in den nächsten zehn Jahren hierfür investieren.
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Deshalb ist es auch richtig, dass wir auf den flächendeckenden Ausbau der Ganztagsbetreuung im Grundschulalter drängen. Ein guter Ganztag schafft gute Chancen. Dafür nehmen wir als Bund jetzt erst mal 2 Milliarden Euro in die Hand, wohl wissend, dass das Engagement des Bundes damit noch nicht zu Ende sein kann – das gilt genauso übrigens für das Engagement der Länder und Kommunen, die an dieser Stelle auch ihren Beitrag leisten werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP-Fraktion, Sie wollen die Bildungsinvestitionen erhöhen. Da bin ich ja bei Ihnen.
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Aber gleichzeitig sind Sie gegen die Finanztransaktionsteuer, gegen die Vermögensteuer, und am liebsten möchten Sie mit uns auch noch über Unternehmensteuersenkungen sprechen. Aber wo soll denn dann das Geld für die Bildungsinvestitionen herkommen?
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Gesteht mir bitte noch eine Anmerkung als Lehrerin zu: Sie fordern in Ihrem Antrag eine Art Erfolgsprämie für Lehrkräfte, die sich irgendwie nach Engagement und Leistung bemisst. Was haben Sie denn für ein Bild von unseren Lehrerinnen und Lehrern? Wollen Sie jetzt den Lehrberuf auch noch ökonomisieren, und wie genau wollen Sie das dann überhaupt messen? Dazu sagen Sie in Ihrem Antrag übrigens auch wieder nichts.
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Sehr geehrte Damen und Herren, die aktuellen PISA-Ergebnisse zeigen wieder einmal mehr, wie vielschichtig die Herausforderungen einer gerechteren Bildungslandschaft sind. Gehen wir diese gemeinsam an, damit es jedes Kind packt!
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke die Kollegin Dr. Birke Bull-Bischoff.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, PISA erzeugt immer wieder Aufregung, aber wir haben keinen Mangel an Erkenntnis, wir haben einen Mangel an Fähigkeit und Willen, etwas zu verändern.
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In Deutschland gibt es mindestens drei Grundprobleme:
Zum ersten Problem. Wir haben zu wenig Geld und zu wenig Personal für Bildung. Die praktische Erfahrung beispielsweise vieler Leute in meinem Wahlkreis ist: Der Bürgermeister aus der Elsteraue kann nur wenige Kitas sanieren, nötig hätten es alle – bitter nötig.
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Die Förderschule in Hohenmölsen ist im Originalzustand von vor 1990, und sie teilt dieses Schicksal mit vielen anderen Schulen.
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Der Sanierungsbedarf in Kitas und Schulen beläuft sich, je nach Quelle, auf 45 bis 55 Milliarden Euro. Es fehlen Erzieherinnen und Erzieher in den Kitas, wir haben zu wenig Geld für Schulsozialarbeit, obwohl alle wissen: Das ist ein Erfolgsmodell.
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Bei der Verteilung der Mittel gibt es obendrein eine soziale Schieflage; denn da, wo es schon viel Geld und Personal gibt, kommt noch mehr obendrauf. Das Geld fließt vornehmlich in Exzellenzinitiativen, aber eben kaum in Alphabetisierung und Grundbildung. Ich gehe jede Wette ein, liebe Kolleginnen und Kollegen: Die Mittel für Schulsanierung – auch die vom Bund einst – fließen sehr viel großzügiger in Schulen der bessergestellten Wohnviertel als in Schulen in Brennpunktvierteln, und das wollen und müssen wir endlich ändern.
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Dafür lagen vielfältige Vorschläge – beispielsweise unsererseits – vor.
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Problem Nummer zwei. Kinder werden in unserem Schulsystem sozial platziert, das heißt, die Schulform entscheidet letztlich darüber, wie viel Bildung wir unseren Kindern zugänglich machen; die Schulform entscheidet letztlich darüber, was wir Kindern heimlich zutrauen – Stichwort „der heimliche Lehrplan der Schulformen“ –, und die Schulform entscheidet letztlich darüber, was sie mal werden, wie viel Geld und wie viel Einfluss sie bekommen werden – und das nachweislich seit vielen Jahren in Abhängigkeit von der sozialen Herkunft.
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Das müssen wir ändern.
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Politische Vorhaben müssen immer daraufhin geprüft werden, wie sogenannte Brennpunktschulen oder Brennpunktkitas in besonderer Weise gefördert werden können.
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Wir müssen Exzellenzinitiativen für junge Menschen mit Benachteiligungserfahrungen entwickeln. Wir brauchen einen Sozialindex für Politik, damit Geld und Personal dahin kommen, wo sie wirklich am meisten gebraucht werden.
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Dritter und letzter Punkt. Ehrlich gesagt, liebe Kolleginnen und Kollegen, der Streit um die vielfache Zuständigkeit und die Zuständigkeit selbst hängt den Leuten zum Halse raus,
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und das kann ich gut verstehen, weil Handlungsfähigkeit in der Tat anders aussieht.
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Nein, Deutschland ist noch kein Bildungsland. In Deutschland ist Bildung vielfach ein sehr elitäres Gut, und Bildung sitzt in Deutschland oft genug am Katzentisch. Das muss sich ändern.
Was wir brauchen, ist statt Kleinstaaterei eine Gemeinschaftsaufgabe „Bildung“ von Bund, den Ländern und den Kommunen – im Grundgesetz, ja, aber vor allen Dingen im praktischen politischen Handeln, meine Damen und Herren.
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Vielen Dank. – Als Nächste spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Margit Stumpp.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie viele PISA- und sonstige Studien braucht es eigentlich noch, damit Bildungspolitik hier endlich den Stellenwert erhält, den sie verdient? PISA zeigt doch erneut, wie stark der Bildungserfolg vom Elternhaus und der Postleitzahl abhängt. Das müssen wir endlich ändern – da hat die Kollegin Birke Bull-Bischoff recht –, statt den Missstand immer nur aufs Neue zu bedauern.
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PISA offenbart, dass bei der Lesekompetenz der Unterschied zwischen privilegierten und benachteiligten Kindern sogar noch größer geworden ist. Das kann uns nicht kaltlassen. Notwendig ist eine bessere Förderung der schwächeren Schülerinnen und Schüler sowie grundsätzliche Qualitätsverbesserungen.
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Statt Absichtsbekundungen und Lippenbekenntnissen braucht es jetzt endlich eine konzertierte Aktion von Bund, Ländern und Kommunen.
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Alle Beteiligten müssen endlich auf Augenhöhe für gute Bildung und gerechte Zukunftschancen kooperieren.
Mit der Grundgesetzöffnung für den DigitalPakt wurde ein erster kleiner Schritt getan, dem jetzt dringend weitere folgen müssen. Wir brauchen endlich einen modernen Bildungsföderalismus, der einen echten Mehrwert schafft. Hier ist vor allem der Bund gefordert, seine auch finanziellen Anstrengungen deutlich auszuweiten.
PISA untermauert auch unsere Kritik am DigitalPakt. Wir müssen der Gefahr aktiv begegnen, dass der „digital gap“ die Chancenungerechtigkeit weiter vergrößert.
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Dafür müssen die Nachfolgefinanzierung und der Einsatz von IT-Fachkräften gesichert werden. Die Digitalisierung der Schulen wird ohne einen dauerhaften DigitalPakt Plus nicht funktionieren.
Es ist Zeit für einen bildungspolitischen Aufbruch, nicht erst seit PISA; denn die Herausforderungen sind offensichtlich: der Rechtsanspruch auf Ganztag nicht nur in der Schmalspurversion – 2 Milliarden Euro, das wissen wir, reichen hinten und vorne nicht –, sondern mit klaren Qualitätsversprechen; die substanzielle Förderung von Schulen in benachteiligten Regionen und Quartieren, damit Chancengerechtigkeit endlich Realität wird – da reicht es doch nicht, Erkenntnis neu zu untermauern –; ein inklusives Schulsystem, digitale Bildung mit pädagogischem Mehrwert und besondere Anstrengungen, um den Lehrkräftemangel zu bekämpfen.
All das verlangt tatsächlich ein rasches Ende des Kooperationsverbotes, das es gibt, mehr länderübergreifende Zusammenarbeit sowie eine größere Verantwortung und mehr Investitionen des Bundes; denn wir brauchen beste Bildung, nicht nur, aber auch an jeder Milchkanne.
Danke.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion der CDU/CSU die Kollegin Dr. Astrid Mannes.
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Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich finde es sehr schade, wenn ich da herüberschaue zur Bank der Ländervertreter, dass diese Bank bei dieser Diskussion leer geblieben ist.
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Wenn ich den Antrag der FDP zusammenfassen müsste auf ein Schlagwort, auf einen Begriff: Es geht hier um die weitgehende Abschaffung des Bildungsföderalismus. Und ich muss sagen, wenn man sich das Ergebnis der PISA-Studie anschaut: Das kann nicht befriedigen; das haben wir in den Diskussionen gerade ja schon gehört; da sind wir uns alle einig. Deutschland liegt über dem Durchschnitt der OECD-Länder, aber mit weitem Abstand zur Spitzengruppe.
Nein! Unser Anspruch ist nicht das Mittelmaß. Wir möchten zu den Besten gehören. Wir müssen zu den Besten gehören! Wir sind ein rohstoffarmes Land. Unser Reichtum sind gut ausgebildete Menschen – kluge Köpfe. Das ist unser Reichtum. Man nennt uns das Land der Dichter und Denker. Modern übersetzt: Wir sind das Land der Forschung und Innovation und Entwicklung.
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Wir müssen im Bildungsbereich also besser werden. Das sieht auch die Bundesregierung so und unterstützt daher mit vielfältigen Programmen im Rahmen ihrer Möglichkeiten. In den nächsten fünf Jahren stellt der Bund den Ländern ja auch noch einmal 5 Milliarden Euro für den digitalen Ausbau der Schulen zur Verfügung.
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Die FDP fordert nun viele Veränderungen, die aber Eingriffe in die Länderkompetenz sind. Das geht nur im Zusammenwirken mit den Ländern. Und diese haben sich im Zusammenhang mit der Bildung eines Nationalen Bildungsrates dem Zusammenwirken von Bund und Ländern gerade entzogen. Ich persönlich bedaure das Scheitern des Nationalen Bildungsrates sehr.
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Denn er wäre die Chance gewesen, zu Bildungsfragen nicht nur Bund und Länder an einen Tisch zu bringen, sondern auch die politisch Handelnden mit Wissenschaftlern und Experten aus der Praxis. Das wäre eine ganz große Chance gewesen!
Die Angst der Länder, Befugnisse im Bildungsbereich abgeben zu müssen, war dabei im Übrigen völlig unbegründet. Dazu wäre es nicht gekommen. Denn zum einen sollte der Nationale Bildungsrat ja keine verbindlichen Entscheidungen treffen, sondern nur Empfehlungen abgeben. Und den Zuständigen hätte es dann freigestanden, selbst zu entscheiden, ob, wann und wie sie diese in ihren Ländern umsetzen. Zudem sollte im Mittelpunkt auch nicht nur die Schulpolitik stehen, sondern die komplette Bandbreite des Lernens. Wir wollten auf die Übergänge der verschiedenen Bildungsphasen schauen. Es ging also im Ergebnis um mehr Vergleichbarkeit, Transparenz und Qualität im Bildungswesen.
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Und es war richtig und vorausschauend, dass Bundesministerin Karliczek sich für die Idee des Nationalen Bildungsrates so starkgemacht hat. Leider kann man die Länder aber auch nicht zwingen. Das Verhalten der Länder zeigt aber klar, dass die Vorstellungen der FDP, die sich hier in diesem Antrag widerspiegeln, mit den Ländern nicht durchsetzbar wären.
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Mit dem Wissen, dass der Vorschlag für diesen Nationalen Bildungsrat von den Ländern abgelehnt wurde, nun einen Antrag vorzulegen, der weit über das hinausgeht, was mit dem Bildungsrat geplant war und der sogar den Föderalismus im Bildungsbereich grundsätzlich infrage stellt, das hat mit realistischer Politik nichts zu tun.
Richtig ist aber: Wir müssen einen konstruktiven gemeinsamen Weg mit den Ländern suchen. Nur mit vereinten Kräften und wenn alle an einem Strang ziehen, werden wir es schaffen, im Bildungsbereich besser zu werden.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist für die Fraktion der SPD der Kollege Dr. Ernst Dieter Rossmann.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Mannes, so schnell geben wir Sozialdemokraten und sicherlich auch Sie das Projekt „Nationaler Bildungsrat“ nicht auf,
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sondern wir werden weiter dafür streiten. Das sage ich auch mit Blick auf die Regierungsbank, wo die CDU-Vorsitzende, Frau Kramp-Karrenbauer, gerade anwesend ist. Es war 2012 Gegenstand der Beschlussfassung ihrer Partei.
Frau Karliczek, Sie haben uns an Ihrer Seite, wenn Sie an dem Vorhaben dranbleiben. Denn: Wir können nur besser werden, wenn wir zusammenwirken.
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Dafür wird es Wege geben müssen. Wir wollen im neuen Jahr zu entsprechenden Vorschlägen kommen. Das tun wir gemeinsam mit der FDP. Diese Partei stellt nämlich die Schulministerin in NRW, und NRW ist kein unbedeutendes Land. Wenn die Ministerin als Vertreterin von NRW so spricht, so wie Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, hier gesprochen haben, dann kann man mit dem Hebel „Laschet, NRW“ sicherlich noch etwas gegen Unverstand und Borniertheit bewegen.
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Als Zweites möchten wir in dieser Runde noch ansprechen, dass die PISA-Studien uns immer zwingen, differenziert hinzusehen. Insoweit ist es wichtig, dass es sie auch fortan gibt. Denn wir hören auch Stimmen, die sagen: Lasst doch PISA PISA sein; wir brauchen nicht diese Spiegel; wir brauchen keine differenzierten Analysen mit einem internationalen und europäischen Vergleich. Ich finde, von 2000 bis 2018 hat sich das PISA-Instrumentarium verfeinert, wenn wir alleine an die Erhebungsmethoden, wenn wir an die Komplexität der Kriterien denken, nach denen die Kompetenzen erhoben werden. Das geht bis in die Bereiche „Soziale Kompetenz“, „Kreativität“; und Weiteres ist dort geplant.
Natürlich zwingt es uns, sich politisch auf das zu konzentrieren, was wirklich dramatisch und wichtig ist, und das auch jenseits gewisser Erfolge, die wir seit 2000 bis 2018 haben; denn wir sind im Kompetenzvergleich ja kontinuierlich besser geworden und jetzt einmal abgesackt. Es gab aber auch eine PISA-Spezialstudie, die insbesondere herausgearbeitet hat, dass wir in Bezug auf die bildungsferneren Schichten, die bildungsferneren Jugendlichen einen gewissen Fortschritt gemacht haben. Da wollen wir Sozialdemokraten gerne ansetzen. Ich will das knapp formulieren.
Erstens. Uns ist die Einsicht wichtig, dass man offensichtlich in Bezug auf die versteinerte, schwierige und jetzt auf 22, 23 Prozent angestiegene Gruppe derer, deren Kompetenz nicht ausreicht, gezielte Elternarbeit machen muss. Die Kollegin Völlers hat Schulen in prekärer Lage angesprochen. Wir hoffen, dass bei der Auswahl der Modelle gerade auch das Projekt „Family Literacy“ in den Blick genommen wird; denn wir brauchen elterliche Mitarbeit, elterliche Verbindlichkeit, dass man sich für Kinder und deren Entwicklung einsetzt.
Zweitens. Ja, wir brauchen gewiss auch Verbindlichkeit in Bezug auf Sprachstandsfeststellung im Elementarbereich; denn da wird das Fundament gelegt, und da haben wir auch Chancen. Wir haben Chancen in den Bereichen der Familien-, Kinder- und Jugend- sowie der Bildungspolitik. Das Projekt BiSS, Bildung durch Sprache und Schrift, ist eines, das Verbindlichkeit in die Elementarpädagogik hineinbringt.
Das dritte Element ist sicherlich die gute Ganztagsschule, aber eine gute Ganztagsschule in einer rhythmisierten, in einer komplex angelegten Weise. Da sind wir wieder beim Ausgangspunkt, nämlich dass die gute Ganztagsschule, wenn sie eine Bildungseinrichtung ist, als Leistung nur von Kommunen, Land und Bund zusammen erbracht werden kann. Das schafft gar keine Ebene für sich alleine. Wenn dies ein gemeinsames Projekt ist, auf das uns PISA immer wieder hinweist, dann war das eine aufrüttelnde Studie, und so wollen wir es im neuen Jahr gern mit Ihnen zusammen weiter umsetzen.
Danke.
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Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe deshalb die Aussprache.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass wir noch in diesem Jahr die Beratungen zum Jahresbericht 2018 abschließen können. Der nächste Bericht steht vor der Tür; er kommt Ende Januar.
Tag und Stunde heute sind innovativ: Mittwochs nach 18 Uhr im Plenum, das wird nun wohl neue Normalität in diesem großen Bundestag. Hoffen wir, dass es der Beachtung unserer Debatte nützt.
Wir haben inzwischen eine neue Verteidigungsministerin, die sich erkennbar viel vorgenommen hat. Ich wünsche Ihnen, Frau Ministerin Kramp-Karrenbauer, viel Erfolg für die nötigen Reformen zur Verbesserung des Zustands unserer Streitkräfte und zur Verbesserung der Bedingungen des Dienstes unserer Soldatinnen und Soldaten!
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Alles Gute auf Ihrem Weg!
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Deutschland ist das größte Land Europas, die zweitgrößte NATO-Nation. Wir sind wirtschaftlich erfolgreich.
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Man sagt uns nach, dass Effektivität unsere Stärke ist. Also spielen wir diese Stärke aus. Dafür braucht es Entscheidungen, neue Entscheidungen oder überhaupt Entscheidungen.
In meinem Jahresbericht hatte ich innere Reformen angeregt. Verantwortung, Kompetenzen und Ressourcen müssen zusammengeführt werden, und zwar so weit unten in der Hierarchie wie möglich. Die Überzentralisierung der heutigen Bundeswehrstruktur ist der Tod der Einsatzbereitschaft. Überorganisation lähmt alles.
Sie, Frau Ministerin, waren vor ein paar Tagen in Kunduz in Afghanistan.
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Ein paar Wochen zuvor war ich auch da. Ich nehme an, die Soldatinnen und Soldaten dort haben uns das Gleiche vortragen. Sie hätten gern, weil sie immer wieder beschossen werden, gehärtete Unterkunfts- und Arbeitsbereiche. Sie wünschen sich, wenn sie beschossen werden, die Möglichkeit, zurückzuschießen. Und wenn das Zurückschießen mit dem NATO-Auftrag nicht vereinbar sein sollte, dann hätten sie wenigstens gern einen 30 Meter hohen Beobachtungsmast, um frühzeitig erkennen zu können, welche feindlichen Bewegungen es im Campvorfeld gibt.
Die ursprüngliche Forderung nach einem Mast ist über zwölf Monate alt. In weiteren zwölf Monaten soll er voraussichtlich realisiert werden,
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wenn nichts dazwischenkommt – ein Mast in einem Feldlager, auf das regelmäßig geschossen wird.
Aber das muss so lange dauern, habe ich gelernt, weil es sich eben um eine Baumaßnahme handelt. Eine Bundeswehr-Baumaßnahme will gründlich geprüft und geplant, ausgeschrieben, bewertet und überwacht werden. Deshalb gibt es erst einmal keinen Mast. Es soll jetzt wenigstens eine Interimslösung geben – die soll in wenigen Wochen kommen – auf Basis, brillante Idee, eines Funkmasts, der in der Bundeswehr schon existiert.
Warum schildere ich diese Episode aus Absurdistan? Erstens, weil es um Leib und Leben von Soldatinnen und Soldaten geht, die dieses Parlament in den Einsatz schickt. Wir müssen Druck machen, dass die gern gebrauchte Formel vom bestmöglichen Schutz auch wirklich stimmt. Bürokratische Zuständigkeitshuberei jedenfalls ist kein Schutz; damit dürfen wir uns nicht zufriedengeben!
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Zweitens, weil diese Episode paradigmatisch für den ganz normalen Wahnsinn steht, den viele Soldatinnen und Soldaten in ihrem Alltag im Dienst erleben.
Deshalb, Frau Ministerin: Gehen Sie die innere Reform beherzt an! Es geht um dysfunktionale Strukturen, um selbstgebaute Blockaden, um Verantwortungsdiffusion. Frau Ministerin von der Leyen hatte 2017 aus gegebenem Anlass ein Projekt „Innere Führung Heute“ gestartet, in dem es unter anderem um diese Fragen von Verantwortung und Führungsfähigkeit in unseren Streitkräften ging.
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Soldatinnen und Soldaten aller Organisationsbereiche und Dienstgradgruppen kamen in Workshops zusammen und erarbeiteten Verbesserungsvorschläge. Damit war dieses Projekt selbst ein super Beispiel für gute Innere Führung in der Bundeswehr. Auch die Ergebnisse sind prima, sie decken sich mit vielen Befunden in meinem Jahresbericht, den wir heute ein zweites Mal diskutieren. Die Ergebnisse der Workshop-Serie „Innere Führung Heute“ liegen im Ministerium vor und warten auf Billigung. Der Beirat Innere Führung hat sich mit den Empfehlungen schon beschäftigt und weiter gehende gute Anmerkungen dazu formuliert. Darauf, Frau Ministerin, können Sie ohne weiteres Zögern aufbauen.
Ich empfehle, Schluss zu machen mit der Flickschusterei an einem System, das der Wirklichkeit nicht mehr gerecht wird, weil die Wirklichkeit für die Bundeswehr seit 2014 eine andere ist als die Wirklichkeit in dem Vierteljahrhundert davor. Die heutige doppelte Hauptaufgabe der Bundeswehr besteht in Out-of-Area-Missionen mit überschaubaren Kontingenten weltweit, wie bisher, und gleichzeitig der Fähigkeit zur Teilnahme an der kollektiven Verteidigung in Europa, mit der ganzen Bundeswehr. Out-of-Area-Missionen und kollektive Verteidigung, das erfordert innere Reformen im Bereich Führung und Verantwortung jetzt! Unsere Soldatinnen und Soldaten warten darauf. Lassen wir sie nicht zu lange warten!
Damit wäre ich bei der materiellen Einsatzbereitschaft, über die heute schon im Verteidigungsausschuss diskutiert wurde. Auch hier lautet das Gebot der Stunde: Verbesserung des Beschaffungsmanagements. Zu viele hochqualifizierte Leute arbeiten zu kleinteilig an der gleichen Sache, zum Teil gegeneinander. Differenzierung und Integration befinden sich nicht in der richtigen Balance. Die Truppe wartet auf Vollausstattung oder manchmal auch nur auf eine Viertelausstattung – um mit dem Ausbilden und Üben schon einmal anfangen zu können. Vom Nachtsichtgerät über den Schützenpanzer bis zum U-Boot: keine Entwarnung.
Deutliche Verbesserungen dagegen brachten dieses Jahr das Bundeswehr-Einsatzbereitschaftsstärkungsgesetz und das Besoldungsstrukturmodernisierungsgesetz. Beide Gesetze enthalten manche neue Regelung, die schon Gegenstand früherer Berichte des Wehrbeauftragten gewesen sind, etwa was höhere Zulagen angeht oder Arbeitszeitfragen, die Ausweitung der Einsatzversorgung auf einsatzgleiche Verwendungen wie in Litauen oder die Einbeziehung von Familienangehörigen in Maßnahmen der PTBS-Therapie.
Die Gesetze kommen bei den Soldatinnen und Soldaten, so sie denn davon Kenntnis nehmen, gut an, lösen aber manche Probleme leider noch nicht. Die Forderung nach einer Ballungsraumzulage bleibt aktuell, ebenso die Forderung nach mehr Platz für Pendler in den Kasernen.
Unruhe gibt es übrigens auch beim Thema „Zurruhesetzungsalter, besondere Altersgrenze“. Gerüchte kursieren. Man erwartet neue Zumutungen. Ich empfehle: Wenn es eine Verlängerung gibt, dann bitte mit finanziellem Bonus.
In meinen jährlichen Workshops gemeinsam mit der evangelischen und der katholischen Militärseelsorge zum Thema „Vereinbarkeit von Dienst und Familie“ haben wir dieses Jahr ein Problem diskutiert, das insbesondere Soldatinnen und Soldaten des Heeres betrifft: Das ist die Verlängerung der Stehzeit in den Auslandseinsätzen von vier auf sechs Monate. Eine Stehzeit von einem halben Jahr ist wirklich sehr lang und belastet die Familien überproportional stärker als eine von drei oder vier Monaten. Die Begründung des Heeres lautet: Kapazitätsprobleme. Das ist im Augenblick wohl zu akzeptieren. Aber ich stelle die Frage: Kann die Flexibilität, wie es sie etwa im Sanitätsdienst oder in der Luftwaffe gibt oder bei unseren Marinespezialkräften in Niger mit der regelmäßigen Abwechslung mehrerer ausgebildeter Soldaten auf dem Posten im Einsatz alle vier oder acht oder zwölf Wochen, kann eine solche Flexibilität nicht auch im Heer stärker zur Anwendung kommen? Ich bitte, das zu prüfen. Das sind Probleme unserer Einsatzarmee heute.
Ich hatte die Freude, 2019 das 60-jährige Bestehen des Amtes des Wehrbeauftragten feiern zu dürfen. Damals, 1959, gab es andere Probleme. Für das Prinzip der Inneren Führung und des Staatsbürgers in Uniform mussten die ersten Amtsinhaber existenzielle Kämpfe ausfechten. Sie haben nicht immer gewonnen, aber am Ende waren sie erfolgreich. Gelebte Innere Führung, der eigene Maßstab für Richtig und Falsch, zeichnet unsere Soldatinnen und Soldaten heute aus. Sie wissen, dass jede und jeder von ihnen persönlich die letzte Garantie dafür ist, dass unser Militär nie wieder verbrecherisch missbraucht werden kann. Sie stehen für Freiheit und Recht.
Im Ganzen mache ich mir um den demokratischen Geist unserer Bundeswehr keine Sorgen, aber im Einzelnen gibt es doch nicht selten Anlass zur Sorge. Der Militärische Abschirmdienst verbessert jetzt seine Aufstellung gegenüber Rechtsextremisten. Ich begrüße das ausdrücklich.
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Und ich bitte darum, sich nicht zu lange damit aufzuhalten, zu erforschen, welcher extremistischen Ideologie zum Beispiel ein sogenannter Reichsbürger genau anhängt und ob er unter allen denkbaren Umständen ein zertifizierter Rechtsextremist ist. Wer nicht weiß, in welchem Land er lebt und welches Recht er verteidigt, der kann kein Kamerad unserer Verteidiger der Freiheit sein, dem wollen wir keine Kriegswaffen in die Hand geben.
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Komplizierter ist es nicht.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Als Nächste hat das Wort die Bundesministerin der Verteidigung, Frau Annegret Kramp-Karrenbauer.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Herr Dr. Bartels, zuerst einmal auch von meiner Seite und ganz persönlich ein herzliches Dankeschön für Ihre Arbeit, für den Bericht, den Sie vorgelegt haben. Der Wehrbeauftragte ist eine Institution in Deutschland. Seit über 60 Jahren steht er im Dienst insbesondere der Soldatinnen und Soldaten, und er legt – das haben Sie mit dem Bericht für das Jahr 2018 auch getan – den Finger in die richtige Wunde. Da sollten wir gar nicht drumherum reden, und das will ich an dieser Stelle auch nicht tun.
Wir haben gerade heute im Bundeskanzleramt wieder Soldatinnen und Soldaten mit ihren Angehörigen, Eltern und Kindern erlebt, die einsatzwillig und einsatzfähig sind; aber wir müssen auch dafür sorgen, dass sie einsatzbereit sind. Das bedeutet, dass sie ihre persönliche Ausstattung, insbesondere die Schutzausstattung, brauchen, und das bedeutet auch, dass wir uns mit dem Grad an Einsatzbereitschaft, wie wir ihn jetzt auch im Bericht dargestellt bekommen haben, nicht zufriedengeben können; ich jedenfalls will das nicht tun.
Deswegen wird das Thema „Ausstattung und Einsatzbereitschaft“ im nächsten Jahr einer der Schwerpunkte sein, den wir im BMVg bearbeiten werden.
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Das bedeutet, meine sehr geehrten Damen und Herren, auf der einen Seite, dass wir natürlich die finanziellen Mittel brauchen, aber es bedeutet eben auch, dass wir die Verfahren – die Probleme sind ja beschrieben und erkannt; mit der Reform des BAAINBw gehen wir die ersten Schritte, um sie entsprechend zu beseitigen – und die Reformen vorantreiben müssen. Das bedeutet, wir brauchen dezentralere Verantwortungsstrukturen – da bin ich bei Ihnen, Herr Dr. Bartels –, und wir müssen dafür sorgen, dass die ganze Liste an Mitzeichnungen nicht vor allem Freizeichnungen bedeutet und die Verfahren entsprechend komplizieren.
Sie haben das Beispiel Kunduz erwähnt. Auch mir hat es sich nicht ganz erschlossen, warum man ein Jahr braucht, um einen Turm zu bauen, den man in der Tat braucht, damit man rechtzeitig Warnungen aussprechen kann, wenn von Raketenstellungen der Taliban aus Kunduz das Leben unserer Soldatinnen und Soldaten in diesem Lager gefährdet wird.
Wir haben Fortschritte erzielt; Sie haben die entsprechenden Gesetze erwähnt. Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass das, was in den Gesetzen festgelegt ist, auch möglichst schnell so umgesetzt wird, dass die Soldatinnen und Soldaten zum Beispiel von den Zulagen profitieren können.
Die Themen „Einsatzbereitschaft“ und „Stehzeiten in den Verwendungen beim Heer“ sind Themen, die ich bei meinen Einsatzreisen sowohl im Irak als auch in Mali als auch jetzt in Afghanistan noch einmal besprochen habe; viele Kolleginnen und Kollegen waren mit dabei. Es ist in der Tat eine enorme Belastung, ein halbes Jahr von der Familie getrennt zu sein. Ich habe heute viele Familien mit mehreren Kindern kennengelernt, wo die Partner von jetzt auf gleich quasi zu Alleinerziehenden werden. Sie bekommen Unterstützung, aber diese Unterstützung muss noch besser werden.
Einen letzten Punkt will ich zum Abschluss ansprechen. Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie deutlich gemacht haben: Die Bundeswehr als Ganzes steht auf dem Boden des Grundgesetzes. – Deshalb ist es so notwendig, dass jeder einzelne Fall, bei dem es Zweifel daran gibt, ob ein Soldat das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes wirklich verteidigt und dazu in der Lage und willens ist, aufgeklärt wird und er, wo es nötig wird, aus der Bundeswehr auch entfernt wird. Das ist die Aufgabe, die wir gemeinsam angehen.
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Für Ihre Unterstützung im Sinne der Soldatinnen und Soldaten darf ich Ihnen ganz herzlich danken.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der AfD der Kollege Berengar Elsner von Gronow.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nachdem der Bericht des Wehrbeauftragten für 2018 schon Anfang 2019 vorlag, sprechen wir erst jetzt, zum Ende des Jahres, über die Beschlussempfehlung des Ausschusses. Das scheint mir etwas spät, hat aber den Vorteil, dass wir – er sprach es an – schon sehr bald über seinen neuen Bericht sprechen können und beide Berichte vergleichen können.
Wenn man die tatsächlichen Zahlen kennt, muss man trotz aller Relativierungsversuche der Verantwortlichen annehmen, dass der Bericht für 2019 für viele Bereiche, die in der Regel nicht durch die Soldaten zu verantworten sind, nicht besser ausfallen wird, nein, sogar schlechter. Denn diese Koalition, diese Regierung wird auch hier ihrer Verantwortung für die Bundeswehr und für die Sicherheit des deutschen Volkes nicht gerecht.
Die aktuellen Zahlen in der Finanzplanung, die Zahlen zur personellen Entwicklung und der jüngst vorgelegte Bericht zur Einsatzbereitschaft des Großgerätes in der Bundeswehr zeigen leider nur, dass sich seit dem Vorjahr nicht viel verbessert hat. Im Gegenteil: In vielen Bereichen sind die Verhältnisse sogar noch schlechter geworden. Die angeblichen Trendwenden Ihrer Vorgängerin sind gescheitert.
Hunderte Millionen Euro, die für Berater ausgegeben wurden, haben außer schönen Marketingbegriffen nichts gebracht; im Gegenteil.
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Und was passiert? Keine Haftbarmachung, wie es jedem normalen Bürger passieren würde, nein, eine Fortlobung. Das ist ein Unding, meine Damen und Herren! Jetzt aber sind Sie am Drücker, Frau Ministerin, und haben die Chance, sich ernsthaft und glaubhaft für den Wiederaufbau der Bundeswehr einzusetzen.
Wenn Verteidigungsministerin, Außenminister, Kanzlerin in der Welt herumreisen und unseren Partnern und Verbündeten zusichern, dass wir unsere Verteidigungsausgaben zeitnah, übereinkommensgemäß, maßgeblich erhöhen wollen, die tatsächlichen Zahlen aber nach einem minimalen Anstieg nach derzeitiger Planung sogar noch weiter sinken, dann machen Sie unser Land unglaubwürdig und zerstören noch weiter das verbliebene Vertrauen in Deutschland.
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Aber das SPD-geführte Finanzressort möchte hier ja lieber „auf Sicht fahren“. „Auf Sicht fahren“ hat mit verantwortungsvoller Politik allerdings rein gar nichts zu tun. Das muss unser armes Land schon viel zu lange erleben.
Frau Minister, Sie haben jetzt eine einmalige Chance.
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Verstecken Sie sich bei der Durchsetzung zukünftiger und vernünftiger Forderungen für die Bundeswehr nicht hinter dem Koalitionspartner.
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Lassen Sie nicht zu, dass die SPD weiter mit der CDU Schlitten fährt, nur um vermeintlich alternativloser Machtperspektiven willens. Verlangen Sie es nicht nur von unseren Soldaten, sorgen Sie auch in Ihrer Partei dafür, dass wieder das persönliche Wohlergehen hinter das Wohl unseres Landes zurückgestellt wird.
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Frau Ministerin, Sie sind mit vielen Äußerungen und Ideen seit Ihrem Amtsantritt steil gestartet. Dabei greifen Sie auch vieles auf, was die AfD schon gefordert hatte. Das ist vernünftig, aber auch mutig; denn in diesem Land wird ja sonst alles, was von der AfD kommt, sei es noch so sinnvoll und vernünftig, verrissen,
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auch von Ihnen und Ihren Parteifreunden. Davon kann sich hier kaum jemand ausnehmen.
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Wenn Sie also nach und nach zu ähnlichen Lagebewertungen kommen wie die AfD und die Konsequenzen dann auch gegen die links-rot-grünen Widerstände in unserem Land durchsetzen würden, wäre das dringend nötig und anerkennenswert. Jetzt heißt es liefern, Frau Ministerin.
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Zum ersten Mal sind mit Ihnen Verteidigungsminister und CDU-Vorsitz in einer Person vereint. Wenn Sie es also wirklich ernst meinen mit der Sicherheit unserer Soldaten, mit der Sicherheit unseres Landes, unserem Vertrauen und Ansehen in der Welt, dann setzen Sie sich endlich zeitnah für die dafür notwendigen Mittel und Maßnahmen ein – wenn Sie glaubhaft und ernstzunehmend sein wollen –, nötigenfalls auch auf Kosten der Großen Koalition.
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Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist für die Fraktion der SPD der Kollege Dr. Eberhard Brecht, der heute nicht seine allererste Rede im Deutschen Bundestag, wohl aber nach 18-jähriger Unterbrechung seiner Mandatszeit seine erste Rede hält. Herzlichen Glückwunsch zur Rückkehr in den Bundestag.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Präsident hat ja ein bisschen auf die Vergangenheit angespielt. Ich sehe im Hause einige schon etwas länger im Bundestag tätige Kollegen, und sie werden sich wahrscheinlich noch recht gut an diese sehr quälenden Diskussionen über die Frage der Auslandseinsätze der Bundeswehr erinnern.
Viele sahen in der deutschen Vergangenheit die Begründung für eine konsequent pazifistische Haltung bzw. die Beschränkung der Aufgaben der Bundeswehr auf die reine Landesverteidigung bzw. Verteidigung im Rahmen der NATO entsprechend Artikel 5 Nordatlantikvertrag. Andere wiederum zogen gerade aus der deutschen Vergangenheit die Konsequenz, bei Völkermord nie wieder wegzusehen, zumindest aber die Einhaltung eines Waffenstillstandes verfeindeter Parteien zu überwachen. Dieses Meinungsspektrum innerhalb der Bevölkerung soll sich natürlich auch im Deutschen Bundestag widerspiegeln. Deshalb plädiere ich nach wie vor dafür, an dem Parlamentsvorbehalt festzuhalten: Nicht die Bundesregierung entscheidet über Auslandseinsätze, sondern wir, der vom Volk gewählte Souverän.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Verteidigungsministerin denkt derzeit über weitere Auslandseinsätze nach. Es wurden hier und da schon Bedenken gegen diese neuen Pläne geäußert, auch von ihrem CDU-Kollegen aus Nordrhein-Westfalen. Aber unabhängig von der Frage, ob ein Einsatz geboten ist, ob er sinnvoll ist, ob die Risiken vertretbar sind, sollten wir in diesem Fall erst mal den Anspruch mit der Wirklichkeit abgleichen, nämlich der Fähigkeit der Bundeswehr. Der Bericht des Wehrbeauftragten – wir haben eben die Rede des Wehrbeauftragten gehört – lädt eben nicht unbedingt zu einer Ausdehnung des deutschen Auslandsengagements ein.
Kann die Bundeswehr tatsächlich mehr Auslandseinsätze verkraften, wenn wir heute schon mit der eben erwähnten Kontingentstehzeit des Heeres von sechs Monaten unsere Soldaten und deren Familien grenzwertig belasten? Und wie wollen wir, wie geplant, bei weiteren Auslandseinsätzen zu den üblichen vier Monaten zurückkehren, wenn das dafür erforderliche Personal gar nicht zur Verfügung steht? Die Zahlen im Bericht des Wehrbeauftragten sprechen eine deutliche Sprache: Das Bundesverteidigungsministerium konnte im Jahr 2000 noch rund 317 000 Soldaten zählen, mit Aussetzung der Wehrpflicht im Jahr 2011 waren es noch 213 000. 2018 konnte die damalige Verteidigungsministerin nur noch auf rund 180 000 Berufs- und Zeitsoldaten sowie freiwillig Wehrdienstleistende zurückgreifen. Letztlich sind 25 000 Stellen unbesetzt. In der mittelfristigen Personalplanung ist eine Personalstärke von 203 000 bis zum Jahr 2024 vorgesehen. Diese Personalsteigerung, liebe Frau Ministerin, kommt mir angesichts der jüngsten Statistiken doch recht ambitioniert vor.
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Die Bundeswehr wirbt professionell um junge Menschen,
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sie bildet sehr breit aus, und sie bietet eine attraktive finanzielle Absicherung. Doch unser Problem liegt ja nicht in dieser Erstbindung von jungen Menschen an die Bundeswehr, sondern uns beschäftigt die Frage, wie sie tatsächlich auch langfristig gebunden werden. Motivierte Soldaten schauen doch nicht allein auf eine angemessene Bezahlung. Sie wollen auch Technik vorfinden, die funktioniert.
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Wenn nur weniger als die Hälfte der Puma-Schützenpanzer, der Transportflugzeuge A400M und der Transporthubschrauber NH90 einsatzfähig sind, wenn von 15 Fregatten für den Begleitschutz aufgrund von technischen Mängeln 7 außer Dienst gestellt sind -
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– Entschuldigung, Herr Kollege Lindner, das sind Aussagen aus der Presse; darüber haben wir doch heute schon im Ausschuss sehr intensiv geredet –,
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dann werden sich technikaffine Soldatinnen und Soldaten doch nach attraktiven Alternativen in der Wirtschaft umsehen. Das können wir so nicht hinnehmen. Ich denke, wir müssen an dieser Stelle tatsächlich nachhaken.
Ein weiteres Ärgernis ist die Baustelle Organisation. Was ich hierzu im Bericht des Wehrbeauftragten gelesen habe, erinnert mich als ehemaligen DDR-Bürger an die Verwaltungsdiffusion in Kombinaten. Doppel- und Mehrfachverantwortlichkeiten verlängern nicht nur Entscheidungsprozesse, sie binden auch Personal, das an anderen Stellen dringend benötigt wird. Und wie wir gerade am Beispiel des Funkmastes vom Wehrbeauftragten gehört haben, kann das im Ernstfall auch die Sicherheit von Soldatinnen und Soldaten gefährden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, besorgniserregend ist die Zunahme von rechtsextremen Tendenzen in der Bundeswehr. Im Bericht des Wehrbeauftragten ist von einer Steigerung von 235 Fällen auf 288 Fälle die Rede. Es wäre wünschenswert, Frau Ministerin, wenn der MAD hierzu ähnlich wie der Verfassungsschutz transparenter informieren würde. Es mag ja sein, dass die Steigerung rechtsextremer Vorfälle auch die Folge einer längst überfälligen Sensibilisierung in der Truppe ist. Dennoch: Jeder Vorfall ist einer zu viel.
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Wenn beispielsweise ein sogenannter Reichsbürger in der Bundeswehr Zugang zu Waffen hat und seinen Dienst eben nicht in den Kategorien des Grundgesetzes denkt, dann dürfen es die Vorgesetzten nicht bei einer Verwarnung belassen. Für solche Menschen ist kein Platz in der Bundeswehr.
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Mit dem Hintergrund einer pazifistischen Grundhaltung, aber auch durch mediale Reflektion rechtsextremer Vorgänge werden Soldatinnen und Soldaten in Uniform immer wieder von Passanten beleidigt, ja sogar tätlich angegriffen. Diese Übergriffe gegenüber Menschen, die für unsere Sicherheit sorgen, sind unerträglich und müssen, wo dies auch möglich ist, strafrechtlich geahndet werden.
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Nein, der Generalverdacht einer rechtsextremen Bundeswehr ist abwegig. Die überwiegende Zahl unserer Soldaten steht fest auf dem Boden des Grundgesetzes.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Wehrbeauftragte hat den Finger in die Wunden der Bundeswehr gelegt. Ich möchte an dieser Stelle dem Team des Wehrbeauftragten sehr herzlich danken. Ich bedanke mich auch bei der Bundesministerin der Verteidigung, die die Kritik heute sehr offen aufgenommen hat. Ich denke, wir als Koalitionsfraktionen werden unseren Beitrag und auch die anderen Kollegen werden ihren Beitrag leisten, um die Entwicklung der Bundeswehr weiter kritisch zu beobachten.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP der Kollege Christian Sauter.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter Dr. Bartels! Die Institution des Wehrbeauftragten ist fester Bestandteil unseres Verständnisses einer modernen Parlamentsarmee. Ihnen, Herr Dr. Bartels, und Ihrem Team gehört an dieser Stelle bereits unser Dank für Ihre Arbeit zum Wohle der gesamten Truppe.
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Was fällt also im Bericht im Hinblick auf Probleme, die er beschreibt, auf? Einsatzfähigkeit der Hauptwaffensysteme, Ausrüstungsmängel, stetige Zunahme von Bürokratie und Aussagen von Soldatinnen und Soldaten über den inneren Zustand der Truppe, die teilweise ein düsteres Bild abgeben. In Ihrem Bericht stehen aber die Soldaten und ihr Dienst im Mittelpunkt. Ist dieser Dienst heute attraktiv?
Beispiel Marine. Ein Marinekommandeur klagt – Zitat –: „Wir bewegen uns ressourcenmäßig am Limit und leben von der Substanz.“ Das ist kein Einzelfall. Weiteres Zitat: „Niemand geht zur Marine, um an Land zu sitzen.“ Das ist die Aussage eines Marineoffiziers im aktuellen Bericht im Hinblick auf die aktuelle Materiallage. Aus jeder Teilstreitkraft lassen sich gewiss ähnliche Beispiele ableiten. Dabei gehört aber zur Attraktivität des Dienstes in der Bundeswehr mehr als nur funktionierendes Großgerät. Persönliche Schutzausrüstung, Bekleidung wie die Ausgabepraxis von Kampfschuhen, Verfügbarkeit von Schutzwesten waren ebenfalls Bestandteil von Kritik mit nur leichter Verbesserungstendenz.
Ein weiterer Punkt ist die Bürokratie. Zwar sind auf der einen Seite in Teilbereichen Regelwerk und Formularanzahl reduziert worden, auf der anderen Seite aber Umfang und Intensität erhöht worden. Ein einziger Antrag auf heimatnahe Versetzung nebst Stellungnahme zählt heute oft 15 Seiten und mehr. Auch Kompaniefeldwebel beschreiben die Zunahme des Verwaltungsaufwands als stetig steigende Belastung. Mutter der Kompanie könne man eben gefühlt nur noch im Nebenjob sein. Das Soldat-Sein kommt dabei zu kurz. Weniger Bürokratie bedeutet aber mehr Verantwortung. Das können Sie der Truppe zutrauen.
Drei Jahre nach der Trendwende Personal, Material und Infrastruktur ist auf Grundlage des Berichts zu resümieren: Die angestoßenen Prozesse kommen viel zögerlicher voran als geplant. Sicher, der Bericht des Wehrbeauftragten ist davon geprägt, Defizite aufzuführen. Gewiss gibt es auch positive Tendenzen. Dennoch ist das ein noch viel zu weiter Weg. Der Bericht sagt es klar: Die Soldaten, Reservisten und Angestellten leisten ihren Dienst trotz der Umstände Tag um Tag, engagiert, tapfer und sehr zuverlässig. Ihre Professionalität, ihr Kraftaufwand sind der Grund, dass die Bundeswehr trotz Ausrüstungsmängeln und Bürokratie die an sie gestellten Aufgaben noch erfüllen kann. 2 534 Eingaben wurden von Soldaten und auch Reservisten, Familienangehörigen an Sie gerichtet. Nehmen wir jede einzelne ernst.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke die Kollegin Christine Buchholz.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Lieber Herr Bartels! Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute den Bericht des Wehrbeauftragten aus dem Jahr 2018. Ich möchte drei Punkte herausheben: erstens die Frage der jüdischen Militärseelsorge, zweitens die Frage der Einsatzbereitschaft bzw. Aufrüstung und drittens die Frage des Rechtsextremismus in der Bundeswehr.
Heute hat das Bundeskabinett den Staatsvertrag zur Einrichtung von jüdischer Militärseelsorge beschlossen. Wir als Linke begrüßen das ausdrücklich, auch wenn wir die jetzige Form der Militärseelsorge durch eine unabhängige Soldatenseelsorge ersetzen wollen. Aber es ist gut und es ist überfällig, dass die jüdischen Religionsgemeinschaften nun bald in ihrer ganzen Vielfalt Seelsorge in der Bundeswehr anbieten können.
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Wir sind der Meinung, dass jüdische, aber auch muslimische Religionsgemeinschaften mit den christlichen grundsätzlich gleichgestellt werden müssen. Jetzt muss es darum gehen, auch einen vergleichbaren Vertrag für die 3 000 muslimischen Soldatinnen und Soldaten abzuschließen.
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Ansonsten ist das große Thema hier im Raum ja heute die Einsatzbereitschaft. Ich finde, dass man vielleicht in dem Zusammenhang darauf hinweisen sollte, dass der deutsche Militärhaushalt in den vergangenen fünf Jahren nicht geschrumpft ist, wie man manchmal meinen könnte, wenn man so die Debatte hört, sondern um mehr als 10 Milliarden Euro in fünf Jahren gestiegen ist. Nun – Frau Kramp-Karrenbauer hat es heute ja auch gesagt – soll weiter aufgerüstet werden, die Bundeswehr in neue Einsätze geschickt werden. Ich glaube, wir müssen eher über eine Überdehnung der Bundeswehr sprechen. Ich sage: Es reicht. Deutschland muss abrüsten und nicht aufrüsten.
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Zum Schluss möchte ich ein brennendes Problem ansprechen, das heute zwar schon angesprochen worden ist, aber meines Erachtens nicht mit ausreichenden Konsequenzen, nämlich die Frage des Rechtsextremismus in der Bundeswehr. Im Berichtszeitraum 2018 flogen rechtsextreme Chatgruppen wie Nordkreuz und andere auf, um nur ein Beispiel zu nennen. Nordkreuz allein hat mindestens 73 Mitglieder, darunter zahlreiche Soldaten und Reservisten. Die Chatgruppe wurde von einem KSK-Soldaten verwaltet. Andere Mitglieder von Nordkreuz haben Leichensäcke bestellt und Listen mit Tausenden sogenannter Feindesnamen geführt. Um sich auf einen Tag X vorzubereiten, haben sie Waffen und Munition gehortet.
Auch heute haben wir wieder davon gehört, dass sich hier natürlich alle gegen Rechtsextremismus in der Bundeswehr aussprechen, aber von Einzelfällen sprechen. Auch das Verteidigungsministerium wird nicht müde, zu erklären, es gebe keine Anhaltspunkte für das Bestehen rechtsextremer Netzwerke in der Bundeswehr. Meine Damen und Herren, ich halte das für absurd, und ich halte es für fahrlässig.
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Die Bundesregierung darf vor dieser Gefahr nicht weiter die Augen verschließen. Sie muss den rechtsextremen Sumpf in der Bundeswehr schnellstmöglich austrocknen. Das, denke ich, ist das Gebot der Stunde.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Dr. Tobias Lindner.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin, es ist ja gut, wenn Sie hier an diesem Pult durchaus eingestehen, dass bei der Bundeswehr eben nicht alles in Butter ist und dass wir vor allem beim Material eine große Baustelle haben. Was aber nicht gut ist, ist, dass uns diese Debatten über den Jahresbericht des Wehrbeauftragten doch eigentlich ein bisschen an „Dinner for One“ erinnern müssen. Wir sind jetzt fast im vierten Jahr nach der Trendwende Material. Sie ist Anfang 2016 von Frau von der Leyen verkündet worden. Seitdem ist der Verteidigungsetat um 12 Milliarden Euro gestiegen. Wenn man sich Zahlen und Resultate anschaut, wenn man darauf schaut, in welchem Zustand unser Material ist, dann muss man erkennen: Die Probleme liegen doch nicht beim Geld; die Probleme liegen beim Management und bei der Verwaltung.
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Wenn Sie, Frau Ministerin, eine ehrliche und transparente Debatte wollen, dann müssen Sie doch selbst die Voraussetzungen dafür schaffen. Es kann doch nicht sein, dass der Kollege Brecht und ich hier an diesem Pult aus Artikeln von „Spiegel Online“ zitieren müssen, wie viele Fregatten vorhanden sind oder wie viele Panzer funktionieren, und dass wir heute Morgen die längste Geheim eingestufte Sitzung des Verteidigungsausschusses in dieser Legislaturperiode haben erleben dürfen.
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Es kann doch ebenfalls nicht sein – das will ich noch kurz anführen –, dass Sie nicht nur irgendwie Geheimniskrämerei, was die Einsatzbereitschaft einer Parlamentsarmee betrifft, betreiben, sondern dass Sie dann auch noch eine Berechnungsmethode wählen, die, ehrlich gesagt, uns nicht weiterhilft, die schon fast an Trickserei erinnert.
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Ich will Ihnen ein Beispiel nennen – es ist bewusst ein fiktives, um hier keinen Geheimnisverrat zu begehen –: Nehmen Sie einmal an, wir hätten in der Bundeswehr 100 Flugzeugträger, und von diesen 100 Flugzeugträgern wären 99 in der Werftinstandsetzung, und 1 wäre bei der Marine und würde funktionieren.
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Dann würden vermutlich die meisten Zuschauerinnen und Zuschauer zu Hause und die meisten Kolleginnen und Kollegen hier im Saal sagen: Na ja, dann funktioniert 1 Prozent unserer Flugzeugträger. Aber wenn wir Ihre Berechnungsmethode anwenden, dann haben wir einen Verfügungsbestand von 1 Flugzeugträger in der Bundesmarine, von dem wiederum 1 funktioniert. Das macht nach Ihrer Berechnungsmethode eine Einsatzbereitschaftslage bei den Flugzeugträgern von 100 Prozent.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer so argumentiert, dem kann es doch nicht um eine seriöse, offene und ehrliche Debatte über die Einsatzbereitschaft gehen.
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Beenden Sie bitte diesen Popanz, und beenden Sie auch die Geheimniskrämerei.
Ich will einen letzten Gedanken äußern. Ich finde, wenn hier an diesem Pult Einigkeit darüber herrscht, dass diejenigen, die Soldatin oder Soldat in unserer Bundeswehr sein wollen, die freiheitlich-demokratische Grundordnung aktiv bejahen und sie verteidigen müssen, ihr noch nicht mal neutral gegenüberstehen dürfen, dann müssen dem auch Konsequenzen folgen. Ich habe es im vergangenen Jahr bedenklich gefunden, dass uns immer wieder von Einzelfällen erzählt wurde. Wenn man es mit mehr als einem Dutzend Einzelfälle zu tun hat, dann muss doch jeder mit einem gesunden Menschenverstand beginnen, daran zu zweifeln, dass dahinter kein Netzwerk steht. In diesem Sinne: Herzlichen Dank, Herr Wehrbeauftragter, für Ihre Arbeit.
Vielen Dank fürs Zuhören.
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Vielen Dank. – Als Nächster hat das Wort der fraktionslose Abgeordnete Mario Mieruch.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Dr. Bartels! Sehr geehrte Damen und Herren! Seit dem 12. April 2019 sind nun fast genau acht Monate vergangen. Die Bundesregierung hat jetzt zum sechsten Mal in Folge den Verteidigungsetat erhöht. Wir sind jetzt bei 1,36 Prozent , und das sind eben immer noch keine 2 Prozent unserer selbstauferlegten Selbstverpflichtung. In Anbetracht des Willens, immer mehr Verantwortung in der Welt zu übernehmen, ist es leider immer noch erheblich zu wenig, will man der Verantwortung gegenüber den Soldaten, die man in diese Welt entsendet, gerecht werden.
Wir diskutieren wieder über die Dienstpflicht und die Aussetzung der Wehrpflicht. Über Letztere kann man sicherlich trefflich diskutieren, sie lässt sich aber nicht ohne Weiteres zurückdrehen. Das ist auch nicht der springende Punkt; denn neues Personal gewinnt man nicht mit altem Material.
Wir haben ein quantitatives und ein qualitatives Problem. Wir sind auch innerhalb der NATO nicht zu einem anerkannten Partner geworden, weil wir besonders viele Soldaten stellten, sondern weil diese selbstständig, organisiert und technologisch ganz vorne mitgespielt haben.
Wir diskutieren hier in diesem Hause teilweise über das dritte Paar Stiefel, während die Chinesen im Oktober ihre erste Hyperschallrakete vorgestellt haben. Das müssen wir uns vor Augen halten, wenn dort während einer Parade das Zitat fällt: Niemand kann uns aufhalten. – Wir haben also veränderte Lagen innerhalb der Welt, auf die wir reagieren müssen. Bisher hört man, wenn man überhaupt irgendetwas hört, Rauschen im Walde oder ein großes Fragezeichen.
Deswegen zur Beschlussempfehlung von meiner Seite ein klares Ja und die ausdrückliche Erinnerung: Am 12. April, also vor acht Monaten, habe ich an dieser Stelle darauf verwiesen, dass den Kameraden in der EloKa immer noch keine Lizenzen für Software wie MATLAB usw. zur Verfügung stehen. Sie müssen ihre Arbeit mit eigenen Rechnern und Open-Source-Lösungen erledigen. Die Lizenzen haben sie bis heute immer noch nicht. Das sind Dinge, die man ganz einfach ändern kann, wenn man es denn möchte. Deshalb noch einmal die klare Bitte: Packen Sie das an, oder legen Sie die Budgetverantwortung in die Hände der Standortkommandeure; denn die wissen am besten, was sie vor Ort brauchen. Der Bürokratie hilft das auch.
Vielen Dank.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Anita Schäfer für die Fraktion der CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die vielen Soldatinnen und Soldaten, die unserem Land dienen, haben unseren Respekt verdient. Diesen Respekt zollen wir ihnen, indem wir den Verteidigungshaushalt für das Berichtsjahr 2018 auf 38,5 Milliarden Euro erhöhten. Da Materialbeschaffung und Personalanwerbung bei der Bundeswehr andauern, haben wir mit dem Haushalt für das Jahr 2020 eine Erhöhung des Wehretats auf über 45 Milliarden Euro verabschiedet. Aber noch immer gibt es Mängel, etwa beim Großgerät oder der persönlichen Ausrüstung. Darauf weist der Wehrbeauftragte in seinem Bericht zu Recht hin.
Wichtige Investitionen und Großprojekte der Rüstung wie das Taktische Luftverteidigungssystem, die Tornado-Nachfolge oder das Mehrzweckkampfschiff 180 sind von einer nachhaltigen Finanzierung abhängig. Neben der Finanzierung stellt aber besonders der komplexe Beschaffungsprozess eine Herausforderung dar und zieht sich oft über Jahre. Das Übermaß an Bürokratie bei der Bundeswehr kritisiert der Wehrbeauftragte in seinem Bericht für das Jahr 2018 ganz grundsätzlich. Wir haben mehrere Haushaltsanträge in die Haushaltsberatungen eingebracht,
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um langwierige Prozesse und Bürokratie zu verschlanken und zu beschleunigen.
Genehmigungsverfahren von Bauvorhaben sollen zeitlich begrenzt werden. Die Digitalisierung der Verwaltung wird beschleunigt, und wir prüfen einen Abbau von Vorschriften und Regeln überall da, wo es sinnvoll und machbar ist. Die Beschaffungsprozesse wollen wir verbessern und verkürzen. Der integrierte Planungsprozess kann von Initiative bis Auswahlentscheidung für kleinere Rüstungsvorhaben deutlich verkürzt werden.
Sie sehen: Es tut sich etwas. Daher danke ich besonders der Verteidigungsministerin, Annegret Kramp-Karrenbauer, dass sie die Dinge anpackt und sich so vehement für die Truppe einsetzt.
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Eine der vielen positiven Änderungen, die wir schon 2018 erreicht haben, ist der neue Traditionserlass. Zu Recht verweist der Wehrbeauftragte darauf, dass er den Soldaten klare Leitlinien bietet und die Bedeutung menschlicher Würde und der Inneren Führung in den Vordergrund stellt. Der Standard politischer Bildung, des Kommunikationsverhaltens und des Umgangs unter den Soldaten wird kontinuierlich verbessert.
Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass der Anteil von Frauen in der Bundeswehr 2018 weiter gestiegen ist, und zwar auf 12,1 Prozent, also knapp 22 000 Frauen.
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Frauen sind auch in der Öffentlichkeitsarbeit der Bundeswehr stets präsent. Immer mehr junge Frauen fühlen sich angesprochen und beginnen eine Karriere bei der Bundeswehr.
Meine Damen und Herren, die vielen Frauen und Männer in mandatierten Auslandseinsätzen, in einsatzgleichen Verpflichtungen und auch zu Hause im sogenannten Reachback leisten großartige Arbeit. Ihr Einsatz ist ein wichtiger Beitrag zu Sicherung und Stabilität in Deutschland und der Welt.
Die Anregungen aus dem Jahresbericht 2018 nehmen wir auf und setzen sie in engagierte Politik für die Bundeswehr um. Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter, im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion möchte ich Ihnen und Ihren Mitarbeitern für den Einsatz für die Bundeswehr ganz herzlich danken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich abschließend den Angehörigen der Bundeswehr sowie ihren Familien und Freunden eine gesegnete Adventszeit wünschen. Ebenso wünsche ich der Truppe, dass das neue Jahr 2020 ihr Gesundheit, Freude und Sicherheit bringt. CDU und CSU werden auch im kommenden Jahr fest an ihrer Seite stehen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Dr. Reinhard Brandl für die Fraktion der CDU/CSU.
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Wehrbeauftragter! Liebes Team des Wehrbeauftragten! Herzlichen Dank für Ihren Bericht. Er ist eine wahre Schatzkiste voller Anregungen und Hinweise auf Dinge, die gut laufen, aber vor allem auf Dinge, die nicht so gut laufen. Damit helfen Sie der Bundeswehr, besser zu werden, und Sie helfen uns dabei, der Bundeswehr zu helfen.
Mein Büro hat mir alle Stellen im Bericht markiert, die darauf verweisen, was wir aus dem Bericht 2018 bereits aufgenommen haben. Ich sehe aber, dass mir dummerweise nur noch zwei Minuten Redezeit zur Verfügung stehen.
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Ich kann daher nicht auf alles eingehen. Ich versuche, mich auf das Wesentliche zu beschränken.
Meine Damen und Herren, wir haben in der letzten Sitzungswoche den Haushalt 2020 verabschiedet. Ich will ein paar konkrete Punkte nennen, die wir im Haushalt aufgegriffen haben, um die Situation für die Soldatinnen und Soldaten zu verbessern.
Der Bericht des Wehrbeauftragten beginnt mit folgendem Zitat:
Wenn nach dem kräftigen Haushaltsplus für 2019 der Verteidigungsetat bis 2024 tatsächlich auf 1,5 Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung steigt, wäre die Bundeswehr sowohl in der Lage, die wachsenden Personalkosten abzudecken als auch die erkannten Lücken in der Ausrüstung zu schließen.
Auf diesem Weg sind wir. Als Sie diese Zeilen im Jahr 2018 geschrieben haben, lag der Verteidigungsetat bei 1,26 Prozent der Wirtschaftsleistung. 2019 lag er bei 1,39 Prozent, und für 2020 sind 1,42 Prozent vorgesehen. Wir werden unsere NATO-Zusagen einhalten. Aber das Entscheidende sind nicht die Prozentzahlen, das Entscheidende ist, dass wir im Parlament das Geld dafür bereitstellen, das die Bundeswehr für ihre Einsätze, für ihre Ausrüstung braucht, und das haben wir letzte Woche beschlossen.
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Aber es geht weiter. Geld alleine ist nicht alles. Sie schreiben:
Das Grundübel sind viel zu lange Beschaffungsprozesse, nichts geht wirklich schnell. Im gesamten Beschaffungswesen hat sich eine Absicherungsdoktrin etabliert, die nachhaltig lähmt.
Auch das haben wir aufgegriffen. Ich bin der Ministerin dankbar, dass sie als eine ihrer ersten Amtshandlungen die Reform der Beschaffungsorganisation angepackt hat; denn nur wenn die Beschaffungsorganisation effizienter arbeitet als heute, sind wir in der Lage, das zusätzlich zur Verfügung gestellte Geld auch entsprechend einzusetzen. Wir sind nicht gut an dieser Stelle, aber wir sind auf einem guten Weg. Frau Ministerin, herzlichen Dank dafür.
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Meine Damen und Herren, ich darf mit einem Zitat des Wehrbeauftragten schließen:
Ungeachtet der Kritik und der in diesem Bericht versammelten Mängelanzeigen darf nicht unerwähnt bleiben, dass der Großteil unserer Soldatinnen und Soldaten und der Zivilangestellten der Bundeswehr jeden Tag engagiert dient und arbeitet.
Herr Wehrbeauftragter, das stimmt. Wir danken Ihnen, und wir danken den Soldatinnen und Soldaten sowie den zivilen Mitarbeitern der Bundeswehr für ihren Dienst.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.