Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Politik ist, nicht nur etwas zu wollen, sondern Politik ist auch, etwas durchzusetzen. Das, was wir heute hier diskutieren und beschließen, ist nicht einfach gewesen, weil in diesem Haus – das wird diese Debatte zeigen – die Meinungen, wie wirkungsvoller Klimaschutz betrieben werden kann, weit auseinandergehen. Und doch: Engagement hat sich ausgezahlt. Im Jahr 2010 hat die SPD-Bundestagsfraktion das erste Mal in diesem Hohen Haus die Einführung eines Klimaschutzgesetzes beantragt. Es hat neun Jahre gedauert, aber heute ist der Tag, an dem wir wirklich einen Riesenschritt zu mehr Klimaschutz in diesem Land gehen.
({0})
Ich sage ganz bewusst: Es ist ein Riesenschritt, aber es ist keine Garantie. Aber das, was wir hier vereinbaren, ist das erste Mal ein Mechanismus, ein Mechanismus, der die Klimaschutzziele gesetzlich fixiert. Dieses Hohe Haus sagt dieser Regierung, welche Einsparpotenziale sie jährlich in jedem Ressort zu erreichen hat. Damit machen wir Klimaschutz gesetzlich verbindlich, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Jeder Minister, jede Ministerin, die sich an die jährlichen Einsparziele nicht halten, wird sich vor diesem Hohen Haus verantworten müssen, wird sich rechtfertigen müssen und Pläne aufstellen müssen, wie diese Ziele erreicht werden können. Damit haben wir das erste Mal ein wirkungsvolles Instrument.
Manchmal höre ich, solche Pläne habe es schon immer gegeben. Dazu mein Ratschlag: Seht euch einmal die Rechtsprechung an. Es ist ein großer Unterschied, ob es eine Absichtserklärung einer Bundesregierung gibt oder gesetzlich fixierte verbindliche Ziele.
({2})
Wem das noch nicht reicht, den verweise ich darauf, dass es nach dem sogenannten Effort Sharing der Europäischen Union nicht damit getan ist, festzustellen, ob Ziele erreicht oder verfehlt wurden, vielmehr werden, wenn wir sie verfehlen, Forderungen der Europäischen Union in Milliardenhöhe fällig werden. Auch das gibt Druck in diesen Kessel, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({3})
Jedes Jahr werden wir hier in diesem Parlament darüber diskutieren – machen wir uns da nichts vor –, ob wir auf dem richtigen Weg sind oder nicht. Neben dem Klimaschutzgesetz werden heute einige weitere Maßnahmen beschlossen, die auch erste Schritte sind. Ich sage für die SPD-Bundestagsfraktion ganz selbstbewusst: Weitere Maßnahmen werden folgen müssen, unter anderem das, was durch die sogenannte Kohlekommission vorbereitet worden ist: ein Kohleausstiegsgesetz ohne Wenn und Aber.
({4})
Dazu gehört auch, dass der Ausstieg aus Kohle und aus Atom begleitet werden muss durch einen Einstieg in das verbindliche Ziel, einen Anteil der erneuerbaren Energien von 65 Prozent im Jahr 2030 zu erreichen.
({5})
An dieser Stelle gleich mein Appell im Namen der SPD-Bundestagsfraktion an die Bundesregierung: Wir erwarten ein Gesetz, das Windenergie an Land nicht verunmöglicht, sondern ermöglicht, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({6})
Weil ich weiß, wie sich in dieser Debatte die Einzelnen positionieren werden,
({7})
sage ich: Die Abgeordneten von FDP und Grünen sollten sich einmal an die Vereinbarungen aus den Jamaika-Verhandlungen erinnern: kein Klimaschutzgesetz, kein Kohleausstiegsgesetz, im Übrigen auch kein Tempolimit. Bei dem, was Sie fordern, und in Ihrer Kritik sollten Sie angesichts dessen, was Sie tatsächlich hätten umsetzen können, ein bisschen verbindlicher sein. Ich würde mir das jedenfalls wünschen.
Vielen Dank.
({8})
Jetzt hat der Kollege Marc Bernhard, AfD, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen!
Es gibt kein anderes Land auf der Welt, das sich einen derart verbindlichen Fahrplan in Richtung Treibhausgasneutralität gegeben hat.
Das Gesetz schreibt … fest, wie viel CO2 … jedes Jahr ausgestoßen werden darf ...
Das sind Ihre Worte, Frau Ministerin Schulze. Dabei geben Sie doch selbst zu, dass Sie keine Ahnung haben, wie sich Ihr Klimapaket in der Realität auswirkt, dass Sie nicht wissen, wie viel CO2 dadurch eingespart wird, geschweige denn, was die Einsparungen einer Tonne CO2 die Menschen kosten wird. Sie wollen hier also ein Gesetz beschließen, ohne zu wissen, welchen Nutzen es hat, und ohne eine Vorstellung zu haben, welchen Preis wir dafür bezahlen müssen.
({0})
Aber was soll man von einem Ministerium, das laut Bundesrechnungshof schon für seine Kernaufgaben Berater für Hunderte von Millionen Euro braucht, auch anderes erwarten?
({1})
Nicht nur, dass Ihr Klimapaket völlig überstürzt und handwerklich schlecht gemacht ist, nein, zu allem Überfluss ist es nach Auffassung der Experten auch noch verfassungswidrig.
({2})
Aber damit nicht genug. Selbst der Bundesrechnungshof urteilt über Ihr Klimapaket – so wörtlich –: Benachteiligung der Geringverdiener, Belastung für Rentner, ungerecht und unsozial. – Durch Ihr Abzockpaket steigen die Heizkosten um über 20 Prozent. Der Mieterbund rechnet mit einer Kostensteigerung von 2 Euro pro Quadratmeter. Das bedeutet bei einer 80-Quadratmeter-Wohnung eine Mieterhöhung von 160 Euro pro Monat.
({3})
Außerdem sorgen Sie mit diesem Wahnsinn dafür, dass das Autofahren wieder zu einem Privileg der Reichen wird. Und da versprechen Sie noch vollmundig, dass Sie den Bürgern das Geld, das Sie ihnen vorher abgeknöpft haben, wiedergeben wollten, indem Sie die EEG-Umlage um einen ganzen Viertelcent pro Kilowattstunde senken.
({4})
Großzügig geben Sie also einer vierköpfigen Familie den stolzen Betrag von 8,75 Euro im Jahr zurück.
({5})
Dank Ihrer ganzen Klimahysterie gibt die deutsche Automobilindustrie gerade den Löffel ab, verbunden mit der Vernichtung von Hunderttausenden von Arbeitsplätzen. Schon jetzt steht eine ganze Großstadt auf ihrer Kündigungsliste.
Ihre verantwortungslose Politik gefährdet die Existenz vieler Tausender Familien, weil Sie im nationalen Alleingang, also mit gerade einmal einem Prozent der Weltbevölkerung, angeblich die Welt retten wollen.
({6})
Gemäß Ihrem Pariser Klimaabkommen dürfen alle Schwellen- und Entwicklungsländer, zum Beispiel China und Indien, Länder, die zusammen mehr als 60 Prozent des CO2 weltweit verursachen, ihren Ausstoß bis 2030 unbegrenzt, also ohne Limit, weiter erhöhen. Wenn also Ihr eigenes Abkommen dem größten Teil der Welt erlaubt, so viel CO2 herauszublasen, wie sie gerade wollen, dann können die 1,8 Prozent aus Deutschland wirklich nicht das Problem sein.
({7})
Denn selbst wenn wir unseren CO2-Ausstoß auf null reduzieren könnten, hätte das null Effekt. Weltweit sind im Moment allein 1500 Kohlekraftwerke im Bau. Selbst wenn wir jetzt und sofort, wie Sie von den Grünen fordern, alle unsere circa 100 Kohlekraftwerke abschalten würden, wäre dies innerhalb von gerade einmal zwei Monaten wieder neutralisiert.
Wenn also der Rest der Welt noch zehn Jahre Zeit hat, bevor er in irgendeiner Weise seinen CO2-Ausstoß einschränken muss, dann sollten auch wir diese zehn Jahre nutzen, in neue Technologien wie zum Beispiel synthetische Kraftstoffe zu investieren, und nicht in blindem Aktionismus die Zukunft unserer Kinder zerstören.
({8})
Denn die Wahrheit, Frau Schulze, ist: Es gibt kein anderes Land auf dieser Welt, dessen Regierung sich einen derart verbindlichen Fahrplan in Richtung Umweltzerstörung, Arbeitsplatzvernichtung und Abzocke der Bürger geben will.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Georg Nüßlein, CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Herr Bernhard, Sie haben fast nichts ausgelassen. Ich habe erwartet, dass dann noch der Hinweis darauf kommt, dass es den Klimawandel gar nicht gibt oder er jedenfalls nicht menschengemacht ist, und all die Dinge, die Sie üblicherweise vortragen. Ich sage das gleich; dann müssen es die Nachredner nicht tun. Ich glaube, wir, die Mehrheit hier im Haus, sind uns einig, dass es jedenfalls sinnvoll ist, mit Ressourcen anständig und sparsam umzugehen. Darauf ist dieses Gesetzespaket, das wir heute beschließen, ausgerichtet.
({0})
Wenn Sie gern eine andere Motivation hätten, dann steht es Ihnen frei.
Das, was Sie hier gerade an Hetztiraden losgelassen haben, ist unbeschreiblich und auch unverantwortlich; denn so, wie Sie es jetzt hier beschrieben haben, ist es nicht. Es ist ein sehr verantwortungsvolles Paket – –
({1})
– Schreien Sie doch nicht die ganze Zeit! Lesen Sie es in der Zeit, wo Sie brüllen; das hilft viel mehr.
({2})
Dann hätten Sie nämlich feststellen können, dass wir in dieses Klimaschutzgesetz auch ganz klar hineingeschrieben haben, dass es sehr wohl auf die sozialen Rahmenbedingungen, auf die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ankommt. Wir stellen darin den Klimaschutz eben nicht losgelöst von allem über alles, sondern sind uns sehr wohl bewusst, dass wir hiermit tiefgreifende Veränderungen anstoßen. Dies geschieht aber nicht so, wie Sie es jetzt beschreiben, dass das alles katastrophal wird. Vielmehr werden wir die Innovationen, von denen Sie ein kleines bisschen auch gesprochen haben, mit dem anstoßen, was wir tun.
Es geht doch nicht darum, meine Damen und Herren, das Verhalten der Menschen zu ändern, sondern wir müssen unsere Technologien ändern.
({3})
Deshalb setzen wir mit diesem Paket auf Anreize, nicht auf Repression. Es geht nicht darum, wie Sie es beschrieben haben, dass wir den Leuten das Geld aus der Tasche ziehen, sondern es zielt darauf, dass wir uns schrittweise bewegen, auch die Techniken sinnvoll zu ändern.
({4})
Ich bin jedenfalls stolz darauf, dass es uns gelungen ist, einen nationalen Emissionshandel anzustoßen. Das halte ich für ganz, ganz wichtig, und ich kann Ihnen auch sagen, warum.
({5})
Das ist wichtig,
({6})
weil wir diesen internationalen Anschluss brauchen.
({7})
Natürlich ist entscheidend, dass dieser Emissionshandel in Zukunft anschlussfähig an das ist,
({8})
was die Europäische Union machen wird. Ich bin überzeugt, dass uns das gelingt.
Natürlich funktioniert das Ganze
({9})
nur in einem europäischen, ja, lieber noch in einem internationalen Konzert.
({10})
Das soll uns doch aber nicht davon abhalten, uns im Wissen, was da kommen wird – es ist ja unerträglich mit Ihnen –, Gedanken zu machen, wie man sich vorbereitet und wie man auch den Wettbewerb stärkt.
({11})
Natürlich wird die Umstellung den Wettbewerb voranbringen.
({12})
Davon bin ich schwer überzeugt.
({13})
– Jetzt beruhigen Sie sich.
Herr Miersch hat das Thema Windenergie angesprochen. Wir haben etwas gemeinsam getan, was Sinn macht, nämlich eine Akzeptanzvoraussetzung geschaffen: Wir wollen nicht zu nahe an die Siedlungen der Menschen rücken, weil ansonsten dieses Thema zum Politikum wird. Das ist entscheidend.
({14})
Die Schwierigkeiten, die die Industrie an dieser Stelle momentan hat, können nichts mit den Abstandsregeln zu tun haben, denn sie sind jetzt schon da, während die Abstandsregeln erst in Zukunft kommen werden.
({15})
Auch dies ist wieder ein Hinweis darauf, dass die Technologien, die sich entwickelt haben,
({16})
natürlich international eingesetzt werden müssen. Kein Unternehmen kann nur auf einen nationalen Markt setzen und hoffen,
({17})
dass es am Ende schon entsprechend klappt.
({18})
Ich halte es für ganz, ganz wichtig, dass wir das Thema Klimaschutz tatsächlich hier im Deutschen Bundestag halten. Es gab ursprünglich einmal eine Idee, mit Klimaräten und Beratung das ganze Thema auf Regierungsebene abzubilden. Hier ist der Ort dafür, und deshalb haben wir beim Gesetzespaket auch dafür gesorgt – eine ganze Menge an dem Gesetzespaket, das hier schnell beschlossen wird, ist noch zu regeln –, dass einige darin enthaltene Verordnungsermächtigungen eine Zustimmung des Deutschen Bundestags voraussetzen, sodass wir da im Spiel bleiben und all die Nebenbedingungen auch entsprechend berücksichtigen können.
({19})
Wenn es um die Frage geht, wie schnell das jetzt weitergeht, dann hat der Bundesrat eine besondere Verantwortung. Da appelliere ich noch einmal an die Grünen, dieser Verantwortung im Bundesrat am Schluss auch gerecht zu werden. Das ist etwas, was Sie an dieser Stelle tun können,
({20})
indem Sie dafür sorgen, dass das gesamte Gesetzespaket im Bundesrat relativ zügig passiert. Wenn man die ganze Zeit sagt, das müsse schnell gehen, dann muss man einen Beitrag dazu leisten, dass es auch so kommt.
({21})
Wir werden Sie auch bei dem Thema CO2-Gebäudesanierung an dem messen, was Sie tatsächlich tun, nicht an Ihren Reden. Ich finde es nämlich spannend, dass der Bundesrat im Zweifel immer dann kein Geld hat, wenn es um Klimaschutz geht, uns ansonsten aber immer predigt, wir müssten da etwas tun.
({22})
Dieses Thema versuchen wir seit dem Jahr 2011 voranzubringen. CO2-Gebäudesanierung ist im Wärmebereich ein ganz wichtiges Thema.
({23})
Es ist nie gelungen, es ist immer am Geld gescheitert. Deshalb, meine Damen und Herren von den Grünen, ist das der Lackmustest. Da können Sie zeigen, dass Sie wirklich hinter der Sache stehen und nicht am Schluss wegen Geldsorgen kapitulieren müssen.
Ich glaube, wir beschließen heute ein gutes Paket, das man in der Gesamtheit sehen muss, das das Thema Klimaschutz voranbringen wird, das dieses Land nicht überfordert, wenn wir richtig damit umgehen. Deshalb müssen wir auch die Sorgen der Industrie berücksichtigen. Carbon Leakage ist ein entsprechendes – –
({24})
Herr Kollege Nüßlein – –
Das können Sie doch noch gar nicht wissen. Das wird doch erst beschlossen; das können Sie noch gar nicht wissen. Jetzt warten Sie es einmal ab.
Sie werden sehen, wir machen eine gute Politik. Sie machen ein lautes Geschrei im Vergleich dazu.
Vielen herzlichen Dank.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Frank Sitta, FDP.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zwischen den Ambitionen der Bundesregierung und dem Erfolg beim Klimaschutz liegen leider Welten. Die Bundesregierung hat uns ein Konzept versprochen, das die Einhaltung der Klimaschutzziele garantiert. Doch das vorliegende Gesetzespaket verbindet nur das Nutzlose mit dem Teuren: nutzlos für das Klima und teuer für die Bürger und Bürgerinnen in diesem Land.
({0})
Ihr Klimaschutzgesetzentwurf kennt kein klares CO2-Limit. Ihre verkappte CO2-Steuer mit dem Namen „Emissionshandel“ ist so niedrig, dass sie keine Lenkungswirkung entfalten wird. Trotzdem sind die Regeln so kompliziert und bürokratisch, dass viele Unternehmen schon jetzt vor hohem Verwaltungsaufwand und vor Doppelbelastung warnen.
({1})
Aber schlimmer geht ja bekanntlich immer. Also wurden dieser Krücke von Emissionshandel völlig aus der Luft gegriffene Sektorziele und ein Sammelsurium aus Förderprogrammen und Regulierungen zur Seite gestellt. Die unausweichlichen Folgen – ich muss es noch einmal sagen –: teuer für die Bürgerinnen und Bürger, null Zusatznutzen für das Klima.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, mit § 8 des Bundes-Klimaschutzgesetzes wird geregelt, was passiert, wenn Zielvorgaben in einigen Sektoren verfehlt werden. Wir haben hier eben schon gehört, wie toll das werden wird, wenn jeder der Minister hier vor dem Bundestag sagen muss, wie es weitergeht. Es sollen dann nämlich Sofortmaßnahmen greifen. Ich frage Sie jetzt einfach einmal: Was sollen denn diese Sofortmaßnahmen sein? Denn die sollen ja dann sofort wirken und passieren. Ich finde, es ist fair, wenn sich die Bürger in unserem Land darauf vorbereiten können.
Planen Sie, dann den Deutschen Bundestag und andere öffentliche Gebäude nur noch auf 19 Grad Celsius – laut Arbeitsstättenverordnung – zu heizen? Gilt das dann auch für Kindergärten und Schulen? Wollen Sie in der Fernwärmeversorgung die Vorlauftemperatur staatlich senken, bis es im Sektor passt? Müssen die Bewohner energetisch schlechter Wohnungen dann zum Pullover und zur Wärmflasche greifen? Planen Sie gar eine Neuauflage des 1973er Energiesicherungsgesetzes und die darin geregelten autofreien Sonntage?
({2})
Kommt das Tempolimit auf Autobahnen?
({3})
Müssen die Bürger mit generellen Fahrverboten rechnen? Wird bald das so beliebte Biofleisch verboten, weil das ja eine so besonders schlechte Klimabilanz aufweist?
({4})
Oder planen Sie sogar, die stromintensive Digitalisierung in unserem Land aus Klimagründen abzusagen?
Meine sehr verehrten Damen und Herren, so vermeintlich lustig das alles klingt: Diese Fragen sollten Sie dringend beantworten.
({5})
Die Bürger in unserem Land – und zum Teil auch Ihre Wähler – sollten schon wissen, was neben den fast schon gewohnten Kostensteigerungen noch alles auf sie zukommen könnte.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das sind Sie ihnen verdammt noch einmal schuldig.
Vielen Dank.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Lorenz Gösta Beutin, Die Linke.
({0})
Lieber Kollege Sitta, manchmal staunt man in diesem Hause ja tatsächlich noch.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Tag für Tag erhält diese Bundesregierung neue Stellungnahmen. Sie erhält Stellungnahmen von den Umweltverbänden, von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, vom Bundesrechnungshof, vom Deutschen Gewerkschaftsbund,
({1})
vom Verband kommunaler Unternehmen, vom Bundesverband der Deutschen Industrie, um nur einige zu nennen. Sie alle sagen: Die Bundesregierung ist gerade dabei, ihre energie- und klimapolitischen Ziele mit voller Kanne vor die Wand zu fahren. Hören Sie doch endlich einmal auf Ihre Partnerinnen und Partner!
({2})
Man muss sich doch angesichts dieser Brandbriefe fragen: Stellen Sie sich in dieser Situation tatsächlich taub? Sind Sie so ignorant? Oder handeln Sie tatsächlich aus Vorsatz? Und wenn Sie aus Vorsatz handeln – das muss man hier ganz deutlich sagen –, sind Sie gerade dabei, unsere Zukunft, die Zukunft unserer Kinder und aller, die nach uns kommen, zu verspielen, und das dürfen wir nicht zulassen.
({3})
Es ist doch eine unglaubliche Ignoranz, die wir erleben. 80 000 Arbeitsplätze haben Sie in der Photovoltaik vernichtet. Und was kommt jetzt? In den letzten drei Jahren haben wir in der Windkraft 40 000 Arbeitsplätze verloren. Wenn das so weitergeht, wenn Sie tatsächlich mit diesen absurden Abstandsregelungen herkommen, werden wir eine Situation haben, wo wir weitere Zehntausende Arbeitsplätze verlieren werden, und zwar in Zukunftsbranchen. Dann werden wir auch unsere Klimaziele nicht erreichen können. Das ist das große Problem: Sie vernichten Arbeitsplätze. Sie schaffen keine neuen.
({4})
Die Ignoranz geht noch weiter. Sie wissen ganz genau, dass Ihr Klimapaket hinten und vorne nicht ausreicht und dass Sie damit nicht in der Lage sind, die Klimaziele 2030 zu erreichen. Aber was tun Sie? Sie tun einfach nichts.
({5})
Sie sitzen da und sagen: Wir halten uns einfach einmal die Ohren zu, und irgendwie wird das schon funktionieren. – Nein, das ist keine Politik. Das ist das Prinzip Hoffnung, und damit werden Sie nicht weiterkommen.
({6})
Was wir jetzt tun müssen, liegt auf der Hand. Wir brauchen einen rascheren Kohleausstieg, und wir brauchen einen Kohleausstieg, der per Gesetz kommt und nicht durch, wie Herr Altmaier das will, irgendwelche Anreize oder das Prinzip Hoffnung, die Unternehmen würden schon irgendwas machen. Das ist der vollkommen falsche Weg.
({7})
Wir brauchen eine Verkehrswende, und zwar eine entschiedene Verkehrswende,
({8})
die nicht nur eine Antriebswende hin zum E-Motor ist, sondern die tatsächlich eine echte Verkehrswende ist, mit Bus und Bahn in den ländlichen Regionen, mit einer Bahn, die zuverlässig ist, die wesentlich günstiger ist.
Damit schaffen Sie gute Arbeit. Damit bringen Sie die Investitionen dahin, wo wir sie in dieser Situation tatsächlich nötig haben.
({9})
Wir brauchen energetische Sanierungen, die sozial gerecht sind. Wir brauchen eine Bundesregierung, die den Mut hat, in dieser Situation zu tun, was notwendig ist. Wir brauchen eine Bundesregierung, die eine Vorstellung davon hat, wie wir unsere Gesellschaft solidarisch gestalten können, wie wir Klimagerechtigkeit erreichen können. Das alles haben Sie nicht. Sie haben fertig.
({10})
Jetzt hat das Wort der Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Dr. Anton Hofreiter.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich mir das Eigenlob in dieser Debatte von den Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD anhöre, dann zeigt mir das: Sie haben beim Thema Klimaschutz zu wesentlichen Teilen der Gesellschaft und zur Realität den Kontakt verloren.
({0})
Viele der Maßnahmen, die Sie hier beschließen, die Sie in Ihren Ministerien erarbeiten, sind im besten Falle ungenügend, im schlechtesten Falle sogar kontraproduktiv. Bei dem hier angekündigten Klimajahr kann man nur als Fazit ziehen: Sie sind an der Menschheitsaufgabe Klimaschutz gescheitert.
({1})
Mit den Maßnahmen werden Sie Ihre selbstgesetzten Klimaziele nicht erreichen, geschweige das Pariser Klimaschutzabkommen einhalten.
Lassen Sie uns die Maßnahmen einmal konkret anschauen: Beim CO2-Preis schaffen Sie es tatsächlich, ein ökologisch unwirksames Paket sozial ungerecht und rechtlich fragwürdig umzusetzen.
Herr Kollege Hofreiter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rosemann aus der SPD?
Ja, warum net?
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herzlichen Dank, Herr Kollege Hofreiter, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Ich würde Sie gerne fragen: Wie passt das, was Sie hier erzählen, eigentlich zur grünen Regierungsrealität dort, wo Sie die Verantwortung tragen?
({0})
Ganz konkret, Herr Hofreiter: Ich bin aus Baden-Württemberg. Da stellt Ihre Partei seit acht Jahren den „Minischterpräsidenten“, seit acht Jahren den „Umweltminischter“,
({1})
und ich kann Ihnen sagen: Was das Erreichen der Klimaziele angeht, ist Baden-Württemberg deutlich schlechter als der Bund. Erklären Sie mir das doch einmal!
({2})
Herr Hofreiter, um es noch konkreter zu machen: Beim Ausbau der Windkraft in Baden-Württemberg passiert gar nichts. Da wird kaum ein neues Windrad gebaut. Bevor Sie dann wieder auf den Bund zeigen, kann ich Ihnen sagen: Ich könnte Ihnen x Beispiele dafür nennen, dass der Bau von Windkrafträdern ganz konkret am baden-württembergischen Planungsrecht scheitert, und die grün geführte Landesregierung macht gar nichts.
({3})
Also, Herr Hofreiter, erklären Sie mir doch einmal, wie Sie hier die Backen aufblasen können angesichts dieser Realität grüner Klimapolitik in diesem Land!
({4})
Als Allererstes stelle ich fest: Da ich selber relativ starken Dialekt spreche, finde ich es seltsam, dass Sie, wenn Sie aus Baden-Württemberg kommen, mit Ihrer Nachahmung der Aussprache des Umweltministers und des Ministerpräsidenten Dialekt lächerlich machen.
({0})
Das finde ich, ehrlich gesagt, peinlich.
({1})
Dann zum Inhaltlichen. Ich kann ja absolut verstehen, dass Sie in Baden-Württemberg peinlich geworden sind, nachdem Sie mehr oder weniger schlecht der Koalitionspartner für die Grünen waren und die Wahl verloren haben. Die Grünen bemühen sich seit Jahren, die Windkraft auszubauen. Sie bekennen sich zum Ausbau der Windkraft. Sie stehen zum 2-Prozent-Ziel, das für die Fläche notwendig ist. Sie leiten die Verkehrswende ein. Sie kämpfen um die Landwirtschaftswende. Sie haben dafür gesorgt, dass es einen Nationalpark gibt. Deshalb: Ich empfehle Ihnen, vor Ihrer eigenen Haustür zu kehren. Sie sind hier Vertreter einer Regierungsfraktion. Machen Sie Ihren Job!
({2})
Jetzt zu Ihrem Job, den Sie nicht machen. Sie haben es geschafft, das Instrument des CO2-Preises ökologisch unwirksam auszugestalten und es mit sozialer Ungerechtigkeit und rechtlicher Unklarheit zu kombinieren. Ökologisch unwirksam! Sie glauben doch nicht im Ernst, dass eine Preiserhöhung bei Benzin und Diesel, die unter der täglichen Preisschwankung an der Zapfsäule liegt, irgendeine ökologische Wirksamkeit bringt.
({3})
Da die Union Angst vor dem Wort „Steuer“ hat, haben Sie es auch noch rechtlich unsicher ausgestaltet, und da Sie
({4})
sozial ungerecht
({5})
sind – die Union erzählt uns hier ja gerne, dass sie die Menschen entlasten würde –, schaffen Sie es tatsächlich, einen Großteil dieses Geldes einzubehalten und nicht an die Menschen zurückzugeben. Deshalb: Wenn Sie ein sozial gerechtes System machen wollen, dann schaffen Sie mit den Einnahmen die Stromsteuer komplett ab. Zahlen Sie den Menschen das Energiegeld aus. Geben Sie 100 Prozent der Einnahmen aus den CO2-Abgaben den Menschen direkt und transparent zurück.
({6})
Nun kommen wir zu einem zweiten Bereich;
({7})
hier ist Ihre Arbeit nicht nur ungenügend, sondern sogar kontraproduktiv.
({8})
Denn es sollte doch völlig unstreitig sein, dass wir für erfolgreichen Klimaschutz den schnellen Ausbau der erneuerbaren Energien brauchen. Wir brauchen sauberen Strom, um Atom und Kohle zu ersetzen. Elektromobilität macht nur Sinn mit ausreichend sauberem Strom. Für die Herstellung von grünem Wasserstoff, damit die Chemieindustrie CO2-neutral werden kann, damit wir moderne, CO2-neutrale Stahlwerke bekommen, brauchen wir ausreichend sauberen Strom. Ohne genügend sauberen Strom macht das alles keinen Sinn bzw. ist das schlicht unmöglich.
({9})
Und was machen Sie bei der Windkraft? Nachdem Sie mit Ihrem Zickzackkurs bereits die Photovoltaikindustrie aus dem Land getrieben haben und Tausende von Arbeitsplätzen vernichtet haben,
({10})
machen Sie bei der Windindustrie genau so weiter. Sie haben bereits über 30 000 Arbeitsplätze vernichtet. 3 000 Arbeitsplätze sind gerade in Gefahr bei einem der führenden Hersteller.
({11})
Was macht der Wirtschaftsminister? Anstatt den komplett eingebrochenen Ausbau bei der Windkraft wieder flottzumachen,
({12})
kommt aus dem Haus des Wirtschaftsministers eine Regelung, dass einen Kilometer entfernt von fünf Häusern kein einziges Windkraftwerk mehr gebaut werden kann.
({13})
Aus dem Haus des Wirtschaftsministers kommt eine Regelung, die die meisten Regionalpläne, die in den letzten Jahren aufgestellt wurden, entwertet.
({14})
Das führt zum endgültigen Einbruch der Windkraft. Das dürfen Sie nicht zulassen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition.
({15})
Und was passierte, als der Wirtschaftsminister bei diesem Manöver ertappt worden ist?
({16})
Was hat der Minister getan, als er bei diesem Manöver ertappt worden ist? Er hat mit dem Finger auf die arme Umweltministerin gezeigt, die immer wieder von der SPD im Regen stehen gelassen worden ist, statt diese Regelung sofort zurückzuziehen. Aber Sie haben immerhin eines erreicht mit Ihren Maßnahmen: Sie haben erreicht, dass Industrie, Gewerkschaften und Umweltverbände
({17})
einvernehmlich gegen Ihre Regierung protestieren. Das ist immerhin auch eine Leistung.
({18})
Der heutige Tag ist ein weiterer schlechter Tag für den Klimaschutz. Ich habe hier oft an Sie appelliert, endlich vernünftig zu handeln. Aber nach den letzten Wochen kann man nur sagen: Echter Klimaschutz geht nur gegen diese Regierung, an dieser Regierung vorbei.
Vielen Dank.
({19})
Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Bernhard Daldrup, SPD.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Toni Hofreiter, mein Kollege Rosemann hat ja sozusagen ein bisschen den Finger in die Wunde gelegt, als er gesagt hat, wie das so mit dem Reden und mit dem Handeln ist und wie das auseinanderklaffen kann. Und wenn man dann den Rest Ihrer Rede gehört hat, dann muss man sagen: Das war im Detail eigentlich eher sparsam; denn was Sie über die Windenergie gesagt haben – darauf komme ich gleich noch zurück – ist zum jetzigen Zeitpunkt eigentlich gar nicht Gegenstand dieses Verfahrens.
({0})
Aber ich will gar keine Schärfe hereinbringen. Wir Deutsche haben es eigentlich gut: Wenn wir Hilfe brauchen, dann nehmen wir entweder Goethe, Marx, die Bibel oder Luther.
({1})
Goethe hat sinngemäß gesagt: Es genügt nicht, zu wissen, man muss auch anwenden. Es genügt nicht, zu wollen, man muss auch tun. – Sie wissen und wollen. Wir wenden an, und wir tun konkret etwas. Das ist einer der Unterschiede,
({2})
der uns, glaube ich jedenfalls, ausmacht.
Mit der Forderung der Festlegung des Klimaschutzes als leitendes Handlungsprinzip – darauf hat Matthias Miersch eben hingewiesen – haben wir vielleicht einen Berg hinter uns gelassen, aber vor uns liegen die Mühen der Ebenen. Ganz praktisch will ich darüber reden: Was kann eigentlich Steuerrecht beitragen, um Klimaschutz zu fördern? Steuerrecht kann soziales Vertrauen fördern, kann Verhalten steuern, kann ökologisches Verhalten belohnen, kann motivieren und anderes sanktionieren. Es kann sozusagen dazu beitragen, Akzeptanz zu schaffen. Wenn wir die Steuer auf Bahntickets mehr als halbieren, dann motivieren wir selbstverständlich. Das geschieht.
({3})
Wenn wir die Luftverkehrsteuer erhöhen und Kosten internalisieren, ja auch sanktionieren, dann machen wir das Vernünftige und Richtige im Rahmen des Klimaschutzes. Wenn wir Akzeptanz wollen, dürfen wir die Menschen aber nicht überfordern. Wir dürfen das nicht auf dem Rücken der breiten Schichten der Bevölkerung tun.
({4})
Dazu reicht es eben nicht aus, nur den CO2-Preis zu erhöhen. Das schafft diese Akzeptanz nicht.
({5})
Blindes Marktvertrauen alleine ist kein sozialer Klimaschutz. Durch die Erhöhung der Entfernungspauschale kaufen wir Zeit.
Keine Zwischenfrage?
Nein. – Und wir geben, glaube ich jedenfalls, den Menschen die Chance, sich auf eine neue Situation einzustellen. Das wollen wir nicht nur für diejenigen, die Steuern zahlen, sondern auch für die roundabout 250 000 Geringverdiener, die eine Mobilitätsprämie erhalten sollen. Das ist jedenfalls unser Verständnis von sozialverträglichem Klimaschutz.
({0})
Der Umbau unserer Energieversorgung braucht Entschlossenheit, die Windenergie braucht sie. Deshalb müssen Standortflächen für Windenergie auch unterhalb von 1 000 Metern Abstand zu Wohngebieten – auch in den Ländern, in denen die Grünen regieren – tatsächlich ermöglicht werden. Repowering muss ermöglicht werden. Die Novellierung von § 35 Baugesetzbuch, die eben von Toni Hofreiter angesprochen worden ist, werden wir uns vornehmen. Das ist so nicht akzeptabel; das ist in der Tat richtig.
({1})
Aber darüber werden wir dann reden, wenn das Gesetz hier ansteht, und nicht heute, weil es heute hier kein Regelungssachverhalt ist.
({2})
Wir wollen übrigens auch die Kommunen durch stärkere Beteiligung an der Wertschöpfung gewinnen. Deshalb soll es eine Grundsteuer W geben, die bereits 2020 in Kraft treten soll, und wir hoffen sehr darauf, dass im weiteren Verfahren auch noch mal über die Grundsteuer C gesprochen wird, weil sie eigentlich gleichermaßen 2020 in Kraft treten müsste.
Das Steuerrecht kann auch Investitionen auslösen, erst recht in einem Land mit einem ausgeprägten Steuerspartrieb der eigenen Bevölkerung. Das machen wir. Der Gebäudebereich ist von besonderer Klimarelevanz. Wir schaffen meines Erachtens massive steuerliche Anreize, um Wohnungen, um eigene Häuser klimafreundlich zu machen. Wir wollen das übrigens einfach und bürokratiearm machen. Aber auch eine komplexere Energieberatung soll steuerlich geltend gemacht werden können. Pro Objekt können bis zu 200 000 Euro investiert werden, steuerlich bis zu 40 000 Euro erspart werden. Das ist, glaube ich, eine wirklich großzügige und sehr vernünftige Form der Unterstützung.
({3})
Es gelten für diejenigen, die die steuerliche Förderung nicht in Anspruch nehmen wollen, weiterhin die Programme von KfW und BAFA als Alternative.
Wir werden die entsprechenden Mindestanforderungen in einer Rechtsverordnung festschreiben, die wir hier im Deutschen Bundestag im Übrigen behandeln werden. Die Neukonzeption der Bundesförderung für effiziente Gebäude muss dies auch berücksichtigen.
Ich habe vorhin von den Mühen der Ebenen gesprochen. Das ist etwas weniger emotional, als das hier bisher der Fall gewesen ist. Im Gebäudesektor sollen die Jahresemissionsmengen von 118 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente auf 70 Millionen Tonnen bis 2030 sinken. Dazu werden die steuerlichen Maßnahmen entscheidend beitragen.
Den Protest, die Demonstrationen für mehr Klimaschutz in praktische Politik umzusetzen, das ist der Auftrag, den wir annehmen und den wir tatsächlich machen. Das tun wir mit den Menschen und nicht gegen sie.
Herzlichen Dank.
({4})
Andreas Bleck, AfD, ist der nächste Redner.
({0})
Werter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundestag berät und beschließt heute in einem Tagesordnungspunkt über mehrere Gesetzentwürfe, Entschließungsanträge und Anträge zum Klimaschutz. Diese beinhalten im Wesentlichen drei Forderungen: erstens verteuern, zweitens verknappen, drittens verbieten. Der Steuerzahler und der Wähler werden sich über dieses vorgezogene Weihnachtsgeschenk sicherlich freuen.
({0})
Das Klimaschutzpaket der Großen Koalition ist dabei der Startschuss für das wohl größte Deindustrialisierungsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.
({1})
Es gefährdet unsere Wirtschaft, Energieversorgung sowie Mobilität und damit den Wohlstand unseres Landes und unserer Bürger. Während viele Kinder freitags gegen die deutsche Automobilindustrie demonstrieren, müssen viele Väter, die bei Mercedes-Benz, BMW oder Volkswagen gearbeitet haben, montags stempeln gehen.
Dass wir den Ast absägen, auf dem wir sitzen, ist auf die Klimareligion zurückzuführen.
({2})
Ihr Dogma ist der menschengemachte Klimawandel. Die Erlösung und damit die Antwort auf die Frage, ob der Klimaschutz erfolgreich ist oder nicht, treten erst nach dem Tod der meisten jetzt davon Betroffenen ein. Der Ablasshandel ist die CO2-Bepreisung, die Prophetin Greta Thunberg, die Ketzerin die AfD.
({3})
Doch selbst wenn es den menschengemachten Klimawandel geben sollte, kann die Große Koalition als Anhängerin der Klimareligion das Klima nicht schützen. China, die Vereinigten Staaten und Indien haben zusammen einen Anteil von 50 Prozent an den weltweiten CO2-Emissionen. Während Deutschland als energiepolitischer Geisterfahrer aus der Kohlekraft aussteigen möchte, befinden sich in diesen Ländern Tausende Kohlekraftwerke in Planung und Bau. Vor diesem Hintergrund kann Deutschland mit seinem Anteil von gerade einmal 2 Prozent an den weltweiten CO2-Emissionen das Klima nicht beeinflussen.
({4})
Wenn Sie von CDU/CSU und SPD trotzdem in Deutschland die CO2-Emissionen auf null reduzieren möchten, müssen Sie auch die finanzielle und technische Realisierbarkeit ermöglichen. Das ist jedoch nicht zu erkennen. Bei der Energiewirtschaft liefern Sonnenkraft und Windkraft beispielsweise zwar CO2-freien, aber instabilen Strom, also Klimaschutz zulasten der Versorgungssicherheit.
Da uns auf absehbare Zeit die notwendigen Speicher fehlen und mehr Biogasanlagen wegen mehr Energiemais-Monokulturen aus Gründen des Naturschutzes keine Alternative sind, sind wir weiterhin auf den stabilen Strom aus Kohlekraft angewiesen; denn die Kernkraft, die sowohl einen CO2-freien als auch stabilen Strom gewährleisten würde, lehnen Sie ja kategorisch ab. Das ist ein Fehler, da die Kernkraft definitiv einen Beitrag zum Klimaschutz leisten könnte.
({5})
Beim Verkehr setzt die Große Koalition trotz Entdeckung der synthetischen Kraftstoffe – Kompliment! – nach wie vor auf die Elektromobilität mit Lithium-Ionen-Akkus. Wegen langer Ladezeiten und geringer Reichweiten sind Stromer zwar im städtischen Raum, aber nicht im ländlichen Raum alltagstauglich. Im Vergleich zum Benziner oder Diesel sind diese jedenfalls nicht wettbewerbsfähig – trotz Fahrverboten, trotz Prämien.
({6})
Dass zudem Umwelt und Natur für den Abbau von Lithium und Kobalt in anderen Ländern zerstört werden, um sie in Deutschland vermeintlich zu schützen, setzt dem Ganzen noch die Krone auf und ist zutiefst unanständig.
({7})
Alles in allem bleibt doch festzuhalten, dass unsere Bürger mit dem Klimaschutzabkommen abkassiert werden. Die CO2-Bepreisung bei Benzin und Diesel sowie die Erhöhung der Luftverkehrsteuer verteuern die Mobilität, ohne dass im ländlichen Raum oder bei Langstreckenflügen wirkliche Alternativen bestehen. Das ist einfach ungerecht.
({8})
Nein, werte Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und SPD, mit Ihrem Klimaschutzpaket schützen Sie nicht das Klima, sondern die Große Koalition. Angesichts der Eindrücke Ihrer katastrophalen Wahlergebnisse in den Ländern haben Sie einen Burgfrieden auf Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners geschlossen. Sie wollen sich im Bund mit Hängen und Würgen in die zweite Halbzeit retten. Dementsprechend sieht auch Ihr Klimaschutzpaket aus.
Die AfD möchte hingegen eine bezahlbare, sichere und zuverlässige Energieversorgung. Im Unterschied zu Ihnen wollen wir die individuelle Mobilität nicht schwächen, sondern stärken. Wir bekennen uns daher zur deutschen Automobilindustrie und Verbrennungsmobilität. Kurzum: Benziner und Diesel statt Stromer!
Vielen Dank.
({9})
Andreas Jung, CDU/CSU, ist der nächste Redner.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir handeln beim Klimaschutz: Wir bringen jetzt die Diskussion, die wir in letzten Monaten intensiv geführt haben, in Gesetzesform. Es ist unser deutliches Signal: Wir nehmen ernst, was viele Menschen von uns erwarten. Wir nehmen ernst, was die Wissenschaft sagt. Wir handeln und setzen die Dinge konkret um.
({0})
Wir heben die Klimapolitik auf eine neue Ebene. Wir setzen mit dem Klimaschutzgesetz das um – Matthias Miersch hat es gesagt –, wofür Klimapolitiker, wofür Umweltverbände, wofür Klimabewegte seit vielen Jahren gekämpft haben. Klimaziele bleiben nicht Programme der Regierung. Sie werden gesetzlich verbindlich. Sie werden konkret kontrolliert. Sie werden verbindlich eingehalten. Wo es ein Problem gibt, wird nachgesteuert. Dieses Parlament wird darauf Wert legen, wird Transparenz herstellen und wird dafür sorgen, dass am Ende das, was jetzt passiert ist, dass nämlich eine Lücke entstanden ist, nicht mehr passieren wird. Klimaziele werden in Zukunft verbindlich eingehalten.
({1})
Wir etablieren dazu neue Mechanismen. CO2 bekommt einen Preis im Bereich Verkehr und Gebäude. CO2 wird zu einem wichtigen Maßstab in der Besteuerung. Und: Wir setzen ganz konkret Programme um, mit denen wir die Menschen beim notwendigen Umbau, bei dem notwendigen Umstieg unterstützen. Es braucht selbstverständlich Veränderungen. Weiter-so kann nicht die Botschaft in einer Situation sein, in der eine Lücke entstanden ist. Deshalb muss unsere gemeinsame Botschaft sein: Ja, Veränderungen sind notwendig. Aber unsere Botschaft ist auch: Wir wollen und wir müssen diese Veränderungen gestalten. Wir müssen die Menschen mitnehmen. Wir müssen denjenigen, die in alten Häusern wohnen, die ineffiziente Heizungen haben, die sich nicht von einem Tag auf den anderen ein neues Auto kaufen können, aufzeigen, wie es geht. Das ist der Geist, den dieses Paket atmet. Deshalb bringt es uns voran.
({2})
Herr Kollege Hofreiter, zum Thema Realität. Die Realität ist, dass wir den Menschen dazu Angebote machen müssen. Die Realität ist, dass wir seit vielen Jahren über die steuerliche Förderung der Gebäudesanierung immer wieder diskutiert haben. Wir sind am Bundesrat immer wieder gescheitert. Jetzt bringen wir diese Förderung auf den Weg. Sagen Sie doch bitte Ihren grünen Ländervertretern: Wenn man jetzt fordert, dass das bereitgestellte Geld beispielsweise in die Senkung der EEG-Umlage und andere Dinge investiert wird, dann kann dieses Geld nicht gleichzeitig den Ländern als Kompensation ihrer Einnahmeausfälle zur Verfügung stehen.
({3})
Da müssen Sie sich schon entscheiden: Soll das Geld den Menschen gegeben werden oder die Einnahmeausfälle der Länder kompensieren? Diese Frage müssen auch die Grünen beantworten.
({4})
Dann ist vonseiten der AfD über die Automobilindustrie gesprochen worden. Ich will sagen: Es macht mich betroffen, dass hier im Deutschen Bundestag der Satz gesagt wurde: Die Automobilindustrie gibt den Löffel ab. Die Automobilindustrie ist in einer schwierigen Situation. Die Automobilindustrie muss sich dem Wettbewerb stellen. Unsere Automobilindustrie muss den Wettbewerb um neue Technologien gewinnen. Wenn Marc Bernhard sagt: „Die Automobilindustrie gibt den Löffel ab“, dann redet er eine Kernindustrie unseres Landes schlecht,
({5})
und das tut er in der billigen Absicht, billige Polemik darauf aufzusetzen. Ich schäme mich für diese Bewertungen.
({6})
Der zweite Redner der AfD sagte gerade eben: Wir bekennen uns zur Automobilindustrie und zum Verbrennungsmotor. Wir sagen: Technologieoffenheit ist wichtig. Deshalb hat Effizienz beim Verbrennungsmotor genauso seine Berechtigung wie Elektromobilität, wie Wasserstoff, wie synthetische Kraftstoffe. Das ist unser Weg. Aber nehmen Sie doch bitte zur Kenntnis, dass die deutsche Automobilindustrie – –
Herr Kollege Jung, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich mache den Satz fertig. Dann würde ich die Zwischenfrage akzeptieren.
Ola Källenius, Vertreter eines baden-württembergischen Unternehmens, sagt, man habe den Hebel umgelegt und für sich ohne irgendeine Einflussnahme, ohne irgendeine Rücksicht auf politische Entscheidungen beschlossen: Ja, wir wollen mit voller Energie in Elektromobilität gehen, weil wir hier einen Antrieb, einen Weg in die Zukunft der Automobilindustrie sehen und weil es eine Frage der Wettbewerbsfähigkeit ist, weil die Frage der Zukunftsfähigkeit der deutschen Automobilindustrie sich daran entscheiden wird, ob sie innovativ ist, ob sie beim Wettbewerb um die Technologien der Zukunft vorne ist. Dann wird unsere Industrie punkten. Dann wird es Arbeitsplätze geben. Dann werden wir beim Klimaschutz vorankommen, und dann werden wir unsere Produkte weltweit exportieren. Deshalb ist es der Weg, den wir unterstützen.
({0})
Herr Kollege Jung, ich habe noch nicht verstanden: Lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bystron zu?
Ja.
Es gibt weitere Wünsche nach Zwischenfragen. Der Kollege Bystron war der Erste, der sich gemeldet hat. – Bitte, Herr Kollege Bystron.
Lieber Kollege Jung, vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen. Sie haben jetzt gerade ausgeführt, wir seien gegen die deutsche Automobilindustrie. Ich muss Ihnen eines sagen: Die deutsche Automobilindustrie ist wettbewerbsfähig. Vor allem: Sie hat einen technologischen Vorsprung.
({0})
Ich habe über zehn Jahre in dem Bereich gearbeitet. Ich war bei allen A-Messen in der Welt – Detroit, Tokio, Frankfurt usw. – dabei, und es war ganz klar, dass wir vor allem mit der Dieseltechnologie einen technologischen Vorsprung vor allen anderen Mitbewerbern hatten.
Jetzt kommt eine künstlich in den Markt gedrängte, staatlich subventionierte Technologie, die unterlegen ist, nämlich das Elektroauto. Den Elektroantrieb gibt es seit über 100 Jahren. Er hat sich am Markt nicht durchgesetzt, weil er nicht wettbewerbsfähig war, und Sie unterstützen das auch noch. In welchen Ländern wird dieser Antrieb subventioniert? Vor allem in China und in den USA. Auch Sie unterstützen das, und damit machen Sie die deutsche Automobilindustrie kaputt; damit machen Sie unseren Wettbewerbsvorteil kaputt.
({1})
Mit Verlaub, ich bin weit davon entfernt, alles, was die Automobilindustrie uns vorschlägt, eins zu eins übernehmen zu wollen. Das müssen wir immer kritisch beobachten. Die Politik setzt den Rahmen. Aber das, was Sie gerade beschrieben haben, steht in einem diametralen Widerspruch zu dem, was die deutsche Automobilindustrie selber für richtig hält.
({0})
Natürlich sagt sie: Wir wollen auch weiterhin in Effizienz in der Dieseltechnologie investieren. Aber sie sagt auch – es ist doch öffentlich bekannt; Sie können es nachlesen –: Wir sehen die Zukunft im Bereich der Elektromobilität. Wir wollen sie auch in Deutschland auf den Markt bringen. Aber um sie auf den Markt zu bringen, müssen wir bestimmte Rahmenbedingungen haben. – Diese Rahmenbedingungen schaffen wir mit diesem Klimapaket. Wir müssen den Menschen sagen: Wir erwarten Veränderungen, und wir wollen dabei individuelle Mobilität erhalten. Zu dieser individuellen Mobilität gehört die Stärkung der Schiene, gehört die Stärkung des ÖPNV. – Das leisten wir mit diesem Paket: Zugfahren wird billiger, und es wird entsprechend investiert.
Aber auch in Zukunft gehört zur individuellen Mobilität, die ein Ausdruck von Freiheit ist, die ein Ausdruck von sozialer Teilhabe ist, selbstverständlich auch das Auto. Dafür muss das Auto aber klimafreundlicher werden; sonst erreichen wir die Ziele, die wir beim Klimaschutz anstreben, nicht. Sie negieren diese Ziele, weil Sie das, was wir als Wertgrundlagen beschreiben, was unser Papst als besonders wichtige Aufgabe beschreibt – „Verteidigung der Mutter Erde“ –,
({1})
was wir als einen wichtigen Beitrag zur Verteidigung unserer Heimat empfinden, weil es zum Beispiel um den deutschen Wald geht, ablehnen; das alles negieren Sie. Für uns ist das wichtig. Wenn das aber richtig ist, dann muss auch das Auto klimafreundlicher werden. Dazu ist Elektromobilität ein wichtiger Beitrag.
Mit der Förderung der Infrastruktur, mit Kaufprämien, mit steuerlichen Maßnahmen ermöglichen wir den Menschen, diese Technologie auch tatsächlich in Anspruch zu nehmen, sich so ein Auto zu kaufen, es im ländlichen Raum auch zu fahren. Damit ist unsere Antwort auf die Frage „Wie bringen wir Klimaschutz und Wirtschaftlichkeit zusammen?“ technologieoffen.
Herr Kollege Jung, es gibt eine Reihe von weiteren Wünschen nach Zwischenfragen aus der AfD-Fraktion.
({0})
Ich frage Sie, ob Sie noch eine weitere Zwischenfrage zulassen, und zwar vom Kollegen Hollnagel.
Ich würde eine Frage noch zulassen.
Eine noch. Weitere Zwischenfragen lasse ich dann nicht zu, weil wir sonst völlig aus dem Zeitplan kommen. – Bitte, Herr Kollege Hollnagel.
Herr Präsident! Vielen Dank für das Wort. – Herr Kollege Jung, ich habe eine ganz einfache Frage:
({0})
Wie viel kostet uns das Klimapaket auf der einen Seite, und wie viel bringt es an Effekt an nicht erhöhter Temperatur im Weltmaßstab? Wie groß ist der Effekt?
Wir werden mit diesem Klimapaket unserer Verantwortung, die wir für den Klimaschutz haben, gerecht. Weil Sie fragen: „Was ist die Auswirkung, die deutsche Maßnahmen auf das Weltklima haben?“, will ich einfach feststellen, dass wir doppelt so viel CO2 ausstoßen wie die Menschen weltweit im Schnitt.
({0})
Um Ihre Frage konkret zu beantworten: Wir werden es so umsetzen, dass es sozialverträglich geschieht. Unsere Antwort ist: konsequenter Klimaschutz auf der einen Seite, sozialverträglich und wirtschaftlich vernünftig auf der anderen Seite. So werden wir es tun, und deshalb werden wir die Menschen mitnehmen. – Herzlichen Dank.
({1})
Ich komme damit zum Schluss. Wir machen heute einen entscheidenden Schritt auf dem Weg, Klimaschutz konsequent umzusetzen, das Pariser Abkommen in Deutschland zu implementieren. Auf diesem Weg werden wir weitergehen.
Herzlichen Dank.
({2})
Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Lukas Köhler, FDP.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit einem halben Jahr diskutieren wir ernsthaft und intensiv über das Thema der CO2-Bepreisung, und es steht zu Recht ganz oben auf der politischen Agenda. Es wird als die effektivste und effizienteste Form, als Rückgrat der Klimapolitik bezeichnet, und das von so ziemlich allen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Dabei hat man die Auswahl zwischen einer Steuer und einem Mengenmodell. Auch da sind sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einig: Ein Emissionshandel, also ein Mengenmodell, ist das sinnvollere, ist das effizientere und ist vor allen Dingen das erreichbare Ziel. Ich kann Ihnen nur zurufen: „Unite behind the science.“
({0})
Entscheidet man sich aber für einen Emissionshandel, dann muss man sehen, dass es nur dann ein Emissionshandel ist, „wenn die Zahl der ausgegebenen Berechtigungen hinter dem Bedarf zurückbleibt, kann sich ein Marktpreis bilden, der die Marktteilnehmer zu kosteneffizientem Verhalten veranlasst ... Ohne diese staatliche Festlegung der Nutzbarkeit der Luft wäre das Emissionshandelssystem funktionslos …“ Meine Damen und Herren, das sind nicht meine Worte, das sind die Worte des Bundesverfassungsgerichts.
({1})
Sie legen aber kein CO2-Limit fest. Sie machen die Zertifikate nicht handelbar. Sie sorgen nicht dafür, dass diese Grundvoraussetzungen des Emissionshandels auch nur im Ansatz erfüllt sind. Sie schaffen es nicht – zumindest nicht nach dem, was ich hier gerade vorgelesen habe –, eine Umsetzung auch nur im Ansatz so zu machen, dass das Bundesverfassungsgericht zu Recht sagen würde: Das ist ein Emissionshandel.
Lassen Sie mich dazu das Bundesverfassungsgericht noch einmal zitieren:
Durch Bestimmung des Cap, also der Gesamtmenge der zulässigen Emissionen …, setzt der Staat den Marktmechanismus überhaupt erst in Gang.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieses Gesetz setzt gar nichts in Gang. Es ist eine reine CO2-Steuer, die klimapolitisch wirkungslos bleibt und trotzdem den Menschen in Deutschland tief in die Tasche greift, und zwar jedem;
({2})
denn jeder Mensch fährt Auto, jeder Mensch heizt. Das kann doch nicht das Ziel sein.
Es kann doch nicht sein, dass das einzige Argument der Bundesregierung, das dagegenspricht, ist, dass das Verfassungsgericht sagt: Es könnte doch gut sein, dass es eine Übergangszeit ist. – Selbst das ist ja wahrscheinlich nicht haltbar. Aber was ist das denn für ein Anspruch der Bundesregierung, zu sagen: „Ja, in sechs Jahren wird das hoffentlich verfassungskonform sein“? Was ist denn das für ein Anspruch an sich selber?
({3})
Es gibt nicht „ein bisschen verfassungswidrig“. Es gibt „verfassungswidrig“ oder „nicht verfassungswidrig“. Meine Damen und Herren, Anspruch deutscher Politik, gerade der Union, muss es doch sein, ein Gesetz zu schaffen, das nicht von Anfang an unter massiver Kritik steht, vor allen Dingen wegen massiver rechtlicher Bedenken.
({4})
Und so etwas wird dann auch noch dazu genutzt, den Rest zu finanzieren. Wenn Ihnen das um die Ohren fliegt, meine Damen und Herren, dann verlieren Sie die Begeisterung in der Bevölkerung für die CO2-Bepreisung, dann verlieren Sie die Begeisterung für den Klimaschutz komplett.
({5})
Das Problem ist doch: Dann machen Sie gar keinen Klimaschutz mehr; denn dann haben Sie das Rückgrat der Klimapolitik verloren.
({6})
Wir haben einen Antrag vorgelegt, mit dem das besser funktionieren würde, meine Damen und Herren. Schaffen Sie es doch bitte, das umzusetzen, was sinnvoll ist, was nötig ist. Ich hoffe auf Ihre Vernunft.
({7})
Jörg Cezanne, Die Linke, ist der nächste Redner.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese Bundesregierung ist unfähig und in Teilen wohl auch nicht willens, die sozialen, ökonomischen und ökologischen Herausforderungen der vor uns liegenden großen Transformation wirklich offensiv anzugehen.
({0})
Statt den Herausforderungen, die vielen Menschen klar sind und von denen sie erwarten, dass sie angegangen werden, entsprechend zu begegnen, bleiben Sie bei halbherzigen Reparaturen am bestehenden System stecken. Nirgendwo lässt sich das besser darstellen als an dem Versuch einer CO2-Bepreisung und dem verkorksten Ausgleich der finanziellen Belastungen für die Bevölkerung. Sie machen keinen Mut. Sie eröffnen keine neuen Perspektiven. Sie bleiben im bestehenden Rahmen stecken. Das wird nicht genügen.
({1})
Um die Belastungen durch die eingeführte CO2-Bepreisung, die unter Klimaschutzgesichtspunkten, wie schon gesagt wurde, praktisch wirkungslos bleiben wird, auszugleichen, will die Bundesregierung 550 Millionen Euro pro Jahr für eine Erhöhung der Entfernungspauschale von 30 auf 35 Cent pro Kilometer ausgeben. Diese Entfernungspauschale ist eine steuerliche Entlastung für den Weg zur Arbeit. Sie hat aber einen Haken: Wer viel Steuern zahlt, wird viel entlastet, und wer wenig Steuern zahlt, wird wenig entlastet.
({2})
Wer so wenig Einkommen hat, dass er keine Steuern bezahlt, kriegt überhaupt keine Entlastung. Das ist sozial extrem ungerecht.
({3})
Das führt im Extremfall dazu, dass Spitzenverdiener pro Kilometer 14 Cent steuerliche Entlastung erhalten,
({4})
während die Verkäuferin mit Niedriglohn bestenfalls auf 4 Cent kommt.
Das wollen wir, die Gewerkschaften und viele andere Akteure aus der Zivilgesellschaft ändern. Wir schlagen ein Mobilitätsgeld vor, das pro Kilometer Arbeitsweg einen gleich hohen Betrag für jeden Kilometer auszahlt. Dieses Mobilitätsgeld soll die Entfernungspauschale ersetzen und wird gerade Menschen mit geringeren Einkommen zur Verfügung gestellt werden.
({5})
Dabei geht es nicht nur um einen Ausgleich der wachsenden Belastungen, sondern es geht auch um die Erhöhung der Spielräume für diesen Teil der Gesellschaft, sich auf die neuen gesellschaftlichen Veränderungen einzustellen.
Ich will noch einen zweiten Aspekt ansprechen, der in Ihrem Gesetz aus unserer Sicht immerhin in die richtige Richtung geht. Sie erhöhen die bestehende Luftverkehrsteuer in einem geringeren Maß. Das Kernproblem bei der Luftfahrt ist, dass sie in einem besonders hohen Maß zum Klimawandel beiträgt,
({6})
weil eben nicht nur der Verbrauch des Kraftstoffs, sondern die bei der Verbrennung dieses Kraftstoffes in großer Höhe ausgestoßenen Schadstoffe einen besonders hohen Klimaschaden verursachen. Dass ausgerechnet diese Verkehrsform bisher von einer Energiebesteuerung vollständig ausgenommen wird, ist völlig systemwidrig und muss unbedingt behoben werden.
({7})
Wir haben gerade bei den Kurzstreckenflügen bis 500 Kilometer die Möglichkeit, diese Flüge schon heute auf bestehende Bahnverbindungen zu verlegen. Das muss dringend eingeleitet werden. Diese Herausforderungen gehen Sie bislang völlig ungenügend an. Daran wird unsere Fraktion Sie weiterhin erinnern und versuchen, Sie weiter in diese Richtung zu treiben.
Ich danke Ihnen.
({8})
Oliver Krischer, Bündnis 90/Die Grünen, ist der nächste Redner.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es wird Zeit, dass man die Debatte hier noch mal vom Kopf auf die Füße stellt.
({0})
Sie haben am 20. September 2019 ein Klimapaket vorgelegt und es dann im Kabinett verabschiedet, von dem die wohlwollendsten Fachleute sagen, es wird bestenfalls dazu reichen, ein Drittel Ihrer Ziele zu erreichen. Jetzt haben Sie einen kleinen Teil dieses Paketes hierhingelegt.
({1})
So etwas wie die Reform der Kfz-Steuer, die Sie verabredet haben, taucht überhaupt nicht mehr auf.
Das Problem ist doch vor allem,
({2})
dass Sie bestimmte Dinge überhaupt nicht thematisieren, dass Sie überhaupt nicht darüber reden, umweltschädliche Emissionen und so etwas abzubauen. Das machen Sie an der Stelle überhaupt nicht.
({3})
Sie finden überhaupt niemanden in diesem Land, der wohlwollend über Ihr Klimapaket redet.
({4})
Das muss an der Stelle mal klar gesagt werden.
({5})
Sich dann hier hinstellen, auf die Opposition zeigen und sagen: „Die ist schuld“: Wer, verdammt noch mal, regiert denn in diesem Land?
({6})
Wer ist denn dafür verantwortlich, dass in Baden-Württemberg die Ausschreibungen dazu führen, dass dort keine Windenergie ausgebaut werden kann? Wer verantwortet das? Es muss an der Stelle klipp und klar gesagt werden, dass das hier so nicht weitergehen kann.
({7})
Ich sage Ihnen eines: Sie haben es vorgestern geschafft, dass die Energie- und Industrieverbände und parallel dazu die Umweltverbände eine fast gleiche Stellungnahme gegen Herrn Altmaier abgeben.
({8})
Die geben sie nicht gegen Winfried Kretschmann ab; die geben sie gegen diese Bundesregierung und diesen Wirtschaftsminister ab. Die stehen in der Pflicht.
({9})
Wir können hier gerne die Debatten von Baden-Württemberg führen, gerne auch die von Schleswig-Holstein und auch gerne die von Bad Münstereifel, wenn Sie das wollen. Aber Sie haben hier die Verantwortung.
({10})
Sie sind Teil der Bundesregierung. Sie machen die Energiewende kaputt,
({11})
weil Sie eben nicht verstanden haben, dass Klimaschutz Voraussetzung für eine moderne Industrienation ist,
({12})
für Wohlstand und Wertschöpfung. Sie deindustrialisieren das Land.
({13})
Ehrlich gesagt, finde ich es ein Unding: Sie vergolden jeden Arbeitsplatz in der Braunkohle, der sowieso keine Zukunft mehr hat, mit 2 Millionen Euro – mit 2 Millionen Euro! Wenn Tausende von Arbeitsplätzen in der Windenergie abgeschafft werden, dann ist das diesem Wirtschaftsminister nicht einmal eine Pressemitteilung wert.
({14})
Das zeigt, dass Sie ganz offensichtlich in zwei Klassen von Industriearbeitsplätzen denken.
Herr Kollege Krischer.
Und das ist nicht akzeptabel, meine Damen und Herren.
({0})
Danke schön. – Michael Schrodi, SPD, ist der nächste Redner.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei manchen ist deutlich zu spüren, dass der Schmerz groß ist, dass nicht sie es sind, die nun ein solches Klimaschutzgesetz einbringen können und einbringen dürfen.
({0})
Herr Hofreiter und liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Sie haben jetzt viel erzählt, wofür Sie alles kämpfen wollen. Aber Sie haben nicht gesagt, was Sie denn konkret in Baden-Württemberg, in Hessen und woanders tun, wo Sie es tun könnten, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Wir machen. Wir tun. Wir beschließen heute ein Klimaschutzgesetz, das ein Meilenstein für den Klimaschutz ist.
({2})
Wir machen uns auf den Weg, es mit Leben zu füllen, beispielsweise mit einem Beitrag zur Verkehrswende, die wirksam wird. Bei der Bahn sind wir schon mit Investitionsprogrammen gestartet. Mit dem Gesetzespaket wird beispielsweise klimaverträgliches Bahnfahren über die Senkung der Umsatzsteuer billiger und attraktiver.
({3})
Gleichzeitig wird klimaschädliches Fliegen über die Luftverkehrsteuer teurer. Das sind zielgenaue Maßnahmen zur CO2-Reduktion und damit zur Einhaltung der Klimaziele. Das ist gut, und das bringen wir auf den Weg.
({4})
Übrigens: Dem Ansinnen, besonders die Kurzstrecken zu vermeiden, kommen wir nach, indem wir überproportional die Steuern für Kurzstreckenflüge erhöhen. Es ist geradezu erwünscht, dass die sogenannten Billigflüge damit teurer werden.
Andererseits muss Klimaschutz aus unserer Sicht auch gerecht und sozial ausgewogen sein. Ich vernehme immer wieder Kritik an der Erhöhung der Entfernungspauschale ab dem 21. Kilometer und teilweise auch an der Mobilitätsprämie. Da wird dann von „Profiteuren“ und „Belohnung“ gesprochen. Ich stelle hier deutlich fest: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die immer noch zwingend auf den Pkw angewiesen sind, um zur Arbeit zu gelangen, profitieren nicht von einer solchen Entfernungspauschale, sondern sie werden wegen der anfallenden Mehraufwendungen stärker belastet. Wer immer noch auf das Auto angewiesen ist, um zur Arbeit zu gelangen, und eben nicht – noch nicht – auf Bus und Bahn umsteigen kann, der kann darüber nicht selber verfügen. Deswegen wollen wir diese Belastung mindern, damit es in unserem Land gerecht zugeht.
({5})
Und: Weil diese Maßnahme auch ausgewogen sein soll, haben wir eine Mobilitätsprämie vereinbart. Warum? Die steuerliche Förderung über die Entfernungspauschale – das ist richtig so dargestellt worden – hilft nur Personen, die so viel verdienen, dass sie auch Steuern zahlen. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die über 20 Kilometer zur Arbeit pendeln, aber lediglich ein Einkommen unter dem Grundfreibetrag haben, profitieren davon nicht. Wir wollen aber, dass gerade auch diese Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entlastet werden. Dafür wird unsere Mobilitätsprämie entsprechend der Entfernungspauschale ausbezahlt. Damit werden auch Geringverdiener spürbar entlastet.
Wir bringen also Klimaschutz sozial gerecht auf den Weg, und deswegen ist das ein guter Tag für dieses Land.
({6})
Jetzt hat das Wort die Kollegin Katja Hessel, FDP.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schon wieder ein guter Tag für Deutschland – ich dachte, das hätten wir gestern schon oft genug gehört.
({0})
– Ja, aber ich bin mir da nicht so sicher, liebe Kollegen, ob das eine gute Woche für Deutschland ist.
({1})
Klimaschutz ist ein wichtiges Ziel, und es ist gut, wenn etwas passiert. Die Große Koalition hat vielleicht gut gedacht, aber sie hat ganz sicher das Ganze nicht gut, sondern eher schlecht gemacht. Viele der Maßnahmen aus dem Klimaschutzpaket werden wir wieder mal einer gerichtlichen Überprüfung unterziehen, und das Bundesverfassungsgericht wird entscheiden, was wir hier tun. Das ist alles andere als gut gemacht, liebe Kollegen.
({2})
Vieles ist jetzt darüber gesagt worden, was so toll ist an der steuerlichen Umsetzung, an der Erhöhung der Entfernungspauschale ab dem 21. Kilometer. Ich kann mich dunkel entsinnen: Wir hatten schon mal eine gesplittete Entfernungspauschale ab dem 21. Kilometer; die ist gerichtlich einkassiert worden.
({3})
Hinsichtlich der Mobilitätsprämie hat der Bundesrechnungshof – ich sage es mal sehr vorsichtig – schon angedeutet, dass es fraglich ist, ob das so gut ist, wie es gedacht und gemacht ist. Es wird mehr Bürokratieaufwand geben, es wird mehr Bürokratiekosten geben, wenn die Mobilitätsprämie ausbezahlt wird, und das Ganze auch noch für eine Maßnahme, die zeitlich begrenzt ist.
Dann kommt die Luftverkehrsteuer. Fliegen muss teurer und Bahnfahren billiger werden. Es ist ja schön, wenn sich die Bundesregierung das als Ziel setzt. Sie glaubt aber nicht so ganz, dass das funktioniert. In der Antwort auf eine Kleine Anfrage der FDP-Fraktion heißt es – ich darf zitieren –:
Der Bundesregierung liegen derzeit keine Kenntnisse vor, zu welchen Verlagerungseffekten zwischen den Verkehrsträgern Schiene, Straße und Luftverkehr eine Anhebung der Luftverkehrsteuer führen würde.
Was wird also die Erhöhung der Luftverkehrsteuer bewirken? Wohl nichts. Nein, doch etwas: Eine Lenkungswirkung wird es geben, nämlich in Richtung der grenznahen ausländischen Flughäfen. Dahin wird viel Flugverkehr verlagert werden.
({4})
Das mag gut sein für die deutsche CO2-Bilanz, aber ganz sicher nicht zum weltweiten Klimaschutz beitragen.
Dann haben wir noch die Senkung der Mehrwertsteuer bei der Bahn, aber keine Mehrwertsteuersenkung bei anderen Verkehrsträgern. Auch hier konnten wir gestern lesen, dass eine Klage angestrebt ist. Wir werden auch hier sehen, was dabei herauskommt.
Als zweite Lenkungswirkung der Luftverkehrsteuer wird angeführt, Fliegen werde teurer für die Kunden. Fliegen wird nicht teurer für die Kunden; denn – die Anhörung im Finanzausschuss hat es ganz deutlich gezeigt – die meisten Fluggesellschaften werden die Luftverkehrsteuer überhaupt nicht über die Tickets an ihre Kunden weitergeben, sondern werden sie selber tragen.
({5})
Das wird zu einem weiteren Verdrängungswettbewerb auf dem Flugmarkt führen, aber sicherlich nicht dazu beitragen, dass Fliegen teurer wird.
Vielleicht noch ein letzter Hinweis zu den Kurzstrecken: Viele Reisende auf diesen Strecken sind Geschäftskunden. Da wird auch die Senkung der Mehrwertsteuer nichts bringen, weil die bei denen nämlich ein durchlaufender Posten ist.
({6})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Anja Weisgerber, CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir verabschieden heute ein umfassendes Klimapaket, das eine solide Basis ist, damit wir die Klimaziele erreichen. Es hat ein Herzstück: Das ist das Klimaschutzgesetz. Dieses Klimaschutzgesetz beinhaltet einen Kontrollmechanismus, ein Monitoring, mit dem wir jährlich überprüfen, ob wir bei der Erreichung unserer Klimaziele auf dem Pfad sind. Wir sind damit weltweit eines der ersten Länder, das einen solchen verbindlichen Pfad beschreitet, einen verbindlichen Fahrplan in Richtung Treibhausgasneutralität. 2019, 2020 und die weiteren Jahre sind die Jahre des Handelns. Wir werden auch hier im Plenum Nachhaltigkeits- und Klimatage durchführen, an denen wir mit allen Ressorts darüber reden werden, ob wir mit den Maßnahmen auf Kurs sind.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich würde mir wünschen, dass man diese Errungenschaften, die auch von der Opposition eingefordert wurden, auch mal anerkennt.
({0})
Die Opposition fordert natürlich höher, weiter, schneller.
({1})
Das ist natürlich immer möglich. Aber Klimaschutz geht nur mit Augenmaß und vor allen Dingen nur mit der Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger.
({2})
Wenn wir die Menschen nicht mitnehmen, riskieren wir, sie zu verlieren, und das können wir doch alle nicht wollen. Wir wollen nämlich Klimaschutz mit den Menschen und nicht mit gelben Westen, meine Damen und Herren.
({3})
Erfolgreicher Klimaschutz muss von den Menschen gelebt werden. Die Politik kann nur die Rahmenbedingungen setzen, und das tun wir jetzt mit dem neuen nationalen Emissionshandel für fossile Kraft- und Brennstoffe im Wärme- und Verkehrsbereich. Wir sind auch hier eines der ersten Länder, das sich auf diesen Weg macht, und wir setzen darauf, dass Europa jetzt nachzieht und auch den europäischen Emissionshandel auf diese Sektoren ausweitet. Entscheidend beim Emissionshandel ist doch nicht der Anfangspreis, entscheidend ist doch die Preisentwicklung. Bis 2025 wird sich der Preis pro Tonne CO2 verdreifachen, ab 2026 bildet sich der Preis am Markt.
Wir müssen aber die Menschen am Anfang mitnehmen. Wir müssen dafür sorgen, dass sie sich auf die veränderte Situation einstellen können, dass sie bewusste Kauf- und Investitionsentscheidungen treffen, dass sie Anreize und Unterstützung bekommen, auf klimafreundliche Technologien umzusteigen. Deswegen freue ich mich, dass wir, wenn der Bundesrat zustimmt, jetzt endlich das Gesetz auf den Weg bringen, das es ermöglicht, dass die Bürger Steuern sparen können, wenn sie ihre Häuser energetisch sanieren, und dass wir in vielen anderen Bereichen, auch im Bereich der Mobilität, Anreize wie zum Beispiel die Kaufprämie für Elektroautos, die Verbesserung der Infrastruktur und vieles weitere auf den Weg bringen.
({4})
Die Menschen im ländlichen Raum sind auf die individuelle Mobilität angewiesen, und gerade sie dürfen wir nicht zu stark belasten. Wir müssen unsere Entscheidungen auch so treffen, dass wir keine Arbeitsplätze riskieren.
Wir müssen auch Innovationen fördern.
({5})
Deswegen freue ich mich, dass es in den Verhandlungen gelungen ist, dass für die biogenen Brennstoffemissionen keine Zertifikate erworben werden müssen. Wichtig ist auch, dass bezüglich der synthetischen Kraftstoffe noch mal eindeutig klargestellt wird, dass sie bis 2023 vom nationalen Emissionshandel nicht betroffen sind.
({6})
Da hat es zuletzt Verwirrung gegeben. Wir haben dies noch mal eindeutig klargestellt. Die juristische Auslegung des Ministeriums bestätigt unsere Position, und wir werden dann einen Weg entwickeln, damit für deren Emissionen auch in Zukunft keine Zertifikate erworben werden müssen. Denn wir setzen eben nicht nur auf die Elektromobilität, sondern wir setzen technologieoffen auch auf synthetische Kraftstoffe und auf die Wasserstofftechnologie.
({7})
Es ist ein Märchen, anderes zu behaupten.
Wichtig ist mir auch der Wettbewerbsschutz. Die mittelständischen Unternehmen, die jetzt erstmals in den nationalen Emissionshandel aufgenommen werden und die im europäischen Wettbewerb stehen, müssen wir entlasten und ihnen auch kostenlose Zuteilungen geben. Und wir dürfen die Unternehmen, die schon im europäischen Emissionshandel eingebunden sind, nicht doppelt belasten. Deswegen möchten, wollen und werden wir sie möglichst vorab von diesen Doppelbelastungen praktisch entlasten; denn es ist wichtig, die Arbeitsplätze in Deutschland zu erhalten. Das ist unsere Politik: Umwelt- und Klimaschutz im Einklang mit Wirtschaft und Arbeitsplätzen.
({8})
Bei der Festlegung dieser Regeln haben wir auch die Beteiligung des Bundestages an vielen Stellen durchgesetzt.
({9})
Meine Damen und Herren, ich komme zum Ende. Klimaschutz geht nur mit der Wirtschaft. Das gilt nicht nur in Deutschland, sondern auch international. Eines ist klar: Deutschland alleine kann den Klimawandel nicht stoppen. Wir brauchen die Partner in der Welt. Wir haben das auch in unserem Antrag zur Klimakonferenz in Madrid noch mal dargestellt. Wir müssen zeigen, dass wir mit dem Klimaschutz die Konjunktur ankurbeln und damit auch Wohlstand sichern können.
Vielen Dank.
({10})
Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Marco Bülow.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ein Kind, das heute geboren wird, lebt in 71 Jahren, wenn nichts passiert, in einer Welt, die 4 Grad wärmer ist als die heutige,
({0})
mit allen katastrophalen Veränderungen, mit allen Umständen. Genau das sollte man als Richtschnur nehmen. Und genau das ist bei dem Klimapaket, bei dem ‑päckchen, was herausgekommen ist, eben nicht der Fall. Es ist erstens nicht ausgewogen, und es ist völlig unzureichend.
({1})
Es ist zweitens unsozial; das haben ja auch einige Kollegen hier noch mal deutlich gemacht. Und es ist drittens geprägt von Doppelmoral.
Wir haben gerade Frau Weisgerber gehört, die sich um die Arbeitsplätze sorgt. Das ist ein ernstes Thema. Ich komme aus dem Ruhrgebiet, deswegen finde ich es, wenn wir über Braunkohle oder über Kohle reden, richtig, mit diesen Arbeitsplätzen sorgsam umzugehen, uns um die Zukunft zu sorgen und Kommissionen einzurichten. Aber ich frage mich angesichts der Tatsache, dass in der Branche der erneuerbaren Energien in sieben Jahren 100 000 Arbeitsplätze vernichtet worden sind, warum das hier nicht die gleiche oder eine höhere Wertigkeit hat und warum darüber nicht diskutiert wird.
({2})
Vor allen Dingen frage ich mich, warum nicht über diese Abstandsregelung diskutiert wird. Herr Nüßlein, wir haben sie ja längst. Der Bund hat sie eingeführt, nicht die Länder.
({3})
Der Bund hat diese Abstandsregelung eingeführt.
({4})
Und da gibt es einen kausalen Zusammenhang: Die Windkraftbranche, die immer weiter gewachsen ist, ist nämlich dann eingebrochen, als diese Abstandregelung eingeführt wurde.
({5})
Das heißt, diese GroKo hat dafür gesorgt, dass auch im Bereich der Windenergie Arbeitsplätze gestrichen worden sind. Wo bleibt denn da der Aufschrei? Wo bleiben da die Kommissionen?
({6})
Nein, es passiert Folgendes: Der Wirtschaftsminister will diese Abstandsregelung noch verschärfen, damit wir im Bereich der Windenergie gar keine Arbeitsplätze mehr haben. Ist das die Fürsorge, die Sie angesprochen haben, Frau Weisgerber? Ist das sozusagen das, wie wir mit Arbeitsplätzen umgehen sollen? Nein, das ist es eben nicht.
({7})
Deswegen, glaube ich, müssen wir Arbeitsplätze gleichwertig betrachten.
Ich möchte nicht meiner Tochter und den anderen Kindern eine Welt überlassen, die wir versaut haben. Jetzt haben wir die Mittel, wir haben das Wissen, und wir müssen es jetzt machen. In 20 Jahren ist es eben zu spät.
({8})
Deswegen: Überdenken Sie es! Bringen Sie ein richtiges Klimapaket auf den Weg.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Johannes Steiniger, CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Klimawandel ist unumstritten die schwierigste Herausforderung, vor der wir stehen. Dass wir diese Herausforderung angehen, dass wir uns ihr stellen und jetzt in kürzester Zeit das Klimapaket umsetzen, zeigt, wie handlungsfähig die Große Koalition ist.
Ja, das ist ein großer Kraftakt. Und ja, in Deutschland sind wir nur für 2 Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes verantwortlich. Und ja, es stimmt: Auch wenn wir hier in Deutschland morgen komplett klimaneutral wären, retten wir das Klima nicht. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen der AfD, das heißt doch nicht, dass wir jetzt sagen: Wir machen nichts. – Das ist doch ein dummes Argument, was Sie hier an der Stelle vortragen.
({0})
Es ist doch erstens unsere Aufgabe als Deutschland, ein Role Model zu sein, Vorbild zu sein, zu zeigen, wie es funktionieren kann,
({1})
und zwar nicht, indem wir den Menschen vorschreiben, was sie zu tun haben, nicht, indem wir Deutschland deindustrialisieren,
({2})
nicht, indem wir das Autofahren verbieten, das Fliegen verbieten, sondern indem wir für Technologien stehen und Anreize bieten.
({3})
Wir sind zweitens, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch nicht bereit, den gesellschaftlichen Zusammenhalt aufs Spiel zu setzen. Deshalb schaffen wir mit dem, was wir hier vorlegen, auf der einen Seite Anreize, und auf der anderen Seite schaffen wir Akzeptanz in der Gesellschaft, insbesondere mit den Maßnahmen, die wir hier im Steuerrecht vorlegen.
({4})
Erster Punkt, seit vielen Jahren diskutiert: energetische Gebäudesanierung, der schlafende Riese in der Klimapolitik, den wir heute wecken. 120 Millionen Tonnen CO2 fallen in diesem Bereich an.
({5})
Wir haben hier sehr viel ungenutztes Einsparpotenzial. Dass wir es heute angehen, dass auch bei selbstgenutztem Wohneigentum Steigerungen der Energieeffizienz möglich sind – 40 000 Euro können die Menschen in Deutschland pro Objekt bekommen –, ist doch eine Sache, die gut ist. Das wird auch dazu führen, dass Gebäudesanierung in Deutschland gemacht werden wird.
({6})
Unser Ziel ist es dabei, Gebäude aus dem 20. Jahrhundert auf den Stand des 21. Jahrhunderts zu bringen. Wir fördern nicht nur neue, bessere Türen oder das dreifachverglaste Fenster als Einzelmaßnahme, sondern wir setzen auch auf moderne Heizungen, elektrische Anlagen für Smarthomes und viele andere Dinge.
Wir wollen, dass das Ganze funktioniert. Deswegen sagen wir: Wir wollen hier keine Bürokratie. Derjenige, der den Energieberater haben möchte, der kriegt den steuerlich angerechnet. Das konnten wir im Gesetzesverfahren noch verbessern.
({7})
Aber er muss nicht gefragt werden, weil dies zu viel Bürokratie ist.
Eine ganz zentrale Rolle spielen hier unsere Handwerkerinnen und Handwerker. Wir haben, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die besten Handwerker der Welt in Deutschland.
({8})
Denen sollten wir doch zutrauen, dass sie auch eine entsprechende Gebäudesanierung vornehmen und sich nicht so verhalten, wie es im Antrag der Grünen zum Ausdruck kommt, der ja vor Misstrauen gegenüber diesen Fachunternehmen nur so strotzt.
Ein Appell geht auch in Richtung der Länder; denn wir haben schon das Murren aus dem Bundesrat gehört, dass aus finanziellen Gründen an dieser Stelle jetzt vielleicht nicht mitgegangen wird. Wir sagen ganz klar: Klimaschutz ist nicht nur etwas, was den Bund angeht. Klimaschutz ist etwas, was auch in den Ländern gemacht werden muss, was auch in den Kommunen gemacht werden muss. Deswegen muss diese energetische Gebäudesanierung auch durch den Bundesrat.
Zweitens machen wir Bahnfahren billiger. Wir erhöhen die Ticketabgabe bei Flugreisen. Unser Kollege Tebroke hat es sehr gut verhandelt bei uns im Finanzausschuss. So setzen wir Anreize, auf die Bahn umzusteigen. Nur zur Wahrheit gehört auch: Am Preis allein orientieren sich die Menschen nicht. Bahnfahren muss auch besser werden. Das Internet muss laufen. Die Bahn muss pünktlich sein. – Wenn wir auch das angehen, dann ist das, glaube ich, an der Stelle ein guter Weg.
Dritter Punkt: Entlastung von Pendlern. Ich habe von der Akzeptanz gesprochen. Wenn wir denjenigen, die sich nicht zum 1. Januar 2020 ein neues, ein sparsameres Auto kaufen können, jetzt sagen würden: „Wir belasten euch nur einseitig“, dann würde diese Akzeptanz mit Sicherheit leiden. Deswegen sagen wir: Die Entfernungspauschale wird erhöht. Für diejenigen, die unter dem Grundfreibetrag liegen, führen wir eine Mobilitätsprämie ein. – Aus unserer Sicht ist die etwas bürokratisch gestaltet, aber wir werden uns in den nächsten Jahren anschauen, wie es funktioniert.
Letzter Punkt: Wir führen eine neue Grundsteuer ein – Grundsteuer W; nach A, B und C jetzt also W für Windenergie. Es gibt also die Möglichkeit, dass die Kommunen entsprechende Flächen ausweisen können. Einen Punkt möchte ich anmerken: Wir haben aus guten Gründen gesagt, dass wir mit der Grundsteuer C zur Mobilisierung von Grundstücken erst im Jahr 2025 anfangen, weil die Werte, auf die wir uns beziehen, verfassungsrechtlich nicht in Ordnung sind. Deswegen würde ich allen Kommunen in Deutschland raten, mit der Grundsteuer W sehr sorgsam umzugehen, bei der Ausweisung der Flächen ein bisschen darauf zu achten und das eventuell erst im Jahr 2025 zu machen.
Herzlichen Dank.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Mario Mieruch.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrte Damen und Herren! Meine Damen und Herren auf den Tribünen, Sie erleben hier heute die Verabschiedung eines Klimablankoschecks. Dieses Gesetz und alle, die darauf aufbauen, werden künftig die Grundlage dafür bilden, dass eines sichergestellt ist: Es wird für alle unterm Strich teurer, und beim tatsächlichen Nutzen begleitet uns viel Hoffnung.
Man begründet das Ganze mit Verantwortung und Langzeitstrategien. Würde man aber tatsächlich mit Langzeitstrategien, mit Verantwortung, mit Nachhaltigkeit handeln wollen, dann würden hier auch noch ganz andere Fragen zur Diskussion stehen. Denn wer zahlt denn den Preis für die neuen Abermillionen Autobatterien? Wer malocht im Dreck für Kobalt und Lithium, damit sich einige vom Steuerzahler ihr E-Mobil subventionieren lassen können? Wer zahlt am Ende tatsächlich die Zeche für unser gutes Gewissen?
Wir haben hier heute keine Lösungen gehört für die Indigenen, in deren Heimat der Boden umgegraben wird. Es gibt keine Lösung für Pablo in Bolivien, dessen Brunnen knochentrocken ist, weil ihm die Lithiumfirmen das Grundwasser absaugen. Es gibt auch keine Lösung für Juans Lamas, die in Südamerika an den Wasserlöchern verenden, weil diese mit Natriumhydroxid verseucht sind. Sie hören nichts über Motobo im Kongo, der mit seinen Geschwistern in die Kobaltmine geht statt in die Schule. Sie hören auch nichts über Untersuchungen zum Insekten- und Fledermaussterben durch Windräder; denn dafür gibt es keine Fördergelder, weil das nicht in die Agenda des Ministeriums passt.
Meine Damen und Herren, wer aus „Blut für Öl“ nun „Blut fürs Klima“ macht, der ficht seinen Klimakampf auf dem Rücken der Mittellosen dieser Welt aus. Und weil diese hier keine Stimme haben, möchte ich Clemente Flores zitieren, den Sprecher von 33 Gemeinden in den Salinas Grandes in Bolivien, der eine Botschaft an Europa hat. Er hat gesagt: Der Abbau von Lithium für Europa und der Wechsel zum Elektroauto wird unsere Gemeinden und unsere Landschaft zerstören. Elektroautos – die kennen wir nur vom Foto. Ihr glaubt, damit könnt ihr die Menschheit retten, aber ihr werdet uns alle umbringen.
Klaus Mindrup, SPD, ist der nächste Redner.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin wirklich unglaublich stolz und zufrieden, dass wir hier heute ein Klimaschutzgesetz verabschieden werden. Das ist ein Riesenfortschritt für unser Land.
({0})
Ich möchte mich ganz besonders bei Matthias Miersch und bei Frank Schwabe bedanken, die hier schon vor neun Jahren den entsprechenden Antrag eingebracht und seitdem dafür gekämpft haben. Heute wird es Wirklichkeit. Ich danke euch beiden.
({1})
Mit der Genehmigung des Präsidenten würde ich gerne drei Zitate aus der Debatte vom Oktober 2010 bringen. Das erste Zitat kommt von Frank Schwabe:
Zu einem Klimaschutzgesetz, das wir brauchen, gehören verbindliche, gesetzlich fixierte Ziele und Zwischenziele. Zu einem Klimaschutzgesetz gehören gesetzlich fixierte Überprüfungsmechanismen, damit die Regierung weiß, dass sie sich nicht drücken kann. Diese müssen transparent sein. Die Regierung muss sich mindestens einmal im Jahr in einer öffentlichen Debatte dazu erklären. Zu diesem Klimaschutzgesetz muss ein unabhängiges Überprüfungsgremium aus bestehenden Institutionen und weiteren Wissenschaftlern kommen. Wir brauchen klare Sanktionsmechanismen bei Nichteinhaltung der Ziele. Das alles kann ein nationales Klimaschutzgesetz leisten.
Diese Worte von vor neun Jahren sind heute noch gültig, und wir setzen es heute um. Danke schön.
({2})
Jetzt hören wir uns einmal an, was Bärbel Höhn von den Grünen damals gesagt hat:
Wir wollen deshalb auch Berichte. Wir wollen, dass auch gesagt wird: Oh, hier passiert zu wenig; hier funktioniert es nicht, bei einzelnen Sektoren, etwa im Verkehrsbereich; da bringen wir es nicht zustande, da müssen wir gegensteuern, da müssen wir andere Maßnahmen ergreifen. – Das ist die Transparenz, die wir mit dem Klimaschutzgesetz wollen.
Auch diese Worte von Bärbel Höhn sind heute noch richtig, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({3})
Jetzt kommen wir zu Eva Bulling-Schröter von den Linken.
Ich stelle noch einmal die Frage:
– sagt sie –
Warum brauchen wir ein Klimaschutzgesetz? Wir brauchen es, weil momentan die Klimaschutzziele von der Regierung geändert werden können, da sie nicht gesetzlich festgeschrieben sind.
Auch dieser Satz ist richtig. Wir schreiben das heute im Gesetz fest.
({4})
Ich habe viel Kritik gehört am Klimapaket. Wir können über Kritik reden. Hier ist der Ort, wo wir über Kritik reden. Aber ich habe in der Sachverständigenanhörung auch gehört, dass der Sachverständige des WWF gesagt hat: Das Klimaschutzgesetz ist ein echter Lichtblick. – Das muss man auch mal zur Kenntnis nehmen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({5})
Genauso, wie wir dafür gekämpft haben, dass das Klimaschutzgesetz im Koalitionsvertrag steht – ich bin der Union ausdrücklich dankbar für die kollegiale Zusammenarbeit –, werden wir uns auch darum kümmern, dass die anderen Ziele umgesetzt werden, dass der Kohleausstieg umgesetzt wird, aber gleichzeitig auch ein Einstieg in eine neue zukunftsfähige Energiewelt ist. Wir werden dafür kämpfen, dass der Anteil von erneuerbaren Energien auf 65 Prozent steigt, aber mit einem realistischen Stromverbrauch, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({6})
Wir sind in der Phase des Umsetzens. Wir werden es schaffen; wir werden im Klimaschutz vorankommen, liebe Kolleginnen und Kollegen
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. Lassen Sie uns gemeinsam weiter voranschreiten für Klimaschutz und für soziale Gerechtigkeit!
Danke schön.
({7})
Voraussichtlich letzter Redner, der aber genauso viel Anspruch wie jeder andere Redner auf Aufmerksamkeit hat, ist der Kollege Ulrich Lange, CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Toni Hofreiter, es ist ein sehr, sehr guter Tag für Deutschland und das Klima.
({0})
Wir haben uns auf den Weg gemacht, eine langfristige Aufgabe wirklich zielgerichtet ohne Panik anzugehen; denn Panik alleine wird das Problem nicht lösen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wesentlich für das Klima ist das Thema „Verkehr und Mobilität“. Unser Bundesminister Andi Scheuer hat 50 Einzelmaßnahmen für Mobilität, Modernität und Klima vorgelegt. Stichwort „An die frische Luft mit dem Fahrrad“: Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Fahrrad ist nicht nur gut für die Gesundheit und gut für das Klima, sondern manchmal ist es auch gut für das Gehirn, wenn man an der frischen Luft unterwegs ist.
({2})
Wir haben ein Mammutprogramm für alle Verkehrsträger – ein Klimakraftakt – und Investitionsmittel für die Schiene vorgesehen. Auch da gilt: Das bringen wir natürlich nur dann auf den Weg, wenn Management und Aufgabenträger in den Ländern – ich freue mich, dass zumindest zwei Vertreter heute da sind; sie profitieren ja auch nicht wenig – mit den vielen Geldern und den Regionalisierungsmitteln Züge auf das Gleis bringen.
Herr Kollege Lange, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?
Nein, ich lasse keine zu. – Wir setzen auf Elektromobilität; aber wir haben Wasserstoff und synthetische Kraftstoffe trotzdem im Blick. Und wir denken trotz allem auch an den Luftverkehr, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich bin gespannt und freue mich auf die eine oder andere Kollegin oder den einen oder anderen Kollegen von den Grünen, die oder den ich heute Nachmittag am Flughafen wieder treffe. Herzlich willkommen in der Lebenswirklichkeit.
({0})
Wir haben einen Masterplan für Ladeinfrastruktur, eine Blaupause. Aber jetzt sind auch Energiewirtschaft und Automobilindustrie gefragt, intelligent und nutzerfreundlich voranzugehen. Das alles kann nur gelingen, wenn wir uns auf eines einigen: Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, wir wissen, dass bei Ihnen Verkehrssicherheit auf der Straße ein Problem ist. Da geht Maus vor Mensch. Aber wenn auch Biene vor Bahn geht, dann wird es natürlich schwierig. Und wenn Sie einen Ausbau grundsätzlich behindern, dann ist das, was Sie hier tun, absolut doppelzüngig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme aus dem baden-württembergischen Grenzgebiet. Wir hatten vor ein paar Jahren die Diskussion über eine Monster-Stromtrasse. Sie waren herzlich eingeladen und sie waren dabei – die baden-württembergischen Grünen und die bayerischen Grünen –, sich zusammen mit CDU und CSU gegen diese Monster-Trasse vor Ort zu stellen. Liebe Kolleginnen und Kollegen aus Baden-Württemberg, man sollte dann auch ehrlich bleiben und hier nicht anders reden, als man in den Kommunen handelt.
({1})
Mehr erneuerbare Energien, Fortschritt in der Infrastruktur erreichen wir nur, wenn wir uns zur Planungsbeschleunigung durchringen. Wir wollen relevante Projekte beschleunigen. Wir wollen Ersatzneubauten. Wir wollen weiteres Potenzial nutzen. Auch die Modernisierung des Schienenverkehrs und von Brücken funktioniert nur, wenn Sie Ihren Widerstand gegen die neue Mobilität vor Ort aufgeben. Das ist das, was wir erwarten. Nur so kann Klimaschutz gelingen. Dann wird es ein wirklich guter Tag für Deutschland und für das Klima.
Danke schön.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich die Aussprache.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Besucher im Deutschen Bundestag und daheim an den Bildschirmen! Wenn man die letzten 20 Jahre Revue passieren lässt, muss man feststellen, dass die westliche Politik, besonders aber die Politik der Vereinigten Staaten, für einen Nahen und Mittleren Osten gesorgt hat, in dem alle großen Länder enormen Schaden genommen haben, furchtbare Kriege stattgefunden haben, mit enormen Opfern. Der gesamte Nahe Osten ist destabilisiert. Nichts ist mehr so, wie es einmal war. Dabei hatten wir doch in den Jahren 2006, 2010, 2012 – das muss man sich in Erinnerung rufen – noch Geheimverhandlungen zwischen Israel und Syrien über eine Rückgabe der Golanhöhen bei dem gleichzeitigen Abschluss eines Friedensabkommens. So weit waren wir damals. Und wo stehen wir heute?
Die deutsche Außenpolitik hat im gleichen Zeitraum jeglichen Einfluss auf die Geschehnisse verloren. Auch das ist besonders schmerzhaft, wenn wir uns daran erinnern, dass es die deutschen Dienste waren, die zwischen Israelis und Palästinensern, zum Beispiel bei dem Gefangenenaustausch, vermitteln konnten. Auch davon sind wir heute weit entfernt.
({0})
Heute ist Deutschland kein außenpolitischer Player mehr, und unsere europäischen Verbündeten sind es ebenfalls nicht, auch wenn Herr Macron sich sehr bemüht.
Ich bin deshalb hocherfreut, dass ich auch in anderen Fraktionen – bei den Grünen wie bei der Union und, ich glaube, auch bei der FDP – Vorstellungen erkenne, dass man nicht nur in Momenten und Situationen, in denen die Hütte brennt, wie in Syrien, nach Lösungen suchen muss, sondern den gesamten Nahen und Mittleren Osten perspektivisch einer Lösung zuführen muss.
Das heißt, dass wir das, was wir in Europa einmal probiert haben, transferieren müssen auf den Nahen Osten. Wir hatten eine KSZE, eine Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die erfolgreich war. Das war keine einzelne Konferenz, sondern das war, begonnen durch die sozialliberale Koalition in den 70er-Jahren, ein Prozess mit einem kommunistischen System, mit der Sowjetunion, die unser Feind war, die gegen uns gestellt war. Wir haben über Jahre hinweg vertrauensbildende Maßnahmen geschaffen, die es dann ermöglicht haben, in der Schlussakte von Helsinki für Europa stabile und friedliche Zustände zu schaffen. Das Endergebnis haben wir 1989 gesehen.
({1})
Im gleichen Rahmen sollten wir jetzt unseren Sitz im Weltsicherheitsrat nutzen und uns für eine Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen und Mittleren Osten einsetzen. Wir sollten unseren Sitz dort nutzen, um die anderen Partner – Russland, China, die USA – davon zu überzeugen, dass wir uns zusammen mit den regionalen Mächten auf den Weg begeben. Das wird ein jahrelanger Prozess sein, eine Frieden schaffende und stabilisierende Konferenz zu entwickeln, die in einigen Jahren vielleicht ähnlich erfolgreich ist. Dann ist das nicht die Konferenz von Helsinki, sondern vielleicht die Konferenz von Damaskus oder von Bagdad oder von Kairo.
({2})
Ich bin überzeugt davon, dass, wenn wir wieder eine intensive, eine aktive Außenpolitik betreiben, wenn wir darin wieder gut sind – und wir hatten über viele, viele Jahrzehnte einen großen Einfluss im Nahen Osten –, wenn wir genau diese Position wieder entwickeln, wenn wir auf dem Vertrauen, das wir im Nahen Osten immer noch genießen, aufbauen und im Bismarck’schen Sinne als ehrlicher Makler – wir würden dort keine eigenen Interessen verfolgen – zwischen den Großmächten und den regionalen Mächten vermitteln, dann Deutschland mit einer solchen Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Vorderen Orient wieder zu seiner geradezu historischen Rolle eines Mittlers zurückfinden würde.
({3})
Wir wären, meine Damen und Herren, wieder aktiv, wir wären wieder sichtbar, und wir wären außenpolitisch endlich wieder einmal wirksam. Ich bitte Sie, unserem Beschlussantrag zuzustimmen.
Danke schön.
({4})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Jürgen Hardt.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute hier einen Stapel von AfD-Anträgen zur Lage im Nahen und Mittleren Osten auf dem Tisch. Ich habe gestern in den Nachrichten gehört, Sie wollen durch eine Reise nach Syrien, zum Diktator nach Damaskus, zu Assad, beweisen, wie sicher Syrien ist.
({0})
Ich meine: Wie mehläugig muss man sein, wenn man, während man unter den Kalaschnikows dieses Schlächters auf ausgewählten Straßen dieses Landes verkehrt, zu dem Schluss kommt, das Land sei sicher.
({1})
Diese Irreführung der Öffentlichkeit werden wir nicht zulassen. Ich glaube, das ist für jeden offensichtlich.
({2})
Ich möchte zum Thema „Große Friedenskonferenz für den Nahen und Mittleren Osten“ eine Anmerkung machen, die sich auch aus der politischen Erfahrung der letzten Jahrzehnte speist: Wir müssen aufpassen, dass wir nicht durch große Konferenzen, durch immer neue Anläufe, Frieden zu stiften, die dann leider stecken bleiben oder gar scheitern – wie zum Beispiel der Prozess zwischen Israel und den Palästinensern –, falsche Erwartungen wecken, was am Ende nur umso größere und umso tiefere Enttäuschungen zurücklässt, sodass wir damit, obwohl es natürlich gut gemeint war, am Ende das Gegenteil bewirken.
Ich glaube, dass der europäische Friedensprozess nur deshalb möglich war, weil die beteiligten Mächte, weil namentlich die Sowjetunion für sich entschieden hatte, diesen kompletten Wandel der inneren und äußeren Politik unter Gorbatschow vorzunehmen und diesen Weg entsprechend zu gehen. Das war letztlich der entscheidende Grund, warum das zum Erfolg geführt hat.
Weil wir über diese Region schon oft diskutiert haben, möchte ich zwei Themen herausgreifen:
Ich möchte natürlich die Rolle des Iran in der Region ansprechen. Ich glaube, dass der Iran nach wie vor der große, einer der zentralen Störer jeder Friedensentwicklung in der Region ist. Ich glaube, dass wir bei dem Atomabkommen mit dem Iran an einem Scheideweg stehen. Anfang der Woche haben sich die drei Außenminister der europäischen Partner des Vertrags äußerst kritisch mit der Situation auseinandergesetzt. Wir haben im Iran gegenwärtig die Situation, dass die Regierung selbst verkündet, sie wolle das Abkommen verletzen.
({3})
Das kann natürlich auch ein bisschen Rhetorik nach innen und außen sein. Aber wir kommen an einen Punkt, an dem wir für uns entscheiden müssen: Wie geht es mit dem Iran weiter? Können wir als Europäer tatsächlich vor dem Hintergrund, dass das Abkommen jetzt auch durch den Iran möglicherweise substanziell verletzt wird, unsererseits so an dem Abkommen festhalten, wie wir das wollen? Es wäre ein schmerzlicher Schritt, einzugestehen, dass das Abkommen in der jetzigen Form tatsächlich gescheitert ist. Aber ich glaube, wir müssen die Realität ernsthaft betrachten. Und ich glaube, dass wir nicht daran vorbeikommen, den Konfliktbewältigungsmechanismus, den der Vertrag vorsieht, um das zu verifizieren, zu aktivieren.
Es ist natürlich umso dringender, darüber nachzudenken, unter welchen Bedingungen die Verhandlungen in Richtung auf eine atomare Überwachung des Iran auf diplomatischem Wege wieder aufgenommen werden können. Man könnte vielleicht einen Vorstoß unternehmen, die Vertragslaufzeit zu verlängern und andere Aspekte einzubeziehen. Ich denke, es wäre den Schweiß der Edlen wert, wenn es gelingen würde, sozusagen ein JCPoA II in irgendeiner Art und Weise neu aufzulegen.
({4})
Der zweite große Störer für Frieden in der Region ist aus meiner Sicht die vom Iran massiv unterstützte Terrororganisation Hisbollah, die meines Erachtens nicht nur im Libanon, im Irak und in Syrien, sondern eben auch in Europa ihr Unwesen treibt. Ich glaube, dass wir uns in den nächsten Wochen der Frage widmen müssen, ob wir Europäer, ob wir Deutschen tatsächlich alles tun, ob wir genügend tun, um die Terrororganisation Hisbollah in ihre Schranken zu weisen und an ihren Aktivitäten zu hindern. Wir haben in Deutschland zwar vielleicht keine unmittelbare Terrorbedrohung durch die Hisbollah; aber das, was zum Beispiel der Innenminister von Nordrhein-Westfalen jetzt im Rahmen der Bekämpfung der Clankriminalität aufdeckt, zeigt, dass der eine oder andere Weg doch in Richtung Drogenhandel, Geldwäsche, Erschließung von Finanzierungsquellen für die Hisbollah führt. Ich glaube, dass wir uns in den nächsten Wochen der Frage widmen müssen, wie wir mit diesem großen Störer eines möglichen Friedens in der Region umgehen, wie wir ganz konkret auch hier einen Beitrag leisten können, diesen Terror einzugrenzen.
Seien Sie gewiss, dass das Thema „Frieden im Nahen und Mittleren Osten“ ganz oben auf der Tagesordnung des Deutschen Bundestages steht, und seien Sie gewiss, dass uns die Frage des Friedens in der Region nicht nur unter dem Aspekt, dass Israel das durch diese unsichere Situation hauptbedrohte Land ist, sehr am Herzen liegt.
Herzlichen Dank.
({5})
Vielen Dank, Kollege Hardt. – Der nächste Redner für die FDP-Fraktion ist der Kollege Bijan Djir-Sarai.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine Damen und Herren! Es ist grundsätzlich gut und richtig, dass der Deutsche Bundestag sich mit der aktuellen Entwicklung im Nahen und Mittleren Osten beschäftigt.
Wenn man sich die Ereignisse der letzten Wochen und Monate ansieht, dann wird deutlich, wie fragil und gefährlich die politische Lage in dieser Region ist: In Syrien befindet sich der blutige Bürgerkrieg in der Endphase. Im Irak und im Libanon demonstrieren die Menschen seit Wochen gegen Misswirtschaft und Korruption. Israel wurde in den letzten Tagen mit Raketen beschossen. Im Jemen hält der Bürgerkrieg weiter an. Der Iran beeinflusst die Politik der Region wie selten zuvor. Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern ist nach wie vor ungelöst. Und der Machtkampf zwischen Saudi-Arabien und dem Iran hat sich verschärft. – Diese Aufzählung lässt sich beliebig weiterführen, und bedauerlicherweise ist bei vielen dieser Konflikte eine friedliche Lösung nicht in Sicht, nicht erkennbar. Die Region war selten ein so gefährliches Pulverfass.
Deutschland und die Europäische Union haben es jahre- und jahrzehntelang versäumt, eine nachhaltige Strategie für diese Region zu entwickeln. Einer der Gründe dafür ist nach wie vor, dass es die EU nicht schafft, gemeinsam aufzutreten.
({0})
Wir sind heute als Europäer keine Akteure in dieser Region. Unsere Bundesregierung sagt uns ja bei jeder Gelegenheit, dass die europäische Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik außerordentlich wichtig wäre, aber diese Bundesregierung ist noch nicht einmal in der Lage, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik für Deutschland zu formulieren.
({1})
Das ist schlecht für Deutschland, das ist schlecht für Europa, das ist schlecht für die NATO. Und das ist übrigens auch einer der Gründe, warum wir in dieser Region, die ja zur unmittelbaren europäischen Nachbarschaft zählt, keine Rolle mehr spielen. Ich bedaure beispielsweise, dass die Türkei, die einst ein Vorbild in dieser Region war, kein zuverlässiger Partner mehr ist. Ob NATO-Partner oder nicht, wer völkerrechtswidrig Krieg führt, kann nicht unsere Zustimmung und Unterstützung erfahren.
({2})
Die türkische Militäroffensive hat die Realitäten vor Ort verändert. Auch wenn der Vorschlag der Verteidigungsministerin zu spät kommt: Wir brauchen ein nachhaltiges Konzept für eine syrische Nachkriegsordnung. Dabei gilt es, sich ernsthaft die Frage zu stellen, wie sich Deutschland oder – besser gesagt – Europa bei einem Wiederaufbau einbringen könnte, einem Wiederaufbau, der die Menschen, die Opfer des Krieges schützt und nicht das syrische Regime und dessen Schutzmächte Russland und Iran bereichert.
In der verbleibenden Zeit im UN-Sicherheitsrat muss sich die Bundesregierung für einen politischen Prozess in Syrien einsetzen. Das Treffen des Verfassungskomitees in Genf war ein erster wichtiger Schritt. Ohne einen nachhaltigen Friedens- und Verfassungsprozess, ohne die Einhaltung von Menschenrechten wird es in Syrien keinen dauerhaften Frieden geben.
({3})
Auch die Rolle des Irans sollten wir immer wieder kritisch hinterfragen. Die Außenpolitik Teherans ist in der gesamten Region inzwischen spürbar. Die Menschen im Irak und im Libanon demonstrieren in erster Linie gegen ihre korrupten Regierungen, aber gleichzeitig gegen den zunehmenden Einfluss des iranischen Regimes in ihren Ländern. Auch die militärische Präsenz des Irans in Syrien stellt nach wie vor ein enormes Eskalationspotenzial und eine erhebliche Gefahr für Israel dar. Die Ereignisse der letzten Tage haben gezeigt, dass die Menschen in Israel noch immer nicht in Frieden leben können.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung braucht eine echte Nahost-Strategie. Dabei dürfen wir aber niemals die Menschen, die Gruppen, die Bewegungen vergessen, die sich dort in dieser Region für Menschenrechte und Bürgerrechte einsetzen. Menschenrechte sind universell und unteilbar. Gerade diese Menschen, gerade diese Gruppen haben unsere Solidarität und Unterstützung verdient.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Für die SPD-Fraktion hat das Wort die Kollegin Aydan Özoğuz.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 2011 wurden zunächst friedliche Proteste der Bevölkerung in Syrien brutal niedergeschlagen – wir erinnern uns –, die Gewalt eskalierte daraufhin. Heute, fast neun Jahre später, müssen wir feststellen: Über 400 000 Menschen sind im Zuge dieses Bürgerkrieges zu Tode gekommen, rund 1 Million Menschen wurden verletzt. Fast 12 Millionen Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen, und mehr als die Hälfte von ihnen sind Kinder. 6,2 Millionen Syrer sind Vertriebene im eigenen Land, fast genauso viele fanden Zuflucht in Nachbarstaaten. Und auch in Deutschland fanden viele Syrerinnen und Syrer Schutz. Sie stellten in den letzten Jahren immerhin die größte Gruppe unter den Schutzsuchenden dar. Für die große Mehrheit in unserem Land war und ist es – bei allen Schwierigkeiten, die damit verbunden sind – immer eine Selbstverständlichkeit, Menschen, die in Not sind, zu helfen – ungeachtet ihrer Herkunft und ihrer Religion.
({0})
Wir müssen heute feststellen: Das Land ist weiterhin nicht befriedet, es ist auch noch keine politische Lösung in Sicht, die wirkliche Aussöhnung und Sicherheit für alle Syrer erhoffen lässt. Flüchtlinge, die zurückgekehrt sind, erleben zum Teil Festnahmen, Folter und Enteignung. Es ist also kaum eine Option für die Mehrheit der aus dem Land geflohenen Syrerinnen und Syrer, freiwillig dorthin zurückzukehren, wenn ihnen unverändert große Gefahren drohen. Mit einem solchen Vokabular sollte man auch nicht ständig spielen.
({1})
Syrien muss und wird Hilfe erfahren, wenn es um den Wiederaufbau des Landes geht. Dieser macht aber nur Sinn – der Kollege Hardt hat darauf hingewiesen –, wenn eine dauerhafte und stabile politische Lösung gefunden ist. Das Verfassungskomitee hat nun kürzlich seine Arbeit aufgenommen, aber das ist natürlich erst der Beginn eines vermutlich längeren Prozesses. Eine Verfassungsreform und eine verlässliche, die eigene Bevölkerung in ihrer Vielschichtigkeit achtende Regierung sind Voraussetzung dafür, dass Deutschland sich an Wiederaufbauzahlungen beteiligen wird. Gleichzeitig werden wir natürlich aber auch weiterhin unseren humanitären Verpflichtungen nachkommen und die sensible diplomatische Suche nach einer Nachkriegslösung unterstützen.
Eine wichtige aktuelle Frage ist, ob es dem Islamischen Staat gelingt, besonders im Norden Syriens wieder zu erstarken. Dies gilt es nun natürlich, gemeinsam mit internationalen Partnern, zu verhindern. Seit 2015 beteiligt sich Deutschland auch deshalb ja an der Operation Inherent Resolve, welche Teil der internationalen Allianz gegen den IS ist.
Selbstverständlich – auch das möchte ich hier sagen – müssen wir Verantwortung für die Familien von IS-Kämpfern mit deutscher Staatsangehörigkeit übernehmen.
({2})
Natürlich muss alles dafür getan werden, dass sie nicht zu einer Bedrohung in unserem Land werden.
Die Türkei, die völkerrechtswidrig in Syrien einmarschiert ist, meint, dass viele Flüchtlinge jetzt aus der Türkei dorthin freiwillig ausreisen würden. Daran kann man nun berechtigt seine Zweifel haben. Worauf wir achten müssen, ist, dass es vor allem keine Zwangsumsiedlung geben darf.
({3})
Russland, dessen Handeln in Syrien ja zuletzt deutlich gemacht hat, dass es durchaus große eigene Interessen in dieser Region verfolgt, hat vor Kurzem eine Art Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa für den Persischen Golf angeregt, bei der es aber lediglich um sicherheitspolitische und eben nicht um humanitäre oder Aspekte der Menschenrechte gehen sollte.
Die AfD-Fraktion bringt heute nun die gleiche Idee in den Deutschen Bundestag ein, für den – wie sie schreibt – „Vorderen Orient“ – ziemlich unkonkret und ohne dabei das Geschehen und die aktuelle Lage in Syrien zu beachten.
({4})
Ich möchte vielleicht doch mal kurz mit einem Satz darauf eingehen, weil mir das immer wieder durch den Kopf ging: Als Johann Wolfgang von Goethe damals im „West-östlichen Divan“ über Orient und Okzident schrieb – das wird ja jeder kennen –, da war er seiner Zeit wirklich voraus. Wenn man heute den Begriff „Vorderer Orient“ nachschlägt – ich habe das gerade schnell im Duden gegoogelt –, dann steht da: Begriff veraltet. – Vielleicht sagt das etwas über Ihren Antrag aus.
({5})
Im vergangenen Jahr reisten Sie als AfD-Abgeordnete ja schon nach Syrien, also Sie waren ja schon da. Sie haben gesagt, das sei eine private Reise gewesen. Aber auf dieser privaten Reise haben Sie immerhin hochrangige Vertreter getroffen, Berater des Assad-Regimes. Ich nehme an, die Folterkeller haben Sie sich nicht angeschaut. Und heute nun, bevor von einer befriedeten Lage gesprochen werden kann, beeilen Sie sich, über Ihre Freunde zu sagen, dass diese ja nun die richtigen und einzigen Ansprechpartner wären. Ich finde, das ist schon extrem durchsichtig.
({6})
Für die gesamte Region benötigen wir eine Lösung der bestehenden politischen und natürlich erst Recht der militärischen Konflikte. Das ist nicht so leicht. Aber Deutschland hat eine Menge getan. Allein zu Syrien hat es in den vergangenen Jahren eine Vielzahl an internationalen Konferenzen gegeben – in Genf, in Wien, in Paris, auch in Berlin und München. Deutschland hat immer wieder diese Plattform geboten, um sich ganz konkret über die Lage auch mit den Nachbarländern auszutauschen. Ich kann mich sehr gut daran erinnern, wie damals sehr konkret über die Wasserknappheit im Libanon und anderen Ländern und die fehlenden Strukturen in der Versorgung so vieler Flüchtlinge, die ja in der Region geblieben sind, gesprochen wurde. An der Syrien-Geberkonferenz im letzten Jahr in Brüssel waren 57 Staaten beteiligt, dazu noch regionale Organisationen und Organisationen der Vereinten Nationen.
Deutschland unterstützt die Bevölkerung in dieser Region und insbesondere natürlich die Integration syrischer Flüchtlinge in vielen Bereichen.
Es kommt ja manchmal etwas zu kurz, aber man muss immer wieder darauf hinweisen, dass die allermeisten Menschen nicht weit weg wollen. Sie wollen in der Region bleiben. Es kam ja nicht von ungefähr, dass im Libanon plötzlich ein Viertel der Bevölkerung Flüchtlinge waren.
So etwas zu schaffen, das bedarf natürlich schon einer großen Struktur. Mit deutscher Hilfe konnte zum Beispiel die Einschulungsrate syrischer Kinder im Libanon deutlich erhöht werden. Ich möchte einmal ganz ehrlich sagen: Bei diesen Kriegen, bei dieser Flucht, bei all diesem Leid, das viele Menschen erfahren, ist niemandem geholfen, wenn Kinder nicht zur Schule gehen können, wenn ihre gesamte Jugend ohne Bildung und ohne Schulzeit zu Ende geht.
({7})
Deutschland trägt mit seinem finanziellen Engagement übrigens auch dazu bei, dass das World Food Programme nun jeden Monat mehr als 3 Millionen Menschen in Syrien versorgen kann. Die Kritik daran, dass das spät kam, ist durchaus angemessen; aber nun funktioniert es, und es funktioniert auch gut. Allein 2018 hat das Auswärtige Amt rund 622 Millionen Euro für die humanitäre Versorgung zur Verfügung gestellt.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.
({0})
– Ja, dass Sie das nicht hören wollen, ist mir schon völlig klar. Man merkt eben, dass Ihre Anträge wirklich nur aus der Hose geschossen sind.
({0})
Deswegen denke ich, dass wir ein unterschiedliches Weltbild haben.
Vielen Dank.
({1})
Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Kollegin Sevim Dağdelen.
({0})
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Özoğuz von der SPD-Fraktion! Ganze sieben Minuten hier eine Rede über Syrien zu halten und kein kritisches Wort zum völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Ihres NATO-Partners Türkei zu sagen, keine Verurteilung zu äußern, empfinde ich als eine besondere Leistung von Ihnen.
({0})
Während wir hier heute debattieren, gehen entgegen der Darstellung von Bundesaußenminister Heiko Maas die Kämpfe im Norden und auch im Osten Syriens weiter. Salafistische Terrorbrigaden Erdogans, die dem barbarischen „Islamischen Staat“ in nichts nachstehen, unterstützt von der Türkei, rücken weiter auf die mehrheitlich von christlichen Assyrern und Aramäern bewohnte Kleinstadt Tell Tamer vor. Die Invasion der türkischen Armee und einer islamistischen Soldateska an ihrer Seite in Syrien geht trotz des Waffenstillstands weiter.
Während die syrische Armee gemeinsam mit den Kurden Tell Tamer erbittert verteidigt, um weitere Massaker gegen Christen und andere Minderheiten in Syrien zu verhindern, hat die Bundesregierung nicht einmal ein umfassendes Waffenembargo gegen den Kriegsverbrecher Erdogan erlassen. Herr Maas hat zwar immer wieder behauptet, es gebe ein umfassendes Waffenembargo, auch letztens hier noch in der Befragung der Bundesregierung, aber das ist angesichts der Tatsachen, dass bisher genehmigte Waffenexporte an die Türkei bis heute ausgeführt werden, eine dreiste Lüge des deutschen Außenministers.
({1})
Der Völkerrechtsbruch der Türkei in Syrien wird somit weiterhin belohnt, mit Waffenausfuhren aus Berlin, aber auch mit üppigen Finanz- und Wirtschaftshilfen. Damit trifft die Bundesregierung eine Mitschuld an diesen furchtbaren Kriegsverbrechen, die Erdogans islamistische Terrorbrigaden in Syrien anrichten.
({2})
Man fragt sich wirklich: Wo ist der moralische Kompass dieser Bundesregierung geblieben? Wo ist eigentlich die sogenannte wertegeleitete Außenpolitik der SPD?
({3})
Herr Maas würdigt allen Ernstes dann auch noch die USA als „verlässlichen Partner“, gerade erst kürzlich, als US-Außenminister Pompeo zu Besuch in Berlin war. Ich finde, das ist wirklich irre. Das dürften jedenfalls die Menschen in Syrien ganz anders sehen.
Ich möchte Sie an Folgendes erinnern: Es war US-Präsident Trump, der mit dem Befehl zum Abzug der US-Soldaten aus dem Norden Syriens seine kurdischen Alliierten im Kampf gegen den IS eiskalt fallen ließ und Erdogan grünes Licht für die Invasion gab, um kurz danach klarzustellen, dass er zusätzliche Truppen zum Schutz der dortigen Ölfelder nach Syrien schicken möchte. Der US-Präsident ist bezüglich seiner Raubpläne in Syrien dankenswert offen und ehrlich, wenn er öffentlich bekundet – ich zitiere –:
Was ich vielleicht vorhabe, ist, mit Exxon Mobil oder einem unserer großen Unternehmen einen Deal abzuschließen, um das richtig anzugehen und den Reichtum zu verteilen.
Ich frage mich: Ist das der verlässliche Partner der Bundesregierung?
({4})
Seit wann ist die Bundeswehr für den Profit von Exxon Mobil zuständig? Das, was hier von Ihrem verlässlichen Partner ausgeführt wird, ist doch wirklich nichts anderes als eine fatale Rückkehr zu einem Imperialismus des 19. Jahrhunderts. Meines Erachtens ist es fatal, sich daran zu beteiligen.
({5})
In einem von der Fraktion Die Linke beauftragten Gutachten betont der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages mit Blick auf das US-Vorgehen in Syrien, dass es „keinen Freibrief zur Dauerpräsenz der kriegführenden Staaten in der Region“ gebe. Will der syrische Staat wieder auf die Ölfelder in seinem Land zugreifen, ist eine Verhinderung durch die USA völkerrechtlich nicht gedeckt. Eine Ausbeutung von staatlichen Rohstoffen zu eigenen Zwecken wäre „ähnlich wie Plünderungen durch eine Besatzungsmacht … mit dem besatzungsrechtlichen Grundgedanken der Haager Landkriegsordnung unvereinbar“.
Herr Bundesaußenminister Maas, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen der Fraktionen der SPD und der CDU/CSU, ich stelle Ihnen dieses Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes sehr gern zur Verfügung. Daraus kann man allerdings nur eine Schlussfolgerung ziehen: Die Unterstützung dieses völkerrechtswidrigen US-Raubzuges durch die Bundeswehr muss beendet werden.
({6})
Was wir in Syrien brauchen, ist eine 180-Grad-Wende der deutschen Syrienpolitik. Wir brauchen einen Bruch mit der Regime-Change-Politik der letzten acht Jahre. Die Bundesregierung darf nicht weiter über den deutsch-emiratischen Wiederaufbaufonds den Ausbau der Infrastruktur in von al-Qaida besetzten Gebieten Syriens wie in Idlib weiter finanzieren.
({7})
Ich finde es schändlich, dass mit Erlaubnis der Bundesregierung in der Berliner Chausseestraße, hier in Berlin-Mitte, ein Büro von Halunken finanziert wird, die diesen völkerrechtswidrigen Krieg der Türkei in Syrien mit unterstützen. Die Bundesregierung muss aufhören, diese syrische Botschaft spielenden Halunken hier weiter zu unterstützen,
({8})
und sie muss aufhören, weiter Waffen an Diktatoren und auch autoritäre Regime in der Region wie Saudi-Arabien, Türkei, aber eben auch Katar zu liefern, die letztendlich islamistische Terrorbanden ausgerüstet haben, mit Waffen unterstützt haben, und dies laut Aussagen der eigenen Dienste in Deutschland. Diese Unterstützung muss aufhören.
Das bedeutet aber vor allen Dingen auch, dass wir zu einer Politik der humanitären Hilfe in Syrien umkehren müssen. Deutschland muss sich am Wiederaufbau Syriens beteiligen. Die Wirtschaftssanktionen, die die Bevölkerung weiter verarmen lassen, müssen aufgehoben werden.
({9})
Den Menschen Medikamente und Lebensmittel zu verweigern, hat nichts mit einer humanitären Politik zu tun. Ich meine, die Menschen in Syrien können nicht weiter warten. Setzen Sie sich für humanitäre Hilfe ein,
({10})
für ein Ende der Wirtschaftssanktionen und für Diplomatie statt für die weitere Unterstützung einer Umsturzpolitik.
Ich weiß, die Grünen sind ja Befürworter von Regime-Change-Politik.
Frau Kollegin!
Aber wir sehen das Ergebnis von acht Jahren Regime-Change-Politik in Syrien, und damit muss erst einmal Schluss gemacht werden.
({0})
Der nächste Redner für Bündnis 90/Die Grünen ist der Kollege Omid Nouripour.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Dağdelen, Sie bringen mich jetzt in die Verlegenheit, die SPD verteidigen zu müssen. Deren Kollegin hat nämlich gerade selbstverständlich den Einmarsch der Türkei nicht nur benannt, sondern ihn auch völkerrechtswidrig genannt.
({0})
Was aber hier vom Pult aus nicht gesagt wurde, ist dies: Sie haben kein einziges Wort der Verurteilung Richtung Assad gesagt. Hier liegen drei Anträge zu Syrien vor, die alle blöd sind.
({1})
Aber Sie haben in sechs Minuten nicht ein Mal „Assad“ gesagt. Das ist das Problem an dieser Debatte hier. Es ist ein Problem, dass Sie über massenweise Verbrechen reden, aber auf einem Auge schlicht blind sind. Das ist nicht hinnehmbar und nicht erträglich.
({2})
Uns liegen insgesamt vier Anträge der AfD vor. Der eine Antrag befasst sich mit Libanon, und zu diesem Antrag fällt mir nicht mehr viel ein. Wir haben uns darüber schon ausgetauscht, es gab schon eine Lesung dazu. Aber das bringt mich dazu, an dieser Stelle noch einmal auch für meine Fraktion zum Ausdruck zu bringen, dass wir es trotz aller Dissenspunkte, die wir mit der Regierung Netanjahu haben – es sind viele, und sie brauchen Raum, um erörtert zu werden –, nicht hinnehmbar finden und scharf verurteilen, dass es in dieser Woche wieder einmal diese Angriffe und Raketenbeschüsse gegeben hat. Die Sicherheit Israels ist für uns konstitutiv.
({3})
Des Weiteren gibt es einen Antrag, in dem die AfD einen KSZE-Prozess für den Nahen Osten fordert. Das klingt immer gut.
({4})
Historische Beispiele lassen jemanden auch immer großbürgerlich erscheinen. Aber die Frage, wie das gehen soll, beantworten Sie so – ich zitiere aus Ihrem Antrag –: Die Bundesregierung soll ein realistisches Konzept dafür vorlegen.
({5})
Das ist die gesamte Antwort auf die Frage, wie das gehen soll. Ehrlich gesagt: Wir als Fraktion – das gilt nicht nur für uns; das gilt auch für alle anderen Fraktionen hier – überlegen uns in der Regel Lösungen und nicht nur Dinge, die schön klingen. Ich wundere mich, warum Sie nicht den Königsfriedensvertrag zwischen Sparta und Athen aus dem Jahr 386 vor Christus hier erwähnt haben.
({6})
Auch als Opposition muss man zumindest so tun, als würde man sich Gedanken darüber machen, wie etwas gehen soll, und kann nicht sagen: Wir haben eine große Idee, die Bundesregierung soll sagen, wie es ist.
Damit komme ich zum Kern dessen, warum Sie diesen Tagesordnungspunkt, Syrien überhaupt aufgesetzt haben.
({7})
Es gibt eine gute Entwicklung, eine vielleicht gute Entwicklung, und zwar, dass das Verfassungskomitee nun tagt. Es ist bedauerlich, nein, es ist verheerend, dass die Kurden nicht dabei sind. Das führt Sie dazu, zu sagen: Der Krieg ist vorbei; lassen Sie uns sie jetzt endlich zurückführen. – Sie haben genau dasselbe auch gesagt, bevor es diesen Schritt gegeben hat. Sie brauchen also keine Anlässe. Es geht eigentlich nur um die Rückführung. Es geht überhaupt nicht um Syrien; das wissen wir.
({8})
Jetzt so zu tun, als sei der Krieg beendet, ist vor dem Hintergrund der Lage in Idlib, wo systematisch weiter Krankenhäuser und Schulen bombardiert werden, schlicht zynisch.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hampel?
Ja.
({0})
Ich habe nur eine ganz schlichte Frage, Herr Kollege Nouripour.
({0})
– Da kann ich Sie ergänzen: Genauso schlicht hat das Ihr Kollege Jürgen Trittin fast wortwörtlich vorgetragen, wie wir es in unserem Antrag formuliert haben.
Würden Sie Ihrem Kollegen Trittin jetzt die gleiche geistige Schlichtheit wie uns unterstellen wollen?
Ich habe Ihnen keine geistige Schlichtheit vorgeworfen, weil ich Ihnen ganz andere Dinge vorzuwerfen habe.
({0})
Aber ich wiederhole gerne, was ich gesagt habe: Der Vorschlag ist nicht per se falsch. Der Kollege Trittin hat recht.
({1})
Wir suchen händeringend nach einem Weg. Und wenn wir einen Weg gefunden haben, werden wir dazu hier Anträge einbringen. Aber wir werden nicht so tun, als hätten wir jetzt irgendwie eine ganz tolle Idee, und bitten die Bundesregierung, für uns zu denken.
({2})
Das ist der Unterschied in der Arbeitsweise zwischen der AfD und allen anderen Fraktionen im Hohen Hause.
({3})
Sie sagen: Wiederaufbau, aber keine Bedingungen. Kein Wort davon, dass dieses Land nur dann zu Frieden kommt, wenn es Versöhnung gibt.
({4})
Kein Wort dazu, dass es Zehntausende von Vermissten gibt. Kein Wort davon, dass über 100 000 Menschen gefangen gehalten werden. Kein Wort davon, was in den Foltergefängnissen von Assad los ist. Kein Wort davon, was mit denen passiert ist, die zurückgekehrt sind. Es gibt so viele Berichte darüber, dass diese Leute Repressionen ausgesetzt sind, dass sie teilweise auch verschleppt worden sind.
({5})
Es gibt sehr viele, von denen wir nicht wissen, wo sie sind.
Kein Wort vom sogenannten Dekret Nr. 10. Beim Dekret Nr. 10 geht es darum, dass die lokalen Warlords von Assad grundsätzlich nach einem Stichtag gucken können, wer gerade nicht zu Hause ist, und dessen Haus, dessen Acker dann einfach konfiszieren können. Das ist in so vielen Fällen bereits passiert.
Wir reden über ein Land, in dem 9 Millionen Menschen nicht mehr dort leben können, wo sie beispielsweise ihr Hab und Gut haben. Sie dorthin zurückzuschicken, würde bedeuten, dass die Leute in Armut und in Willkür geraten. Wir erleben willkürliche Verhaftungen gerade bei denjenigen, die versucht haben, zurückzukommen. Kein Wort davon.
Kein Wort davon, dass es lokale Versöhnungsabkommen gibt, die zwar so heißen, aber nichts mit Versöhnung zu tun haben – im Gegenteil –, sondern schlicht die Machtverhältnisse dieser Warlords zementieren. Kein Wort davon, dass alles, was wir bisher von Assad an militärischen Erfolgen erlebt haben, ausschließlich gerade nicht zu Frieden und Versöhnung, sondern zu Siegerjustiz führt. Kein Wort davon, dass das kein Weg ist, durch den Syrien auf Dauer befriedet werden kann. Kein Wort davon, dass diejenigen, die zurückgehen, teilweise zwangsrekrutiert werden von den Menschen, die dort die Machtverhältnisse für Assad sicherstellen.
({6})
Kein Wort davon. Das macht mir wirklich Gänsehaut.
Am Dienstag gab es in Daraa, in der Stadt, in der vor acht Jahren die Proteste begonnen haben
({7})
und in der bei Beerdigungen tatsächlich auf Menschen geschossen worden ist, eine große Demonstration gegen Assad und gegen die Hisbollah. Ich finde, der Mut dieser Leute gehört wenigstens einmal an dieser Stelle erwähnt.
({8})
Bei all dem Elend ist es selbstverständlich eine Katastrophe, dass die Türkei jetzt völkerrechtswidrig einmarschiert ist. Es ist humanitär, es ist organisatorisch und es ist völkerrechtlich katastrophal, was die Türkei macht. Es ist extrem bedauerlich, dass die Bundesregierung sich in den letzten Wochen und Monaten überhaupt nicht darum bemüht hat, wirklich die Schrauben anzudrehen. Es ist sehr bedauerlich, dass beispielsweise die Hermesbürgschaften, ein hochsensibles Instrument, das im Falle der Türkei immer wieder gewirkt, ökonomisch Druck gemacht und zur Verhaltensänderung geführt hat, nicht gestoppt werden.
Es ist außerdem extrem bedauerlich, dass die Bundesregierung sich zu keiner Zeit um eine geordnete Rückführung der Dschihadisten, die in Deutschland, in unserer Gesellschaft, radikalisiert worden sind, bemüht hat. Wir haben eine Verantwortung, diese Leute zurückzunehmen. Das muss auch passieren.
({9})
Das ist sonst nicht nur den Staaten gegenüber heuchlerisch, zu denen wir sagen: „Nehmt eure Dschihadisten zurück“, sondern das ist auch schlicht in Anbetracht der Sicherheit dieses Landes fahrlässig.
({10})
Der nächste Redner: für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Roderich Kiesewetter.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist gut, dass wir eine lebendige Debatte über den Nahen und Mittleren Osten führen.
({0})
Ich bin den Vorrednern Jürgen Hardt, Aydan Özoğuz, Bihan Djir-Sarai und Omid Nouripour sehr, sehr dankbar dafür, dass sie einmal Ursache und Wirkung dargestellt haben.
Wenn wir schon sehr nüchtern und sachlich sprechen,
({1})
so lohnt ein vertiefter Blick in die Anträge, die Herr Hampel hier versucht hat vorzustellen, ohne auf sie einzugehen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, da steht tatsächlich in einem der Anträge, durch die wirtschaftliche Destabilisierung des Westens würden die Flüchtlinge an der Rückkehr gehindert und deshalb solle man die Sanktionen gegen Syrien aufheben.
({2})
Jürgen Hardt und Aydan Özoğuz haben klargestellt, dass es über 6 Millionen Binnenvertriebene, über 5 Millionen Menschen, die außerhalb des Landes sind, rund eine halbe Million Tote und über 1 Million Verstümmelte gibt. Die Menschen sind doch nicht wegen wirtschaftlicher Destabilisierung geflohen. Und sie kehren doch auch nicht zurück, wenn die Sanktionen aufgehoben werden.
({3})
Sie sind durch die Bomben von Assad und durch die Proxys des Irans tief betroffen
({4})
und aus ihrer Lebenswirklichkeit geschoben worden. Es ist unsere Aufgabe, darüber nachzudenken, wie man das Problem lösen kann. Es geht jedenfalls nicht, indem man an den Wirkungen herumbastelt. Da muss man an die Ursachen gehen.
({5})
Der Nahe Osten ist aus den Fugen geraten; wir brauchen eine KSZE. -Das ist ein Zitat von Bundesaußenminister Steinmeier vom 21. Juli 2014,
({6})
als wir noch ein Fenster der Gelegenheit hatten, weit vor dem russischen Einmarsch, nach dem Nichtausnutzen der roten Linien durch die USA, dort tätig zu werden. Es ist der deutschen Diplomatie zu verdanken, dass es den Genfer Prozess gab. Wir sollten auch ein bisschen stolz darauf sein, dass wir den politischen Prozess vorangetrieben haben durch die Bundesregierung, auch mit Unterstützung dieses Hauses.
({7})
Hierauf sollten wir hinwirken.
({8})
Ich halte sehr viel davon, liebe Kolleginnen und Kollegen, da zur Sacharbeit zurückzukehren. Deswegen sind Ihre Anträge auch abzulehnen.
({9})
Ich will deutlich machen: Der völkerrechtswidrige Vorstoß der Türkei und das russische Vorgehen führen doch nur zu einer Stabilisierung von Assad. Wir sollten uns auch darauf einstellen, dass die für das Jahr 2021 vorgesehenen Wahlen vorher wenige Änderungen bringen. Das heißt, wir haben noch zwei Jahre harter diplomatischer Arbeit vor uns. Deshalb sind auch alle Vorschläge zu begrüßen, die Sackgasse, in die sich die Konfliktparteien dort manövriert haben, wieder aufzulösen.
Der KSZE-Vorschlag ist irreführend, weil der KSZE-Prozess in Europa aus Europa, aus Gründen der Menschenrechte, aus der Spaltung der Blöcke, der Spaltung der Familien über den Eisernen Vorhang heraus entstanden ist. Wir können nur appellieren, dass aus der Region heraus der Wille zum Frieden und der Wille zu einer positiven Konfliktkultur entstehen.
({10})
Das sollten wir mit unserer Diplomatie fördern und nicht durch Dienstreisen einen Diktator huldigen.
({11})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es sind aus meiner Sicht vier Punkte, die wir anpacken müssen. Frau Annegret Kramp-Karrenbauer hat mit ihrem Vorschlag, mit dem sie versucht hat, diese Sackgasse zu durchstoßen,
({12})
eine Reihe dieser Punkte angesprochen. Ich will diese vier Punkte einmal in einen Zusammenhang bringen:
Erstens. Wenn wir uns als Europäer dort in der Flüchtlingshilfe, in der Trennung von Konfliktparteien, in der Schaffung eines sicheren Hafens für Flüchtlinge engagieren, dann ist das ein Zeichen, dass wir nicht mehr Zaungast sein wollen, sondern gestaltend und hilfreich mitwirken im Rahmen der politischen Prozesse.
Zweitens. Es ist ein Zeichen an die Türkei, dass wir sie im westlichen Bündnis halten wollen, dass wir ihr helfen wollen, von diesem völkerrechtswidrigen Vorgehen, dem Bruch des Völkerrechts – um es klar anzusprechen – mit diesem Angriff, wieder zurückzukehren auf die regelbasierte Ebene. Das bedarf einer großen Anstrengung der Europäer, und dazu sollten wir bereit sein.
({13})
Drittens, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es auch ein Zeichen an Russland, dass wir deren Präsenz dort akzeptieren, wenn sie bereit sind, den Genfer Prozess voranzutreiben, dass wir ihre Basen in Tartus und Latakia akzeptieren und dass wir sehen, dass Russland das Vakuum, das der Westen hinterlassen hat, gefüllt hat, aber eben auch an einem politischen Prozess interessiert ist. Das ist das Zeichen, das wir auch an Russland geben.
({14})
– Hören Sie zu, dann lernen Sie noch was, Herr Hampel.
({15})
Wenn wir das an diesen Bereich koppeln, dann, glaube ich, haben wir auch einen Hebel, um mit Russland auf diplomatischer Ebene wieder ins Benehmen zu kommen.
Viertens, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es notwendig, dass wir ein Zeichen an die Flüchtlinge geben: Bleibt in der Region, wir helfen euch. – Wir stützen hier eine Rückkehrperspektive, nicht durch Aufhebung der Sanktionen, sondern indem wir helfen – hier – in der Integration und in der Ausbildung
({16})
und – dort – dann mit der Bereitschaft, eine Zone zu schützen, wo die Flüchtlinge nahe ihrer Heimat wieder an Aufbau und Rückkehr denken können.
In diesem Sinne lehnen wir Ihre Anträge ab, aber leisten einen Beitrag für ein konstruktives Vorgehen unseres Bundestages.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({17})
Für die AfD-Fraktion hat das Wort der Kollege Frank Pasemann.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der derzeitigen Syrien-Politik offenbart sich ein weiteres Mal die Planlosigkeit und das Versagen der Bundesregierung. Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauers und Außenminister Maas’ Äußerungen in Bezug auf die Sicherheitszone könnten unterschiedlicher nicht sein. Und auch innenpolitisch offenbart sich ein Desaster.
In Deutschland halten sich derzeit rund 767 000 syrische Staatsbürger auf, die meisten davon in unseren Sozialsystemen. Durch die Ausweisung des syrischen Botschafters stehen ihnen drei diplomatische Botschaftsmitarbeiter gegenüber, allerdings kein Botschafter. Das Ergebnis für die syrischen Staatsangehörigen ist oft tagelanges Warten auf eine Bearbeitung der Anliegen. Warum ist das so? Weil diplomatische Beziehungen mit der Arabischen Republik Syrien seitens der Bundesregierung auf zwingend erforderliche Kontakte beschränkt worden sind. Damit ist es unmöglich, ein angemessenes Lagebild und eine brauchbare Einschätzung der Situation vor Ort in Syrien zu erhalten. Es gilt festzuhalten, dass die Regierung um Staatspräsident Baschar al-Assad in den befriedeten Teilen Syriens und damit dem Großteil des Landes nach wie vor die tatsächliche Regierung darstellt.
({0})
Um den großenteils befriedeten Konflikt nicht wieder oder nicht weiter anzuheizen,
({1})
ist es notwendig, die diplomatischen Beziehungen zu Syrien wieder zu intensivieren.
({2})
Die fortwährende Ächtung der Republik Syrien steht einem nachhaltigen Versöhnungs- und Wiederaufbauprozess diametral entgegen.
({3})
Das, meine Damen und Herren, kann nicht im Interesse Deutschlands sein.
({4})
Weiterhin mit der Nationalkoalition syrischer Revolutions- und Oppositionskräfte, der sogenannten ETILAF, zusammenzuarbeiten, heißt, den Sturz des rechtmäßigen syrischen Staatspräsidenten Assad zu einer Bedingung für ein friedliches Zusammenleben der Völker in dieser Region zu machen. Diese Politik bedeutet womöglich die Wiederaufnahme des Bürgerkrieges und damit einhergehender Gewalt in Syrien.
({5})
Es ist nun mal so, dass sich Außenpolitik vor allem an der Realität vor Ort orientiert und sich nicht nur nach dem Wunschdenken Einzelner auf der Regierungsbank richtet.
({6})
Das ist auch der Grund, weshalb die Sanktionen nicht greifen und dadurch keinerlei Zugeständnisse erreicht worden sind. Letztendlich wird durch diese Sanktionen und die damit verbundene Politik lediglich das Leid der syrischen Bevölkerung vergrößert.
({7})
Italiens Außenminister Luigi Di Maio, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und selbst der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages sehen durchaus die Möglichkeit, auch mit der Regierung Assad eine Friedensordnung zu verhandeln. Doch wieder einmal wurde die Bundesregierung von der Realität überholt. Eine friedens- und geopolitische Verantwortung der Bundesregierung für Syrien ist nicht ersichtlich. Von diesbezüglicher Kenntnis ist erst gar nicht zu sprechen. Dass Herrn Maas angesichts solcher Debatten bei der Regierungsbefragung letzte Woche nichts anderes einfiel, als Witze zu machen, zeigt erneut, dass er seinem Amt nicht gewachsen ist.
({8})
Das liegt wahrscheinlich auch daran, dass er seinen weltpolitischen Maßstab scheinbar nur aus Salongeschwätz ableitet.
Außenpolitisches Maß hat diese Bundesregierung nicht. Deutsche Interessen vertritt der deutsche Außenminister nicht. Es ist Zeit für eine neue Syrien-Politik, und wenn die Bundesregierung sie nicht leistet, dann wird die Opposition dieses Feld bestellen.
Vielen Dank.
({9})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort die Kollegin Elisabeth Motschmann.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die AfD legt uns vier Anträge vor. Das interessiert die Frauen Ihrer Fraktion herzlich wenig:
({0})
Zwei sind da, die dritte geht weg, die Fraktionsvorsitzende ist nicht da.
({1})
Wenn es um Krieg und Frieden geht, gehören die Frauen in dieses Parlament. Das können Sie denen mal mit herzlichen Grüßen bestellen.
({2})
Natürlich erfordert eine veränderte Sicherheitslage im Nahen Osten auch neue Antworten. Aber Ihre Antworten und Ihre Vorschläge sind unrealistisch. Sie sprechen im Antrag in der Überschrift von „Frieden sichern“.
({3})
Welchen Frieden meinen Sie, Herr Hampel? Es gibt im Augenblick keinen Frieden.
({4})
Allenfalls gibt es zwischendurch einen Waffenstillstand. Wir haben ja gehört, wie die Bevölkerung nach wie vor leidet.
Sie behaupten, dass der vielschichtige Bürgerkrieg in Syrien nunmehr weitgehend beendet ist.
({5})
Das ist falsch. Sie behaupten, dass die syrische Regierung ihr Land wieder weitgehend unter Kontrolle gebracht hat.
({6})
Falsch! Auch hier leiden Sie unter Realitätsverlust. Von Kontrolle oder gar Ordnung kann doch in Syrien zum jetzigen Zeitpunkt gar nicht die Rede sein, und das wissen Sie.
({7})
Das wissen Sie, und Sie werden auch nicht in bestimmte Regionen reisen, sondern allenfalls nach Damaskus.
({8})
Nordsyrien ist völkerrechtswidrig besetzt von unserem NATO-Partner Türkei.
({9})
Das stand übrigens hier drin, bevor Herr Nouripour das angemahnt hat. Amerika hinterlässt durch den Truppenabzug ein Machtvakuum. Erdogan und Putin bauen ihren Einfluss in der Region brutal aus.
({10})
Assad bombardiert weiterhin die Zivilbevölkerung. Von Menschenrechten keine Rede! Wieder sind Hunderttausende auf der Flucht. IS-Kämpfer sind frei und weiterhin fähig und willens, Anschläge in Syrien, im Irak und auch in Europa zu verüben.
({11})
– Herr Hampel, hören Sie doch mal zu. Das würde Ihnen guttun.
({12})
Dann werden nämlich auch Ihre Vorschläge besser und fallen nicht so aus wie in den Anträgen.
Sie wollen uns weismachen, dass Syrien befriedet ist. Allen Ernstes fordern Sie eine vollständige Aufhebung sämtlicher diplomatischer und wirtschaftlicher Sanktionen gegen das Assad-Regime.
({13})
Sie fordern die Normalisierung der diplomatischen Beziehungen sowie die Änderung unserer bisherigen politischen Haltung gegenüber Assad.
({14})
– Mit diesem Verbrecher gibt es keine normalen Beziehungen, Herr Hampel; das müssen Sie mal lernen.
({15})
Haben Sie all die Grausamkeiten des achtjährigen Bürgerkriegs mit mindestens 500 000 Toten vergessen? Haben Sie vergessen, dass Assad Chlorgas und Sarin gegen sein eigenes Volk eingesetzt hat? Sein Ziel, regierungsfeindliche Kräfte umzubringen oder zu vertreiben, nennt man ethnische Säuberung. Mit so einem Mann kann man nicht normal umgehen.
({16})
– Sie sollten still sein.
({17})
Sie haben völlig vergessen, dass dieser Schlächter immer noch am Werke ist.
({18})
Nun sollen wir also unsere diplomatischen Beziehungen wieder aufnehmen, normalisieren und die Sanktionen aufheben. Das kann nicht sein.
Sie fordern die Bundesrepublik auf, sich am wirtschaftlichen Aufbau der Region finanziell zu beteiligen. Das heißt, Sie zäumen das Pferd von hinten auf. Geht es Ihnen eigentlich wirklich darum, das Land wieder aufzubauen und der Bevölkerung vor Ort zu helfen?
({19})
Oder geht es Ihnen in Wahrheit darum, in Deutschland lebende syrische Flüchtlinge so schnell wie möglich loszuwerden?
({20})
Diese Menschen sind geflohen, um Schutz vor Krieg, Terror, Vergewaltigung und Tod zu finden. Deshalb ist Ihre Intention nicht richtig, sie so schnell wie möglich wieder loszuwerden.
Unser Ziel muss es sein,
({21})
den Kampf gegen den IS fortzusetzen, die humanitäre Lage in der Region zu stabilisieren
({22})
und konstruktive Vorschläge zur Stabilisierung von Syrien zu machen. Die Bundesregierung muss ihr sicherheitspolitisches Engagement sicherlich weiter fortsetzen, verstärken und in diesem schwierigen Geflecht versuchen,
({23})
mit den bestehenden Formaten,
({24})
unter anderem mit ihrem Sitz im Weltsicherheitsrat, für einen Weg in den Frieden zu sorgen.
({25})
Zum Schluss mein Fazit: Ich gratuliere der Bundesrepublik Deutschland, dass die AfD keine sicherheitspolitische und außenpolitische Verantwortung trägt.
({26})
Vielen Dank.
({27})
Der nächste Redner ist für die FDP-Fraktion der Kollege Alexander Graf Lambsdorff.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher! Wenn ich auf die Medienwand schaue, auf der unser Tagesordnungspunkt steht „Militärische Eskalation im Nahen Osten“, dann ist mein erster Gedanke „Israel“; denn Israel ist das Land, mit dem wir besonders eng verbunden sind. Es ist die einzige Demokratie im Nahen Osten, ein Rechtsstaat, ein hochentwickelter Industriestaat, ein Land der Freiheit, in dem Menschen ohne Furcht vor Antisemitismus leben können.
({0})
Israel ist das Land in der Region, mit dem wir hier in Europa die meisten Werte teilen.
({1})
Ich will auch in meiner Eigenschaft als Vorsitzender der Deutsch-Israelischen Parlamentariergruppe sagen: Unsere Beziehungen zu Israel sind einfach besonders. Israel würde nicht existieren, hätte es die Shoah nicht gegeben. Israel wird für uns nie ein Partner wie alle anderen sein. Wir gehen aufeinander zu, auch wenn es in diesen Zeiten der sehr engen freundschaftlichen Beziehungen den einen oder anderen politischen Streitpunkt mit Israel geben kann.
In dieser Situation, in der wir heute dieses Thema debattieren, ist Israel einer Vielzahl von Krisen und Bedrohungen in der unmittelbaren und weiteren Nachbarschaft ausgesetzt. Deutschland hat eine besondere Verantwortung für die Sicherheit Israels. Deswegen müssen wir auf die aggressive Rhetorik des Iran reagieren, der das Existenzrecht Israels nach wie vor glatt verneint. Meine Damen und Herren, das Existenzrecht Israels steht für uns außer Frage.
({2})
In unserer Außenpolitik muss es deswegen darum gehen, den negativen regionalen Einfluss des Iran zurückzudrängen, insbesondere wenn er Organisationen wie die Hisbollah unterstützt – Kollege Jürgen Hardt hat eben erwähnt, dass wir das Thema demnächst noch etwas stärker bearbeiten werden –, aber auch, wenn er den islamischen Dschihad im Gazastreifen unterstützt.
Während wir hier miteinander friedlich und sicher debattieren können, müssen die Menschen, muss die Zivilbevölkerung in Israel alle paar Stunden in Schutzräume, um Zuflucht vor den terroristischen Raketenangriffen zu suchen. Meine Damen und Herren, wir stehen fest an der Seite Israels und der Zivilbevölkerung angesichts dieser Terrorangriffe.
({3})
Es gibt allerdings in der Region auch positive Entwicklungen.
({4})
Es gibt eine Annäherung zwischen Israel und wichtigen Staaten der arabischen Welt, insbesondere Ägypten, aber auch Saudi-Arabien und anderen Staaten aus dem Golf. Ich würde mir wünschen, dass sich die Beziehungen Israels zu Jordanien wieder verbessern würden. Wenn dann hier im Deutschen Bundestag beantragt wird, wir mögen doch eine Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen Osten unterstützen, dann klingt das für mich nach Hans-Dietrich Genscher.
({5})
Hans-Dietrich Genscher war ein Außenminister, der mit der KSZE wirklich Gegensätze überwinden konnte. Deswegen: Auch wenn die AfD ansonsten immer danebenliegt: Von Hans-Dietrich Genscher lernen ist immer richtig.
({6})
Der Weg der Besserung steht Ihnen offen. Mehr Genscher, weniger Bismarck, darüber würden wir uns freuen.
({7})
Meine Damen und Herren, unser Ziel als Deutsche bleibt ein jüdischer demokratischer Staat Israel in anerkannten und dauerhaft sicheren Grenzen an der Seite eines unabhängigen, demokratischen und lebensfähigen palästinensischen Staates in einem befriedeten Nahen Osten. Das ist sehr anspruchsvoll. Aber es ist aller Mühe wert, wenn es um die Sicherheit Israels und Frieden in der Region geht.
Herzlichen Dank.
({8})
Der nächste Redner ist für die SPD-Fraktion der Kollege Dr. Karl-Heinz Brunner.
({0})
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer! Ein Bekenntnis zu Israel ist selbstverständlich, aber heute nicht unbedingt Gegenstand dieser Beratungen.
({0})
– Die gehören sicherlich dazu. Aber wir diskutieren jetzt nicht quer. Sie hören mir mal kurz zu!
Was wollen Sie, was will die AfD mit diesen Anträgen, die heute eingebracht worden sind? Sie wollen doch nichts anderes – die Kollegin Motschmann hat das auch schon angesprochen –, als die über 11 Millionen geschundenen Seelen, die vor Assad, dem Schlächter, der Giftgas gegen sein eigenes Volk einsetzt, geflohen sind, wieder in die Hände dieses Schlächters zurückführen. Das darf nicht sein, und das darf in diesem Hause, im Deutschen Bundestag, nicht auch nur annähernd eine Zustimmung erfahren.
({1})
Ich sage das ganz deutlich, weil hier manchmal offensichtlich Ursache und Wirkung verwechselt werden. Ich bin froh, dass der Kollege Nouripour den Ursprung in der Stadt Daraa, das Auflehnen der Bevölkerung gegenüber einem Despoten, angesprochen hat. Es ist nicht Assad gewesen, der dem Land Frieden gebracht hat, sondern es sind mehr oder weniger glückliche oder unglückliche Umstände gewesen, die dazu geführt haben, dass Frieden herrscht oder Krieg.
Ich sage ganz deutlich: Das Beispiel der KSZE zieht nicht.
({2})
Das zieht deshalb nicht, weil wir offensichtlich vergessen haben, dass die KSZE-Akte mit der Friedenssicherung
({3})
einen Schlusspunkt gesetzt hat, wir dafür aber vorher Frieden in Syrien und in der Region erreichen müssten. Wenn wir Frieden haben, können wir eine Art KSZE-Akte als Schlusspunkt setzen. Das wäre der richtige Weg.
Sie sehen ja in Ihrem Weltbild – die Kollegin Özoğuz hat es schon angesprochen – den Vorderen Orient Goethes – das ist eher veraltet – im Mittelpunkt, nicht die Zukunft. Deshalb ist es ja auch typisch, dass Sie in Ihrem Antrag das Wort „laizistische“ mit vier I schreiben,
({4})
obwohl das Wort üblicherweise mit drei geschrieben wird. Das zeigt die Flüchtigkeit bei diesem Antrag.
Mit Ihrem Antrag wollen Sie in erster Linie wirtschaftliche Sicherheit für Assad erreichen. Sie wollen nicht den Menschen vor Ort Stabilität geben. Und Sie sind keineswegs bereit, so wie Sie das bei Ihrer Privatreise nach Syrien schon getan haben, für die Menschen da zu sein, sondern Sie wollen mit Machthabern sprechen, um die Situation zu erzeugen, dass die geschundenen Menschen wieder zurückgeführt werden.
({5})
Wir haben nicht zuletzt durch den Fünf-Punkte-Plan von Außenminister Heiko Maas
({6})
sehr viel dazu beigetragen – und machen hier auf diplomatischem Weg weiter –, die Waffenruhe zu stabilisieren -
({7})
– das ist nämlich das Erste, was wir in dieser Region brauchen –, humanitäre Hilfe zu geben – Deutschland ist das zweitgrößte Geberland für humanitäre Hilfe in Syrien und hat bereits 500 Millionen Euro für 2019 zugesagt –, den politischen Prozess zu unterstützen, also ein Verfassungskomitee unter Leitung der Vereinten Nationen personell und finanziell zu unterstützen – dieses Land braucht eine Verfassung; dieses Land braucht die Grundlage für eine Versöhnung der Bürgerinnen und Bürger in Syrien und in dieser Region – und – nicht last, but not least, sondern zuvor – den Kampf gegen den IS fortzuführen. Ich persönlich weigere mich, von einem „Staat“ zu sprechen, denn der IS ist kein Staat, sondern eine Verbrecherorganisation, die aus dieser Region beseitigt werden muss.
({8})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lambsdorff?
Nein, das gestatte ich nicht.
({0})
Last, but not least sind internationale Partner einzubinden, den UN-Prozess fortzuführen, aber auch mit der Türkei und Russland bilateral zu sprechen.
Die Small Group on Syria unterstützt den politischen Prozess bereits. Die humanitäre Diplomatie der Geberkonferenzen arbeitet im Dialog mit entsprechenden Partnern und politischen Entscheidungsträgern. Im Kreis der EU, die in Ihrem Antrag nicht genannt wird, und der Vereinten Nationen setzt sich Deutschland für die Erhöhung und Bereitstellung von Geldern für humanitäre Hilfe ein. Deshalb ist es richtig und gut, dass wir uns in Deutschland und aus Deutschland heraus an diesem umfangreichen politischen Prozess in Syrien beteiligen. Denn ohne Frieden in dieser Region wird wirtschaftliche Hilfe und wird letztendlich auch eine Rückkehr der geschundenen Menschen an den Ort, an den sie wollen, ihre Heimat, nicht möglich sein. Ich glaube, dass es notwendig ist, dass diese Menschen in ihre Heimat erst zurückkehren, wenn sie dort in Sicherheit, Frieden und Freiheit leben können,
({1})
so wie dies bei uns selbstverständlich ist.
Vielen Dank.
({2})
Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Alexander Radwan, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir debattieren heute wie in der letzten Woche auch die Syrien-Thematik. Wenn ich sowohl nach links als auch nach rechts schaue, dann stelle ich fest: Es gibt immer sehr viele einfache Antworten auf hochkomplexe Fragen: Man habe diese Probleme in kürzester Zeit gelöst, wenn man nur das eine machen würde.
(Armin-Paulus Hampel [AfD]: Ich habe gerade gesagt: Es ist ein langer Prozess!
Ich kann den Zuschauern und den Gästen auf der Tribüne eigentlich nur sagen: Meine Damen und Herren, Menschen, die auf komplexe, immer schwieriger werdende Sachverhalte ganz einfache Lösungen geben, werden scheitern und bringen uns kein Jota voran.
({0})
Von daher: Hören Sie dort am besten weg!
Meine Damen und Herren, die USA werden kritisiert.
({1})
Es gilt zu Recht Kritik zu üben, aber nicht nur gegenüber den USA, sondern auch gegenüber Russland. Das Vakuum, das entstanden ist, wurde durch Russland, die Türkei, Iran und andere Staaten gefüllt. Umso wichtiger ist es, den Vorschlag der Bundesverteidigungsministerin ernst zu nehmen
({2})
und über Appelle hinaus endlich mal darüber nachzudenken, was man aktiv tun kann. Es wird auch wehtun, wenn man aktiv wird. Es gilt, nicht nur immer moralisierend am Rand zu stehen und zu sagen, wie es gehen sollte.
({3})
Meine Damen und Herren, mein Vorredner hat schon die fünf Punkte angesprochen: die Stabilisierung der Waffenruhe in Syrien mit Blick auf das kurdische Schicksal; humanitäre Hilfe; den politischen Prozess, also den Verfassungskonvent und die Finanzierung des Wiederaufbaus – und zwar nicht unkonditioniert –; die Einbindung der regionalen und internationalen Mächte; natürlich – nicht aus dem Fokus zu verlieren – den Kampf gegen den IS, der weitergehen muss. Ein Wiedererstarken des IS in diesem Bereich müssen wir auf jeden Fall verhindern, weil die Problematik sonst größer wird.
({4})
Dann sehen wir heute die Anträge. Es gibt einen über die Schaffung einer Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Vorderen Orient. Da ich das nicht im Duden gefunden habe, Frau Kollegin, habe ich es gegoogelt. Dort steht dann: Syrien, Iran, Palästina, Israel – dessen Existenzrecht von allen hier verteidigt wird –, Jemen, Libanon, und bei einem Treffer stand sogar Libyen drin. Meine Damen und Herren, jetzt brauchen wir eine Konferenz.
Sehr geehrter Kollege Graf Lambsdorff, ich schätze Hans-Dietrich Genscher. Aber ich finde es schade, dass Sie ihn heute mit der AfD in Verbindung bringen.
({5})
Das hat er nicht verdient.
Meine Damen und Herren, ich habe gerade die Problemfelder dargestellt, die es im Nahen Osten gibt. Heute gab es einen Redner der AfD – das werden Sie im Wortprotokoll nachlesen können –, der der Meinung ist – ich wiederhole es –, dass die Thematiken Syrien, Iran, Palästina, Israel, Jemen, Libanon und vielleicht noch Libyen in ein paar Jahren gelöst sind. Gratulation zu dieser Naivität! Wenn Sie mit diesem Ansatz Außenpolitik machen, meine Damen und Herren, sind Sie eine Gefahr für Europa und die ganze Welt.
({6})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hampel?
Nein.
({0})
– Zum Stichwort „Substanz“. Wenn Sie demnächst wieder nach Syrien fahren: Ich frage mich, ob die Anträge zu den diplomatischen Beziehungen mit entsprechender Aufgabe der Sanktionen die Vorbedingung waren, um offizielle Termine in Syrien zu bekommen.
({1})
Wenn Sie, meine Damen und Herren, nach Syrien fahren: Die Grundvoraussetzung in diesem Land – konzentrieren wir uns auf die Komplexität dieses Landes! – ist, dass neben Assad natürlich auch die Rebellen und auch die Kurden gehört werden müssen, damit sie sich in einem Friedensprozess wiederfinden. Darum erwarte ich von Ihnen, wenn Sie in den nächsten Tagen nach Syrien fahren,
({2})
dass Sie auch diese Gruppierungen treffen und mit ihnen einen Dialog führen, um dann einen gemeinsamen Vorschlag zu bringen, wie es dort weitergehen soll.
({3})
Besten Dank für die Aufmerksamkeit.
({4})
Vielen Dank, Kollege Radwan. – Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tribünen! Dieses Gesetz heute ist ein weiteres Element von vielen Maßnahmen, die wir uns in der Koalition vorgenommen haben, um die Strafprozesse moderner und effektiver zu gestalten, um die Opfer besser zu schützen und so für mehr Sicherheit in Deutschland zu sorgen. Deswegen ist das ein ganz wichtiges Gesetz, welches wir heute hier beschließen.
({0})
Bevor ich auf die einzelnen Gesetzesänderungen eingehe, will ich gleich zu Beginn einmal mehr sagen, dass die besten Gesetze nichts bringen, wenn wir für ihre Anwendung bei Polizei und Justiz zu wenig Personal haben. Uns als SPD war es deshalb sehr wichtig, dass die Länder die 2 000 Richter und Staatsanwälte, die wir im Pakt für den Rechtsstaat vereinbart haben, und das zugehörige weitere Personal für die Gerichte auch einstellen.
({1})
220 Millionen Euro – 220 Millionen Euro! – haben wir als Bund den Ländern für diese Personalmaßnahmen zur Verfügung gestellt. Wir erwarten, dass dieses Personal jetzt auch eingestellt wird, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Von Verteidigern aus der rechten Szene mussten wir leider öfter erleben, etwa in dem Fall vor dem Landgericht Koblenz, dass Beschuldigtenrechte missbräuchlich ausgeübt wurden, dass ins Blaue hinein Beweis- oder Befangenheitsanträge gestellt wurden, nur mit dem Ziel, den Prozess zu verzögern oder ihn gar zum Platzen zu bringen. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, kann sich ein starker Rechtsstaat nicht bieten lassen.
({3})
Wir regeln deshalb, dass ein Befangenheitsantrag eben nicht mehr dazu führt, dass die Hauptverhandlung unterbrochen werden muss, sondern weiterverhandelt werden kann. Innerhalb von zwei Wochen muss dann ein Gericht darüber entscheiden, ob ausnahmsweise ein Fall vorliegt, bei dem eine Befangenheit gegeben ist. Wenn dies in den ganz wenigen Fällen tatsächlich der Fall sein sollte, dann müssen diese zwei Wochen mit einer neuen Gerichtsbesetzung nachverhandelt werden. Insbesondere angesichts der Tatsache, dass nur sehr, sehr wenige Befangenheitsanträge tatsächlich erfolgreich sind, ist dies eine zumutbare Regelung für alle Beteiligten. Das wird auch zu einem effektiveren Strafprozess führen.
In der Neuregelung des Beweisantragsrechts wird der Begriff des Beweisantrags erstmals präzise beschrieben, was allen Beteiligten nützt. Dabei erfinden wir das Rad nicht neu, sondern greifen zurück auf Definitionen und Voraussetzungen, die der BGH in ständiger Rechtsprechung schon ausgeurteilt hat. Wir wollen, dass im Beweisantrag konkret benannt ist, warum der Antrag gestellt wird bzw. was das Beweisergebnis für den Prozess konkret erbringen soll. Wir halten es für zumutbar, dass wir dieses Konnexitätsprinzip einführen, damit Beweisanträge nicht mehr einfach ins Blaue hinein gestellt werden können.
Im Gesetzentwurf der Bundesregierung war noch die Regelung enthalten, dass ein Beweisantrag abgelehnt werden kann, wenn unter anderem der Antragsteller sich der Nutzlosigkeit der Beweiserhebung bewusst ist. Das war schon ein Vorwurf gegen die Strafverteidiger, geradezu ein Generalverdacht. An dieser Formulierung haben wir uns dann doch gestört und sie gestrichen. Ich glaube, die Anwälte stehen so nicht mehr unter dem Generalverdacht der Prozessverschleppung. Ich glaube, auch das war eine gute Maßnahme. Uns geht es nur darum, die im Einzelfall – wirklich nur im Einzelfall – ganz deutlich auftretenden Missbräuche zu verhindern.
Relativ wenig Kritik gab es – zu meiner eigenen Überraschung – in der Sachverständigenanhörung zu der notwendigen Regelung, dass die Polizei zukünftig die aus DNA-Spuren gewinnbaren äußeren Merkmale wie Hautfarbe, Haarfarbe, Augenfarbe und das Geschlecht für die Ermittlungstätigkeit nutzen kann. Ich finde, das ist eine sehr sinnvolle Regelung, weil die Polizei dann ganz konkret ihre Ermittlungen konzentrieren kann. Das hat insbesondere nichts mit Stigmatisierung oder Racial Profiling zu tun.
Bemerkenswert fand ich die Ausführungen von einem Sachverständigen in der Anhörung, der ein Beispiel aus Holland anführte. Dort war in unmittelbarer Nähe einer Flüchtlingsunterkunft ein schweres Verbrechen geschehen, und sofort gab es die zu befürchtenden Vorurteile. Der DNA-Test hat dann aber ergeben, dass es sich um einen blonden, hellhäutigen Täter handelte, und damit waren die Flüchtlinge von dem Verdacht und den Attacken, die es dort gab, befreit. Sie sehen: Die Stigmatisierung tritt hier gerade eben nicht ein. Ich finde, hier geht die Wahrheitsfindung vor, und genau dem dient es. Die Polizei kann dann effektiver ermitteln, und wir erhöhen dadurch die Wahrscheinlichkeit, dass der Täter rasch gefunden wird, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({4})
Vereinzelt gab es in der Debatte um dieses Gesetz Kritik an der Bündelung der Nebenklage. Ich finde, aus der Begründung wird doch deutlich, welche Fälle wir hier im Auge haben, nämlich Fälle wie etwa den Duisburger Love-Parade-Fall, wo es Hunderte Nebenkläger geben kann, weil eben schrecklich viele Menschen zu Tode gekommen sind oder schwer verletzt wurden. Wenn etwa Geschwister ein Elternteil verloren haben, dann haben sie gleichgelagerte Interessen, und dann, finden wir, ist es nicht erforderlich, dass sie jeweils einen eigenen Rechtsanwalt beigeordnet bekommen. Beispiele aus Skandinavien zeigen, dass hier keine Beschuldigtenrechte beschnitten werden, dass die Nebenkläger bei Bündelungen keine Nachteile haben. Im Übrigen bleibt auch unberührt, dass sich jemand selber einen Anwalt nimmt, ihn selber bezahlt und sich dann von ihm in der Nebenklage vertreten lässt.
Also, ich glaube, dass diese Regelung gerade den Opfern und auch den Angehörigen nützt, weil es eine schnellere Entscheidung im Strafprozess geben kann, und das dient gerade den Opfern und ihren Angehörigen.
({5})
Für richtig und sinnvoll halte ich auch die Regelung des § 58a StPO, wonach Vernehmungen bei Sexualstraftaten zukünftig zwingend aufgezeichnet werden müssen, wenn das Opfer dem zustimmt. Und wenn das Opfer nach Beendigung der Aufnahme nicht widerspricht, kann das Video sogar in der Hauptverhandlung vorgeführt werden und die Zeugenaussage ersetzen. Das hört sich jetzt recht technokratisch an, wird aber in der Praxis gerade bei den Sexualstraftaten zu mehr Verurteilungen der Täter führen; denn wir haben ja leider oft die Situation, dass prügelnde Ehemänner oder Partner oder Zuhälter die Frauen, wenn sie schon den Mut hatten, Anzeige zu erstatten, vor der Hauptverhandlung im Strafprozess so unter Druck setzen, dass sie eingeschüchtert sind und aus Angst vor Gewalt keine Aussage machen möchten. In genau diesen Fällen steht dann das Video zur Verfügung und kann, wenn die Frau nicht widersprochen hat, sogar als Zeugenaussage eingesetzt werden. Ich glaube, gerade wenn wir mehr Sexualstraftaten ahnden wollen, ist dies ein ganz wichtiges Mittel, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({6})
Gerne hätten wir diesem Gesetz, das ja den Titel „Modernisierung des Strafverfahrens“ trägt, eine weitere Regelung beigefügt, nämlich die audiovisuelle Aufzeichnung der Hauptverhandlung. Deren Vorteile sind aus unserer Sicht unbestreitbar; in vielen anderen Ländern gibt es das schon, mit den entsprechenden Vorteilen. Allen Beteiligten steht gerade in großen, längeren Prozessen der Verhandlungsstoff zur Verfügung, und alle Beteiligten können sich einfach darüber informieren, was etwa ein früherer Zeuge ausgesagt hat.
({7})
Wir bedauern sehr, dass die Union das blockiert hat. Umso mehr begrüßen wir, dass die Diskussion hierüber in den letzten Monaten immerhin dazu geführt hat, dass die Ministerin Frau Lambrecht noch in diesem Jahr eine Expertenkommission einberufen wird, an der insbesondere die Anwaltschaft beteiligt sein wird und die konkrete Vorschläge für die Aufzeichnungen erstellen wird. Wir werden die Ergebnisse dieser Expertenkommission auf jeden Fall nutzen für einen weiteren Anlauf, dies in der Strafprozessordnung zu verankern.
Ich komme zum Schluss. – Ich möchte mich ganz herzlich für die Erarbeitung dieses umfangreichen Gesetzespakets bei Ministerin Lambrecht, Herrn Staatssekretär Lange, beim Koalitionspartner, bei allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im BMJV und auch bei unseren Fraktionsmitarbeiterinnen und ‑mitarbeitern, die hier wirklich viel geleistet haben, bedanken und möchte noch eins sagen: Es wird nicht die letzte StPO-Änderung sein. Die Sachverständigenanhörung in unserem zugegebenermaßen sehr sportlichen Zeitplan hat sehr viele gute Impulse gebracht.
({8})
Die sind nicht verloren, sondern die nehmen wir bei der Beratung zur nächsten StPO-Änderung auf und werden sie diskutieren.
Herzlichen Dank.
({9})
Für die Fraktion der AfD hat das Wort der Kollege Roman Johannes Reusch.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dieser Gesetzentwurf oder, besser gesagt, seine Behandlung ist ein Musterbeispiel dafür – ich muss es ja so deutlich sagen –, wie man Gesetze nicht durchpeitschen sollte. Vor etwa zwei Wochen erhielt ich von der Presse eine Bitte um Stellungnahme zu dem Referentenentwurf. Ein, zwei Tage später wurde er im Bundeskabinett verabschiedet. Letzte Woche Donnerstag hatten wir hier die erste Lesung. Am Montag wurden die Sachverständigen angehört. Am Mittwoch war er Beratungsgegenstand im Rechtsausschuss; da haben wir nach meiner Erinnerung im Wesentlichen gar nicht darüber gesprochen, weil wir nämlich keine Zeit dazu hatten.
({0})
Und heute haben wir die zweite und dritte Lesung.
Selbst in diesem Haus ist das doch eine sehr ungewöhnliche Beschleunigung. Ein Grund dafür ist weder vorgetragen worden noch sonst ersichtlich, sodass man also Druck von oben vermuten kann. Diesem Druck hätte man sich lieber in besonnener Selbstbehauptung entgegenstellen sollen; denn abgesehen von allen anderen Fragen verstieß das auch gegen die Bosbach-Doktrin, nach der alles, was sachlich falsch ist, politisch nicht richtig sein kann.
Wenn man so einen Gesetzentwurf, noch dazu zu so einem hochkomplexen Thema, durchpeitscht, ist durch die Beschleunigung die Gefahr der Oberflächlichkeit evident, und damit besteht die erhebliche Gefahr, dass man beträchtliche Fehler begeht. Also sollte man die Finger von so was lassen. Das hätten wir locker auch noch in der übernächsten Sitzungswoche besprechen können, zumal hinzukommt, dass die Anhörung der Sachverständigen ausgesprochen ergiebig war. Das waren sehr gute Sachverständige, die alle exzellente Gutachten, wenn auch unterschiedlicher Richtungen, vorlegten. Einige haben einzelne Punkte des Gesetzentwurfs attackiert, andere haben sie verteidigt. Sie haben Alternativvorschläge unterbreitet, teilweise sogar ausformuliert. Das wäre es weiß Gott wert gewesen, sich damit mal einige Stunden seines Lebens ins stille Kämmerlein zurückzuziehen und sich das Punkt für Punkt anzusehen. Ich kann mir keinen Kollegen vorstellen, der in einer laufenden Sitzungswoche die Zeit dazu hat.
Ich hatte nach der Befragung auch den Eindruck, dass vonseiten der Koalition da doch deutlich mehr an Änderungen kommen würde. Dieser Eindruck trog; denn der im Ausschuss gestellte Änderungsantrag ist vom Umfang her relativ dünn und beschäftigt sich gerade nicht mit den spannenden Fragen, die die Sachverständigen aufgeworfen haben.
Ein Beispiel dafür, dass hier womöglich auch im BMJ schon die heiße Nadel geschwungen wurde, sind die Regelungen für die Dolmetscher. Es ist ja völlig richtig, dass man sich mal ein einheitliches Konzept überlegt, welche Anforderungen Dolmetscher erfüllen müssen, um den Beruf ausüben zu können. Aber wer hat denn bitte die Idee gehabt, beeidigte Dolmetscher nur für EU-Staatsangehörige vorzusehen? In der Praxis, im Strafrecht zumindest, braucht man Englisch, Französisch und Italienisch relativ selten, außereuropäische Sprachen jedoch sehr häufig.
({1})
Auch ein Sachverständiger aus der Praxis, ein Richterkollege, äußerte die große Befürchtung, dass als Folge dieser Regelungen den Gerichten nachher die Dolmetscher fehlen werden. Außerdem gibt es doch Tausende Dolmetscher in diesem Land, die seit Jahrzehnten im Geschäft sind und Firmen haben. Auf einmal droht ihnen am Ende ein Berufsverbot? War da nicht mal was mit dem Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb?
Also: keine Übergangsregelung, nichts drin. Immerhin hat die Koalition jetzt die Frist für die Anwendung um ein Jahr verlängert.
Es gibt also die Möglichkeit, diesen Gesetzentwurf in der nächsten Zeit wieder zu überarbeiten. Solide ist anders. Blutenden Herzens haben wir uns entschlossen, uns bei der Abstimmung zu enthalten.
Danke sehr.
({2})
Ich erteile das Wort der Kollegin Elisabeth Winkelmeier-Becker, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen im Präsidium! Liebe Kollegen im Plenum! Liebe Zuschauer auf den Tribünen! Ich denke, an diesem Freitag können wir auf eine ziemlich gute Sitzungswoche auch für die Rechtspolitik zurückblicken:
({0})
Wir verabschieden fünf Gesetze. Einmal geht es um die Stärkung der Aktionärsrechte, viermal machen wir Gerichtsverfahren unterm Strich besser; über Details haben wir gestritten, aber unterm Strich ist es insgesamt auf jeden Fall ein Gewinn.
Das wichtigste Gesetz davon debattieren wir jetzt, nämlich die Reform der Strafprozessordnung. Wir hatten interessante Anhörungen zum Strafprozessrecht und zum Mietrecht. Wir debattieren unsere Themen hier ganz ungewohnt zu guten Tageszeiten; sonst machen wir das sehr häufig um Mitternacht. Und wir haben einen richtig guten amtierenden Rechtsausschussvorsitzenden mit Heribert Hirte.
({1})
Also viel Grund zur Zufriedenheit am Ende dieser Sitzungswoche.
({2})
Ich möchte unterstreichen, dass gerade die Maßnahmen, die wir heute hier beschließen, zu echten Verbesserungen im Strafverfahren führen. Dabei ist unser Maßstab, dass wir Taten besser aufklären, dass wir Verfahren verkürzen, ohne die Rechte der Beschuldigten und Angeklagten zu beschneiden. Wir erreichen hier Verbesserungen für eine Vielzahl von Verfahren, nicht nur für die großen Verfahren, die immer als Beispiel herhalten müssen. Wir nehmen vielmehr den Sand aus dem Getriebe – so hat es Jens Gnisa, der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes, ausgedrückt.
Wir vermeiden in Zukunft Verzögerungen, von denen niemand etwas hat: das Opfer nicht, der unschuldige Angeklagte, der freigesprochen wird, nicht; im Prinzip hat auch derjenige, der hinterher verurteilt ist, nichts davon, wenn das Verfahren länger dauert. Niemand hat etwas davon, auch nicht die Zeugen, die Sachverständigen oder das Gericht, wenn unnötige Verhandlungstage erforderlich werden oder der Terminplan immer wieder gesprengt wird. Wir erreichen das, indem wir an kleinen Stellschrauben bei den Mitwirkungspflichten des Angeklagten drehen und trotzdem große Wirkung erzielen.
Vor allem wahren wir weiter die Rechte der Angeklagten; denn jeder Besetzungsfehler kann weiter geltend gemacht werden. Was sich ändert, ist: Er muss zügig geltend gemacht werden. Man darf damit nicht warten, bis das Verfahren angefangen hat, und muss es dann durchführen, bis es hinterher in der Revision geklärt wird.
Wir behalten des Weiteren das Recht bei, jeden Befangenheitsgrund geltend zu machen. Aber ein Antrag auf Befangenheit führt eben nicht mehr dazu, dass das Verfahren ausgesetzt werden muss. Es kann weiter verhandelt werden, und das hilft, den Zeitplan einzuhalten. Wir haben nicht mehr die Situation, dass das Gericht, bevor es überhaupt anfangen kann, gleich wieder ausgebremst wird, in gewisser Weise auch desavouiert und vorgeführt wird.
Wir hatten auch bisher schon die Möglichkeit, verschleppende Beweisanträge zurückzuweisen. Was sich ändert, ist, dass jetzt ein größerer Beurteilungsspielraum des Vorsitzenden geschaffen wird, der für sich zwar reversibel ist, aber in einem weiteren Rahmen in der Beurteilung des Vorsitzenden bleibt. Immer auf der sicheren Seite ist der Angeklagte, der mit seinen Beweisanträgen frühzeitig kommt, der in dem Moment, wo er weiß: „Da ist noch ein Zeuge, der etwas beitragen kann; hier wäre noch ein Gutachten einzuholen“, das sofort einbringt. Was sanktioniert wird, ist lediglich das taktische Verzögern, weil auch das das Verfahren sprengen kann.
Wir begrüßen, dass es in Zukunft eine weiter gehende DNA-Analyse gibt, die zusätzliche Hinweise auf die Täter gibt und die Täter deshalb überführen kann. Dabei ist klar, dass es nicht das Beweismittel sein wird, das alleine für sich einen Fall schon aufklärt; aber das gilt für alle Beweismittel. Mit der DNA-Analyse haben wir hier auf jeden Fall ein objektives Beweismittel, das die Aufklärungschancen einer Straftat deutlich verbessert. Wer ernsthaft will, dass wir die richtigen Täter ermitteln und sie hinterher auch verurteilen, kann dagegen nicht sein.
({3})
Das letzte Beispiel, das ich ansprechen möchte, ist die Aufklärung von Wohnungseinbrüchen. Sie wird einfacher. Hier sind häufig Banden am Werk. Man könnte sie überführen durch den Einsatz von Telekommunikationsüberwachung,
({4})
wenn etwa die Bandenmitglieder untereinander oder mit Hehlern Kontakt haben. Aber bisher ist die Reihenfolge falsch: Man muss schon zu Beginn der Ermittlungen deutliche Hinweise dafür vorlegen, dass hier eine Bande am Werk ist. Das ist aber häufig nicht möglich. Deshalb gibt es keinen richterlichen Beschluss für eine Telekommunikationsüberwachung. Das kehren wir jetzt um: Es reicht, einen Täter zu haben, der Anknüpfungspunkt für weitere Ermittlungen ist.
({5})
Dann wird sich häufig auch zeigen, dass eine Bande dahintersteckt.
Also: Viele Verbesserungen, auf die die Praxis wirklich wartet. Deshalb bitte ich um Zustimmung.
Vielen Dank.
({6})
Nächster Redner: für die FDP-Fraktion der Kollege Dr. Jürgen Martens.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dieses Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens, so heißt es, ist bei genauer Hinsicht alles andere als eine wirkliche Modernisierung.
Mit welchem Grundverständnis diese Koalition an eine Regelung im Strafverfahren geht, wird erkennbar, wenn Frau Winkelmeier-Becker hier von Mitwirkungspflichten der Angeklagten spricht.
({0})
Hallo? Mit welchem Vorverständnis betrachten Sie Strafverfahren? Da gibt es keine Mitwirkungspflichten. Nemo tenetur – niemand muss sich selbst belasten, niemand muss an seiner eigenen Verurteilung mitwirken. Wieso haben Sie das nicht verstanden?
({1})
Wenn Sie hier Rechtspolitik machen wollen, dann doch um Himmels willen nicht mit einem solchen Vorverständnis.
Genauso verfehlt ist es, wenn Sie davon sprechen, Sie würden Strafverfahren effektiver machen,
({2})
Opfer schützen, echte Verbesserungen bringen, Verfahren verkürzen; Herr Fechner versteigt sich zur Behauptung, mehr Sicherheit zu schaffen.
({3})
Das ist grober Unfug!
Wir haben 5 Millionen Ermittlungsverfahren im Jahr in der Bundesrepublik Deutschland laut PKS. Daraus werden 673 000 Gerichtsverfahren – 673 000! –; 13 000 davon landen beim Landgericht. Wenn in nur 3 Prozent der Fälle ein Befangenheitsantrag gestellt wird, handelt es sich um 400 Verfahren – 400 von 673 000 Gerichtsverfahren.
Sie setzen beim Befangenheitsrecht an, in der Hoffnung oder in der Vermutung, wie Sie hier äußern, Verfahren zu verbessern und zu beschleunigen. Von missbräuchlichen Anträgen ist hier noch gar nichts gesagt. Das Befangenheitsrecht betrifft nur 400 Verfahren überhaupt. Wie wollen Sie dort eine generelle Beschleunigung von Verfahren, gar eine Verbesserung der Sicherheit in Deutschland erreichen, meine Damen und Herren? Das ist doch offensichtlich unzutreffend.
({4})
Um es kurzzumachen: Sie verkürzen die Rechte von Beschuldigten. Sie erschweren Beweisantragsrechte, und Sie machen die Befangenheitsablehnung von Gerichten zum noch heftigeren Problem, als es das vorher schon war, meine Damen und Herren. Wirkliche Modernisierung könnten Sie ja machen, aber das tun Sie nicht. Da haben Sie Angst vor den, ich sage mal, interessierten Kreisen.
({5})
Sie könnten die Videoaufzeichnung von Hauptverhandlungen jetzt schon einführen; das könnten Sie machen. Das passiert übrigens schon in 20 anderen Ländern der Europäischen Union, ohne dass dort die Rechtspflege zusammenbricht. Wozu wollen Sie dann noch eine Expertengruppe einsetzen, die prüft, ob man das machen sollte oder nicht? Was erwarten Sie sich dort für einen Erkenntnisgewinn? Gar keinen. Das ist nichts weiter als das Sich-hinterm-Baum-Verstecken vor den Richtern, die dort Kontrollverlust für die eigene Verfahrensgestaltung wittern. Aber solche Kontrolle ist aus unserer Sicht in der Rechtsmittelinstanz durchaus sinnvoll.
({6})
Wenn Sie wirklich Modernisierung wollten, dann könnten Sie eins machen: eine elektronische Akte einführen, zumindest in den sogenannten UJs-Verfahren; das sind Verfahren ohne konkret benannte Beschuldigte. Das sind Anzeigen, die von der Polizei an die Staatsanwaltschaft weitergereicht und einfach eingestellt werden. Davon gibt es pro Jahr 3 321 000 Anzeigen. Da wird jedes Mal eine Akte angelegt, eine Papierakte. 3 321 000 Akten! Aber führen Sie die elektronische Akte ein? Nein, das lassen Sie bleiben. Stattdessen stürzen Sie sich auf nur vermutete 40, vielleicht 50 missbräuchliche Befangenheitsanträge im Rahmen von 673 000 Strafverfahren.
Ich sage Ihnen das ganz deutlich: Echte Modernisierung sieht ganz anders aus!
({7})
Für Die Linke hat das Wort der Kollege Niema Movassat.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist erst zwei Jahre her, dass das Strafverfahren erheblich reformiert wurde. Nun wollen CDU/CSU und SPD schon wieder ganz viel neu regeln. Rechtssicherheit geht anders. Sie hätten mindestens eine Evaluation Ihrer letzten Änderung machen sollen, bevor Sie wieder alles neu regeln.
({0})
Ihr Gesetzentwurf trägt den hübschen, aber falschen Titel „Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Strafverfahrens“. Der ehrliche Titel Ihres Gesetzentwurfs müsste lauten „Gesetz zur Beschleunigung des Strafverfahrens zulasten der Beschuldigtenrechte“.
({1})
Zwar gilt im Strafverfahren der Beschleunigungsgrundsatz, aber nicht, damit schnell bestraft wird, sondern, damit der Beschuldigte nicht überlang in Untersuchungshaft sitzt. Denn die Untersuchungshaft ist ein schwerer Eingriff in die Grundrechte, und der Beschleunigungsgrundsatz soll verhindern, dass Unschuldige zu lange in Untersuchungshaft sitzen. Die Beschleunigung geschieht also zugunsten des Beschuldigten. CDU/CSU und SPD verstehen Beschleunigung im Strafverfahren aber zulasten des Beschuldigten. Sie haben da etwas völlig missverstanden.
({2})
Sie schränken die Rechte des Verteidigers, Beweisanträge zu stellen, erheblich ein. Dabei sind Beweisanträge das einzige Mittel der Verteidigung, Gegenargumente zu den Vorwürfen der Staatsanwaltschaft zu liefern. Das Beweisantragsrecht ist also die einzige Chance des Beschuldigten, seine Unschuld nachzuweisen. Ohne jegliches belastbares Zahlenmaterial unterstellen Sie Strafverteidigern, Beweisanträge häufig zur Verschleppung von Verfahren zu stellen. Ihre Lösung ist, das Beweisantragsrecht einzuschränken.
Sie wollen regeln, dass ein Richter einen Beweisantrag ablehnen kann, wenn er meint, dieser sei nicht sachdienlich und die Verteidigung wisse dies. Ob diese Kriterien zutreffen, entscheidet alleine der Richter. Sie wollen die Kontrolle über diese Entscheidung sogar der Revision entziehen. De facto kann ein Richter dann Beweisanträge nach eigener Entscheidung ablehnen und muss nicht fürchten, dass das in der Revision kontrolliert wird. Das ist nicht nur ein Eingriff in die Rechte des Beschuldigten, sondern es verstößt auch gegen das Rechtsstaatsprinzip.
({3})
Ihr Gesetzentwurf ist an dieser Stelle sogar ein Rückschritt vor die Zeiten des Kaiserreichs. Es war das Reichsgericht, welches ermöglicht hat, dass die Ablehnung von Beweisanträgen in der Revision kontrolliert wird. Sie fallen also hinter rechtsstaatliche Standards des Kaiserreichs zurück. Das sollte Ihnen echt zu denken geben!
({4})
Zusätzlich greifen CDU/CSU und SPD in das Befangenheitsrecht zulasten des Beschuldigten ein. Wenn ein Verteidiger den Richter für befangen hält, darf der Richter nach ihrem Gesetzentwurf sogar noch zwei Wochen weiter verhandeln. Das begründen Sie mit der nicht belegten Behauptung, Befangenheitsanträge würden oft missbräuchlich gestellt. Richtig wäre, zu regeln, dass über die sehr wenigen Befangenheitsanträge, die es überhaupt gibt, schnell und ordnungsgemäß entschieden wird.
({5})
Dann wollen Sie noch die Besetzungsrüge neu regeln. Der Verteidiger soll binnen Wochenfrist die Besetzung des Gerichts rügen, also die komplizierte Frage klären, ob das Recht auf einen gesetzlichen Richter gewahrt ist. Tut er das nicht innerhalb einer Woche, kann er es nicht mehr rügen. Aber alle Strafverteidiger sagen, dass Ihr Vorschlag unpraktikabel und realitätsfremd ist.
In Ihrem Entwurf bauen Sie die DNA-Analyse aus. Nun sollen auch Haut- und Augenfarbe analysiert werden dürfen. Dabei sind die Ergebnisse der DNA-Analyse nur Hypothesen, keine Gewissheiten. Gewiss ist aber, dass Ihr Gesetzentwurf Racial Profiling legitimiert.
Der Gesetzentwurf von CDU/CSU und SPD ist ein Angriff auf Beschuldigtenrechte. Er ist geprägt von einem latenten Misstrauen gegenüber der Anwaltschaft. Wir als Linke werden das ablehnen. Sie hätten besser einen Entwurf vorgelegt, der die audiovisuelle Aufzeichnung des Strafprozesses ermöglicht, damit man bei der Überprüfung von Urteilen nicht nur auf die schriftlichen Notizen des Richters angewiesen ist, sondern damit ein wirklich unabhängiges Bild vom Prozess möglich ist. Das wäre eine Modernisierung zugunsten des Beschuldigten, und das wäre ein echter Beitrag für die Stärkung des Rechtsstaates gewesen.
Danke.
({6})
Die nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Canan Bayram.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Modern geht anders – das kann man zu diesem Gesetzentwurf sagen, den Sie vorgelegt haben, in dem Sie vorgeben, modernisieren zu wollen; aber an den wesentlichen Punkten scheitern Sie. Deswegen sage ich Ihnen ganz klar: Modern geht anders. Modern ist dieser Gesetzentwurf nicht.
({0})
Es könnte einem ja egal sein, dass Sie modern sein wollen und es nicht sind; aber es ist uns nicht egal, weil Sie die Rechte von Beschuldigten und Verteidigern einschränken. Frau Winkelmeier-Becker, wenn Sie sagen: „Wir haben die Besetzungsrüge doch verbessert, indem wir die Fristen verkürzt haben“, dann frage ich mich: Wo waren Sie in der Anhörung? Haben Sie den Anwaltskollegen nicht zugehört, die gesagt haben: „Das ist in Teilen faktisch unmöglich“? Da verstehe ich Sie, ehrlich gesagt, nicht. Mit uns wird es so eine Verkürzung der Beschuldigten- und Verteidigerrechte nicht geben.
({1})
Deswegen kann ich auch nur feststellen, dass Sie hier in weiten Teilen, ich sage mal, einseitig ausgemacht haben, wo angeblich die Schuld liegt, wenn Verfahren nicht so schnell ablaufen, wie wir uns das, glaube ich, alle wünschen.
({2})
Wir sind uns ja im Ziel einig, dass wir gerne Verfahren hätten, die im Gleichgewicht mit bestehenden Rechten tatsächlich in einer Zeit erfolgen, in der es sowohl für die unschuldig vor Gericht Stehenden als auch für diejenigen, die verurteilt werden müssen, eine schnelle Antwort geben muss. Im Ziel sind wir uns einig; aber auf diesem Weg erreichen Sie dieses Ziel nicht. Ich hätte mir gewünscht, nach der Anhörung wären wir uns auch darin einig.
({3})
Wir sind nicht die Einzigen, die die DNA-Analyse, die Sie jetzt eingebracht haben, kritisieren. Sie alle haben wahrscheinlich wie wir die E-Mails und Stellungnahmen dazu bekommen. Ich will aus einer zitieren: Wir kritisieren, dass die Gefahr eines rassistischen Diskriminierungseffekts nicht ernst genommen wird. Ebenso erfolgt mit der Ausweitung der DNA-Analyse, so wie sie in diesem Gesetzentwurf vorgesehen ist, ein massiver Einschnitt in bisherige Datenschutzstandards, von dem potenziell alle Bürgerinnen und Bürger betroffen sein werden. – Dass es bestimmte Gruppen besonders diskriminiert, muss man hier, glaube ich, nicht noch mal ausdrücklich erwähnen.
Eine ähnliche Stellungnahme hat es auch vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma gegeben. Man könnte sich fragen: Warum riskieren Sie so starke Kritik für ein Verfahren, das Sie einführen, das so ungenau und so unsicher ist, dass selbst die Ermittlungsbeamten dieses Instrument gar nicht brauchen und nicht einsetzen wollen? Bayern ist das beste Beispiel. Da ist es eingeführt und wohl erst einmal angewandt worden. Das heißt doch, die Ermittler brauchen dieses Instrument nicht – und auch wir sind dagegen.
({4})
Wenn Sie hätten modernisieren wollen, dann hätten Sie die audiovisuelle Dokumentation, die digitale Dokumentation des Verfahrens angehen können. Ich bin weiterhin dafür offen, darüber mit der Expertenkommission zu diskutieren. Ich freue mich, dass dort etwas passiert. Ich glaube, es wird nicht ganz einfach, gegen den Widerstand einiger Akteure eine Regelung einzuführen, die sowohl leistbar als auch bezahlbar ist.
Ich kann außerdem feststellen: Auch bei der Modernisierung haben Sie sich vor dem Thema V-Leute und dem Verbot der Tatprovokation gedrückt. Das alles haben Sie in diesem Gesetzentwurf nicht angefasst. Deswegen gilt: Modern geht anders.
({5})
Wir lehnen Ihren Gesetzentwurf ab.
({6})
Der Kollege Axel Müller ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir wollen heute diesen Gesetzentwurf zur Modernisierung des Strafverfahrens verabschieden. Er ist ein, denke ich, gutes Beispiel dafür, wie inhaltlich gute Gesetzgebung aussehen kann.
({0})
Die Strafprozessordnung wird dadurch besser, weil praxistauglicher. Im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart: „Wir werden den Rechtsstaat handlungsfähig erhalten.“ Das ist uns in jeder Hinsicht gelungen, zunächst einmal durch den Pakt für den Rechtsstaat. Wir haben in dieser Woche in der Fraktion erfahren, dass von den 2 000 neuen Stellen bei Gerichten und Staatsanwaltschaften bereits über 1 200 geschaffen worden sind. Wir haben den Ländern dafür 220 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Ich bin mir sicher – Justiz ist eben Ländersache –, dass auch auf Landesebene die elektronische Akte eingeführt werden wird. Baden-Württemberg ist da schon sehr weit, Bayern auch. Ich weiß nicht, Herr Dr. Martens, wie weit Sachsen ist.
({1})
Da hatten Sie ja mal Verantwortung.
Wir brauchen nicht nur Arbeitskräfte, meine sehr geehrten Damen und Herren; vielmehr muss Arbeitskraft auch effizient eingesetzt werden. Jeder Handwerker weiß, dass er ohne das richtige Handwerkszeug seine Arbeit nicht gut und auch nicht in einer angemessenen Zeit erledigen kann.
Ich habe vor einer Woche hier über meine fast zwei Jahrzehnte dauernden Erfahrungen als Mitarbeiter der Justiz eine Art Augenzeugenbericht abgeliefert und habe auf die nachteiligen Veränderungen, die sich in der Vergangenheit eingestellt haben, was Zeitdauer, aber auch Probleme im Verfahrensablauf anbelangt, hingewiesen. Dieses Gesetz ist aus meiner Sicht die richtige Antwort auf die geschilderten Fehlentwicklungen. Da bedarf es auch keines Aufschubs, Herr Kollege Reusch. Wenn der Rechtsstaat in Schwierigkeiten gerät, ist Eile angesagt.
Dass der Gesetzentwurf die richtige Antwort ist, denke ich, hat auch die an diesem Montag stattgefundene Sachverständigenanhörung gezeigt. Ich habe selten in einer Sachverständigenanhörung so einmütige Aussagen gehört. Es wurde gesagt, dass der Gesetzentwurf in die richtige Richtung geht und deshalb so viel Zuspruch erfährt.
Ich kann nachvollziehen, dass es der Verteidigerseite nicht schmeckt, wenn ihre Möglichkeiten, die Durchführung des Verfahrens zu erschweren, eingeschränkt werden. Letztlich ist es aber auch im Interesse der Mandanten, dass ein Verfahren beschleunigt durchgeführt wird. Nicht selten befinden sie sich in Haft, und es ist ein Verfassungsgrundsatz, dass gerade in diesen Fällen dem Beschleunigungsgrundsatz in besonderem Maße Rechnung zu tragen ist.
Einen Wermutstropfen hat das Ganze aus meiner Sicht dennoch. Wir haben mit der Möglichkeit der audiovisuellen Aufzeichnung der Vernehmung von Zeugen zwar den Opferschutz verbessert – nicht nur da: die Kollegin Högl hat in der letzten Woche auch darauf hingewiesen, dass wir im Bereich der Sexualdelikte den Opferschutz bei der Ausdehnung der Nebenklage verbessert haben –, aber ich glaube, dass diese Art des Opferschutzes, wie wir sie hier vorgenommen haben, in der Praxis nicht besonders viel nützt; denn letztendlich wird man nicht darauf verzichten können, bei einer Aussage-Aussage-Konstellation, gerade bei Sexualdelikten, das Opfer dann doch in die Hauptverhandlung zu laden, um die Glaubhaftigkeit seiner bisherigen Aussagen mit Blick auf eine Aussagekonstanz zu überprüfen.
Entsprechend hätte ich mir daher eine etwas andere Fassung gewünscht; aber an dieser Stelle müssen wir, glaube ich, den neuen Weg erst einmal beschreiten, um dann zu sehen, wie tauglich er ist.
({2})
Wir sind ja immer in der Lage, Reformen zu machen.
Zum Schluss möchte ich doch noch auf die hier mehrfach genannte Videoaufzeichnung der Hauptverhandlung Bezug nehmen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es geht um die landgerichtliche Hauptverhandlung. Sie hat eine Instanz. Die Revision prüft das landgerichtliche Urteil auf Rechts- oder Verfahrensfehler, und zwar nicht dadurch, dass die Richter ständig in die Akten gucken und Zeugenaussagen lesen, aber auch nicht dadurch, dass sie Videoaufzeichnungen gucken, sondern anhand des ihnen vorgelegten Urteils und des Protokolls über die Förmlichkeiten. Was soll hier bitte eine Videoaufzeichnung, Herr Movassat? Ich denke, so wie wir es gemacht haben, ist es in Ordnung. Lassen Sie uns das deshalb heute auf den Weg bringen!
Danke schön.
({3})
Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit der heutigen Reform des Strafverfahrens setzen wir einen weiteren Baustein des Pakts für den Rechtsstaat um. Wir haben immer gesagt, dass wir das Vertrauen der Menschen in die Handlungsfähigkeit des Rechtsstaats erhöhen wollen, indem wir die Verfahren beschleunigen und dafür Sorge tragen, dass mehr Personal bei Gerichten und Staatsanwaltschaften vorhanden ist. Wir haben geliefert. Wir setzen damit ein wichtiges Versprechen des Koalitionsvertrags um.
Das Strafverfahren, meine Damen und Herren, dient der Findung der Wahrheit. Es geht darum, die Unschuld von Beschuldigten nachzuweisen und gleichermaßen Täter durch eine Verurteilung ihrer Gerechtigkeit zuzuführen. Wir werden im Rahmen dieser Strafverfahrensreform dafür Sorge tragen, dass der Rechtsstaat handlungsfähiger wird, weil nämlich all die Möglichkeiten, die Strafverfahren zu beschleunigen, auch dazu dienen, dass Kapazitäten frei werden.
Natürlich gibt es nur wenige große Verfahren, die lange dauern und viele Kapazitäten binden. Aber wenn Richter und Staatsanwälte hier wieder entsprechend mehr Freiraum haben, dann können die Staatsanwaltschaften und die Gerichte auch in den Zehntausenden von kleineren Verfahren schneller handeln. Das dient letzten Endes dem Rechtsschutz und der Rechtsstaatlichkeit. Deswegen ist das eine gute Reform.
({0})
Für uns steht vor allen Dingen der Opferschutz im Mittelpunkt.
({1})
Wir wollen bei der Frage der Wohnungseinbruchsdiebstähle mehr Handlungsspielraum für die Strafverfolgungsbehörden schaffen; denn es kann nicht sein, dass auf der einen Seite der Wohnungseinbruchsdiebstahl zu Recht ein Verbrechen ist und die Strafverfolgungsbehörden auf der anderen Seite nicht die Möglichkeit haben, auch eine Telekommunikationsüberwachung anzuordnen. Wer reihenweise in Privathäuser einbricht, der muss auch damit rechnen, dass der Staat mit der TKÜ-Maßnahme dafür Sorge trägt, dass er auch geschnappt wird. Das sind wir denjenigen schuldig, die unter Wohnungseinbruchsdiebstahl leiden.
({2})
Es ist angesprochen worden: Wir brauchen auch die DNA-Analyse in Bezug auf Haarfarbe, Augenfarbe und Hautfarbe von Verdächtigen. Es ist bislang so, dass sogenannte Reihenuntersuchungen nur nach dem Merkmal des Geschlechts vorgenommen werden können. Wir wollen das erweitern, damit die Strafverfolgungsbehörden zielgenauer ermitteln können. Wir werden hier nicht irgendetwas verabschieden, was in Richtung Racial Profiling geht; ich will das mit allem Nachdruck zurückweisen,
({3})
weil das eine falsche Erzählung in die Welt setzt. All die Merkmale, für die wir die Möglichkeit der Analyse einführen, sind solche, die auch ein Zeuge erkennen kann. Es ist nichts, was irgendwie tiefer geht. Es geht darum, dass die Strafverfolgungsbehörden, die Polizei sich auf das konzentrieren können, was sachdienlich ist. Deswegen, meine Damen und Herren, sollten wir nicht davon sprechen, dass wir hier im Bereich des Opferschutzes in eine falsche Richtung gehen. Der Opferschutz ist ein Kernanliegen von CDU und CSU.
({4})
Ein letzter Punkt. Es ist viel über die audiovisuelle Aufzeichnung der Hauptverhandlung gesprochen worden. Das Thema ist komplex. Wir sollten es nicht zwischen Tür und Angel besprechen. Daran hängt nämlich nicht die Frage, wie ich es technisch umsetze, sondern, was ich mit der Revision und all den rechtsstaatlichen Verfahren mache. Deswegen ist es richtig, dass wir dieses Thema in die Expertenkommission geben und besonnen darüber nachdenken, heute aber als Teil des Pakts für den Rechtsstaat diese Strafverfahrensreform beschließen, weil wir damit das Vertrauen in den Rechtsstaat stärker festigen.
Herzlichen Dank.
({5})
Vielen Dank, Kollege Dr. Ullrich. – Ich schließe die Aussprache zu Tagesordnungspunkt 27.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist an der Zeit, die sozialen Sicherungssysteme zu stärken, und zwar insbesondere die Arbeitslosenversicherung.
({0})
Die Transformation durch Digitalisierung und Klimawandel sowie eine abschwächende Konjunktur verstärken sich gerade gegenseitig. Unternehmen streichen Stellen und verkünden Produktionsverlagerungen, anstatt gemeinsam mit den Beschäftigten Zukunftsperspektiven zu entwickeln. In diesen Zeiten wirtschaftlicher Umbrüche ist eine aktive Sozialpolitik notwendig. Soziale Risiken dürfen nicht allein den Beschäftigten aufgebürdet werden.
({1})
Es waren schließlich nicht die Beschäftigten bei Conti, Bosch oder Daimler, die verschlafen haben, auf neue Technologien zu setzen. Es waren auch nicht die Beschäftigten von Miele, Karstadt oder Real, die die wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu verantworten haben. Aber genau diese Beschäftigten und ihre Familien haben jetzt Angst um ihre Zukunft, und das ist nicht hinnehmbar.
({2})
Neben Investitionen und einer aktiven Beschäftigungspolitik brauchen wir Instrumente des Kurzarbeitergeldes und der Qualifizierung und wir brauchen eine Arbeitslosenversicherung, die ihren Namen auch verdient hat.
({3})
Die jetzige Arbeitslosenversicherung ist eher zu einem Almosensystem verkommen: Nach zwölf Monaten kommt Hartz IV, egal wie lange jemand gearbeitet und einbezahlt hat. Das muss man sich einmal vorstellen: Menschen müssen nach 10, 20 oder noch mehr Jahren Arbeit wie Bittsteller aufs Amt, ihre finanzielle Situation offenlegen und ihr Erspartes aufbrauchen, bevor sie Geld bekommen. Jede Arbeit gilt als zumutbar, egal wie schlecht bezahlt sie ist und ohne dass die eigentliche Qualifikation berücksichtigt wird. Deswegen boomt der Niedriglohnbereich so. Das alles entwertet die Lebensleistung von Menschen. Diese Demütigungen sind nicht zu akzeptieren.
({4})
An dieser Stelle muss ich als ehemalige Betriebsrätin einmal sagen, was mich echt aufregt: Es ist eine Unverschämtheit, so zu tun, als ob Arbeitslosigkeit selbst verursacht ist und man nur die Daumenschrauben immer weiter anziehen müsste. – Dadurch entsteht doch kein einziger Arbeitsplatz.
({5})
Tausende Menschen gehen in diesen Tagen auf die Straße und demonstrieren für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze. Menschen wollen arbeiten. Ich bin es so leid, immer genau diesen einen Fall zu diskutieren, wo vermeintlich jemand in der Hängematte liegt. Diese Diskussion ist so armselig.
({6})
Wir sorgen mit unserem Konzept dafür, dass die Kolleginnen und Kollegen, die ihre Arbeit verlieren, umfassend abgesichert sind. Das Konzept ist einfach und gerecht: Je länger jemand einbezahlt, umso länger ist er geschützt.
({7})
Das Arbeitslosengeld muss höher sein, 68 Prozent. Es muss früher greifen und deutlich länger gezahlt werden. Im Anschluss daran gibt es das neue Arbeitslosengeld Plus in Höhe von 58 Prozent, und zwar genauso lange wie vorher das Arbeitslosengeld.
Ich mache das einmal an meinem Beispiel fest: Ich war 27 Jahre in einem Betrieb beschäftigt. Wäre ich danach arbeitslos geworden, hätte ich für 37 Monate den Anspruch auf Arbeitslosgengeld und danach noch einmal 37 Monate auf Arbeitslosengeld Plus. Das ist wirkliche Sicherheit.
({8})
Ich weiß nicht, wer von Ihnen schon einmal erlebt hat, meine Damen und Herren, wie es ist, wenn die Abteilung oder ein ganzer Betrieb dichtgemacht wird. Ich musste in meinem Leben schon mehrmals Sozialpläne verhandeln. Die Kündigungen ziehen den Menschen den Boden unter den Füßen weg. Geben wir ihnen doch die Zeit und die Sicherheit, sich zurechtzufinden, sich einen neuen Job zu suchen oder sich entsprechend zu qualifizieren.
({9})
Nun zur Finanzierung: Unser Arbeitslosengeld Plus ist eine beitragsfinanzierte Leistung. Das hat zwei Vorteile: Zum einen bleiben die Ersparnisse unangetastet. Das heißt, das, was man sich von seiner Hände Arbeit aufgebaut hat, bleibt bestehen. Zum Zweiten werden die Arbeitgeber mit in die finanzielle Verantwortung genommen.
({10})
Deswegen sind wir auch strikt dagegen, im Zuge der Grundrente zum zweiten Mal in dieser Legislatur die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zu senken.
({11})
Die Beschäftigten haben von diesen paar Euro fünfzig überhaupt nichts, es geht wieder einmal ausschließlich darum, die Arbeitgeber zu entlasten.
({12})
Aber genau die dürfen sich in Zeiten der Krise eben keinen schlanken Fuß machen.
({13})
Ich höre an Ihrem Zwischengeschrei genau das, was ich mir gedacht habe. Sie schreien im Chor mit den Unternehmen, dass das alles nicht finanzierbar wäre usw. Aber erstens gibt es genügend Rücklagen in der Arbeitslosenversicherung, wenn man sie nicht dauernd demontieren würde.
({14})
Und zweitens stellen Sie diese Frage komischerweise nie, wenn es darum geht, die Unternehmen mit Milliarden von Steuergeschenken zu beglücken.
({15})
Wir haben in Deutschland kein Problem mit der Wettbewerbsfähigkeit, sonst wären wir nicht Exportweltmeister. Wir haben ein Problem mit sozialer Ungerechtigkeit. – Da können Sie noch so schreien, Herr Whittaker.
({16})
Soziale Unsicherheit erodiert gesellschaftlichen Zusammenhalt. Deswegen, liebe Bundesregierung: Es ist keine Zeit mehr für den kleinsten gemeinsamen Kompromiss, große Würfe sind notwendig. Die Linke sagt: als Minimalschutz die sanktionsfreie Mindestsicherung und darüber hinaus das neue Arbeitslosengeld und Arbeitslosengeld Plus.
({17})
Bevor gleich wieder der Vorwurf kommt: Natürlich steht weiterhin der Kampf für gute, tariflich bezahlte Arbeit an erster Stelle. Deswegen von dieser Stelle aus solidarische Grüße an all die Kolleginnen und Kollegen, die für ihre Arbeitsplätze, die für gute Arbeit demonstrieren, heute die Kolleginnen und Kollegen des Bayerischen Rundfunks.
Vielen Dank.
({18})
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Albert Weiler, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren auf der Tribüne und vor den Bildschirmen! Jetzt haben wir wieder Grimms Märchenstunde oder Märchenminuten gehabt.
({0})
Es ist schon erstaunlich, mit welchem Ausgabevolumen die Linke Deutschland retten will bzw. Deutschland umfunktionieren will. Keiner soll mehr arbeiten, jeder soll Geld bekommen.
({1})
Von der Arbeitslosigkeit gleich in die Grundrente! Leute: Arbeiten ist out bei der Linken. Es ist schon sehr, sehr erstaunlich. Das ist aber alles nicht schlimm. Wir kennen Sie und Ihre Märchenstunde. Deshalb werde ich das jetzt geraderücken.
Die Koalitionsparteien – ich hoffe, dass die Linken zuhören – wollen Integration in Arbeit ermöglichen und den Beschäftigten Perspektiven geben. Das will Die Linke mit Ihren Anträgen immer wieder verhindern. Eine Verlängerung der Rahmenfrist und eine Verkürzung der Anwartschaftszeiten setzen aus unserer Sicht absolut falsche Anreize. Vor allem Ältere und langjährig Beschäftigte tragen mit ihrer Erfahrung und ihren besonderen Qualifikationen zum Erfolg eines Unternehmens bei. Die wollen Sie den Unternehmen wegnehmen.
({2})
Es ist wichtig, dass präventiv Qualifizierungsmaßnahmen in den Betrieben stattfinden. Das gewährleisten wir von CDU/CSU und SPD. Mit dem Qualifizierungschancengesetz haben wir die richtigen Weichen gestellt.
Meine Damen und Herren von den Linken, im Unterschied zu Ihnen wollen wir niemanden in der Arbeitslosigkeit zurücklassen. Sie schlagen vor, die Verweildauer in der Arbeitslosigkeit zu verlängern, was es den Menschen immer schwerer macht, zurück in ihr geordnetes Arbeitsleben zu finden.
({3})
Das entnehme ich Ihrem Antrag; da helfen auch die Zwischenrufe nicht. Sie helfen mit Ihrem Antrag niemandem, weder den Beitragszahlern noch den Unternehmen und am wenigstens den Beschäftigten, die aus meiner Erfahrung eine gute Arbeit der Arbeitslosigkeit jederzeit vorziehen.
({4})
Eine Verlängerung der Arbeitslosigkeit, die eine Rückkehr ins Arbeitsleben verhindert, können und werden wir auch in Zukunft nicht unterstützen.
Die Rücklagen der Bundesagentur für Arbeit scheinen Sie zu motivieren, Geld für Arbeitslosigkeit auszugeben, anstatt den Menschen zu helfen, wieder in Arbeit zu finden. Wir hingegen schaffen durch unsere gezielten und effizienten Programme und den Einsatz der Mittel in Bildung und Ausbildung mehr Gerechtigkeit und sorgen dafür, dass die Beiträge zielführend eingesetzt werden. Weiterhin entlasten wir in dieser Legislatur zum wiederholten Male Arbeitnehmer und Unternehmen; das haben Sie vorhin falsch dargestellt. Wir senken für beide die Beiträge.
({5})
– Danke. – Als Gesetzgeber reagieren wir damit flexibel und effizient auf die weiterhin sehr stabilen Beschäftigungszahlen.
Der Arbeitsmarkt wird sich durch Technik und Innovation verändern. Wir merken: Die Digitalisierung und der Umweltschutz treiben den Strukturwandel in der deutschen Wirtschaft voran und führen zu fundamentalen Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt. Die Anforderungen an die Qualifikationen verändern sich. Wir werden daher zusätzliche Anreize für die Qualifizierung von Beschäftigten schaffen. Darüber hinaus werden wir Betriebe und Arbeitnehmer bei den notwendigen Anpassungsprozessen unterstützen, und dafür nehmen wir viel Geld in die Hand. Sie hingegen wollen die Menschen weiter in der Arbeitslosigkeit verharren lassen,
({6})
die sich dann zwangsläufig schwerer tun, wieder Arbeit zu finden. Wenn jemand sechs oder sieben Jahre arbeitslos ist: Wie will der sich wieder schnell integrieren? Und das wollen Sie fördern? Das kann nicht gut sein.
({7})
Wir dürfen niemanden in der Arbeitslosigkeit zurücklassen.
({8})
Deshalb schaffen wir arbeitsmarktpolitische Instrumente, die solide kalkuliert sind. Bei Ihnen von den Linken finde ich keine sinnvollen Vorschläge zur Finanzierbarkeit, sondern lediglich eine Verlängerung der Zeiten der Arbeitslosigkeit. Das finde ich absolut unredlich.
({9})
Sie wollen die Zeiten der Arbeitslosigkeit verlängern, ohne sich um die Menschen zu kümmern, nach dem Motto „Ich gebe dir länger Geld, also lass mich doch bitte in Frieden“. So kann man aus meiner Sicht keine seriöse Politik machen, schon gar nicht eine seriöse Arbeitsmarktpolitik.
Ihre Vorschläge zur Arbeitslosenversicherung erinnern mich an eine Rückkehr in den Sozialismus.
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte?
Das ist aus meiner Sicht eine Politik von gestern und löst absolut nicht die Herausforderungen von morgen.
({0})
Meine Damen und Herren, -
Herr Kollege.
– wir können Ihrem Antrag deshalb nicht zustimmen. Wir müssen ihn ablehnen.
Danke schön.
({0})
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Jörg Schneider, AfD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Linke möchte die Arbeitslosenversicherung verbessern. Das Arbeitslosengeld I wird im Gegensatz zu Hartz IV ohne Bedürftigkeitsprüfung gezahlt. Dafür gibt es gewisse Eintrittshürden, und es ist zeitlich begrenzt. Sie möchten zunächst die Eintrittshürden niedriger gestalten, das bedeutet, es wird mehr Menschen geben, die einen Anspruch auf Arbeitslosengeld I haben. Aber wie viele mehr werden das sein? Ich meine, wenn Sie schon tief in die Sozialkasse hineingreifen möchten,
({0})
dann erwarte ich von Ihnen zumindest eine gewisse Abschätzung der daraus resultierenden Kosten. Die fehlt bei Ihnen völlig. Meine Damen und Herren von der Linken, das ist unseriös, das ist nicht verantwortungsvoll, was Sie da machen.
({1})
Der zweite Punkt. Sie möchten nicht nur die Hürden verringern, Sie möchten auch die Bezugsdauer verlängern. Darüber könnte man durchaus nachdenken,
({2})
genauso wie man darüber nachdenken kann – was Sie auch anbieten –, Weiterbildungsmöglichkeiten zu verbessern. Nur, wenn wir die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I verlängern, dann gibt es weniger Menschen, die von Hartz IV leben. Das bedeutet: Weil Hartz IV aus Steuergeldern finanziert werden muss, haben wir weniger Steuerausgaben und können vielleicht sogar ein bisschen die Steuern senken.
({3})
Das Problem dabei ist: Wir müssten, um Ihre Vorschläge umzusetzen, die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung deutlich erhöhen. Das bedeutet aber, dass jeder Arbeitnehmer die Beiträge bezahlen muss, auch derjenige, der Geringverdiener ist, der im Niedriglohnbereich arbeitet und ohnehin wenig verdient. Dem nehmen Sie extra Geld weg. Das heißt, Sie belasten mit Ihren Vorschlägen die Arbeitnehmer, und Sie belasten besonders die Arbeitnehmer, die wenig Geld haben.
({4})
Ich möchte auf ein aktuelles Ereignis eingehen, das eigentlich gar nichts mit Ihrem Antrag zu tun hat, aber dann doch wieder eine ganze Menge. Die Bundesagentur für Arbeit hat gestern verkündet, dass sie zukünftig unter 25-jährige Hartz-IV-Empfänger nicht mehr sanktionieren will. Das hängt wohl mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von vergangener Woche zusammen, obwohl sich das Bundesverfassungsgericht zu dieser Thematik gar nicht geäußert hat. Insofern war die Entscheidung der Bundesagentur unnötig, und sie ist auch schädlich.
({5})
Wenn ein 40-Jähriger arbeitslos wird, dann steht dahinter eine Familie, ein Freundeskreis und ehemalige Kollegen, die Ansporn geben, doch wieder auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, die Motivation bieten und die vielleicht auch einen gewissen Druck aufbauen. Aber wie sieht das bei einem 20-Jährigen aus? Er stammt vielleicht sogar aus einer Familie, in der das Leben von Sozialleistungen durchaus üblich ist.
({6})
Er hat Freunde, die das vielleicht sogar ganz cool finden, dass er nicht arbeiten muss und trotzdem jeden Monat sein Geld bekommt. Die einzige Institution im Leben dieses jungen Menschen, die ihm vielleicht eine gewisse Richtung vorgegeben hat, war das Jobcenter.
({7})
Es hat gesagt: Okay, du bekommst dein Geld, aber du musst dafür an deinem Schulabschluss arbeiten, du musst vielleicht einen Berufsvorbereitungskurs besuchen, du musst dich unter Umständen irgendwo bewerben. Genau dieses „Du musst aber“ fällt zukünftig weg.
({8})
– Nein, das ist überhaupt nicht am Thema vorbei. Das hat schon sehr viel damit zu tun, worüber wir heute sprechen.
({9})
Die Entscheidung der Bundesanstalt für Arbeit
({10})
hängt sehr eng mit Ihrem Antrag zusammen. Beides wird nämlich dazu beitragen, dass die Hürden, Sozialleistungen zu bekommen, gesenkt werden. Es werden im Grunde genommen die Hürden gesenkt, in diesem System bleiben zu können. Das bejubeln Sie, aber Sie vergessen, dass Sie damit gleichzeitig auch die Hürden erhöhen, aus diesem System überhaupt herauszukommen.
({11})
Wir schwächen damit das Sozialsystem.
({12})
Wir schwächen damit die Menschen, die wirklich auf dieses Sozialsystem angewiesen sind. Wir lehnen deswegen die Entscheidung der Bundesagentur für Arbeit ab, und Ihren Antrag lehnen wir natürlich auch ab.
Ich danke Ihnen.
({13})
Vielen Dank, Herr Kollege Schneider. – Die Kollegin Daniela Kolbe, SPD-Fraktion, hat ihre Rede zu Protokoll gegeben.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden über das Arbeitslosengeld I. Vor einigen Wochen hatte uns die AfD dazu schon einen Antrag vorgelegt, in dem sage und schreibe in einem einzigen Satz eine konkrete Forderung enthalten war. Eigentlich sollten wir heute auch über diesen Antrag debattieren, aber seltsamerweise haben Sie ihn kurzfristig zurückgezogen. Wir sind gespannt, was weiter daraus wird.
({0})
Der Antrag der Kolleginnen und Kollegen von den Linken ist konkreter, das stimmt. Wenn man ihn liest, hat man den Eindruck – wenn man es in einem Satz zusammenfassen müsste –: Es ist von allem zu wenig im SGB III, es müsste mehr sein. – Wissen Sie, ich frage mich wirklich, wie bei Ihnen in der Fraktion die Debatten ablaufen. Ich stelle mir das so vor: Einer steht auf und sagt: „Wir brauchen von allem mehr“, und dann steht ein anderer auf und sagt: „Wir brauchen von allem viel mehr.“ Ich frage mich nur: Gibt es auch jemanden, der aufsteht und fragt: „Wie soll das eigentlich finanziert werden?“
({1})
Vor allen Dingen frage ich mich, ob jemand aufsteht und fragt: „Moment, hilft das, was wir hier beantragen, eigentlich wirklich den Menschen?
({2})
Was sagt denn die wissenschaftliche Forschung dazu?“
Damit sind wir an einem interessanten Punkt. Dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, sich nicht um die Finanzierung kümmern, das sind wir von Ihnen gewohnt;
({3})
das ist bei vielen Ihrer Forderungen so. Aber die glasklare Forschungsmeinung zu diesem Thema komplett zu ignorieren, das ist schon besonders bemerkenswert, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({4})
Wie diese Forschungsmeinung lautet, haben wir vor einigen Monaten gehört; da hatte sich nämlich die SPD verirrt
({5})
und lief – das war Anfang des Jahres – in eine ähnliche Richtung. Wer hat uns da noch gleich gesagt, dass das, was Sie vorschlagen, keine gute Idee ist? Das IAB, das Forschungsinstitut der Bundesagentur für Arbeit, die Bundesagentur für Arbeit selbst, der Sachverständigenrat der Bundesregierung, das IW und auch das DIW. Alle seriösen Arbeitsmarktforscher sind gegen das, was Sie hier vorschlagen; nur Sie sind dafür, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken. Das ist in unseren Augen schlechte Politik.
({6})
Ein generell längerer Bezug von Arbeitslosengeld führt in vielen Fällen zu längerer Arbeitslosigkeit, und das ist das Gegenteil von dem, was wir brauchen. Wir brauchen für die Menschen ganz konkrete Perspektiven: Es geht darum, erstens die Arbeitslosigkeit so schnell wie möglich zu beenden oder zweitens den Bezug des Arbeitslosengeldes zu verlängern, sofern eine konkrete Weiterbildung, zum Beispiel Nachholen eines Berufsabschlusses, sinnvoll ist. Das ist absolut richtig. Dies ist schon heute möglich, denn eine Weiterbildung verlängert den Anspruch auf Arbeitslosengeld. Alles andere sorgt nur dafür, dass die Menschen länger in Perspektivlosigkeit verharren, und das ist keine vernünftige Politik, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab.
({7})
Ich würde gerne die letzten anderthalb Minuten meiner Redezeit darauf verwenden, kurz mit den Kolleginnen und Kollegen von der Koalition zu sprechen.
({8})
Erstens. Wenn wir schon über SGB III und Arbeitslosengeld I reden, sollten wir uns auch darüber unterhalten, was sinnvoll ist. In der Tat sollten wir Phasen der Arbeitslosigkeit als Chance zur Weiterbildung begreifen. Aber wir sollten vor allem endlich eine echte Weiterbildungsoffensive für die Beschäftigten starten. Da, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, warten wir bis heute auf eine nationale Weiterbildungsstrategie, die diesen Namen auch verdient. Da können wir nicht bei der Bundesagentur für Arbeit stehen bleiben, sondern da müssen wir weiterdenken. Wir haben Ihnen konkrete Vorschläge gemacht: Midlife-BAföG und andere Vorschläge. Wann werden Sie in diesem Bereich endlich handeln? Da geht es um echte Aufstiegsperspektiven und Weiterqualifikationen für die Menschen. Da müssen wir endlich vorankommen.
({9})
Zweitens. Schränken Sie bitte nicht die Flexibilität des Arbeitsmarktes weiter ein, wie Sie es laut Koalitionsvertrag vorhaben.
Drittens. Nutzen wir die Chance zur Entlastung der Menschen. Wie ist denn die Situation? Sie haben den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung Anfang des Jahres gesenkt, auch auf unseren Druck hin – richtig. Die Bundesagentur für Arbeit hat eine ausreichende Rücklage, auch für schwere Krisen – gut. Die Bundesagentur für Arbeit sagt uns: Für alles, was im Bereich Qualifikation irgend sinnvoll ist, ist genug Geld da.
({10})
Trotzdem macht die Bundesagentur weiter Überschüsse. Angesichts dessen ist es richtig, die Menschen zu entlasten.
({11})
Das haben Sie jetzt angekündigt. Vor vier Wochen haben wir das beantragt, liebe Kolleginnen und Kollegen. Es fand auch eine Anhörung dazu statt, in der bestätigt wurde, dass das sinnvoll ist. Doch was mussten wir dort hören? Die Union hat gesagt: 2020 sei wirklich kein Jahr für Beitragssenkungen.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident.
Ja, das sollten Sie auch tun.
Der SPD-Vertreter hat gefragt, ob ich in einer anderen Anhörung gewesen wäre. Und was haben Sie letzten Sonntag verabschiedet?
Herr Kollege Vogel!
Eine Beitragssatzsenkung zum 1. Januar 2020. Besser spät als nie, liebe Kolleginnen und Kollegen! Besser
({0})
in der Sache – –
({1})
Herr Kollege, ich habe Ihnen gerade das Wort entzogen, bedauerlicherweise. – Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 4 Millionen Menschen beziehen in Deutschland Arbeitslosengeld II, aber nur 750 000 beziehen Arbeitslosengeld I. Das heißt, weniger als die Hälfte der Kurzzeitarbeitslosen bezieht noch Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung. Von der eigentlich sinnvollen Grundidee – Kurzzeitarbeitslose erhalten Arbeitslosengeld I, Langzeitarbeitslose Arbeitslosengeld II – sind wir weit entfernt. Diese Schieflage zwischen Arbeitslosengeld I und Arbeitslosengeld II müssen wir beseitigen.
({0})
Wie wollen wir Grünen das machen? Einerseits sind im Arbeitslosengeld II ganz viele, die gar nicht arbeitslos sind, über 1 Million Erwerbstätige, darunter viele Familien mit Kindern. Wenn man die dazuzählt, lebt fast die Hälfte der Menschen in Arbeitslosengeld II in einem Erwerbstätigenhaushalt. Diese Menschen gehören da eigentlich gar nicht hinein. Die müssen wir da herausholen, durch einen höheren Mindestlohn, durch die Kindergrundsicherung und durch eine spürbare Entlastung unterer Einkommen.
({1})
Auf der anderen Seite – da stimmen wir den Linken in der Tendenz zu – brauchen wir eine Stärkung der Arbeitslosenversicherung, damit mehr Arbeitslose Anspruch auf Arbeitslosengeld I erhalten und es nicht dabei bleibt, dass sogar viele, die Beiträge gezahlt haben, Herr Kollege Weiler, keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld I haben.
({2})
Wir Grünen haben schon vor langer Zeit vorgeschlagen, dass, wer vier Monate eingezahlt hat, einen Anspruch auf Arbeitslosengeld I haben soll – schönen Gruß an Brigitte Pothmer, die sich das damals überlegt hat; auch in den Antrag der Linken wurde dieser Vorschlag übernommen –, dann gibt es erst einmal einen verkürzten Anspruch auf Arbeitslosengeld I, anwachsend auf das heutige Anspruchsniveau. Das wäre eine Möglichkeit, um Hunderttausende Arbeitslose in das Arbeitslosengeld I zu bringen. Die wären dann erst einmal durch die Arbeitslosenversicherung abgedeckt und nicht durch das Arbeitslosengeld II. Diese ganz unsinnige Regelung für Künstlerinnen und Künstler, von der nur eine zwei- bis dreistellige Zahl von Künstlerinnen und Künstlern überhaupt profitiert, könnte man auslaufen lassen, und wir würden mehr Menschen gegen Arbeitslosigkeit besser absichern.
({3})
Laut einer Agenturmeldung von heute wurde auf eine Frage der Linken geantwortet, dass viele, die Arbeitslosengeld I beziehen, mit Arbeitslosengeld II aufstocken müssen. Ich finde, das sollte man beenden. Wir sollten über ein Mindestarbeitslosengeld zumindest einmal nachdenken.
Die Schieflage zwischen Arbeitslosengeld I und Arbeitslosengeld II ist aber nur ein Grund, warum wir die Arbeitslosenversicherung stärken müssen. Noch wichtiger sind die Zukunftsherausforderungen, die auf uns zukommen. Die Arbeitswelt wird sich in den nächsten Jahren erheblich verändern. Sie wird bunter und vielfältiger, neue Arbeitsplätze entstehen, alte verschwinden. Dieser Wandel muss mit mehr sozialer Sicherheit verbunden werden, und wir müssen die Menschen bei diesem Wandel begleiten und unterstützen.
Hartz IV ist dafür nicht geeignet. Deswegen wollen wir Grüne Hartz IV überwinden durch eine Garantiesicherung, die das Existenzminimum in allen Lebenslagen garantiert, durch einen höheren Regelsatz und so, dass diejenigen, die erwerbstätig sind, dann auch spürbar mehr Einkommen haben als heute. Hartz IV überwinden!
({4})
Und wir wollen die Arbeitslosenversicherung zu einer Arbeitsversicherung weiterentwickeln, einer Arbeitsversicherung, die eben nicht nur Arbeitslose unterstützt, sondern vor dem Hintergrund der sich verändernden Rahmenbedingungen auch Unterstützung für Erwerbstätige anbietet, und zwar für alle Erwerbstätigen, für abhängig Beschäftigte und für Selbstständige. In der Konsequenz würden auch diejenigen, die jetzt Aufstocker im Hartz-IV-Bereich sind, von der Arbeitsagentur betreut werden.
Eine ganz besonders wichtige neue Aufgabe, die gestärkt werden muss, ist die Weiterbildung. Mit dem Qualifizierungschancengesetz haben wir einen Anfang gemacht; aber bisher fährt der Zug noch nicht, obwohl die Weichen richtig gestellt sind. Bei Weiterbildung müssen wir mehr machen. Wir Grünen fordern – damit die Menschen selbstbestimmt entscheiden können, wie sie sich weiterentwickeln, wie sie sich weiterbilden wollen, ob sie noch einmal den Beruf wechseln wollen – einen Rechtsanspruch auf Weiterbildung.
({5})
Dieses Recht auf Weiterbildung muss sozial abgesichert sein, damit sich die Menschen die Weiterbildung auch leisten können. Heute ist es so, dass viele sich nicht weiterbilden, entweder weil sie einen schlechten Job haben und sagen: „Ich brauche das Geld aber; ich kann keine Auszeit nehmen, um mich weiterzubilden“, oder weil sie arbeitslos sind und sagen: „Ich kann mir eine Weiterbildung nicht leisten; da nehme ich lieber einen prekären Job an.“ Nein, das ist der falsche Weg. Wir brauchen eine Weiterbildungsabsicherung. Wir Grünen fordern ein Weiterbildungsgeld, das spürbar höher ist als das Arbeitslosengeld I und auch höher als das Arbeitslosengeld II. Dann können sich die Menschen Weiterbildung auch leisten.
({6})
Das alles bekommen wir aber nicht zum Nulltarif. Deswegen möchte ich zum Schluss noch eine Bemerkung machen: Im Rahmen des Pakets zur Grundrente hat jetzt die Große Koalition eine weitere Absenkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung beschlossen. Das ist angesichts der Herausforderungen, die ich beschrieben habe, völlig fahrlässig und kurzsichtig.
({7})
Es ist auch ökonomisch falsch, wenn wir jetzt kurzfristig die Beiträge senken, obwohl wir genau wissen – das ist in dem Paket zur Grundrente enthalten –, dass wir in zwei, drei Jahren die Beiträge wieder ansteigen lassen müssen. Das ist ökonomisch nicht sinnvoll. Das ist nicht nachhaltig. Eine auf Zukunft ausgerichtete Politik sieht anders aus.
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Jana Schimke, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man merkt, linke Politik hat im Moment in Deutschland keine Hochkonjunktur. Wie sonst sollten Sie auf die Idee kommen, solche Anträge zu schreiben, solch ein falsches Abbild der Wirklichkeit zu geben und uns allen vorzumachen, draußen herrsche das große Elend? Nein, das tut es ganz gewiss nicht!
Frau Ferschl, ich habe eine Bitte an Sie: Bitte sagen Sie in Ihren Reden nicht immer, die Menschen müssten, wenn sie bedürftig sind, wie Bittsteller aufs Amt. Entschuldigung, das müssen sie nicht!
({0})
Wir können stolz sein auf unser Netz der sozialen Sicherung, das wir in Deutschland haben.
({1})
Wir können stolz sein auf die Vielzahl an Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die sich täglich die Finger wund schreiben und das Ohr wund hören, wenn es um die Fragen geht: Wie kann man den Menschen weiterhelfen? Wie kann man sie wieder in Arbeit vermitteln? Wie kann man ihnen Unterstützung geben? Wo kann man der Familie helfen? Welche Netzwerke kann man aktivieren? Ich bitte Sie, von hier vorne nicht immer zu sagen, dass es etwas Schlimmes wäre, aufs Amt zu gehen. Nein, wir bieten diesen Menschen gerne diese Hilfe.
Wir sind stolz darauf, uns dies als Bundesrepublik Deutschland leisten zu können. Wir wissen, dass andere Länder ihren Bedürftigen gerne eine solche Unterstützung geben würden, es aber möglicherweise nicht können. Uns kommt es darauf an, das mit unserer Politik weiterhin sicherzustellen und den Menschen eben nicht das Gefühl zu geben, dass es schlimm ist, wenn man im Leben mal scheitert, dass es schlimm ist, wenn man mal arbeitslos ist oder wenn man mal Hilfe braucht. Nein, dafür ist eine Solidargemeinschaft da, dafür ist eine entwickelte Demokratie wie in unserem Land auch da. Darauf sind wir stolz.
({2})
Die Lügen gehen noch weiter. Sie sagen, dass heute die Situation so wäre, dass Arbeitslose und Beschäftigte nicht auf Augenhöhe mit den Arbeitgebern reden könnten. Entschuldigung, ich weiß ja nicht, wie oft Sie mit Arbeitgebern sprechen, aber die Situation am Arbeitsmarkt ist inzwischen eine ganz andere. Die Arbeitgeber lassen sich inzwischen sonst etwas einfallen, um Mitarbeiter zu gewinnen. Sowohl beim Gehalt als auch bei den Arbeitsbedingungen als auch bei den Arbeitszeiten gehen sie auf die Beschäftigten ein, bieten ihnen Unterstützung, um selber Unterstützung zu bekommen und die Aufträge zeitnah abarbeiten zu können. So ist doch die Situation am Arbeitsmarkt. Jede qualifizierte Fachkraft in diesem Land hat die Möglichkeit, das Beste aus ihrer Arbeit herauszuholen. So sieht es inzwischen auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland aus.
Dafür, meine Damen und Herren, sprechen auch die Zahlen: Wir haben in Deutschland 700 000 offene Stellen, wir haben allein 170 000 offene Ausbildungsstellen, und wir haben Rekordbeschäftigung. Von Arbeitslosigkeit betroffen sind 2,2 Millionen Menschen; das sind so wenige wie noch nie zuvor. Was soll denn die Aussagen, die Lohnentwicklung habe sich verschlechtert. So ein Unsinn! Wir haben ein Reallohnwachstum allein innerhalb eines Jahres von 1,3 Prozent in Deutschland.
({3})
Die Tariflöhne sind gestiegen.
({4})
Seit 2018 ist die Höhe der Reallöhne in Deutschland um mehr als 13 Prozent angestiegen.
({5})
Und, lieber Herr Birkwald, auch die Renten steigen seit Jahren kontinuierlich. Das dürfte Ihnen nicht entgangen sein. Meine Damen und Herren, wir haben kein Lohnproblem.
Was soll das jetzt mit der Verlängerung des Bezugs von Arbeitslosengeld? Wem soll das bitte schön helfen in einer Zeit wie heute?
({6})
Wenn jemand qualifiziert ist und in die Situation gerät, arbeitslos zu werden, dann besagen die Statistiken, dass er im Schnitt gerade einmal vier Monate in der Arbeitslosigkeit verweilt. Nach vier Monaten haben Menschen, die Arbeitslosengeld I erhalten, eine neue Arbeitsstelle. Ich war selbst einmal arbeitslos und musste mich beim Amt melden. Ich kann mich noch gut daran erinnern, da damals die Mitarbeiterin zu mir sagte, ich solle mir keine Sorgen machen, ich würde schnell wieder eine Stelle finden. So ist es dann auch gewesen, und so ist es auch vielen Menschen in meinem Umfeld ergangen. Das zeigt am Ende das tägliche Leben.
({7})
Ich denke, mit Ihren Überlegungen, mit Ihren Forderungen würden Sie einen neuen Fehlanreiz schaffen. Auch das sagen uns inzwischen die Forschungsinstitute: Ein längerer Bezug von Sozialleistungen führt eben nicht zu einer verbesserten Absicherung oder zu einem wirtschaftlichen Aufschwung oder gar zu einer größeren Zufriedenheit der Menschen, nein, er führt dazu, dass die Menschen weiterhin in Bedürftigkeit gehalten werden. Deshalb bedarf es einer komplett anderen Politik
({8})
als die, die Sie vorschlagen. Wir brauchen Investitionen in Bildung, Investitionen in Infrastruktur. Wir brauchen Flexibilität am Arbeitsmarkt, in den Unternehmen. Das ist der richtige Weg.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({9})
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner ist für die AfD-Fraktion der Kollege Martin Sichert.
({0})
Meine Damen und Herren, Ihr Antrag hat für große Heiterkeit bei meinen Kolleginnen und Kollegen gesorgt.
Herr Kollege Sichert, auch Sie dürfen mit der Anrede beginnen: „Herr Präsident!“
({0})
Haben wir das jetzt neu eingeführt, ja? Gut.
Das haben wir nicht neu eingeführt, das ist hier die Regel. Wenn Sie das nicht beachten, dann ist das einen Ordnungsruf wert.
Gut. – Mein Präsident! Ihr Antrag hat für große Heiterkeit bei meinen Kollegen und mir gesorgt. Was dieser Antrag bewirkt, kann man nämlich unter folgendem Slogan kurz zusammenfassen: Die Linken wollen auf Kosten der Arbeiterklasse den Bonzen mehr Geld geben.
({0})
Sie fordern, dass künftig alle, die in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben, nach 30 Jahren Beitragsdauer unbegrenzt lange 58 Prozent des Nettoentgeldes bekommen. Das bedeutet: Topverdiener können in Zukunft mit Mitte 50 in Ruhestand gehen und bekommen weiterhin jährlich ein hohes Einkommen, nur mit dem Unterschied, dass sie dafür keine Leistung mehr erbringen müssen.
({1})
Die Geringverdiener müssen dann mit erhöhten Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung für den süßen Lebensabend der Topverdiener bezahlen. Das ist eine reine Umverteilung von unten nach oben. Das ist nicht Marx, sondern Murks, was Sie hier vorschlagen.
({2})
Sind Sie eigentlich selber auf die Idee gekommen, Frau Ferschl, oder hat irgendein kapitalistischer Konzernlobbyist nachgeholfen? Es ist jedenfalls eine absolut absurde gesellschaftliche Vision: Die einfachen Bürger sollen künftig bis 70 Jahre arbeiten, und die Großkopferten können mit Mitte 50 ohne jede Verpflichtung ihr Leben genießen.
({3})
Mit dieser himmelschreienden Ungerechtigkeit sorgen Sie für massive soziale Spannungen. Wir von der AfD hingegen setzen uns für soziale Gerechtigkeit und für sozialen Frieden ein.
({4})
Wir haben großen Zuspruch bei den Arbeitnehmern, weil sie darauf vertrauen können, dass wir uns mit Weitsicht und Verstand für sie einsetzen. Sie hingegen versuchen nun, Kapitalisten und Bonzen für sich zu gewinnen auf dem Rücken von Arbeitern und Angestellten. Ich kann Ihre Verzweiflung angesichts der jüngsten Wahlergebnisse ja durchaus verstehen,
({5})
aber dass Sie beim Griff nach dem letzten Strohhalm derart Ihre Wähler verraten, ist einfach nur erbärmlich.
({6})
In Ihrem zweiten Antrag fordern Sie, dass künftig jede Stunde Arbeit voll sozialversicherungs- und steuerpflichtig sein soll.
({7})
Das bedeutet, dass künftig jeder Minijob mit Steuern und Abgaben belastet wird. Das bestraft Studenten, arme Rentner und Geringverdiener, also all jene, die einen Nebenjob brauchen, um über die Runden zu kommen.
({8})
Das ist ein weiterer Schlag ins Genick der Schwächsten der Gesellschaft. Was haben Ihre bisherigen Wähler Ihnen eigentlich angetan, dass Sie so aktiv gegen sie vorgehen?
({9})
Aber nicht nur Geringverdiener wären Leidtragende, auch für Selbstständige wäre es ein massiver Zuwachs an Bürokratie, wenn sie plötzlich ihre Stunden erfassen und darauf volle Sozialabgaben leisten müssten. Gerade für Solo-Selbstständige und Inhaber kleiner Betriebe wäre das ruinös. Überhaupt, wer will das denn bitte kontrollieren, wie viele Stunden ein Selbstständiger arbeitet? Soll künftig jemand mit der Stechuhr nebenher laufen? Ist Ihnen eigentlich bewusst, dass die meisten Selbstständigen deutlich mehr als zehn Stunden am Tag arbeiten und dass ihre Überwacher dann im Schichtdienst arbeiten müssten? Wer soll diese Überwacher dann eigentlich bezahlen? Am Ende wieder jene Steuerzahler, die vernünftigen Tätigkeiten nachgehen. Das ist absoluter Unfug.
({10})
Das Letzte, was wir nämlich brauchen, sind Spitzel, die Selbstständigen hinterherschnüffeln, wann sie wie viel gearbeitet haben.
({11})
Wir stehen in der deutschen Industrie vor einer massiven Rezession. Allein in der Automobilproduktion brechen aktuell monatlich Zehntausende Arbeitsplätze weg.
({12})
Wir müssen alles tun, um Arbeitsplätze in Deutschland zu sichern.
({13})
Das bedeutet, Bürokratie abzubauen statt aufzubauen. Das bedeutet, den ideologischen Kampf gegen Verbrennungsmotoren zu beenden. Das bedeutet, Lohnnebenkosten zu reduzieren und Investitionen in die Infrastruktur auszubauen. Diese Themen müssten wir dringend angehen. Stattdessen beschäftigen wir uns hier damit, dass Die Linke den Großkopferten ermöglichen will, früher in Ruhestand zu gehen. Das ist verantwortungslos.
({14})
Vielen Dank. – Lieber Kollege Birkwald, die Anzahl Ihrer Zwischenrufe umfasst mittlerweile fast eine gesamte Rede.
({0})
Aber ich verstehe, dass Sie das alles erregt. – Als nächster Redner hat der Kollege Bernd Rützel, SPD-Fraktion, das Wort.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich möchte etwas Sachlichkeit in diese Debatte bringen.
({0})
Arbeitslosigkeit, die Situation, arbeitslos zu werden, kann jeden treffen, und niemand ist davor gefeit.
({1})
Diejenigen, die arbeitslos werden, die Betroffenen, berichten, dass diese Arbeitslosigkeit bis ins Mark trifft – für einen selber, für die Familie, aber auch für unsere ganze Wirtschaft. Deshalb ist es wichtig und richtig, dass die Arbeitslosenversicherung gestärkt werden muss.
Wir haben die Arbeitslosenversicherung seit 1927. Das ist wichtig, das ist gut, und wir brauchen sie. Auch wenn viele Menschen sie vielleicht Gott sei Dank ihr Leben lang nicht brauchen, so ist es doch wichtig, zu wissen, dass es die Arbeitslosenversicherung gibt und dass sie dann da ist, wenn man selber einmal betroffen ist und arbeitslos wird. Das kommt über Nacht, und man ist oft nicht daran beteiligt und schuldlos an dem Ganzen. Das ist noch einmal deutlich herauszuarbeiten, weil es sich immer so angehört hat, man sei selber schuld, wenn man arbeitslos werde. Es gibt viele Fälle, die das Gegenteil sagen.
({2})
Seit zehn Jahren, sehr verehrte Damen und Herren, brummt unsere Konjunktur. Die Arbeitslosenquote ist auf dem tiefsten und die Beschäftigungsquote auf dem höchsten Stand. Diese zehn Jahre brummende Konjunktur haben 25 Milliarden Euro in die Arbeitslosenversicherungskasse hineingefüllt, unter besten Bedingungen.
({3})
Aber wenn wir an die Zeit von 2008 bis 2010 zurückdenken, als in der Krise unser damaliger Arbeitsminister Olaf Scholz das Arbeitslosengeld ausgeweitet hat, über 1,4 Millionen Menschen gleichzeitig Kurzarbeitergeld bezogen haben, stellen wir fest: Wir haben genau diese Summe, das, was wir jetzt in der Kasse haben, in dieser Krise auch gebraucht, um den Menschen zu helfen, auf die Beine zu kommen. Wir haben es aber auch für unsere Wirtschaft gebraucht, damit sie schnell wieder an den Start kommt und durchstartet. Das war wichtig.
Deswegen ist es wichtig, dass wir diese Arbeitslosenversicherung haben und wir sie auch stärken.
({4})
In vielen Punkten gebe ich Ihnen recht. Vieles von dem, was Sie in Ihren Anträgen – es sind ja zwei, liebe Linke – beschreiben, geht völlig an der Wirklichkeit vorbei. Das werden wir im Ausschuss diskutieren; ich freue mich darauf.
Ich will einfach sagen, dass es für die SPD wichtig ist, dass wir die Arbeitslosenversicherung in eine Arbeitsversicherung umwandeln; denn es ist nicht das Ziel, die Arbeitslosigkeit zu verbessern. Das Ziel ist vielmehr, nicht arbeitslos zu werden
({5})
und die Menschen schon vorher auf den Wandel vorzubereiten, auf die Arbeit von morgen vorzubereiten. Die Arbeit wird uns nicht ausgehen; aber es wird eine andere Arbeit sein. Für diese andere Arbeit müssen wir uns vorbereiten. Wir haben dazu das Qualifizierungschancengesetz gemacht. Wir haben dafür gesorgt, dass die Menschen unterstützt werden, die es nicht so einfach haben, durch den sozialen Arbeitsmarkt nach einer langen Arbeitslosigkeit wieder in den Job kommen. Das ist bis jetzt ein großer Erfolg.
Wir haben die Rahmenfrist – so heißt das technisch –, nämlich den Bemessungszeitraum, verlängert. Denken Sie an die Lehrerinnen und Lehrer, die jeden Sommer ausgestellt werden, arbeitslos werden. Es ist ein Skandal, es ist eine Frechheit, dass die Lehrerinnen und Lehrer nicht den Sommer hindurch beschäftigt werden.
({6})
Die SPD will und fordert das Arbeitslosengeld Q, um nämlich auch Qualifizierung weiterzutreiben. Den sozialen Arbeitsmarkt habe ich genannt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen eine Arbeitswelt, in der keiner Angst haben muss. Wir wollen, dass Umbrüche auch Perspektiven aufzeigen. Dafür brauchen wir eine ganz starke Arbeitsversicherung.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist der Kollege Pascal Kober, FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie fordern in Ihrem Antrag die Erhöhung des Arbeitslosengeldes von 60 auf 68 Prozent und die Verlängerung der Dauer des Bezugs des Arbeitslosengeldes um drei Monate für die über 50-Jährigen, um sechs Monate für die über 55-Jährigen und um zwölf Monate für die über 60-Jährigen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, das klingt wie immer bei Ihnen auf den ersten Blick irgendwie nett und freundlich den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie den Arbeitslosen gegenüber. Aber in Wahrheit ist das ein vergiftetes Geschenk, und das wissen Sie; denn alle Experten sagen Ihnen: Je länger die Arbeitslosigkeit andauert, desto schwieriger kommt man wieder zurück in Arbeit.
({0})
Das ist eine empirische Wahrheit, der Sie ins Auge schauen müssen. Mit Ihren Vorschlägen erreichen Sie genau das Gegenteil dessen, was Sie eigentlich zu wollen vorgeben, nämlich den Menschen zu helfen. So helfen Sie den Menschen nicht.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zwei Dinge sind wichtig in der Arbeitsmarktpolitik, wenn es um die Chancen von Menschen geht. Das eine ist: Wir müssen die Menschen selber stärken. Das heißt, wir müssen neue Wege finden, wie die Menschen sich fortbilden können, wie die Menschen, schon bevor sie arbeitslos sind, ihre Situation so verbessern, dass sie gar nicht erst arbeitslos werden.
Dazu hat die FDP zwei kluge Vorschläge gemacht. Das ist als Erstes das Freiraumkonto, um durch ein Bildungssparen und durch steuerliche Anreize lebenslanges Lernen zu fördern, sodass jeder etwas zurücklegen kann und es ein BAföG gibt, das man auch in der Mitte des Erwerbslebens noch einmal in Anspruch nehmen kann, um sich beruflich zu stärken und neu zu orientieren.
Das Zweite ist das Midlife-BaföG, das wir für diejenigen ausgestalten, die 60 Prozent unterhalb des durchschnittlichen Einkommens verdienen, nämlich für diejenigen, die armutsgefährdet sind. Ihnen wollen wir zusätzlich zu den steuerlichen Anreizen noch Geld dazugeben, und zwar 1 000 Euro im Jahr.
Das sind zwei Maßnahmen, mit denen wir ganz konkret den Menschen helfen, sich zu stärken, um im Arbeitsleben wieder Fuß zu fassen bzw. gar nicht erst arbeitslos zu werden. Das ist der richtige Weg in der Arbeitsmarkt- und der Sozialpolitik.
({2})
Außerdem darf man aber auch nicht vergessen, dass wir natürlich ebenso an die wirtschaftliche Entwicklung denken müssen. Unsere Unternehmen brauchen Aufträge; denn nur wenn sie Aufträge haben, gibt es auch Arbeitsplätze und wird Arbeitslosigkeit vermieden.
In diesem Zusammenhang erinnere ich den Bundeswirtschaftsminister an frühere Äußerungen. Er hat jetzt einen Aufbruch für das Frühjahr 2020 gefordert; man fragt sich, warum er das immer weiter aufschiebt. Er hat jetzt auch der Absenkung des Solidaritätszuschlages zugestimmt, allerdings nicht für die kleinen Unternehmen, obwohl er in diesem Jahr schon achtmal gefordert hat, dass der Solidaritätszuschlag vollständig abgeschafft werden sollte.
Das alles ist insgesamt keine vernünftige Politik. Was wir umsetzen müssen, sind Investitionen in die Bildung der Menschen und Investitionen in den Zukunftsstandort Deutschland. Das wäre die richtige Lösung, damit vermeiden wir Arbeitslosigkeit, damit helfen wir den Menschen.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank, Herr Kollege Kober. – Nächster Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Marc Biadacz.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Zuhörer! Für uns Arbeitsmarktpolitiker und Sozialpolitiker ist es wichtig, dass wir unsere Arbeit immer wieder auf den Prüfstand stellen und uns überlegen, wie wir den Arbeitsmarkt und den Sozialstaat zukunftsfest machen können. Deshalb halte ich es für gut, dass auch Sie, liebe Linke, sich darüber Gedanken machen. Schade ist, dass die AfD, lieber Herr Sichert, ihren Antrag, der ja heute eigentlich auch noch zu behandeln gewesen wäre, zurückgezogen hat.
({0})
Daher können wir uns darüber heute nicht unterhalten.
Bei den hier vorliegenden Anträgen fehlt mir allerdings, liebe Linke, die Zukunftsperspektive. Wenn wir über Arbeitslosengeld I sprechen, sollten wir uns immer darüber Gedanken machen, wie wir die Ursachen von Arbeitslosigkeit bekämpfen, nicht aber darüber, wie Sie es in Ihren Anträgen vorschlagen, wie wir an den Symptomen herumdoktern und Leistungen der Arbeitslosenversicherung massiv ausweiten. Ich will gar nicht in Abrede stellen, dass man sich auch um Symptome kümmern sollte, aber eben nur dann, wenn aktuell Handlungsbedarf besteht.
Jetzt aber einmal der Reihe nach, liebe Linke: Lassen Sie uns erst einmal auf das Hier und Jetzt schauen. Wo stehen wir gerade aktuell?
Seit Jahren ist die Zahl der Empfänger von Arbeitslosengeld I rückläufig; gut so. Sie liegt derzeit bei circa 700 000 Menschen. Im Vergleich zu 2009 haben wir somit 400 000 Menschen weniger, die Arbeitslosengeld I beziehen. Das ist auch ein klarer Erfolg der klugen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik der vergangenen Jahre von CDU und CSU.
({1})
Zudem liegt die durchschnittliche Dauer des Bezugs von Arbeitslosengeld I derzeit zum Glück bei nur noch vier Monaten. Wie ist die Reaktion der Linken darauf? – Nein, Sie präsentieren uns heute hier kein Reformpapier, was wirklich einmal eine Überraschung wäre, sondern Sie wollen – um es auf den Punkt zu bringen –, die Dauer des Bezugs von Arbeitslosengeld I drastisch ausweiten. Das geht aber an der Aufgabe der Arbeitslosenversicherung völlig vorbei. Die Arbeitslosenversicherung ist dafür da, bei vorübergehender Arbeitslosigkeit die kurzfristige Lohnlücke zu überbrücken und Menschen zu unterstützen, schnell wieder eine Arbeit und eine neue Perspektive zu finden. Das ist das Ziel, meine Damen und Herren. Es ist nicht die Schaffung einer langfristigen Rentenleistung, so wie Sie, liebe Linke, es in Ihren Anträgen mit dem Arbeitslosengeld Plus fordern. Das ist der falsche Weg, liebe Kolleginnen und Kollegen,
({2})
ganz zu schweigen von den Kosten, die eine als Arbeitslosenversicherung getarnte Rentenleistung verursacht und die am Ende dann die Beitragszahler über steigende Beiträge finanzieren müssen.
Die Beitragszahler sind die, die wir bei dieser Debatte bitte nicht vergessen dürfen. Es sind nämlich die Arbeitnehmer und die Arbeitgeber, die unseren modernen Sozialstaat finanzieren. Anstatt Arbeitnehmer und Arbeitgeber noch stärker zu belasten, müssen wir sie entlasten, vor allem auch angesichts der schwächelnden Konjunktur.
({3})
Wir als CDU/CSU setzen uns daher dafür ein – das haben wir mit dem Qualifizierungschancengesetz auch geschafft –, den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung auf 2,5 Prozent zu senken
({4})
und im Zuge der Grundrente, die wir letzte Woche auf den Weg gebracht haben, noch einmal auf 2,4 Prozent zu senken. Das kommt den Arbeitnehmern und Arbeitgebern zugute, meine Damen und Herren.
({5})
Wir stärken also auch Arbeitnehmer und Arbeitgeber und nicht einseitig, wie in Ihren Anträgen gefordert, liebe Linke, die Empfänger von Arbeitslosengeld I. Denn nicht Arbeitslosigkeit muss sich lohnen, sondern Arbeit muss sich lohnen, liebe Damen und Herren.
({6})
Unser Ziel als Union ist es, dass jeder in Deutschland eine gute Beschäftigung hat und erst gar nicht arbeitslos wird. Eine Herausforderung ist dabei sicherlich die digitale Transformation. Bei dieser Transformation schauen wir einmal ins Innovationslabor der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.
({7})
Wir haben mit MILLA eine Weiterbildungsplattform für lebenslanges Lernen entwickelt. Dadurch ermöglichen wir es den Menschen, die Transformation der Digitalisierung mitzugehen. Das wird das Ziel der CDU/CSU sein. Ich lade Sie alle in unser Labor ein,
({8})
in unseren Thinktank. Kommen Sie, liebe Linke; ich lade Sie herzlich ein. Denn dadurch schaffen wir Gerechtigkeit auf dem Arbeitsmarkt. Lassen Sie uns dafür in die Zukunft schauen! Die CDU/CSU lehnt Ihren Antrag ab.
Herzlichen Dank.
({9})
Vielen Dank, Herr Kollege Biadacz. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Matthias Bartke, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Frau Ferschl, was mich wirklich interessieren würde: Wie fertigt Die Linke eigentlich ihre Anträge? Machen Sie das mit Textbausteinen? Die beiden Anträge, die Sie heute vorgelegt haben, haben beide die gleiche Begründung, und zwar nicht nur inhaltsgleich, sondern wortgleich, inklusive Kommafehlern. Ich meine, da ist man doch fassungslos, wenn man so etwas sieht.
({0})
Das war wahrscheinlich Ihr Textbaustein „F10 – Böse Agenda 2010.doc“. Ich fände es super, wenn Sie sich mal einen neuen Textbaustein ausdenken. Wie wäre es mit dem Titel „F11 – Konzept zur Schaffung neuer Arbeitsplätze.doc“? Das wäre für Sie doch mal was völlig Neues. Ich fürchte nur, dass wir auf den Textbaustein noch lange warten müssen.
({1})
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Zukunftsfestigkeit der Arbeitslosenversicherung ist ein sehr ernstes und auch ein sehr wichtiges Thema. Unsere Arbeitswelt befindet sich bekanntlich in einem tiefgreifenden Wandel. Die OECD geht davon aus, dass sich mehr als ein Drittel aller Berufe in den nächsten zehn Jahren grundlegend ändern wird. Es gibt Menschen, die behaupten, dass uns durch die Digitalisierung die Arbeit ausgehen wird. Das wird mit Sicherheit nicht der Fall sein. Aber es findet eine riesige Umstrukturierung statt. Es gibt schon jetzt einzelne Branchen, die eine zunehmende Nachfrage nach Fachkräften haben. Gleichzeitig gibt es aber in anderen Branchen einen Arbeitskräfteüberschuss. Aufgabe der Bundesagentur für Arbeit ist es, diesen Umstrukturierungsprozess flankierend zu begleiten. Die SPD steht für Chancen und Schutz im Wandel, und wir setzen das auch in Regierungsverantwortung um.
({2})
Mit dem Qualifizierungschancengesetz haben wir einen besseren Zugang zum Arbeitslosengeld geschaffen. Wir haben darin die Rahmenfrist erweitert. Künftig reicht es, wenn man innerhalb von 30 Monaten auf 12 versicherungspflichtige Monate kommt, um einen Anspruch auf Arbeitslosengeld zu haben. Damit geben wir den Beschäftigten mehr Zeit, um die Mindestversicherungszeit zusammenzubekommen. Die Erwerbsbiografien sind bekanntlich nicht mehr so geradlinig wie früher. Die erweiterte Rahmenfrist hilft deshalb gerade denjenigen Arbeitnehmern, die häufig wechselnde Beschäftigungsverhältnisse haben.
In unseren Augen ist aber Prävention von Arbeitslosigkeit eine zentrale Aufgabe der Arbeitslosenversicherung. Dabei ist Qualifizierung der entscheidende Punkt. Mit dem Qualifizierungschancengesetz unterstützen wir bereits jetzt diejenigen, die vom Strukturwandel betroffen sind. Neben Weiterbildungskosten können seit Jahresanfang während der Weiterbildung auch Lohnkostenzuschüsse gezahlt werden. Je kleiner ein Unternehmen, desto höher die Förderung.
Mit dem Arbeit-von-morgen-Gesetz entwickeln wir die Prävention von Arbeitslosigkeit noch weiter. Es gibt Beschäftigte, die in ihrem Unternehmen keine Perspektive auf Weiterbeschäftigung haben. Für sie wollen wir eine zusätzliche Fördermöglichkeit der Perspektivqualifizierung einführen. Arbeitgeber, die das Beschäftigungsverhältnis für die Dauer der Weiterbildung fortführen, sollen einen staatlichen Zuschuss sowohl zum Entgelt als auch zu den Weiterbildungskosten erhalten. Wir wollen die Beschäftigten von heute fit machen für die Arbeit von morgen,
({3})
und zwar auch dann, wenn diese Arbeit nicht im selben Unternehmen stattfindet.
Die SPD würde aber liebend gerne noch weiter gehen. In unserem zu Recht vielgerühmten Sozialstaatspapier haben wir dargelegt, wie wir in Zukunft neue Einstiege und Aufstiege ermöglichen wollen. Wir wollen mit dem neuen Arbeitslosengeld Q einen Leistungsanspruch auf Qualifizierung einführen; der Kollege Rützel hat es erwähnt. Alle, die nach drei Monaten im Arbeitslosengeld I keine neue Arbeit gefunden haben, sollen einen Anspruch auf eine gezielte Weiterbildungsmaßnahme und auf das damit verbundene Arbeitslosengeld Q erhalten.
({4})
Das entspricht dann in der Höhe dem Arbeitslosengeld I. Das Arbeitslosengeld Q soll bis zu zwölf Monate lang nicht auf das Arbeitslosengeld I angerechnet werden.
Meine Damen und Herren, wir wollen die Arbeitslosenversicherung zu einer solidarischen Arbeitsversicherung weiterentwickeln. Die Bundesagentur für Arbeit wollen wir zu einer Bundesagentur für Arbeit und Qualifizierung weiterentwickeln. Sie soll nicht erst bei Arbeitslosigkeit auf den Plan treten. Sie soll helfen, dass Arbeitslosigkeit gar nicht erst entsteht.
Ich danke Ihnen.
({5})
Vielen Dank Herr Kollege Dr. Bartke. – Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erhält das Wort der Kollege Max Straubinger, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Lieber Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute die beiden Anträge der Linksfraktion zur angeblichen Verbesserung in der Arbeitslosenversicherung, also eigentlich zur Verlängerung des Arbeitslosengeldbezuges bzw. des Erhalts der Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit für Menschen, was ja letztendlich der Inhalt der Anträge hier bedeutet.
Wer in seinen Anträgen von falschen Grundlagen ausgeht bzw. dann auch noch falsch analysiert, der kommt natürlich zu diesen Ergebnissen, die im Antrag beschrieben sind, nämlich zu einer ausufernden Möglichkeit, das Arbeitslosengeld zu beziehen, und gibt den Menschen dadurch die Perspektivlosigkeit mit. Vor allen Dingen resultiert dies dann auch darin, dass Hartz IV natürlich letztendlich immer das Übel in unserer Gesellschaft ist;
({0})
das ist ja Ihre ständige Annahme.
Ich möchte zuerst manches zurechtrücken. Seit Einführung der Arbeitsmarktmaßnahmen, die wir seinerzeit getroffen haben, wurde die Zahl der Langzeitarbeitslosen mehr als halbiert, und zwar von 1,9 Millionen im Jahr 2006 auf jetzt nur noch 800 000 Menschen. Sozial ist, was Arbeit schafft,
({1})
und das Armutsrisiko von Arbeitslosen ist am höchsten, während das Armutsrisiko von Vollzeitbeschäftigten am geringsten ist; das muss man hier herausstellen. Sie aber wollen die Menschen in der Arbeitslosigkeit verharren lassen.
({2})
Es ist auch nicht und in keiner Weise erwiesen, dass der Niedriglohnsektor, den Sie immer kritisieren, damit ausgeweitet worden wäre.
({3})
Denn 2006 betrug der Anteil der Beschäftigten im Niedriglohnsektor 22,4 Prozent, im Jahr 2005 lag er bei 22,2 Prozent.
Auch die Reallöhne sind kräftig gestiegen, vor allen Dingen in den letzten Jahren. Damit sind insbesondere auch die Renten kräftig gestiegen. Das sind die Ergebnisse einer fundierten Arbeitsmarktpolitik, einer guten Sozialpolitik und vor allen Dingen auch einer Wirtschaftspolitik, die ja die Grundlage dafür ist, dass wir sehr viele Arbeitsplätze haben. Deshalb wäre es wesentlich wichtiger, zum Beispiel eine Unternehmensteuerreform auf den Weg zu bringen, damit in Zukunft weiterhin eine hohe Arbeitsplatzintensität in Deutschland vorhanden ist, werte Kolleginnen und Kollegen,
({4})
als den armen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, insbesondere den Geringverdienern, das Geld durch erhöhte Arbeitslosenversicherungsbeiträge abzunehmen. Frau Kollegin Ferschl, Sie haben das an Ihrem eigenen Beispiel aufgezeigt. Sie möchten 70 Monate lang Arbeitslosengeldbezug bzw. Arbeitslosengeld-Plus-Bezug. Wissen Sie, dass man nach fast sechs Jahren Entzug von Arbeit möglicherweise überhaupt keine Arbeit mehr annehmen will bzw. auch keine Chance auf dem Arbeitsmarkt hat? Das ist letztendlich die Konsequenz Ihrer Politik, und deshalb ist dieser Antrag hier meines Erachtens in keiner Weise zustimmungsfähig, ja fast schon gar nicht diskutierfähig; das muss man ja ehrlicherweise hier auch mit betrachten.
({5})
Wir haben heute erst wieder neue Zahlen bekommen. Ich möchte feststellen, dass wir trotz Schwierigkeiten – Sie haben die Schwierigkeiten aufgezählt: Arbeitsplatzabbau in verschiedensten Industriebetrieben und dergleichen mehr – gut daran tun, die deutsche Automobilindustrie in der Umstellungsphase weiterhin kräftig zu unterstützen und nicht die wertvolle und vor allen Dingen auch erfolgreiche deutsche Automobilindustrie ständig madig zu machen, wie Sie es immer wieder tun, und damit Arbeitsplätze zu gefährden.
({6})
Wir sollten aber auch die Chancen des Exportmarktes nicht gering schätzen, wie Sie es in Ihrem Antrag tun. Im Gegenteil: Wir leben als exportorientierte Nation letztendlich davon, dass die Menschen in unserem Land Arbeit haben; das ist in anderen Ländern nicht so zu verzeichnen.
Deshalb ist es letztendlich Unsinn, die Arbeitslosigkeit für die Menschen künstlich zu verlängern. Vielmehr ist das Entscheidende, die Menschen wieder in Arbeit zu bringen.
({7})
Das tun wir kräftig mit unseren Maßnahmen, die wir in der Vergangenheit hier bereits getroffen haben, und mit denen, die wir in der Zukunft noch diskutieren und umsetzen werden.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit und herzlichen Dank für die Geduld des Präsidenten.
({8})
Herr Kollege Straubinger, herzlichen Dank auch an Sie, dass Sie sich einigermaßen an die Redezeit gehalten haben. – Damit beende ich die Aussprache.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden heute über die Beteiligung des Bundes an den Integrationskosten für 2020 und 2021, über den Pakt für den Rechtsstaat und über eine unbemerkte milliardenschwere Entlastung der Kommunen. Wenn man ermessen will, was bei der Flüchtlingsfinanzierung zum gegenwärtigen Zeitpunkt gemacht wird, dann muss man sich eigentlich an das Jahr 2018 erinnern, als nämlich sozusagen eine Gruppe von Balkonwinkern die Regierungsbildung, jedenfalls den Versuch dazu, abgebrochen hat und wir von der SPD, obwohl wir selber schwierige Debatten hatten, relativ zügig mit der CDU/CSU eine Koalitionsvereinbarung geschlossen haben.
({0})
– Da muss man nicht lachen. Ihr Versagen ist ja auch nicht zum Lachen.
({1})
Es ist lächerlich; das ist der Unterschied. – Jedenfalls ist dann relativ schnell eine Finanzierungsregelung für 2018 und für 2019 getroffen worden.
Als eine neue Finanzierungsregelung des BMF für 2019 wegen der Länder sozusagen zum Scheitern verurteilt war, haben sich Bund und Länder am 6. Juni auf die Weiterführung für 2020 und 2021 verständigt, und zwar sowohl auf eine Pauschale von 670 Euro pro Flüchtling, auf eine Pauschale für die unbegleiteten Minderjährigen, auf die 100-Prozent-Übernahme der KdU für die arbeitslosen Flüchtlinge als auch auf zwei in der Summe etwas geminderte Zuweisungen bei der Integrationspauschale. Man kann über die Höhe sicherlich im Einzelnen diskutieren, aber ich will an dieser Stelle sagen: Wenn das seitens der Länder gemacht wird, man aber zugleich feststellt, dass zum Beispiel der Integrationsminister in Nordrhein-Westfalen davon nichts mehr weitergeben will, jedenfalls nach seinem neuen Haushalt, dann ist das etwas bedauerlich.
Auch über die Übernahme von 100 Prozent der KdU kann man füglich diskutieren. Ich weiß sehr wohl, dass das die Grenze der 5-Milliarden-Euro-Entlastung für die Kommunen eigentlich zugunsten der umsatzsteuerstarken Kommunen verschiebt; das ist etwas, was wir in Wirklichkeit nicht gewollt haben. Im Abwägungsprozess haben wir aber die 100-Prozent-Finanzierung der Kosten der Unterkunft für die Flüchtlinge dann doch übernommen. Und das ist eine gute Entscheidung. Wenn man das ändern will, dann bin ich der Auffassung, dass die Länder bei einer veränderten Aufgabenwahrnehmung auch tatsächlich mitwirken wollen müssen.
Ich weiß – in der Vergangenheit hat Herr Brinkhaus mich öfter mal daran erinnert –, wie das in Nordrhein-Westfalen so läuft. Deswegen will ich Ihnen mal ein Beispiel geben: Die kommunalen Spitzenverbände hatten sich dort mit der Landesregierung darauf verständigt, die Kosten für die geduldeten Flüchtlinge tatsächlich mal zu evaluieren. Wenn das dann so festgestellt worden ist, sollte das Land das umsetzen. Diese Untersuchung hat es gegeben. Tatsächlich sind es nicht 10 000 Euro, sondern 13 000 Euro, die jeder Geduldete sozusagen in einem Jahr verursacht. Das Ergebnis ist: Die Kommunen müssten eigentlich 300 Millionen Euro vom Land Nordrhein-Westfalen bekommen. Kriegen sie aber nicht. Das ist, ehrlich gesagt, keine Zuverlässigkeit. So kann man – ich hätte auch andere Länder nehmen können – mit den Kommunen nicht umgehen.
Ich sage mal ganz klar und deutlich: Wer Konnexität vom Bund fordert, muss sie in seinem eigenen Land, wie ich finde, auch anwenden. Ich sage an dieser Stelle jedenfalls, dass wir uns zu unserer Verantwortung, den Kommunen bei der Finanzierung der Flüchtlingskosten zu helfen, stehen und dass wir das auch gerne machen, weil uns dieser gesellschaftliche Zusammenhalt, den wir damit auch mitfinanzieren, wichtig ist.
Auch beim zweiten Teil haben wir, glaube ich, Wort gehalten, nämlich beim Pakt für den Rechtsstaat: 220 Millionen Euro für die Länder in zwei Raten für insgesamt 2 000 Stellen für Richter, Staatsanwälte.
({2})
Ich glaube, das ist ein sehr starkes Zeichen dafür, dass wir den Rechtsstaat auf diese Art und Weise sichern und nicht den Rechtsstaat aushöhlen oder den Rechtsstaat gefährden. Unser Grundverständnis von Rechtsstaat ist, dass er auch die entsprechenden Mittel für das Personal braucht.
Das dritte Thema, das ich ansprechen will, ist eine unbemerkte Entlastung der westdeutschen Kommunen bei der Finanzierung der Kosten der deutschen Einheit. Der eine oder andere weiß vielleicht, dass 1993 eine erhöhte Gewerbesteuerumlage an den Bund zur Mitfinanzierung des Aufbaus Ost geleistet werden musste. Diese erhöhte Gewerbesteuerumlage hat zwei Teile:
Erstens den Fonds „Deutsche Einheit“. Dieser Fonds „Deutsche Einheit“ war bereits im letzten Jahr ausfinanziert. Der Bund hat nicht etwa die Mittel weiterhin eingefordert, sondern ein Jahr vorher den Kommunen 518 Millionen Euro erstattet bzw. diese Umlage nicht mehr erhoben – so muss man es genauer sagen.
Der zweite Teil ist die Solidarpaktumlage, die sich mittlerweile bundesweit auf knapp 4 Milliarden Euro beläuft. Das ist eine ganz immense Summe. Ich darf an dieser Stelle mal betonen, was der Städtetag angesichts der Tatsache, dass dieser Solidarpakt, diese Solidarpaktfinanzierung Ende 2019 ausläuft, vom Bund gefordert hat. Es heißt dort im Gemeindefinanzbericht:
Die Gemeinden vertrauen darauf, dass der Bund seine Schutzfunktion für die Gemeinden wahrnehmen wird.
Genau das machen wir. Wir nehmen diese Schutzfunktion wahr. Die erhöhte Gewerbesteuerumlage läuft aus, und es gibt für uns jedenfalls keinen bundeseinheitlichen Grund dafür, diese Umlage fortzuführen, wie sich das vielleicht einige Länder gewünscht haben. Mal schönen Gruß an Hessen! Es gab auch Wortmeldungen aus Baden-Württemberg in diese Richtung. Das machen wir nicht. Wir bleiben an der Seite der Kommunen.
({3})
In jeder Kommune in Nordrhein-Westfalen, wenn ich das an dieser Stelle mal sagen darf – können Sie gerne nachfragen –, wird der Verzicht auf bzw. das Auslaufen der erhöhten Gewerbesteuerumlage einen hohen sechs- bis siebenstelligen Betrag, manchmal sogar achtstelligen, ausmachen. Das ist eine ganz erhebliche Entlastung und wird auch, glaube ich, die Debatte über den Ausgleich zwischen ost- und westdeutschen Kommunen befrieden.
Ich will an dieser Stelle noch mal den Gemeindefinanzbericht zitieren:
Der Bund würde sich … zum Büttel der Länder machen, wenn er … den Ländern … helfen würde, eben diese bundesseitigen Entlastungen den Kommunen wieder abzunehmen.
Das sagt der Gemeindefinanzbericht. Wir nehmen den Kommunen diese Mittel nicht ab; wir belassen sie ihnen. Wir sorgen dafür, dass sie bei den Kommunen bleiben. Wir sorgen dafür, dass es eine stabile, eine sozial gerechte und vernünftige Flüchtlingsfinanzierung gibt, dass der Bund seine Verantwortung wahrnimmt – und das ist auch gut so.
Herzlichen Dank.
({4})
Vielen Dank, Herr Kollege Daldrup. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Norbert Kleinwächter, AfD-Fraktion.
({0})
Werter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Dieser Gesetzentwurf zur Beteiligung des Bundes an den Integrationskosten der Länder und Kommunen ist genauso unehrlich wie das „Wir schaffen das!“ und die gesamte Regierung Merkel.
Weil die Regierung Merkel die Menschen darüber belogen hat, wie lang Flüchtlinge und illegale Migrantinnen und Migranten tatsächlich bei uns sind, werden jetzt eben mal den Ländern 1 200 Millionen Euro mehr ausgezahlt, und die Kommunen erhalten Kosten für Unterkunft und Heizung für hartzende anerkannte Asylbewerber erstattet. Das haben sie auch dringend nötig; denn mit Ihrer Politik hängen sie am Tropf Ihrer ständigen Rückerstattungen. Wenn ich Ihnen mal den Finanzhaushalt meines Landkreises Dahme-Spreewald zeige – er ist eigentlich gesund –, sehen Sie: Ab 2019 geht es abwärts. Vor zwei Jahren sah es schon genauso aus. Da ging es auch abwärts, weil da die Mittel nicht eingerechnet sind. Ohne die Mittel hängen die Kommunen am Tropf. Das ist das Ergebnis Ihrer desaströsen Politik.
({0})
Weil Sie die Menschen weiterhin darüber im Unklaren lassen wollen, wie viel das alles wirklich kostet, haben Sie auch kein Flüchtlingskostengesetz oder so etwas gemacht und auch keinen Planposten im Haushalt geschaffen. Sie ändern zugleich das Finanzausgleichsgesetz, das Zweite Buch SGB, die Verordnung zur Festlegung und Anpassung der Bundesbeteiligung an den Leistungen für Unterkunft und Heizung für das Jahr 2019, das Gemeindefinanzreformgesetz
({1})
und das Gesetz über Steuerstatistiken. Mal ändern Sie einen Betrag, mal ändern Sie eine Stellschraube bei einer Prozentzahl. Aber nie haben Sie das Wort „Flüchtlinge“ oder „Asyl“ drin. Es soll ja schließlich aussehen wie Leistungen für unsere Bürger.
({2})
Dazu tricksen Sie auch noch bei den Einnahmen. Weil Sie nämlich nach Ihren eigenen Gesetzen gar nicht so viel erstatten dürfen, wie Sie hier wollen, beteiligen Sie die Kommunen auch noch anders an der Umsatzsteuer. Also, Respekt den Beamten, die das so hingerechnet haben, dass es passt. Aber der Rechenweg ist nicht nur mir schleierhaft, sondern auch dem Bundesrechnungshof.
({3})
Ich weiß, ehrlich gesagt, nicht, ob es sich hier um bewusste Irreführung handelt oder um eine Verdrängung durchs Über-Ich. Wissen Sie, das ist ungefähr so, als wenn Ihre Tochter plötzlich anfängt, zu koksen.
({4})
Sie wissen, das ist falsch, aber Ihre Tochter will es unbedingt, und irgendwie finden Sie das geil. Deswegen sagen Sie: Ja, okay, wir finanzieren den Koks.
({5})
Aber das können wir nicht direkt so zugeben,
({6})
sondern wir deklarieren es einfach als Erhöhung des Pausenbrotgeldes und als Teenie-Anteil am elterlichen Einkommen.
({7})
Mit diesem Bild habe ich den Entschließungsantrag der Grünen, glaube ich, auch würdig kommentiert. Sie wollen ja schließlich ein Dauerabo durch Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes.
Fakt ist: Integrationsausgaben haben so wenig in irgendeinem Etat zu suchen wie Drogendealer im Görlitzer Park. Asyl ist ein Bleiberecht auf Zeit. Diese Leute sollen wieder gehen. Das bedeutet: Wir brauchen auch keine Integration.
({8})
Sie könnten sich wirklich diese gesamten Milliarden sparen, wenn Sie konsequent echte Flüchtlinge von illegalen Migranten trennen würden, wenn Sie konsequent das Recht einhalten würden,
({9})
wenn Sie konsequent abschieben würden, wer nicht hier sein dürfte.
Genau an diesem Punkt kommen wieder die Länder und die Kommunen ins Spiel, die von diesem Gesetz profitieren. Wenn die endlich auch sauber abschieben würden, hätten wir diese Probleme nicht.
({10})
Herr Kollege.
Es ist an der Zeit, dass alle zusammenarbeiten, dass diese Migrationspolitik beendet wird und dass diese Regierung Merkel beendet wird.
Herzlichen Dank.
({0})
Frau Kollegin – wer auch immer das war; Frau Möhring wahrscheinlich –, für den Begriff „Hetzer“ erteile ich Ihnen einen Ordnungsruf.
({0})
– Ich erteile Ihnen dafür einen zweiten Ordnungsruf. Beim dritten Ordnungsruf dürfen Sie den Saal verlassen.
({1})
– Das stellen wir gleich noch einmal fest. Keine Sorge, wir ordnen das ordentlich zu.
Als nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Markus Uhl.
({2})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will auf die Sachebene zurückkommen. Wir haben heute früh um 5 Uhr im Haushaltsausschuss in der Bereinigungssitzung den Bundeshaushalt 2020 finalisiert. Er hat ein Volumen von 362 Milliarden Euro bei Investitionen in Höhe von knapp 43 Milliarden Euro. Das ist ein Rekordwert. Das heißt zugleich: Die schwarze Null steht, die Nettokreditaufnahme liegt bei null. Das ist Generationengerechtigkeit unter schwieriger werdenden Bedingungen. Meine Damen und Herren, wir, der Bund, halten Wort.
({0})
Wir beraten heute in der zweiten und dritten Lesung das Gesetz zur Beteiligung des Bundes an den Integrationskosten der Länder und Kommunen in den Jahren 2020 und 2021. Meine Damen und Herren, dabei handelt es sich wie so häufig um ein Artikelgesetz, mit dem mehrere Gesetze geändert werden. Im Wesentlichen geht es dabei um drei Punkte.
Zunächst geht es um die Weiterführung der Bundesbeteiligung an den flüchtlingsbedingten Kosten der Länder und Gemeinden. Es ist eben schon gesagt worden: Die Bundesregierung und die Länder haben sich am 6. Juni 2019 auf die Weiterführung der Bundesbeteiligung verständigt. Aufgrund dieser Vereinbarung sollen die Länder vom Bund durch entsprechende Anpassungen im Finanzausgleichsgesetz über einen erhöhten Umsatzsteueranteil im Jahr 2020 eine Pauschale für flüchtlingsbezogene Zwecke in Höhe von 700 Millionen Euro erhalten und im Jahr 2021 in Höhe von 500 Millionen Euro. Der Bund wird die Kommunen darüber hinaus auch durch eine besondere Anhebung der Bundesbeteiligung an den Leistungen für Unterkunft und Heizung entlasten. Zudem wird der Bund den Verpflichtungen aus dem Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz gerecht, indem Zahlungen für 2020 und 2021 in Höhe von jeweils 1,8 Milliarden Euro weitergeführt werden.
Wenn ich einfach einmal aufsummiere, was auf der Uhr steht, dann kommen wir in den Jahren 2020 und 2021 insgesamt auf eine Entlastung von 6 Milliarden Euro und in 2019 nach einer Spitzabrechnung auf eine Entlastung in Höhe von knapp 5,3 Milliarden Euro. Damit, meine Damen und Herren, überschreiten wir die im Koalitionsvertrag vereinbarten Entlastungen der Länder und Kommunen in Höhe von 8 Milliarden Euro um ganze 3,3 Milliarden Euro. Wir halten Wort. Wir übererfüllen sogar das, was wir zugesichert haben.
({1})
Zugleich nehmen wir eine große Hürde bei der Umsetzung des Paktes für den Rechtsstaat. Ziel ist es unter anderem, im Sicherheitsbereich, im Besonderen im Justizbereich, 2 000 neue Richterstellen zu schaffen – bei den Ländern und beim Bund. Die Länder haben jetzt erklärt, dass sie geliefert haben, nämlich seit 2017 insgesamt 1 217 neue Stellen. Damit haben die Länder mehr als die Hälfte der Stellen geschaffen, die zugesichert waren, und erhalten daher ebenfalls eine Tranche von 110 Millionen Euro.
({2})
Die zweite Tranche wird ausgezahlt, wenn die Vereinbarung vollständig erfüllt ist. Ich würde mir wünschen, dass wir für die einzelnen Länder eine Komplettübersicht bekommen würden. Das würde das Ganze transparent machen, meine Damen und Herren.
({3})
Sie sehen auch hier: Der Bund macht den Justiz- und den Sicherheitsbereich zukunftsfest, und der Bund kommt seinen zugesagten Verpflichtungen in vollem Umfang nach.
Bundesseitig, meine Damen und Herren, haben wir auch geliefert. Wir haben in dieser Legislaturperiode 71 neue Stellen beim Generalbundesanwalt und 24 Stellen beim Bundesgerichtshof geschaffen. Wir haben gemeinsam vereinbart, im Sicherheitsbereich bei den Polizeien des Bundes und der Länder insgesamt 15 000 neue Stellen zu schaffen. Wenn wir uns die Entwicklungen beim Bund seit 2017 einfach mal anschauen, dann sehen wir beim Bundeskriminalamt einen Aufwuchs um 1 363 Stellen, bei der Bundespolizei um 6 630 Stellen und beim Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik 528 Stellen, davon 30 ab 2020 in Saarbrücken im Saarland, worüber ich mich persönlich sehr freue.
({4})
Meine Damen und Herren, damit ist klar, dass der Bund seinen Anteil am Pakt für den Rechtsstaat mittlerweile übererfüllt. Das ist gut für die innere Sicherheit, und das ist gut für unseren Rechtsstaat.
Zum Dritten regeln wir in diesem Gesetz im Einvernehmen mit den Ländern die Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen zum Ausgleich von Sonderlasten durch die strukturelle Arbeitslosigkeit und daraus entstehender überproportionaler Lasten bei der Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe.
({5})
Meine Damen und Herren, damit sehen Sie erneut: Der Bund kommt all seinen Verpflichtungen, die er eingegangen ist, nach. Wir übererfüllen sie sogar. Das ist gut für unsere Länder. Das ist gut für unsere Gemeinden. Daher bitte ich um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank, Herr Kollege. – Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, stelle ich klar, dass die zuvor erteilten Ordnungsrufe Frau Dr. Sitte für den Begriff „Hetzer“ und Frau Dr. Tackmann für die Kommentierung meines Ordnungsrufes treffen.
({0})
– Umgedreht. Gut, Sie können entscheiden, wie Sie das haben wollen. Wir haben versucht, das zu analysieren. Dann bekommen Sie, Frau Dr. Tackmann, den Ordnungsruf für den Begriff „Hetzer“ und Sie, Frau Dr. Sitte, für die Kommentierung des Ordnungsrufes. Wenn es noch mehrere bei der Linken gibt, die einen Ordnungsruf erhalten wollen, gerne melden.
({1})
Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Benjamin Strasser, FDP-Fraktion.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Viele von uns sind, wie ich auch, schon länger Mitglied in einem Gemeinderat und haben durch ihre Entscheidungen vor Ort selber miterlebt, welche großen Herausforderungen die Städte und Gemeinden, aber auch 10 000 ehrenamtliche Helferinnen und Helfer seit dem Sommer 2015 gemeistert haben. Insofern ist es gut, dass sich der Bund an den Integrationskosten der Länder und vor allem der Kommunen in den Jahren 2020 und 2021 mit insgesamt 1,2 Milliarden Euro beteiligt.
({0})
Denn der Bund darf die Länder und Kommunen bei dieser wichtigen Aufgabe nicht im Regen stehen lassen. Da unterstützen wir Freie Demokraten Sie ausdrücklich.
Aber: Was wir als Freie Demokraten nicht unterstützen können, ist die Art und Weise der Finanzierung dieser Kosten.
({1})
Da sammelt die Große Koalition aus Haushaltsresten – man höre und staune: aus Haushaltsresten – 35,2 Milliarden Euro an und parkt sie im sogenannten Sondervermögen der Asyl- und Flüchtlingsrücklage. „Sondervermögen“ klingt gut; aber das ist nichts anderes als ein Schattenhaushalt der Großen Koalition. Wenn dem nicht so wäre, dann würden Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU, CSU und SPD, diesem Finanzierungsweg, wie er jetzt im Gesetzentwurf steht, auch nicht zustimmen. Sie müssten ansonsten nämlich den Bundesfinanzminister nach den Grundsätzen von Klarheit und Wahrheit in der Haushaltsführung auffordern, die 1,2 Milliarden Euro aus ebendiesem Sondervermögen zu finanzieren. Das Geld ist ja da.
({2})
Aber ich vermute, dass eben genau diese 35,2 Milliarden Euro bereits für anderes verplant sind und Sie intern eher von etwas anderem sprechen und es einen anderen Titel tragen wird, nämlich „Sondervermögen zur Finanzierung von Wünschen der SPD zum Verbleib in der Großen Koalition“.
({3})
Und das machen wir Freie Demokraten nicht mit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, alle, die beim Staat einmal eine finanzielle Förderung beantragt haben, wissen, was das für ein Nachweismarathon ist. Insofern begrüßen wir natürlich jede Vereinfachung und Entbürokratisierung. Aber dass die Große Koalition dann ausgerechnet bei der Schaffung von 1 000 Stellen für Richterinnen und Richter sowie für Staatsanwältinnen und Staatsanwälte im Rahmen des Pakts für den Rechtsstaat auf einen zumindest nachvollziehbaren Nachweis, ob, wie und welche Länder ihren Verpflichtungen nachgekommen sind, verzichtet, das ist schon bemerkenswert. Das sagen nicht nur wir als Freie Demokraten; das sagt Ihnen vor allem auch der Bundesrechnungshof.
({4})
Für die Funktion unseres Rechtsstaats müssen Gerichte und Staatsanwaltschaften so ausgestattet sein, dass das geltende Recht auch in angemessener Zeit durchgesetzt werden kann. Eine personelle Verstärkung im Rahmen des Pakts für den Rechtsstaat muss nachhaltig erfolgen und auch in der Fläche wirken. Das gewährleisten Sie mit Ihrem Gesetzentwurf leider nicht, und deshalb können wir ihm auch nicht zustimmen.
Vielen herzlichen Dank.
({5})
Vielen Dank, Herr Kollege Strasser. – Als nächste Rednerin hat für die Fraktion Die Linke das Wort die Kollegin Kerstin Kassner.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Es gibt vieles, was ich in meiner zehnjährigen Zeit als Landrätin auf der schönen Insel Rügen gelernt habe und was mir auch heute noch nutzt. Ich erinnere mich zurück: Eine der Erkenntnisse, die ich in dieser Zeit gewonnen habe, betrifft auch den jetzigen Gegenstand der Tagesordnung, nämlich die Integration. Manche denken ja: Das ist etwas Temporäres, was wir jetzt leisten müssen. – Nein, das ist ein Trugschluss. Die Integration ist eine Daueraufgabe.
({0})
Wenn wir in die Welt blicken, so werden wir auch die Ursachen dafür erkennen. Krieg, Verfolgung, sich verschärfende Umweltbedingungen, die es den Menschen nicht mehr möglich machen, in ihrer Heimat zu verbleiben – all das sind Ursachen, weswegen sich Menschen auf den Weg machen, auch zu uns. Wir müssen damit umgehen. Und wenn wir wollen, dass diese Integration tatsächlich erfolgreich ist, dann müssen die Rahmenbedingungen dafür stimmen.
({1})
Solche Rahmenbedingungen schaffen in erster Linie natürlich die Kommunen selbst. Erinnern wir uns doch mal zurück an die Jahre 2015/2016. Was für eine Herkulesaufgabe wurde damals von den Kommunen gestemmt! Es wurde gezeigt, dass man sehr wohl in der Lage ist, mit sich verändernden Bedingungen wirklich umzugehen. Das ist das Ergebnis von Ehrenamtlern, die Großes geleistet haben, die Vorbild sind, die manchmal nicht einmal ein einziges Dankeschön dafür bekommen haben, aber auch von Mitarbeitern in Verwaltungen, ob in der Arbeitsverwaltung, ob in der Gemeindeverwaltung, ob in der Landkreisverwaltung. Sie mussten mit sehr viel Fingerspitzengefühl und Ideenreichtum zu Werke gehen und haben es geschafft, diese Herkulesaufgabe zu stemmen. Von dieser Stelle dafür noch mal ein Dankeschön! Aber, liebe Kommunalos: Ihr müsst diese Aufgabe auch weiterhin leisten; denn es ist eine dauerhafte Aufgabe.
({2})
Zweitens müssen natürlich auch die rechtlichen Rahmenbedingungen stimmen; das ist existenziell. Ich glaube, auch Sie werden in Ihren Wahlkreisen gehört haben, dass geflüchtete Menschen sehr wohl gut integriert sind, auch gern arbeiten würden bzw. sogar Arbeitgeber gefunden haben, die sie einstellen wollen, aber die rechtlichen Bedingungen dagegensprechen. Sie dürfen nicht arbeiten. Das ist etwas, was die Menschen vor Ort keineswegs verstehen.
({3})
Deshalb müssen wir hier ansetzen und Veränderungen schaffen.
Drittens muss natürlich das Geld stimmen. Deshalb stimmt meine Fraktion zu, dass wir diese Integrationskosten tragen: 500 Millionen Euro für 2020. Aber wir wünschen uns, dass wegen der Daueraufgabe auch 2021 diese Rahmenbedingungen so gegeben sein werden. Darum werden wir kämpfen.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank, Frau Kollegin Kassner. – Als nächste Rednerin hat die Kollegin Filiz Polat, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Erst- und Grundversorgung sowie die soziale und wirtschaftliche Integration von Geflüchteten ist und bleibt eine Gemeinschaftsaufgabe von Bund, Ländern und Kommunen. Diese gesamtstaatliche Aufgabe kann nur im Dreiklang erfolgreich bewältigt werden. Dabei war und ist die Beteiligung des Bundes an den Integrationskosten ein wichtiger und notwendiger Beitrag gewesen, weil es bei der Kostenverteilung bzw. bei der finanziellen Verantwortung eine enorme Schieflage gibt.
Diese Schieflage liegt begründet im Asylbewerberleistungsgesetz. Das muss an dieser Stelle mal gesagt werden, meine Damen und Herren.
({0})
Denn seit mehr als 25 Jahren wird die Versorgung der Geflüchteten und Menschen in prekären Aufenthaltssituationen durch das Asylbewerberleistungsgesetz des Bundes geregelt. Was bedeutet das? Dieses Sondergesetz führt nicht nur zu einer Versorgung der Betroffenen unterhalb des verfassungsrechtlich garantierten Existenzminimums, zu einem Ausschluss aus der gesundheitlichen Regelversorgung, sondern führt auch dazu, dass die Kostenlast bei Land und Kommunen liegt. Das musste an dieser Stelle einmal gesagt werden, und deswegen haben wir einen Entschließungsantrag genau mit folgender Forderung gestellt: Wir sind diejenige Fraktion, die die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes fordert.
({1})
Wäre das schon der Fall, dann würden wir an dieser Stelle gar nicht über die generöse Kostenübernahme des Bundes reden, meine Damen und Herren.
Nun haben wir die vereinbarte Pauschale für drei Monate pro Asylbewerber. Dem steht aber ein Leistungsbezug von 18 Monaten gemäß Asylbewerberleistungsgesetz entgegen. Da entsteht eine richtig große Kostendifferenz, die letztendlich Länder und Kommunen tragen.
Hinzu kommt Ihre Verschärfung des Aufenthalts- und Asylrechtes mit dem Ziel, die Desintegration zu fördern, statt die Integration zu forcieren, und zwar durch Arbeitsverbote, Wohnsitzauflagen, eingeschränkten Zugang für viele zu den Sprachkursen des BAMF. Warum führt das zu weiteren Kosten? Wenn die Menschen sich sozial und wirtschaftlich nicht integrieren können, können sie auch nicht eigenverantwortlich ihr Leben in die Hand nehmen.
({2})
Das ist das zweite Problem bei diesem Thema.
Daher ist es aus grüner Sicht das Mindeste, dass es die Beteiligung des Bundes an den Kosten der Unterkunft gibt, an der Versorgung von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern, auch wenn es nur für die drei Monate ist, oder eine Verteilung der Kosten für die unbegleiteten minderjährigen Ausländerinnen und Ausländer zugunsten der Länder bzw. der Leistungsträger, also letztendlich für die kommunale Ebene, vorgenommen wird.
Herr Strasser, danke, dass Sie das angesprochen haben – auch die Kollegin hat es als ehemalige Landrätin angesprochen –: Nicht nur Länder und Kommunen, auch die Zivilgesellschaft leistet einen großen Beitrag, beispielsweise durch die Einrichtung psychosozialer Zentren, durch Beratungsangebote, auch durch Sprachkurse und die vielen anderen Begegnungs- und Integrationsprojekte vor Ort. Die waren und sind ein unschätzbarer Wert und ein unverzichtbarer Baustein in der Gesamtaufgabe der Integration geworden, meine Damen und Herren.
({3})
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Umso schlimmer ist, dass diese Angebote nun gefährdet sind, –
Frau Kollegin, kommen Sie jetzt bitte zum Schluss.
– weil der Bund seine Beteiligung an der Integrationspauschale drastisch kürzt. Damit werden zahlreiche Projekte, Netzwerke, Strukturen vor dem Aus stehen. Die können nicht von den Ländern – –
({0})
Frau Kollegin, ich habe Ihnen das Wort entzogen; denn Sie sind 30 Sekunden über der Zeit. Nehmen Sie bitte Platz.
({0})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt spricht der Kollege Sebastian Brehm, CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Frau Kollegin Polat, nach dem Grundgesetz tragen Bund und Länder gesondert die Ausgaben, die sich durch die Wahrnehmung ihrer Aufgaben ergeben. Das ist so im Grundgesetz geregelt und nennt sich Subsidiaritätsprinzip. Die Aufgabenwahrnehmung in genau diesem Bereich obliegt eben grundsätzlich den Ländern. Dies gilt auch für alle Sozialleistungen, die natürlich hauptsächlich auf der kommunalen Ebene anfallen. Die Länder haben hier die Aufgabe, die Kommunen entsprechend auszustatten.
({0})
Mit dem Gesetz zur Beteiligung des Bundes an den Integrationskosten der Länder und Kommunen aus dem Jahr 2016 verpflichtete sich der Bund – aus der außergewöhnlichen Situation des Jahres 2015 heraus –, die Kosten der Unterkunft und Heizung, KdU, für anerkannte Asyl- und Schutzberechtigte für die Jahre 2016 bis 2018 und später auch für 2019 vollständig zu übernehmen. Das Programm zur Übernahme dieser Kosten war zunächst bis 2019 befristet. Zudem stellte der Bund für die Jahre 2016 bis 2019 zur weiteren Entlastung eine jährliche Integrationspauschale in Höhe von 2 Milliarden Euro durch die Änderung der vertikalen Umsatzsteuerverteilung zur Verfügung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bund hat damit die finanzielle Belastung aufgrund dieser außergewöhnlichen Situation seit dem Jahr 2015 übernommen und übernimmt sie auch weiterhin. Wir stehen zu den Kommunen in unserem Land und übernehmen die Verantwortung. Herr Kollege Daldrup, es ist richtig: Auch die Länder müssen hier Verantwortung übernehmen.
({1})
Auch wenn die Kosten Gott sei Dank deutlich sinken, sind natürlich auch heute noch Kosten aus diesem Bereich zu tragen. Deshalb haben sich die Bundeskanzlerin und auch die Regierungschefs der Länder im Juni dieses Jahres – es wurde schon darauf hingewiesen – auf die Weiterführung der Bundesbeteiligung an den flüchtlingsbedingten Kosten von Ländern und Kommunen für die Jahre 2020 und 2021 verständigt. Heute schließen wir das Gesetzgebungsverfahren hierüber ab.
Die bis zum Jahr 2019 befristete Entlastung von zusätzlichen Kosten der Unterkunft und Heizung wird bis 2021 verlängert. Damit werden die Kommunen für die Jahre 2020 und 2021 um 1,8 Milliarden Euro jährlich entlastet, und zusätzlich wird die Pauschale, die vormals 2 Milliarden Euro betragen hat, für 2020 mit 700 Millionen Euro und für 2021 mit 500 Millionen Euro gewährt. Auch das sind Kosten, für die wir die Verantwortung übernehmen. Gott sei Dank sinken sie, und wir werden sehen, ob wir nach 2021 noch Integrationspauschalen in dieser Höhe zahlen müssen. Das muss man evaluieren, wenn es so weit ist.
Dies konnte aber auch erreicht werden, liebe Kolleginnen und Kollegen, weil die Bundeskanzlerin und die Regierungschefs der Länder den Pakt für den Rechtsstaat geschlossen haben und weil wir hier die Voraussetzungen geschaffen haben, 2 000 Stellen in der Justiz zu schaffen. 1 200 Stellen – das wurde vorhin schon diskutiert – sind inzwischen geschaffen worden, sodass die hohen Fallzahlen auch abgearbeitet werden können und hier auch eine Entlastung der Kommunen und der Länder bei den Kosten anfällt. Das ist ein guter Weg in die richtige Richtung; denn wir brauchen diese neuen Stellen in der Justiz, damit wir die Fälle noch schneller abarbeiten können. Das vermindert auch die Kosten für die Kommunen.
Deshalb werden wir als Bund auch weiterhin die Verantwortung übernehmen. Wir entlasten die Kommunen, wir übernehmen die Verantwortung in diesem Bereich, und deshalb stimmen wir dem Gesetzentwurf in der zweiten und dritten Lesung heute zu. Ich bitte Sie alle, ebenfalls zuzustimmen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute Morgen hat dieses Haus das Klimapaket verabschiedet, an der Wasserstoffstrategie wird vonseiten der Bundesregierung – das zuständige Ministerium ist, glaube ich, gar nicht anwesend – derzeit allerdings noch gearbeitet. Das ist die falsche Reihenfolge, meine Damen und Herren. Wasserstoff ist ein vielseitiger Alleskönner. Wasserstoff muss zentraler Bestandteil der Klimastrategie sein. Ich habe bereits im Juli erklärt: Deutschland muss das Wasserstoffland Nummer eins werden.
({0})
Dass Bundeswirtschaftsminister Altmaier diese Forderung jetzt wörtlich übernommen hat, freut mich außerordentlich. In der ersten Hälfte der GroKo ist viel angekündigt worden; es wäre schön, wenn im Zusammenhang mit Wasserstoff in der zweiten Hälfte der GroKo dann auch geliefert wird.
({1})
Andere Redner werden hier bestimmt artikulieren, es werde schon alles gemacht. Aus unserer Sicht wird nicht genug gemacht. Wir brauchen mehr Tempo bei dieser Technologie. Meine Damen und Herren, ich erlaube mir, an dieser Stelle zu sagen: Karlsruhe ist eine schöne Stadt. Ich habe mir in meinem Wahlkreis Karlsruhe am KIT angeschaut, wie die Technologie erforscht und entwickelt wird, mit der wir die Klimaprobleme tatsächlich in den Griff bekommen können. Ein Elektrolyseur ist heute nicht mehr groß. Das ist ein kleiner Container; den kann man neben jeden Windpark stellen, den kann man aber auch großindustriell unter Nutzung von Photovoltaik einsetzen. Deutschland sollte mit dafür sorgen, dass Wasserstoffproduktionskapazitäten mit Technologien wie Sun to Liquid, also die Gewinnung von klimaneutralem Treibstoff direkt aus Sonnenenergie, in den südeuropäischen Ländern erhöht werden. Wir würden damit einen Beitrag zur Stabilisierung der Euro-Zone leisten.
Deshalb schlage ich hier für meine Fraktion, die Fraktion der Freien Demokraten, eine europäische Wasserstoffunion vor. So wie wir nach dem Zweiten Weltkrieg mit Euratom und der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl bei den alten Technologien der Energieerzeugung europäisch zusammengearbeitet haben, sollten wir jetzt beim Wasserstoff vorangehen.
({2})
Eine europäische Wasserstoffunion wäre jetzt das Gebot der Stunde.
Überhaupt muss der Ordnungsrahmen verändert werden. Ein europäischer Emissionshandel für Verkehr und Wärme würde den Ordnungsrahmen setzen, sodass der Markt dann auch funktioniert. Die Bundesregierung muss endlich dafür sorgen, dass bei den Flottengrenzwerten auch klimaneutrales Benzin und klimaneutraler Diesel akzeptiert und angerechnet werden können. Dann könnten Millionen von Altfahrzeugen auch in Zukunft klimaneutral gemacht werden, dann könnten wir diese Verbrennungstechnologie auch in Zukunft nutzen. Und damit wären in der Wertschöpfungskette viele Hunderttausende, wenn nicht sogar Millionen Arbeitsplätze in der Automobilindustrie und bei den Zulieferern gesichert.
({3})
Angesichts des Abschwungs ist das das richtige Signal, meine Damen und Herren.
Und dann natürlich die Brennstoffzelle. Ich erinnere mich an die Aussagen von Anton Hofreiter und die Diskussionen in den Jamaika-Sondierungen oder auch beim E-Mobility-Forum. Da hat er argumentiert, es gebe nur die batteriebetriebene Elektromobilität. Nein, wir brauchen Technologieoffenheit, wir brauchen auch die Brennstoffzelle. Die Behauptung, die hier heute Morgen noch mal wiederholt wurde, dass die Chinesen uns dazu zwingen würden, die batteriebetriebene Elektromobilität einzuführen, ist doch widerlegt; sie ist ein Märchen. Die Chinesen werden die Batterieförderung ab 2021 beenden und setzen voll auf die Brennstoffzelle.
({4})
Meine Damen und Herren, die Brennstoffzelle wurde in Deutschland entwickelt, aber wir laufen Gefahr, diese Technologie zu verlieren. Deshalb muss bei Wasserstoff und bei der Brennstoffzelle mehr Tempo gemacht werden; denn die Technologien sind ja da.
Und dann muss man – heute ist ja Freitag – sagen: Freiheit for Future. Future by Technology. Dann brauchen wir auch nicht Fahrverbote, dann brauchen wir keine Einschränkung der individuellen Mobilität, sondern dann kann die Freiheit mit Klimaschutz verbunden werden. Es lohnt sich, dafür zu kämpfen.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Herr Kollege Theurer. – Ihr zutreffender Hinweis auf die mangelnde Präsenz der Bundesregierung hat dazu geführt, dass es eine unwesentliche, aber doch merkbare Verstärkung auf der Regierungsbank gegeben hat.
({0})
Gleichwohl möchte ich erneut meinen Unmut darüber zum Ausdruck bringen, dass die Bundesregierung so schwach vertreten ist;
({1})
denn wesentliche Beiträge des Hauses können dann keinen Eingang in die Überlegung der Bundesregierung finden.
Als nächster Redner hat der Kollege Mark Helfrich, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({2})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bereits im Jahr 1874 sah der französische Autor Jules Verne in seinem Buch „Die geheimnisvolle Insel“ im Wasserstoff die Zukunft; denn er schrieb: „Das Wasser ist die Kohle der Zukunft.“ Es ist schön, dass die Kolleginnen und Kollegen der FDP-Fraktion diese Vision von Jules Verne 145 Jahre später mit uns teilen.
({0})
Für die Union ist Wasserstoff der Schlüsselrohstoff einer erfolgreichen Energiewende. Wenn wir bis Mitte des Jahrhunderts treibhausgasneutral sein wollen, brauchen wir Grünen Wasserstoff. Wasserstoff, hergestellt aus Ökostrom, ermöglicht die Reduzierung von Treibhausgasen in Bereichen, in denen bis jetzt fossile Energieträger dominieren. Gerade für die deutsche Industrie ist Grüner Wasserstoff die einzige Alternative zu Kohle, Öl und Gas. Andernfalls bliebe nur die Deindustrialisierung, die hoffentlich für niemanden hier im Hause eine wirkliche Option ist. Denn die Industrie in unserem Land ist die Basis unseres Wohlstands, und ich hoffe, auch das wird hier im Haus niemand bestreiten wollen.
Aus meiner Sicht wird Grüner Wasserstoff vor allem für die Stahl-, Chemie- und Grundstoffindustrie von existenzieller Bedeutung werden. Die Stahlbranche zählt dabei zu den Industriezweigen mit den höchsten Kohlendioxidemissionen. Sie stößt jährlich rund 56 Millionen Tonnen CO2 aus und ist damit für gut 6 Prozent der deutschen Emissionen verantwortlich.
Es gibt viele Konzerne, die an dem Einsatz von Grünem Wasserstoff arbeiten. So zählt zum Beispiel die Salzgitter AG zu den Pionieren auf diesem Gebiet. Schon seit zwei Jahren wird im zweitgrößten Stahlstandort der Republik, im Hüttenwerk Salzgitter, Wasserstoff aus einem eigenen Elektrolyseur bei der Veredelung von Rohstahl eingesetzt. Bis Mitte des nächsten Jahres sollen zwei weitere Elektrolyseure folgen.
Auch thyssenkrupp will in Duisburg einen Hochofen umrüsten, um die Kohle in der Stahlherstellung teilweise durch Wasserstoff zu ersetzen. Denn bereits mit einem Drittel Wasserstoff und zwei Dritteln Erdgas könnte man gegenüber dem heutigen Verfahren rund ein Viertel der CO2-Emissionen einsparen. Daran lässt sich ablesen, wie viel die Stahlindustrie für den Klimaschutz bereits bewegt und vor allem noch bewegen könnte. Technisch gesehen könnte die Stahlindustrie zum Beispiel schon morgen damit anfangen, ihre Produktion auf annähernd CO2-freie Verfahren umzustellen. Die nötigen Technologien dafür sind vorhanden.
Aber auch im Bereich der Mobilität sind Wasserstoff und daraus hergestellte synthetische Kraftstoffe der Treibstoff der Zukunft. Dies betrifft insbesondere die Luftfahrt, den Schwerlastverkehr und die Schifffahrt, wo Batterieantriebe nicht praktikabel sind.
Meine Damen und Herren, die Industrie und der Verkehrssektor brauchen unsere Unterstützung; denn die Umstellung der Produktion auf grüne Produkte ist derzeit nicht wirtschaftlich. Sie sind auf dem Weltmarkt gegenüber konventionell hergestellten Produkten nicht konkurrenzfähig. Deshalb müssen wir Anreize dafür schaffen, dass beispielsweise klimafreundlicher Stahl oder grüne Kraftstoffe produziert werden. Hierfür braucht es die richtigen politischen Rahmenbedingungen und auch staatliche Förderungen, die notwendige Investitionen in Forschung und Entwicklung auslösen.
({1})
Ich möchte betonen, dass wir hier keinesfalls bei null anfangen. Wir haben schon wesentliche Dinge bei diesem Thema angeschoben. Dazu zählt der „Ideenwettbewerb Reallabore der Energiewende“. In elf der 20 Reallabore erproben Unternehmen neue Wasserstofftechnologien in der Anwendung, unter realen Bedingungen sowie im industriellen Maßstab. Gerade im Norden unseres Landes und insbesondere meiner Heimat Schleswig-Holstein wird hier sehr viel Pionierarbeit geleistet.
({2})
– Ja, das stimmt.
Für die Reallabore stellt das BMWi bis 2022 jährlich 100 Millionen Euro zur Verfügung. Zusätzlich werden für die Reallabore in Strukturwandelregionen weitere 200 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Das allein zeigt schon, dass hier in den nächsten Jahren viel passiert, und zwar nicht nur bei Forschung und Entwicklung, sondern auch bei der Wasserstoffproduktion und ‑anwendung.
Die Bundesregierung wird nämlich bis Ende des Jahres eine Nationale Wasserstoffstrategie beschließen. Mit dieser werden Rahmenbedingungen für den Wasserstoffrealbetrieb geschaffen, damit Wasserstoff seine industriellen Potenziale entfalten kann. Grüner Wasserstoff soll so schnell wie möglich in industriellem Maßstab in Deutschland produziert werden. Ziel ist es, Deutschland international zu einem Vorreiter bei Grünem Wasserstoff zu machen und die Nummer eins bei Wasserstofftechnologien in der Welt zu werden.
({3})
Angesichts der zahlreichen Anwendungsbereiche wird Grüner Wasserstoff perspektivisch aber zur Mangelware in Deutschland werden. Es ist kaum vorstellbar, dass wir die dafür zusätzlich benötigten Grünstromerzeugungskapazitäten in Deutschland zugebaut bekommen. Deshalb wird der Import Grünen Wasserstoffs Kernbestandteil der Nationalen Wasserstoffstrategie werden.
Mit Wasserstoffpartnerschaften zu Produktion und Transport eröffnen wir zum Beispiel afrikanischen Staaten den Weg in globale Energiemärkte. Das ermöglicht Entwicklung in Afrika und bewahrt Wohlstand in Deutschland. Das ist dann sozusagen Desertec H2.0.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, wie Sie sehen, sind viele Ihrer guten Vorschläge von der Union bereits in der Mache. Dies gilt im Übrigen auch für Ihre Vorschläge zum nationalen und europäischen Emissionshandelssystem. Diese sind im Klimaschutzprogramm der Bundesregierung bereits vorgesehen.
({4})
Sehr verehrte Damen und Herren, kommen wir noch kurz zum Antrag der AfD-Fraktion zum Thema Pyrolyseförderung. Sie fordern die Bundesregierung auf, die Pyrolyseforschung stärker zu fördern und eine leicht zu bedienende Pyrolyseanlage zur Entsendung in Entwicklungsländer zu konzipieren und marktfähig zu machen. Ihr Antrag liest sich ehrlicherweise wie ein Lastenheft für das THW und weniger wie ein parlamentarischer Antrag.
Grundsätzlich halte ich die Umwandlung von Kunststoffabfällen in Rohstoffe für einen richtigen Ansatz im Sinne der Kreislaufwirtschaft; dazu gibt es bereits vielfältige Ansätze. Experten sehen das Potenzial aber eher bei großen Energiekonzernen, die die Pyrolyseanlagen in Raffinerieprozesse einbinden. Entsprechende Planungen laufen beim Chemieriesen BASF und auch beim Energiekonzern OMV.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zum Schluss kommen. Wenn wir gemeinsam an einem Strang ziehen – am besten auch noch in dieselbe Richtung –,
({5})
dann bin ich mir sicher, dass wir beim Thema Wasserstoff tatsächlich Erfolge verzeichnen können.
Herzlichen Dank.
({6})
Vielen Dank, Herr Kollege Helfrich. – Als nächster Redner hat das Wort für die AfD-Fraktion der Kollege Ulrich Oehme.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Zuschauer! Der Antrag der FDP analysiert die deutsche Energiewende sehr realistisch. Ja, die Energiepolitik ist ineffizient und teuer. Vor allen Dingen aber ist sie einseitig. Viel zu sehr versteift sie sich auf wenige Lösungen. Das Adjektiv „grüner“ im Zusammenhang mit Wasserstoff lassen wir einfach mal beiseite; Wasserstoff ist weder grün noch gelb noch rosa; er ist durchsichtig.
Die Elektromobilität durch Batteriebetrieb birgt eine soziale Komponente in sich. Erst gestern Nacht sprachen wir über ausbeuterische Kinderarbeit, welche sich beim Abbau der Rohstoffe für die Elektromobilität noch verstärken wird. Anstatt nach sozialverträglichen Lösungen zu suchen, wie zum Beispiel der von der FDP eingebrachte Vorschlag, den Gewinn von Wasserstoff als Energieträger in das Energiekonzept miteinzubeziehen, vorsieht, hält man stur an den bisher bekannten Ideen fest.
Durch die unnötige Abkehr von Atomenergie, die Verteufelung fossiler Brennstoffe und das dogmatische Festhalten an Batterien verliert Deutschland immer mehr den Anschluss. Warum also nicht andere Möglichkeiten erforschen, die vielleicht sogar weitere Probleme lösen könnten?
Ein solches Beispiel möchte ich dem heute vorliegenden Antrag beistellen. Bereits in meiner letzten Haushaltsrede bin ich auf das Thema Pyrolyse eingegangen, die aus Abfall einen Rohstoff macht und eine konkrete Lösung für ein konkretes Problem in Entwicklungsländern bietet. Herr Helfrich, nicht nur Großanlagen, sondern auch kleine Anlagen können dies tun. Statt über die homöopathischen Mengen des Gases CO2 und dessen Verringerung zu diskutieren, sehen wir die in den nächsten Jahren zu erwartende Bevölkerungsexplosion und die Gewährleistung der Ernährungssicherheit als ein größeres Problem. Eines der großen Risiken in diesem Zusammenhang sind die Weltmeere, die durch Plastikmüll immer mehr Gefahr laufen, als Nahrungsquelle auszufallen.
({0})
Der sich auf dem Festland befindende Plastikmüll darf gar nicht erst in die Weltmeere gelangen; denn dort ist er kaum extrahierbar. Wer schon einmal außerhalb Mitteleuropas war, weiß, wovon ich spreche: Plastikmüll überall – auf Feldern, Straßen und Plätzen. In den Ländern gibt es kaum ein Bewusstsein für Umweltschutz. Entsorgungsbetriebe und Müllverbrennungsanlagen sind kaum vorhanden oder haben nicht die Kapazitäten, um mit dem eigenen Müll umzugehen. Schadstoffe versickern im Boden und gelangen ins Grundwasser, zerstören die Umwelt und belasten die Gesundheit der Bevölkerung.
Dazu kommt noch, dass die Industriestaaten ihren Müll in diese Länder exportieren. Allein aus Deutschland werden jährlich 1,2 Millionen Tonnen Plastikmüll, der in unseren Müllverbrennungsanlagen nicht verbrannt werden kann, irrationalerweise in Entwicklungsländer exportiert. Das Schlimme ist, dass der Export von Müll auch als Recycling gilt. Das ist, gelinde gesagt, zutiefst menschenverachtend und zynisch und unserer Bevölkerung nicht zu vermitteln. Später senden wir dann Entwicklungshilfe in Millionenhöhe an diese Länder, um die durch diese Praxis verursachten Auswirkungen zu beheben. Eine wirkliche Lösung ist dies nicht.
Pyrolyse könnte hier Abhilfe schaffen. Mittels Pyrolyse können Kunststoffe im Niedertemperaturbereich in den gasförmigen Zustand überführt werden. Danach werden diese Gase wieder verflüssigt. Das Produkt ist ein Pyrolyseöl, welches dann zur Energieerzeugung oder zum Kochen verwendet werden kann. Es ist mit solchen Anlagen ohne Weiteres möglich, 90 Prozent der eingesetzten normalverschmutzten Kunststoffe in Öl umzuwandeln. Nur 10 Prozent Abfall entsteht, und damit ließe sich der Rohstoffkreislauf schließen.
Wie könnte die Umsetzung aussehen? Das BMZ fördert die Erforschung und den Bau einer transportablen, containergroßen Anlage. Bisher ist der Bau von Pyrolyseanlagen Privatinitiative und befindet sich in der Entwicklungsphase, sagen wir, in der Phase des Probierens. Wissenschaftliche Forschung fand bis dato kaum statt. Die Anlage sollte so konzipiert sein, dass man sie ohne großes Fachwissen bedienen kann. Die Bevölkerung der Entwicklungsländer sammelt Plastikmüll und erhält bei Abgabe einen Kilopreis.
Was erreichen wir dadurch? Die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Generierung von eigenem Einkommen. Die Bevölkerung dieser Länder wird Müll als Rohstoff verstehen, und es könnte sich ein Umweltbewusstsein entwickeln. Boden und Trinkwasserressourcen können sich regenerieren. Die Bevölkerung nimmt in Eigenverantwortung und nicht von außen gesteuert ein lokales Problem in die Hand. Entwicklungsgelder, welche die Auswirkungen von falscher Abfallentsorgung beheben sollen, können zurückgefahren werden. Und das Wichtigste: Es gelangt wesentlich weniger Plastikmüll durch die Flüsse in die Meere.
Die Anwendbarkeit ist nicht nur auf Plastikmüll beschränkt. So kann durch die Vergasung von Biomasse sogenannte Biokohle erzeugt werden, die die Qualität von Böden verbessert. Auch könnte Elektronikschrott wieder besser dem Rohstoffkreislauf zugeführt werden. Deutschland ist weltweit bekannt für seine Umwelttechnik. Mit der Pyrolyse entsteht ein weiteres lukratives Geschäftsfeld: für alle Beteiligten eine Win-win-Situation.
Ich würde mich freuen, wenn ich Ihr Interesse geweckt habe,
({1})
und wünsche Ihnen ein schönes Wochenende. Glück auf!
({2})
Vielen Dank, Herr Kollege. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir debattieren zwei Tagesordnungspunkte, „Wasserstoff“ und „Pyrolyseförderung“. Insofern hat der Redner auch zur Sache gesprochen.
({0})
Als nächster Redner hat für die SPD-Fraktion der Kollege Andreas Rimkus das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, Zuseherinnen und Zuseher! Liebe Kolleginnen und Kollegen! An diesem Montag, am 11.11., hat mit dem Hoppeditz-Erwachen
({0})
in Düsseldorf die Jahreszeit angefangen, die wir als jeck bezeichnen würden. Das ist für mich als Düsseldorfer besonders relevant, und ich freue mich auch immer wieder, wenn das Jecksein auch in unseren heiligen Hallen seinen Niederschlag findet, so wie heute.
Aber nur weil die Karnevalssaison angefangen hat, gelingt nicht automatisch jeder Versuch, sich gut zu verkleiden. Das kann man anschaulich beobachten, wenn man sich den vorliegenden Antrag der AfD zu Gemüte führt. Der versucht nämlich, sich als Engagement für die Entwicklungszusammenarbeit zu verkleiden; aber das gelingt ihm, mit Verlaub, nicht. Ich möchte dem Antrag eigentlich gar nicht allzu viel Aufmerksamkeit schenken;
({1})
denn er beinhaltet ja gerade mal zwei und dann auch noch sehr vage Forderungen. Deswegen auch nur zwei kurze Anmerkungen:
Sie fordern erstens eine stärkere Förderung der Pyrolyseerforschung. Das ist bei allem gebotenen Respekt keine besonders konkrete oder fachlich versierte Forderung. Die erwähnte Technologie ist Gegenstand zahlreicher Forschungsprogramme, sowohl national als auch international.
Zweitens wollen Sie die Bundesregierung auffordern, unter anderem zusammen mit der Privatwirtschaft kleine, mobile Pyrolyseanlagen zu konzipieren und marktfähig zu machen. Ich muss gestehen, ich bin irritiert: Seit wann fordern Sie denn mehr staatliche Eingriffe in die Wirtschaft? Es gibt doch schon entsprechende Aktivitäten von Unternehmen, zum Beispiel aus Dresden. Und ein Schelm, wer da denken mag, Sie würden die Berichterstattung zu ebendiesen Aktivitäten als Gelegenheit nutzen, um das Thema für Ihre Politik zu instrumentalisieren. So schelmisch kann man ja gar nicht sein.
Also, sehr geehrte Damen und Herren, um echte Entwicklungszusammenarbeit, so viel steht fest, geht es Ihnen jedenfalls nicht. Das kann man schon daran erkennen, dass Sie nicht von Entwicklungszusammenarbeit reden, sondern tatsächlich den veralteten Begriff der Entwicklungshilfe benutzen. Wir hingegen begegnen unseren Partnern in der Entwicklungszusammenarbeit auf Augenhöhe und sehen sie eben nicht als Hilfeempfänger. Und für eine Instrumentalisierung eignen sich diese Partnerschaften schon gar nicht. Also zusammengefasst: Jecke Idee, aber Verkleidung misslungen.
({2})
Anders verhält es sich mit dem Antrag der Fraktion der FDP. Geschätzte Kolleginnen und Kollegen, ich erkenne an, dass es in Ihrem Antrag durchaus Punkte gibt – einige, nicht alle –, bei denen gewisse Gemeinsamkeiten zu erkennen sind. Bei anderen allerdings muss ich in der Sache vehement widersprechen. Sie verbinden in Ihrem Antrag – wie ich finde, ohne Not – Ihre Forderung nach einer stärkeren Berücksichtigung von Wasserstoff mit einer Generalkritik an der Energiepolitik der Koalition und der Bundesregierung. Sie erneuern Ihre Forderung nach einer Einbindung der Sektoren „Verkehr“ und „Gebäude“ in das europäische Emissionshandelssystem. Und so bleibt mir nichts anderes übrig, als wiederrum unsere Kritik zu erneuern, dass ein solches langwieriges Vorgehen – es gibt noch viele andere Probleme – keine kurzfristig wirksamen Impulse für nationale Klimaschutzziele geben würde.
Wir müssen aber jetzt handeln. Wir müssen jetzt die entscheidenden Weichenstellungen vornehmen. Das tun wir, zum Beispiel mit dem Klimaschutzgesetz, das wir heute Morgen verabschiedet haben. Das sind wir übrigens den nachfolgenden Generationen und vor allen Dingen der nationalen Wirtschaft schuldig. Denn Sie selbst schreiben ja, dass wir die Energiewende stärker innovativ denken sollen, auch um technologische Innovationen voranzutreiben. Um die Technologieführerschaft im internationalen Wettbewerb zu behaupten, braucht es kurzfristig klare Ziele und klare Signale.
Wir können es uns nicht leisten, auf eine irgendwann kommende europäische Regelung zu warten. Und wenn die dann kommt – es wäre ja vernünftig, wenn sie denn käme –, ist aber nichts verloren; denn dann haben wir eine nationale Regelung, die im Übrigen, wie wir wissen, mit dem europäischen ETS-System kompatibel ist. Insofern sind wir vor der Zeit und nicht nach der Zeit. Deswegen glaube ich, dass die Koalition die richtigen Impulse setzt.
({3})
Es ist ein guter, historischer Schritt, der uns heute Morgen gelungen ist.
Ich möchte noch auf einen anderen Teil des Antrags eingehen, der sich gezielt mit dem Thema Wasserstoff beschäftigt. Zunächst einmal ist anzumerken, dass die Koalition und die Bundesregierung schon eine ganze Menge zustande gebracht haben. Sie fordern in Ihrem Antrag unter anderem den Ausbau und die Finanzierung internationaler Energiepartnerschaften für Wasserstoff. Tatsächlich ist da über das Umwelt- und Wirtschaftsministerium vieles auf den Weg gebracht worden: Mit Chile und Japan gibt es beispielsweise entsprechende Vorhaben; es gibt die Internationale Klimaschutzinitiative, gefördert durch das BMU, und beispielsweise Projekte in Brasilien. Eine ganze Reihe weiterer Projekte werden geprüft.
Zudem wird im Rahmen des PtX-Aktionsprogramms seitens des BMU ein gemeinsames Sekretariat mit der GIZ eingerichtet, das sich diesem Thema widmet. Auf nationaler Ebene sind zum Beispiel die Reallabore zu nennen sowie die Nationale Wasserstoffstrategie, die gerade entwickelt wird, und darüber hinaus das PtX-Kompetenzzentrum, das gerade errichtet wird, oder auch die NOW, die als gemeinsame Geschäftsstelle für die Bundesregierung im Verkehrsbereich schon heute eine ganze Reihe von Fördermaßnahmen und Projekten bündelt und begleitet. Ich stimme Ihnen übrigens zu: Natürlich werden wir auch weiterhin Energien importieren. Und wenn es nach mir gehen würde, wäre das besonders Grüner Wasserstoff. Aber trotzdem dürfen wir die nationale Wirtschaft nicht vernachlässigen, weder was die Produktion erneuerbarer Energieträger angeht, noch was den Ausbau erneuerbarer Energien angeht. Gerade deshalb sind wir ja mit unserem Koalitionspartner in intensiven Verhandlungen über die Frage, wie wir einen sinnvollen Ausgleich zwischen Erhalt von Flächenkulissen, Förderung der Akzeptanz und Beschleunigung der Verfahren bei Wind- und Sonnenenergie erreichen können.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich will Ihnen aber auch nichts vormachen: Natürlich dürfte es an der einen oder anderen Stelle etwas schneller gehen. Es ist ja kein Geheimnis, dass ich mich schon seit Jahren dafür einsetze, die Perspektiven und Potenziale einer florierenden Wasserstoffwirtschaft in Deutschland vermehrt in den Blick zu nehmen. Aber – und das ist wichtig – wir dürfen dabei nie das Ziel einer erfolgreichen und sozialverträglichen Energiewende aus dem Blick verlieren. Man darf also Technologieoffenheit und Klimaschutz nicht gegeneinander ausspielen.
Nachhaltigkeit, ökonomische Vernunft und soziale Verantwortung müssen stets miteinander in Einklang gebracht werden. Wenn wir das beherzigen, dann ist mir auch nicht bange um die Impulse, die sie geben.
Ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuss und darauf, dass wir mit der nationalen Strategie, mit den PtX-Anteilen, die wir gemeinsam festsetzen werden, dann auch in die Zukunft gehen – für eine gute Wasserstofftechnologie und ‑wirtschaft in Deutschland, in Europa und weltweit.
Schönen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Klaus Ernst für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Theurer, als ich Ihren Antrag gelesen habe, habe ich am Anfang gedacht: Habe ich technisch was verpasst? Denn die Überschrift ist: „Wasserstoff zum neuen Öl machen“. Das ist ja technisch noch nicht so richtig erfunden. Man hat ein Verfahren erfunden, wie Wasserstoff als Energieträger genutzt werden kann. Ich habe dann aber gewusst, was Sie meinen.
Was ich jedoch wirklich gewaltig finde, ist der Unterschied in Ihrem Auftreten hier im Verhältnis zu dem, wie Sie im Ausschuss über Technologie- bzw. Industriepolitik reden. Wenn vom Wirtschaftsminister das Wort „Industriepolitik“ gefallen ist, haben Sie ihn ja in die Nähe der DDR gerückt, weil er es sich überhaupt erlaubt, Vorschläge zu machen bzw. eine Strategie zu entwickeln, wie wir als Deutschland weiterkommen.
Jetzt legen Sie einen Antrag vor, der eindeutig ein industriepolitischer Antrag ist. Das freut mich, und es freut mich, dass Sie Ihre Position in dieser Frage offensichtlich deutlich geändert haben. Recht herzlichen Dank!
({0})
Meine Damen und Herren, in der Sache bin ich übrigens in vielen Punkten tatsächlich Ihrer Meinung.
({1})
Sie haben natürlich recht: Wir befinden uns in einer Situation, wo wir überlegen müssen, welche Energieträger wir künftig brauchen. Da ist Wasserstoff wichtig und in der Zukunft natürlich von großer Bedeutung. Dieses Gas lässt sich aus Ökostrom ohne Emissionen erzeugen, es eignet sich als Energiespeicher, es eignet sich übrigens auch als Treibstoff – zunächst für Schiffe und Züge,
({2})
aber mittelfristig auch für Pkws. Wenn sie längere Strecken fahren, ist das sicher ein positiver Punkt.
Kurzfristig und unmittelbar ist es allerdings auch vollkommen richtig, auf die Batterie zu setzen
({3})
– nicht ausschließlich, vollkommen richtig –, weil das erst mal der richtige Weg ist. Also: Wasserstoff ist ein wichtiger Energieträger. Wir sollten heute die Weichen stellen, damit wir ausreichende Mengen zur Verfügung haben.
Ökologisch ist Wasserstoff allerdings nur, wenn er ausschließlich mit erneuerbarem Strom erzeugt wird. Ich hätte schon meine Probleme, wenn er mit Erdgas erzeugt werden würde; denn – wir wissen es – dann ist er nicht als Grüner Wasserstoff zu bezeichnen. Dann hätten wir ein Problem.
Sie haben auch recht, wenn Sie sagen: Wir müssen gucken, wie wir so viel Strom bekommen, dass wir Wasserstoff mit ökologischem Strom herstellen können. – Wir als Bundesrepublik werden das nicht allein schaffen. Da bräuchten wir zu viele Windräder und würden auf zu viel Widerstand in der Bevölkerung stoßen. Wir müssen importieren. Insofern bin ich mit Ihnen vollkommen einer Meinung.
Ich teile Ihre Meinung übrigens auch, was die Stabilität unseres Stromnetzes angeht. Im vergangenen Jahr wurden in Deutschland laut Agentur für Erneuerbare Energien 5,4 Milliarden Kilowattstunden erneuerbarer Strom abgeregelt. Er könnte in Wasserstoff umgewandelt und gespeichert werden. Auch das ist vollkommen richtig und notwendig.
({4})
Allerdings enthält Ihr Antrag auch für uns nicht akzeptable Forderungen. Sie fordern zum Beispiel, die Sektoren Gebäude und Verkehr in den europäischen Emissionshandel zu integrieren.
({5})
Entweder bleiben dann die CO2-Preise zu niedrig, um echte Veränderungen voranzutreiben, oder der Preis für Energie verteuert sich in einer Weise, dass er für einen normalen Menschen letztendlich nicht mehr bezahlbar ist.
({6})
Das ist auch ein Grund, warum wir im Ergebnis nicht für Ihren Antrag stimmen können. Nachdem ich aber von Ihnen, Herr Theurer, schon ganz andere Anträge gesehen habe, freut es mich, dass Sie prinzipiell in eine Richtung gehen, die wir unterstützen können.
({7})
Technologieoffenheit so verstanden, dass auch Wasserstofftechnologie eine Zukunftstechnologie ist, die wir weiterentwickeln und einsetzen sollten – das unterstützen wir. Ich kann Ihnen also nur zurufen: Weiter so! Sie sind auf dem richtigen Weg.
({8})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Dr. Ingrid Nestle das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Beginn der Debatte hat bei mir schon den Eindruck erweckt, dass sie so ein bisschen in einem Paralleluniversum stattfindet. Da haben die Kollegen von FDP und CDU groß erzählt, was man alles Tolles mit Wasserstoff machen kann. Ja, sicherlich kann man viel Tolles mit Wasserstoff machen. Das Knifflige beim Wasserstoff ist doch nicht, ganz viele tolle Projekte mit Wasserstoff zu machen, wenn man ihn hat. Das Knifflige ist doch die Frage: Wo bekomme ich genug Erneuerbare her, um ihn herzustellen?
({0})
Wie oft habe ich von Ihnen gehört: Einen Euro kann man nur einmal ausgeben. – Ja, das stimmt. Aber warum verstehen Sie nicht, dass man auch jede Kilowattstunde erneuerbaren Stroms nur einmal verwenden kann?
({1})
Deshalb ist es verlogen oder zumindest nicht zu Ende gedacht, wenn gerade die Parteien, die den Ausbau der erneuerbaren Energien entweder verbal oder sogar tatsächlich mit ihren Gesetzen massiv zurückdrängen, die mitverantwortlich sind für die Massenentlassungen in der Windindustrie, sich so gerieren, als könnten sie an der Speerspitze der Wasserstoffbewegung stehen.
({2})
Neu ist das Thema ja tatsächlich nicht. Wir Grüne haben schon vor der Sommerpause eine Wasserstoffstrategie vorgelegt; denn, ja, Wasserstoff ist ein unverzichtbarer Baustein der Energiewende. Wir kämpfen für Wasserstoff mit Herz und Verstand; denn es reicht nicht, für ein Modewort zu sein. Wasserstoff muss grün sein. Er muss aus Erneuerbaren sein, sonst wird aus dem Klimaschützer Wasserstoff ganz schnell ein Klimakiller. Deshalb haben wir ein Konzept vorgelegt, wie man Grünen Wasserstoff dann und dort herstellen kann, wo tatsächlich erneuerbarer Strom ist.
({3})
– Das Konzept kann ich Ihnen sehr gerne schicken. Ich habe aber nicht die Redezeit, um alles zu erzählen. Sie dürfen zwischenfragen. Dann erzähle ich es Ihnen sehr gerne.
Jetzt noch mal zurück zum FDP-Antrag. Ich gebe ja zu, dass Sie eine gewisse Ehrlichkeit an den Tag legen, indem Sie den Import ganz nach vorne stellen. Ihnen ist wohl selbst bewusst, dass mit Ihrer Energiepolitik in Deutschland kein Grüner Wasserstoff hergestellt werden kann. Also sagen Sie: In erster Linie Import.
Ja, es ist richtig, sich dafür anzustrengen, dass auch die Importfrage endlich beantwortet wird, dass wir herausbekommen, ob es überhaupt möglich ist, Grünen Wasserstoff zu importieren, ob die Transportwegefrage überhaupt geklärt wäre und ob es Länder gibt, die ihn anbieten. Ja, es ist richtig, sich dafür anzustrengen. Aber sich heute schon darauf zu verlassen?
Ich zitiere einen Wirtschaftsexperten, der sich viel mit Wasserstoff beschäftigt hat. Er sagt: Dass andere unsere Probleme lösen, ist eine vage Hoffnung, mehr nicht. – Ein weiteres Zitat ist: Der Wasserstoff wird knapp und teuer sein. – Sie von der FDP hängen die Zukunft der deutschen Industrie, die Zukunft der deutschen Mobilität, ja, die Zukunft der deutschen Energieversorgung an eine vage Hoffnung. Ist das Ihr Verständnis von Versorgungssicherheit?
({4})
Wir Grüne haben da ein anderes Verständnis.
({5})
Kollegin Nestle, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Ernst?
Sehr gerne.
Danke, Frau Nestle. – Also, jetzt schlagen die mal was Vernünftiges vor, und Sie hauen so drauf.
({0})
Ich möchte Sie jetzt doch noch mal fragen: Wäre es nicht sinnvoll, darüber nachzudenken, was eigentlich passiert, wenn zum Beispiel von der Arabischen Halbinsel kein Öl mehr nach Europa exportiert wird bzw. welche Verwerfungen es in diesen Ländern gibt, wenn wir auf Öl verzichten, weil wir eine Energiewende machen? Das sind ja Länder, die von der Sonne relativ verwöhnt sind – mehr als wir –, die sehr viel Wind haben – mehr als wir. Es würde sich doch anbieten, über solche Dinge nachzudenken; denn die Energiewende wird ja eine Zeit dauern. Das wird ja kein Umschalten sein. Die Perspektive ist ja, dass es 20, 30 oder 40 Jahre dauern wird, bis wir das wirklich hinkriegen. In dieser Zeit müsste es doch möglich sein, im Interesse des Funktionierens der Energiewende zu einem Punkt zu kommen, bei dem wir sagen: Wir halten internationale Verkehrsströme mit Geld aufrecht.
({1})
– Habt ihr eigentlich schon gemerkt, dass ich auch eine Zwischenbemerkung machen darf? Sonst lest mal die Geschäftsordnung.
Das ist richtig, aber ich bitte auch, ein wenig auf die Zeit zu achten.
Ich bin auch gleich fertig. – Also warum gehen Sie nicht auch den Weg, zu gucken, ob so etwas über Importe sinnvoll machbar ist?
({0})
Herzlichen Dank für die Frage. – Ich freue mich sehr über die Frage, weil sie einen sehr wichtigen Punkt anspricht, die Importfrage. Ja, wir haben in unserer grünen Wasserstoffstrategie einen Extrabaustein „Import von Grünem Wasserstoff“, weil es höchstwahrscheinlich ein wichtiger Baustein sein wird. Es ist wichtig, herauszufinden, zu welchen Konditionen – zu welchen Menschenrechts-, ökologischen Konditionen –, aber auch zu welchen Kosten wir diesen Wasserstoff importieren können. Das wollen wir herausfinden. Wir haben sogar ein konkretes Instrument, eine niedrige Kerosinquote, mit dem man Anreize für den Markt setzt. Wir wollen Erfahrungen mit diesem Instrument sammeln. Das ist absolut richtig, wichtig und verantwortungsbewusst. Was aber aus meiner Sicht völlig falsch ist, was auch der deutschen Industrie einen Bärendienst leistet, ist, heute zu sagen: Oh, da kommt der ganze Wasserstoff von irgendwoher, wird schon klappen. – Das ist nicht mein Verantwortungsbewusstsein gegenüber der deutschen Industrie bei einer Technologie, für die heute noch nicht einmal die Transportwege geklärt sind.
({0})
Es gibt die verschiedensten Vorstellungen: Alles in ein Schiff bei 20 Kelvin, also minus 200 irgendwas Grad – höchst kompliziert –, Pipelines über lange Strecken – höchst kompliziert. Es gibt LOHC, da braucht man ganz viel Flüssigkeit und kann ein bisschen Wasserstoff reintun. Es gibt die Idee, C-Atome reinzuhängen – höchst unsicher, ob es jemals gelingt, CO2 aus der Luft abzuscheiden. Kein einziger Transportweg für größere Mengen Wasserstoff über größere Distanzen ist heute einsatzfähig. Deswegen: Ja, wir müssen forschen. Aber nein, wir dürfen uns heute nicht darauf verlassen, dass das unsere alleinige Energiequelle wird. Denn damit machen wir uns viel zu abhängig von einer vagen Hoffnung.
({1})
Kollegin Nestle, Sie haben es wahrscheinlich schon gesehen, dass Ihrer Aufforderung nachgekommen wurde. Ich bitte – sowohl den Kollegen Theurer als auch Sie –, wenn Sie es zulassen, sich mit Frage oder Stellungnahme und Antwort kurzzufassen, um nicht die Redezeit zu verdoppeln. Noch dazu haben alle Fragesteller hier schon das Wort gehabt. – Also, bitte.
({0})
Sind Sie bereit, Frau Kollegin Nestle, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Kostendegression bei der Photovoltaik 1 zu 15 beträgt, von 1,25 Euro pro Kilowattstunde zu heute 8 Eurocent, dass beim Wasserstoff heute das Verhältnis eins zu vier ist? Kennen Sie die Technik Sun-to-Liquid, wo durch einen solarthermochemischen Reaktor direkt Treibstoffe hergestellt werden können mit einer wesentlich höheren Energieeffizienz? Wissen Sie, dass zum Beispiel mit der Erdgasleitung von Tunesien, einem sehr sonnenreichen Land, gasförmiger Wasserstoff, also methanisierter oder ethanolisierter Wasserstoff, ohne Probleme nach Europa transportiert werden kann? Wären Sie unter Umständen bereit, mit mir solche Anlagen, wie zum Beispiel den Sun-to-Liquid-Reaktor von DLR in Stuttgart, zu besichtigen?
({0})
Herr Theurer, ich finde tatsächlich den Umgang der FDP mit Geld und Kosten einigermaßen faszinierend. Sie haben eine Technik genannt – Photovoltaik –, die viel günstiger geworden ist,
({0})
trotzdem boykottieren Sie ständig den Ausbau der erneuerbaren Energien. Daraus ziehen Sie jetzt die Schlussfolgerung, dass alle Technologien, die heute teuer sind, mit Sicherheit in 20 Jahren günstig sein werden. Mir sagen Experten bei Wasserstoff: Das ist hochgradig unwahrscheinlich. – Mir sagen Experten, die sich wirklich damit auseinandergesetzt haben: Wasserstoff wird extrem knapp und teuer sein. Er wird ein wichtiger Baustein der Energiewende sein. Aber wir müssen uns gut überlegen, wo wir ihn einsetzen.
Als Allerletztes – ich will nicht zu lang werden, aber Sie haben gerade Gas angesprochen und gesagt: Da kann man doch einfach Methan reinstecken –: Wenn Sie Wasserstoff methanisieren wollen, um ihn hier zu verwenden, und das Ganze klimaneutral sein soll, dann müssen Sie das CO2 in Nordafrika aus der Luft abscheiden. Auch diese Luftabscheidung ist meilenweit davon entfernt, in der richtigen Größenordnung zu den richtigen Kosten agieren zu können. Da ist mir das Prinzip Hoffnung zu wenig. – Danke.
({1})
Jetzt habe ich noch 44 Sekunden und muss überlegen, was ich noch sagen kann. Denn ich durfte ja schon so viel sagen. Was ich auch noch faszinierend finde, liebe FDP, ist, dass Sie das Prinzip der Technologieoffenheit in Ihrem Antrag aufgeben,
({2})
weil Sie nämlich eine Befreiung oder zumindest Kürzung der EEG-Umlage explizit für Wasserstoff vorsehen, aber nicht für andere Technologien. Warum soll der Strom ausgerechnet für die Wasserstoffproduktion günstiger sein als für alle anderen sinnvollen Anwendungen von Strom?
({3})
Sie haben leider Ihre eigenen Prinzipien an der Stelle nicht zu Ende gedacht.
({4})
Weil wir die Partei sind, die den Klimaschutz ernst nimmt und um ernsthafte Lösungen ringt, deshalb haben wir eine Wasserstoffstrategie vorgelegt, die tatsächlich Grünen Wasserstoff zur Grundlage macht und nicht irgendeinen Wasserstoff.
Danke schön.
({5})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Andreas Lenz für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Antrag der FDP geht es um das Thema Wasserstoff. Das haben wir jetzt schon mitbekommen. Es ist auch interessant, was für eine lebhafte Debatte, eigentlich eine Feinschmeckerdebatte, sich heute Nachmittag entwickelt. Da wird der Vorsitzende Ernst zum Naturwissenschaftler. Das ist an sich schon bemerkenswert.
({0})
Es gibt einen intensiven Diskurs. Ich würde den Vorschlag gerne aufnehmen und gleich an den Ausschussvorsitzenden weiterleiten: Machen wir einmal mit dem Ausschuss einen Ausflug und schauen uns die real existierenden Verfahren an. Das wäre doch im Sinne aller und kann ein einigendes Momentum darstellen.
({1})
Es wurde schon angesprochen: Wasserstoff ist für das Gelingen der Energiewende mit entscheidend. Es ist auch schön, wenn die FPD das verstanden hat. Insofern: Herzlichen Glückwunsch zu dem Antrag, liebe FDP. Wir sind natürlich schon weiter.
({2})
Der Antrag bietet uns die Gelegenheit, das noch mal aufzuzeigen. Wir gehen voran. Wir sind Vorreiter in Deutschland. Die Bundesregierung arbeitet intensiv an einer Wasserstoffstrategie. Sie wird Ende des Jahres, spätestens Anfang nächsten Jahres vorgestellt. Das Bundeswirtschaftsministerium hat im letzten Jahr den Dialogprozess Gas 2030 gestartet. Gasförmige und flüssige Energieträger sind bereits heute integrale Bausteine unseres Energiesystems. Wir verfügen über eine gut ausgebaute Infrastruktur, auf der wir aufbauen können. Gerade wenn man Dekarbonisierung zu Ende denkt, wird Wasserstoff eine große Rolle spielen. Das ist überhaupt keine Frage. CO2-freier Wasserstoff und daraus erzeugte Folgeprodukte sind hierfür eine Lösung. Das hat unter anderem auch der Dialogprozess Gas 2030 gezeigt, den eben wir initiiert haben und nicht Sie von der FDP, meine sehr geehrten Damen und Herren.
({3})
Wir können die Speicherproblematik nicht allein durch Batteriespeicher lösen, auch nicht allein durch Flexibilität. Für die Energiewende brauchen wir mittel- bis langfristig CO2-freien Wasserstoff in der ganzen Bandbreite der Möglichkeiten. Ob als Energieträger oder als Rohstoff in der chemischen Industrie, Wasserstoff ist Grundlage für vielfältige Folgeprodukte, wie zum Beispiel Ammoniak, Vitanol, Kunststoffe, aber auch in der Zementindustrie bieten sich Chancen, beispielsweise durch die CCU-Technik, sowie in der Stahlindustrie. Es wurde schon angesprochen: thyssenkrupp hat am 11. November ein Projekt gestartet. Sie wollen zukünftig vier Hochöfen auf Wasserstoff umstellen. Diese Projekte werden auch durch uns unterstützt, durch das BMBF mit 70 Millionen Euro. Stichwort „Carbon2Chem“: Hier wird wirklich vieles von uns unternommen und auch gezielt investiert.
Jetzt wird häufig die Frage des Transports bemüht. Er ist natürlich schwierig. Jeder kennt noch aus dem Schulunterricht die Knallgasexplosionen. Aber auch hier müssen wir auf Innovationen setzen. Ich möchte hier das Beispiel der Firma Hydrogenious aus Erlangen, aus Bayern, bemühen.
({4})
Das Start-up aus Bayern hat hier ein Verfahren entwickelt, bei dem Wasserstoff mittels einer LOHC-Lösung, einer nichtentflammbaren Trägerlösung, transportiert wird. Auch hier müssen wir auf Innovation setzen. Auch hier gibt es vielversprechende Ansätze, meine sehr geehrten Damen und Herren.
({5})
Deutschland ist bereits heute internationaler Vorreiter bei der Entwicklung und beim Export von Wasserstoff und Power-to-X-Technologien. Darauf können wir weiter aufbauen. Wir errichten gerade Reallabore. Hier wird geforscht und unter Echtbedingungen angewendet. Mit den Reallaboren werden unterschiedliche Energietechnologien in der realen Anwendungsumgebung erprobt. Aber nur Reallabore nützen nichts. Wir müssen auch in die industrielle Anwendung kommen, meine sehr geehrten Damen und Herren, und Innovationen aus dem Labor und der frühen Marktphase schnell in die Anwendung bringen.
Genau das machen wir im industriellen Maßstab.
Ein wichtiger erster Schritt ist der Aufbau eines inländischen Wasserstoffmarktes. Auch hier schreiten wir voran. Es geht um die Mobilität, hier: um die Errichtung von Tankstellen. Es gibt entsprechende Programme. Es werden Wasserstoffregionen initiiert mit dem Ziel, die Technologieoffenheit zu fördern; das ist ein wichtiges Ziel, das wir beherzigen sollten.
Aber auch zukünftig werden wir nicht sämtliche in Deutschland benötigte Energie in Deutschland herstellen können. Mittel- und langfristig wird Deutschland CO2-freien Wasserstoff in größerem Umfang importieren müssen. Deutschland muss deshalb neben der inländischen Wasserstoffindustrie auch dafür sorgen, dass Importstrukturen für CO2-freien Wasserstoff entwickelt und aufgebaut werden und dass jetzt schon entsprechende Kooperationen geschlossen werden. Deshalb wird auch die Erzeugung im Ausland eine große Rolle spielen.
Allen Herausforderungen der Energiewende und auch der Dekarbonisierung werden wir nicht durch Wasserstoff begegnen können, aber Wasserstofftechnologie ist ein wichtiger Teil der Lösung. Wasserstoff wird einen wichtigen Beitrag leisten, damit die Energiewende gelingt, aber auch, um die Klimaziele zu erreichen. Das alles ist im Sinn einer nachhaltigen Entwicklung. Wenn wir hierfür eine relative Einigkeit zumindest im Parlament schon mal haben, dann ist das ein gutes Zeichen für die Zukunft.
In diesem Sinne: Herzlichen Dank.
({6})
Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute einen Antrag über die Fortsetzung der Aufarbeitung des NS-Kunstraubs, einer besonders perfiden Variante des NS-Terrors. Hinter jedem entzogenen, geraubten Kunstwerk steht das individuelle Schicksal eines Menschen. Das anzuerkennen und darüber aufzuklären, ist Deutschland – und das sind wir – den Opfern der nationalsozialistischen Terrorherrschaft und deren Nachkommen schuldig.
({0})
Deshalb bin ich sehr dankbar für den Antrag der Koalitionsfraktionen, der dazu beiträgt, genau diesem Anliegen die verdiente Aufmerksamkeit zu verschaffen.
Die Washingtoner Konferenz 1998 war ein Meilenstein bei der Aufarbeitung des perfiden NS-Kunstraubs. Die Washingtoner Prinzipien, die daraus hervorgingen, haben mit ihrer Formulierung der „gerechten und fairen“ Lösungen weltweit Maßstäbe gesetzt, an denen die Bundesregierung sich auch in Zukunft messen lassen muss und natürlich messen lassen will. Wir können dabei keine Wunder bewirken – das haben wir mittlerweile gelernt –, doch, so hat es die damalige US-Außenministerin Madeleine Albright, übrigens selbst Nachfahrin von Holocaustopfern, bei der Eröffnung der damaligen Washingtoner Konferenz 1998 formuliert:
Wir können alles in unserer Macht Stehende tun, um Dunkelheit durch Licht, Ungerechtigkeit durch Fairness, Konflikt durch Konsens und Unwahrheit durch Wahrheit zu ersetzen.
Unwahrheit durch Wahrheit ersetzen: In diesem Sinne habe ich die jährlichen Mittel für die Provenienzforschung während meiner Amtszeit versechsfacht. Für 2020 sind dafür rund 11 Millionen Euro vorgesehen. Auch die Strukturen zur Aufarbeitung des NS-Kunstraubs haben wir verbessert und die Gründung zum Beispiel des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste mit Sitz in Magdeburg auf den Weg gebracht, also eine zentrale Anlaufstelle für die Umsetzung der Washingtoner Prinzipien geschaffen.
({1})
Ungerechtigkeit durch Fairness ersetzen: In diesem Sinne haben Bund, Länder und Kommunen mit der Beratenden Kommission ein Hilfsangebot für die Fälle geschaffen, in denen eine Verständigung offensichtlich sehr schwierig ist. Die Geschäftsstelle dieser Beratenden Kommission bleibt beim Deutschen Zentrum Kulturgutverluste, ihr Aufgabenbereich ist aber organisatorisch vom DZK getrennt. Wir werden sie im Übrigen personell deutlich besser ausstatten, um dadurch einmal mehr ihre Unabhängigkeit vom Deutschen Zentrum zu stärken.
Dass alle mit Bundesmitteln geförderten Kultureinrichtungen den Wünschen auf Anrufung dieser Beratenden Kommission vonseiten potenzieller Anspruchsteller nachkommen – alle, betone ich –, halte ich angesichts der immensen Verantwortung Deutschlands für die Aufarbeitung des NS-Kunstraubs für selbstverständlich. Zuwendungsbescheide und Zuweisungsschreiben aus unserem Haus werden deshalb immer – schon seit einem Jahr tun wir das – um eine entsprechende Auflage ergänzt. Ich würde es sehr begrüßen – und fordere Sie alle auf, das in Ihren Wahlkreisen und in Ihrer Arbeit immer wieder zu betonen –, wenn auch die Länder eine solche Regelung für die in ihrer Zuständigkeit befindlichen Kultureinrichtungen fänden; das tun bisher nämlich nur zwei. Ich glaube, dass wirklich alle Museen, die sich einer solchen Anrufung durch Nachfahren jüdischer Opfer gegenübersehen, dieser selbstverständlich nachkommen sollten; mit welchem Ergebnis die Beratende Kommission das am Ende auch immer beschließt. Dass bei den jüdischen Opfern immer noch der Eindruck herrscht, manche Museen würden sich einer solchen Anrufung verweigern, ist schlichtweg nicht hinnehmbar.
({2})
Ein Restitutionsgesetz, insbesondere für den privaten Sektor – das wird immer wieder gefordert –, gestaltet sich juristisch wirklich schwierig. Unser Haus prüft derzeit, welche Möglichkeiten es dafür gibt, übrigens in enger Zusammenarbeit mit dem Bundesjustizministerium. Aber unabhängig davon appelliere ich immer wieder an private Besitzer, die wir namentlich nicht ausmachen können, an Sammler und Einrichtungen, im Sinne der Washingtoner Prinzipien ihrerseits freiwillig Kunstwerke zurückzugeben, wenn sie wissen, dass sich solche in ihrem Besitz befinden. Gott sei Dank haben einige sehr spektakuläre Fälle dieser Art vorbildhaft stattgefunden.
Ungerechtigkeit durch Fairness ersetzen: Das heißt auch, Menschen, die selbst oder deren Vorfahren unvorstellbares Leid erfahren mussten, nicht allein zu lassen auf dem Weg zu „gerechten und fairen Lösungen“. Aufarbeitung darf nicht an bürokratischen Hürden scheitern, und das föderale System in Deutschland ist undurchsichtig genug. Deshalb wird von uns derzeit ein Helpdesk eingerichtet, also eine zentrale Stelle für Anspruchsteller, damit sie Orientierung und Unterstützung finden.
Konflikt durch Konsens ersetzen – ich komme zum Ende –: In diesem Sinne stehen aufrechte Demokratinnen und Demokraten zusammen, wo immer es darum geht, die Erinnerung an die barbarischen Verbrechen der Nationalsozialisten wachzuhalten. Darüber aufzuklären, wie Millionen Menschen und im Übrigen auch die Würde des Menschen der Verachtung und der Vernichtung preisgegeben wurden, kann sensibilisieren für die unterschätzten Wegbereiter totalitärer Ideologien: für Verharmlosung und Relativierung des Holocaust, für die Verrohung der Sprache, für das Schüren von Vorurteilen und Ressentiments, für das Schweigen aus Gleichgültigkeit oder Feigheit. Die rückhaltlose Aufklärung und Aufarbeitung des NS-Kunstraubs in Deutschland hat deshalb auch in Zukunft höchste Priorität in der Kulturpolitik.
({3})
Dabei hoffe ich weiterhin auf Ihre Unterstützung, liebe Kolleginnen und Kollegen – frei nach Madeleine Albright in der Hoffnung, dass wir Licht ins Dunkel bringen, wenn wir Unwahrheit durch Wahrheit, Ungerechtigkeit durch Fairness und Konflikt durch Konsens ersetzen.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Marc Jongen für die AfD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Kunstraub durch die Nationalsozialisten mag Außenstehenden vielleicht als marginales Thema erscheinen. Wenn man aber bedenkt, dass es zum größten Teil jüdische Bürger waren, denen die Nazis ihre Kunstwerke raubten oder unter erpresserischen Bedingungen für sehr wenig Geld abnahmen, dann sieht man, dass dieses düstere Kapitel mit dem Kapitalverbrechen des NS-Regimes, der Verfolgung und Vernichtung der Juden in Deutschland und Europa, aufs Engste zusammenhängt. Die Rückgabe dieser Kunstgegenstände an ihre vormaligen Besitzer oder deren Erben hat daher neben der materiellen Seite auch einen hohen Symbolgehalt.
Es ist richtig und findet unsere Unterstützung, dass die Washingtoner Erklärung dazu aufruft, auch nach der rechtlichen Verjährung der Rückgabeansprüche in begründeten Fällen nach einer gerechten und fairen Lösung zu suchen, wie es dort heißt. Das hat in der Vergangenheit nicht immer gut funktioniert. In einigen Fällen wurden Schiedssprüche der Beratenden Kommission nicht akzeptiert und der Rechtsweg beschritten, in der Regel über US-amerikanische Gerichte.
Wir begrüßen ausdrücklich, dass der Antrag der GroKo jetzt die Möglichkeit vorsieht, dass die Beratende Kommission auch von nur einer der betroffenen Seiten angerufen werden kann. Hoffentlich kann die Anzahl der Klagen so reduziert werden. Eines darf jedoch nicht passieren, meine Damen und Herren: dass beim Versuch der Wiedergutmachung vergangenen Unrechts neues Unrecht geschieht, dass über den moralischen Ansprüchen das Recht völlig ins Hintertreffen gerät.
Von Uwe Schneede, dem ehemaligen Vorsitzenden des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste, hört man zum Beispiel Folgendes – Zitat –:
Ich finde die Washingtoner Erklärung absolut genial, weil sie über alle Legalisten, gesetzlichen Prinzipien hinweg die moralische Verantwortung viel höher ansetzt. Und das ist das Eigentliche.
Nein, meine Damen und Herren, Moral über Recht, das ist der Ungeist der Merkel-Regierung, das endet in einem schädlichen Moralismus, den wir aus der Asylpolitik kennen. Das darf hier nicht geschehen.
({0})
Was dieser Moralismus bewirkt, das hat der Fall des Gemäldes „Berliner Straßenszene“ des Brücke-Künstlers Ernst Ludwig Kirchner auf besonders skandalöse Weise gezeigt. Wild entschlossen, Gutes zu tun, hat der rot-rote Berliner Senat im Jahr 2006 das Bild dem Brücke-Museum entzogen und es den Antragstellern übergeben. Diese hatten – ich zitiere – „nicht bestehende Ansprüche unter Instrumentalisierung des Holocaust und medial eingeforderter fragwürdiger Political Correctness durchzusetzen“ versucht – leider erfolgreich. Das Zitat stammt von dem langjährigen Kulturstaatssekretär Berlins, Ludwig von Pufendorf, der den Fall akribisch aufgearbeitet hat. Wenige Wochen später erschien das Bild übrigens auf dem Kunstmarkt und erzielte dort einen Millionenbetrag.
Genau diesen Missbrauch der Washingtoner Erklärung gilt es zu verhindern. Dazu finden sich in Ihren Anträgen aber keinerlei Ansätze, werte Kollegen. Im Gegenteil: Die Linke schwelgt in üblicher Art in Enteignungsfantasien, die FDP will eine eigene Stiftung gründen zur Aufarbeitung von Verdachtsfällen von NS-Raubkunst, also den Generalverdacht gewissermaßen institutionalisieren.
Wenn wir heute in der „Süddeutschen Zeitung“ lesen, es gebe allein in Nordrhein-Westfalen 770 000 Verdachtsfälle, dann wird klar, um welche Dimension es sich hier handelt. Die Museen brauchen Rechtssicherheit, kein Damoklesschwert des Moralismus, das ihnen permanent sozusagen mit der Leerräumung droht.
({1})
Der Antrag der GroKo will, auf reichlich verklausulierte Art, nun auch private Eigentümer auf die Washingtoner Prinzipien verpflichten. Rechtlich ist das nicht möglich, aber allein die Äußerung eines Verdachts wird dann ausreichen, um einen privaten Eigentümer zu teurer Provenienzforschung zu zwingen, wenn sein Kunstwerk keinen völligen Wertverlust erleiden soll, da es ja auf einen Schlag auf dem Kunstmarkt unveräußerlich geworden ist.
Der spektakuläre Fall Cornelius Gurlitt hat vor einigen Jahren gezeigt, wie ein privater Sammler von der moralischen Dampfwalze des Staates förmlich überfahren werden kann. Frau Grütters hat im Namen der Bundesregierung eine eigene Taskforce eingesetzt. Die gesamte Sammlung Gurlitts wurde beschlagnahmt. Bis an das Kranken- und Sterbebett hat man den Mann bedrängt; nur sein vorzeitiger Tod hat verhindert, dass der Skandal ein gerichtliches Nachspiel hatte. Ich kündige jetzt schon an, dass wir die Bundesregierung damit noch beschäftigen werden und dass wir namentlich Sie, Frau Grütters, nicht aus ihrer persönlichen Verantwortung dafür entlassen werden.
({2})
Bei der Restitution von NS-Raubkunst muss es unserer Ansicht nach eine Verwirkungsfrist von Ansprüchen geben, wenn diese über 20 Jahre in voller Kenntnis des Aufenthaltsortes eines Werkes nicht geltend gemacht worden sind. Das US-Berufungsgericht hat in dem bekannten Fall de Weerth genau so geurteilt und alle Rückgabeansprüche an ein Monet-Werk in öffentlicher Sammlung zurückgewiesen.
Wir sollten gerecht und fair bleiben, ja.
({3})
Das sind wir auch den Opfern schuldig. Und das soll in jedem Einzelfall möglich sein. Ihren Anträgen, die das eben nicht sind, können wir leider nicht zustimmen.
Vielen Dank.
({4})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Helge Lindh das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begreife uns hier als Gemeinschaft. Deshalb schäme ich mich, wenn Mitglieder dieses Parlaments ein Verhalten zeigen, dass des Moments und des Antrags nicht würdig ist. Deshalb entschuldige ich mich in diesem Augenblick in unser aller Namen dafür, dass Kollege Jongen es wirklich gewagt hat, ausgerechnet das Thema des NS-Kunstraubes zu instrumentalisieren, um die vermeintlich kluge These von der Moralisierung der Bundesrepublik zu verbreiten. Das ist zutiefst peinlich und beschämend, finde ich.
({0})
Sie geben aber unwissentlich genau das richtige Stichwort; denn eine bittere Lehre aus der Zeit des Nationalsozialismus und des systematischen Kunstraubs und des Entzugs von Kunst ist, dass man Recht, vermeintliches Recht eben nicht blind gegenüber Moral gestalten kann. Denn das war ja die nächste Perfidie der Nazis, dass sie diese mit einer Scheinrechtlichkeit und durch Verklausulierungen – angebliche Führervorbehalte und Ähnliches – durchführten.
Deshalb ist dies sehr wohl als rechtliche wie als moralische Frage zu betrachten. Denn warum stellen wir diesen Antrag? Warum bemühen wir uns überhaupt in dieser Frage? Es geht um konkrete Personen. Es geht um Otto, Konrad und Kurt, Nachname Bernheimer. Und es gibt viele von ihnen, mit anderen Namen, ganz individuelle, einzigartige Schicksale; aber alle schrecklicherweise geeint in diesem Unrecht, in dieser Demütigung, die sie durch den Nationalsozialismus, die Verfolgung und auch durch die Enteignung erfahren haben. Und das ist keine ferne Geschichte, sondern eine Geschichte, die unmittelbar in unsere Gegenwart und unsere Nachbarschaft reicht.
Ich komme aus dem Wahlkreis Wuppertal. Vor Kurzem eröffneten wir dort eine Ausstellung zu dem verfemten, geächteten, als entartete Kunst Produzierenden begriffenen Künstler Oskar Schlemmer. Er hat in den 40er-Jahren die Möglichkeit bekommen, bei dem Unternehmer Kurt Herberts, einem Wuppertaler Chemieproduzenten, der aber auch Lackkunst förderte, zu arbeiten. Selbiger Kurt Herberts kaufte von der sogenannten Kameradschaft der Künstler einen Sekretär der Familie Bernheimer. Diese Kameradschaft der Künstler war nichts anderes als eine vermeintlich rechtlich korrekte Form der Arisierung jüdischen Eigentums durch das Deutsche Reich, das Unrechtsreich. Heute, seit einigen Monaten, ringt nun sein Enkel, Konrad Bernheimer, in Bayern um die Frage der Restitution, weil mittlerweile, nach verschlungenen Wegen, ebendieser Sekretär im Eigentum des Bayerischen Nationalmuseums ist. Er erfährt, welche Widrigkeiten mit einem solchen Prozess verbunden sind.
Der Vater des Konrad Bernheimer, der die Nachfolge als Kunsthändler antreten sollte, Sohn des Otto Bernheimer, versuchte einmal, 1948, wieder nach Deutschland einzureisen. Aber er konnte es nicht ertragen und musste aufgrund posttraumatischer Störungen das Land wieder verlassen. 1954 versuchte er es wieder, doch er nahm sich vor der Einreise das Leben. Das ist, wovon wir hier sprechen.
Wir sprechen in letzter Konsequenz nicht von der Restitution von Kunstwerken und Artefakten, wir sprechen von der Restitution von Würde und Menschenleben.
({1})
Wir sprechen davon, einen Moment der Versöhnung zu schaffen und den Menschen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Wenn wir – das ist ja auch in dem Antrag enthalten – von Provenienz und einer Weiterentwicklung der Provenienzforschung sprechen, so sollten wir uns auch klarmachen, dass es in diesen Fällen nicht primär um die Provenienz von Kunstwerken geht, nicht primär um die sicher wichtige wissenschaftliche Aufarbeitung der Herkunft und der ganzen Geschichte geht, sondern es letztlich um die Provenienz zerrütteter sozialer Verhältnisse geht. Diese Kunstwerke gehörten Menschen, diese Kunstwerke waren eingebunden in ihr Leben und in ihre Realität, und diese Realität haben wir ihnen genommen. Das ist die Höhe des Auftrages. Deshalb ist es auch wichtig, dass wir – erst recht hier – rechtlich wie moralisch argumentieren. Es geht um die Wiederherstellung der Würde von Menschen.
({2})
Daher bin ich ausdrücklich dankbar, dass die Kulturstaatsministerin, die BKM, aber auch Michelle Müntefering im Auswärtigen Amt schon frühzeitig verstärkte Anstrengungen unternommen haben – zusammen mit den Vereinigten Staaten, mit der Joint Declaration –, um einen entsprechenden verstärkten Prozess der Restitution und der Aufklärung auf den Weg zu bringen. Ich bin dankbar dafür, dass die deutsche Regierung bei Fragen der Beutekunst sehr offensiv und sehr entschieden vorgeht. Ich bin auch dankbar dafür, dass einige Schritte, die wir hier fordern, wie das Helpdesk, wie die einseitige Anrufung, bereits umgesetzt sind.
Aber ich denke, angesichts des Auftrages, den wir haben, sollten wir das mit aller Demut und Bescheidenheit machen. Denn der Hintergrund ist ein einmaliges Versagen – und das werden wir niemals gutmachen können –: Das ist der Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus, des Dritten Reiches. Die Erkenntnis ist, dass es uns nie gelingen wird – mit keiner Restitution –, das wiedergutzumachen. Was wir aber machen können, ist: Schluss machen mit dem Prozess des Scheiterns. Und es ist leider oft passiert – das erlebt gerade auch Herr Bernheimer –, dass wir es nicht schaffen, die Opfer und ihre Nachfahren würdevoll in diesem Prozess der Aufklärung, der Restitution zu begleiten. Das ist, was geschehen muss – und das ist genau der Geist dieses Antrages, um den ich für Zustimmung bitte –: Wir müssen begreifen, dass die Perspektive der Opfer und ihrer Nachfahren der Maßstab allen Handelns ist. Das allein ist der Maßstab.
({3})
Es gibt Hunderte von Gründen – Komplexität der Provenienzforschung, bürokratische Hemmnisse, all die Fragen, gute Gründe –, einen langwierigen Prozess zu beschreiten, auch Dinge zu verzögern, vielfach nachzufragen. Aber es gibt einen Grund, der all diese guten Gründe bricht, und das ist der Grund, dass wir die Perspektive der Opfer werten und anerkennen müssen. Genau das hat auch heute Herr Lauder, der Präsident des World Jewish Congress, in seiner Veröffentlichung in der „Süddeutschen Zeitung“ deutlich gemacht. Das ist unser aller Aufgabe, und weniger können und dürfen wir nicht leisten.
({4})
Ich versuche auch noch, zu erklären, warum wir das tun müssen. Es geht nicht darum, dass wir mit dieser Restitution, dass wir mit Formen des Gedenkens uns selbst ein Gedenken schaffen, dass wir uns stolz und glücklich fühlen, dass wir jetzt einen wirklich, wirklich guten Antrag auf den Weg bringen, der das Potenzial hat, eine fundamentale Verbesserung der Beratenden Kommission zu konstituieren. Nein, es geht eben nicht um uns, sondern es geht um die anderen – in den Vereinigten Staaten, in vielen anderen Ländern –, die so schwer betroffen sind.
Aber im letzten Schritt geht es eben doch um uns. Denn die Bernheimers und die Schlemmers und all die anderen, das waren unsere Nachbarn, sie waren ein Teil von uns, und wir haben uns, das Deutsche Reich in seinem Unrecht, in seinem Schrecken hat sich damals selbst beraubt. Deshalb tun wir uns auch selbst einen richtigen Dienst, wenn wir mit diesem Antrag, wenn wir mit den begleitenden Maßnahmen endlich die Restitution der Würde der Opfer und ihrer Nachkommen betreiben.
Vielen Dank.
({5})
Danke. – Das Wort hat der Kollege Hartmut Ebbing für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor ziemlich genau einem Jahr war es die FDP-Fraktion, die einen weitreichenden Antrag zur Reform der Beratenden Kommission vorgelegt hat. Ich freue mich, dass die Koalition nun endlich nachgezogen hat. Aber ich frage mich auch, warum bei einem solch wichtigen Thema, bei dem aufgrund des hohen Alters der letzten Überlebenden der Shoah wirklich die Zeit davonläuft, die Koalition über ein Jahr gebraucht hat und dann so wenig dabei herausgekommen ist.
({0})
Ich möchte hier in aller Deutlichkeit meine Enttäuschung zum Ausdruck bringen, dass es aufgrund des Mauerns der Koalition nicht möglich war, bei dieser so wichtigen nationalen moralischen Verpflichtung einen fraktionsübergreifenden Antrag zu erarbeiten.
In unserer öffentlichen Anhörung vor dem Kulturausschuss haben Vertreter der Beratenden Kommission sehr deutlich gesagt, dass die Kommission längst an ihre Kapazitätsgrenzen gekommen ist. Die Kommission brauche dringend Geld und eigenes Personal, um sich die wissenschaftliche Unterstützung zu holen, die sie unbedingt benötigt, um faire und gerechte Lösungen für die noch zahlreichen offenen Fälle zu finden. Wie sieht es damit aus, Frau Grütters? Sind die Stellen schon ausgeschrieben und finanziert? Darüber hinaus haben Sie nach langem Ringen endlich ein Helpdesk versprochen. Aber bis heute kann mir niemand richtig sagen, wo dieses angesiedelt sein soll. Am Deutschen Zentrum Kulturgutverluste in Magdeburg oder bei der neuen und hoffentlich unabhängigen Geschäftsstelle in Berlin?
Auch fordern Sie, Frau Grütters, den wichtigen Prozess der Digitalisierung der Sammlungen bundesgeförderter Kultureinrichtungen weiter voranzubringen und auf die Länder und Kommunen hinzuwirken, das Gleiche zu tun. Sie übernehmen erfreulicherweise die Forderung der FDP nach einer einseitigen Anrufung der Beratenden Kommission durch die Anspruchsteller und wollen dieses Thema zum Gegenstand der Beratungen der halbjährlich stattfindenden Spitzengespräche von Bund, Ländern und Kommunen machen. Bitte legen Sie uns dazu bald einen konkreten Fahrplan vor. Und machen Sie bei den Gesprächen bitte auch die Digitalisierung zum Thema.
({1})
Wie viel Geld planen Sie für die Digitalisierung ein? Wissen Sie schon, wie viel die Einrichtungen für die Digitalisierung überhaupt brauchen? Haben Sie schon eine Bedarfsstudie in Auftrag gegeben? Sie merken, es liegen noch einige Fragen auf dem Tisch – viele Fragen, die 74 Jahre nach Beendigung des Krieges noch nicht einmal im Ansatz geklärt sind.
Die Kommission muss internationaler werden. Wie muss ein moderner Internetauftritt aussehen? Ist es zumutbar, dass ein in den USA ansässiger Geschädigter die Geschäftsstelle nur zwischen 3 und 6 Uhr früh seiner Zeit erreichen kann? Wir müssen endlich aufhören, darüber nachzudenken: „Was braucht Deutschland und seine Museumslandschaft?“, müssen vielmehr fragen: Was braucht der Antragsteller?
Einen Satz zu dem Antrag der Linken. Ja, ein Restitutionsgesetz könnte Rechtssicherheit bringen und verhindern, dass Anspruchsteller in den USA statt in Deutschland klagen. Aber ein Gesetz braucht noch mehr Zeit als eine pragmatische Handlungsalternative. Gesetze sind in Schriftform gegossene Ethik- und Moralvorstellungen. Handeln wir endlich ethisch und moralisch bei der Aufarbeitung von NS-Raubkunst! Sorgen Sie dafür, Frau Grütters, dass sich endlich die Mentalität der handelnden Personen und Institutionen ändert – weg vom Verhindern, hin zum Ermöglichen.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Brigitte Freihold für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Beratende Kommission steht international seit Jahren in der Kritik. Das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste entscheidet einerseits über die Zulässigkeit von Anträgen auf Schlichtung vor der Kommission, andererseits über Förderung der Provenienzforschung. Während einer Anhörung im Kulturausschuss mahnte Dr. Peresztegi von der Commission for Art Recovery an, die Kommission transparent und effektiv zu gestalten, damit sich die Opfer von NS-Raubkunst und ihre Erben an sie wenden können.
Davon erfahren wir im Antrag der Koalition nichts. Vielmehr wird versucht, den bisherigen Status quo zu legitimieren und die massive Kritik der Überlebenden der NS-Verfolgung zu marginalisieren.
Bei rund 2 800 Werken aus Reichsbesitz im Kunstbestand des Bundes wird vermutet, dass sie NS-verfolgungsbedingt entzogen wurden. In den 15 Jahren ihres Bestehens wurde die Beratende Kommission jedoch nur fünfzehnmal angerufen – für die Bundesregierung ein vermeintlicher Beleg für die große Bereitschaft für faire Lösungen ohne ihre Vermittlung. Bemerkenswert hierbei: Mit der Untersuchung der Provenienz von Kulturobjekten des Bundes aus ehemaligem Reichsbesitz sind nur 2,8 Stellen befasst.
Die Beschlussfassung der Beratenden Kommission soll für die Berechtigten bindend sein, deren Entscheidungen sind jedoch unverbindlich und nicht anfechtbar. Rechtsnormen, insbesondere jüngste Rechtsentwicklungen im internationalen Kulturgüterschutz- und Kunstrestitutionsrecht, werden von der Beratenden Kommission nicht als verbindliche Entscheidungsgrundlage anerkannt. Deshalb begrüßen wir auch den Vorstoß der FDP-Fraktion, die Arbeit der Kommission strukturell zu sanieren.
Unsere Vorschläge zur Schaffung einer Unabhängigen Kommission für die Restitution von kolonialem Raubgut beinhalten jedoch eine gleichzeitige und gleichwertige Lösung für die Opfer des deutschen Kolonialunrechts und eine gesetzliche Regelung der Restitution von Kulturgut aus kolonialem Unrecht.
Das Nürnberger Tribunal gegen die Hauptkriegsverbrecher bewertete den systematischen Kunstraub auch als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Entschädigung bzw. Rückgabe an die ursprünglichen Eigentümer stellen somit keinesfalls nur eine ethisch-moralische Selbstverpflichtung der Bundesrepublik dar.
Meine Damen und Herren der Regierungskoalition, Ihr Antrag strotzt vor unverbindlichen Appellen. Sie leben in einer Parallelwelt, in der die rechtliche Verantwortung der Bundesrepublik für den im NS staatlich organisierten Kunst- und Kulturraub nicht existiert. Sie sind keine Aufarbeitungsweltmeister, sondern verschleppen die Rückgabe.
Erst 13 Jahre nach Errichtung der Beratenden Kommission wurde deren Verfahrensordnung veröffentlicht. Das trug bislang nicht dazu bei, Verfahren vor der Kommission gemäß den Washingtoner Prinzipien als gerecht und fair zu legitimieren. Aufgrund fehlender gemeinsamer Standards ist den Akteuren, Museen, Kunsthändlern und Sammlern, das jeweils anzuwendende Verfahren oft nicht klar. Wir fordern in einem gesonderten Antrag auf Bundestagsdrucksache 19/8273 eine Beweislastumkehr: Wer den rechtmäßigen Besitz nicht lückenlos nachweisen kann, soll gesetzlich zur Rückgabe verpflichtet werden.
({0})
In unserem hier vorgelegten Antrag fordern wir folgerichtig eine gesetzliche Grundlage für die Vermittlungstätigkeit der Beratenden Kommission bei der Rückerstattung von NS-Raubkunst auch für Private im Einklang mit Artikel 14 Absatz 3 des Grundgesetzes. Darüber hinaus sind umfassende Maßnahmen für die kulturelle und historische Bildung nötig, um die Wertschätzung von geraubten Kunstwerken und anderen Kulturgütern als Symbole und Beweise des jüdischen kulturellen Lebens und Erbes in Europa zu fördern.
Kollegin Freihold, kommen Sie bitte zum Schluss.
Eine gesetzliche Regelung der Rückgabe könnte auch den Raub von Kulturgütern und den illegalen Handel eindämmen.
Dem Antrag der Koalition können wir aus genannten Gründen nicht zustimmen.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Erhard Grundl für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe den Ausführungen von Frau Professor Grütters und auch von Herrn Lindh gelauscht. Dem steht die Zahl von 15 Anrufungen der Kommission in 15 Jahren gegenüber, eine Zahl, die der heute schon oft zitierte Chef des World Jewish Congress, Ron Lauder, genannt hat. Für mein Gefühl ist das ein Skandal, der die gesamte Herangehensweise betrifft, mit der man bisher an diese Kommission von politischer Seite herangetreten ist.
({0})
Denn zwangsverkauft weit unter Wert, als Reaktion auf den Terror, so gelangte zum Beispiel die „Borussia“ von Adolph Menzel aus dem Besitz der Familie von Mendelssohn über den Kunsthändler Haberstock 1940 in die Reichskanzlei. Zum Schutz vor Bomben wird das Gemälde während des Krieges in das Salzbergwerk Altaussee gebracht und landet nach dem Krieg in der größten Kunstsammelstelle der Alliierten, im Central Collection Point in München. Schließlich wird es über ein Auktionshaus nach Berlin verkauft. Es dauert lange, bis zum Jahr 2000, bis das Gemälde an die Familie von Mendelssohn restituiert wird.
Die Odyssee der „Borussia“ zeugt vom systematischen Kunstraub, den Deutsche und ihre Helfer im Nationalsozialismus betrieben. Das alles liest sich wie ein Krimi, und kriminelle Energie war in der Tat nur zu oft die entscheidende Triebfeder in der gesamten Odyssee.
Ja, noch heute liegen allein in Nordrhein-Westfalen in den Museen circa 770 000 Kunstwerke unklarer Herkunft aus der NS-Zeit. Aber auch knapp 75 Jahre nach Kriegsende und über 20 Jahre nach der Washingtoner Erklärung ist die Bilanz bei der Restitution von Kunstgütern, wie ich ausgeführt habe, spindeldürr.
Der vorliegende Antrag der Koalitionsfraktionen zur Weiterentwicklung der Beratenden Kommission ist ein Schritt in die richtige Richtung, aber auch nicht mehr. Richtig ist, dass die Möglichkeit der einseitigen Anrufung der Kommission in einem Konfliktfall durch die BKM gestärkt wurde. Doch in Bezug auf die Beratende Kommission bleibt der Anhang weit hinter dem zurück, was jetzt eigentlich ansteht. Die Kommission als Ansprechpartnerin der Opfer und ihrer Angehörigen muss ein klares eigenständiges Profil haben.
({1})
Sie braucht eine eigene Geschäftsstelle. Die Kommission darf keine Zweigstelle des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste sein. Das widerspricht dem Gedanken der Unabhängigkeit. Für ihre Aufgaben braucht sie mehr und vor allem qualifiziertes Personal mit internationaler Erfahrung.
Im Antrag fehlt der Ansatz, konkrete Stellen zur Provenienzforschung zu schaffen. Das ist aber die Voraussetzung dafür, dass die Geschäftsstelle in der Lage ist, administrative Aufgaben zu erfüllen und Nachforschungen überhaupt anzustellen.
({2})
Stattdessen – wir haben es gehört – soll ein Helpdesk für Antrags- und Übersetzungsfragen eingerichtet werden. Sinnvoll wäre es, wenn der Helpdesk an die Geschäftsstelle angeschlossen und mit eigenem Personal ausgestattet würde. Sonst werden allerdings ineffektive Doppelstrukturen geschaffen.
Vorgesehen ist, dass Opfer und Erben nun auch aus dem Ausland Anträge stellen können. Das begrüßen wir. Versäumt wird in dem Antrag aber, Betroffenen die Möglichkeit einzuräumen, selbst Gutachten externer Berater einzuholen und deren Expertise in die Provenienzklärung einzubeziehen. Nicht zuletzt werden in dem Antrag keine Zielmarken für die Digitalisierung staatlicher Kunstbestände gesetzt.
Meine Damen und Herren, die „Borussia“ von Menzel wurde 55 Jahre nach Kriegsende an die Familie von Mendelssohn restituiert. Das ist spät, viel zu spät. Jetzt, knapp 75 Jahre nach Kriegsende, ist dieser Teil deutscher Erinnerungskultur vor allem eines: ein nicht erfülltes Versprechen.
Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel sagte in seiner Eröffnungsrede auf der Washingtoner Konferenz 1998:
Wir wollen hier nicht über Geld, wir wollen über Gewissen, Moral und Erinnerung sprechen.
Aus der Frage nach Gewissen, Moral und Erinnerung ist inzwischen auch eine Zeitfrage geworden. Wir brauchen eine effektivere Form der Beratenden Kommission, und das sehr schnell.
Ich danke Ihnen.
({3})
Das Wort hat der Kollege Ansgar Heveling für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Und gerade auf das Zugeben Kommt’s an im Leben“, so heißt es in dem Gedicht „An Peter Scher“ von Joachim Ringelnatz. Dass Ringelnatz nicht nur gedichtet, sondern auch gemalt hat, ist allerdings nur den wenigsten bekannt.
So geschah es, dass Ringelnatz’ 1925 entstandenes Ölgemälde „Makabre Szene – Dachgarten der Irrsinnigen“ aus dem Besitz des jüdischen Kunstkritikers und Sammlers Paul Westheim im Jahr 2000 in einer Ausstellung an der Uni Göttingen gezeigt wurde und so zum Ausgangspunkt einer nachfolgenden Schlichtung der „Beratenden Kommission im Zusammenhang mit der Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturguts, insbesondere aus jüdischem Besitz“, wie die Kommission mit vollem Titel heißt, wurde. Westheim, der im Jahr 1963 verstarb, hatte seine expressionistische Sammlung vor seiner Flucht aus Deutschland einer Freundin zur Verwahrung hinterlassen. Seine Sammlung bekam er nie zurück.
Schauen wir uns den Weg des Ringelnatz-Bildes an: Es tauchte irgendwann nach dem Krieg in einer Galerie auf, von wo es 1974 an das Clemens Sels Museum in Neuss verkauft wurde. Im Clemens Sels Museum verweilte das Gemälde teils in einer Dauerausstellung, teils im Depot, ehe es dann eben 2000 für eine Ausstellung in Göttingen angefordert wurde.
Wieder über Umwege und wieder einige Jahre später wurde schließlich der Rückgabeanspruch der Westheim-Erben erhoben, und der Fall ging nach beiderseitiger Zustimmung, sowohl der Erben als auch des Clemens Sels Museums Neuss, zur Schlichtung an die Beratende Kommission. In der Folge wurden die Erben entschädigt, und das Museum durfte das Bild behalten. – Wir sprechen vom Jahr 2013. 2000 wurde es erstmals wieder wahrgenommen, und 2013 erfolgte die Regelung.
Der Fall steht exemplarisch für eine Vielzahl verschiedenster Fallkonstellationen, in denen Kunstwerke, die entweder von den Nationalsozialisten beschlagnahmt, verfolgungsbedingt veräußert oder aufgrund von verfolgungsbedingter Emigration zurückgelassen wurden, in der Folge nicht an ihre ursprünglichen Eigentümer oder deren Erben zurückgegeben wurden. Bis heute begleitet uns die Klärung dieser strittigen Eigentumsfragen. 20 Jahre nach der Washingtoner Konferenz ist es daher geboten, dass wir uns mit dem Stand der Umsetzung der damals festgelegten Prinzipien zur Rückgabe von NS-Raubkunst befassen.
Die seinerzeitige Verabschiedung der Grundsätze in Bezug auf Kunstwerke, die von den Nationalsozialisten verfolgungsbedingt entzogen wurden, war der Versuch, eine Einigung über nicht bindende Grundsätze in Anerkennung der unterschiedlichen Rechtssysteme der Teilnehmerstaaten zu schaffen. Die Grundlage der Umsetzung dieser Grundsätze in Deutschland war dann die Gemeinsame Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz.
Die Gemeinsame Erklärung ist nach wie vor der rechtliche Kontext, innerhalb dessen Restitutionsverfahren geregelt werden, jedenfalls dann, wenn es um Kulturgüter geht, die sich im öffentlichen Bereich befinden. Denn es ist eben eine nicht bindende Selbstverpflichtung, der sich der Staat unterworfen hat. Im Kern ist es rechtlich eine Frage des Verzichts auf die Einrede der Verjährung.
Die AfD-Fraktion hat in dem Zusammenhang die Frage angesprochen, die sich auch in unserem Antrag findet: Wie gehen wir zivilrechtlich, also wenn es um Private geht, mit der Restitution um? Ich halte es nicht für richtig, die Frage zu stellen, ob jetzt Moral über Recht gestellt wird. Denn die rechtliche Zuordnung ist im Grunde auch gegenüber Privaten klar: Da, wo man feststellen muss, dass das zivilrechtliche Eigentum abhandengekommen ist, kann kein weiterer Eigentumserwerb stattfinden. Insofern ist die rechtliche Zuordnung eigentlich glasklar.
Das Problem ist aber eben, dass man diesen Anspruch aufgrund der Einrede der Verjährung nicht geltend machen kann, und ist im Zusammenhang mit den zivilrechtlichen Fragen zu lösen. Die Frage ist, ob diese Einrede der Verjährung, die dem Rechtsfrieden dienen soll, angesichts der Singularität des Geschehens, das hinter dem Entzug steht, tatsächlich der richtige Ansatzpunkt zum rechtlichen Umgang damit ist.
Wie zum einen aus der Konferenz zum Jubiläum der Washingtoner Prinzipien und zum anderen aus der öffentlichen Anhörung im Februar dieses Jahres hier im Deutschen Bundestag hervorging, lässt sich insgesamt festhalten, dass die Umsetzung der Washingtoner Prinzipien bei uns gelingt. Unterstützt durch die Arbeit des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste und der angegliederten Beratenden Kommission hat sich eine gute, eine zivile Praxis etabliert, Provenienzen zu erforschen und Restitutionen durchzuführen.
Für eine erstaunliche Anzahl an Kulturgütern konnten in den vergangenen Jahren die Provenienzen geklärt werden. Die Restitutionen belaufen sich für den Zeitraum zwischen 1998 und 2018 auf mehr als 5 700 Kulturgüter und mehr als 11 000 Bücher. Diesen Zahlen steht mit mittlerweile 17 von der Beratenden Kommission bisher gelösten Fällen bzw. ausgesprochenen Empfehlungen eine vermeintlich kleine Zahl gegenüber. Dabei ist es aber ganz wichtig, die prominenten und oft aufgrund ihrer Fallkonstellation eben besonders schwierigen Restitutionsfälle, die bei der Beratenden Kommission zur Klärung vorliegen, gerade nicht in Relation zu den zahlreichen Restitutionen zu setzen – sind die Zahlen doch eher ein Indiz dafür, dass offensichtlich zahlreiche Restitutionsverfahren so verlaufen, dass unter Anwendung der Washingtoner Prinzipien eine Lösung erfolgt und die Beratende Kommission gar nicht erst angerufen werden muss.
Der Antrag der Koalitionsfraktionen begleitet die bisher gute Arbeit in Wissenschaft und Praxis unterstützend. Die Stärkung der Provenienzrecherche, eine neue Geschäftsstelle für die Beratende Kommission, der Ausbau der Digitalisierung der Bestände, die Möglichkeit der einseitigen Anrufung der Kommission, dies alles wollen wir umsetzen und damit die Aufklärung des NS-Kunstraubs weiterhin – auch für die nächsten 20 Jahre – gut voranbringen.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Lassen Sie uns über Zukunft reden! Wir schreiben das Jahr 2030; es ist ein Freitagnachmittag wie heute. Ab in die Bahn nach Hause! Der Zug schwebt lautlos durch die Landschaft. Fahrerlose Traktoren ziehen ihre Bahnen. Drohnen fliegen über den Feldern – Hightechpflanzenschutz aus der Luft, für öko wie konventionell. Damit konnte die Landwirtschaft den Einsatz von Herbiziden und Fungiziden noch einmal so richtig reduzieren. Selbst Bahn und Kleingärtner ziehen langsam nach.
Auf dem iPhone 18 poppt ein Artikel auf. Der Titel: „Tierwohl – eine deutsche Erfolgsgeschichte“. Der Journalist staunt über den Mentalitätswandel im Land: Früher hätten die Deutschen die Frage des Tierwohls nur an der Masse festgemacht. Dann hätten sie verstanden, dass es nicht nur auf die Größe des Stalls ankommt, sondern auch auf die Ausstattung. – Im Jahr 2030 sind smarte Automaten und Robotoren in Ställen Standard.
Zukunftsvision? Nein. Das zeigt uns die laufende Agritechnica. Das zeigen uns aber auch viele Betriebe in unserem Land, wo digitale Anwendungen heute schon Realität sind. Die Digitalisierung bietet Chancen, auch bei der Auflösung von Zielkonflikten, vor denen unsere Landwirtschaft immer wieder steht. Immer knappere Fläche, immer weniger Instrumente wie Düngung oder Pflanzenschutz, immer höhere Standards und dafür keinen Cent mehr – das ist ein Spagat. Dieser kann mit Digitalisierung gelingen; denn diese steht für Effizienz, für Präzision, für Sicherheit – übrigens zum Wohle von Mensch, Tier und Natur.
({0})
Doch Landwirtschaft 4.0 kommt nicht von allein. Dafür tun wir etwas. Das beginnt bei den Rahmenbedingungen. Mit dem Geodatenzugangsgesetz hat der Bund seine Hausaufgaben für die Nutzung von nationalen Klima-, Wetter- und Bodendaten gemacht. Jetzt müssen allerdings auch die Länder nachziehen.
Dazu gehört die Finanzierung. Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft hat ein Bundesprogramm Digitalisierung in der Landwirtschaft aufgelegt, und es fließen Abermillionen in digitale Experimentierfelder wie zum Beispiel DigiMilch oder Landnetz. Dafür einen herzlichen Dank an unsere Bundesministerin Julia Klöckner!
({1})
Mit dem jetzt, Sonntag, lieber Ralph Brinkhaus, auf Betreiben der CDU/CSU geplanten Beteiligungsfonds stellen wir Milliarden für digitale Start-ups zur Verfügung, auch und gerade auf dem Land.
({2})
Zum Rahmen gehört aber auch der Breitbandausbau. Seit Jahren stellt der Bund dafür Milliarden zur Verfügung. Wir, auch als CDU/CSU-Bundestagsfraktion, nehmen immer wieder die Bundesnetzagentur in die Pflicht; denn der letzte weiße Fleck muss weg. Deswegen setzen wir uns zum Beispiel auch mit Projekten wie One Fiber unter Nutzung der Infrastruktur der Deutschen Bahn auseinander.
Liebe FDP, wenn es um solche Details, um wichtige Fragen der Umsetzung geht, steht in Ihrem Antrag – nichts, kein Wort, übrigens auch nicht zu digitaler Aus-, Fort- oder Weiterbildung. Auch das Thema Europa wird komplett ausgeblendet. Dabei kennen Daten keine Grenzen. Mit solchen Details geben Sie sich nicht ab. Aber genau darum geht es, wie zum Beispiel beim Datenschutz. Mit seiner Arbeit sammelt der digitalisierte Hof Daten. Sie sind seine digitalen Früchte mit einem hohen Wert. Ich sage für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion: Dieses Eigentum des Landwirts darf nicht angezapft werden,
({3})
auch nicht vom Staat. Automatische Datentransfers darf es immer nur mit Zustimmung geben. Landwirte haben ein Recht auf Datenschutz wie jeder Bürger und wie jeder andere Betrieb in diesem Land.
({4})
Ich sprach über die Zukunft. Für diese brauchen wir aber zwingend eins: Wir brauchen einen Wandel in den Köpfen. Viele wünschen sich immer noch eine Landwirtschaft nach dem Vorbild von Bullerbü. Aber zur Wahrheit gehört: Dieses Bullerbü steht für dunkle Ställe und mittelalterliche Arbeitsbedingungen, und das für bestausgebildete Fachleute und Akademiker. Genau das sind unsere Landwirte von heute.
({5})
Wir alle müssen anerkennen: Landwirtschaft ist Wirtschaft. Höchstleistungen sind nicht mit Almromantik zu haben, sondern nur mit höchster Kompetenz, bester Landtechnik, modernster Pflanzenzüchtung und modernstem Pflanzenschutz. Wer hier A sagt, muss auch B sagen. Alles andere ist unehrlich. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion sagt A und B, und deshalb bekennen wir uns zu den Chancen der Digitalisierung in der Landwirtschaft.
Kollegin.
Stimmen Sie unserem Antrag zu.
({0})
Das Wort hat der Abgeordnete Peter Felser für die AfD-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Liebe Gäste! Liebe Bauern! Wir reden heute darüber, wie wir die Chancen der Digitalisierung nutzen können, und zwar konkret für die Zukunft unserer landwirtschaftlichen Betriebe. Blicken wir heute mal nach Hannover: Dort hat ja am Sonntag die weltweit größte Landtechnikmesse begonnen. Was wir dort sehen, ist wirklich beeindruckend: Präzisionslandwirtschaft, teilflächenspezifische Düngung, autonom fahrende Traktoren. Das sind Dinge, die es – wer aus der Branche kommt, weiß es – vor 10, 12, 14 Jahren auch schon auf der Agritechnica gab. Da sind wir sehr weit. Auf diese mittelständischen Landtechnikunternehmen können wir wirklich stolz sein.
Aber die Frage ist doch: Warum hinken Sie, liebe Kollegen von der Koalition, dieser Entwicklung so meilenweit hinterher? Warum hält die Politik nicht Schritt? Diese ganze Technik, die wir jetzt haben, kann doch erst dann vernünftig genutzt und weitergedacht werden, wenn wir die Infrastruktur dazu haben und wenn wir die Rahmenbedingungen für die Datennutzung haben. Also: Machen Sie bitte endlich Ihre Hausaufgaben! Dann können wir diesen nächsten Schritt gehen. Wenn Sie von dieser Plattform sprechen, dann richten Sie bitte die Infrastruktur ein und schreiben Sie an den Rahmenbedingungen.
Sie schreiben in Ihrem Antrag völlig korrekt von einer Datenexplosion, die jetzt mit der neuen Technik auf uns zukommt. Das hört sich bei Ihnen im Antrag so an, als ob Sie Angst hätten vor dieser Datenexplosion. Ihnen scheint gar nicht klar zu sein, dass wir diese Daten brauchen, diese Unmengen an Daten, um überhaupt lernende Systeme entwickeln zu können, um vielleicht auch KI – wer weiß, ob wir das noch schaffen in Deutschland –, vielleicht so was wie lernende Betriebe hinzubekommen.
Auf der Agritechnica werden Blockchain-Systeme vorgestellt. Da wird das Ei vom Nest über den Handel bis in den Supermarkt verfolgt, und der Erzeuger kann bis zum Schluss nachvollziehen: Wo kommt dieses Ei eigentlich her? Wir haben drohnengestützte Flächenanalytik, bodenschonende Bestandspflegerobotik. Alles schon da. In Hannover wurden sogar KI-Komplexe für lernende Betriebe vorgestellt.
Wie wollen Sie aber die dafür benötigten Daten für alle Landwirte bereitstellen? Sie fabulieren da was von einer Agrar-Masterplattform. Wie wollen wir das fair, auch für die kleinen und mittleren Betriebe, zur Verfügung stellen? Dazu sagen Sie überhaupt kein Wort in Ihrem Antrag.
({0})
Soll das Höfesterben weitergehen? Folgt auf das Landgrabbing jetzt das Datengrabbing? Das ist nämlich das Nächste, was unsere Landwirte bedroht. Wie wollen Sie verhindern, dass der Landwirt plötzlich von Versicherern, Banken und Verbänden unter Druck gesetzt wird, wenn seine Betriebsdaten auf Ihrer Agrar-Masterplattform einsehbar sind? Denn Sie schreiben ja selbst: Alle relevanten Akteure sollen Zugriff auf diese Plattform haben. – Wie soll das eigentlich aussehen? Welche Schnittstellen sind da angedacht? Auf welchen Servern soll das liegen? Überhaupt nichts drin dazu! Bleibt alles im Nebulösen.
Big Data ist das neue Öl – das wissen Sie –, der gewinnversprechende Rohstoff der digitalisierten Welt. Big Data ruft jetzt schon die größten Player auf den Plan. Die großen Akteure haben die Daten unserer Landwirte schon. Als Goldgräber kommen sie daher, die in der Datenexplosion die neuen Minen entdeckt haben. Wie wollen Sie, liebe Kollegen, unsere Bauern konkurrenzfähig gegenüber diesen Hightechgiganten machen? Hier hätten wir ein bisschen mehr Kreativität und ein bisschen mehr Verantwortung erwartet.
Damit kommen wir zu der für uns und vor allem für die Bauern wichtigsten Frage: Wem? Wem werden eigentlich in Zukunft diese Daten gehören?
({1})
Schaffen wir es, gelingt es uns, dass die Hoheit der Daten immer bei denen liegt, die sie erzeugen, bei den Bauern? Da steht nichts drin! Das ist aber das Wichtigste, das wir erst mal klären müssen.
Diese entscheidende Frage hängt auch ganz eng mit der Frage zusammen: Schaffen wir es mit dieser neuen Technik, mit diesen Plattformen, mit dieser Vernetzung, die kleinen, familiengeführten bäuerlichen Betriebe mitzunehmen? Oder ist es Ihnen völlig egal, dass dieses Jahr wieder 4 000 Höfe zumachen?
Wir werden dem Antrag zustimmen – wir müssen zustimmen –, damit in Deutschland wenigstens etwas vorangeht mit der Digitalisierung.
Ich danke Ihnen. – Servus und ein schönes Wochenende!
({2})
Das Wort hat der Kollege Rainer Spiering für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Vor allen Dingen: Liebe Zuschauer auf den Rängen! Herr Felser, ehrlich gesagt, ist mir ein bisschen gruselig geworden. Wenn Sie einem Antrag von uns zustimmen, dann habe ich fast das Gefühl, wir hätten was falsch gemacht – haben wir aber nicht.
({0})
Die Frage, die wir uns bei der Digitalisierung stellen müssen, ist: Welcher gesellschaftliche Prozess steckt dahinter? Mich erinnert das schon sehr stark an die industrielle Revolution der späten 70er-Jahre im 19. Jahrhundert. Vielleicht erinnern Sie sich an das Drama von Gerhart Hauptmann „Die Weber“, in dem beschrieben wird, wie ein kompletter Strukturwandel die Lebensumstände der Menschen wirklich gravierend verändert hat. Wenn ich mir überlege, welche Rolle damals die Landwirtschaft gespielt hat, dann erinnere ich mich daran, dass sie extrem segensreich war. Das hat auch damit zu tun, dass Chemie viel geholfen hat.
Jetzt sind wir aber 150 Jahre weiter. Die Digitalisierung der Landwirtschaft wird einen ähnlichen Effekt wie damals der Strukturwandel haben. Wir werden Veränderungen in den Prozessen haben. Die Diskussion über Glyphosat zum Beispiel, die wir führen, wird in fünf Jahren überhaupt nicht mehr notwendig sein. Wir werden dann zu vielem in der Lage sein – das ist hier von mehreren angesprochen worden –; denn die Zukunft der Landwirtschaft wird nicht 2030 kommen, sondern 2025 schon längst da sein. Wenn man sich die Zukunftswerkstatt der großen Firmen angeschaut hat, dann wird man wissen: Da sind E-betriebene Hybridfahrzeuge. Da sind Drohnen in Weinbergen unterwegs. – Viele dieser Techniken brauchen den Zugang zum Internet. Darum geht es.
Jetzt hat der Kollege Felser eine Frage gestellt. Ich sage mal: Wer lesen kann, ist klar im Vorteil. Da muss man aber viel lesen. Wenn Sie sich mit dem Digitalisierungspaket der SPD auseinandergesetzt hätten, dann würden Sie wissen, dass wir uns mit genau dieser Frage beschäftigt haben. Es geht um die grundsätzliche Frage: Wem gehören die Daten? Wenn man verhindern will, dass mit den Daten Schindluder getrieben wird, dann muss man einen neutralen Anbieter haben. Wir stellen uns das so vor, dass der Staat Georohdaten zur Verfügung stellt.
Sie kennen die Katasteramtsdaten, die im Moment nur von einem Bundesland frei zur Verfügung gestellt werden: Das ist Rheinland-Pfalz.
({1})
– Entschuldigung, bitte. – Wir brauchen Daten zur Bodenphysik und Bodenbiologie. Wir müssen wissen: Wie schnell läuft Wasser durch die entsprechenden Bodenschichten? Dann kommen wir der Frage von Nitrat im Wasser auch viel näher. Das heißt, wir werden uns der misslichen Frage von Messstellenkontrollen in drei oder vier Jahren gar nicht mehr stellen müssen, weil wir dann wissen, wer was einträgt.
Ich sage auch mit großem Selbstbewusstsein: Das Bundesland Niedersachsen hat ENNI auf den Weg gebracht. ENNI dokumentiert vom Erzeuger bis zur Fläche der Aufbringung: Wo ist was geblieben? Dann brauchen Sie keine großen Messstellen mehr, weil Sie wissen: Wer hat es gemacht? Wie hat er es gemacht? Warum hat er es gemacht? Die Frage nach dem Warum erledigt sich wahrscheinlich. Darüber kann man sich so seine Gedanken machen.
Die Hauptaufgabe neben der Zurverfügungstellung von Rohdaten ist auch das Servicesicherheitspaket. Damit muss sichergestellt werden – daran arbeiten wir; ich werde auch gleich belegen, dass diese Koalition die Arbeit sehr ernst genommen hat –, dass der Datennehmer, also der Landwirt, anonym bleibt. Aber mit den Daten, die ihm zur Verfügung gestellt werden, kann er frei entscheiden: Wen lässt er mit diesen Daten spielen?
Stellen Sie sich das mal ein bisschen wie eine Sonne mit Planeten darum vor. Die Sonne liefert die Energie, und die Planeten nutzen sie, um damit zu arbeiten – so wie wir das übrigens auch tun. Jetzt nehmen wir hier Daten und transferieren sie.
Also, mein Bild der bäuerlichen Zukunft ist da sehr klar: Ich bekomme die Rohdaten zur Verfügung gestellt und entscheide: Mit welchem Maschinenring arbeite ich? Mit welchem Saatguthersteller arbeite ich? Mit welchen Herstellern von Pflanzenschutzmitteln arbeite ich? Mit welchem Steuerberater arbeite ich?
Die Frage, die wir heute diskutieren – ich finde übrigens, sie ist verjährt –, zur Bewältigung von Bürokratie erledigt sich über Algorithmen. Das heißt, wir müssen uns all dem, was wir haben, bemächtigen und es zur Verfügung stellen. Dann werden sich ganz, ganz viele Arbeitsschritte in der bäuerlichen Landwirtschaft durch digitales Tun erledigt haben. Dazu brauche ich nicht 2030.
Verehrte Kollegin Connemann, Sie haben die Bundesregierung als Verursacher des digitalen Paktes ausgerufen. Da wünsche ich mir mehr Selbstbewusstsein fürs Parlament. Wir waren das. Wir als Koalitionär haben in den Koalitionsverhandlungen das Geld hineingeschrieben, das die Bundesregierung heute ausgibt. Bevor die Bundesregierung darüber nachgedacht hat, haben wir als Koalitionäre das eingestellt. Also wünsche ich uns schon den Mut, zu sagen: Wir waren es selber! Wir selber waren kreativ genug, um das auf den Weg zu bringen.
({2})
Nun ist die Exekutive am Zuge.
Jetzt wird uns vorgeworfen: Ihr habt die Zeichen der Zeit nicht erkannt. – Völlig falsch! Schauen Sie mal in die Haushaltstitel. Dann werden Sie nämlich die Experimentierfelder finden. Bei den Experimentierfeldern gibt es eine spannende Sache. In den Haushalten vieler Ministerien finden Sie immer wieder den Hinweis auf Rückfluss in den Bundeshaushalt. Interessanterweise ist das an der Stelle mit der Digitalisierung nicht so: 15,5 Millionen Euro, für 2019 eingestellt an einer Stelle, an der vorher nichts war, und 15,5 Millionen Euro ausgegeben – verausgabt für die Experimentierfelder.
Was wird auf den Experimentierfeldern gemacht? Das, von dem Sie bestreiten, dass es überhaupt stattfindet, nämlich das Ausprobieren der Verknüpfung von Maschinen und Technik mit Bodendaten, mit künstlicher Intelligenz. Jetzt wird im Pflanzenschutzbereich, im Bodenschutzbereich, bei der Anwendung in Tierställen ausprobiert: Wie funktioniert die Kommunikation? Dafür brauchen wir ein bisschen Zeit und Geld.
Jetzt kommen wir zu der IT-Plattform. Wir sind im Moment dabei, dafür im nächsten Jahr 22,5 Millionen Euro auszugeben. Wir werden sie verausgaben, genau wie dieses Jahr die 15,5 Millionen Euro. Hier sollten Sie die Kraft dieser Koalition nicht unterschätzen. Wir reden erst mal vom Anfang des Geldausgebens. Wenn wir über die IT-Plattform reden, dann reden wir davon, an das große Geld zu gehen. Das brauchen wir auch. Ich möchte nicht – das möchte auch die SPD nicht –, dass der Souverän seine Souveränität verliert. Das bedeutet: Die Daten gehören in Staatshand und vor allen Dingen in das Eigentumsrecht der Landwirte.
({3})
Wer jetzt den Begriff „Staat“ bemängeln will, dem sage ich: Wir wollen nicht kontrollieren. Das geht über genau dasselbe Plausibilitätsprinzip wie bei der Steuer. Ich halte das für ausgesprochen vernünftig: Nur wer im Rahmen einer Steuererklärung auffällt, bekommt Ärger. Das können wir in der Landwirtschaft genauso gut, wahrscheinlich sogar viel besser machen. Dann wird sich die gesamte Frage der Stoffstrombilanzen, der Nährstoffbilanzen, der Düngeverordnung, der Nitratbelastung und zum Beispiel auch der GAP-Erklärung sehr schnell erledigen.
Ich habe letztens einen der erfolgreichsten deutschen Landwirte gesprochen.
({4})
Er sagt, dank der Digitalisierung brauche er für die GAP-Erklärung trotz seines riesengroßen Hofes nur zwei Stunden. – Genau das werden wir, Kolleginnen und Kollegen, jedem Kleinst- und Kleinbauern zur Verfügung stellen und ihn damit auf Augenhöhe mit den Großen bringen.
Danke.
({5})
Für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin Carina Konrad das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, die grüne Branche wandelt sich. Das hat sie übrigens schon immer getan. Aber der Zweck der grünen Branche wandelt sich nicht.
Wir müssen uns klarmachen: Die Digitalisierung der Landwirtschaft, zu der übrigens die FDP-Fraktion vor anderthalb Jahren den ersten Antrag in den Deutschen Bundestag eingebracht hat – aber geschenkt, Frau Connemann –, macht doch vielen Menschen Angst.
({0})
Für viele klingt das schrecklich. Sie erkennen gar nicht die Chancen, die darin liegen. Es ist die Aufgabe von uns allen, diese Chancen in den Vordergrund zu stellen und nicht immer nur vorrangig über die Probleme zu reden.
({1})
Mein Großvater hat damals angefangen: Der erste Traktor bei uns auf dem Hof war ein 15er Deutz. Das ist noch keine 50 Jahre her. Seitdem hat sich der Betrieb revolutioniert. Meine Eltern haben investiert und haben den Deutz damals schon als Oldtimer behandelt, was er heute definitiv auch ist. Heute sind digitale Anwendungen bei uns im Einsatz, ohne dass irgendjemand den Einsatz der digitalen Anwendungen gewollt hätte. Doch sie wurden eingesetzt, weil sie einen Nutzen bringen. Das muss im Vordergrund stehen: Es muss ein spürbarer Nutzen für die Betriebe da sein. Dann gibt es auch ein großes Interesse daran, diese digitalen Anwendungen in den Betrieben einzusetzen. Aber es ist wichtig, dass jeder der Akteure auch seine Rolle im Spiel erkennt. Die Politik muss ihre Rolle im Spiel genauso erkennen wie die Anwender und die Hersteller. Mir ist nicht klar, ob dies immer der Fall ist.
({2})
Die Wertschöpfung bei den Betrieben muss gegeben sein, weil sonst das Geld fehlt, um sich die Technik überhaupt zu kaufen. Doch die Agrarpolitik, die hier insgesamt betrieben wird, zieht Wertschöpfung aus den Betrieben heraus, und das oft, ohne dass dadurch ein wirklicher Nutzen entsteht. Die Digitalisierung erlöst Sie nicht von den Hausaufgaben, die Sie allgemein in der Agrarpolitik zu machen haben, sondern sie gibt Ihnen neue auf. Die Koalition hat der Bundesregierung heute eigentlich nichts anderes als eine To-do-Liste vorgelegt. Das ist wichtig, und das kann man erst mal nur begrüßen.
Doch es gibt viele offene Fragen: Was ist mit dem Netzausbau? Autonomes Fahren auf dem Acker geht schon; Herr Spiering hat eben die Testfelder erwähnt. Das ist möglich; aber bei uns fehlt vielerorts das Netz dafür, sodass es überhaupt nicht in die Anwendung kommt. Diese Technik ist auch teuer, und es braucht bestimmte Flächenstrukturen, damit sie in die Anwendung kommt.
Roboter helfen in der Tierhaltung, damit der Landwirt sich aufs Tier fokussieren kann; das bringt viel fürs Tierwohl. Aber auch da braucht es bestimmte Betriebs- und Herdengrößen. Genau die werden aber in den Debatten von den Grünen überwiegend infrage gestellt. Es fallen Kampfbegriffe wie „Massentierhaltung“ oder „Gülleflut“.
({3})
Deshalb müssen wir da auch ein bisschen normal werden und ruhiger damit umgehen.
Herr Spiering hat die Drohnen angesprochen. Es gibt heute große Drohnen, die Pflanzenschutzmittel sehr genau ausbringen können. Das kann eine Riesenerleichterung für den Sonderkulturanbau und vor allen Dingen auch für den Weinbau sein. Wir hatten vor Kurzem eine Debatte über die Schutzanzüge im Weinbau; die Frage ist immer noch nicht geklärt. Winzer müssen jetzt mit Schutzanzügen durch den Wingert laufen, um Pflanzenschutzmittel aufzusprühen. Drohnen sind hier die Lösung; aber die Flugrechtefrage ist noch alles andere als ungeklärt.
({4})
Die Drohnen wurden in der Hochschule Geisenheim entwickelt, fliegen aber in der Schweiz; das ist eigentlich ein Armutszeugnis.
({5})
Auch die Masterplattform muss die Aufgabe erfüllen, das Spannungsfeld, welches zwischen Verbrauchern und Landwirten entstanden ist, zu überbrücken; das muss ihr Zweck sein. Sie muss dabei helfen, dass die Rolle und Daseinsberechtigung von Nahrungsmittelerzeugung in diesem Land wieder den Stellenwert bekommt, den sie verdient.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat Dr. Petra Sitte für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dass Digitalisierung nun doch nicht vor Milchkannen haltmacht, das hat sich inzwischen herumgesprochen.
({0})
Auch wenn manchem die Verknüpfung von Digitalisierung und Landwirtschaft noch einigermaßen komisch vorkommen mag, so ist festzustellen: Ja, Datenerfassung und digitale Steuerung haben auch in diesem Bereich großes Potenzial.
Zum Beispiel gibt es mit der Präzisionslandwirtschaft die Chance, ganz gezielt Bodenbeschaffenheit oder eben auch Wetter zu analysieren
({1})
und schließlich jede Stelle des Feldes zu einem bestimmten Zeitpunkt zu erfassen und zu bewirtschaften. Das kann Landwirtschaft tatsächlich effizienter, ressourcenschonender und eben auch nachhaltiger machen. Aber so wie Sie sich das in den vorliegenden Anträgen vorstellen: „Wir machen die Landwirtschaft mal ein bisschen effizienter durch die Digitalisierung“, furchen Sie, glaube ich, genau in die Sackgasse.
({2})
Landwirtschaft kann eben nicht so bleiben, wie sie gerade ist. Vielmehr brauchen wir eine Transformation zu einer nachhaltigeren, einer vielfältigeren und einer lokal verankerten Landwirtschaft.
({3})
Dabei können digitale Innovationen eine wichtige Rolle spielen; allerdings nur mit einer klaren Vorstellung, wie man mithilfe dieser Instrumente die Transformation bewältigt.
({4})
Aber selbst wenn es nur darum ginge, wie man überhaupt zur Digitalisierung in der Landwirtschaft kommen könnte: Selbst da ist der Koalitionsvertrag äußerst vage. Es nervt einfach, dass in jedem Papier der Bundesregierung und der Koalition drinsteht, dass wir eine bessere Breitbandversorgung, dass wir eine bessere Bereitstellung von öffentlichen Daten brauchen. Dummerweise steht nie dabei, wie das gehen soll. Und noch blöder: Konkretes politisches Handeln bleibt Fehlanzeige.
({5})
Der Antrag der FDP wird da ein wenig konkreter, lässt aber eine Frage außer Acht: Wer soll in der Landwirtschaft der Zukunft das Sagen haben? Im Zweifel wird passieren, was bei der Digitalisierung in anderen Wirtschaftsbereichen schon passiert ist, nämlich: Die Macht liegt bei dem, der die Plattformen zur Verfügung stellt und die Daten aggregiert. Wenn man nun ein anderes Modell will, wird es eben nicht reichen, nur auf den freien Wettbewerb einiger Agrarunternehmen zu setzen. Nein, dann muss eben, wie der Kollege schon angedeutet hat, tatsächlich über öffentliche Infrastrukturen nachgedacht bzw. müssen diese geschaffen werden.
({6})
Gebraucht wird also eine Datenpolitik, die der Komplexität dieses Themas gerecht wird. Stattdessen will die Koalition komischerweise auf Rechten der Urheber von Daten bestehen. Aha – interessant! Dabei müssten Sie doch aber wissen, dass dies zurzeit kein eindeutiger Begriff ist. Sensordaten sind eben keine Symphonien. Wer ist denn nun der Urheber? Der Besitzer der Fläche? Derjenige, der sie bewirtschaftet? Der Eigentümer der Sensorik? Oder schließlich der Hersteller? Da hat der Kollege von der SPD vorhin durchaus den richtigen Gedanken geäußert: die Landwirte.
({7})
Das bedeutet aber: Wenn Sie das wollen, dann müssen Sie klären, wie.
Wir sagen: Wenn es hier um Datenschutz geht, dann müssen wir über Zugangsrechte reden; die müssen geklärt werden. Durchaus interessante Ansätze finden wir bei der Datenethikkommission – können wir mal nachlesen und umsetzen!
({8})
Fazit: Die Digitalisierung der Landwirtschaft ist Bestandteil einer notwendigen Transformation. Aber wenn sie nicht zu Nachhaltigkeit führt, wenn sie nicht zu Gemeinwohl führt und nicht an den Bedürfnissen der Landwirte ausgerichtet wird, dann wird sie nicht zukunftsfähig.
Danke.
({9})
Danke. – Das Wort hat der Abgeordnete Harald Ebner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Landwirtschaft macht Schlagzeilen: hohe Nitratwerte, Glyphosat, Insektensterben, Höfesterben, Bauernprotest gegen die Bundesregierung. Keine Frage: Wir brauchen Lösungen.
({0})
Welche Rolle kann Digitalisierung dabei spielen? Ist Digitalisierung die Antwort oder eine Art Hilfsmittel, um im Agrarsystem alles beim Alten zu belassen? Werte Kolleginnen und Kollegen, ein paar digitale Updates allein holen das gescheiterte Agrarmodell nicht aus der Sackgasse.
({1})
Wir brauchen ein neues Betriebssystem, eine Agrarwende, mit der wir auch die Chancen der Digitalisierung nutzen, weil eine bloße Optimierung der bisherigen Bewirtschaftung noch lange keine echte Nachhaltigkeit bedeutet.
({2})
Wer Digitalisierung nur in Rationalisierungsgewinnen denkt, verkennt ihr Potenzial. Effizienzgewinne sind nötig, ja. Aber es reicht eben nicht, nur ein bisschen weniger Gift etwas zielgenauer einzusetzen. Wir brauchen eben nicht weniger vom Falschen, sondern endlich das Richtige.
({3})
Stellen wir die Digitalisierung in den Dienst einer Agrarwende, und nutzen wir sie für echte Ökologisierungsgewinne! Digitalisierung bietet dabei echte Chancen für neue Wege. Beispielsweise können autonome Feldroboter Unkräuter mechanisch entfernen – ganz ohne Glyphosat. So wird auch der Anbau von Mischkulturen möglich und damit mehr Vielfalt auf dem Acker.
({4})
Statt für weitere Großmechanisierungen können wir die Potenziale digitaler Anwendungen und Steuerungen dafür nutzen, auch kleinstrukturierte, reichhaltige und schöne Kulturlandschaften ökonomisch sinnvoll und gleichzeitig ökologisch verträglich zu bewirtschaften. Weniger Rüstzeiten machen auch kleine Schlaggrößen wieder konkurrenzfähig.
Auch Züchtung können wir mit digitalen Instrumenten neu denken. Digitale echte Züchtungsmethoden statt Gentechnik hieße: Mit den Potenzialen von Vernetzung und gemeinsamer Nutzung großer Datenmengen würde jede Bäuerin, jeder Bauer wieder zum Züchter. Crowdbreeding macht die Landwirtschaft wieder zum Herrn über das eigene Saatgut.
({5})
Verlieren wir aber auch nicht die Marktkonzentration aus dem Blick; das wurde schon angesprochen. Über Pestizid-, Dünge- und Futtermittelindustrie, Verarbeitungsbranche und Einzelhandel haben wir eine hohe Marktkonzentration und immer größere Anbieter. Bayer hat Monsanto gekauft wegen der marktbeherrschenden Stellung seiner digitalen Agrarplattform und dafür sogar das Glyphosatdebakel in Kauf genommen.
Das wirft zwei Fragen auf: Wie verhindern wir, dass eine Handvoll Konzerne unsere Lebensmittelversorgung kontrollieren? Und: Wie schützen wir unsere gesamte Lebensmittelkette wirkungsvoll vor Cyberangriffen, Viren und digitalen Schädlingen? Es geht hier in mehrfacher Hinsicht um Ernährungssicherheit und Ernährungssouveränität. Wir brauchen hier klare Regeln, klare Standards, die für alle Anbieter einen offenen Zugang und einen fairen Wettbewerb sicherstellen. Neben der Normierung von Schnittstellen und der Interoperabilität verschiedener Systeme gehören dazu aber auch ganz zentral Mindestvorgaben zur Cybersicherheit in der gesamten Lebensmittelkette. Ich halte das für essenziell.
({6})
Die von der Koalition geplante Masterplattform bringt in einigen Jahren hoffentlich Ergebnisse, aber da könnte es vielleicht schon zu spät sein. Wir verlieren jedes Jahr 5 000 Höfe in Deutschland, Insekten sterben weiterhin. In den Anträgen gibt es keine Antworten auf die Frage, wie wir verhindern, dass die Digitalisierung das Höfesterben sozusagen noch beschleunigt. Hier können wir etwas tun, indem wir eben auch Low-Cost-Systeme fördern und die echten Potenziale der Digitalisierung heben, indem wir sie im Sinne einer naturnäheren Landwirtschaft einsetzen. Wir müssen uns entscheiden, wie wir es machen: Passen wir die Natur an die Technik an oder die Technik an die Natur? Ich bin für das Letztere.
Danke schön.
({7})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Maik Beermann das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Konrad von der FDP, ja, vor anderthalb Jahren haben Sie einen Antrag eingebracht; das stimmt. Aber wir haben über dieses Thema auch schon in der letzten Legislaturperiode gesprochen;
({0})
da waren Sie noch nicht dabei. Das heißt, das Thema „Digitalisierung der Landwirtschaft“ ist hier kein neues Thema. Wir besprechen das Thema regelmäßig, so wie es sich gehört, und zwar dort, wo es hingehört, nämlich im Parlament.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, während wir hier reden, läuft gerade in Hannover die Agritechnica, die Weltleitmesse für Landtechnik. Wenn man sich die Innovationen und die digitalen Anwendungen anschaut, ist das schon sehr beeindruckend.
Ich möchte hier heute eines gerne sagen: Die Landwirtschaft hier bei uns in Deutschland ist für mich der digitalisierteste Wirtschaftsbereich, den wir aktuell haben; da kommt kein anderer Wirtschaftsbereich mit. Das muss man einfach auch mal anerkennen.
({2})
Man sieht auf der Agritechnica Roboter, die düngen und damit die Umwelt schonen, weil sie eben nicht überdüngen. Man sieht andere Roboter, die Unkraut jäten, was wiederum den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln reduziert. Man sieht intelligente Lösungen, die die Pflanzengesundheit in Echtzeit per Satellit untersuchen, die mit künstlicher Intelligenz, Agrardrohnen oder Cloud-Lösungen arbeiten. Alle Standplätze sind ausgebucht. Das zeigt, wie viel Innovation und Potenzial in diesem Sektor steckt, und es unterstreicht, welche Rolle die Landwirtschaft im Bereich Digitalisierung einnimmt, nämlich klar eine Vorreiterrolle.
Die Digitalisierung ist hierbei kein Selbstzweck; denn wir brauchen digitale Innovationen. Die Produktionssteigerungen sprechen eine eindeutige Sprache: Musste ein Landwirt im Jahre 1930 10 Menschen versorgen, so sind es heute bereits 155 und 2050 sogar 250 Menschen. Wir brauchen digitale Lösungen aber auch, liebe Kolleginnen und Kollegen, weil nur so Umweltschutz und die Versorgung mit Nahrungsmitteln Hand in Hand gehen können.
Der Antrag greift genau die Punkte auf, auf die es ankommt:
Ich nenne den Breitbandausbau und den Mobilfunkausbau. Nach wie vor liegen zu viele Orte in unseren ländlichen Regionen am digitalen Feldweg. Das muss sich ändern; hier müssen wir schneller und besser vorankommen.
Ich nenne die Einführung einer Agrar-Masterplattform; die Kollegen Connemann und Spiering sind schon darauf eingegangen, und der Kollege Ebner hat es eben auch erwähnt. Eine solche Plattform könnte Landwirte von einfachen Arbeitsaufgaben entlasten und parallel dazu sowohl die Produktqualität als auch die Sicherheit der Prozesse erhöhen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gerade bei Geo-, Wetter- und Satellitendaten halte ich persönlich eine Bereitstellung von öffentlichen Informationen im Sinne von Open Data und Open Source für unabdingbar.
({3})
Diese Daten müssen den Landwirtinnen und Landwirten kostenlos zur Verfügung gestellt werden. All das muss eben auch getestet werden.
({4})
Meine Kollegin Connemann ist auf die Probierfelder eingegangen. Wir haben hier in Berlin, aber auch darüber hinaus ganz viele Thinktanks, wo sich kluge Köpfe treffen, beraten und Ideen entwickeln. Aber diese Ideen müssen auch in die Praxis umgesetzt werden, und deswegen ist für mich die Einführung der Probierfelder, dieser Practice Tanks, ein wirklicher Meilenstein.
({5})
In diesem Zusammenhang müssen wir unseren Bäuerinnen und Bauern aber auch eine Investitionssicherheit geben. Das alles kostet Geld, und die Landwirtinnen und Landwirte brauchen hier eben diese Investitionssicherheit, die dafür erforderlich ist.
Meine Damen und Herren, eine moderne und verantwortungsbewusste Landwirtschaft nutzt schon heute mit innovativer Landtechnik die begrenzten landwirtschaftlichen Flächen intelligent und bringt Ökonomie und Ökologie in Einklang. Helfen wir den Landwirtinnen und Landwirten, weiter aktiv zu gestalten und die Digitalisierung nutzbar zu machen! Angesichts der aktuellen Proteste vieler Landwirte sollten wir hierbei mehr mit- als übereinander sprechen. Wir brauchen mehr Kooperation als Gegeneinander;
({6})
denn wir haben hier doch sicherlich ein gemeinsames Ziel: Wir wollen, dass deutsche Landwirtschaft zukunftssicher und wettbewerbsfähig bleibt und weiterhin die besten und sichersten Lebensmittel der Welt produziert. Eines wollen wir aber nicht: dass der Landwirt irgendwann als der Sündenbock für alles beschrieben wird.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Artur Auernhammer für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist heute schon vielfach die Agritechnica angesprochen worden. Diese Fachmesse, organisiert von der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft, findet nicht umsonst in Deutschland statt. Sie findet deswegen in Deutschland statt, weil wir hier vom Allgäu bis ins Emsland sehr viele hochinnovative mittelständische Landtechnikunternehmen haben, die teilweise aus einer Dorfschmiede entstanden sind und sich unwahrscheinlich entwickelt haben.
Die deutsche Landtechnikindustrie ist auch ein bedeutender Faktor, was Arbeitsplätze und Innovation in Deutschland anbelangt. Das müssen wir hier auch mal erwähnen. Das hat seine Ursache auch darin, dass wir in Deutschland sehr viel in diesem Bereich forschen und entwickeln. Das ist schon seit Jahrzehnten so: An verschiedenen Universitäten wurde die Satellitennavigation erfunden, und jetzt sind wir in der praktischen Umsetzung.
In Hannover machen von den über 400 000 Besuchern, die am Samstagabend die Agritechnica besucht haben, einen hohen Anteil internationale Gäste aus. Das zeigt, dass die deutsche Landtechnikindustrie weltweit führend ist, und das zeigt auch, dass die deutsche Landtechnikindustrie wesentlich besser aufgestellt ist als vielleicht die deutsche Automobilwirtschaft.
({0})
Aber wir haben die Sorge, ob das auch in Zukunft so bleibt. Konzerne übernehmen die eine oder andere mittelständische Firma, und wir als Landwirte und als Nutzer müssen uns damit auseinandersetzen. Deshalb brauchen wir auch Rahmenbedingungen, die uns in die Lage versetzen, diese Technik zu nutzen. Wir wissen alle: Die Digitalisierung wird innerhalb der Landwirtschaft einen Wandel herbeiführen, der uns genauso beeinflussen wird wie die Umstellung vom Pferd auf den Schlepper. Aber wenn alles nur noch über große Konzerne und große Softwarefirmen funktioniert, dann müssen wir als Politik auch handeln.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, dass wir riesige Chancen haben, muss uns auch bewusst sein. Die Digitalisierung wird dazu führen, dass sich konventionelle Landwirtschaft und ökologische Landwirtschaft irgendwann wieder verbinden. Das ist schlecht für die Grünen – dann haben die kein Feindbild mehr –;
({1})
aber wir haben dann wieder eine zukunftsorientierte landwirtschaftliche Produktion, und daran gilt es zu arbeiten.
Grundlage dafür ist natürlich, dass wir auch flächendeckend mit der Infrastruktur versorgt sind. Das heißt 4G, besser: 5G, an jeder Fichte, an jedem Weizenhalm. Es muss uns klar sein, dass wir da als Bundesregierung noch weiter tätig werden müssen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Datenhoheit ist bereits angesprochen worden. Digitale Feldfrüchte gehören den Bauern und nicht irgendwelchen Konzernen. Da sind vielleicht noch die gesetzlichen Rahmenbedingungen nachzujustieren. Das kann zwar auch Deutschland, aber dafür ist auch ein europäischer Rahmen notwendig. Hier ist die europäische Politik gefordert.
Zum Schluss noch eine Bemerkung. Wenn wir Landwirte fragen: „Warum setzen Sie die Technik ein?“ oder „Warum setzen Sie die Technik nicht ein?“, dann bekommt man in erster Linie die Antwort: Es rentiert sich nicht; es kostet zu viel. – Deshalb ist es wichtig, dass wir hier auch die überbetriebliche Zusammenarbeit stärken. Da kommt den Maschinenringen und Lohnunternehmen eine ganz wichtige Rolle zu, damit auch eine klein- und mittelbäuerliche Struktur diese Technik nutzen kann und sie auch im Sinne der Umwelt und ihrer eigenen Betriebe einsetzen kann.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({2})
Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt wohl kein anderes digitalpolitisches Thema, bei dem sich alle Expertinnen und Experten so einig sind wie beim Thema Open Data; ob nun Wissenschaft, Forschung, Zivilgesellschaft, Regierung oder Opposition – große Einigkeit. Offene Daten haben einen ganz erheblichen Mehrwert für die Erhöhung von Transparenz, für die Ermöglichung von Beteiligung und für die verstärkte Legitimation politischer Entscheidungen, aber eben auch für die Wissenschaft und Forschung, für E-Government-Angebote, innovative Anwendungen und Apps und den immer wichtiger werdenden Datenjournalismus. Daher müssen wir endlich vorankommen und nicht personenbeziehbare Daten nutzbar machen.
({0})
Das Handeln von Regierung und Verwaltung muss heute einfach transparenter, offener und nachvollziehbarer werden; denn in der Öffnung der – übrigens ja überwiegend mit öffentlichen Geldern geschaffenen – Datenbestände liegen enorme – auch wirtschaftliche – Potenziale.
Als Bund waren wir hier mal Vorreiter. Das unter Rot-Grün geschaffene IFG war eine echte Erfolgsgeschichte.
({1})
Aber heute, nach fast 15 Jahren, muss es dringend reformiert werden.
({2})
Den bestehenden Flickenteppich verschiedenster Informationsfreiheitsgesetze müssen wir beseitigen, die Chancen von Internet und Digitalisierung nutzen und die Idee der Informationsfreiheit endlich um die von offenen, gut aufbereiteten Daten ergänzen.
({3})
Längst haben die Länder mit ihren neuen Transparenzgesetzen und Open-Data-Portalen dem großkoalitionär verschnarchten Bund den Rang abgelaufen.
({4})
– Herr Amthor, Sie regieren ja auch in dem ein oder anderen Land. Es ist vielleicht ja auch ein Lob für die. -
({5})
Sie zeigen, was alles möglich ist. Sie geben die Richtung klar vor. Wir müssen endlich weg vom preußischen Obrigkeitsdenken, und wir müssen hin zu einer vitalen demokratischen Politik, die den Menschen auf Augenhöhe begegnet.
({6})
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben wir zur verkorksten Halbzeit der Großen Koalition diesen Antrag vorgelegt. Sie haben sich nämlich selbst wortreich und vielfach, liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und Union, in Ihrem Koalitionsvertrag zur Informationsfreiheit und zum Zugang zu offenen Daten bekannt und angekündigt, das alles verbessern zu wollen.
({7})
Geschehen ist aber bis zum heutigen Tag gar nichts. Ein zweites Open-Data-Gesetz gibt es nicht, und Ihre Lethargie ist für die Bundesebene der viertgrößten Wirtschaftsnation der Welt einfach peinlich.
({8})
Lassen Sie den großkoalitionären Versprechungen im Vertrag endlich Taten folgen!
({9})
Schauen Sie, was derzeit auf EU-Ebene in Sachen PSI-Richtlinie läuft. Schauen Sie in den Zweiten Nationalen Aktionsplan, den Sie in der Open Government Partnership vorgelegt haben, und folgen Sie Ihrer darin eingegangenen Verpflichtung, bis Mai 2020 – das ist bald – eine neue Open-Data-Strategie vorzulegen. Schaffen Sie endlich mehr Offenheit und ein Bundestransparenzgesetz, das diesen Namen auch verdient. Beteiligen Sie die Zivilgesellschaft: die Open Knowledge Foundation und viele andere, die schon lange darauf warten, ihre Expertise stärker einzubringen. Und: Raubkopieren Sie skrupellos aus unserem schönen Antrag; darüber würden wir uns sehr freuen. Hauptsache, wir kommen bei dem wichtigen Thema endlich voran.
Ganz herzlichen Dank.
({10})
Danke. – Das Wort hat der Kollege Philipp Amthor für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Transparenz bei Regierung und Behörden stärken, Informationsfreiheitsgesetz des Bundes zu einem Transparenzgesetz weiterentwickeln“, das klingt ja wirklich so, als könne man das nicht ablehnen.
({0})
Aber es ist dann doch mal wieder nur grüne Wohlfühletikettierung. Genau das werden wir herausarbeiten.
({1})
Denn eines ist klar: Auch wenn man gegen Ihren Antrag ist, ist man nicht automatisch für eine verschlossene Regierung. – Wir sind sehr wohl für Transparenz. Ich will bei all der Kritik am ach so verschlossenen Staat auch einmal hervorheben, was unsere Beamten der Bundesbehörden leisten. Wir haben schon heute viele Transparenzmöglichkeiten. Schauen wir uns an, was allein 2018 bei Geltung des Informationsfreiheitsgesetzes geschehen ist: fast 14 000 erledigte und beschiedene Anträge, dazu Tausende in den Ländern. Da kann man sagen: Unsere Behörden machen eine gute Arbeit.
({2})
Ich will richtigerweise sagen: Ja, beim Thema Open Data besteht Nachholbedarf. Der Kollege Marian Wendt wollte dazu ausführen, hat seine Rede aber aus persönlichen Gründen zu Protokoll gegeben. Jenseits von Open Data greifen Sie berechtigte Punkte auf, lieber Kollege von Notz, wenn Sie sagen: Das Informationsrecht ist zersplittert. Das Verhältnis der einzelnen Auskunftsansprüche zueinander ist nicht überzeugend geregelt. – Das ist rechtspolitisch durchaus eine berechtigte Kritik. Die Lösung ist Ihnen allerdings auch nicht gelungen. Sie wollten die Bundesregierung auffordern, das zu tun.
({3})
Insofern muss man sagen: Guter Ansatz; Lösung noch nicht so gut ausgebaut.
({4})
Im Übrigen geht Ihr Antrag, was das Informationsfreiheitsrecht angeht, einfach zu weit und ist dann auch von einer großen Ferne zur Verwaltungspraxis geprägt. Das zeigt sich zuallererst, wenn wir uns die Ausnahmetatbestände für Informationsansprüche ansehen; denn es gibt – ich finde, das ist nachvollziehbar – Gründe, aus denen der Staat Informationsanfragen der Bürger ablehnen kann. Das ist allerdings die Ausnahme. Von den erwähnten 13 600 IFG-Anträgen im letzten Jahr wurden nur 941 abgelehnt. Das ist also eine verschwindend geringe Zahl; da sollten Sie nicht so tun, als sei das ein überbordend großes Problem.
Was mich aber am allermeisten stört: Sie wollen die Bereichsausnahme für unsere Nachrichtendienste streichen, für den BND, das Bundesamt für Verfassungsschutz und den MAD. Diese Ausnahme ist sinnvoll. Denn welche Nachrichtendienste der Welt sollten denn mit uns kooperieren, wenn sie die Sorge haben müssten, dass die Informationen, die sie unseren Behörden geben, am nächsten Tag bei irgendwelchen Internetaktivisten auf dem Schreibtisch liegen? Das finden wir nicht überzeugend, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({5})
Im Übrigen sollten Sie sich einmal vergegenwärtigen, wie weit Ihre Informationsansprüche gehen, die Sie fordern. In der Begründung Ihres Antrags sagen Sie, es sei ein Problem, dass Bürger zum Beispiel keine Informationen über Flugbewegungen von CIA-Flügen im deutschen Luftraum oder über Rüstungsexporte nach Katar bekommen hätten. Ich kann Ihnen sagen: Sie sollten bedenken, dass es vielleicht sinnvoll ist, den Bürgern nicht weitergehende Informationsansprüche zu geben, die die Abgeordneten selbst nur aus guten, durch das Staatswohl konditionierten Gründen haben.
({6})
Deswegen sage ich an dieser Stelle: Die internationalen Beziehungen bleiben für uns Schutzgut des Informationsfreiheitsrechts, und das ist auch gut so, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({7})
Sie wollen – das ist das größte Problem Ihres Antrags und zeigt die typisch grüne Denke, die sich von unserer unterscheidet – den Kreis der Anspruchsberechtigten ausweiten. Sie haben vorhin Rot-Grün gelobt und den ersten Entwurf des IFG. Dazu sage ich: Vieles daran war nicht gut, aber eine Regelung, die der damalige Gesetzgeber getroffen hat, war sinnvoll. Man hat sich damals nämlich bewusst entschieden, Bürgerinitiativen und Verbände aus dem Anwendungsbereich des Informationsfreiheitsgesetzes herauszunehmen. Man hat gesagt, der einzelne Bürger, der in einer Bürgerinitiative ist, hat ohnehin einen Auskunftsanspruch; da muss er sich nicht hinter der Bürgerinitiative verstecken. – Das wollen Sie heute wieder ändern.
Ihre Vorstellung ist grundlegend schief. Denn es gibt nämlich nicht nur die interessierten Bürger; vielmehr benutzen viele Ihrer interessierten Bürger und sogenannten Aktivisten an vielen Stellen Transparenzregelungen, um unsere Behörden vorzuführen. Das ist sicherlich nicht der richtige Weg.
({8})
Das sieht man an den aktuellen Fällen. Ich denke an Aktivisten, an Vereine, die nicht einmal zehn Mitglieder haben und bundesweit eine große Welle gegen Hubertusmessen und gegen Jäger machen. Und das sind dann die breiten gesellschaftlichen Kräfte, von denen Sie sprechen.
({9})
Das finde ich nicht überzeugend.
({10})
Deswegen sollten wir hier auf Waffengleichheit setzen. Ich pointiere das ein bisschen:
({11})
Die einzelnen Bearbeiter im IFG-Verfahren sind teilweise völlig schutzlos. Die Namen unserer Beamten in den Bundesbehörden werden dann im Internet veröffentlicht, und Sie wollen sich hinter irgendwelchen Bürgerinitiativen verstecken. Ich kann Ihnen sagen, woran mich das erinnert: Es erinnert mich daran, was Leute aus dem linken und grünen Spektrum immer gerne wollen: einen linken Aktivisten, am besten vermummt, gegen einen Polizisten, der seine Adresse am besten auf dem Helm tragen soll. Das ist der völlig falsche Weg.
({12})
Wir brauchen hier keinen Generalverdacht gegen Menschen, die Informationsansprüche wollen; aber Ihre Punkte gehen einfach zu weit.
Die schöne Pointe ist – das will ich noch sagen –: Wer soll das nach den Vorstellungen der Grünen wohl bezahlen? Na, raten Sie einmal. Genau: die Allgemeinheit und der Steuerzahler.
({13})
Das ist eine völlig falsche Akzentuierung. Die Gebührenpflicht ist heute bei Informationsfreiheitsansprüchen schon die Ausnahme. Nur gut 8 Prozent der Ansprüche sind überhaupt gebührenpflichtig, und nur bei 2,5 Prozent aller Ansprüche im letzten Jahr lagen die Gebühren bei über 100 Euro. Sie stellen das hier als großes Problem dar.
({14})
Ich sage Ihnen: Der Steuerzahler muss nicht irgendwelche unsinnigen Einzelinteressen bezahlen.
({15})
Ich nenne Ihnen ein paar Beispiele aus der Verwaltungspraxis. Die Behörden wurden gebeten, die Menge des Toilettenpapiers einer Behörde oder die Anzahl der gedruckten Grundgesetze, geordnet nach Jahren, aufzulisten. Ich freue mich über jeden, der sich für das Grundgesetz interessiert; aber ich finde, wenn ein Bürger das wissen will, kann er es bitte schön auch selbst bezahlen. Das muss nicht der Steuerzahler bezahlen.
({16})
Im Übrigen, seien Sie ein bisschen selbstbewusst. Die Kernaufgabe der parlamentarischen Kontrolle liegt bei den Abgeordneten. Allein aus der Verfügbarkeit von Informationen folgt noch kein größeres Vertrauen in die Regierung oder in die Politik, sondern Vertrauen bekommen Sie nur, wenn Sie Informationen einordnen und kontextualisieren. Ich glaube, das ist unsere Aufgabe als Abgeordnete, und das können wir auch am besten.
Wir haben Kritik an Ihrem Antrag, und die werden wir im Ausschuss diskutieren.
Herzlichen Dank.
({17})
Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Die Bundesregierung kennt keine Eile. Ein 14 Jahre altes Informationsfreiheitgesetz ist noch gut; das hält noch ein bisschen, am besten stellt man es kalt. In diesen 14 Jahren, die meisten unter einer Kanzlerin Merkel, hat die Bundesregierung ein paar wichtige Lektionen gelernt. Nicht, dass man Gesetz auch an neue technologische Möglichkeiten anpassen könnte, auch nicht, dass eine Politik gegen das eigene Volk zu Stimmenverlusten führt. Aber sie hat gelernt, dass sie nun wirklich keine Öffentlichkeit und keine Transparenz gegenüber ihren potenziellen und ehemaligen Wählern gebrauchen kann.
Fällt das Licht auf die Tätigkeit der vergangenen Kabinette, sieht man eine aufgescheuchte Herde, getrieben von der jeweils aktuellsten Umfrage und der letzten Demo in Kanzleramtsnähe. Die fehlende Kompetenz wird, so hofft man, durch teure Berater ersetzt. Ja, wer seine Geschäfte so führt, der will sicherlich keine Transparenz. Wenn man wirklich will, genug Zeit und ein wenig Geld hat und auch keine zu impertinenten Fragen stellt, kann man auch heute schon Auskünfte von der Bundesregierung und den Bundesbehörden erhalten. Aber die einzigen staatlichen Unterlagen, auf die man im Internet problemlos und zeitnah zugreifen kann, liegen auf Wikileaks. Das Informationsfreiheitsgesetz mag, bei all seinen Fehlern, im Jahr 2005 ein großer Wurf gewesen sein. Im Jahr 2019 könnte es genauso gut die Speicherung der Daten auf Lochkarten verlangen.
Deshalb ist der Antrag der Grünen auch der AfD grundsätzlich willkommen, auch wenn er erfahrungsgemäß der Bundesregierung völlig egal sein wird. Der Antrag greift viele Punkte auf, die wir so unterschreiben können. Was die Bürger bereits jetzt auf Antrag unproblematisch verlangen können, muss jederzeit kostenlos und anonym abrufbar online verfügbar sein. Es muss staatliche Routine werden, amtliche Dokumente und Vorgänge unmittelbar nach Abschluss online verfügbar zu machen, und zwar im Rahmen nur der notwendigen Verschwiegenheit. Open Data ist kein Hexenwerk; das können sogar Sie hinbekommen, liebe Bundesregierung.
In einem demokratischen Rechtsstaat, der seinen Bürgern dient und sie nicht beherrscht, muss es auch grundsätzlich möglich sein, in den Bereich der Geheimdienste Einblicke zu erlangen. Der gesetzliche Rahmen muss hier eng gesetzt sein; aber es muss ihn geben. Auch der Verweis auf die mögliche Belastung internationaler Beziehungen darf keine Ausrede sein. Es ist nicht Aufgabe der Bundesregierung, das fragwürdige Treiben anderer Nationen zu decken. Wenn die Bundesregierung Dinge tun muss, die sie dem deutschen Volk besser vorenthält, um gute Beziehungen zu anderen Staaten zu unterhalten, machen wir uns vielleicht lieber ein paar Feinde.
Darüber hinaus halten wir die geforderte Kostenobergrenze von 500 Euro schon für zu hoch. Nur in Ausnahmefällen sollten für den Bürger überhaupt Kosten anfallen. Jedem interessierten Bürger und nicht nur finanziell unterfütterten Organisationen oder Medienvertretern muss es möglich sein, der Regierung auf die Finger zu schauen. Eine Kostenexplosion ist ebenfalls nicht zu erwarten. Der Open-Data-Ansatz wird, wenn die Bundesregierung ihn so ernst nähme, wie er im eigenen Koalitionsvertrag steht, bereits einen Großteil der möglicherweise angefragten Daten kostengünstig und zeitnah bereitstellen.
Eine entsprechende digitale Struktur für die restlichen Dokumente sollte auch die Bearbeitungszeit, abgesehen von außergewöhnlichen Fällen, deutlich unter den derzeit vorgesehenen Monat drücken. Außerdem sollte es auch möglich sein, auf Dokumente zuzugreifen, die sich auf laufende Beratungen von Behörden beziehen. Entwürfe und Notizen sind bereits anderweitig geschützt; das ist auch sinnvoll. Aber die Grundlage, auf der Gesetze und Vorschriften entstehen, sollte schon verfügbar sein, bevor das dazugehörige Verfahren öffentlich beginnt.
Zusammengefasst.: Der Antrag ist eine Arbeitsgrundlage, auf der wir im Ausschuss gerne für mehr Transparenz für die Bürger kämpfen wollen. Die Bundesregierung sollte sich wiederum schämen, dieses Thema so sträflich und, so wirkt es, absichtlich vernachlässigt zu haben.
Vielen Dank. Ein schönes Wochenende!
({0})
Den Beitrag des Abgeordneten Falko Mohrs für die SPD-Fraktion nehmen wir zu Protokoll.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die digitale Transformation fordert uns heraus, offen für Neues zu sein. Das bedeutet, alte Schubladen zu schließen und neu zu denken. Doch gerade unsere staatlichen Stellen, ja auch wir selbst hier im Haus, bemerken es oft: Das ist extrem schwer.
Die Bundesregierung und ihre Behörden sollten, finde ich, weniger darüber nachdenken, mit welcher Begründung sie Anträge auf Informationsfreigabe oder Informationsherausgabe ablehnen oder Informationen unter Verschluss halten. Mein Kollege Jimmy Schulz hat bereits mit einem Antrag auf eine absolut dreiste Praxis hingewiesen. Es gibt Fälle, in denen das Urheberrecht dafür benutzt wird, die Veröffentlichung von öffentlichen Informationen zurückzuhalten. Es gibt inzwischen Gerichtsverfahren, die das belegen.
Wir kennen die Praxis übrigens auch aus dem Bundestag. Den Gedanken, etwas lieber erst mal nicht herauszugeben, kennen wir als Abgeordnete, wenn wir Fragen an die Bundesregierung stellen und Antworten in Form von Nichtantworten erhalten. Das kann aber nicht so bleiben.
({0})
In den Verwaltungen und den Behörden muss dringend ein Umdenken stattfinden. Die Idee der Informationsfreiheit muss neu gedacht werden; denn es bieten sich enorme Chancen in der digitalen Transformation. Brauchen wir überhaupt noch ein Antragsverfahren? Warum sollten öffentliche Informationen nicht automatisch veröffentlicht werden?
({1})
Dann aber bitte nicht als schlecht gedruckter Scan, sondern bitte ungefragt in einem Standardformat, maschinenlesbar, dauerhaft und frei verfügbar.
({2})
Die FDP – mein Kollege Bernd Schlömer – hat im Berliner Abgeordnetenhaus einen Vorschlag eingebracht, der das auch umsetzen möchte. Er kehrt das Prinzip um. Der Bürger ist dann nicht mehr Bittsteller beim Staat, sondern der Staat gestaltet seine Verfahren so, dass sein Handeln für den Bürger transparent und öffentlich verfügbar ist. Herr Amthor, genau das ist der Punkt. Es geht nämlich darum, dass der Bürger diese Dinge präsentiert bekommt und wir alle – die Gesellschaft – etwas daraus machen können; denn diese Informationen sind teilweise viel wertvoller, als der Verwaltungsbeamte vielleicht im ersten Moment denkt.
({3})
Für mich geht es beim Thema Informationsfreiheit um mehr als um Akzeptanz und Transparenz. Es geht eben um diesen Datenschatz, von dem ich gerade gesprochen habe. Es geht darum, ob wir vielleicht die Entwicklung einer besseren Wetter-App durch Daten, die die öffentliche Hand bereits hat, besser gestalten können, ob wir vielleicht eine Busverbindung besser bzw. sekundengenau timen oder eine künstliche Intelligenz mit Daten trainieren können, die beim Onlinebehördengang hilft. Aufgrund dieser Daten, der Informationen, lassen sich solche Dinge vielleicht in Zukunft tun, und wir öffnen den Markt für Ideen. Das ist digitale Transformation; das hilft uns bei Innovationen weiter.
({4})
Deshalb wollen wir eine konsequente Open-Data-Strategie, die dann auch in Informationsfreiheit mündet, damit Gesellschaft, Wirtschaft und Staat von diesen Daten, den Informationen, auch profitieren können.
Viele von Ihnen wissen: Ich komme aus der IT. Da sprechen wir oft von Schichten. Die Verwaltung zu modernisieren, ist im Prinzip wie das Schälen einer Zwiebel. Schicht für Schicht muss man sich die Dinge ansehen. Es reicht eben nicht, nur die oberste Schicht dieser Zwiebel anzuschauen. Die Bundesregierung hat mit ihren Ideen und ihren Vorhaben bisher immer nur die äußerste Schicht angeschaut.
Auch beim Onlinezugangsgesetz geht es nur um die Oberfläche, um die äußerste Schicht. Der Gedanke, wir revolutionieren die Verwaltung, indem wir die Verfahren für die Bürger ändern, greift zu kurz. Die Verwaltungsleistung dahinter, das ganze Arbeiten der Verwaltung, muss digital transformiert werden. Das erreichen wir nicht, wenn Behörden sich weiter Faxe zuschicken. Dahinter muss digital transformiert werden, damit es ein Gesamtprozess wird.
({5})
Bitte, liebe Bundesregierung, liebe Große Koalition, nehmen Sie sich dieser Vielschichtigkeit an. Ich fordere Sie auf, mehr Tempo zu machen, zum Beispiel bei der E-Akte, bei der Registermodernisierung. Ich fordere Sie auf: Denken Sie neu! Haben Sie Mut! Dann klappt das auch mit dem Informationsfreiheitsgesetz und der Transparenz.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Anke Domscheit-Berg für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung verspricht uns schon länger viel Transparenz und Open Government, vor allem seit dem Beitritt zur Open-Government-Partnership, den ich im Übrigen begrüße, einem Erfahrungsaustausch zwischen Ländern auch zur Umsetzung des transparenten Staats.
In der Realität haben wir aber zu wenig Transparenz. Wir haben ein Open-Data-Portal, ja, aber es gibt dort viel zu wenig maschinenlesbare Daten. Wir haben kein Lobbyregister – immer noch nicht. Wir haben keinen legislativen Fußabdruck und können immer noch nicht erkennen, welche Paragrafen aus Gutachten von Lobbyisten Paragrafen in Gesetzen geworden sind. Das alles fordert Die Linke schon länger. Die GroKo lehnt ab und verspricht gleichzeitig mehr Transparenz. Das ist ein wenig lächerlich.
({0})
Die gleiche GroKo strengt eine Urheberrechtsklage gegen den MDR an wegen der Veröffentlichung eines Glyphosatgutachtens des Bundesinstituts für Risikobewertung. FragDenStaat, eine spendenfinanzierte zivilgesellschaftliche Plattform für Informationsfreiheit, hat das gleiche Gutachten über eine Informationsfreiheitsanfrage angefordert, erhalten, ins Netz gestellt und wurde ebenfalls wegen Urheberrechtsverletzung abgemahnt. Anschließend haben sich 40 000 Menschen das Gutachten über so eine Anfrage besorgt. Die Klage wurde im einstweiligen Verfahren im Juli 2019 vom Landgericht Köln entschieden. Das Gutachten steht also wieder im Netz. Die Linke drückt FragDenStaat auch im Hauptverfahren die Daumen und fordert von der Bundesregierung: Endlich Schluss mit dem Missbrauch des Urheberrechts! Schluss mit dem Zensurheberrecht!
({1})
Gerade bei Umwelt und Gesundheit braucht es maximale Transparenz. Da fehlt sie aber besonders oft. Das sehen wir im Fall Glyphosat. Wir sehen es aber auch im Dieselskandal. Seit 2017 lag dem Verkehrsministerium ein Gutachten vor, nach dem die Abschalteinrichtung bei Audi illegal ist. 2017! Das Datum ist brisant, weil die Bundesregierung zu diesem Zeitpunkt einfach nichts getan hat. Sie stand nicht an der Seite der Bürgerinnen und Bürger. Sie stellte sich als größte Lobby der Autoindustrie dar, selbst wenn diese Gesetze brach, indem sie Betroffenen diese Daten vorenthält.
Auch hier hat FragDenStaat eine Klage gegen das Kraftfahrt-Bundesamt angestrengt. Die Deutsche Umwelthilfe hat gegen das Verkehrsministerium geklagt, in diesem Fall, weil offizielle Messprotokolle, anders als in anderen Ländern üblich, nicht öffentlich gemacht worden sind. Die Bundesregierung agiert ganz offensichtlich nach dem Motto: So wenig Transparenz wie möglich. Und das zum Nachteil Betroffener, selbst bei rechtskräftigen Urteilen.
Der beste Staat ist aber ein gläserner Staat, in dem es keine Klagen braucht, um Informationsansprüche durchzusetzen. An den Beispielen sehen wir, dass wir weit entfernt sind vom Ideal. Das Open-Data-Gesetz ist ungenügend. Es muss ausgeweitet und präzisiert werden. Wir brauchen ein Transparenzgesetz.
Heute übrigens fand in Berlin am Nachmittag der Tag der Demokratie statt. Es war mir ein großes Vergnügen, dabei zu sein und mir die 22 Forderungen, die der Bürgerrat dort präsentiert hat, anzuhören. Von den Teilnehmern des Bürgerrates haben über 97 Prozent die Einrichtung eines Lobbyregisters gefordert. Das wollen Bürger haben, und es muss endlich kommen.
({2})
Gesetze reichen aber nicht. Wir brauchen auch einen Kulturwandel, nach dem Transparenz ein selbstverständlicher Wert in Ämtern und Ministerien ist. Das passiert nicht von selbst. Es passiert auch nicht über Nacht. Das braucht Entschlossenheit, Zeit, Ressourcen und vor allem Vorbilder. Ein Vorbild ist zum Beispiel Minister Andi Scheuer nicht. Vorbildlich ist bisher die Zivilgesellschaft, die sehr aktiv ist. Aus diesem Grunde möchte ich explizit FragDenStaat besonders danken.
({3})
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Informationen zu Schwangerschaftsabbrüchen nichts im Strafgesetzbuch verloren haben. § 219a muss weg – immer noch.
Danke.
({4})
Den Beitrag des Kollegen Marian Wendt aus der CDU/CSU-Fraktion nehmen wir zu Protokoll.