Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute ist ein besonderer Tag.
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Es ist ein besonderer Tag, weil ein Gerücht, das in unserem Land umgeht, dementiert wird. Das Gerücht lautet etwa so: Wenn eine Steuer einmal eingeführt ist, wird sie immer weiter bestehen bleiben, egal welcher Zweck sich noch dafür findet, er wird jedes Mal wieder verändert.
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Deshalb, sage ich, ist heute ein besonderer Tag, weil der Solidaritätszuschlag nicht für einen neuen Zweck verwendet wird, wie das einige immer wieder vorgeschlagen haben,
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sondern weil wir ihn für 90 Prozent derjenigen abschaffen, die ihn heute zahlen. Wir reduzieren ihn für weitere 6,5 Prozent.
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Das ist ein gutes Zeichen, weil es zeigt, dass wir uns an das halten, was wir vorher gesagt haben, meine Damen und Herren.
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Dass er für so viele abgeschafft wird und für so viele weitere reduziert wird, ist im Übrigen auch ein ganz wichtiges Zeichen,
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weil es darauf hinweist, dass das, wozu wir diesen Solidaritätszuschlag in Deutschland erhoben haben, weit vorangekommen ist, nämlich die deutsche Einheit. Bei dem, was wir zu finanzieren haben, sind unverändert Aufgaben da. Aber es ist richtig, zu sagen: Hier ist ein großes Solidaritätsprojekt in ganz Deutschland gestartet worden. Wir sind weit vorangekommen. Auch wenn wir nicht fertig sind: Der Soli war immer ein Zeichen dieser Solidarität. Deshalb ist seine heutige weitgehende Reduzierung auch ein Zeichen des Erfolges des Zusammenwachsens in Deutschland.
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Meine Damen und Herren, gleichzeitig ist es so, dass wir sagen: Der Solidaritätszuschlag wird nicht vollständig abgeschafft. – Dafür gibt es auch Gründe; denn die deutsche Einheit ist eine Aufgabe, die wir unverändert zu schultern haben. Da sind noch Dinge zu tun. Jeder weiß es. Da geht es nicht nur um die ganz große Frage der gleichwertigen Lebensverhältnisse, die uns ja nicht nur im Osten Deutschlands, sondern auch im Westen Deutschlands bewegt und die eine ständige Aufgabe für die Zukunft bleiben wird. Aber – das will ich auch sagen – gleichwertige Lebensverhältnisse insgesamt in Deutschland zu schaffen, im Osten und Westen, ist nicht eine Sache, wo man sagt: „Dafür erheben wir eine Sondersteuer“, sondern das ist etwas, was wir machen müssen, weil es zu den selbstverständlichen Aufgaben einer demokratischen Republik dazugehört.
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Was wir hier hinkriegen müssen, das ist unverändert die Aufgabe, dass es im Osten Deutschlands gelingt, die Wachstumskerne so zu stärken, dass dort das noch möglich wird, was wir brauchen.
Meine Damen und Herren, aber der Solidaritätszuschlag wird nicht vollständig abgeschafft; das habe ich eingangs schon gesagt. Das ist auch ein Beitrag dazu, dass unser Land besser zusammenhält. Denn ein Land kann nicht gut funktionieren, wenn es nicht auch ein faires und gerechtes Steuersystem hat. Fair und gerecht heißt, dass diejenigen, die über besonders viele Möglichkeiten verfügen, etwas zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Funktionen beizutragen, das auch mehr tun als andere. Deshalb sage ich: Weil da noch was zu tun ist, ist es auch richtig, dass diejenigen, die über hohe und sehr hohe Einkommen verfügen, weiterhin den Solidaritätszuschlag entrichten. Es ist aus meiner Sicht das richtige Zeichen für das Zusammenwachsen in Deutschland.
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Vielleicht auch noch ein Hinweis, den man, finde ich, nicht übersehen sollte: Das, was die Verbliebenen ganz oder teilweise zahlen, ist fast die gleiche Summe, die die übrigen 90 Prozent und die teilweise entlasteten 6,5 Prozent jetzt nicht mehr zahlen müssen.
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Das ist ein Hinweis darauf, dass es in der Tat so ist, dass in Deutschland einige eine wirklich große persönliche wirtschaftliche Leistungsfähigkeit haben, dass sie über sehr hohe Einkommen verfügen.
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Deshalb, glaube ich, ist das auch ein Hinweis darauf, dass wir niemals in der Lage sein werden, das, was für Deutschland wichtig ist, hinzubekommen, wenn wir nicht darauf bestehen, dass das Steuersystem auch dazu beiträgt, dass diejenigen mit den hohen Einkommen das machen. Es kann nicht sein, dass wir hier noch mal richtig vor unser aller Augen geführt bekommen, dass es um weitere über 10 Milliarden Euro jedes Jahr geht, und dann glauben, dass man ein Steuersystem machen kann, bei dem es darum geht, dass diejenigen, die sehr hohe Einkommen haben, ständig weiter entlastet werden.
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Nein, das wäre nicht richtig. Das wäre nicht gerecht. Deshalb ist das hier der richtige Weg, meine Damen und Herren.
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Dabei wird es – darüber ist sich die Regierungskoalition übrigens auch insgesamt einig – nicht so sein, dass der Solidaritätszuschlag auf immer erhoben wird.
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Aber was wir machen, wenn die Aufgaben der deutschen Einheit den Solidaritätszuschlag eben nicht mehr erforderlich machen, ist, eine Steuergerechtigkeitsdebatte zu führen. Wie die aus meiner Sicht ausgehen sollte, habe ich ja schon gesagt.
Schönen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Stefan Keuter, AfD-Fraktion.
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Guten Morgen, Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kennen Sie noch Robert Lembke mit seinem heiteren Beruferaten, das bis Ende der 80er-Jahre in Deutschland im Fernsehen ausgestrahlt wurde? Er hat seine Kandidaten mit der legendären Frage belegt: „Welches Schweinderl hätten Sie denn gern?“; aber dazu komme ich gleich noch.
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In dieses Schwein kamen bei jeder nicht erratenen Frage fünf Deutsche Mark – eine harte Währung, die noch keine Negativzinsen kannte.
Er hat seine Kandidaten zu Anfang auch nach einer typischen Handbewegung gefragt. Wenn ich als Kandidat gefragt würde, dann wäre das Bedienen der Gebetsmühle meine Handbewegung. Seit Anfang letzten Jahres verkünde ich hier gebetsmühlenartig, dass der Solidaritätszuschlag weg muss – sofort, und zwar für alle Bürger.
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Ich habe das immer wieder mit denselben Argumenten unterlegt, die bei Ihnen offensichtlich bisher auf taube Ohren gestoßen sind. Der Solidaritätszuschlag war nie zweckgebunden. Wir hatten eine Mehrbelastung in Deutschland durch die deutsche Einheit; der Solidaritätszuschlag war aber nie zweckgebunden für den Wiederaufbau der mitteldeutschen Länder.
Außerdem gibt es eine Ungleichbehandlung von inländischen und ausländischen Einkünften, die es in Deutschland nicht geben dürfte. Und – ein ganz entscheidender Grund –: Er ist eine Ergänzungsabgabe. Der Bundesrechnungshof sagt, dass Ergänzungsabgaben vorübergehender Natur sein müssen und allein zur Deckung vorübergehender Bedarfsspitzen gedacht sind. Nach fast 26 Jahren kann man davon beileibe wohl nicht mehr sprechen, meine Damen und Herren.
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Wir haben zum Thema Solidaritätszuschlag Anfang 2018 als AfD-Fraktion den ersten Aufschlag gemacht
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und seitdem dieses Hohe Haus mit diesem Thema beschäftigt. Es haben zwei Anhörungen stattgefunden. Unter anderem wurde von Ihnen Herr Professor Papier, ehemaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts, als Sachverständiger geladen. Ich sage Ihnen: Es ging runter wie Öl, dass Professor Papier unsere Bedenken an der Verfassungsmäßigkeit des Solidaritätszuschlages über das Jahr 2019 hinaus teilte.
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Außerdem hat Herr Holznagel, Präsident des Bundes der Steuerzahler, in einer weiteren Anhörung Anfang dieses Monats, am 4. November, diese Bedenken noch einmal ausdrücklich geteilt.
Wir von der AfD sagen Ihnen: Der Solidaritätszuschlag muss weg, und zwar sofort und komplett. Für die halbgaren Lösungen, dass Sie nur auf 50 Prozent, das heißt auf 10 von 20 Milliarden Euro, verzichten wollen und 10 Milliarden weiterhin erheben – liebe CDU/CSU, das geschieht mit Rücksicht auf Ihren politisch todkranken Koalitionspartner –, haben wir kein Verständnis.
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Was wird nun passieren? Die Große Koalition wird dieses Gesetz durchpeitschen, und dann gibt es nur noch die Möglichkeit einer Normenkontrollklage. Dazu sind 25 Prozent der Mitglieder dieses Hohen Hauses erforderlich. Das Erschreckende ist, dass diese Mehrheit wahrscheinlich nicht zustande kommen wird. Ein Abgeordneter sollte nur seinem Gewissen verpflichtet sein.
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Wie das bei Ihnen in der Praxis aussieht, das haben wir schon häufiger gesehen.
Ich möchte jeden Bürger, der den Solidaritätszuschlag über das Jahr 2019 hinaus zahlen muss, ermuntern, dagegen zu klagen, und, Herr Scholz, Ihnen rate ich ausdrücklich, Rückstellungen in Höhe von mindestens 10 Milliarden Euro pro Jahr zu bilden. Ich erinnere an die Kernbrennstoffsteuer. Hierbei wurde der Staat laut Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Juni 2017 verpflichtet, wegen formeller Verfassungswidrigkeit 6,3 Milliarden Euro Steuern zurückzuzahlen. Das Gleiche droht Ihnen mit dem Solidaritätszuschlag.
Um auf die Frage zurückzukommen, welches Schweinderl ich nehmen würde: Ich würde nicht das rote Schweinderl nehmen, es sei denn, die Rückstellung von 10 Milliarden Euro wären darin enthalten. Ansonsten bleiben wir beim blauen.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
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Nächster Redner ist der Kollege Olav Gutting, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Besucher auf den Tribünen! Lieber Herr Bundesfinanzminister, es ist nicht nur ein besonderer Tag, sondern es ist heute ein besonders guter Tag, und zwar für alle deutschen Steuerzahler; das möchte ich betonen.
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Und ich sage bewusst: für alle; denn es geht heute doch um mehr als nur um eine Entlastung für viele Millionen Betroffene. Es ist der erste große Schritt zum Abbau des gesamten Solidaritätszuschlags. Damit beginnen wir einen Prozess, der das gesamte Steuersystem von einem Fremdkörper, von der Ergänzungsabgabe Solidaritätszuschlag, befreit. Es geht damit um nicht weniger als um den Beginn der Wiederherstellung eines großen Stücks Glaubwürdigkeit im Steuerrecht durch unsere Steuerpolitik.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir beschließen heute die größte Steuerentlastung seit vielen, vielen Jahren, und es ist eine echte Entlastung, keine Mogelpackung. Dem hartnäckigen Einsatz der Union ist es zu verdanken, dass diese Streichung ohne jegliche Gegenfinanzierung erfolgt.
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Den Forderungen der Opposition, aber auch seitens unseres Koalitionspartners, den Soli mit einer Erhöhung des Einkommensteuertarifs zu kompensieren oder ihn etwa umzuwidmen, haben wir immer widerstanden, und wir werden derartige Vorschläge auch in Zukunft ablehnen.
Wir hatten im Koalitionsvertrag versprochen, insbesondere die unteren und mittleren Einkommen beim Solidaritätszuschlag zu entlasten, und mit diesem Gesetz tun wir nun genau dies. Wir beginnen mit einer Entlastung der Bürgerinnen und Bürger in Höhe von über 10 Milliarden Euro jährlich. Ja, dieser Schritt bedeutet noch nicht die hundertprozentige Entlastung, die wir in unseren Parteitagsbeschlüssen immer wieder gefordert haben,
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und natürlich wäre es auch wünschenswert gewesen, insbesondere die Entlastung der mittelständischen Wirtschaft bei der Körperschaftsteuer, aber auch bei der Abgeltungsteuer hier mitzuregeln. Aber das ändert doch nichts daran, dass wir uns heute schon einmal über diesen ersten großen Erfolg freuen können, mit dem wir jetzt über 90 Prozent der bisherigen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler beim Solidaritätszuschlag entlasten.
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Diesen Erfolg, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollte auch die Opposition nicht kleinreden.
Wir in der Union betrachten diesen ersten großen Schritt als Vorgriff auf eine weitere endgültige Abschaffung des gesamten Solidaritätszuschlags. Der Wille der CDU/CSU ist es, den vollständigen, restlosen Abbau des Solidaritätszuschlags bereits in der 20. Wahlperiode durchzuführen.
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Wir wünschen uns und arbeiten daran, auch dazu einen zeitnahen, verbindlichen Beschluss herbeizuführen. Dies ist schon eine Frage der grundsätzlichen politischen Glaubwürdigkeit, und dieser Frage muss sich auch der Koalitionspartner stellen.
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Wir haben bereits einen Vorschlag für einen zweiten Schritt vorgelegt. Wir können uns vorstellen, den weiteren Abbaupfad nach 2021 so zu gestalten, dass wir in jedem Jahr beim Restsoli um 1,1 Prozentpunkte heruntergehen, das heißt 2022 auf 4,4 Prozent, 2023 auf 3,3 Prozent und so weiter, sodass wir im Jahr 2026 tatsächlich den endgültigen, vollständigen Wegfall des Solidaritätszuschlages haben. Ich denke, das wäre eine gute Möglichkeit, um einerseits ein klares Signal zu setzen, dass wir es ernst meinen mit dem vollständigen Abbau, gleichzeitig aber auch dem Finanzminister die Möglichkeit geben, alles Stück für Stück in das Finanztableau einzubauen.
Ich möchte hier aber auch sagen, dass mich die vom Finanzministerium gelieferte Begründung für die Teilbeibehaltung des Solis doch etwas verstört hat.
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In der Begründung steht sinngemäß: Die Spitzeneinkommen sollen nach dem Willen des BMF vorerst deswegen nicht entlastet werden, weil Spitzenverdiener bei zusätzlichem Nettoeinkommen ganz überwiegend ihre Ersparnisse erhöhen – und wir wollen ja den Konsum stärken.
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Dazu möchte ich klarstellen: Sparen ist für den Einzelnen eine Möglichkeit, um für später vorzusorgen. Sparen ist für den Einzelnen eine Möglichkeit, später größere Anschaffungen zu tätigen, und für die Volkswirtschaft ist die Gesamtheit der privaten Ersparnisse eine außerordentlich wichtige Größe. Die Banken, bei denen die privaten Ersparnisse angelegt sind, verleihen und investieren dieses Geld wieder in Unternehmen. Diese verwenden das Geld für neue Maschinen, neue Fabriken, neue Produkte, neue Entwicklungen.
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Ökonomen nennen das Investitionen. Investitionen kosten heute Geld, bringen aber später Einnahmen. Ohne Investitionen kann eine Wirtschaft nicht wachsen.
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– Er sitzt doch hier und hört hoffentlich zu.
Deshalb bestimmt die Höhe der volkswirtschaftlichen Ersparnisse die Investitionen und damit langfristig eben auch das Wachstum einer Volkswirtschaft. Gerade weil wir im Moment an einer Rezession vorbeischrammen, wäre es wichtig, dass wir jetzt bereits den zweiten Schritt für den Abbau des Solidaritätszuschlages beschließen würden.
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Gute Steuerpolitik ist aus unserer Sicht immer auch gute Standortpolitik. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen vom Koalitionspartner: Wir müssen hier reden!
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Lassen Sie mich zum Ende zusammenfassen, was die Verabschiedung dieses Gesetzes heute bedeutet:
Erstens. Millionen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler werden ab 2021 keinen Solidaritätszuschlag mehr bezahlen.
Zweitens. Dieses Gesetz bedeutet die größte Steuersenkung seit vielen Jahren. Auf einen Schlag geben wir über 10 Milliarden Euro jährlich an die Bürgerinnen und Bürger für Konsum, Investitionen und Sparen zurück. Das sind für den Einzelnen im Idealfall über 900 Euro jährlich. Das sind für Zusammenveranlagte fast 2 000 Euro jährlich. Das ist doch erheblich mehr als die oftmals bemühte Tasse Kaffee im Monat, die uns in den letzten Jahren bei einigen Steuersenkungen und Wohltaten immer wieder entgegengehalten wurde. Das ist eine massive, eine spürbare Entlastung für Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.
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Drittens – das ist auch in der Gesetzgebungsbegründung nachlesbar –: Das ist der erste Schritt zur Abschaffung. Der erste Schritt bedeutet denklogisch:
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Weitere Schritte müssen zwingend folgen. Für heute aber bleibt es dabei: Dieses Gesetz ist der Beginn des Endes des Solis. Es ist ein guter, ein großer Schritt. Deshalb sollten Sie alle zustimmen.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Christian Dürr, FDP.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren dieser Tage auch sehr viel über das Thema Meinungsfreiheit, dass also jeder auch hier im Haus das sagen darf, was er denkt. Zum ersten Mal, seitdem ich diesem Haus angehöre und über den Soli gesprochen wird, darf hier der Kollege Hans Michelbach für die Union nicht sprechen. Allein das spricht schon Bände, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Vor wenigen Tagen haben wir 30 Jahre Mauerfall gefeiert, im kommenden Jahr feiern wir 30 Jahre deutsche Einheit. Der Solidaritätszuschlag ist unmittelbar mit der deutschen Einheit verbunden.
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Die Befristung und die vollständige Abschaffung, Herr Kollege Grosse-Brömer, war das Versprechen einer schwarz-gelben Koalition aus den 90er-Jahren. Helmut Kohl hat damals gesagt: Wir müssen ihn abschaffen, wenn sein Grund entfällt. – Der Grund entfällt zum 31. Dezember 2019. Dieses Versprechen muss die Politik jetzt einlösen. Das ist eine Glaubwürdigkeitsfrage der Politik in der Bundesrepublik Deutschland, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Es ist ja bemerkenswert, dass wir heute überhaupt über den Soli sprechen, Herr Brinkhaus. Diese Abstimmung war für den Dezember dieses Jahres geplant. Was findet vorher statt? Der Bundesparteitag der SPD! Sie denken nicht an 30 Jahre Mauerfall, meine Damen und Herren, sondern Sie denken an den Bundesparteitag der SPD in drei Wochen.
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Nach der Grundrente ist das hier das zweite Geschenk, das Sie Olaf Scholz mit auf den Weg zu seiner Wahl zum Parteivorsitzenden geben.
Meine Damen und Herren, das Argument, im Koalitionsvertrag sei die vollständige Abschaffung des Solidaritätszuschlags nicht vereinbart, gilt doch seit dem Beschluss zur Grundrente gar nicht mehr. Auch die Grundrente geht über den Koalitionsvertrag hinaus. Der Selbsterhaltungstrieb der Großen Koalition ist stärker als das Bestreben, sich an gemachte Zusagen zu halten; auch das muss deutlich gesagt werden.
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Sie wollen heute beschließen, dass im kommenden Jahr gar nichts passiert. Im kommenden Jahr wird niemand in Deutschland vom Soli entlastet. Danach soll es eine Teilreduzierung geben. Dauerhaft weiterzahlen werden den Soli alle Sparer in Deutschland, die kleinen und mittleren Familienbetriebe und alle GmbHs, meine Damen und Herren.
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Die Entlastung kommt nicht nur ein Jahr und 20 Milliarden Euro zu spät, sondern diese Gruppe soll gar nicht entlastet werden. Der deutsche Mittelstand zahlt den Soli weiter. Irgendwo müssen schließlich die 10 Milliarden Euro herkommen, mit denen Herr Scholz dauerhaft plant. Der deutsche Mittelstand, meine Damen und Herren, stellt einen Großteil der Arbeitsplätze in Deutschland. Das, was Sie hier heute beschließen wollen, geht in Wahrheit also auch gegen die Beschäftigten im Mittelstand, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Das machen Sie im Angesicht eines deutlichen Konjunkturabschwungs. Wir erleben zurzeit die Ausweitung bei der Kurzarbeit. Deutschland trägt – das wissen Sie, Herr Scholz – die rote Laterne bei der Unternehmensbesteuerung. Herr Altmaier hat auf dem Deutschen Arbeitgebertag am Dienstag gesagt, es brauche jetzt ein klares Aufbruchsignal für die Wirtschaft im ersten Halbjahr 2020. – Der Bundeswirtschaftsminister – ich habe nachgezählt – hat allein in diesem Jahr 2019 schon achtmal die vollständige Abschaffung des Solidaritätszuschlags gefordert, häufiger als die FDP beantragen konnte, meine Damen und Herren.
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All diesen Worten folgen keine Taten. Die Wahrheit ist: Die Union tut vor einer drohenden Wirtschaftskrise alles dafür, damit Olaf Scholz SPD-Vorsitzender wird. Besser wäre es, Sie würden alles dafür tun, um diese Wirtschaftskrise abzuwenden, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Zum Schluss. Neben all den Debatten über Glaubwürdigkeit und über die Entlastung der Menschen in Deutschland ist das auch eine Frage der Verfassungsglaubwürdigkeit. Ich erinnere an die Stellungnahme von Herrn Professor Papier, an das Gutachten vom Wissenschaftlichen Dienst. Sogar Herr Söder sagt, das verstoße gegen den Gleichheitsgrundsatz.
Meine Damen und Herren, Sie dürfen im Deutschen Bundestag keinem Gesetz zustimmen, von dem Sie selbst sagen, es sei verfassungswidrig.
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Es ist natürlich legitim, in einer Koalition Kompromisse einzugehen. Aber das rechtfertigt niemals den offenen Verfassungsbruch gegen das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland.
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Fabio De Masi, Die Linke.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Koalition will den Solidaritätszuschlag teilweise abschaffen. Die Linke meint: Wir sind kein Land von 80 Millionen Ellenbogen. Deutschland braucht mehr Solidarität,
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mehr Investitionen in die Zukunft unserer Kinder.
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Fast die Hälfte der Bevölkerung, fast jeder zweite Bundesbürger hat von der Abschaffung des Solis nichts: weil er nämlich zu wenig verdient, um den Soli zu bezahlen. Deswegen muss hier einmal gesagt werden, dass von einer vollständigen Abschaffung des Solis ja vor allem auch wir Bundestagsabgeordnete mit über 10 000 Euro im Monat auf dem Konto profitieren würden. Deswegen ist es wohlfeil, hier wie die AfD den Anwalt der kleinen Leute zu spielen, aber in blauen Sesseln zu sitzen und die Schweizer Franken zu zählen, verehrte Kolleginnen und Kollegen.
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Laut dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung wurden die oberen 30 Prozent der Haushalte in den letzten 20 Jahren bei den Steuern entlastet und die unteren 70 Prozent der Bevölkerung stärker belastet. Unser Problem ist nicht der Soli. Unser Problem ist eine Steuerpolitik gegen 70 Prozent der Bevölkerung.
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Wir brauchen eine Entlastung der Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen. Wir brauchen eine Vermögensteuer für Millionäre und Milliardäre.
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Kennen Sie den Unterschied zwischen einer Grundrente für Menschen, die 35 Jahre geackert haben, und der Abschaffung des Solis?
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Die vollständige Abschaffung des Solis ist mit 20 Milliarden Euro jährlich viermal so teuer, wie es die jetzt beschlossene Grundrente ohne Anrechnung der Ersparnisse oder der Einkünfte vom Partner wäre. Die teilweise Abschaffung des Solis ist mit 11 Milliarden Euro jährlich immer noch doppelt so teuer. Während Sie sich aber über ein paar Euro mehr Grundrente monatelang kloppen wie die Kesselflicker, war die teilweise Abschaffung des Solis schnell im Sack. Wie muss sich bei diesem Theater wohl eine Rentnerin fühlen, die viele Jahre lang hart gearbeitet hat, sich aber die Bahnfahrt zum Enkelkind nicht leisten kann? Wo leben wir eigentlich?
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Machen wir einmal den Faktencheck zum Soli; denn fast 30 Jahre nach der deutschen Einheit herrscht in Deutschland noch immer Märchenstunde. Mythos Nummer eins: Den Soli zahlen Wessis, und er nutzt den Ossis. Fakt ist: Den Soli bezahlen Ossis wie Wessis,
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und er ist im Haushalt auch nicht an einen konkreten Zweck gebunden. Daher profitieren vom Soli auch Hamburg oder das Ruhrgebiet.
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Mythos Nummer zwei: Sie entlasten die Mitte Deutschlands. Wer ist denn die Mitte? Wahr ist: Ab 2021 zahlen rund 90 Prozent der Bevölkerung keinen Soli mehr. Weitere 6,5 Prozent der Bevölkerung – und diese gehören zu den 10 Prozent der Reichsten – werden beim Soli entlastet. Die obersten 3,5 Prozent der Bevölkerung sowie Kapitalgesellschaften sollen den Soli weiter zahlen.
Aber: 48 Prozent der Bevölkerung – fast jeder zweite Bundesbürger – zahlt schon heute keinen Soli!
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Mit dem Gesetz der GroKo werden 70 Prozent der Bevölkerung um 2 Milliarden Euro entlastet. 2 Milliarden Euro sind 20 Prozent der gesamten Entlastung. 20 Prozent für 70 Prozent der Bevölkerung! Dies heißt im Umkehrschluss – dazu muss man nicht besonders gut in Mathematik gewesen sein –, dass es 80 Prozent der Entlastung für die reichsten 30 Prozent der Bevölkerung gibt.
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Und aufgrund der Anhebung der Freigrenze, ab der man Soli zahlt, und der Streckung der Gleitzone, in der man weniger Soli bezahlt, werden selbst Steuerzahler, die zu den reichsten 10 Prozent gehören, entlastet.
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Steuerzahler mit Kindern müssen zudem erst ab höheren Einkommen und dann auch weniger Soli zahlen. Von der Teilabschaffung des Solis profitieren daher vor allem Kinderlose und Besserverdiener! Was ist mit den Damen und Herren, die hier im Bundestag an der Garderobe arbeiten?
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Was ist mit den 450-Euro-Jobbern, die uns als Fahrer sicher durch die Stadt bringen? Denen bringt die Abschaffung des Solis nichts!
Wer garantiert uns eigentlich, dass Sie angesichts von Steuerausfällen in Milliardenhöhe übermorgen nicht wieder durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer die Kassiererin abkassieren, die eine solche Steuer viel härter trifft, weil sie ihr gesamtes Einkommen für Miete, Strom und Lebensmittel ausgeben muss? Wer garantiert uns, dass Sie nicht Autobahnen privatisieren? Und was hat die Mitte des Landes eigentlich davon, wenn zwar der Soli weg ist, aber kein Bus mehr fährt, es in die Schule reinregnet, kein Zug fährt und es kein Internet gibt?
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Mythos Nummer drei: Der Soli ist verfassungswidrig. Also eines fand ich gerade wirklich lustig, lieber Christian, nämlich Markus Söder als den neuen Verfassungsexperten in diesem Land darzustellen. Auf so eine Idee muss man erst einmal kommen.
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Fakt ist: Ob etwas verfassungswidrig ist, entscheiden in Deutschland die Verfassungsrichter, nicht Sie, nicht ich und auch nicht irgendwelche Spaßvögel.
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Die Rechtsexperten Professor Tappe und auch Professor Brandt, die davon einiges verstehen, sahen keine Verfassungswidrigkeit des Solis.
Man könnte den Soli ohnehin verfassungsfest neu begründen. Es gibt nämlich Städte und Dörfer in Deutschland, die abgehängt sind. Wir haben einen Investitionsstau. Wir sind die Bundesrepublik! Wir dürfen es nicht zulassen, dass dieses Land auseinanderfällt. Deswegen lehnen wir die teilweise Abschaffung des Solis ab.
Vielen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Lisa Paus, Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der Verabschiedung dieses Gesetzentwurfes heute ist ein Wahlkampfthema für die nächste Bundestagswahl auf jeden Fall schon einmal gesetzt. Es ist klar: Die Wirtschaft wird trommeln, es gehe nicht, dass der Soli für 90 Prozent abgeschafft werde, aber die Unternehmen weiter zahlen müssten. Auf der anderen Seite werden aber die Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen merken, dass bei ihnen von der Entlastung nichts oder nur sehr wenig ankommt. Sie werden erneut enttäuscht sein und einfordern, dass auch sie endlich entlastet werden.
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Dieses Gesetz löst keine Probleme, sondern es schafft neue. Es kippt die Frage des Soli einfach der nächsten Bundesregierung vor die Füße. Deshalb werden auch wir dieses Gesetz ablehnen.
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Dieses Gesetz geht insbesondere an Familien mit niedrigen und mittleren Einkommen vorbei. Bisher ist der Soli extra familienfreundlich ausgestaltet und muss bei zwei Kindern erst ab einem Bruttoeinkommen in Höhe von 50 000 Euro im Jahr gezahlt werden. Das heißt aber im Umkehrschluss, dass diese Familien von diesem Gesetz eben gar nichts haben werden, und das, obwohl sie arbeiten und Steuern zahlen, Herr Michelbach.
Dieses Gesetz wird auch dafür sorgen, dass sich die Einkommensunterschiede zwischen Ost und West nicht weiter angleichen, sondern netto sogar wieder vergrößern. Weil zum Beispiel die Thüringer pro Jahr im Schnitt noch immer 17 000 Euro brutto weniger verdienen als die Bayern, profitieren die Thüringer eben auch deutlich weniger von der Solientlastung.
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Bei einem durchschnittlichen Arbeitnehmerbrutto in Höhe von 39 000 Euro eines Thüringers fallen für ihn mit einem Kind durch dieses Gesetz 260 Euro Soli pro Jahr weg, während der Bayer mit durchschnittlich 56 800 Euro brutto 540 Euro zusätzlich im Portemonnaie haben wird statt 260 Euro.
Jetzt sagen Sie von der SPD, Sie hätten Schlimmeres verhindert. Das stimmt auf dem Papier insofern, als dass nach dem Wortlaut des Gesetzes die Top 5 Prozent erst einmal nicht entlastet werden. Aber es stimmt eben nicht in der Wirklichkeit, zumindest nicht auf Dauer, weil dieses Gesetz mit hoher Wahrscheinlichkeit bestenfalls bis zu einer Entscheidung aus Karlsruhe halten wird. Nachhaltigkeit ist schlichtweg nicht Ihre Stärke!
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30 Jahre nach dem Mauerfall wäre es stattdessen angebracht, noch einmal genauer hinzuschauen, wie die Steuer- und Abgabenlast in diesem Land eigentlich verteilt ist, wie sie sich entwickelt hat und ob die Leistungsanreize noch richtig gesetzt sind. Und da fallen zwei Sachen auf:
Auf der einen Seite verdienen heute die Top 1 Prozent deutlich mehr als vor 20 Jahren – Stichwort: Entwicklung der Managergehälter –, und sie zahlen von ihren gestiegenen Gehältern heute deutlich weniger Steuern als vor 20 Jahren. Ja, sie haben natürlich durchgängig den Soli in Höhe von 5,5 Prozent gezahlt, aber während dieser 20 Jahre wurde der Spitzensteuersatz von 53 auf 42 Prozent gesenkt, die Unternehmensteuern wurden zweimal gesenkt, die Steuern auf Kapitaleinkommen wurden auf 25 Prozent gesenkt, die Vermögensteuer wurde abgeschafft und die Erbschaftsteuer auf Betriebsvermögen praktisch beseitigt. Und so ist es eben nicht falsch, wenn das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung formuliert, bei den Spitzenverdienern sei der Soli faktisch bereits schon zweimal abgeschafft worden.
Auf der anderen Seite hatten die Geringverdiener und die Mittelschichten in dieser Zeit nur magere Einkommenszuwächse, und diese wurden auch noch von steigenden Sozialbeiträgen und der Erhöhung indirekter Steuern – zum Beispiel die Erhöhung der Mehrwertsteuer von 16 auf 19 Prozent – aufgezehrt. So zeigt sich, wenn man alle Steuern und auch die Sozialbeiträge berücksichtigt, dass inzwischen die Bevölkerung mit den kleinen und mittleren Einkommen fast genauso hohe Steuersätze zahlt wie reiche Haushalte. Das ist schlichtweg nicht in Ordnung, meine Damen und Herren!
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Deshalb: Anstatt für die Topverdiener den Soli sozusagen ein drittes Mal abzuschaffen und für die unteren und mittleren Einkommen die hohe Steuer- und Abgabenlast weiterhin beizubehalten,
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schlagen wir vor, die Soliabschaffung mit einer Einkommensteuerreform zu verbinden.
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Von einem deutlich höheren steuerfreien Grundbetrag würden dann endlich die unteren und mittleren Einkommen tatsächlich profitieren, und mit einem höheren Spitzensteuersatz würden wir das wichtige Solidarprinzip einer ökologisch-sozialen Marktwirtschaft, nämlich dass starke Schultern mehr tragen sollten als schwache, endlich wiederbeleben.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Wiebke Esdar, SPD.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute ist ein guter Tag; denn heute werden wir ein Gesetz beschließen, von dem die überwiegende Mehrheit der Menschen in Deutschland zum 1. Januar 2021 profitieren wird. Wir halten damit ein zentrales Versprechen unseres Koalitionsvertrags: Der Solidaritätszuschlag wird für rund 90 Prozent der Menschen, die Einkommensteuer zahlen, vollständig abgeschafft, und weitere 6,5 Prozent werden entlastet.
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Ich will aber darüber sprechen, was das konkret bedeutet, wer von der Abschaffung profitiert und wer nicht. Ich möchte zunächst mit den wenigen beginnen, die nicht davon profitieren. Die, die keine Vorteile haben, das sind die Spitzenverdienenden, das sind Vorstandsvorsitzende von DAX-Konzernen; diese werden genauso wenig entlastet wie Hedgefonds-Manager und Großinvestoren. Diese Menschen verdienen allzu oft mehr als das Einhundertfache der Beschäftigten in ihrem Unternehmen. Um ein konkretes Beispiel zu nennen: Herbert Diess, der Chef von VW, verdient 127-mal so viel wie ein Beschäftigter bei VW.
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Wir sagen: Wenn das so ist, dann brauchen wir diese Menschen auch nicht vom Solidaritätszuschlag zu entlasten. Das wäre eine Steuerentlastung von fast 200 000 Euro.
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Wir sagen: So eine Entlastung würde eine so erhebliche soziale Unwucht mit sich bringen, dass wir es richtig finden, dass die 3,5 Prozent der höchsten Einkommen weiterhin den Solidaritätszuschlag zahlen.
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Das waren die wenigen. Wer sind die vielen? Die vielen, die zu den 90 Prozent gehören, die vollständig entlastet werden, das ist die Mehrheit aller Arbeiterinnen und Arbeiter, das ist die große Mehrzahl der Angestellten, das sind die meisten Beamtinnen und Beamten. Welche Berufsgruppen sind es, die profitieren? Es sind Dachdeckerinnen und Dachdecker, Maurerinnen und Maurer, Fliesenlegerinnen und Fliesenleger, Elektro- und Wasserinstallateurinnen und ‑installateure, Gerüstbauerinnen und Gerüstbauer, Zweirad- und Automechanikerinnen und ‑mechaniker, Gärtnerinnen und Gärtner, Kranken- und Altenpflegerinnen und ‑pfleger, Verkäuferinnen und Verkäufer, Einzelhandelskauffrauen und ‑kaufmänner genauso wie Industriekauffrauen und ‑kaufmänner, Sekretärinnen und Sekretäre, Köchinnen und Köche, Hotelfachleute, medizinische Fachangestellte, Gebäudereinigerinnen und Gebäudereiniger, Lokführerinnen und Lokführer, Busfahrerinnen und Busfahrer, Taxifahrerinnen und Taxifahrer, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Straßenreinigung und Müllabfuhr. Es sind die Kräfte der Berufsfeuerwehr, der Polizei, des Ordnungsamtes, des Zolls. Es sind Notfallsanitäterinnen und ‑sanitäter, Bademeisterinnen und Bademeister, Erzieherinnen und Erzieher in den Kitas, die Lehrerinnen und Lehrer in den Schulen,
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Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, Psychologinnen und Psychologen. Es sind auch selbstständige Fotografinnen und Fotografen, Grafikdesignerinnen und ‑designer, Bäckermeisterinnen und ‑meister, Friseur-, Tischler- und Schreinermeisterinnen und ‑meister, die Buchhändlerinnen und Buchhändler, die Tänzerinnen und Tänzer, Theaterschauspielerinnen und ‑schauspieler und Orchestermusikerinnen und ‑musiker. All diese Berufsgruppen werden von unserem Gesetz profitieren.
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Es gibt eine weitere Berufsgruppe, die nicht profitieren wird – Fabio De Masi hat es schon angesprochen –: die Bundestagsabgeordneten. Wir werden weiter den Solidaritätszuschlag zahlen. Auch das finde ich richtig; denn wir machen heute kein Gesetz für uns. Wir machen ein Gesetz für die Menschen, die ich aufgezählt habe.
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Es ist ein Gesetz für die vielen, nicht für die wenigen, für die Arbeiterinnen und Arbeiter, für die Angestellten und Selbstständigen. Und, meine Damen und Herren, lassen Sie mich klarstellen: Ohne uns, ohne die SPD, ohne unsere Beharrlichkeit gäbe es dieses Gesetz heute in dieser Form nicht.
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Dafür will ich mich beim Finanzminister, bei all denjenigen, die so hart verhandelt haben, bedanken. Ich bin froh über diesen Gesetzentwurf, und darum kann ich heute aus voller Überzeugung zustimmen. Ich lade Sie alle herzlich ein, das auch zu tun.
Danke schön.
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Kay Gottschalk, AfD, ist der nächste Redner.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Liebe Bürger! Angesichts dieser Vorredner platzt einem wirklich der Kragen. Das ist an Heuchelei schon gar nicht mehr zu überbieten.
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Da stellt sich hier der Finanzminister hin – ich mache es mal vor – und sagt, er wird entlasten, und das Steuerglas bleibt halbvoll. 10 Milliarden Euro kassieren Sie eiskalt weiter ab. Zu Ihren angeblich Reichen, die das zahlen, und Ihrem Klassenkampf, Herr de Masi, komme ich gleich. Man kann nämlich Steuern nur dann zahlen, wenn man sie auch tatsächlich erbringen muss. Immer noch erbringen 20 Prozent der Bürger in diesem Lande 80 Prozent der Steuern. Und da ist es nur gut, wenn wir die an dieser Stelle verdammt noch mal entlasten.
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Herr Dürr, wir werden Sie gleich beim Wort nehmen. Wir haben hier den Antrag auf sofortige Abschaffung des Solis gestellt. Dann kommen Sie dem nach und stimmen dafür! Tun Sie nicht immer so wie Gott teilweise heuchlerisch –, und gehen Sie diesen Antrag an dieser Stelle mit! Stimmen Sie zu, den Soli sofort abzuschaffen!
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Herr Kollege Gutting, es war schön, dass Sie hier Volkswirtschaft gelehrt haben: Investitionen gleich Sparen – I gleich S – oder umgekehrt, das stimmte vielleicht noch bis zur Einführung des Euros. Aber erst Herr Draghi und jetzt Frau Lagarde haben schon längst die Geldkanone rausgebracht. Der Sparer wird enteignet. Herr Scholz müsste sich eigentlich freuen, wenn jemand heute noch so dämlich ist und Geld zur Bank trägt und noch Negativzinsen darauf zahlt. Das ist eine kalte Enteignung. Das ist eine Art der Vermögensteuer, was die EZB hier macht.
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Im ersten Schritt wollen Sie entlasten. Im Klartext heißt das: Sie wollen 10 Prozent der Bürger weiter belasten, die Ihnen 50 Prozent erbringen. Meine Damen und Herren, die sogenannte Gleitzone, um einmal zu sagen, wer hier reich ist, die beginnt schon bei 66 000 Euro. Da fallen insbesondere, liebe Kollegen von der CDU, diejenigen rein, die im Mittelstand tätig sind, also unsere mittelständischen Unternehmen, das sogenannte Rückgrat der Gesellschaft; das hat Herr Altmaier hier ja so schön betont. Diese Unternehmen sind zumeist in Form der OHG und der KG organisiert. Und denen klauen Sie hier an dieser Stelle Chancen zur Eigenfinanzierung. Denn diese gleichen Wirtschaftssubjekte haben immer Schwierigkeiten, wenn sie zu ihrer Bank vor Ort gehen und dort einen Kredit für Investitionen bekommen wollen. Insofern ist das heuchlerisch, und darauf werde ich beim Thema der Unternehmensbesteuerung gleich noch eingehen. Denn da greift eins ins andere.
Sie haben versprochen, der Solidarpakt II läuft aus. Dann soll auch hier der Solidaritätszuschlag entsprechend entfallen. Lernen Sie von den Kindern: Versprochen ist versprochen, und das wird auch nicht gebrochen. – Werden Sie endlich glaubwürdig!
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Diese Abschaffung wäre übrigens tatsächlich eine echte Entlastung. Frau Paus, wenn Sie hier schon Krokodilstränen weinen, dann sorgen Sie doch dafür, dass wir in Deutschland nicht die höchsten Gaspreise, die höchsten Energiepreise, die höchsten Benzinpreise und die höchsten Strompreise haben, mit Ihrer Ökosoße im Kopf. Das wäre vielleicht an der Stelle auch mal ein Fortschritt. Dann würden Sie nämlich die Kassiererin an der Kasse tatsächlich entlasten, weil die dann nicht so einen hohen Strompreis zu zahlen hätte.
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Zurück zum Thema. Es wäre wirklich eine echte steuerliche Entlastung, wenn Sie diesen Soli abschafften; das ist jetzt mit Ihren Pseudo-Entlastungs-Gesetzentwürfen nicht der Fall. Denn, meine Damen und Herren, nochmals: Wenn Sie weiter 10 Milliarden Euro von den Menschen kassieren, dann ist das für mich eine verdeckte Vermögensteuer. Mein Kollege Keuter hat es gesagt: Das Verfassungsgericht wird wie üblich in Deutschland Politik machen. Das sollte Ihnen bekannt vorkommen. An Herrn De Masi: Die Vermögensteuer ist schon 1995 vom Verfassungsgericht entsprechend kritisiert worden. Ich glaube, Sie haben dann ausnahmsweise 1997 diese Vermögensteuer – berechtigt – ausgesetzt.
Machen Sie es sich an dieser Stelle wirklich einmal einfach: Folgen Sie dem Antrag der AfD zur sofortigen Abschaffung des Solidaritätszuschlags!
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Entlasten Sie endlich jeden Steuerzahler und damit auch viele mittelständische Unternehmen!
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Dann tun Sie übrigens auch etwas für Arbeitsplätze. Dann tun Sie tatsächlich – da stimme ich dem Kollegen Dürr zu – etwas gegen die aufkommende Rezession. An dieser Stelle möchte ich also einmal Lob an die FDP verteilen: Sie haben es immerhin geschafft, hier einen Antrag zum Solidaritätszuschlag einzubringen.
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Jetzt machen Sie sich ehrlich und stimmen unserem Antrag zu! Lassen Sie uns die Farce namens Solidaritätszuschlag am Ende des Tages hier beenden! Denn GroKo und Soli, das ist so ein bisschen wie Kleptomane und Gelegenheit. Meine Damen und Herren, stimmen Sie unserem Antrag hier zu!
Danke schön.
({9})
Sebastian Brehm, CDU/CSU, ist der nächste Redner.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Heute ist ein guter Tag für Deutschland. Die Koalition schafft Steuern ab. Die Koalition entlastet die Bürgerinnen und Bürger. Die Koalition redet nicht nur, sie handelt. Die Koalition liefert einmal mehr, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Die begonnene Rückführung des Solidaritätszuschlags ist die größte Steuerentlastung in Deutschland in den letzten zehn Jahren. Wir entlasten Bezieher kleinerer und mittlerer Einkommen und damit Krankenschwester, Polizist, Kindergärtner, aber auch den selbstständigen Handwerker, den angestellten Oberarzt, den Lehrer und viele andere mehr, die sich täglich fleißig und unermüdlich für ihre Familien und für die Gemeinschaft einsetzen. Es kommt bei Zusammenveranlagung zu einer Entlastung in Höhe von durchschnittlich knapp 2 000 Euro im Jahr. Das ist eine deutliche Entlastung, und deswegen ist heute ein guter Tag für Deutschland.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, das lassen wir uns heute und auch in Zukunft nicht kaputtreden. Das ist übrigens auch der Unterschied zwischen uns und den anderen politischen Parteien, die Klientelpolitik betreiben oder die versuchen, die Gesellschaft zu spalten. Der Grundgedanke einer Volkspartei ist es, den notwendigen Zusammenhalt in der Gesellschaft zu fördern, und das tun wir heute mit diesem Gesetzentwurf.
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Es wird in dieser Debatte immer gerne von Leistungsträgern gesprochen, die nicht entlastet würden. Aber wer sind denn diese Leistungsträger in unserer Gesellschaft?
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Definiert man Leistung nur durch ganz hohe Einkommen? Ich denke, nicht.
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Wenn wir über steuerliche Entlastung sprechen, dann wollen wir natürlich neben der Modernisierung der Unternehmensbesteuerung auch diejenigen in den Blick nehmen, die täglich zum Erfolg unserer deutschen Wirtschaft beitragen. Deshalb ist das Konzept zur ersten Stufe der Abschaffung des Solidaritätszuschlags schlüssig und reiht sich übrigens in eine große Reihe von Entlastungen ein, die die Koalition bisher schon umgesetzt hat:
Wir haben das Grundsteuermodell beschlossen, auch für die Mieterinnen und Mieter. Wir haben das Bürokratieabbaugesetz beschlossen, auch eine Entlastung für den deutschen Mittelstand, übrigens auch für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Wir haben die kalte Progression abgeschafft, den Mittelstandsbauch reduziert, auch das ist eine deutliche Reduzierung. Wir stellen Familien in den Vordergrund: 10 Milliarden Euro werden durch das Familienentlastungsgesetz zur Verfügung gestellt. Außerdem haben wir das Baukindergeld eingeführt, auch ein großer Erfolg für junge Familien, um an Eigentum zu kommen. In der letzten Woche haben wir das Jahressteuergesetz 2019 beschließen können mit zahlreichen spürbaren Entlastungen gerade für Bürgerinnen und Bürger mit kleinen und mittleren Einkommen, die jeden Morgen aufstehen und fleißig ihre Arbeit verrichten. Das ist richtig, und das ist gut so.
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Ich will damit nicht sagen, dass unsere Unternehmerinnen und Unternehmer keine Leistungsträger sind.
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Sie wissen, das läge mir natürlich sehr fern. Sie wissen, ich kämpfe mit Leidenschaft für die Einführung einer Modernisierung der Unternehmensbesteuerung.
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Wir sprechen ja beim nächsten Tagesordnungspunkt darüber.
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Aber um gerechte Steuerpolitik zu machen, müssen wir vor allem auch die Bezieher kleinerer und mittlerer Einkommen entlasten. Das ist unsere christlich-soziale und christlich-demokratische Überzeugung,
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und das ist auch die Grundlage einer sozialen Marktwirtschaft nach Ludwig Erhard. Im Koalitionsvertrag steht: „Wir werden insbesondere untere und mittlere Einkommen beim Solidaritätszuschlag entlasten“. Das tun wir jetzt in einem ersten Schritt, und das ist gleichzeitig der erste Schritt hin zur vollständigen Abschaffung des Solidaritätszuschlags.
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In diesem ersten Schritt entlasten wir rund 92 Prozent aller Solidaritätszuschlagszahler in vollem Umfang; die Entlastung beträgt 12 Milliarden Euro pro Jahr. Übrigens, wenn man es mal berechnet: Eine Familie mit zwei Kindern und einem Bruttojahreseinkommen bis 151 000 Euro zahlt unter Einberechnung aller Freibeträge überhaupt keinen Solidaritätszuschlag mehr. Bei einem Bruttojahreseinkommen zwischen 151 000 Euro und 221 000 Euro reduziert sich der Soli durch die Gleitzone. Ich glaube, das ist schon eine richtig große Entlastung, gerade für die mittleren Einkommen, und deswegen ist die Entscheidung richtig.
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Ab 2021 werden 33 Millionen steuerpflichtige Bürgerinnen und Bürger vollständig vom Solidaritätszuschlag befreit. Weitere 2,5 Millionen Steuerpflichtige werden in der Milderungszone weniger Steuern zahlen. Wir geben damit Steuergelder wieder zurück. In einer Zeit, wo wir Rekordeinnahmen an Steuern haben, geben wir Geld an die Bürgerinnen und Bürger zurück, und das ist fair und gerecht,
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und das schafft übrigens auch Kaufkraft in unserer Wirtschaft. Das wird dazu führen, dass wir mehr Investitionen haben,
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und es wird auch zu wirtschaftlichem Wachstum und am Ende auch zu mehr Steuereinnahmen in Deutschland führen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir halten Wort. Wir lösen Wahlversprechen ein. „Mehr Netto vom Brutto“ – wir setzen es um.
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Ich finde es schon beachtlich, liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, dass Sie gegen dieses Paket zur Steuerentlastung der Bürgerinnen und Bürger sind und wieder versuchen, Wasser in den Wein zu gießen.
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Wenn Sie von der Opposition es wirklich ernst meinten, dann müssten Sie doch heute zustimmen. Aber Ihnen, der gesamten Opposition, fehlt der Mut. Lieber dagegen sein und rummosern, als den Mut zu haben, was umzusetzen.
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Diesen Mut haben Sie ja nicht mal gehabt, als es darum ging, Regierungsverantwortung zu übernehmen.
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Da hätten wir das miteinander machen können; aber den Mut dazu haben Sie leider nicht gehabt.
Es gehört eben auch zu einer seriösen Steuerpolitik dazu, dass wir eine Gegenfinanzierung haben. Würden wir die sofortige Abschaffung des Solidaritätszuschlags in einem Zug durchführen, hätten wir die finanziellen Spielräume für diese Legislaturperiode leider ausgeschöpft, und wir könnten keine Erhöhung des Kindergeldes vornehmen. Wir hätten keine Förderung des Wohnungsbaus. Wir hätten kein Programm zur Förderung der Investitionen in Start-ups, kein Programm zur Förderung der Investitionen in Digitalisierung und Bildung und übrigens auch keine Möglichkeit der Modernisierung der Unternehmensbesteuerung, die wir wollen. Gerade das wird bei Ihnen nicht erwähnt, auch bei den Grünen übrigens nicht. Lieber schafft man Verbote als Entlastungen für die Bürger. Wir entlasten die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland mit der heutigen Verabschiedung unseres Gesetzentwurfs.
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Herr Kollege Brehm, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dürr?
Ich freue mich.
Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Ich freue mich auch. Vielen Dank, Herr Brehm, für das Zulassen der Zwischenfrage. – Sie haben an dieser Stelle ja auf Oktober/November 2017 Bezug genommen. Ich will uns alle ganz kurz daran erinnern, wie die Debatte damals war. Der Kollege Michelbach hatte die Auffassung, die vollständige Abschaffung des Solis in dieser Legislaturperiode sei geboten, schon immer; daran besteht gar kein Zweifel. Auch andere, etwa Alexander Dobrindt, haben sich so geäußert; das war auch im Fernsehen zu sehen.
Ich will nur sagen, wer damals sehr ehrlich war. Es ist jemand, der öffentlich etwas vertreten hat, was in den Jamaika-Sondierungen hinter verschlossenen Türen gesagt worden ist. Ich meine den Haushaltspolitiker der Union Eckhardt Rehberg. Er hat am 10. November 2017 gesagt – Zitat –: „Der vollständige Abbau des Solidaritätszuschlags … ist für den Bundeshaushalt nicht finanzierbar ...“.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Wahrheit ist: Damals haben Sie sich beim Soli hinter dem Bundeshaushalt versteckt. Diesmal verstecken Sie sich hinter dem Koalitionspartner. Sie wollten es nicht. Es ist nicht an uns gescheitert, Herr Brehm; an der Union ist die Abschaffung des Solis gescheitert.
({0})
Lieber Herr Kollege Dürr, liebe FDP, der lange Applaus bringt auch nichts. Sie hatten die Möglichkeit, Regierungsverantwortung zu übernehmen,
({0})
und Sie haben einfach den Schwanz eingezogen. Sie wollten keine Regierungsverantwortung übernehmen. Gemeinsam mit Ihnen und den Grünen hätten wir es ja durchgesetzt in einer Jamaika-Koalition.
({1})
Aber Sie sind ausgestiegen aus diesen Gesprächen; tut mir leid. Wir sind nach wie vor der Meinung, dass eine vollständige Abschaffung des Solidaritätszuschlags notwendig ist. Wir hätten es gemeinsam umsetzen können.
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Jetzt setzen wir den ersten Schritt um. Dass Sie dagegen sind, ist schon bemerkenswert. Der Besitzer eines mittleren Einkommen mit 150 000 Euro würde bei Ihnen nicht entlastet. Bei Ihnen von den Grünen und der AfD übrigens auch nicht.
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Wir entlasten den Mittelstand, wir entlasten die Bezieher mittlerer Einkommen, und das ist gut und das ist richtig so.
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Klar haben wir weiterhin das Ziel der vollständigen Abschaffung des Solidaritätszuschlags. Das ist doch völlig logisch. Das wurde auf den Parteitagen von CDU und CSU beschlossen.
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Entlastet werden natürlich auch die Kapitalgesellschaften, die Bezieher von Kapitaleinkünften. Wir werden auch dies noch umsetzen; das ist doch selbstverständlich.
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Aber wir machen jetzt den ersten Schritt, und der zweite, finale Schritt muss dann noch folgen, natürlich auch im Hinblick auf die Rechtssicherheit. Heute beschließen wir die Entlastung der Bezieher kleinerer und mittlerer Einkommen. Das ist gut und richtig. Ich sage es noch mal: Wir lassen uns von Ihnen diesen Schritt nicht kaputtmachen, sondern wir freuen uns, dass wir diesen Schritt heute vollziehen können.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich noch einen letzten Aspekt in die Diskussion einbringen. Das ist der Dank an die vielen Bürgerinnen und Bürger, die jahrzehntelang von ihrem Einkommen etwas abgegeben haben für die Verwirklichung der deutschen Einheit. Über 300 Milliarden Euro sind von den Bürgerinnen und Bürgern für die deutsche Einheit investiert worden, und wir sagen ein herzliches Dankeschön für diesen Solidarbeitrag.
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Übrigens ist es einmalig in der Welt, dass die Bürgerinnen und Bürger dieses Geld aufwenden. Die deutsche Einheit hat uns weltweit dazu in die Lage versetzt, dass wir in einer Führungsposition sind, dass Wirtschaftswachstum vorhanden ist. Deswegen war der Solidaritätszuschlag gut, und wir können stolz auf das Geleistete sein. Danke für das große Engagement für Deutschland. Heute geben wir den Bürgerinnen und Bürgern etwas zurück. Deshalb ist heute ein guter Tag für Deutschland.
Herzlichen Dank.
({9})
Jetzt hat das Wort der Kollege Thomas Kemmerich, FDP.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Gäste auf der Tribüne, an den Bildschirmen und anderen Empfangsgeräten! Deutschland ist Steuerland Nummer eins. Infolge der guten Konjunktur haben sich die Steuereinnahmen gut entwickelt. Vom Jahr 2009 bis in das Jahr 2018 ist ein Anstieg um fast 270 Milliarden Euro zu verzeichnen. Die Summe, über die wir heute reden, macht 5 Prozent davon aus.
({0})
Im ersten Halbjahr 2019 hatten wir einen Steuerüberschuss von 45 Milliarden Euro . Auch das ist ein deutlich höherer Betrag als die Entlastung, über die wir heute streiten. Es mag ein guter erster Schritt sein, aber längst nicht das, was versprochen worden ist und was vor allen Dingen notwendig ist.
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Deshalb erneuern wir unsere Forderung nach der vollständigen Abschaffung des Solis.
Erstens. Es ist verfassungsrechtlich geboten – das ist mehrfach hier gesagt worden; deshalb brauche ich es nicht weiter zu erläutern –; halten Sie sich also an das, was in der Verfassung steht.
Zweitens, meine sehr verehrten Damen und Herren, insbesondere von der Union: Es ist versprochen. Wenn Sie behaupten, dass das heute nicht mehr möglich ist: Langfristige, vorausschauende Planung heißt, dass man sich darauf einstellt, dass man ab 1. Januar 2020 genau dieses Geld nicht mehr zur Verfügung hat.
({2})
Jetzt sollte man nicht weinen, dass dieses Geld weg ist; das wäre falsch.
Es ist doch doppelzüngig – wo sind die Vertreter von MIT oder PKM? –, von „Entlastung“ zu sprechen und den Mittelstand, die GmbHs, die Gewerbetreibenden, die Handwerker, die Landwirte hier zu vergessen.
({3})
Ein Einkommen von etwas über 70 000 Euro befähigt eben nicht, an der Entlastung teilzuhaben. Und das sind die fleißigen Leute dieses Landes.
Herr Gutting, es mag ja sein, dass wir dann, in der 20. Wahlperiode – vielleicht mal in die Zukunft schauend –, etwas Versprochenes haben; aber allein, mir fehlt der Glaube.
({4})
Herr Gottschalk, atmen Sie mal durch! Wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt, Sie einen Antrag. Unsere Vorlage ist zielgerichteter und treffgenauer.
({5})
Deshalb unterstützen Sie doch bitte unseren Antrag!
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Ich denke, es ist ganz wichtig, dass wir diese Entlastung nutzen. Sie ist Motivationsspritze für all die Fleißigen, die in diesem Land arbeiten, sodass sie endlich von diesem Konjunkturaufschwung etwas in ihren Taschen haben. Es ist eine Konjunkturspritze; es muss investiert werden.
({7})
Der Mittelstand kann das nur mit Gewinnen, die auch in seiner Verfügung bleiben.
({8})
Lassen Sie uns auch mit denjenigen solidarisch sein, die dieses System, diesen Staat finanzieren. Auch sie verdienen unsere Solidarität und Anerkennung. Das vermisse ich bei Ihrem Antrag.
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Deshalb ist es vielleicht ein schöner Tag für viele, aber längst nicht für alle, vor allen Dingen nicht für die Leistungsträger.
Eines entzieht sich meiner Kenntnis: Jemand, der 250 000 Euro im Jahr verdient, ist der nicht vielleicht auch Leistungsträger?
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Verdient der nicht unseren Dank? Also auch hier: Entlastet diese Leute!
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Meine Damen und Herren, gleichzeitig möchte ich die Gelegenheit nutzen, zu verkünden: Mit Ablauf dieses Tages werde ich mein Mandat im Deutschen Bundestag zurückgeben. Ich möchte Ihnen allen danken, Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren. Es war mir eine sehr große Ehre, bis zum heutigen Tage in diesem Hause mitgewirkt zu haben. Ich werde die Zeit nicht vergessen und bleibe Ihnen und uns allen kritisch, freundschaftlich, wie auch immer gewünscht, verbunden.
Ich danke Ihnen.
({12})
Herr Kollege Kemmerich, da Sie in der Tat gegenüber dem Präsidenten erklärt haben, dass Sie Ihr Mandat, wie Sie es eben gesagt haben, niederlegen, danke ich Ihnen für Ihre Mitarbeit in diesem Deutschen Bundestag. Ich wünsche Ihnen für Ihren weiteren Lebensweg und politischen Weg alles Gute.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Lothar Binding, SPD.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Ich möchte erst mal denen danken, die den Soli bisher gezahlt haben. Das waren ungefähr 320 Milliarden Euro, für den Golfkrieg – das war befristet –; für die Wiedervereinigung – das war unbefristet. 320 Milliarden Euro, das ist schon ein Wort für die Bürgerinnen und Bürger. Allerdings war das, offen gestanden, nicht genug.
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Denn der Solidarpakt I und II, der Fonds Deutsche Einheit und die Verluste aus der Treuhand haben 380 Milliarden Euro gekostet. Schon an dieser einfachen Rechnung sieht man: Es fehlt objektiv noch was.
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Trotzdem wird heute der Beschluss gefasst, den Soli für viele abzuschaffen. Darüber haben wir schon sehr viel gehört.
Wir wissen auch, dass es vielen Kommunen nicht gut geht. Minister Scholz hat gesagt: Es gibt noch viel zu tun. – Komischerweise sagen das hier alle. „Es gibt noch viel zu tun“, das Mantra, zum Beispiel bei den Investitionen, kommt jedes Mal. Nur, wenn es ans Bezahlen geht, tun wir uns ein bisschen schwer.
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Wiebke Esdar hat gesagt: Wir sollen doch ehrlich sagen, dass wir die 3,5 Prozent oberste Einkommen in diesem Fall nicht entlasten wollen.
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Falko Mohrs hat mir gesagt: Und das ohne Bedürftigkeitsprüfung.
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Die obersten 3,5 Prozent muss man nicht entlasten; denn denen geht es richtig gut, und zwar nachdem sie Steuern, Soli usw. gezahlt haben.
({5})
Deshalb ist auch die Formel „20 Prozent der oberen Einkommen zahlen 80 Prozent der Steuern“ kein Hinweis darauf, dass die sich besonders stark engagieren – die engagieren sich sehr stark –; aber es ist ein Hinweis darauf, wie viel sie zuvor hatten,
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wie viel die obersten 20 Prozent verdienen oder bekommen. Das darf man jetzt nicht mit den Leistungsträgern verwechseln. Leistungsträger sind auch alle anderen, die hier arbeiten.
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Auch die Krankenschwester ist eine Leistungsträgerin; die muss den Soli aber gar nicht zahlen.
Jetzt hat der Christian Dürr auch geklatscht; das war fair. Aber er hat vorhin gesagt: Die Beschäftigten im Mittelstand seien die, die jetzt mit unserem Konzept belastet werden.
({8})
Jetzt belasten wir die oberen 3,5 Prozent komplett, die 6 Prozent darunter ein wenig. Jetzt suchen Sie aber den Mittelstand bei den oberen 10 Prozent.
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Man muss also erst mal überlegen, was Ihre Idee der Mitte ist.
({10})
Wenn sich die Mitte im obersten Zehntel befindet, dann frage ich mich: Wo ist denn bei Ihnen eigentlich der Durchschnitt? Was ist der Teil darunter?
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Wenn die Mitte in den obersten 10 Prozent liegt, dann stimmt an der Überlegung etwas ganz Grundsätzliches nicht.
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Lisa Paus hat was Richtiges gesagt, aber hat uns, fand ich, ein bisschen auf die falsche Fährte gelockt. Es stimmte trotzdem, dass Leute, die keine Steuern zahlen, mit diesem Gesetz nicht entlastet werden: Die mussten vorher nichts bezahlen, die müssen hinterher nichts bezahlen; der Unterschied ist relativ gering.
({13})
Es ist völlig klar: Du kannst mit einer runden Zange auch nicht die Entfernung messen. Man muss schon schauen, dass man das richtige Werkzeug für eine Aufgabe nimmt.
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Bei den Ärmeren sagen wir: Wir haben Kindergeld, Familienförderung, Gute-Kita-Gesetz; wir haben Wohnbauförderung oder Mietzuschüsse. Das hilft den Beziehern schwächerer Einkommen. Insofern: Ein richtiges Werkzeug an der richtigen Stelle; dann wird etwas Gutes daraus.
Was kostet eigentlich so ein Soli? Wir tun immer so, als ob der gigantisch teuer wäre. Kollege Brehm und Kollege De Masi haben schöne Beispiele genannt.
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Es ist völlig klar, dass, wenn jemand als Verheirateter ein Einkommen von 100 000 Euro hat und er jetzt 1 400 Euro Soli zahlen muss, er das doch schaffen sollte.
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In Wahrheit müssen ja Leute, die richtig viel verdienen, einen noch viel höheren Soli zahlen. Auch das müssen sie schaffen. Um nicht zu sagen: Das können die auch. Denen bleibt nach dem Soli noch so viel, von dem andere nur träumen können.
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Deshalb ist die Abschaffung des Soli im ersten Schritt gerecht, finanzierbar, hilft den Beziehern unterer Einkommen und ist einfach eine gute Idee.
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Dann schließe ich die Aussprache.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Ich möchte erst mal der FDP danken, dass es diesen Antrag gibt, obwohl wir ihn ablehnen. Ich will das ein bisschen genauer begründen mit dem Niveau, auf dem wir diskutieren, und dem Niveau, auf dem wir streiten.
Wir wissen ja: 1945 war das Ende des Naziregimes – mit einem total zerstörten Deutschland, mit unendlichem Leid, mit einem gescheiterten Regime. Jetzt mache ich einen ganz großen Sprung von 70 Jahren: 70 Jahre später kann sich unsere Nation sehen lassen. Im Durchschnitt geht es uns sehr gut. Wir haben zwar Armut – weil der Durchschnitt die Armut versteckt, fällt das nicht immer so auf –, und wir müssen auf die Armen schauen, aber Deutschland geht es insgesamt sehr gut. Das ist Ergebnis der Politik, die wir gemacht haben; die Parteien, die hier im Bundestag sitzen – die demokratischen Parteien –, haben 70 Jahre Politik gemacht und liefern ein solches Ergebnis ab: So finden wir Deutschland heute vor. Viele andere Nationen sind stolz auf Deutschland und das, was wir erreicht haben.
({0})
Dieser Antrag ist gut, weil er zeigt, dass wir auf diesem Niveau streiten, es noch besser zu machen. Der Streit, den wir hier führen, ist immer konstruktiv. Egal wie wir hier funktionieren, demokratische Parteien streiten konstruktiv.
Und warum sind wir jetzt nicht für den Antrag? Das Argument dagegen ist unser Klassiker. Wir sagen: Wenn wir für Steuersenkungen Geld ausgeben, dann haben wir zwar einen Standortfaktor verbessert, aber haben kein Geld mehr zur Verbesserung aller anderen Standortfaktoren. Deshalb sagen wir: Da muss man ein bisschen besser ausrechnen, was es bedeutet. Uns ist es wichtig, eine gute Ausbildung, gute Kinderbetreuung, ein stabiles politisches System, Rechtssicherheit, sozialen Frieden, Verkehrsinfrastruktur zu haben. All das wollen wir finanzieren aus den Steuern.
({1})
Wenn wir die natürlich jetzt ständig senken, dann muss man sich überlegen, was für diese Aufgaben dann noch übrig bleibt.
Last, but not least die Frage: Wenn ich heute die Körperschaftsteuer senke – sie kommt von einem Niveau von über 40 Prozent; jetzt haben wir ein Niveau von 25 Prozent –, wo endet das?
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Wenn die Maßstäbe und die Begründungen für die jetzige Senkung auch künftig gelten, dann weiß ich genau, wo das endet: Das endet nicht bei null. Das ist dann letztendlich eine Subvention der Unternehmen der besonderen Art.
({3})
– Ja, es gibt dann auch eine negative Steuer. Habt ihr ja schon im Programm gehabt.
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Also muss man aufpassen, wie man das macht. Das funktioniert so nicht.
({5})
Wir sind im weltweiten Ranking des Weltwirtschaftsforums 2018 der drittattraktivste Standort der Welt.
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Da sollten wir, glaube ich, den Arbeitgebern danken, weil die sich engagieren, und natürlich den Arbeitnehmern, die die Werte schaffen, den Familien, dem Mittelstand, den Handwerkern und den Krankenschwestern. Allen müssen wir danken;
({7})
denn dieser dritte Platz kommt ja nicht von uns hier im Parlament, sondern von den Leuten, die draußen arbeiten.
Ein ganz schönes Zeichen – man konnte es gestern in den Nachrichten hören –: Tesla plant eine große Produktionsstätte in der Nähe von Berlin.
({8})
Übrigens trotz der jetzigen Steuer – ich will nicht sagen: wegen –; aber vielleicht auch wegen der jetzigen Steuer, weil der Rest eben stimmt. Das ist eine sehr gute Sache; denn mit diesen Steuern ist etwas Gutes passiert.
({9})
Wer sich an den Steuersenkungen der USA orientiert, der schaut immer nur auf den Tarif. Der muss aber auch darauf schauen, dass die USA eine Mindestbesteuerung eingeführt haben; komischerweise wird das manchmal vergessen. Dass es eine Hinzurechnungsbesteuerung gibt, wird manchmal vergessen. Wer sich das ganze Bild anschaut, sieht: In den USA ist auch nicht alles so rosig, und vor allen Dingen ist alles total unberechenbar. Denn so, wie diese Steuer über die USA gekommen ist, kann sie auch wieder genommen werden. Also: Die Berechenbarkeit in Deutschland ist im Moment ein ganz hohes Gut. Man kann von Trump lernen, was passiert, wenn man nicht mehr berechenbar ist.
Ich will noch kurz auf den FDP-Antrag eingehen. Er ist jetzt nicht mehr ganz aktuell. Dort wird die Istbesteuerung angesprochen – das haben wir gerade beschlossen –, es wird Forschung und Entwicklung angesprochen – das haben wir auch gerade beschossen. Es gibt ein paar Dinge, die auch wir uns überlegen. Über Thesaurierungsbegünstigungen wollen wir nachdenken.
Bei den Zinsen, muss ich sagen, gibt es eine alte Debatte: Wenn man Steuerschulden beim Staat hat, wird das mit 6 Prozent verzinst. Das klingt sehr hoch. Aber erstens sind 15 Monate zinslos – also nach 30 Monaten sind es nur 3 Prozent –, und vor allen Dingen muss man die Sollzinsen eines unbesicherten Kredits als Vergleich nehmen,
({10})
statt zu denken: Ich gebe mal einen Kredit. Wie viel bekomme ich dafür?
({11})
Das ist der Maßstab. Deshalb ist das ein gefährlicher Antrag.
Die AfA-Tabellen anzuschauen, ist wieder eine gute Idee. Das Pooling abzuschaffen, ist mittelfristig eine gute Idee. Da machen wir mit, aber erst zum richtigen Zeitpunkt. Jetzt wäre der Zeitpunkt falsch. Zum richtigen Zeitpunkt das Richtige tun – dann machen wir mit, sogar beim FDP-Antrag.
Vielen Dank.
({12})
Albrecht Glaser, AfD, ist der nächste Redner.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die FDP stellt einen Sachantrag, in welchem sie die Bundesregierung auffordert, das gesamte steuerliche Umfeld der Unternehmensbesteuerung und diese selbst zu reformieren. Der Antrag hat eine Struktur, wie wir sie bei der FDP häufiger finden. Er ist eine Stoffsammlung, in der fast alle Stichworte vorkommen, die einem zum Thema einfallen – und einige darüber hinaus –, aufgereiht in 20 Punkten. Einiges ist überholt, anderes steuersystematisch unmöglich und das ganze Sammelsurium wenig strukturiert.
({0})
So soll die Gewerbesteuer abgeschafft und den Kommunen stattdessen ein Hebesatzrecht auf die Körperschaftsteuer und die Einkommensteuer ermöglicht werden.
Die Idee eines Hebesatzrechts bezüglich der Einkommensteuer ist wohl unserem Grundsteuerantrag entnommen.
({1})
– Ich bitte, mir die Zeit gutzuschreiben für diese wunderbare Lache. – Ein Hebesatzrecht auf die Körperschaftsteuer ist kaum möglich, da die Körperschaftsteuer keinen lokalen Bezug hat. Ich weiß nicht, ob Sie nicht noch mal lachen wollen; denn das ist ein relativ lächerlicher Vorschlag.
Eine steuerliche Forschungsförderung, die gefordert wird, ist in der Zwischenzeit Allgemeingut und schon beschlossen; das Gleiche gilt für die Erhöhung der Grenze für die umsatzsteuerliche Istbesteuerung auf 600 000 Euro.
Der Zinssatz für Nachzahlungszinsen, § 238 AO, im Steuerveranlagungsverfahren soll von 6 Prozent realitätsgerecht nach unten korrigiert werden, wie formuliert wird. Das hat zwar mit dem Unternehmensteuerrecht nichts zu tun,
({2})
weil diese Vorschrift für alle Steuerschuldner gilt,
({3})
ist aber trotzdem rechtlich geboten. Die AfD hatte das gleiche Anliegen in ihrem Gesetzentwurf auf Drucksache 19/5491 – Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/14412 – vor wenigen Wochen hier gefordert. Die FDP hatte jedoch mit der ganz großen Koalition diesen Entwurf der AfD abgelehnt.
Die FDP fordert mehr Rechtssicherheit für die umsatzsteuerliche Organschaft und eine Vereinfachung des Verfahrens der Einfuhrumsatzsteuer für Lieferungen von Unternehmen zu Unternehmen. Darunter, unter diesen allgemeinen Formulierungen, kann sich jeder alles vorstellen. Das ist nicht Politik, sondern Feuilleton. Dieser Tage beschuldigte ein FDP-Kollege die AfD der Faulheit. Wir wissen jetzt, was gemeint ist, meine Damen und Herren.
({4})
Bleibt als Herzstück des Antrags: die Verringerung der Steuerbelastung der Unternehmensgewinne. Die Idee, welche die FDP dazu äußert, funktioniert zwar nicht wie dargestellt; das identifizierte Problem einer Unternehmensbesteuerung in Deutschland, welche international konkurrenzfähig ist, besteht jedoch veritabel. Das hat nichts mit der Geschichte der deutschen Unternehmensbesteuerung zu tun, sondern mit dem Umfeld weltweit, in dem wir uns bewegen.
Die Kanzlerin hatte dazu vor wenigen Tagen ihren Wirtschaftsminister gelobt, der auch von einer Unternehmensteuerreform gesprochen hatte. Der Finanzminister erteilte jedoch solchen Vorstellungen eine schroffe Absage. Ein Steuersenkungswettbewerb müsse vermieden werden, sagte der Finanzminister. So viel Geschlossenheit in der Koalition muss wohl sein. Und der Steuer- und Abgabenwettbewerb muss auch sein, aber nach oben. Und der wird von Deutschland auch gewonnen. Wir sind an der Spitze bei der Abgabenbelastung in der OECD, haben also diesen Wettbewerb nach oben gewonnen, und das seit Jahren. Und das hat Folgen: Einer der vielen Beiträge dieser Regierung für das niedrigste Wachstum Deutschlands in der EU ist auch diese Vorstellung von Unternehmensbesteuerung.
Vom FDP-Antrag geht leider kein wirklich intelligenter Impuls aus. Dennoch ist der Versuch, eine Steuerreformdiskussion anzustoßen, zu begrüßen. Das tun wir auch. Allerdings müsste man weiter ausholen und wirklich Konzeptionelles ins Gespräch bringen. Bei der soeben verkorksten Grundsteuerreform, bei der die AfD eine echte Gemeindefinanzreform gefordert und strukturell unterlegt hatte, war die FDP, wie immer, nicht etwa eine Serviceopposition, sondern eine servile Opposition. Das unterscheidet sie von uns. Deshalb hat sie bei den soeben abgehaltenen Landtagswahlen in drei Bundesländern insgesamt ein Stimmergebnis von 4,5 Prozent erreicht
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und liegt damit am Ende der Skala aller hier vertretenen Parteien. Die AfD hat ein Ergebnis von 25,4 Prozent erreicht -
Herr Kollege Glaser, bedenken Sie, dass Ihre Redezeit überschritten ist.
– ja – und liegt damit auf Platz eins in diesem Parteienwettbewerb.
Herzlichen Dank.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Auch wir danken der FDP für diesen Antrag,
({0})
weil wir auch in der Koalition über das Thema „Modernisierung des Unternehmensteuerrechts“ sprechen und diskutieren werden. Das Ergebnis ist noch nicht ganz klar; aber es ist wichtig, dass wir die Diskussion führen und dass wir sie auch hier führen.
Ich habe mir überlegt, wie sich die FDP gefühlt hat, als sie diesen Antrag geschrieben hat. Wenn man weiß, man hätte so was eigentlich im Koalitionsausschuss einbringen können,
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man hätte so was in das Kabinett einbringen können, dann ist man, glaube ich, traurig. Denn ich kann nur sagen: Mitregieren ist besser als nicht regieren, Herr Toncar.
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Von daher hätten Sie gute Chancen gehabt. Ich kann Ihnen sagen: Die Fraktionen, die diese Koalition tragen, sind sich ihrer Verantwortung bewusst; das haben wir an verschiedenen Punkten gerade in den letzten Wochen bewiesen, und wir werden es auch bei diesem Thema beweisen.
Zurück zum Antrag. Handlungsbedarf besteht unzweifelhaft. Die Bundeskanzlerin hat das auf dem Arbeitgebertag auch angesprochen, auch auf Wirtschaftsminister Peter Altmaier verwiesen. Der Bundesfinanzminister – so habe ich den Medien entnommen – hat das hanseatisch zurückhaltend erst mal entgegengenommen. Aber wenn ich das richtig gelesen habe, hat er gesagt, der Zeitpunkt – das hat Lothar Binding eben auch gesagt –, sei falsch. Es sei aus seiner Sicht falsch, jetzt Konjunkturimpulse zu setzen. Aber auch darüber, finde ich, sollten wir diskutieren. Denn unseres Erachtens gibt es vier Gründe für den Handlungsbedarf, unser Unternehmensteuerrecht zu modernisieren.
Zum einen haben wir uns in der Vergangenheit zu Recht damit beschäftigt, steuerlichen Gestaltungsmissbrauch, Steuervermeidungsstrategien zu verhindern. Wir haben das BEPS-Projekt im Rahmen der G 20, G 7 und OECD umgesetzt, das der damalige Minister Schäuble initiiert hat. Wir haben gesetzgeberisch viel gegen Steuervermeidung gemacht. In der Summe muss man feststellen, dass wir doch ein sehr restriktives Unternehmensteuerrecht geschaffen haben und in Teilen vielleicht auch überschießende Wirkungen erzielt haben, die nicht unbedingt gewollt waren. Ich finde, dass man sich das mal anschauen kann. Ich nenne ein Beispiel: Sind wir eigentlich noch fit als Holdingstandort Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern, und gibt es da nicht ganz einfache Dinge, die wir ändern könnten? Das sollten wir in diesem Zusammenhang auch mal prüfen. Dazu fehlt im FDP-Antrag leider ein entsprechender Hinweis.
Zweiter Grund. Die letzte große Steuerreform ist elf Jahre her. Damals wurde gesagt: Wir wollen eine Belastung der Unternehmen von maximal 30 Prozent erzielen. – Das ist auch fast punktgenau erreicht worden, wenn man einen Gewerbesteuerhebesatz von 400 Prozent unterstellt. Denn wir müssen ja berücksichtigen, dass es in Deutschland die Besonderheit gibt, die nicht alle im Ausland sofort verstehen, dass wir im unternehmerischen Bereich zwei Steuern haben: bei der Kapitalgesellschaft die Körperschaftsteuer und die Gewerbesteuer und bei den Mitunternehmerschaften die Einkommensteuer und die Gewerbesteuer. Das ist nicht unbedingt ganz einfach. Aber da die Kommunen ihre Gewerbesteuerhebesätze in den letzten elf Jahren sukzessive angehoben haben, ist es dazu gekommen, dass wir diese 30-Prozent-Grenze reißen. Wir liegen derzeit bei 32 Prozent.
Selbst wenn es den internationalen Steuerwettbewerb, zu dem ich gleich komme, nicht gäbe, hätten wir jetzt meines Erachtens Handlungsbedarf aufgrund unserer eigenen Ziele, die wir damals formuliert haben.
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Damals führte Herr Steinbrück, der damals Finanzminister war – da ging es auch schon um die Standortpolitik und den Investitionsstandort Deutschland –, aus:
Keines der viel diskutierten Probleme … lösen wir ohne eine solide Wachstumsbasis, ohne leistungsfähige und wettbewerbsfähige Unternehmen …, die sich
– jetzt kommt es -
im internationalen Wettbewerb auch von der Steuerseite einigermaßen bewegen und bewähren können.
Dieser Bundesfinanzminister hat damals recht gehabt, und ich hoffe, auch unser Finanzminister wird sich dieser Auffassung im Rahmen des Diskussionsprozesses anschließen können.
Der dritte Grund ist der internationale Steuerwettbewerb. Über diesen haben wir schon mehrfach diskutiert. Man mag ihn bedauern; er ist auf jeden Fall da. Sie kennen die Zahlen: In den USA liegen die Unternehmensteuersätze bei 21 Prozent bzw. bei 26 Prozent, wenn ich die Lokalsteuer mitrechne. In Frankreich wurden sie von 28 auf 25 Prozent gesenkt. In Österreich liegen sie bei 21 Prozent. UK hat 17 Prozent angekündigt. In den Niederlanden sind es 21 Prozent. Das sind nur einige Beispiele. In der EU haben wir – ohne die Bundesrepublik Deutschland – einen durchschnittlichen Steuersatz von 21,5 Prozent, in der OECD von 25,7 Prozent. Da liegen wir mit unseren 32 Prozent weit darüber. Wir wissen durch viele Studien, dass ein Unterschied von 10 Prozentpunkten bei den Steuersätzen dazu führen kann – so das ifo-Institut –, dass bis zu 8 Prozent der Gewinne verlagert werden. Von daher haben wir auch hier einen Handlungsdruck.
Ich akzeptiere das Argument, das von unserem Koalitionspartner vorgetragen wird, dass es kein „race to the bottom“ geben darf. Wo ist eigentlich die untere Grenze? Von daher unterstützen wir die deutsch-französische Initiative zur Mindestbesteuerung sehr, weil wir dann ein gleiches Spielfeld für alle hinbekommen. Von daher kann man das in den Konsens auch mit einbeziehen.
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Der vierte Punkt ist die Konjunkturdelle. Wir können jetzt trefflich volkswirtschaftlich darüber streiten: Gibt es die Gefahr einer Rezession, oder sind wir schon drin? Auf jeden Fall spüren wir doch alle, dass was passiert. In meinem Wahlkreis haben die ersten großen Unternehmen Kurzarbeit eingeführt. Es gibt ja Gründe dafür. Das Auftragsvolumen ist zurückgegangen, die Zahl der Auftragseingänge ist zurückgegangen. Wir müssen gucken, wie wir reagieren. Wir müssen dafür nur den richtigen Zeitpunkt finden. Da sind wir wahrscheinlich noch nicht ganz beieinander. Ich glaube aber, dass wir zu spät reagieren, wenn wir erst reagieren, wenn die Ergebnisse für alle erkennbar sind. Ich glaube, wir müssen vorher reagieren. Von daher sollten wir was tun.
Was sollten wir im Einzelnen tun? Damit haben wir uns in der CDU/CSU-Fraktion sehr intensiv beschäftigt. Wir haben am 5. November dieses Jahres ein umfassendes Positionspapier zu dem Thema „Modernisierung des Unternehmensteuerrechts“ beschlossen, und zwar mit den drei Punkten: Wettbewerbsfähigkeit stärken, Strukturen verbessern und Bürokratie abbauen. Ich will das jetzt nicht im Einzelnen vortragen, obwohl ich dankenswerterweise viel Redezeit von meiner Fraktion bekommen habe;
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aber Herr Brehm kann ja auch noch ergänzen. Ich glaube, der entscheidende Punkt – da sind wir uns mit der FDP in der Zielbeschreibung einig – ist: Wir sollten es schaffen, maximal 25 Prozent Steuerbelastung für nicht ausgeschüttete Gewinne in Deutschland zu erreichen. Dafür brauchen wir einen Weg.
Ich möchte noch mal sagen: Es geht um nicht ausgeschüttete Gewinne. Mir ist in der Diskussion viel zu häufig der Satz begegnet: Das ist der Unternehmergewinn. – Nein, es geht um Unternehmensgewinne, um Gewinne, die im Unternehmen bleiben, die dem Unternehmen zur Verfügung stehen, um Investitionen durchzuführen, Innovationen auf den Weg zu bringen, um für Personalaufbau zu sorgen und um die Personalkostensteigerung zu finanzieren. Das sind alles wichtige Dinge, die das Unternehmen machen muss.
Erst dann, wenn das Geld aus den Unternehmen hinausgeht, wird ganz normal und mit den Tarifen, die wir aus der Einkommensteuer kennen, besteuert. Da greift dann ja auch das Leistungsfähigkeitsprinzip. Von daher sollten wir gemeinsam versuchen, einen klugen Weg zu finden, diese Belastungsgrenze von 25 Prozent zu erreichen.
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Der Weg der FDP wird nicht dahin führen; denn die von Ihnen vorgeschlagene Senkung der Körperschaftsteuer auf 12,5 Prozent wird dafür nicht reichen.
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Das können Sie mithilfe der Mathematik sehr schnell herausfinden. Wenn Sie den Bericht des Wissenschaftlichen Beirats des Bundesfinanzministeriums lesen, werden Sie feststellen, dass Sie schon auf 10 Prozent gehen oder andere Lösungen finden müssten,
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die wir vorgeschlagen haben bzw. die der Freistaat Bayern vorgeschlagen hat.
Anrechnung der Gewerbesteuer auf die Körperschaftsteuer. Mit Ihrem Antrag erreichen Sie jedenfalls nicht das Ziel,
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das Sie formulieren.
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Allein das ist schon ein Grund, weshalb wir diesem Antrag nicht zustimmen können.
Außerdem fehlen uns einige Aspekte, die ich nur kurz adressieren möchte. Sie haben das Thema der Rechtsformneutralität nicht umfassend aufgeworfen.
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Wir haben bei der letzten Unternehmensteuerreform versucht, diese herzustellen. Sie sprechen zu Recht davon, dass wir die Thesaurierungsbegünstigung, die es ermöglicht, nicht entnommene Gewinne bei Personengesellschaften niedriger zu besteuern, reformieren müssen. Sie haben sie adressiert, aber Sie haben ein Optionsmodell nicht angesprochen.
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Das Optionsmodell haben wir im Blick, und wir wissen auch, dass im Bundesfinanzministerium darüber nachgedacht wird.
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Von daher sollte man solche Dinge aufnehmen.
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Völlig vergessen haben Sie, Herr Dr. Toncar, dass wir unbedingt eine Reform des Außensteuergesetzes brauchen. Das Außensteuergesetz gibt es seit 1972. Wir müssen die Hinzurechnungsbesteuerungsgrenze von 25 Prozent auf meines Erachtens 15 Prozent, wenn nicht noch weiter, vermindern; denn wir haben mittlerweile nur noch Länder mit niedrigerer Besteuerung um uns herum, und es gibt erhebliche Erklärungspflichten, viel Bürokratie. Dieser wichtige Punkt fehlt.
Sie haben auch nichts zur Verbesserung der Verlustnutzung geschrieben. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, gerade bei Start-ups und anderen.
Was mich besonders gewundert hat, ist, dass im Antrag steht, dass Sie ein Forschungszulagengesetz wollen. Ich möchte Sie an den zeitlichen Ablauf erinnern: Wir haben es ja beschlossen,
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aber leider ohne Ihre Zustimmung.
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Es wäre schön gewesen, wenn Sie in der letzten Woche auch diesem Gesetz zugestimmt hätten.
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Wir können Ihrem Antrag nicht zustimmen. Wir nehmen ihn als Diskussionsgrundlage für die Prozesse, die wir in der Koalition anstreben, gerne mit.
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Wir werden sehr solide arbeiten; denn, Herr Dr. Toncar, es gilt: Sorgfalt vor Eile. Ein Schnellschuss hilft hier überhaupt nicht, und ein steuerpolitischer Schrotschuss hilft erst recht nicht.
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Sie haben in Ihren Antrag alles Mögliche geschrieben. Diese Koalition hat die Kraft, auch dieses Thema anzugehen. Ich bin mir sicher, dass wir gemeinsam zu klugen Lösungen kommen können – für den Industriestandort Deutschland, für die Menschen, die hier arbeiten, für die Unternehmer, die die Arbeitsplätze schaffen, die investieren, die für Innovationen Geld ausgeben. Von daher: Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten! Dieser Antrag ist nicht umfassend genug. Er ist ein erster Versuch.
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Aber: Gehen Sie noch ein zweites Mal an den Start.
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Florian Toncar, FDP.
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Danke schön. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der deutsche Wirtschaftsmotor stottert. Wir haben die Zahlen heute bekommen: Wir schrammen haarscharf an einer Rezession vorbei. Die Ursachen: handelspolitische Unsicherheit, technologischer Wandel in Schlüsselindustrien, wie beispielsweise der Autoindustrie, Digitalisierung aller Branchen und Geschäftsmodelle. Das bedeutet doch in der Konsequenz: Fast alle deutschen Unternehmen, egal ob klein, egal ob mittel, egal ob groß, egal in welcher Branche sie tätig sind, müssen sich in den nächsten Jahren komplett neu erfinden, um auf diese Herausforderungen eine Antwort zu finden.
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Entsprechend groß ist doch der Handlungsbedarf durch alle Felder der Wirtschaftspolitik hindurch.
Am Dienstag war Arbeitgebertag hier in Berlin. Der Bundeswirtschaftsminister ist dort gewesen; hier im Bundestag ist er, wenn es um solche Themen geht, nicht.
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Dort hat er gefordert: Wir brauchen ein Aufbruchssignal. – Der Bundeswirtschaftsminister fordert ein Aufbruchssignal! Ein schlechteres Selbstzeugnis für die eigene Arbeit als Minister kann sich doch ein Wirtschaftsminister gar nicht ausstellen.
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Es ist doch richtig: Deutschland verschläft die Entwicklungen, und daran trägt gerade Herr Altmaier eine gehörige Portion Mitschuld.
Wenn wir jetzt darüber reden, was zu tun ist, sind folgenden Dinge zu nennen: Wir brauchen Antworten im Bereich Digitalisierung, eine wirklich technologieoffene Klimapolitik, ein einfacheres und schlankeres Planungsrecht. Aber selbstverständlich ist auch ein wichtiger Standortfaktor das Steuerrecht. Alle anderen Länder, alle wichtigen Wettbewerber, haben da in den letzten Jahren etwas getan – die einen so, die anderen anders. Aber alle haben sich bewegt: die USA, Frankreich, Großbritannien, Österreich, die Niederlande, China, und man könnte die Liste fortsetzen.
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Das machen diese Länder doch nicht, weil sie zu viel Geld haben, sondern weil sie glauben, dass gute Steuerpolitik Ihnen mehr Geld in die Kasse spült. Sie machen das nicht aus Dummheit, sondern weil sie glauben, dass es ihnen Vorteile bringt. Das müssen wir eben auch begreifen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Was diese Koalition steuerpolitisch macht, ist nichts anderes als ein Minimalprogramm. Sie machen beim Soli was Kleines,
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damit die gröbsten verfassungsrechtlichen Bedenken vielleicht doch noch irgendwie nach hinten geschoben werden können. Das Existenzminimum passt man an, weil das Verfassungsgericht es will. Die Grundsteuer reformiert man, weil das Verfassungsgericht eine Frist gesetzt hat. Mit diesem Minimalprogramm bringen wir Deutschland in keinem der genannten Bereiche wirklich nach vorne. Da, lieber Kollege Güntzler, von Regierungsverantwortung zu sprechen, die Sie angeblich wahrnehmen und ausüben, ist schon kühn. Das Wort „Regierungsverantwortung“ besteht aus zwei Bestandteilen: Regierung und Verantwortung. Sie regieren nicht, und das ist nicht verantwortungsvoll, sondern es ist im Gegenteil nicht zu verantworten, so zu regieren, wie Sie das tun.
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Was wäre im Bereich der Unternehmensbesteuerung zu machen? Wir haben 20 Punkte aufgeschrieben. Nun kann man natürlich sagen, es gäbe noch die Punkte 21 bis 23, Kollege Güntzler. Darüber kann man diskutieren; denn das erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Das soll eher unterstreichen, wie viel zu tun wäre im Bereich der Steuerpolitik.
Die wichtigste Reform, die wir im Bereich der Unternehmensbesteuerung umsetzen müssten, wäre, dass wir es tatsächlich schaffen, die Gewerbesteuer abzuschaffen und zu ersetzen durch eine finanziell gleichwertige wirtschaftskraftbezogene Einnahmequelle für unsere Kommunen; denn die Abschaffung der Gewerbesteuer ist der Schlüssel dafür, dass man die Besteuerung rechtsformneutral machen kann, dass man sie bürokratieärmer gestalten kann.
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Das geht auch, ohne den Kommunen eine wichtige Einnahmequelle zu versagen.
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– Wir schreiben sogar hinein, Kollege Daldrup, dass wir den Kommunen stattdessen Hebesätze auf die
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– ja, richtig – Körperschaftsteuer und auch auf die Einkommensteuer zugestehen. Das ist der Schlüssel dazu, dass man überhaupt rechtsformneutral und bürokratiearm besteuern kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, verantwortungsvolles Regieren kann heute nicht bedeuten, auf die gewaltigen Herausforderungen mit Halbherzigkeit und mit Klein-Klein zu reagieren. Ganz im Gegenteil: Wir brauchen entschlossenes Handeln auf allen Feldern der Wirtschaftspolitik, auch im Bereich der Unternehmensteuern. Genau darüber stimmen wir nachher ab. Ich erbitte nochmals Zustimmung und Unterstützung unseres Antrages.
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Nächster Redner ist der Kollege Fabio De Masi, Die Linke.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Sie alle kennen sicher „Dinner for One“.
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Dieser schöne Schwarz-Weiß-Film wird jedes Jahr an Silvester ausgestrahlt. Dabei geht es um die Geburtstagsfeier von Miss Sophie. Leider sind die geladenen Gäste alle schon verstorben, und so muss Butler James ihre Rollen übernehmen. Dabei gilt es vor allem, ein Gläschen mit Miss Sophie zu trinken, weshalb James von Runde zu Runde betrunkener wird. – Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, in meinem Glas befindet sich übrigens Wasser, kein Schnaps, falls irgendwelche Fragen aufkommen.
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Mit der FDP ist es ein wenig wie bei „Dinner for One“: Alle Jahre wieder fordern Sie eine neue Runde der Senkung der Unternehmensteuern. Auch Erfolg kann ja betrunken machen.
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Bei der letzten Unternehmensteuerreform 2008 wurde die Körperschaftsteuer bereits von 25 auf 15 Prozent gesenkt. Die steuerliche Forschungszulage für Unternehmen ist nichts anderes als ein verdecktes Steuergeschenk von etwa 1 Milliarde Euro.
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Die FDP fordert eine erneute Absenkung des Körperschaftsteuersatzes, nämlich von derzeit 15 auf 12,5 Prozent.
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Sie fordern die Abschaffung der Gewerbesteuer für Kommunen, und Sie wollen die Abschreibungsregeln verbessern, worüber man tatsächlich diskutieren kann. Die Begründungen sind auch immer die gleichen.
Ihr Antrag lautet: „Erhalt und Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft durch eine moderne Unternehmensbesteuerung“. Verehrte Damen und Herren, wenn die deutsche Industrie ein Problem nicht hat, dann ist das die preisliche Wettbewerbsfähigkeit.
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Wir werden international für unsere hohen und chronischen Exportüberschüsse kritisiert. US-Präsident Donald Trump droht sogar mit Strafzöllen auf deutsche Autos. Ich weiß daher nicht, ob es wirklich eine kluge Entscheidung wäre, unsere Exportüberschüsse weiter steigern zu wollen, um dann vielleicht auf den Mars oder den Mond zu exportieren. Man kann sich nämlich auch zu Tode siegen.
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Wir sollten vielleicht eher etwas für unsere marode Infrastruktur tun, die auch vielen Unternehmen Sorgen bereitet, und die öffentlichen Investitionen ausweiten, um den Abschwung zu bremsen. Wir sollten eher das Kurzarbeitergeld reaktivieren, um die Jobs, Einkommen und Qualifikationen der Beschäftigten in den Unternehmen zu sichern,
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statt in wenigen Monaten wieder eine absurde Debatte über Fachkräftemangel in Deutschland zu führen.
Man sollte sich durchaus Gedanken darüber machen, dass deutsche Unternehmen nicht den Anschluss an das digitale Zeitalter verlieren, dass wir über eine gute Infrastruktur verfügen; aber die gibt es nicht umsonst. Deswegen muss jetzt mehr öffentlich investiert werden, auch damit Unternehmen Planungssicherheit haben und die privaten Investitionen wieder anziehen.
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Sie ignorieren zudem eine Debatte völlig, die ganze Untersuchungsausschüsse im Europäischen Parlament bewegt hat. Sie waren ja dabei. Mit den Luxemburg Leaks wurde bekannt, wie große Konzerne wie Apple, McDonald ’ s, Google, Amazon oder Ikea ihre Steuern über Briefkastenfirmen in Luxemburg auf unter 1 Prozent ihrer Gewinne drücken.
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Was ist mit dem Bäcker, was ist mit dem Handwerker, dem kleinen Betrieb, der sich keinen Briefkasten in Luxemburg leisten kann?
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Die müssen den Abwasch machen. Die müssen höhere Steuern zahlen, weil die anderen tricksen. Für die wollen Sie aber auch die Unternehmensteuern erneut senken. Der Bäcker oder der Handwerker haben wenig davon, wenn Sie die Körperschaftsteuer weiter senken.
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Wo bleiben Ihre Vorschläge in dem Antrag, die Steuertricks der großen Konzerne zu bekämpfen, die den Mittelstand benachteiligen?
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Die EU-Kommission hat ermittelt, dass mittelständische Unternehmen 30 Prozent mehr Steuern zahlen als die großen Multis in Europa.
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Warum finde ich dazu nichts im Antrag der FDP?
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Im Europäischen Parlament haben Sie sich für ein öffentliches Country-by-Country Reporting ausgesprochen, das heißt, dass Konzerne wie Apple oder Google für jedes Land öffentlich machen, wie hoch ihre Gewinne, gezahlten Steuern oder die Zahl der Beschäftigten sind. Nichts dazu findet sich im Antrag. Sie lehnen es im Deutschen Bundestag regelmäßig ab. Warum widersprechen Sie Ihren eigenen Kollegen im Europäischen Parlament?
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Auch die weiteren Begründungen Ihres Antrages sind falsch.
Erstens. Die Idee hinter einer Senkung der Unternehmensteuern ist ja, dass höhere Gewinne zu mehr Investitionen führen. Aber Zahlen lügen nicht. Wir hatten in den letzten Jahren eine Erhöhung der Unternehmensgewinne, aber sinkende private Investitionen. Von daher sind Sie von der Empirie schlichtweg widerlegt.
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Zweitens. Die Sätze sind in Deutschland nicht zu hoch. Sie wollen die effektive Gesamtsteuerbelastung auf 25 Prozent senken
({17})
wie in Frankreich. Es gibt eine Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zur Besteuerungslücke. Dort wird gemessen, was die Unternehmen tatsächlich an die Finanzämter abgeliefert haben, wie hoch die Unternehmensgewinne in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung sind. Das DIW kommt zum Schluss, dass etliche Unternehmen real Steuern von unter 21 Prozent zahlen. Auch hier ein Gegenbeweis zu den falschen Zahlen in Ihrem Antrag.
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Drittens gibt es ein Papier von Anthony Tokman und Mark Wright, beides Ökonomen der Federal Reserve Bank of Chicago. Sie kommen zum Ergebnis, dass es sogar im Vergleich zu US-Unternehmen eine geringere Besteuerung in manchen Fallkonstellationen in Deutschland gibt und von daher überhaupt nicht davon gesprochen werden kann, dass in Deutschland die Steuern für Unternehmen zu hoch seien.
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Die Linke lehnt die Senkung der Körperschaftsteuer ab. Wir fordern die Umwandlung der Gewerbesteuer in eine Gemeindewirtschaftsteuer mit höheren Freigrenzen, aber mit einer breiteren Bemessungsgrundlage.
Eines muss zum Schluss auch gesagt werden: In all den Jahren, in denen Sie regiert haben, haben Sie nur eine Steuersenkung hinbekommen. Sie war für die Hotels.
({20})
Im Gegenzug gab es eine Spende von Mövenpick. Das haben sich die Menschen in Deutschland gemerkt.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Danyal Bayaz, Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Direkt an die Adresse der FDP: Sie haben vor der Wahl in Thüringen für Ostdeutschland das Ende des Soli versprochen bzw. dafür geworben, Sie haben für eine niedrige Körperschaftsteuer für den Osten geworben. Letzte Woche haben wir an gleicher Stelle über die stagnierende Konjunktur gesprochen. Ihre Antwort war: Soli abschaffen, Körperschaftsteuer senken. – Heute reden wir über die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Der Vorschlag der FDP – Achtung: Überraschung! –: Körperschaftsteuer senken, Gewerbesteuer abschaffen.
Meine Damen und Herren, es ist sicherlich einfach, auf viele Fragen immer dieselbe Antwort zu haben, aber, ich glaube, für den Standort Deutschland und für den Erhalt unserer Wettbewerbsfähigkeit brauchen wir intellektuell komplexere Antworten als Steuersenkungen in zweistelliger Milliardenhöhe.
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Sie haben das Beispiel der Amerikaner angeführt, Herr Toncar. Schauen wir uns die US-Steuerreform an! Was hat sie zur Folge? Eine massive Erhöhung der Staatsverschuldung! Wir sehen Rekordwerte bei Aktienrückkaufprogrammen amerikanischer Unternehmen. Warum? Weil sie nicht wissen, wohin mit ihrem Geld.
Ich übersetze das mal: Die öffentliche Hand verschuldet sich dafür, dass Gewinne von Unternehmen steigen. Aber kein einziger Blue-Collar-Job, den Donald Trump versprochen hat, ist deswegen nach Detroit oder in eine andere Region der Vereinigten Staaten zurückgekommen, meine Damen und Herren.
({1})
Aktionismus steigert nicht die Wettbewerbsfähigkeit, sie steigert nicht die Produktivität, sie führt zu Mitnahmeeffekten.
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Ich habe nichts gegen Steuervergünstigungen, aber wenn wir darüber sprechen, lassen Sie uns schauen, wie wir sie klug auf den Weg bringen können. Was sind denn die großen Herausforderungen, vor denen wir stehen? Wir reden über digitalen Wandel, wir reden über die Klimakrise, und wir reden über eine drohende Rezession. Wenn wir uns darauf einigen könnten, dann lassen Sie uns jeweils schauen: Was können wir für jeden dieser Punkte machen, um darauf zielgerichtet antworten zu können?
Bei der Steuerpolitik der FDP bezüglich der Klimakrise – das muss man ganz ehrlich sagen – sehe ich eine Leerstelle. Dabei können wir gerade hier positive Effekte erzielen. Lassen Sie uns beispielsweise über Investitionen in CO2-arme Industrieprozesse und damit verbundene Sonderabschreibungsmöglichkeiten sprechen.
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Lassen Sie uns über einen ehrlichen CO2-Preis sprechen, der wirklich dazu führt, dass unternehmerische Investitionen in Klimaschutz angeregt werden. Machen wir noch mehr Unternehmen zum Partner beim Erreichen der Pariser Klimaziele. Viele Unternehmen, viele Start-ups sind da weiter als Sie. Ich empfehle einen Blick in den KfW-Gründungsmonitor, der letzte Woche veröffentlicht wurde.
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Zum Thema Digitalisierung machen Sie im vorliegenden Antrag gute Vorschläge. Lassen Sie uns darüber sprechen. Wir sind uns hier einig – zumindest FDP und Grüne –, dass wir gerade beim Thema Digitalisierung den Anschluss verpassen. Eine bessere Abschreibungsmöglichkeit für digitale Wirtschaftsgüter steht im Koalitionsvertrag, aber wenn man sich die Halbzeitbilanz anschaut, stellt man leider fest, dass diese Punkte noch offen sind. Wir sollten hier viel stärker ansetzen, weil das positive Effekte auf die Konjunktur entfalten würde. Egal ob wir über Klima oder über Digitalisierung sprechen: Dadurch würden genau dort private Investitionen angereizt werden, wo wir heute Nachholbedarf haben. Das ist das, was wir brauchen, und keine pauschalen Steuersenkungen.
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Wir haben es heute schon ein paarmal gehört: Steuerpolitik ist nur ein Baustein für den zukünftigen Erfolg unserer Wirtschaft. Das müssen wir immer wieder betonen. Tesla hat sich gerade für den Standort Deutschland entschieden. Warum? Unter anderem deswegen, weil wir topausgebildete Ingenieurinnen und Ingenieure haben. Auf der anderen Seite sehen wir gerade, dass Adidas eine sogenannte Speedfactory von Herzogenaurach in Bayern nach Asien verlagert hat.
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Das ist normaler Strukturwandel in einer globalen Wirtschaft. Aber es lohnt sich, zu fragen: Warum passiert das eigentlich? Ich denke, mit Unternehmensteuer hat das erst mal wenig zu tun.
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Vielmehr geht es um ein Thema, dass das Jahresgutachten der Wirtschaftsweisen letzte Woche sehr stark thematisiert – ich finde, darüber müssen wir viel intensiver sprechen –, nämlich um Strukturwandel.
Es ist gut, dass wir auch in diesem Haus wieder selbstbewusst über Industriepolitik sprechen, über eine Industriepolitik, die Akteuren am Markt die Rahmenbedingungen bietet, um mehr Dynamik und mehr Wettbewerbsfähigkeit zu entfalten. Die Wirtschaftsweisen betonen in diesem Zusammenhang vor allem einen Punkt – ich denke, das ist auch ganz wichtig –: die Bedeutung von Unternehmensgründungen. Herr Toncar, genau da sollten wir auch ansetzen. Wir sollten uns fragen: Wie können wir Unternehmensgründungen beispielsweise steuerlich fördern? Wie können wir steuerlich gezielt dafür sorgen, dass wir mehr Wagniskapital bekommen? Wie können wir die Verlustvorträge für Unternehmen besser gestalten? Wie können wir beispielsweise eine steuerliche Förderung – auch damit beschäftigen Sie sich – für die Mitarbeiterbeteiligung auf den Weg bringen? Eine gute Industriepolitik schützt nicht das Alte, sondern sie hilft dem Neuen beim Wachsen. Darum geht es.
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Wir sind auf dem Weg hin zu einer sogenannten Wissensökonomie. In diesem Industriestandort hat Hardware zwar weiterhin eine wichtige Bedeutung, aber die Frage ist: Schaffen wir es mit Hardware in moderne, vernetzte und digitale Wertschöpfungsketten vorzudringen? Eine kluge Industriepolitik setzt vor allem auch auf die Stärkung von Forschung und Innovation. Wir haben hier letzte Woche über das steuerliche Instrument der Forschungsförderung gesprochen und sie auch beschlossen. Wir haben leider die Chance verpasst, bei der Forschung mit größtmöglicher Zielgenauigkeit genau dort anzusetzen, wo sie am meisten bewirkt, nämlich bei den kleinen und mittleren Unternehmen. Deswegen haben wir viel stärker die Verantwortung, in Zukunft darauf zu achten, dass mit den Steuergeldern sorgsam umgegangen wird und dass sie dort eingesetzt werden, wo sie die größtmögliche Wirkung entfalten.
Es ist nach wie vor richtig, der Staatsverschuldung Grenzen zu setzen. Aber wenn der Staat aufgrund falscher Prioritäten und trotz Überschüssen wichtige Zukunftsinvestitionen in nachhaltige Mobilität, in künstliche Intelligenz, in die europäische Cloud usw. nicht hinbekommt und wir auf das alles verzichten, dann ist das nicht links oder rechts, sondern ökonomisch verheerend. Da steht uns natürlich das Dogma der schwarzen Null im Weg.
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Deswegen wäre es richtig, Herr Toncar: Wenn wir über Wettbewerbsfähigkeit sprechen, dann müssen wir auch darüber sprechen, wie wir gute Voraussetzungen für die Wirtschaft, die sie selbst gar nicht garantieren kann, schaffen, dass wir sie auf Vordermann bringen, das heißt staatliche Investitionen in Infrastruktur, in Forschung und in Nachhaltigkeit, das heißt, steuerliche Anreize dort zu setzen, wo sie möglichst eine breite Wirkung haben.
({10})
Wenn wir das machen, dann bin ich zuversichtlich, dass wir 2030 zurückschauen und sagen: Ja, das waren zehn gute Jahre für Deutschland und für Europa.
Herzlichen Dank.
({11})
Für die SPD-Fraktion hat das Wort die Kollegin Cansel Kiziltepe.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt einen Punkt, auf den können wir uns bei der FDP immer verlassen. Egal was passiert, egal wie die Faktenlage ist oder ob die Welt untergeht – die FDP kämpft stets für pauschale Steuersenkungen für ihre Klientel; sie stottert sich heute hier etwas ab. Das ist ziemlich durchschaubar, und das tragen wir nicht mit.
({0})
Der Punkt ist doch, dass Sie mit Ihrer Forderung nach Steuersenkungen völlig am Problem vorbeidiskutieren. Das Problem ist nicht, dass die Steuerbeiträge zu hoch sind; sonst wären wir nicht wiederholt Exportweltmeister. Nein, unser Problem ist, dass einige ihren fairen Beitrag leisten und andere sich mit allen Mitteln darum drücken. Uns muss es doch hier darum gehen, diese Ungerechtigkeit zu beheben, nicht mehr und nicht weniger.
({1})
Zu denen, die ihren fairen Beitrag leisten, gehören insbesondere kleine und mittelständige Unternehmen in diesem Land. Sie tragen mit ihren Steuerbeiträgen dazu bei, dass wir gesamtwirtschaftlich gut dastehen.
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Zu der zweiten Gruppe gehören die ganz großen: Zahlreiche multinationale Konzerne bedienen sich schamlos jedes Steuerschlupflochs.
({3})
Mithilfe einer Armee von Beratern wird jede mehr oder weniger legale Lücke in unserem Steuerrecht gesucht. Schätzungsweise 40 Prozent aller Gewinne multinationaler Unternehmen werden deswegen in Steueroasen verschoben. Und alles, was der FDP dazu einfällt, ist, weitere Steuersenkungen zu fordern und den Steuerwettbewerb nach unten weiter anzuheizen. Das kann doch nicht Ihr ernst sein.
({4})
Mit keinem Wort erwähnen Sie, Herr Kollege Toncar, die gewaltigen Steuerschlupflöcher, die sich einige Unternehmen zunutze machen.
({5})
Ich wünschte mir, wir würden in der Geschichte einmal einen FDP-Antrag zu diesem Thema diskutieren.
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Wenn Sie nicht mehr weiterwissen, dann fragen Sie doch einfach die Menschen in diesem Land, was sie wollen:
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eine faire Besteuerung oder FDP-Steuergeschenke für die Wohlhabenden? Ich kann Ihnen die Antwort direkt sagen: Ihre Vorschläge sind es nicht; denn was wir wirklich brauchen, sind Steuerregeln, die auch für die großen Unternehmen gelten, für die GAFAs dieser Welt. Dafür brauchen wir eine effektive Mindestbestbesteuerung, ein konsequentes Vorgehen gegen Gewinnkleinrechnerei und einen Ausbau der internationalen Steuerkooperation. Dafür stehen wir als SPD.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, Sie sollten vielleicht einmal wieder heraus aus ihrer Lobbyblase und mit echten Unternehmen reden. Dann würden Sie nämlich merken: Die Höhe der Steuern sind nicht das Problem Nummer eins am Standort Deutschland. Es sind die fehlenden Fachkräfte, es sind die abflauende Wirtschaftsleistung und die schleppende Digitalisierung des Standorts Deutschland.
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Wenn wir bei diesen Faktoren im Standortwettbewerb bestehen wollen, brauchen wir einen finanziell solide aufgestellten Staat.
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Dafür sollen die Unternehmen, die auch davon profitieren, ihren Beitrag leisten. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Der nächste Redner für die AfD-Fraktion ist der Kollege Kay Gottschalk.
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Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Liebe Bürgerinnen und Bürger! Herr Binding, zu Ihrem Lob – und auch zu dem von Herrn De Masi –, dass Tesla nach Berlin kommen will: Ich will das nicht zu früh feiern. Vielleicht dauert der Bau wieder 12, 15 Jahre wie beim Flughafen, und wir haben dann schon den Wasserstoffantrieb. Dann wäre das eine Investitionsruine. Rot-Rot schafft eben keine Arbeitsplätze, sondern vernichtet welche. Das werde ich gleich darlegen.
({0})
Wir besprechen heute den von der FDP eingebrachten Antrag. Aber zuvor an dieser Stelle ein bisschen Nachhilfe für den Kollegen Dr. Bayaz: Wenn Sie in Amerika gewesen wären, dann wüssten Sie, dass die über 5 300 deutschen Unternehmen vor Ort – auch aufgrund der dortigen Steuerreform – über 700 000 Arbeitsplätze in Amerika geschaffen haben und ein Investitionsvolumen von 409 Milliarden Euro im letzten Jahr hatten, und das bestimmt nicht, weil die Vereinigten Staaten steuerlich so unattraktiv sind. Schauen Sie sich hingegen die Bilanz der schönen Bundesrepublik Deutschland an, merken Sie: Die fällt ganz anders aus.
Frau Kiziltepe, zu dem, was Sie hier bejammern: Fangen Sie doch einfach in Ihrer so abgefeierten EU an. Sie ist laut EU-Bericht jedes Jahr für 825 Milliarden Euro Steuervermeidung und ‑hinterziehung – das entspricht fast dem Target2-Saldo – verantwortlich. Bevor Sie also weltweit anfangen, fangen Sie doch erst einmal an, das zerrüttete Haus Europa zu bestellen,
({1})
statt der Zahlmeister für Europa und die Welt zu sein. Das zahlen nämlich auch die deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
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Kommen wir aber zur Debatte.
({3})
Laut IfM-Institut – das gehört alles zusammen; da brauchen Sie gar nicht so zu lachen, das sollte man den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern vielleicht auch einmal vorführen -
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sind 99,3 Prozent der deutschen Unternehmen im sogenannten deutschen Mittelstand, also als KMU, tätig. 39,4 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land sind dort beschäftigt.
({5})
Liebe Kollegen der GroKo oder der nicht mehr ganz so großen GroKo – je nachdem, wie man es sieht –, anstatt über weitere Steuerarten wie beispielsweise die Luftverkehrsteuer nachzudenken, könnten wir hier im Deutschen Bundestag doch tatsächlich einmal den Weg der FDP einschlagen und darüber nachdenken, wie man den Gürtel enger schnallen kann, also bei der Ausgabenseite anzufangen. Mir würden viele Ausgaben einfallen, an die wir zusammen herangehen könnten. Ich zeige Ihnen einmal das Ergebnis Ihrer Arbeit, Ihrer tollen Unternehmensfinanzpolitik und ‑besteuerung in diesem Bereich in den letzten Jahren. Ich zeige Ihnen, wie viele Stellen in den Unternehmen schon abgebaut wurden und noch abbaut werden – das sind alles Arbeitsplätze, das können Sie sich anschauen, die offiziellen Zahlen –:
({6})
BASF 6 000, Bayer 12 000, BMW 10 000, Continental 15 000, thyssenkrupp 4 000, Kaufhof 2 600, Deutsche Bank 18 000, Bosch, klassischer Mittelstand, 15 000 usw. – Ich könnte das fortsetzen. In der Summe sind das 151 510 Arbeitsplätze, die aufgrund Ihrer desolaten Politik verloren gegangen sind.
({7})
Dafür sollten Sie sich vielleicht einmal schämen. Sie sollten anfangen, etwas dagegen zu tun. – Da brauchen Sie auf der linken Seite des Hauses gar nicht zu schimpfen. Es ist, wie es ist.
Deshalb sind wir für den FDP-Antrag. Wir sind dafür, mit Ihnen darüber zu diskutieren: Was ist an dieser Stelle diskussionswürdig? Was kann man zusammen machen? – Aber statt dass Sie diesen echten, ernsthaften Aufschlag im Finanzausschuss wahrnehmen, antwortet die Union auf diesen Antrag – das ist eigentlich der Gipfel der Unverschämtheit; mit Erlaubnis des Präsidenten möchte ich die Stellungnahme der CDU/CSU zu diesen Antrag zitieren; das ist schon nicht mehr zu überbieten –:
Es sei wichtig, im verschärften internationalen Steuerwettbewerb konkurrenzfähig zu bleiben. Die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft müsse auch im Bereich der Unternehmensbesteuerung gestärkt werden. Ziel müsse es sein, dass die Belastung nicht entnommener Gewinne, die im Unternehmen verbleiben würden, auf maximal 25 Prozent begrenzt werde.
Punkt.
({8})
Und was machen Sie hier? Sie diskutieren es nicht einmal, machen einen in der Sache durchaus diskussionswürdigen Antrag lächerlich.
Meine Damen und Herren von der CDU, wenn Sie wirklich Unternehmenspolitik machen wollen, dann schauen Sie nach rechts von Ihrer Fraktion. Das können Sie mit unserer Fraktion – da sitzen vernünftige Wirtschaftsfachleute –,
({9})
das können Sie mit der FDP und mit Ihren Leuten machen; aber Sie glauben doch nicht ernsthaft, mit denen dort drüben, links, Unternehmenspolitik gestalten zu können.
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Lassen Sie Ihren Worten auch Taten folgen – die Worte sind ja schön; ich habe Sie eben zitiert –; denn – Sie kennen den berühmten Spruch –: An ihren Taten sollt ihr sie erkennen.
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Meine Damen und Herren, auch wenn die GroKo sich gerne selbst Zeugnisse ausstellt, muss ich Ihnen an dieser Stelle eine glatte Sechs verpassen. Gehen Sie mit uns offen in den Dialog.
Herr Kollege.
Das werden wir mit der FDP auch tun. Aber diese Nummer lassen wir Ihnen hier nicht durchgehen.
Danke schön.
Der nächste Redner: der Kollege Sebastian Brehm, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es freut mich sehr, liebe Kollegen von der FDP, dass Sie das Thema „Modernisierung der Unternehmensbesteuerung“ heute auf die Tagesordnung gesetzt haben. Das bietet uns als CDU/CSU-Fraktion Gelegenheit,
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unser Konzept, welches ich zusammen mit meinem lieben Kollegen Fritz Güntzler seit Sommer 2018 erarbeitet habe, welches übrigens einstimmig in der CDU/CSU-Fraktion beschlossen wurde, vorzustellen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, wir haben da schon noch ein bisschen Diskussionsbedarf, wie man an den heutigen Redebeiträgen sieht, aber ich bin mir sicher, dass wir uns da ein Stück weit annähern.
Herr Gottschalk, wenn Sie schon aus dem Papier zitieren, dann sagen Sie auch, dass das Papier beschlossen ist. Wer so zitiert, der muss auch einmal nachlesen, was da steht, und darf uns nicht irgendwelche falschen Vorwürfe machen. Also wenn, dann bitte auch lesen. Lesen bildet, das würde nicht schaden.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, dass Sie die Meinungsführerschaft für sich proklamieren, ist schon dreist; das muss ich sagen. Wenn man bei diesem Thema punkten will, dann sollte man früher aufstehen. Sie haben das in dieser Legislaturperiode leider ein Stück weit verschlafen.
Mein Kollege Fritz Güntzler und ich sind seit Mitte 2018 mit diesem Thema in ganz Deutschland unterwegs gewesen. Wir haben mit allen potenziellen Beteiligten über unsere Vorstellungen diskutiert, mit den Steuerausschüssen der Verbände, der IHK, des BDI, des DIHK, mit Vertretern aus den Bereichen Maschinenbau, Automobilindustrie und vielen, vielen mehr, aber auch mit der Steuerberaterkammer, der Wirtschaftsprüferkammer, der MIT, der Mittelstands-Union Bayern und natürlich auch mit vielen Unternehmerinnen und Unternehmern und auch mit der Steuerverwaltung.
Aus diesen vielen Diskussionen sind gute Vorschläge in ein umfangreiches Gesamtkonzept eingeflossen. Dieses Gesamtkonzept, welches ich Ihnen gleich vorstelle, haben wir in einem ersten Presseaufschlag am 1. Februar 2019 – ich habe es Ihnen mitgebracht – in der „Wirtschaftswoche“ vorgestellt,
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in der darauffolgenden Woche in der „FAZ“ und dann in vielen anderen überregionalen Medien. Zwei Wochen danach, am 19. Februar 2019, kommen Sie mit Ihrem Antrag, ein bisschen hektisch. Das ist ein Grobkonzept. Sie haben alles so ein bisschen zusammengefasst, es ist teilweise sogar wortgleich von uns übernommen; leider haben Sie einige wesentliche Punkte von uns vergessen. Also, sich hierhinzustellen und zu sagen, das sei aus Ihrer Gedankenwelt entstanden, ist unrichtig. Ich will das bloß am Rande einmal erwähnen.
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Wir haben unser Konzept in drei Fachgesprächen hier im Bundestag mit Vertretern international tätiger Unternehmen, mit Vertretern des deutschen Mittelstandes und des Handwerks, mit Vertretern der Verbände und der Finanzverwaltung diskutiert. Dann haben wir ein durchdachtes Konzept fertiggestellt. Das ist keine hektische oder unsystematische Zusammenstellung oder, wie der Kollege Güntzler gesagt hat, ein steuerpolitischer Schrotschuss. Wir haben ein richtiges Konzept erstellt.
Sie haben recht, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass seit der letzten großen Unternehmensteuerreform vor elf Jahren wenig in dieser Richtung passiert ist.
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Die internationalen Rahmenbedingungen haben sich geändert. International wurden die Steuersätze deutlich gesenkt. Einige Länder haben umfangreiche Reformen beschlossen und setzen die gerade um. Deutschland ist im Bereich der Unternehmensbesteuerung zu einem Hochsteuerland geworden; das zeigen übrigens auch alle Studien der OECD.
Um international wettbewerbsfähig bleiben zu können und den Standort zu stärken – das muss ja unser Ziel sein –, ist es aus Sicht der CDU/CSU dringend notwendig, eine Modernisierung der Unternehmensbesteuerung in Deutschland durchzuführen, und zwar, lieber Kollege Binding, nicht irgendwann, sondern jetzt ist der richtige Augenblick. Steuerpolitik ist eben auch Standortpolitik, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Wenn wir hier nicht reagieren, dann wird darunter die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft leiden. Wir haben große Herausforderungen vor uns: Globalisierung, Digitalisierung, aber auch der bevorstehende EU-Austritt des Vereinigten Königreichs beschäftigen die deutsche Wirtschaft. Wir wollen der deutschen Wirtschaft hier ein verlässlicher Partner sein und sie begleiten. Deswegen haben wir in unserem Papier drei wichtige Punkte beschlossen: Erstens: Wettbewerbsfähigkeit stärken. Zweitens: Bürokratie abbauen. Und drittens: Strukturen verbessern.
Was meinen wir damit? Wenn wir die Wettbewerbsfähigkeit stärken wollen, dann müssen wir die Steuersätze für deutsche Unternehmen senken, aber nur für nicht entnommene Gewinne, also für thesaurierte Gewinne – dies ist ein deutlicher Unterschied –; denn dadurch erhalten die deutschen Unternehmen die notwendige Liquidität, um die anstehenden Aufgaben umzusetzen und die notwendigen Investitionen durchzuführen.
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Deshalb fordern wir eine Begrenzung der Unternehmensbesteuerung für nicht entnommene Gewinne auf 25 Prozent, sowohl für Kapitalgesellschaften als auch für Personengesellschaften. Derzeit liegt die Steuerbelastung bei Kapitalgesellschaften bei rund 32 Prozent. In der vor elf Jahren durchgeführten Steuerreform haben wir in der Gesetzesbegründung gesagt, dass die Unternehmensbesteuerung in Deutschland 30 Prozent nicht überschreiten darf. Aufgrund der Veränderung der kommunalen Hebesätze sind wir inzwischen aber bei 32 Prozent. Das ursprüngliche Ziel war richtig. Das müssen wir wieder einhalten.
Bei den Personengesellschaften haben wir derzeit sogar eine Besteuerung von 42 oder 45 Prozent im Spitzensteuersatz zuzüglich Solidaritätszuschlag und teilweise zuzüglich nicht anrechenbarer Gewerbesteuer. Das muss man einfach so sehen. Hier wurde vor zehn Jahren eine begünstigte Thesaurierungsbesteuerung eingeführt – § 34a EStG –, in Höhe von 28,25 Prozent; aber leider ist das viel zu kompliziert, sodass dieser Paragraf kaum zur Anwendung kommt. Deswegen müssen wir hier gegensteuern.
Es ist dringend notwendig, dass wir die richtigen Grundgedanken von damals – die Beschränkung auf 30 Prozent und die begünstigte Thesaurierungsbesteuerung – auf heute und jetzt transferieren und an die aktuellen Entwicklungen anpassen. Wie bekommen wir eine 25-prozentige Deckelung hin? Hier gibt es maßgebliche Schritte, die wir Stück für Stück umsetzen müssen.
In der zweiten Stufe – darüber haben wir eben schon gesprochen – muss der Ausstieg aus dem Solidaritätszuschlag auch für Kapitalgesellschaften, für Personengesellschaften und für Spitzenverdiener folgen. Das ist selbstverständlich. Das haben wir unter dem vorangegangenen Tagesordnungspunkt schon angesprochen.
Wichtig ist aber auch die vollständige Anrechnung der Gewerbesteuer auf die Einkommensteuer. Derzeit wird das 3,8-Fache des Gewerbesteuermessbetrages angerechnet. Das bedeutet, dass bei einem Gewerbesteuerhebesatz von 390 Prozentpunkten die Gewerbesteuer bei Personengesellschaften und Einzelunternehmen voll auf die Einkommensteuer angerechnet wird.
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- 390 bis 400 Punkte. – Das war das damalige Ziel. Wenn wir aber das damalige Ziel im Auge haben und die heutigen Gewerbesteuerhebesätze anschauen, dann muss man sagen: Es kommt jetzt zu einer Doppelbesteuerung. Deswegen müssen wir wieder die vollständige Anrechnung der Gewerbesteuer auf die Einkommensteuer bei Personengesellschaften und Einzelunternehmen ermöglichen und einen Einstieg in die Anrechnung auch bei der Körperschaftsteuer schaffen.
Wir stehen klar für die Gewerbesteuer, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich war selbst lange Jahre Fraktionsvorsitzender im Stadtrat unserer schönen Stadt Nürnberg, und ich weiß: Wenn wir die Gewerbesteuer abschaffen würden, würden wir die Kommunen fast in den Bankrott treiben.
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Es gäbe keine Schulen, keine öffentlichen Einrichtungen mehr. Deswegen stehen wir zur Gewerbesteuer; aber sie muss vollständig anrechenbar sein auf die Einkommensteuer, sonst haben wir eine Doppelbelastung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was ist wirklich wichtig bei einer Steuerreform? Das ifo-Institut hat ermittelt, dass bei einer Steuerbelastung von 25 Prozent 14 Prozent mehr Investitionen in unseren Standort getätigt würden. Das würde zu einer Aufkommensneutralität bei der Modernisierung der Unternehmensbesteuerung führen. Insofern können wir diesbezüglich in Gespräche eintreten, weil wir eben eine Gegenfinanzierung auch für diese Unternehmensteuerreform hervorholen.
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Für international tätige Unternehmen, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir dringend etwas tun. Das fehlt in Ihrem Antrag gänzlich. Wir brauchen dringend eine Überarbeitung des Außensteuerrechts. Dieses ist aus dem Jahr 1972. Damals hatten wir bei der Körperschaftsteuer noch eine Belastung von 52 Prozent für die deutschen Unternehmen,
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allerdings mit einer ganz anderen Bemessungsgrundlage; das muss man auch sagen. Im Außensteuergesetz ist definiert – ich will es nicht im Einzelnen ausführen –, dass deutsche Unternehmen, wenn sie in Niedrigsteuerländern investieren – bei einem Steuersatz von unter 25 Prozent wird ein Land als Niedrigsteuerland definiert –, entsprechende Steuern zahlen müssen. Das führt dazu, dass international tätige Unternehmen im Ausland sogar Nachteile haben, und das bei einer exportorientierten Wirtschaft. Hier muss man also dringend nachsteuern.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, für den anderen Bereich, den Bürokratieabbau, ist klar: Wir müssen die Digitalisierung nutzen, die Meldepflichten reduzieren, die Bürokratiebelastung durch Statistiken reduzieren – alles, was Unternehmer an Statistiken ausfüllen müssen, muss weg –, aber auch die Durchführung einer zeitnahen Betriebsprüfung bzw. einer veranlagungsbegleitenden Betriebsprüfung ermöglichen. So haben wir Rechtssicherheit für die deutschen Unternehmerinnen und Unternehmer und haben auch Klarheit, was die Besteuerung betrifft.
Für den letzten Bereich ist klar: Die steuerliche Forschungsförderung ist bereits umgesetzt, die Grenzen für die geringwertigen Wirtschaftsgüter müssen natürlich rauf, die Abschreibungsbedingungen müssen verbessert werden, und die degressive Abschreibung muss wieder kommen. Wir haben ja die degressive Abschreibung mit 50 Prozent für elektrisch betriebene Fahrzeuge für Handwerker im Jahressteuergesetz beschlossen. Und wir haben auch die Grenze für die Istbesteuerung von 500 000 Euro auf 600 000 Euro heraufgesetzt.
Am Schluss noch ein wichtiger Punkt: Es muss auch zu einer fairen Verlustverrechnung kommen. Derzeit werden Verlustvorträge bei der Gewerbesteuer eingeschränkt, zum Beispiel bei Umwandlungen oder in anderen Bereichen. Es ist auch ein Ausdruck steuerlicher Leistungsfähigkeit, wenn wir Verluste, die entstehen, mit Gewinnen verrechnen.
Liebe Kollegen und Kollegen, Deutschland hat eine starke Wirtschaft. Deutschland hat einen starken Mittelstand. Wenn wir das so erhalten wollen, dann muss es unser Ziel sein, jetzt mit der Unternehmensbesteuerung in Deutschland zu beginnen und eine Modernisierung herbeizuführen. Steuerpolitik ist Standortpolitik. Lassen Sie uns das gemeinsam anhand unseres Papiers umsetzen.
Ich danke Ihnen herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Für die FDP-Fraktion hat das Wort die Kollegin Katja Hessel.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich habe mir jetzt mehrmals in dieser Debatte anhören können, dass wir eine Klientelpartei sind.
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Und ich sage: Ja, wir sind die einzige Partei, die sich hier noch für die Mitte einsetzt,
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die eben nicht immer nur versucht, am linken Rand irgendwie noch etwas zu kriegen. Die reflexartigen Antworten beim Thema Unternehmensteuerreform von der von mir aus gesehen linken Seite heißen immer: Steuervermeidung, Steuerkomplexität.
Liebe Frau Kollegin Kiziltepe, der allererste Antrag zum Thema Steuerrecht, den wir hier eingebracht haben, hat sich mit Steuervermeidung und den Panama Papers beschäftigt; da kann ich mich noch entsinnen.
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So viel Ehrlichkeit gehört zur Debatte dazu.
Herr Kollege Dr. Bayaz, ja, wir brauchen eine gerechte CO2-Bepreisung. Da haben Sie uns als Partner an der Seite. Daher haben wir auch dieser Tage gesagt, dass wir das Vorgehen der Bundesregierung noch einmal prüfen möchten.
Herr Kollege Brehm, es ist schön, dass Sie hier in den gesamten zehn Minuten Ihrer Redezeit vorgetragen haben, wie die Vorschläge der Union sind, die im Übrigen
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– weil wir ja immer das Thema Abschreiben haben – in Ihrer Fraktion Anfang November beschlossen worden sind, wenn ich mich nicht täusche. Es waren Pressemitteilungen. Nur so viel zum Thema Ehrlichkeit.
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Und, ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen ein modernes Unternehmensteuerrecht. Wir haben heute schon viel davon gehört, wie der Steuerwettbewerb ist, wie die konjunkturelle Lage ist. Alle, die sich mit Unternehmensteuerrecht und mit der Konjunktur auskennen, wissen auch, dass eine Unternehmensteuerreform sich ganz oft selbst trägt, weil nämlich die Ersparnisse auch wieder hier investiert werden und dadurch wieder mehr Steuern ausgelöst werden.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein. – Wir haben einen Vorschlag mit 20 Punkten gemacht, die man sicherlich noch mit dem einen oder anderen Punkt ergänzen kann. Aber wir machen gerne unsere Punkte auch ordentlich. Dass das Außensteuergesetz reformiert werden muss, wissen wir alle. Auch dazu wird von uns noch etwas kommen.
Die steuerliche Forschungszulage ist inzwischen beschlossen. Als wir unseren Antrag im Februar dieses Jahr eingebracht haben, stand sie noch in weiter Ferne. Dementsprechend ist es schön, dass der Bundesregierung auch etwas gelingt und für Unternehmer auch etwas umgesetzt wird.
Meine lieben Kollegen, wir geben Ihnen heute die Gelegenheit, mit uns dafür zu sorgen, dass Deutschland, dass die Bundesrepublik auch in schwierigen Zeiten und im schwierigen Fahrwasser gut aufgestellt wird und wir unseren Unternehmen die Möglichkeit geben, hier konkurrenzfähig zu sein. Vor allem – auch das muss noch mal gesagt werden – ist ein modernes Unternehmensteuerrecht auch ein Standortvorteil für diesen Wirtschaftsstandort. Hier braucht es dringend eine Reform. Sie haben heute die Möglichkeit, unserem Antrag zuzustimmen.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Hessel. – Der Kollege Dr. Dehm erhält das Wort zu einer Kurzintervention.
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Herr Präsident, ich danke Ihnen. – Ich frage einmal das, was ich gefragt hätte, wenn Sie die Zwischenfrage zugelassen hätten. Ich bin nach Presseberichten einer der wenigen Unternehmer und Selbstständigen im Bundestag und die noch dazu kein Anwalt sind. Wir beschweren uns ja immer, dass die Große Koalition angetreten war, die Mehrwertsteuer nicht zu erhöhen. Die einen hatten erst „1 Prozent mehr“ gesagt. Herausgekommen sind dann die bekannten 3 Prozent mehr. Wann hat aber die FDP jemals in der Zeit, in der sie regiert hat, die Mehrwertsteuer gesenkt und nicht erhöht? Können Sie mir das sagen? Dieses Gift für die mittelständische Wirtschaft haben Sie nie reduziert. Sie haben immer die Mehrwertsteuer erhöht, es sei denn, Sie belegen hier das Gegenteil. Würde mich aber sehr wundern.
Zweite Frage, wenn Sie die Zwischenfrage zugelassen hätten: Wo ist denn jemals ein Verständnis bei Ihren Steuervorstellungen – das trifft übrigens auch für die Steuervorstellungen der Großen Koalition zu – für kleine Unternehmer, für künstlerische Unternehmer, für Erfinder, für solche Leute, die jahrelang arbeiten, forschen, experimentieren, Kosten und
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Verluste machen über sechs, sieben, acht Jahre und dann nur zwei Jahre Verlustvortrag haben, wenn sie ein einziges Mal einen Erfolgssong, eine Erfindung, ein schönes Sachbuch oder künstlerisches Buch mit Gewinn herausbringen? Das heißt, wir Kreative haben auf den einmaligen Gewinn eine Verlustvortragszeit von zwei Jahren. Damit wird man den kleinen und mittelständischen Unternehmern, die kreativ tätig sind in diesem Land, überhaupt nicht gerecht. Da sollten Sie einmal weiterdenken und nicht immer im Interesse der Konzerne.
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Frau Kollegin, wollen Sie darauf antworten?
Lieber Herr Kollege, zu dem Thema der Mehrwertsteuer und deren Senkung für die kleinen und mittleren Unternehmen ist Ihnen vielleicht bewusst, dass die Mehrwertsteuer eine Durchlaufsteuer ist, die vom Endverbraucher getragen wird.
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Somit hätte eine Senkung der Mehrwertsteuer für kleine und mittlere Unternehmen gar nichts gebracht.
Zum zweiten Thema, Verlustvortragsberechnung: Sie wissen, dass ganz viele künstlerische Bereiche der normalen Einkommensteuer unterliegen, nicht der Körperschaftsteuer. Da haben wir auch eine andere Verlustverrechnung mit den Einkünften, die fortgeschrieben wird.
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– Nein. Dementsprechend: Auch da kann ich Ihnen so leider nicht weiterhelfen.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Hessel. – Das Wort hat als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt der Kollege Bernard Daldrup, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die meisten Aspekte sind bereits angesprochen worden, aber einen möchte ich ganz zu Anfang noch erwähnen: Herr Gottschalk, glaube ich, hatte Frau Kiziltepe mit ihrer EU und einen Zettel über Beschäftigte bzw. möglicherweise Entlassungen angesprochen. Ich sage Ihnen: In dieser unserer Europäischen Union hat Deutschland einen Beschäftigtenhöchststand. Das liegt daran, dass es hier eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik, erfolgreiche Unternehmen und ordentliche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gibt.
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Zu dieser Europäischen Union gehören Sie von der AfD mit Ihrem flegelhaften Chauvinismus in der Tat nicht dazu.
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Ansonsten: Es war ja zu erwarten, dass es den Ruf nach einer Unternehmensteuerreform geben würde und danach gewissermaßen der Überbietungswettbewerb „Raceto the bottom“ beginnt, wie heute bereits mehrfach dargestellt wurde, und die FDP die Gunst der Stunde nutzt, um – Herr Brehm hat darauf reagiert – unseren Koalitionspartner ein wenig zu piesacken. Okay, geschenkt, sage ich jetzt einmal, und ob Sie, Frau Hessel, zuerst von ihm abgeschrieben haben oder er von Ihnen, das hilft der deutschen Wirtschaft auch nicht wirklich weiter.
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Das Problem der FDP ist, dass alle seriösen Fraktionen sowohl im Wirtschafts- als auch im Finanzausschuss Ihren Antrag ablehnen. Warum tun sie das? Es hat ein wenig, glaube ich jedenfalls, mit der Konzeptionslosigkeit des Antrages zu tun,
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denn es ist ein wirkliches Sammelsurium, das man mehr so als Arbeitsnachweis gegenüber der Lobby betrachten kann; aber das muss man auch machen.
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Abschaffung der Gewerbesteuer, von steuerfreier Risikoausgleichsrücklage in der Landwirtschaft bis zur Konzernklausel im Grunderwerbsteuerrecht ist die Rede. Es ist alles dabei. Das Letzte begrüße ich übrigens, weil eine solche Klausel zunächst einmal voraussetzt, dass es eine klare Eindämmung bei den Share-Deals gibt, damit Milliarden an Grunderwerbsteuer erst einmal gezahlt werden,
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die bisher über Steuergestaltung eben nicht gezahlt werden. Vielen Dank, und wenn Sie beide das sozusagen voneinander abschreiben, dann kommt sie auf jeden Fall. Wir sind dabei, Herr Brehm. Das machen wir heute fertig.
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Herr Güntzler, Herr Binding und andere haben über die Rahmenbedingungen gesprochen, die in Europa eine Rolle spielen – sehr zu Recht –, über die Frage, wie man denn eigentlich Steuern gestaltet, angefangen von der Gemeinsamen Konsolidierten Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage beispielsweise bis hin zur Frage der Mindestbesteuerung; das möchte ich hier nicht im Einzelnen wiederholen. Aber ich will eine Bemerkung machen, dass ich schon Zweifel an der Ernsthaftigkeit Ihrer Vorschläge zur Gewerbesteuer habe.
Sie wollen die Gewerbesteuer abschaffen, sagen wir einmal, im Moment in einer Größenordnung von round about jährlich 44 Milliarden Euro für die Kommunen. Sie wollen etwas einführen, was es bisher überhaupt nicht gibt – das will auch die CDU/CSU nicht –, nämlich einen Hebesatz bei der Körperschaft- und der Einkommensteuer sowie eine höhere Beteiligung an der Umsatzsteuer.
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Was meinen Sie wohl, was die Kommunen machen, wenn sie Geld brauchen? Sie werden die Hebesätze anheben. Das wird so sein. Andere Verrechnungsmethoden sind überhaupt keine Frage, aber wer die Debatte um die Föderalismusreform noch ein wenig in Erinnerung hat, der weiß, wie weit die FDP bei diesen Fragen von der Wirklichkeit entfernt ist.
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Im Übrigen: Die Kommunen stört es auch, dass die Gewerbesteuerhebesätze zu hoch sind. Wissen Sie, warum sie zu hoch sind? Weil die Grundfinanzierung der Kommunen nicht ausreichend ist, und am Ende dieses Jahres passiert etwas, was für die Kommunen von großer Bedeutung ist: Etwa bis zu 4,1 Milliarden Euro erhöhte Gewerbesteuerumlage für die westdeutschen Kommunen laufen aus, werden nicht mehr erhoben.
Wer problematisiert das eigentlich mit kritischer Absicht? – Richtig, die FDP, die das möglicherweise so nicht will. So entlastet man aber nicht die Kommunen und übrigens auch nicht die Wirtschaft vor Ort. Diese ist für die Kommunen nur dann in hohem Maße interessant, wenn es um Arbeitsplätze und um die Gewerbesteuer geht, und wer das nicht will, der wird ein Desinteresse auf der kommunalen Ebene produzieren. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie so etwas wollen. Ich bin aber dafür, dass wir versuchen sollten, die Gewerbesteuer zu senken. Lassen Sie uns deshalb gemeinsam die Bemessungsgrundlage verbreitern. Lassen Sie uns auch einige Steuerberater und Ärzte einbeziehen, dies hätte eine räumliche Wirkung. Sie sollen das alles mit der Einkommensteuer verrechnen. Sie sollen nicht mehr bezahlen, aber sie würden aber sehr dazu beitragen, dass wir eine vernünftige Verbreiterung haben und dann auch die Gewerbesteuerhebesätze senken könnten. Das wäre ein guter Schritt zu einem modernen Unternehmensteuerrecht.
Danke schön.
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Vielen Dank, Herr Kollege Daldrup von der SPD-Fraktion. – Ich schließe die Aussprache.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir schließen heute ein Gesetzgebungsverfahren ab, das den öffentlichen Gesundheitsschutz in Deutschland weiter stärken wird. Wir reduzieren Ansteckungsrisiken in öffentlichen Einrichtungen, wo jeden Tag viele Menschen auf engstem Raum zusammenkommen. Ich glaube, es gibt eine ethische Verpflichtung, sich an der Masernimpfung zu beteiligen. Mit dem Gesetz stärken wir diese ethische Verpflichtung. Sie bekommt eine neue, auch juristische Verbindlichkeit.
Das parlamentarische Verfahren – dafür danke ich allen Beteiligten – hat erfreuliche Einigkeit zwischen den Fraktionen in einem wichtigen Punkt gezeigt: Gemeinschaftsschutz ist ein hohes öffentliches Gut.
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Drei zentrale Punkte möchte ich an den Anfang stellen.
Erstens. Das Gesetz trägt die Stärkung der Impfprävention im Namen, weil es die Impfangebote, die Impfmöglichkeiten für alle Altersgruppen ausbaut und praktische Hürden dagegen im Alltag senkt. Das Gesetz schließt Impflücken in der gesamten Bevölkerung, auch bei den besonders zu beachtenden jungen Erwachsenen. Es entspricht den Empfehlungen der Ständigen Impfkommission für eine routinemäßige Masernimpfung der Jahrgänge 1970 und aufwärts. Das universelle Impfen auch fachübergreifend durch alle Ärzte und die Stärkung der Betriebsärzte vergrößert die Chancen für gerade bisher ungeimpfte Erwachsene, zu ihrer Impfung zu kommen. Das Gleiche gilt für die im Gesetz neugeschaffene Möglichkeit der Krankenkassen, ihre Versicherten individuell zu informieren, wann eine Impfung ansteht.
Zweitens. Das Gesetz orientiert sich eng an der wissenschaftlichen Impfempfehlung der Ständigen Impfkommission. Diese empfiehlt, die zweite Masernimpfung im Alter von 15 bis 23 Monaten durchzuführen. Mit einer flächendeckenden Impfnachweispflicht in diesen jungen Jahrgängen lässt sich die Gefahr von Ausbrüchen bereits weit vor dem Schulalter reduzieren. Auch Kinder- und Jugendärzte setzen sich stark dafür ein.
Es ist wichtig, noch einmal die Daten der Impfsurveillance der Kassenärztlichen Vereinigungen zur Kenntnis zu nehmen: Nach diesen Daten sind eben 73,9 Prozent der Kinder bis 24 Monate rechtzeitig geimpft. Das heißt im Umkehrschluss: Mehr als ein Viertel ist es nicht. Deswegen gibt es einen Handlungsbedarf.
({1})
Drittens. Es wird nach diesem Gesetz definitiv keine Zwangsimpfung von Kindern oder sonstigen Personen geben.
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Da hat es ja offensichtlich Missverständnisse in der Öffentlichkeit gegeben. Es geht hier um eine Nachweispflicht. Es geht nicht um Zwangsimpfungen. Die gesetzliche Schul- und Unterbringungspflicht bleibt davon unberührt. Das stärkste Mittel sind Bußgelder. Die Durchführung der Schutzimpfung an sich bleibt freiwillig.
Die öffentliche Anhörung des Gesundheitsausschusses hat unterstrichen, wie wichtig starke Maßnahmen zum Schließen vorhandener Impflücken sind. Neben den schon genannten Maßnahmen will ich auf vier weitere Schritte aufmerksam machen.
Erstens. Das Gesetz schafft die rechtlichen Voraussetzungen für eine elektronische Impfdokumentation, auch als Teil der künftigen elektronischen Patientenakte. Damit entsteht die Möglichkeit, nach der Einführung der elektronischen Patientenakte noch einmal über ein digitales Recall-System zu debattieren, das wir beispielsweise bei der Revision des Präventionsgesetzes dann Wirklichkeit werden lassen könnten. Der G-BA wird verpflichtet, die Möglichkeiten zur Dokumentation in den Untersuchungsheften für Kinder auszubauen.
Zweitens. Betriebsärzte, auch solche ohne eigene Kassenzulassung, und der öffentliche Gesundheitsdienst können Vertragsabschlüsse zur Abrechnung von Schutzimpfungen mit den Krankenkassen künftig über ein Schiedsverfahren durchsetzen.
Drittens. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung kann gezielt Zielgruppen bei Impflücken ansprechen.
Viertens. Die fortentwickelte Impfsurveillance beim Robert-Koch-Institut sorgt für eine evidenzbasierte Basis zur Identifizierung solcher Impflücken. Das bedeutet, dass wir besonders dort aktiv werden können, wo weiße Flecken in der Landschaft des Impfschutzes herrschen.
Im parlamentarischen Verfahren hat es noch weitere Änderungen am Gesetzentwurf gegeben: in der Frage der patientennahen Schnelltests für HIV- und Hepatitis-C-Virus und den Erreger der Syphilis, der Frage der Spurensicherung bei sexualisierter Gewalt und anderen Fällen von möglichen Misshandlungen sowie beim Thema Modellversuche für Grippeschutzimpfungen in Apotheken. Wir werden in der Auswertung sehen, ob eher die Bedenken oder eher die Chancen im Vordergrund stehen, und später weiter entscheiden können.
Herr Kollege.
Ich komme zum Ende. – Meine Damen und Herren, ich sage: Mit der Umsetzung der wissenschaftlichen Empfehlungen der Ständigen Impfkommission schützen wir besonders verletzliche Personen, die sich selbst nicht impfen lassen können. Das ist ein Akt gesellschaftlicher Solidarität -
Herr Kollege, kommen Sie zum Ende.
– und Gemeinschaftsschutz für die, die sich das nicht leisten können.
Ich wäre froh, wenn wir in der Debatte über all das in den Reaktionen in manchen Teilen vielleicht zu einem etwas anderen Stil, auch im Netz, finden würden. Das wäre schön. Hier im Bundestag war das der Fall.
Ich bedanke mich und empfehle die Annahme des Gesetzes.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Zum Masernschutzgesetz liegt ein Entschließungsantrag der AfD vor. Es ist erst einmal festzustellen: Impfen ist sehr wichtig. Das ist eine große medizinische und wissenschaftliche Leistung. Ich erwähne nur die Namen Koch, Pasteur und Behring. Die Rettung vor unheimlichen Krankheiten, die die Menschheit betroffen hat, haben wir ihnen zu verdanken.
Wie ist nun der derzeitige Stand der Immunisierung gegen Masern in Deutschland? 97 Prozent aller Kinder werden geimpft. Das heißt, fast 100 Prozent der Eltern lassen ihre Kinder impfen. Unter den 3 Prozent der Kinder, die nicht geimpft werden, sind auch die dabei, die nicht geimpft werden können.
Trotzdem möchte der Gesetzentwurf der Bundesregierung eine Art Impfpflicht einführen. Damit verbunden ist die Notwendigkeit, geimpft zu sein, wenn man bestimmte Einrichtungen besuchen oder nutzen will. Die Regierung behauptet, steigende Zahlen der Erkrankungen würden den Handlungsbedarf notwendig machen. Diese Behauptung ist aufgrund der letzten Zahlen nicht haltbar.
Wir haben Handlungsbedarf, aber, wie eben schon gesagt, bei den Erwachsenen, die jetzt ungefähr 50 Jahre alt sind. Da sind 43 bis 87 Prozent nicht geimpft. Und – auch wenn das viele nicht gern hören – bei den Zuwanderern ist das zu sehen. Dies wird im Jahresbericht der Nationalen Verifizierungskommission bekräftigt, der NAVKO; nachzulesen auf der Internetseite des Robert-Koch-Institutes.
Es gibt auch strittige Meinungen: Wie wird denn nun eigentlich geimpft? Einige sagen: Eine Impfung ist ausreichend. Aber da ich nicht alle erreiche, muss ich zweimal impfen; also, alle die, die ich beim ersten Mal nicht erreicht habe. Dann sagen wieder andere: Zweimal muss geimpft werden, damit die Wirkung überhaupt da ist.
({0})
– Lassen Sie mich erst einmal ausreden. – Das heißt, manche müssen dreimal geimpft werden, weil sie bei der ersten Impfung nicht erreicht wurden, aber an sich muss zweimal geimpft werden. Auch das ist in der Medizin nicht geklärt.
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Es gibt keinen Monoimpfstoff – auch das kritisieren die Impfgegner –, sondern nur Mehrfachimpfungen.
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Der Berufsverband Deutscher Laborärzte schlägt vor, anstatt mehrfach zu impfen, eine serologische Überprüfung durchzuführen, also eine Blutuntersuchung auf Antikörper; das wäre besser. Das ist zum einen für die Kassen billiger, zum anderen muss man nicht mehrfach geimpft werden.
Im Vergleich mit anderen Staaten, meine Damen und Herren, steht Deutschland auch ohne Impfpflicht sehr gut da. Auf 1 Million Menschen gab es bei uns auch ohne Impfpflicht nur 7 Fälle. Im Vergleich dazu gab es in Frankreich 43 Fälle und in Tschechien über 10 Fälle pro 1 Million Menschen, beides Länder mit Impfpflicht. Wir brauchen also eigentlich keinerlei Druck vonseiten des Staates, dass geimpft werden muss.
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Der Prozentsatz der geimpften Kinder – ich habe das eben schon genannt – sagt ja schon aus, dass die Mehrheit der Bevölkerung dem Impfen positiv gegenübersteht. Es ist also nicht notwendig, da etwas zu machen. Aufgebürdete Zwänge und Pflichten erzeugen nur Unmut, Verdruss, Ablehnung und Misstrauen. Das ist eine ganz logische Folge.
Eben wurde schon angesprochen, wo es die Gelegenheit gibt, dass man sich impfen lassen kann. Dahinter stehen wir genauso. Bei den Betriebsärzten, im öffentlichen Dienst, beim Besuch beim Arzt sollte die Aufklärung durchgeführt werden. Wenn wirklich einmal Probleme in einem Land auftauchen sollten, haben wir ja § 20 des Infektionsschutzgesetzes, der ja auch die Einschränkung des Artikels 2 Absatz 2 Grundgesetz, nämlich die körperliche Unversehrtheit, vorsieht. Es gibt also keine Notwendigkeit, hier irgendwie weitere Zwangsmaßnahmen vorzusehen.
Gestern hatte ich ein Gespräch mit einer Ärztin. Sie sagte mir, wenn Pflichtimpfungen durchgeführt werden müssten, wäre aus ihrer Sicht die Beratung eine andere, als wenn diese freiwillig erfolgen würden. Bei einer Überzeugung durch den Arzt, damit sich jemand impfen lässt, ergeben sich viel mehr Informationen, viel mehr Kommunikation, als wenn er sagt: Sie müssen sowieso geimpft werden, stellen Sie sich mal hin, es geht los. – Ich bin der Meinung, man sollte auch über diesen Punkt nachdenken.
Die Ständige Impfkommission gibt ausdrücklich Impfempfehlungen für Asylbewerberunterkünfte heraus. Dort haben wir Handlungsbedarf, meine Damen und Herren. Es fehlt eine systematische Erhebung des Impfstatus bei Asylbewerbern mit einer Gefahr für die Bevölkerung; das stimmt. Ohne Impfnachweis müsste gelten: Diese Person ist nicht geimpft. Wenn es jemand nicht nachweisen kann, gilt er als nicht geimpft, dann muss gehandelt werden. Nebenbei gesagt legt das Robert-Koch-Institut auch dem Personal, das in Flüchtlingsunterkünften arbeitet, eine Impfung nahe.
Zusammengefasst: Die AfD setzt auf Aufklärung, Beratung, Werbung, aber nicht auf Pflicht.
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– Das kriegen Sie doch gar nicht hin! – Wir möchten ein elektronisches Erinnerungssystem. Wir sind strikt gegen eine Pflicht, so wie auch beim Implantatregister oder der Organspende. Es gilt der mündige Bürger mit seinen Bürgerrechten. Das ist die Position der AfD.
Vielen Dank.
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Die nächste Rednerin: die Kollegin Bärbel Bas, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich sage es direkt ganz deutlich: Es ist wichtig, dass wir jetzt diese Art von Impfschutz einführen.
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Ich kann ein Beispiel aus meinem Wahlkreis nennen. 2017 hatten wir 332 Fälle von Masernerkrankung. Es kam zu solch einem Ausbruch, weil es sich um eine hochinfektiöse Erkrankung handelt, die sich sehr schnell verbreitet, gerade in Gemeinschaftseinrichtungen, in Kitas, in Schulen. Einrichtungen mussten übrigens gesperrt werden, mit allem Zipp und Zapp, wie wir so schön sagen. Es ist wichtig – darum geht es doch eigentlich –, die Kinder zu schützen, die Menschen zu schützen, die sich nicht impfen lassen können, weil sie noch zu jung, zu klein sind oder eine Erkrankung haben, die das Immunsystem schwächt. Darum geht es. Das ist ein Akt der Solidarität; der Kollege Henke hat das gesagt. Darauf kommt es uns an. Der Nachweis einer Impfung ist für Gemeinschaftseinrichtungen, für Lehrerinnen und Lehrer, für Erzieherinnen und Erzieher usw. exorbitant wichtig, einfach um alle schützen zu können.
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Es ist ja nicht so, dass wir in der Vergangenheit nicht schon Maßnahmen ergriffen hätten. Natürlich gab es schon Impfkampagnen, um die Menschen aufzuklären. Es ist aber festgestellt worden, dass die Schutzquote, wenn wir alle schützen wollen, in der Bevölkerung relativ hoch sein muss. Da geht es nicht, dass einige sagen, impfen lassen sollten sich andere, man selber beteilige sich nicht daran. Ich finde, das ist nicht der richtige Weg. Deshalb plädieren wir für die Einführung dieser Maßnahme wie auch für die Einführung der Maßnahmen, die im Gesetz noch mitbeschlossen werden, also dass wir weiterhin Impfkampagnen machen, dass wir weiterhin an die Freiwilligkeit appellieren. Ich glaube aber, wir kommen nicht darum herum, diese Maßnahmen zumindest für bestimmte Einrichtungen einzuführen, um diejenigen zu schützen, die wir schützen müssen.
Ein zweiter Punkt – das ist vorhin schon angesprochen worden – betrifft die Maßnahmen, die an diesem Gesetz noch dranhängen. Diese will ich hier nicht unterschlagen. Da der Kollege Henke zum Thema Masern schon eine Menge gesagt hat, will ich auf das Thema vertrauliche Spurensicherung kommen. Das ist für viele wichtig, die Opfer von Gewalt, sexueller Nötigung usw. geworden sind, die vielleicht nicht sofort zur Polizei gehen, sondern erst einmal die Spuren sichern wollen davon, was passiert ist, und sie irgendwo sicher hinterlegen wollen, um sich nach einem Trauma später zu überlegen, vielleicht gegen die Täter vorzugehen. Bisher war es so, dass nur einige Bundesländer diese Kosten übernommen haben. Viele Männer und Frauen, die Opfer wurden, hatten aus finanziellen Gründen oder auch, weil sie im falschen Bundesland leben, nicht die Möglichkeit, diese vertrauliche Spurensicherung in Anspruch zu nehmen. Insofern möchte ich darauf hinweisen, dass mit diesem Gesetz ein ganz wichtiger Punkt geklärt wird. Die Kosten für die vertrauliche Spurensicherung werden jetzt von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen. Ich glaube, auch das ist ein wichtiger Schritt für viele, die Opfer von Gewaltverbrechen geworden sind.
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Der dritte Punkt, der auch in diesem Gesetz behandelt wird, betrifft das Verbot der Werbung für sogenannte Schönheitsoperationen; das ist noch nicht angesprochen worden. Ich will das erwähnen, weil es uns insbesondere um die Jugendlichen geht, denen immer ein bestimmtes Schönheitsideal präsentiert wird. Wir wollen, zumindest Werbung, die sich ganz gezielt an Jugendliche richtet, verbieten.
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Ich hätte mir auch vorstellen können, als SPD-Fraktion sogar noch einen Schritt weiterzugehen und Schönheitsoperationen generell zu verbieten, es also nicht bei einem Werbeverbot zu belassen, wenn die Operation nicht aus medizinischen Gründen notwendig ist.
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Das wäre ein zweiter Schritt gewesen. Den hätte man gehen können. Aber es ist unbenommen, dass wir zu einer solchen Lösung vielleicht irgendwann kommen werden.
Ich bitte Sie, diesem Gesetz zuzustimmen. Angesichts der Maßnahmen, die wir hier treffen, handelt es sich um einen Akt der Solidarität. Wir alle können daran mitwirken, den Masernschutz auszubauen, eine gefährliche Erkrankung, die sogar zum Tode führen kann, damit hoffentlich weitgehend im Griff behalten, wenn nicht sogar ausrotten zu können. Dafür ist dieses Gesetz ein wichtiger Schritt.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Bas. – Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Professor Dr. Andrew Ullmann.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kinderkrankheiten sind keine harmlosen Infektionskrankheiten, sie sind gefährlich und können sogar zum Tod führen. Wir haben kaum Therapien gegen diese Kinderkrankheiten. Es gibt vielmehr nur eine einzige Möglichkeit, dagegen vorzugehen, und das ist die Prävention, und Prävention heißt Impfungen.
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Wir dürfen nicht vergessen: Impfungen sind effektiv, sind sicher, beugen Leid vor und verhindern den Tod. Aber die Kinder können nicht selbst bestimmen, ob sie geimpft werden. Es ist unsere Pflicht, auch von uns im Bundestag, die Schwächsten vor Infektionskrankheiten zu schützen. Das sind Säuglinge und Kinder und die chronisch Kranken, die sich nicht impfen lassen können. Da, finde ich, ist das Impfschutzgesetz richtig und gut.
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Viele haben gesagt, es ginge nur um die Bekämpfung von Masern, einen Impfstoff dazu gäbe es aber gar nicht. Jawohl, das stimmt. Wir haben den großen Vorteil, dass die Kinder, wenn sie gegen Masern geimpft werden, auch einen Impfschutz gegen Röteln und Mumps und eventuell sogar Windpocken haben. Dahin wollen wir, nämlich zu einem Infektionsschutz bei unseren Kindern.
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Herr Spangenberg, heute Morgen haben Sie im „MoMa“ gesagt, wenn ich Sie richtig verstanden habe, dass Impfungen aufgrund von Impfpflicht Körperverletzung seien. Da frage ich mich langsam – darüber kann man rechtlich diskutieren –, ob ein kleiner Piks eine Körperverletzung ist oder ob das nicht vielmehr die Infektion ist mit Leid, möglicherweise mit einer Folgeerkrankung dieser Kinder oder dem Tod. Sie sollten sich einmal überlegen, was wichtiger ist, wenn Sie das nicht durchführen wollen.
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Denn, meine Damen und Herren, bei diesem Gesetz geht es nicht um das Für oder Wider einer Impfung. Eltern werden weiterhin professionell wissenschaftlich aufgeklärt von Ärzten. Ihnen wird erklärt, was da passiert, nicht mehr und nicht weniger. Sollten aber Ärzte falsch aufklären, da sind die Ärztekammern in der Pflicht. Sie müssen handeln, wenn falsche Aufklärung stattfindet.
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Impfungen funktionieren und sind sicher; das dürfen wir nicht vergessen.
Diese Debatte hätten wir uns eigentlich sparen können. Warum? Weil die Situation besser wäre, wenn in den vergangenen Jahren auf Länderebene, aber auch auf Bundesebene nicht geschlampt worden wäre.
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Beim Öffentlichen Gesundheitsdienst ist einiges kaputtgespart worden. Wir hätten bereits heute oder auch in der Vergangenheit die Möglichkeit gehabt, für Impfungen der Kinder in den Kitas und in den Schulen zu sorgen.
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Da hat ein Versäumnis stattgefunden. Deswegen stehen wir hier und debattieren ein Masernimpfgesetz.
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Nicht alles ist gut in diesem Gesetzentwurf. Herr Spahn weiß das, und die Kollegen im Gesundheitsausschuss wissen das; das haben wir auch diskutiert. Das Gesetz belastet die Menschen, die mit den Kindern in Kindertagesstätten und Schulen umgehen; denn ihnen wird eine Dokumentationsbürokratie aufgebürdet. Was ich noch viel schlimmer finde: Diese Menschen müssen sich dann letztendlich mit widerborstigen Eltern auseinandersetzen, die Impfgegner sind. Da müsste es eine Entlastung geben. Das ist ein Fehler in diesem Gesetzentwurf. Aber vielleicht kann man ihn in einem zweiten Teil korrigieren.
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– Danke.
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– Ich habe mich gefreut, dass die Kollegin von den Grünen applaudiert hat.
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– Sehr gut. Weiter so!
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Es darf fraktionsübergreifend applaudiert werden; das ist erlaubt.
Ja, danke. – Ich muss jetzt Gas geben; sonst geht es hier nicht voran.
Die FDP-Fraktion setzt sich dafür ein, dass Impfungen, die von der STIKO für Kinder empfohlen werden, durchgesetzt werden. Wir setzen uns auch für Modellprojekte ein, die über das hinausgehen, was die Große Koalition vorschlägt. Wir können auch weitere Heilberufe einbeziehen. Wir setzen uns auch für ein automatisiertes, digitales System mit Erinnerungsfunktion ein. Das hätte übrigens in der letzten Wahlperiode schon längst passieren können; aber da wollen wir nicht so kleinlich sein.
Meine Damen und Herren, mit diesen Maßnahmen können wir – weiterhin auf freiwilliger und eigenverantwortlicher, aber wissenschaftlich fundierter Basis – die WHO-Impfquote von 95 Prozent erreichen. Doch wir wollen es noch besser machen, für unsere Kinder. Dieser Gesetzentwurf leistet einen wichtigen Beitrag zum Schutze unserer Kinder. Und trotz aller Unvollkommenheit wird die FDP-Fraktion diesem Gesetzentwurf zustimmen.
Herzlichen Dank.
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Die nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch, Fraktion Die Linke.
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Vielen Dank, Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Impfen ist wichtig, und ich bin, wie auch mein Vorredner, eine überzeugte Impfbefürworterin. Das verbindet mich übrigens mit Elvis Presley.
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1956 ließ sich Elvis Presley öffentlichkeitswirksam vor einem Auftritt gegen Polio impfen. Innerhalb von wenigen Monaten folgten Hunderttausende Jugendliche in den USA seinem Beispiel. Ich glaube, wir brauchen Vorbilder,
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und ich frage mich, ob Herr Spahn wirklich dieses Vorbild ist.
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Wir wissen, Herr Spahn, dass Sie nicht Elvis Presley sind. Aber eine etwas kreativere Öffentlichkeitsarbeit würden wir uns schon von Ihnen wünschen, Herr Minister.
Wer sich einer Impfung gegen Masern verweigert, setzt nicht nur seine eigene Gesundheit – einige Kollegen vor mir sagten das schon – einer erheblichen Gefahr aus, sondern erhöht auch das Infektionsrisiko für andere Menschen, die zum Beispiel aufgrund ihres Alters oder ihrer besonderen gesundheitlichen Einschränkung nicht geimpft werden können. Das ist unsolidarisch, und das können wir nicht akzeptieren.
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Der Barmer-Arzeimittelreport sagt uns, dass in Sachsen-Anhalt zum Beispiel jedes fünfte Kind, das seit 2015 geboren wurde, nicht oder nur unvollständig gegen Masern geimpft wurde. Ich finde, das ist besorgniserregend, und da muss gehandelt werden.
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87 Prozent der Deutschen befürworten eine Impfpflicht für Krippen- und Kindergartenkinder. Eine Impfpflicht für Erwachsene finden nur 39 Prozent gut. Nun hat der Gesundheitsminister einen Gesetzentwurf zum Schutz vor Masern in den Bundestag eingebracht. Er verweist völlig zu Recht darauf, dass die WHO, die Weltgesundheitsorganisation, Deutschland als ein Land mit einheimischer Masernverbreitung eingestuft hat.
Unsere Fraktion hat allerdings auch Kritik an dem Gesetzentwurf, weil er nämlich gravierende Missstände – Kollege Ullmann hat bereits einige benannt – in unserem Gesundheitssystem verdeckt, statt sie offensiv anzugehen.
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Erstens. Der Öffentliche Gesundheitsdienst wurde kaputtgespart. Konzertierte Impfaktionen in Schulen, Kindergärten, Betriebs- und Ausbildungsstätten sowie stationären Einrichtungen, wie es sie früher in West und Ost gab, finden häufig nicht mehr statt.
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Zweitens. Ärztinnen und Ärzte erhalten keine wirksamen Anreize, den Impfstatus, insbesondere auch den der Erwachsenen, flächendeckend zu überprüfen und fehlende Impfungen zu ergänzen. Betriebs- und Fachärzten wird es schwergemacht, Impfungen durchzuführen und abzurechnen. Das muss sich ändern, meine Damen und Herren.
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Ich möchte einige Forderungen der Linken zusammenfassen:
Erstens. Der Öffentliche Gesundheitsdienst muss personell, finanziell und materiell gestärkt werden. Die schwarze Null ist die schlechteste Medizin für die öffentliche Gesundheit, also müssen wir das ändern, meine Damen und Herren.
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Zweitens. In Kindertagesstätten, Schulen, Behindertenwohnstätten, aber auch in Pflegeheimen und anderen Heimunterbringungsformen müssen empfohlene Impfungen regelmäßig als Reihenimpfung durch den Öffentlichen Gesundheitsdienst angeboten werden. Wie sollen die Menschen sie sonst erhalten?
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Drittens. Der Öffentliche Gesundheitsdienst soll in Kooperation mit Unternehmen Impfaktionen am Arbeitsplatz anbieten. Alle Betriebsärztinnen und Betriebsärzte sollen die Möglichkeit erhalten, auf Kassenkosten den Impfstatus zu erheben, empfohlene Impfungen durchzuführen und unbürokratisch abzurechnen. Das wäre der richtige Weg, meine Damen und Herren.
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Viertens. Wir fordern eine Impfpflicht für Personal in Gesundheits- und Gemeinschaftseinrichtungen.
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Weiterhin müssen auf Wunsch alle Versicherten einen Impfpass im heute schon erhältlichen Medikationsplan und spätestens ab 1. Januar 2021 in der elektronischen Patientenakte erhalten.
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Wir wollen, dass die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung viel mehr tut, um über Impfungen aufzuklären.
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Und wir wollen, dass das Gesetz nach zwei Jahren auf seine Wirksamkeit überprüft wird.
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– Ich würde auch nicht so beleidigt dazwischenrufen. Ich habe doch Positives zu Ihrem Gesetzentwurf gesagt. Was soll denn das?
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Noch eine Anmerkung zur Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung: Wenn ich die pompöse, überall gegenwärtige Werbung für die Bundeswehr mit der doch sehr bescheidenen Impfwerbung vergleiche, muss ich mich nicht über die zu geringe Impfquote wundern.
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Warum, meine Damen und Herren, gehen Jugendoffiziere in die Schulen, um für den Krieg zu werben, und nicht Ärztinnen und Ärzte, um für die Gesundheit zu werben? Dieses Missverhältnis, Herr Spahn, ist doch wirklich hochgradig ungesund.
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Herr Kollege Spahn, eigentlich sind Sie doch Experte in Selbstvermarktung. Machen Sie doch einen Monat lang eine Impfkampagne in der Dimension der Bundeswehr-Werbung. Ich glaube, damit hätten Sie Erfolg, wahrscheinlich nicht so viel Erfolg wie Elvis Presley;
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aber Sie hätten Erfolg.
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Unsere Fraktion, meine Damen und Herren, hält das Impfen für einen Akt der Solidarität. Der Gesetzentwurf wird leider der Komplexität des Problems nicht gerecht.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Lötzsch. – Die nächste Rednerin für Bündnis 90/Die Grünen ist die Kollegin Kordula Schulz-Asche.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Impfungen gegen Infektionskrankheiten sind nicht nur Selbstschutz, sondern sie sind gelebte gesellschaftliche Solidarität
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mit Säuglingen, Kleinkindern und mit Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht geimpft werden können und für die jede Infektion lebensbedrohlich sein kann. Deswegen brauchen wir die Ständige Impfkommission, die uns sagt, welche Impfungen empfohlen werden, und diesen Empfehlungen sollten wir auch folgen.
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Das gilt ganz besonders für Erkrankungen – in diesem Punkt sind wir gemeinsam mit der Weltgesundheitsorganisation unterwegs –, die nur von Mensch zu Mensch übertragen werden können. Hier können wir durch einen umfassenden Impfschutz tatsächlich dafür sorgen, dass diese Krankheiten ausgerottet werden. Dafür sollten wir alle zusammenarbeiten. Das gilt nicht nur für Deutschland. Wir können Masern auch weltweit ausrotten, wenn wir alle zusammenarbeiten.
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Impfkampagnen sind erfolgreich, wenn die gesamte Bevölkerung gut über Sinn und Zweck informiert und aufgeklärt wird, Impfangebote einfach und sicher für Menschen erreichbar sind und regionale Besonderheiten und bestimmte Bevölkerungsgruppen konkret adressiert werden. Hier war es tatsächlich kontraproduktiv, dass in den meisten Ländern das Personal der Gesundheitsämter reduziert worden ist. In den letzten 15 Jahren ist ein Drittel der Stellen in den Gesundheitsämtern abgebaut worden. Und da wundern wir uns, dass die Impfquoten gesunken sind. Das ist einer der Hauptgründe dafür. Wir brauchen dringend eine umfassende Impfstrategie, und zwar schnell, so wie es zum Beispiel das Land Hessen gerade vormacht.
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Im Antrag der Grünen-Fraktion und übrigens auch im Antrag der FDP – danke, Professor Ullmann; wir sind da ganz nah beieinander – wird eine solche umfassende Strategie gefordert, die die Beratung und Aufklärung sowohl bestimmter besonderer Bevölkerungsgruppen als auch der Gesamtbevölkerung, einen digitalen Impfpass mit Erinnerungsfunktion, ein Einladungswesen für Erwachsene und die Stärkung des öffentlichen Gesundheitswesens umfasst.
Meine Damen und Herren, wir brauchen eine Stärkung der öffentlichen Institutionen, die für den Infektionsschutz zuständig sind, und das sind das Robert-Koch-Institut und die Ständige Impfkommission, die aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse Impfempfehlungen abgeben. Deswegen begrüße ich übrigens ausdrücklich, dass durch das Gesetz, das die Bundesregierung vorlegt, die Datengrundlage des Robert-Koch-Instituts verbessert wird. Ich hoffe, dass das zur Folge hat, dass in Zukunft die Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts und der Ständigen Impfkommission von der Politik besser verfolgt werden, als es in der Vergangenheit der Fall war.
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Wir begrüßen auch, dass die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung gestärkt wird, obwohl da noch viele Fragen offen sind, dass endlich allen Ärzten das Impfen ermöglicht wird. Das ist längst überfällig genauso wie die Tatsache, dass die Krankenkassen jetzt ihre Versicherten über fällige Schutzimpfungen informieren dürfen. Meine Damen und Herren, das hätte alles längst passieren können.
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Wenn wir gelebte Solidarität ernst nehmen, wenn wir wollen, dass alle Kinder, auch die, die nicht geimpft werden können und dürfen, Zugang zu frühkindlicher Bildung haben, wenn wir die inklusive Gesellschaft wirklich wollen, dann sollten wir dem folgen, wofür wir uns in unserer Fraktion nach sehr gründlicher Diskussion ausgesprochen haben: für eine Pflicht zum Nachweis eines Masernschutzes in den besagten Gemeinschaftseinrichtungen. Natürlich gilt das auch für das Personal und ebenso für das Personal in Gesundheitseinrichtungen.
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Ein Problem, das wir mit dem Gesetzentwurf nach wie vor haben, ist, dass er das Hauptproblem nicht adressiert, nämlich die großen Impflücken bei der Altersgruppe „20 bis 50 Jahre“. Hier ist weniger als die Hälfte der Bevölkerung geimpft, und das führt dazu, dass Familienfeiern eine tatsächliche Gefahrensituation darstellen. Das müssen wir klarstellen. Wir können leider nicht erkennen, dass die Bundesregierung hier eine wirkliche Strategie für ein systematisches Schließen dieser Impflücken vorsieht.
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Deswegen werden wir uns bei der Abstimmung über diesen Gesetzentwurf enthalten.
Meine Damen und Herren, Infektionskrankheiten sind vermeidbar, wenn Impfstoffe vorhanden sind. Uns sind Selbstschutz und gelebte Solidarität mit den Schwächsten in unserer Gesellschaft wichtig. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist ein erster Schritt, um dem gerecht zu werden. Aber zu viele Fragen sind noch offen. Wir sind gerne bereit, in Zukunft gemeinsam für einen sinnvollen, effektiven Infektionsschutz zusammenzuarbeiten.
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Lassen Sie mich zum Ende vielleicht noch etwas Nachdenkliches sagen. Ich habe lange im Bereich der Prävention von Infektionskrankheiten gearbeitet. Ich habe miterlebt, welche Hysterie in Deutschland umging, als Aids auf die Tagesordnung kam. Ich möchte ausdrücklich Rita Süssmuth dafür danken, dass sie einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet hat, dass wir heute so eine bunte, offene Gesellschaft haben und Menschen, die diese Krankheit haben, nicht diskriminiert werden oder gar, wie damals vorgesehen, interniert werden.
Wir wissen, dass Infektionskrankheiten dazu instrumentalisiert werden, Gruppen gegeneinander aufzuhetzen. „Brunnenvergifter“ als Begriff ist noch heute ein Teil antijüdischer Verschwörungstheorien. Deswegen wundert es mich, dass die AfD es sich in ihrem Antrag erlaubt, einen besonderen Handlungsbedarf im Hinblick auf geflüchtete Menschen zu formulieren und sich auf RKI-Empfehlungen aus dem Jahre 2015 zu berufen. Natürlich war es notwendig, dass das RKI im Jahre 2015 Richtlinien für die Impfung aller Menschen, die hierhergekommen sind, ausgegeben hat. Seit 2015, seit diesen RKI-Richtlinien, sind die Gesundheitsämter vor Ort dabei, die Geflüchteten, die zu uns kommen, aufzuklären und zu impfen. Ich möchte an dieser Stelle einen herzlichen Dank an alle Mitarbeiter im öffentlichen Gesundheitsdienst, an die Übersetzerinnen und Übersetzer, an die vielen, vielen ehrenamtlichen Helfer, die sich für einen Impfschutz in diesen Einrichtungen einsetzen, danken. Sie schaffen das – Tag für Tag.
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Frau Kollegin, die Zeit ist zu Ende.
Gerade beim Thema Infektionsschutz geht es darum, dass wir als Demokratinnen und Demokraten zusammenhalten.
Frau Kollegin.
Das ist gelebte gesellschaftliche Solidarität.
Ich danke Ihnen.
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Ich erteile das Wort dem Bundesgesundheitsminister Jens Spahn.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Masernschutz ist Kinderschutz, und ein Maserschutzgesetz ist ein Kinderschutzgesetz. Gerade um diesen Schutz der Jüngsten geht es uns mit diesem Gesetz. Denn Masern sind eben nicht – darauf ist schon hingewiesen worden – eine harmlose Kinderkrankheit; Masern gehören zu den ansteckendsten Infektionskrankheiten beim Menschen. Sie sind höchst ansteckend. Wenn hier jemand niest, der Masern hat, besteht durch die Tröpfchen in diesem Raum bis zu zwei Stunden danach noch Ansteckungsgefahr. Es gibt keine Therapie gegen Masern. Wenn man sie hat, kann man sie nur aussitzen und muss sie aushalten, und sie können einen sehr, sehr bösen Verlauf nehmen, bis hin zu Lungen- und Gehirnentzündungen. Deswegen wollen wir gerade die Schwächsten in der Gesellschaft, die Kinder, die Jüngsten, davor schützen. Das ist Ziel dieses Gesetzes.
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Wenn ich die Debatte zum Freiheitsbegriff, auch die gesellschaftliche Debatte dazu, höre, muss ich sagen: Ja, es geht um die Freiheit des Einzelnen; aber es geht eben auch um die Verantwortung des Einzelnen. Mein Freiheitsbegriff hört jedenfalls nicht bei mir als Einzelnem auf. Wenn ich hier in einem Raum mit 600, 700 Kollegen bin, wenn ich im Kino oder im Zug sitze, wenn es um Gemeinschaftseinrichtungen geht, dann geht es auch um die Frage, ob ich andere unnötig gefährde. Eine Maserninfektion ist im Jahr 2019 angesichts der Impfungen, die wir durchführen können – höchst sicher und höchst erprobt –, eine unnötige Gefährdung. Darum geht es auch: Freiheit heißt auch, dass ich nicht unnötig gefährdet werde. Deswegen ist gerade aus dem Blickwinkel der Freiheitserhaltung dieses Gesetz ein gutes Gesetz; es schützt die Freiheit und die Gesundheit.
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Deswegen stellen wir auf Gemeinschaftseinrichtungen ab, insbesondere für die Jüngsten, die es nicht für sich selbst entscheiden können, etwa auf Kindertagesstätten und Schulen. Es geht auch um medizinisches Personal, weil man im Krankenhaus natürlich sicher sein sollte, dass man dort nicht unnötig infiziert wird.
Was in dem Gesetzentwurf übrigens auch enthalten ist, Herr Spangenberg, ist, dass in Gemeinschaftsunterkünften für Asylsuchende in Zukunft ebenfalls eine Impfpflicht besteht. Wenn all das stimmte, was Sie hier immer sagen, und wenn es Ihnen um die Sache ginge, dann müssten Sie hier zustimmen. Das eine ist, Probleme zu skandalisieren und sie großzumachen; das andere ist, sie pragmatisch zu lösen. Wir lösen sie pragmatisch, und das ist der Unterschied zu Ihnen. Sie müssten eigentlich zustimmen, wenn all das stimmte, was Sie hier immer erzählen.
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Ja, da es dabei auch um die körperliche Unversehrtheit geht, um den Schutz der Kleinsten, irritieren mich schon die Aussagen, die ich in manchen E-Mails lese und die ich sogar auch von manchen Ärzten höre: Es täte Kindern doch ganz gut, mal Masern oder Röteln durchzumachen. – Wenn ich so was höre, dann werde ich sauer,
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weil es mir als Bundesminister für Gesundheit wichtig ist, dass niemand in diesem Land an einer solchen Erkrankung, die einen sehr bösen Verlauf nehmen kann, leiden muss. Ich denke auch an die Debatte zu den Dreifach- und Vierfachimpfstoffen, die übrigens nicht mehr, sondern tendenziell weniger Nebenwirkungen haben als der Einfachwirkstoff. Es gibt kein Grundrecht auf Röteln in diesem Land, und deswegen ist es gut, wenn wir mit solchen Impfstoffen im Zweifel noch zusätzliche Infektionskrankheiten vermeiden können.
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Frau Kollegin Lötzsch, ich habe Ihnen genau zugehört: Jede einzelne der Forderungen, die Sie aufgestellt haben, ist in diesem Gesetzentwurf erfüllt. Das ist da alles genau geregelt: Stärkung des öffentlichen Gesundheitsdienstes; Kooperation der Krankenkassen mit dem öffentlichen Gesundheitsdienst; die Möglichkeit, Reihenimpfungen in den Schulen anzubieten; die Frage, wie wir bessere Kampagnen finanzieren und wie wir besser aufklären; die Möglichkeit, dass auch Betriebsärzte impfen. Das steht alles im Entwurf. Daher frage ich mich allerdings, warum Sie sich kraftlos enthalten.
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– Ihre Partei hat 1970 schon mal eine Impfpflicht eingeführt, und ich würde mich freuen, wenn Sie auch bei dieser Impfpflicht mitmachten.
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1970 gab es die Impfpflicht gegen Masern in der DDR.
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Ich will auf Folgendes hinweisen: Für die anderen Bundesländer ist das heute ein besonderer Tag. Es ist – jedenfalls für die westlichen Bundesländer – die erste Impfpflicht in Deutschland, die wir seit 1874 einführen. Damals wurde eine Impfpflicht gegen Pocken eingeführt, und es ist durch diese verpflichtende Impfung gelungen, die Pocken auf der Welt auszurotten. Seit den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts muss niemand auf der Welt mehr an Pocken erkranken. Unser Ziel ist es, auch andere Krankheiten auszurotten. Wir sind gerade dabei – und geben selbst viel Geld zur Unterstützung von Impfprogrammen in anderen Ländern –, die Kinderlähmung, Polio, auf der Welt auszurotten.
Und ja, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist unser Ziel, mit diesem Gesetz das, was wir uns gemeinsam in der Weltgesundheitsorganisation als Ziel gesetzt haben, nämlich Masern auszurotten, auch in Deutschland umzusetzen. Es treibt mich als Bundesminister für Gesundheit um, dass das Ausrotten der Masern auf der Welt eher an Ländern wie Deutschland und anderen europäischen Ländern scheitert. Das wollen wir beenden. Wir wollen, dass in Zukunft niemand mehr an Masern erkranken muss und dass es diese Erkrankung auf der Welt nicht mehr gibt. Dafür braucht es dieses Gesetz.
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Für die AfD-Fraktion hat jetzt das Wort der Kollege Ulrich Oehme.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Zuschauer! In der ersten Lesung habe ich bereits auf die vielen Ungereimtheiten des Gesetzentwurfs des Gesundheitsministers hingewiesen. Nicht nur von uns, sondern auch vom Bundesrat und in diversen Rechtsgutachten wurden unter anderem folgende Bedenken angemeldet:
Erstens. Nicht die Impflücken von Kindern, sondern die der 20- bis 50-Jährigen sind das Problem.
Zweitens. Eine freiwillige Erstimpfungsquote bei Masern von mehr als 97 Prozent zeigt eine hohe Bereitschaft der Eltern, ihre Kinder impfen zu lassen, und das freiwillig.
Eine generelle Impfpflicht führt nicht automatisch zu einer größeren Akzeptanz und einem größeren Bewusstsein für Impfungen im Allgemeinen; die Beispiele Frankreich und Tschechien hat mein Kollege genannt.
Die gesetzlich verordnete Verwendung und Legitimierung von Mehrfachimpfstoffen, wenn keine Monoimpfstoffe angeboten werden können, erlaubt der Industrie die Einschränkung unserer Grundrechte.
Nicht zu vergessen: Es gibt bereits eine umfassende Regelung für eine Impfpflicht bei Epidemien.
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Weiterhin stimmen wir mit Bundesrat, Grünen und FDP überein, dass Information und Aufklärung besser geeignet sind, die Impfquoten hochzuhalten.
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Unsere Bedenken und Anmerkungen verhallen aber leider ungehört. Auch wir wollen unsere Bevölkerung vor Schaden schützen. Aber auch hier gilt: Gut gemeint ist nicht gleich gut gemacht.
Auch die Bundesländer mit Koalitionen von Ihren Kollegen aus Grünen und Linken stehen diesem Gesetz mehr als kritisch gegenüber. In Punkt 33 Buchstabe a seiner Empfehlung – Drucksache 358/1/19 – zweifelt der Bundesrat an, „ob die vorhandenen Impflücken in der Bevölkerung“ – in Klammern: durch den Gesetzentwurf – „wirklich geschlossen werden können“. Diese bestehen für Erwachsene, die nach 1970 geboren sind, nicht für Kinder und Schulkinder.
In Punkt 33 Buchstabe b führt der Bundesrat aus, dass „verfassungsrechtliche Bedenken“ bestehen, da – ich zitiere –:
... die Pflicht, einen Impfnachweis vorzulegen, auch dann besteht, wenn zur Erlangung von Impfschutz gegen Masern ausschließlich Kombiimpfstoffe zur Verfügung stehen ... Die grundrechtsbeschränkende Wirkung ... wird damit ... zumindest auf die Impfung gegen Mumps und Röteln ausgeweitet ...
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Zugleich eröffnet dies die Möglichkeit, eine faktische Impfpflicht künftig für andere Erkrankungen herbeizuführen.
Ebenfalls beanstandet der Bundesrat die im gleichen Zuge mit der Einführung des Gesetzes geplante rechtliche Gleichstellung von Gemeinschafts- und Kindertagespflegeeinrichtungen, also Kitas und Tagesmüttern, nach § 43 Absatz 1 SGB VIII. Sollte dies so kommen, prognostiziert der Bundesrat, komme es unweigerlich zur Verringerung des Betreuungsangebotes und zu einer noch größeren Betreuungsplatzknappheit. Denn den Tagesmüttern – meist in privaten Haushalten tätig – würden dieselben Vorschriften aufgebürdet wie großen Einrichtungen. Dies würde zur Schließung vieler Tagespflegeeinrichtungen führen,
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da sich die meisten Anbieter dies weder zeitlich, baulich noch finanziell leisten könnten – sagt der Bundesrat. Der Bundesrat bemängelt auch, dass es bei der Erstellung des Gesetzentwurfs wenig Abstimmung mit den Ländern gegeben hat.
Aus den genannten Gründen wird meine Fraktion diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen.
Danke.
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Für die SPD-Fraktion hat das Wort die Kollegin Martina Stamm-Fibich.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Mit dem Masernschutzgesetz wollen wir die Quoten bei der ersten und zweiten Masernimpfung im Kleinkindalter erhöhen. Wir haben viele gute Argumente gehört, warum das nötig ist.
Gleichzeitig wollen wir mit dem Gesetz aber auch die Impfprävention in Deutschland insgesamt stärken. Ich hoffe, dass wir mit diesem Gesetz über die Impfpflicht bei Kindern hinaus auch bei den Erwachsenen ein stärkeres Bewusstsein für die Impfung wecken.
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Denn Auffrischen gehört zum Impfschutz dazu.
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Wir machen in dieser Koalition viel im Gesundheitsbereich. Daher bin ich der festen Überzeugung, dass wir auch, wenn das jetzige Problem demnächst Gott sei Dank der Vergangenheit angehören wird, beim Thema „Impfstatus der Erwachsenen“ ein gutes Stück weiterkommen.
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Das Gesetz wäre allerdings kein Gesetz aus dem Hause Spahn, wenn wir nicht noch eine Reihe fachfremder Änderungsvorschläge in diesem Gesetz hätten. Die Praxis, sehr geehrter Herr Minister, stößt bei einigen Abgeordneten nicht immer auf Gegenliebe. Auch im Gesundheitsausschuss haben wir darüber diskutiert. Aber diese Änderungsvorschläge muss man ausdrücklich begrüßen. Sie sind eine enorme Bereicherung für dieses Gesetz.
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Wir haben gehört, dass wir mit dem Gesetz in Zukunft regeln, dass die anonyme Spurensicherung bei Opfern von sexualisierter Gewalt und Misshandlungen immer Kassenleistung ist.
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Das ist ein wesentlicher Bestandteil des Opferschutzes.
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Denn viele dieser Opfer haben nach der Tat nicht genügend Kraft, um direkt zur Polizei zu gehen. Die jetzige Regelung hilft, frühzeitig eindeutige Beweise zu sichern und dabei gleichzeitig die Anonymität der Opfer zu wahren. Ich bin mir darüber hinaus sicher, dass die Regelung – neben der Entlastung der Opfer ‑auch dazu beitragen kann, die Strafverfolgung der Täter zu verbessern.
Wir sehen aktuell aber auch – darauf bezieht sich ein weiterer Änderungsvorschlag –, dass immer mehr junge Menschen völlig unrealistischen Schönheitsidealen nacheifern. Soziale Netzwerke tragen dazu bei, dass Kinder und Jugendliche bereits im Schüleralter mit realitätsfernen Schönheitsidealen konfrontiert werden. Und glauben Sie mir: Meine Kinder sind noch nicht so alt, dass ich nicht wüsste, wie darüber diskutiert wird. Gleichzeitig steigt der Druck auf junge Menschen, plastische Schönheits-OPs vornehmen zu lassen, um dem angestrebten Ideal so nahe wie möglich zu kommen. Ich sehe diese Entwicklung als äußerst kritisch an
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und bin deshalb der Meinung, dass wir alles tun müssen, um Jugendliche davor zu schützen. Mir ist bewusst, dass die Lösung, die wir heute mit dem Werbeverbot haben, nicht alle Probleme lösen wird. Aber das ist ein kleiner Schritt, der mir lieber ist als gar keiner.
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Als letzten Punkt möchte ich auf das Wiederholungsrezept eingehen. Ich glaube, auch das ist eine sehr sinnvolle Lösung. Nach dem Inkrafttreten des Gesetzes wird es Ärzten erlaubt sein, Rezepte auszustellen, die nach der Erstabgabe des Medikaments bis zu drei weitere Abgaben erlauben. Das besonders gekennzeichnete Rezept kommt insbesondere bei chronisch kranken Patientinnen und Patienten mit gleichbleibender Medikation infrage und ist ein Jahr gültig. Diese Regelung wird eine Entlastung für die Betroffenen, aber auch für die überfüllten Wartezimmer in den Arztpraxen sein.
Mit diesen drei genannten Änderungen erreichen wir ganz konkrete Verbesserungen für die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes. In diesem Fall bin ich, Herr Minister, froh, dass wir diese Probleme mit den fachfremden Änderungsvorschlägen angegangen haben.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Für die FDP-Fraktion hat das Wort die Kollegin Katrin Helling-Plahr.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Viele von Ihnen sind Eltern. Viele von Ihnen wissen, wie es ist, einen noch nicht impffähigen Säugling zu haben. Da überlegen Sie, ob es wirklich nötig ist, das Baby mitzunehmen, wenn Sie das Geschwisterkind aus dem Kindergarten abholen. Da überlegen Sie, ob die Flugreise in den Urlaub vielleicht erst auf einen Zeitpunkt nach der ersten Masernimpfung verschoben werden kann.
Ich persönlich erlebe diese Situation nicht nur derzeit, sondern ich habe sie auch Anfang 2017 schon einmal erlebt. Seinerzeit grassierten die Masern in NRW. In einigen Kommunen wurde davor gewarnt, mit Säuglingen von vielen Menschen frequentierte geschlossene Räume aufzusuchen. Auch in meiner Heimatstadt gab es Fälle. Da ist man als Elternteil eines Babys nicht nur sehr besorgt, sondern auch in seinem Alltagsleben massiv eingeschränkt. Das liegt nicht an helikopterelterlicher Überbesorgtheit, sondern an einem tatsächlich bestehenden Risiko, nach einer Maserninfektion an Komplikationen bis hin zu einer tödlichen Lungen- oder Gehirnentzündung zu erkranken. Das Risiko, auch nach Jahren noch tödlich zu erkranken, besteht gerade dann, wenn die Maserninfektion in den ersten Lebensjahren erfolgt.
Dümmere Aussagen als von all jenen, die Masern selbst im Kindesalter – glücklicherweise zufällig – ohne größere Komplikationen überstanden haben, über Masern als angeblich harmlose Kinderkrankheit gibt es auch mit Blick auf die Vielzahl von Toten in anderen Ländern mit geringerer Durchimpfrate kaum.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Sichert?
Nein. – Diejenigen, die die Tatsache, dass Masern hierzulande heute keine Vielzahl an Todesopfern mehr fordern, als Beleg dafür sehen wollen, dass Masern schon nicht so gefährlich seien, sind im besten Falle naiv, in jedem Fall aber Impfschmarotzer.
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Daher ist der heute zur Abstimmung stehende Gesetzesentwurf zur Masernimpfpflicht ein Schritt in die richtige Richtung. Aber er ist eben auch nicht die Lösung all unserer Impfprobleme. Im Gegenteil: Das Gesetz sollte nur eine Maßnahme in einem ganzen Maßnahmenbündel sein. Und wenn ich sehe, dass Sie, meine Damen und Herren von der Großen Koalition, die Mittel für Impfaufklärung im Haushalt gerade letztes Jahr zusammengestrichen haben, bin ich doch etwas besorgt, dass Sie das anders sehen.
Wir haben mit unseren Änderungsanträgen und unserem eigenen Antrag „Impfquoten wirksam erhöhen – Infektionskrankheiten ausrotten“ Vorschläge gemacht. Und: Wie steht es zum Beispiel um die Schließung der Impflücken gerade bei jungen Erwachsenen? Oder was wollen Sie tun, um die desaströsen Impfraten bei der Impfung gegen Humane Papillomviren, die das Risiko für verschiedene Krebserkrankungen drastisch senkt, zu befördern?
Zusammenfassend: Alles richtig, aber wer rastet, der rostet, Herr Minister!
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Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Martin Sichert, AfD-Fraktion.
Ich finde es sehr spannend, dass die Vertreter der FDP sich hier für staatlichen Zwang einsetzen, vor allem, wenn man sich die Fälle anschaut, mit denen Sie argumentieren und mit denen Ihr Kollege schon argumentiert hat. Es wurde ja gesagt, es gibt grassierende Fälle usw., wodurch das Ganze durchaus etwas dramatisiert wird. Wir hatten im Jahr 2016 325 Fälle von Masern, im Jahr 2017 929 und im Jahr 2018 543 Fälle von Masern bundesweit.
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Im Gegensatz dazu hat es in Frankreich, wo es eine Impfpflicht gibt, alleine im letzten Jahr mehr Fälle gegeben als in diesen drei Jahren in Deutschland zusammen. Und es handelt sich eben nicht nur um einen kleinen Pikser, sondern es gibt auch Hunderte bis Tausende Fälle von Impfschäden jedes Jahr in Deutschland.
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Meine Kinder – ich habe auch zwei kleine Kinder, nicht nur Sie, Frau Kollegin – sind auch geimpft. Aber ich möchte in einem Land leben, in dem die Menschen die freie Wahl und die freie Entscheidung haben, ob sie ihre Kinder impfen lassen, und in dem eben nicht mit staatlichem Zwang vorgeschrieben wird, welche körperlichen Eingriffe am Kind vorgenommen werden.
Frau Kollegin.
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– Herr Sichert, könnten Sie bitte stehen bleiben?
(Martin Sichert (AfD): Bei einer Intervention muss ich nicht stehen bleiben!)
– Ich bitte Sie, stehen zu bleiben.
Er darf ruhig sitzen bleiben; es ist in Ordnung.
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Bitte bleiben Sie stehen. Das ist die Ordnung, die wir hier entschieden haben.
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Herr Kollege, ich hoffe, Sie sind mit mir der Meinung, dass jeder Masernfall ein Fall zu viel ist.
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Ich habe eben betont, dass die Impfpflicht nicht die einzige Maßnahme sein kann, aber ein wichtiger Baustein im Sinne eines richtigen Masernschutzes in unserem Land sein sollte. Impfungen sind in unserem Land sicher, und ich finde es äußerst bedenklich, wenn Sie hier Vorurteile und andere Ausführungen befördern und Impfskeptizismus Vorschub leisten. Das sollte in diesem Hause eigentlich unterbleiben.
Danke.
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Der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion ist der Kollege Dr. Georg Nüßlein.
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Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Viele von uns haben in den vergangenen Wochen teils sehr emotionale Diskussionen mit einer Menge von Bürgerinnen und Bürgern geführt, die diesem Gesetz zunächst sehr kritisch gegenübergestanden haben. Ich habe bei der Gelegenheit immer wieder dasselbe erlebt: Erst hat man gemeint, es gehe um die medizinischen Risiken. Wenn man dann mit Zahlen widerlegt hat, dass es hier, so wie gerade auch wieder fälschlich behauptet, um einen riskanten Eingriff gehe, blieb am Schluss als Argumentation übrig: Nein, es geht ja eigentlich um die persönliche Freiheit, um das, was man für sich selber und auch für sein Kind entscheiden möchte. – Meine Damen und Herren, es stimmt: Die Freiheit hat dort ihre Grenzen, wo die Freiheit des anderen beginnt; ganz klar.
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Jetzt möchte ich noch einmal auf das eingehen, was die AfD hier gerade gebracht hat. Sich hier für Freiheit einzusetzen,
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sich hinzustellen und zu behaupten, es gehe hier um die körperliche Unversehrtheit – das hat Herr Spangenberg vorhin gesagt –, um ein vermeintlich hohes Gut, und dieses dann zum Bürgerrecht herabzustufen, indem er sagt: „Aber die Asylanten, die dürfen natürlich gezwungen werden“, das ist der falsche Ansatz, meine Damen und Herren. Wenn man es so sehen will – und das ist auch gar nicht zu bestreiten –, dass es hier um einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit geht, und zwar um der körperlichen Unversehrtheit willen, dann muss dieser Eingriff bei allen möglich sein.
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Ich halte es für richtig, diesen Schritt zu gehen.
Wir greifen auch mit einer subjektiven Berufszulassungsbeschränkung ein in dem Sinne, dass wir das Grundrecht der freien Berufswahl dadurch einschränken, dass wir sagen: Wer in entsprechenden Einrichtungen wie Gemeinschafts- und Gesundheitseinrichtungen arbeitet, muss in Zukunft auch geimpft sein. Da geht es uns um die Vulnerabilität derjenigen, die wir schützen wollen, beispielsweise um die Jüngsten, die noch gar nicht geimpft werden können, und übrigens auch um diejenigen, die aufgrund einer medizinischen Kontraindikation nicht geimpft werden können.
Weil es verschiedentlich vorgetragen wurde, will ich an der Stelle auch sagen: Natürlich ist derjenige, der auf eine Erstimpfung massiv reagiert hat und der dann nachweisen kann, dass er dadurch immunisiert ist, nicht verpflichtet, sich noch einmal impfen zu lassen, weil er ja diesen Nachweis erbringen kann.
Also all die Dinge, die uns da vorgetragen wurden, sind an der Stelle berücksichtigt. Insofern ist die vorgesehene Impfpflicht aus meiner Sicht ein Schritt zum Schutz der öffentlichen Gesundheit und damit eines wichtigen Gemeinschaftsgutes. Es ist geeignet, erforderlich und angemessen, was wir hier tun.
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Ich will noch einmal unterstreichen, dass mich, so wie viele Vorredner auch, die Abhärtungsideologien bei den Diskussionen am meisten aufgeregt haben, die besagen, ein Kind müsse das durchlaufen, und die nicht berücksichtigen, dass 41 Prozent der Masernfälle im Jahr 2017 im Krankenhaus landeten wegen schwerer Verläufe. Deshalb ist das etwas, was wir hier zu Recht ins Visier nehmen.
Vor Jahren waren Pocken und Polio Geißeln der Menschheit. Durch Impfen wurden sie ausgerottet. Vorhin kam ein schönes Beispiel mit Elvis Presley. Ich hätte gedacht, dass Frau Lötzsch eine Frau als Beispiel beibringt. Ich hätte an ihrer Stelle Katharina die Große erwähnt
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– das passt natürlich nicht ins linke Weltbild –, die sich damals übrigens noch mit Pockeneiter hat impfen lassen müssen, was mit einem immensen Risiko verbunden war. Trotzdem hat diese Frau damals schon gewusst, was sich da entwickelt, was für eine immense Gesundheitschance mit der Impfung verbunden ist.
Dass wir, lieber Jens Spahn, dieses Thema heute so klar aufgreifen und auch mal sagen: „Wir wollen hier einen Punkt setzen und etwas dafür tun, dass wir vorankommen“, halte ich für richtig und wichtig, und ich gehe davon aus, dass es einen Beitrag dazu leisten wird, dass die Impfquoten in Deutschland nach oben gehen, jedenfalls bei den Kindern und den Betroffenen in den Einrichtungen. Natürlich müssen wir auf dieser Grundlage auch weiter darüber diskutieren, wie wir mit mehr Aufklärung und mehr Werbung dafür sorgen können, dass die Impfquote steigt. Ich glaube, dass die heutige Debatte dazu einen Beitrag leistet, und bedanke mich bei all denen, die sinnvoll über das Thema diskutiert haben.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Dr. Nüßlein. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine Dittmar, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Wir alle haben im Verlauf dieses Gesetzgebungsverfahrens viele E-Mails und Briefe zum Masernschutzgesetz bekommen. Darunter sind Zuschriften von Eltern, die sich einfach nur darüber informieren wollen, wie und ab wann sie den Impfstatus nachweisen müssen. Es schreiben aber auch viele Impfgegner, die alle anerkannten wissenschaftlichen Erkenntnisse leugnen und ihr Selbstbestimmungsrecht unbeeindruckt über das gesundheitliche Wohl aller stellen. Diese werden wir sicher auch durch unsere heute abschließende Debatte nicht von der Richtigkeit der Regelungen überzeugen können.
Für mich als Ärztin ist es zudem komplett unverständlich, dass es auch einige wenige Berufskolleginnen und Berufskollegen gibt, die aufgrund pseudowissenschaftlicher Argumente Eltern vom Impfen abraten.
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Ehrlich gesagt: Hier müsste man sogar über berufs- oder zulassungsrechtliche Konsequenzen nachdenken. Aber das steht heute hier nicht zur Debatte.
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In den pseudowissenschaftlichen Mails, die unsere Postfächer fluten, liest man allerhand erhellende Aussagen wie: „Nach einer Masernerkrankung gehen Allergien und Autoimmunerkrankungen zurück“ oder „Masernimpfungen zerstören das Immungedächtnis“. Und natürlich wird auch der längst widerlegte Klassiker bemüht, nämlich: „Masernimpfungen führen zu Autismus.“ Besonders makaber und zynisch ist es, wenn in manchen E-Mails die Rechnung aufgemacht wird, dass die wenigen Todesfälle doch zu verschmerzen seien, sie aber nie und nimmer eine Impfpflicht mit hohen Kosten für die GKV rechtfertigen würden.
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Meine Damen und Herren, das sind alles Fake News. Nichts davon entspricht der Wahrheit.
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Deshalb lassen Sie uns jetzt zu den Fakten kommen.
Masern sind keine harmlose Kinderkrankheit. Masern sind hoch virulent und können zu schweren Begleit- und Folgeerkrankungen führen – von der Lungenentzündung bis zur Hirnhautentzündung oder zu der Jahre nach der durchgemachten Infektion auftretenden subakut sklerosierenden Panenzephalitis, also einer Erkrankung, bei der Masernviren Nervenzellen im Gehirn zerstören und letztendlich zum Tode führen.
Fakt ist auch, dass, wenn Sie selbst nicht geimpft sind und mit einem Maserninfizierten Kontakt haben, Sie zu fast 100 Prozent erkranken. Da helfen weder Globuli noch Klangschalen noch Handauflegen, meine Damen und Herren! Da hilft nur die Impfung.
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Deshalb können wir froh sein, dass es seit über 40 Jahren wirksame und gutverträgliche Impfstoffe gegen Masern gibt und dass wir bereits eine hohe Impfquote bei der Erstimpfung haben.
Bei den Zweijährigen ist die Impfquote – Kollege Henke hat es dargestellt – aber deutlich zu niedrig. Hier sind wir weit entfernt von den 95 Prozent, die notwendig sind, um die sogenannte Herdenimmunität bzw. Gemeinschaftsimmunität – ich habe gelernt, dass man das jetzt sagt – zu erreichen. Aber gerade diese Quote brauchen wir, um die vulnerable Gruppe, also Kinder, die zu jung für die Impfung sind, oder Menschen, die aufgrund einer Erkrankung nicht geimpft werden dürfen, zu schützen. Genau deshalb werden wir heute hier dieses Masernschutzgesetz verabschieden.
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Zukünftig müssen Personen, die in einer Gemeinschaftseinrichtung, also Kita oder Schule, betreut werden, oder in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht sind oder in solchen Einrichtungen oder medizinischen Einrichtungen arbeiten, einen ausreichenden Impfschutz bzw. eine Immunität gegen Masern nachweisen. Natürlich ist dies ein Eingriff in die persönliche Entscheidungsfreiheit, aber es ist ein leichter und ein zeitlich begrenzter Eingriff, der einen hohen gesellschaftlichen Nutzen nach sich zieht. Deshalb ist es für mich vertretbar und verhältnismäßig; denn für mich hört die individuelle Freiheit da auf, wo die Gesundheit anderer wissentlich – oder man muss fast sagen: willentlich – gefährdet wird.
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Kolleginnen und Kollegen, wichtig ist auch, dass das Masernschutzgesetz neben dem Nachweis des Impfschutzes eine Menge flankierender Maßnahmen beinhaltet. So fallen Fachgebietsgrenzen beim Impfen endlich gänzlich weg. Das heißt, jeder Arzt darf jeden impfen, also der Kinderarzt auch die Eltern und Großeltern, der Frauenarzt auch den Partner, und bei den Betriebsärzten werden weitere Hürden aus dem Weg geräumt.
Zu begrüßen ist auch, dass die beim RKI etablierte Impfsurveillance zukünftig Impfquoten auf Basis von Abrechnungsdaten der Kassen möglichst genau erfassen und auswerten kann. Hierdurch sind wesentlich zielgenauere Aufklärungs- und Impfkampagnen möglich.
Insgesamt, meine Damen und Herren, ist dieses Masernschutzgesetz ein sehr gelungenes Gesetz. Ich freue mich, dass wir es heute verabschieden, und hoffe auf eine breite Zustimmung.
Danke für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dr. Georg Kippels, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Liebe Bürgerinnen und Bürger an den Fernsehgeräten! Als Fazit dieser Debatte kann man, glaube ich, zunächst einmal festhalten, dass es niemanden hier im Saal gibt, der an den Nutzen und den Wert der Impfung an sich nicht glauben würde. Aber genau da liegt eigentlich das Kernproblem: Das Glauben an den Wert der Impfung allein reicht nicht, sondern ich muss die Impfung auch ordnungsgemäß und in der erforderlichen Zahl der Nachimpfungen praktizieren. Genau um diese wesentliche Kernbotschaft geht es in der heutigen Debatte: Wie kann ich im Rahmen der weiteren gesundheitlichen Vorsorge, der Prävention dafür Sorge tragen, dass das Erreichen der Impfquote, die bei beiden Impfungen – es ist wichtig, das in diesem Zusammenhang noch einmal hervorzuheben – über 95 Prozent liegen muss, gewährleistet ist?
Infektionskrankheiten sind schon seit Jahrhunderten Geißeln der Menschheit, und es gibt auch schon seit über 100 Jahren das intensive Bemühen, mittels Impfungen diese Krankheitsbefunde auszurotten. Bei den Pocken ist es in der Tat gelungen; aber wir dürfen nicht übersehen, dass es über 100 Jahre gedauert hat, bis dieser Erfolg eingetreten ist. Bei Polio – für den einen oder anderen noch unter dem Namen Kinderlähmung bekannt – ist es noch nicht vollendet; 22 Fälle sind im vergangenen Jahr in Afghanistan und Pakistan bzw. in Nigeria aufgetreten. Von einer Ausrottung kann man erst dann sprechen, wenn für einen Zeitraum von 36 Monaten keine neuen Fälle aufgetreten sind.
Für Deutschland hatten wir einige Zahlen hier in der Debatte gehört. Es wird so ein bisschen der Eindruck erweckt, dass Fallzahlen wie 300, 400 oder 500 nur eine Bagatelle darstellen und keine ernstzunehmende Ansteckungsgefahr, kein Risiko besteht. Und dann geht man auf diese Art und Weise im Grunde genommen zur Tagesordnung über. Das ist eine fatale Fehleinschätzung der medizinischen Situation. Bei der Bekämpfung von Infektionskrankheiten besteht eben die entscheidende Gefahr darin, dass, wenn auf der letzten Meile nicht konsequent gehandelt und gearbeitet wird, ein Ausbruch zu einer lawinenartigen Vermehrung der Infektionsfälle führt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Deutschland ist seit Jahren Mitglied in der internationalen Impfallianz GAVI. Wir unterstützen dort die Bemühungen, durch Impfungen international jedwede Infektionskrankheit zulasten kleiner Kinder auszurotten. Wir investieren dort mehrere Hundert Millionen Euro in sehr erfolgreich praktizierte Impfprogramme. Damit ist es immerhin gelungen, Millionen von Kindern vor dem Tod zwischen dem ersten und fünften Lebensjahr zu retten. Zu den entsprechenden Infektionskrankheiten gehören ebenso die Masern wie Röteln, Lungenentzündungen oder Durchfallerkrankungen.
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Aber auch das gelingt nur, wenn konsequent verfolgt wird, ob Impfungen stattfinden.
Wenn es aber so ist, wie wir momentan feststellen müssen, dass die Erkrankung aus der Wahrnehmung der Bevölkerung, aus dem Bewusstsein, aus der Gefahreneinschätzung verschwunden ist, man sich selber nicht irgendwie gefährdet sieht, dann ist es an der Zeit, dass der Staat die notwendige Initiative ergreift. Wir haben es hier ja in der Tat nicht mit einem Zwang, sondern mit einer freundlichen Ermahnung, mit dem Wecken von Aufmerksamkeit zu tun, nämlich dass man daran denken soll, beim nächsten Arztbesuch seinen eigenen Impfpass, sofern man ihn in seinen Unterlagen überhaupt noch findet, mitzubringen und prüfen zu lassen, ob es an der Zeit ist, diese Impfung vorzunehmen.
Eines will ich zum guten Schluss noch sagen: Der Wert der Impfung ist, glaube ich, in der Tat ein Allgemeingut. Gerade zu Urlaubszeiten schaut jeder in die Empfehlungen seines Reiseanbieters, welche Impfungen denn unbedingt geboten sind. Da ist auf einmal die Sensibilität gegeben, auch wenn es vielleicht nur ein einmaliges Ereignis, ein einmaliger Kontakt mit einer Gefahrenlage ist.
In Deutschland und in Europa haben wir unsere Hausaufgaben noch nicht abschließend gemacht. Auch dazu noch ein plastisches Beispiel: Wir haben nicht nur eine Verantwortung für unsere Bürgerinnen und Bürger und für die Kinder, sondern auch eine internationale Verantwortung. Insofern ist es auch nicht zu vertreten, dass ein Land in Mittelamerika, Guatemala, durch eine Schülergruppe aus Deutschland mit einem Befall – Guatemala galt als masernfrei – konfrontiert wurde. Wir sind insofern verpflichtet, unserer Gesundheitssorgfalt auch international nachzukommen.
Impfen ist Lebensschutz. Deshalb stimmen Sie diesem Gesetz zu!
Vielen herzlichen Dank.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Aussprache.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Bundesverfassungsgericht hat die Sanktionspraxis bei Hartz IV in Teilen für verfassungswidrig erklärt. Heute greifen wir, Grüne und Linke gemeinsam, mit einem Antrag dieses Urteil auf. Wir nehmen den Ball auf, den unser höchstes Gericht an uns alle als Gesetzgeber gespielt hat, nämlich die Frage zu klären, ob es überhaupt Bedingungen für ein Mindestmaß an sozialer Absicherung geben sollte und ob diese Bedingungen durch Sanktionen erzwungen werden können. Wir finden: Nein, diese Sanktionen sollte es nicht geben. Soziale Grundrechte stehen allen Menschen zu und dürfen nicht unterschritten werden.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Arbeitswelt ist im Wandel. Ganze Branchen verändern sich. Manche Arbeitsplätze fallen weg, andere kommen neu hinzu. Digitalisierung und Transformation sind die großen Megatrends der nächsten Jahre und Jahrzehnte. Diese großen Veränderungen bringen viele Chancen; aber sie machen Menschen auch Angst, Angst vor Jobverlust und damit auch Angst vor sozialem Abstieg.
Soziale Sicherung bedeutet Teilhabe, bedeutet, in Würde leben zu können, und zwar unabhängig davon, ob man gesund oder krank, leistungsstark oder weniger leistungsstark ist, unabhängig davon, welchen familiären oder Bildungshintergrund man hat. Das zu garantieren, ist keine persönliche, sondern eine politische Aufgabe. Es ist dieses Vertrauen und diese Sicherheit, die Menschen starkmachen, sodass sie ihre Talente entfalten und auch große Veränderungen meistern können.
({1})
Sanktionen unter dem Existenzminimum passen nicht dazu; denn sie bedeuten Misstrauen, sie bedeuten Androhen und Bestrafen. In Artikel 1 unseres Grundgesetzes heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Dort steht nicht: Die Würde der Erwerbstätigen ist unantastbar, sondern eben, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Dazu passen Sanktionen unter dem Existenzminimum nicht.
({2})
In Berlin wurde im letzten Jahr eine Frau zwangsgeräumt. Diese Frau passt so gar nicht in das Bild der faulen Arbeitslosen, das leider sehr oft gezeichnet wird. Sie ist Wirtschaftswissenschaftlerin und Mutter von drei Kindern. Nach einer Trennung und dem Verlust ihres Jobs leidet sie an Depressionen und versucht irgendwie, die Trennung und den Umzug zu bewältigen. Das Jobcenter schreibt ihr nun, sie müsse zu einem Termin vorstellig werden, aber die Frau ist krank und reicht das falsche Formular ein. Erste Sanktion: Die Gelder werden gekürzt.
Sie legt Widerspruch ein, aber leider nicht korrekt. Kurz darauf soll sie wieder ins Jobcenter kommen; aber sie kann nicht, weil eines der Kinder eine Lungenentzündung hat. Zweite Sanktion: Die Gelder werden weiter gekürzt. Sie hat Angst vor dem Mitarbeiter im Jobcenter, und deshalb ignoriert sie seine Vorladungen. In dieser Spirale war es irgendwann zu spät, und die ganze Familie wurde zwangsgeräumt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt kann man natürlich sagen: Na ja, selber schuld, hätte sie halt irgendwie schaffen müssen. – Man kann aber auch sagen, dass diese Praxis mit der Würde des Menschen und dem Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes nicht vereinbar ist.
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Mit unserem Antrag, den wir heute vorlegen, schaffen wir nach dem Urteil auch Rechtsklarheit, und zwar da, wo gerade leider wenig Rechtsklarheit ist. So gibt es leider widersprüchliche Aussagen seitens der Bundesagentur für Arbeit. Einmal heißt es, man würde jetzt komplett auf Sanktionen verzichten, auch auf die verschärften für junge Erwachsene. Dann heißt es, Verfahren könnten weiterlaufen, nur Entscheidungen sollten zurückgestellt werden, und Sanktionen auf Meldeversäumnisse seien von dem Urteil sowieso nicht betroffen. Wir erwarten, dass das Sozialministerium hier seiner Fachaufsicht nachkommt und schnell Rechtssicherheit schafft.
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Es wäre nämlich Wahnsinn, wenn die Jobcenter jetzt immer mehr Nachweispflichten über die Wirkung von Sanktionen erbringen müssen, Härtefälle im Einzelfall immer durchprüfen müssen; denn wenn wir weiter an Sanktionen festhalten, dann müssen sie genau das tun. Dann käme jede Menge neue Bürokratie auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu, und das ist wertvolle Zeit, die für die Beratung und die Vermittlung in Arbeit fehlt. Deswegen sagen wir: Sanktionsfreiheit bedeutet Rechtsklarheit, bedeutet mehr Zeit, weniger Klagen vor den Sozialgerichten, weniger Widersprüche, insgesamt also ein besseres Klima in den Jobcentern, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Bei den Reaktionen auf das Urteil wundert man sich aber leider gar nicht, warum Hartz IV so sehr zum Symbol für Abgehängtsein geworden ist. Da wird tagelang in einer großen Zeitung von den Schmarotzern der Nation gesprochen, die sich jetzt auf der Hängematte ausruhen könnten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, dazu nur zwei Entgegnungen: Erstens. Ein Leben am Rand der Gesellschaft ist alles andere als lustig. Es bedeutet Verzicht, es bedeutet Scham, und es bedeutet Ausgrenzung. Zweitens. Armut ist ein Mangel an Geld und nicht ein Mangel an Charakter. Diese Sicht auf Armut ist einfach nur menschenfeindlich.
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Davon müssen wir weg.
Menschen wollen arbeiten. Sie tun das, und zwar oft unter widrigen Bedingungen. 1,2 Millionen Menschen arbeiten, müssen aber aufstocken, weil sie zu wenig verdienen, und müssen sich dann auch noch als Hartzer und teilweise als Schmarotzer bezeichnen lassen. Viele Erwerbslose bekommen das dritte oder vierte Bewerbungstraining oder sind in Warteschleifen, statt tatsächlich einen Berufsabschluss in einem Job mit Zukunft nachzuholen. Für eine erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt sind Kooperation und Vertrauen zwischen Arbeitsuchenden und den Jobcentern zentral. Dazu gehört vor allem eines: Augenhöhe. Denn nur auf Augenhöhe können Menschen auch ihre Fähigkeiten und Talente einbringen. Genau da müssen wir hin.
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Nehmen wir also Abstand davon, Menschen durch Druck und Zwang erziehen zu wollen! Garantieren wir ihnen Teilhabe, Würde und Perspektiven, und Sie werden sehen, wie viel Potenzial in Menschen steckt, das heute leider noch völlig brachliegt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Dr. Matthias Zimmer das Wort.
({0})
Danke schön. – Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es wäre ja auch zu schön gewesen. Jahrelang haben Grüne und Linke argumentiert, Sanktionen verstoßen gegen die Menschenwürde. Dann entscheidet das Bundesverfassungsgericht: Nein, eigentlich nicht. – Und anstatt zu sagen: „Blöd gelaufen, dann ist es halt so“, kommt jetzt ein Antrag von Grünen und Linken, der vorsieht, Sanktionen ganz abzuschaffen, um ein Unterschreiten des – ich zitiere –:
({0})
„menschenwürdigen Existenzminimums“ auszuschließen.
Deswegen lassen Sie uns einmal rekapitulieren. Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt: Sanktionen verstoßen nicht gegen die Menschenwürde. Sanktionen sind in der Ausgestaltung des Nachranggrundsatzes völlig legitim. Unproblematisch sind aus Sicht des Verfassungsgerichtes Sanktionen von 30 Prozent. Anders formuliert: Das Unterschreiten des soziokulturellen Existenzminimums um 30 Prozent ist verfassungsrechtlich oder aus der Würde des Menschen heraus nicht zu beanstanden.
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Nun kommt der spannende zweite Teil: Weitergehende Sanktionen hat das Gericht nicht deshalb verworfen, weil damit die Würde des Menschen beeinträchtigt wäre, sondern ausschließlich deshalb, weil nicht ausreichend nachgewiesen sei, dass diese Sanktionen zweckmäßig sind. Mehr noch: Das Gericht hat festgestellt: Unter bestimmten Bedingungen kann im Einzelfall auch eine Sanktionierung um 60 Prozent erfolgen. Auch hier bestünden keine grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken; lediglich die Wirksamkeit müsse tragfähig belegt werden – das findet sich in Randnummer 193 des Urteils –; sie dürfen aber als Regelsanktion oder weitergehende Sanktionen nicht mehr verhängt werden, weil ihre Wirksamkeit nicht ausreichend bewiesen ist.
Hinzuzufügen ist: Da sie nun verboten sind, können wir die Wirksamkeit auch nicht mehr erweisen. Ein wunderschöner argumentativer Zirkel.
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Es wird verboten, weil der empirische Nachweis der Wirksamkeit nicht erbracht ist. Dieser kann aber nicht mehr erbracht werden, weil es verboten ist. Das ist eine wunderschöne Illustration des Münchhausen-Trilemmas.
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Richtig ist aber: Der Gesetzgeber hat einen Entscheidungsspielraum – Herr Lehmann hat darauf hingewiesen –, er kann also auch auf Sanktionen verzichten.
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– Auch wer zu früh klatscht, den bestraft mitunter das Leben.
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Ich hielte das für fatal. Der Sozialstaat lebt vom Prinzip der Solidarität. Diese ist aber keine Einbahnstraße. Sie verpflichtet den Empfänger, darauf hinzuwirken, die Bedingungen, die zum Eintreten der Mithaftung der Solidargemeinschaft geführt haben, möglichst schnell zu beseitigen. Das nennen wir Mitwirkungspflichten. Diese laufen allerdings dann ins Leere, wenn sie nicht sanktionsbewehrt sind. Mehr noch: Die Grundidee der Solidarität wird infrage gestellt, wenn sie nicht mehr Rettungsnetz, sondern soziale Hängematte ist,
({6})
wenn also auf Kosten der Allgemeinheit gelebt wird,
({7})
obwohl man seinen Lebensunterhalt auch selbst bestreiten könnte.
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Sehr profan wird das mit dem Prinzip des „Forderns und Förderns“ ausgedrückt. Dieses Prinzip ist richtig, weil es den Sozialstaat schützt. Das Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums muss eben nicht, wie der Antrag formuliert, uneingeschränkt jedem Menschen in Deutschland garantiert werden, sondern es kann an Bedingungen geknüpft werden. Das hat das Gericht deutlich gemacht, und es wundert schon, dass Sie in Ihrem Antrag das Gegenteil behaupten.
Nun kann ich verstehen, dass man in der Opposition jeden Tag fordert, im Himmel möge Weihnachten sein.
({9})
Das ist das vornehme Recht der Opposition, völlig legitim. Aber die Grünen will ich schon darauf hinweisen: Opposition leitet sich nicht von Opportunismus ab. Gerade die Grünen waren in der Regierung an der Formulierung der Hartz-IV-Gesetze mit beteiligt.
({10})
Was soll man denn von einer Partei halten, meine Damen und Herren, die alles das, was sie in der Regierung beschlossen hat, in der Opposition wieder einkassieren will?
({11})
Oder anders gefragt: Macht dieses Verhalten Sie heute als möglichen Regierungspartner von morgen glaubwürdig, weil Sie dann demnächst wieder das Gegenteil behaupten? Ich jedenfalls würde bei solchen Verrenkungen Halsschmerzen bekommen,
({12})
aber das ist eine andere Frage.
Wir als Union nehmen das Urteil des Gerichtes ernst. Wir werden die beanstandeten Regelungen ändern. Ihr Antrag indes gibt zu vielfältiger Beanstandung Anlass. Wir werden ihn daher ablehnen.
Herzlichen Dank.
({13})
Das Wort hat der Abgeordnete Norbert Kleinwächter für die AfD-Fraktion.
({0})
Werte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Grünen und die Linken sind geradewegs auf dem Weg ins Paradies. Sie wollen soziale Garantien ohne Sanktionen. Sie wollen also auf Deutsch übersetzt, dass Hartz-IV- und Sozialhilfeempfängern rein gar nichts passiert, wenn sie Termine schwänzen,
({0})
wenn sie keinen Bock auf Arbeit haben und wenn sie auf Steuerzahlerknete ausschlafen.
({1})
Blöd sind die 92 Prozent Leistungsempfänger, die ehrlich und sanktionsfrei sind. Blöd ist vor allem der, der morgens um 5 Uhr aufsteht und das alles finanziert.
({2})
Bevor Sie Müßiggang zur Staatsräson erklären, sollten Sie vielleicht einmal das Urteil des Bundesverfassungsgerichts genau lesen, das Sie zitiert haben.
({3})
Da gibt es nämlich den zweiten Leitsatz, der sich durchzieht:
Der Gesetzgeber kann erwerbsfähigen Menschen, die nicht in der Lage sind, ihre Existenz selbst zu sichern und die deshalb staatliche Leistungen in Anspruch nehmen, abverlangen, selbst zumutbar an der Vermeidung oder Überwindung der eigenen Bedürftigkeit aktiv mitzuwirken. Er darf sich auch dafür entscheiden, insoweit verhältnismäßige Pflichten mit wiederum verhältnismäßigen Sanktionen durchzusetzen.
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Meine Damen und Herren, die Sanktionen haben erwiesenermaßen positive Arbeitsmarkteffekte. Sie sind ein Mittel zur Vermeidung und Überwindung der Bedürftigkeit. Genau diese Sanktionen wollen Sie kippen. Da stellt sich schon die Frage: Warum sollten Leistungsempfänger denn in Zukunft ihren Verpflichtungen nachkommen? Sie wollen sogar § 31 SGB II und § 26 SGB XII streichen. Das sind unter anderem Kürzungen – ich zitiere -
bei Leistungsberechtigten, die nach Vollendung des 18. Lebensjahres ihr Einkommen oder Vermögen vermindert haben in der Absicht, die Voraussetzungen für die Gewährung oder Erhöhung der Leistungen herbeizuführen …
Sie wollen also adeln, wenn man betrügt. Das ist nichts anderes als ein Anschlag auf die Solidargemeinschaft, auf das Prinzip der Subsidiarität und auf die Eigenverantwortlichkeit.
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Andere arbeiten sich kaputt, damit es einige bequem haben. Das ist grüner Sozialismus. Ich sage Ihnen: Das ist nicht der Garten Eden, sondern die verbotene Frucht.
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Nicht die 30 Prozent Sanktionen sind das Problem, sondern das unsägliche Leid, das Hartz IV bei den Menschen erzeugt und das Sie hier gerade verlachen. Menschen, die hart gearbeitet haben, Menschen, die sich etwas aufgebaut haben, Menschen, die durch dieses System alles verloren haben – vermietete Wohnung zum Beispiel, Wertpapiere für die Altersversorgung, ein zu großes Auto –, werden gleichgestellt mit denen, die nie etwas geleistet haben.
({7})
Herr Lehmann, Sie haben vorhin für die Grünen gesprochen. Die Grünen waren mit der SPD in Regierungsverantwortung, als die Agenda 2010 durchgeboxt wurde.
({8})
Sie, die SPD, aber auch die Union und die FDP haben in der namentlichen Abstimmung am 19. Dezember 2003 allesamt mit Ja gestimmt.
({9})
Ich erwarte von Ihnen eine Entschuldigung den Menschen gegenüber, denen Sie dieses Leid angetan haben. Das sind Sie ihnen wirklich schuldig.
({10})
Hartz IV ist wie kein anderes System teuer und ineffektiv. Wir müssen uns schon darüber unterhalten, wie ein System, das circa 45 Milliarden Euro jährlich kostet, so wenige Menschen in Arbeit bringen kann. 7,2 Millionen sind im System.
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– Sie wollen sich entschuldigen? Ich nehme die Zwischenfrage gerne an, wenn ich darf.
Sie gestatten eine Bemerkung oder Zwischenfrage?
({0})
Ja.
Dann bitte.
Da Sie hier darüber gesprochen haben und es so dargestellt haben, dass die AfD die Partei ist, die an der Seite der Hartz-IV-Empfänger steht, möchte ich Sie konfrontieren mit der Äußerung, die Ihr Kollege, Herr Schneider, letzte Woche im Ausschuss gemacht hat. In Reaktion auf das Urteil hat er gesagt: Das Verfassungsgericht hat uns als Gesetzgeber die Peitsche genommen. Hartz IV bedeutet: Hartz IV – und das Jahr gehört dir.
({0})
Möchten Sie hier allen Ernstes immer noch den Standpunkt aufrechterhalten, dass Sie an der Seite der Hartz-IV-Empfänger stehen?
({1})
Sehr geehrter Herr Lehmann, wir stehen auf der Seite der sozial Schwachen.
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Weil dieses System, Hartz IV, genau die sozial Schwachen nicht wirklich schützt, sondern teilweise Leistungsbereite sanktioniert – diesen Teil haben Sie ja begriffen – und diejenigen, die leistungsbereit sind, in die absolute Armut schickt, ist Hartz IV nicht das passende System, um die Situation letztendlich korrekt abzubilden. Das Problem, das wir mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts haben
({1})
– übrigens unter Stephan Harbarth, der Mitglied des CDU/CSU-Fraktionsvorstandes war und den Sie zum Richter beim Bundesverfassungsgericht befördert haben –, ist, dass dadurch das Sozialsystem Hartz IV noch weiter kaputtgeschossen wird; denn Hartz IV baut darauf auf, dass man Leute sanktionieren kann. Wenn die Sanktionsmechanismen allerdings fehlen, wird es zu nichts anderem als einem bedingungslosen Grundeinkommen, einem bedingungslosen Faulheitseinkommen. Das finden wir nicht gut.
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Wer einmal da angekommen ist, ist doch mit den zahlreichen Vergünstigungen besser versorgt. Er ist besser versorgt als mancher Selbstständige, besser versorgt als manche Reinigungskraft, besser versorgt als manche Altenpflegehilfe nach anstrengenden Arbeitstagen.
({3})
Nicht umsonst ist für gewisse Bevölkerungsgruppen und künftige Bevölkerungsgruppen Deutschland das Land, wo Milch und Honig fließen. Es ist einfach unredlich, wenn man da die Schleusen noch weiter öffnen will und die Mehrkosten gar nicht beziffert. Wir brauchen eine komplette Reform des Sozialsystems.
({4})
Ihr Antrag geht in die völlig falsche Richtung. Damit kommt man nicht in den Himmel.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Kerstin Tack für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, es ist an der Zeit, wieder Respekt vor Menschen in diesem Land in diese Debatte zu bringen.
({0})
Auch diejenigen, die in der Regel unverschuldet arbeitslos geworden sind und die es über längere Zeit nicht schaffen, wieder in das Arbeitsleben zurückzukommen, haben genauso Anspruch auf Würde und Respekt wie jede andere Person.
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Deswegen ist das, was wir gerade gehört haben, nicht nur respektlos und würdelos, sondern auch komplett an der Sache vorbei.
({2})
Worum geht es denn? Das Bundesverfassungsgericht hat hier ein weises Urteil gefällt; denn es ist ein differenziertes Urteil. Es ist daher nicht legitim, zu sagen: Darin steht, was man immer wollte, nämlich dass Sanktionen weg gehören. – Das steht da nicht drin.
({3})
Genauso wenig steht dort: Alles kann so bleiben, wie es ist, nur ein bisschen weniger hart. – Nein, das steht da auch nicht drin. Deshalb ist es auch nicht richtig, seine eigenen ideologischen Überzeugungen mit dem Urteil zu begründen. Diese Überzeugungen zu haben, ist legitim. Aber das Urteil sagt doch etwas ganz anderes aus, nämlich: Wir müssen uns als Gesetzgeber Gedanken darüber machen, wie wir es künftig schaffen, dass die Fallmanager in den Jobcentern in der Lage sind, zu einer vertrauensvollen, zu einer bedarfsgerechten, zu einer passgenauen, zu einer wertschätzenden, aber auch zu einer personenzentrierten Unterstützung zu kommen.
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Das hat doch das Bundesverfassungsgericht gesagt.
Ja, es kann am Ende eine Sanktion stehen. Aber die Sanktion ist doch kein Selbstzweck.
({5})
Was wir wollen, ist Vermittlung in Arbeit. Natürlich wollen wir auch, dass jeder seinen angemessenen Beitrag dazu leistet, dass das passiert. Selbstverständlich wollen wir das.
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Deswegen ist es auch nachvollziehbar, dass man erwarten kann, dass Menschen versuchen, aus der Situation, in die sie in der Regel nicht verschuldet gekommen sind, durch eigene Bemühungen herauszukommen. Das ist doch völlig klar.
Deshalb werden wir – das ist richtig und wichtig – uns stark anstrengen müssen, gute und richtige Angebote zu definieren, damit die Vermittlung in Arbeit durch das Fallmanagement verbessert werden kann. Denn wir wissen: Je passgenauer und je besser die Angebote, die Beratung und auch die Instrumente sind, desto eher gelingt es partnerschaftlich, dem gemeinsam erklärten Ziel einer Wiederaufnahme von Arbeit oder Beschäftigung näher zu kommen.
Man kann nicht behaupten, dass jeder, der ins Jobcenter kommt, schon per Ankunft sanktioniert werden würde. Das nicht die gängige Praxis. Trotzdem nehmen wir das Urteil sehr ernst. Es zwingt uns, sehr genau auf das Verhältnis von Fallmanagern auf der einen Seite und von arbeitslosen Personen auf der anderen Seite zu achten; denn nur individuelle Beratung kann zu einem gemeinsamen Erfolg führen. Das hat immer etwas mit der Fallzahl des jeweiligen Fallmanagers zu tun. Und klar ist auch: Eine individuelle Beratung ist bei einer Konstellation von einem Fallmanager für 300 Fälle nicht möglich.
Kollegin Tack, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Matthias W. Birkwald?
Das kann er gleich im Anschluss machen. Ich führe erst einmal aus. Matthias, du bist, glaube ich, nach mir dran.
Na ja, so ist es nicht.
Wenn nicht, dann kannst du gerne in einer Kurzintervention auf meine Rede eingehen.
Nein, dazu erteile noch immer ich das Wort, und das habe ich nicht vor.
({0})
Gut, das ist also abgelehnt.
Dann ist es so.
Wir nehmen das Urteil sehr ernst. Wir müssen die Jobcentermitarbeitenden vor Angriffen – das ist heute zur Sprache gekommen –, sie seien zu schnell und zu willkürlich, schützen. Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt: Wir brauchen Verhältnismäßigkeit im Umgang mit den Mitteln. – Wir brauchen – auch das ist richtig und wichtig – Klarheit. Es besteht auch die Notwendigkeit, dass Sanktionen verhängt werden können, wenn die Betroffenen ihr Verhalten nicht ändern; wenn auch für einen deutlich kürzeren Zeitraum. Wir brauchen aber auch eine Härtefallregelung. Außerdem wollen wir eine partnerschaftliche, eine ambitionierte Beratung und Betreuung. In den Jobcentern muss man sich natürlich Gedanken darüber machen: Warum ist jemand nicht erschienen? Warum ist eine sanktionsrelevante Situation entstanden? Man muss erst viele andere Maßnahmen in die Wege leiten, bevor am Ende eine Sanktion stehen kann.
Wir haben nun die Chance, durch eine sehr individuelle Herangehensweise an den jeweiligen Einzelfall den Menschen zu helfen. Wir geben den Fallmanagern mehr an die Hand, um durch eine gute und auf den Einzelnen orientierte Beratung für eine Arbeitsaufnahme zu sorgen. Das ist unser Auftrag. Falls es am Ende zu einer Verweigerung der Mitwirkung kommt, halten wir Sanktionen für gerechtfertigt.
Frau Kollegin.
Wir glauben, Sanktionen müssen möglich sein. Das sind wir der Solidargemeinschaft und denen, die mit ihren Steuern für das System aufkommen, schuldig.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Bundesminister Hubertus Heil, selbstverständlich müssen wir Hartz IV reformieren. Dazu wäre Gelegenheit im jetzt anstehenden Gesetzgebungsverfahren, das Sie gezwungenermaßen in Angriff nehmen müssen. Das wäre die Chance, Hartz IV auf neue Füße zu stellen. Aber dabei geht es nicht darum, die Sanktionen abzuschaffen. Ganz im Gegenteil: Wir müssen Hartz IV an einer anderen Stelle reformieren. Wir müssen Hartz IV motivierender und fairer ausgestalten. Dazu haben wir heute einen entsprechenden Antrag vorgelegt.
({0})
Selbstverständlich darf die Gesellschaft erwarten, dass Menschen entsprechend ihren Fähigkeiten die ausgestreckte Hand des Sozialstaates aktiv ergreifen. Wir glauben, dass langzeitarbeitslose Menschen in der Lage sind, Termine wahrzunehmen, und dass sie Jobangebote ausprobieren sollten, die ihnen unterbreitet werden. Das überfordert die Menschen nicht. Wir glauben, die Menschen können das. Wer das nicht glaubt, der denkt klein über die Menschen, und dieses Menschenbild lehnen wir als Freie Demokraten ab.
({1})
Wir trauen den Menschen zu, dass sie arbeiten wollen, und wir trauen den Menschen zu, dass sie arbeiten können. Woran Hartz IV krankt: Es fehlt an der Gerechtigkeit, an der Fairness und an der Motivation. Wir müssen Hartz IV fairer gestalten. Dazu muss es gelingen, dass den Menschen, wenn sie arbeiten, mehr vom selbstverdienten Geld bleibt. Anders als bisher dürfen wir ihnen nicht alles gleich wegnehmen. Das demotiviert sie. Wir müssen die Zuverdienstgrenzen reformieren. Wir müssen den Menschen mehr lassen vom selbstverdienten Geld. Das ist Motivation für die Menschen. Das ist fair, und das ist gerecht.
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Wir müssen die Zuverdienstgrenzen endlich anpacken und verbessern. Außerdem müssen wir Sozialleistungen zusammenfassen, sodass es nicht dazu kommt, dass jemand, wenn er mehr arbeitet, durch den Sozialleistungsentzug, durch den Transferentzug am Ende weniger Netto in der Tasche hat, als wenn er nicht gearbeitet hätte. Das ist widersinnig. Da müssen wir ran. Das kann man machen. Wir haben ein Konzept vorgelegt. Hubertus Heil, ich bitte Sie: Greifen Sie diese Ideen auf. Es würde den Menschen zu mehr Fairness und mehr Arbeit verhelfen.
({3})
Das Wirtschaftsforschungsinstitut ifo hat berechnet, dass unser Modell 300 000 Menschen neu in Arbeit bringen würde. 300 000 Menschen! Sie haben mit Ihrem Teilhabechancengesetz Maßnahmen ergriffen, mit denen Sie nur 150 000 Menschen in Arbeit bringen. Lassen Sie die Chance für die 300 000 Menschen jetzt nicht verstreichen. Lassen Sie uns an dieser Stelle zusammenarbeiten.
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Das zweite große Thema ist: Wir brauchen eine Entbürokratisierung der Jobcenter. Zu viel Zeit geht in den Jobcentern durch zu viel Bürokratie verloren, die für die qualifizierte Beratung der Menschen dann fehlt. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern brauchen mehr Zeit für die Menschen. Das können wir dadurch erreichen, dass wir die sogenannten Aufstocker, also die, die zu Hartz IV etwas hinzuverdienen, die im Arbeitsmarkt schon Fuß gefasst haben, in die Betreuung der Arbeitsagenturen geben. Dann würden die Mitarbeiter in den Jobcentern mehr Zeit haben für die, die nicht arbeiten. Das wäre ein guter Schritt. Das wäre eine wichtige Lösung im Sinne der Menschen.
({5})
Lassen Sie mich etwas zu den jungen Menschen sagen. Die unter 25-Jährigen hat das Bundesverfassungsgericht jetzt gar nicht in den Blick genommen. Auch da sehen wir Reformbedarf, aber nicht, indem ich von den jungen Menschen nichts mehr erwarte, ihnen sozusagen die Sanktionen erlasse und von ihnen keine Eigenverantwortung verlange.
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Ganz im Gegenteil: Ich muss die Betreuung intensivieren. Deshalb sagen wir: Sanktionen bei unter 25-Jährigen müssen immer zeitgleich einhergehen mit dem Angebot einer Jugendhilfemaßnahme, die den Menschen zeigt, wie sie aus der Situation wieder herauskommen, und die ihnen neue Perspektiven eröffnet.
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Zuverdienstgrenzen sind das ganz große Thema, wenn es darum geht, Hartz IV fairer und aufstiegsorientierter auszugestalten und den Einstieg in den Arbeitsmarkt zu verbessern. Das ist der Vorschlag der FDP. Das wäre jetzt an der Zeit.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Katja Kipping für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Damen und Herren! Liebe Zuschauende! Wir haben hier schon oft über Hartz-IV-Sanktionen gesprochen. Heute stehen wir vor einer neuen Situation. Neu ist, dass wir einen gemeinsamen Antrag von zwei Fraktionen vorliegen haben: von Grünen und Linken. Auch außerhalb des Parlaments versammeln sich immer mehr Menschen hinter der Kritik an den Hartz-IV-Sanktionen. Dafür spricht die Gemeinsame Erklärung von Gewerkschaften, Sozialverbänden und Wissenschaft, die sich für ein menschenwürdiges Existenzminimum aussprechen.
({0})
Die Botschaft des gemeinsamen Antrags und der Gemeinsamen Erklärung lautet: Wir werden immer mehr. Wir werden immer mehr, die ganz klar sagen: Weg mit den Hartz-IV-Sanktionen, her mit Sanktionsfreiheit.
({1})
Neu an der heutigen Debatte ist auch, dass wir jetzt ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts haben. Und wer sich nur ein bisschen mit diesem Gericht beschäftigt, weiß, dass die Richter sehr zurückhaltend sind, wenn es um politische Vorgaben geht. Aber umso schwerer wiegt es doch, wenn das Bundesverfassungsgericht einstimmig beschließt: Die jetzigen Regeln und die jetzige Praxis zu den Hartz-IV-Sanktionen sind unvereinbar mit der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip,
({2})
unvereinbar, soweit die Minderung mehr als 30 Prozent umfasst, soweit sie eine besondere Härte darstellt und soweit sie eine starre Dauer von drei Monaten hat.
Mir ist bewusst, dass jetzt ein Kampf um die Interpretation stattfindet.
({3})
Aber wenn ich hier vonseiten der CDU höre, dieses Urteil sei eine Bestätigung der bisherigen Sanktionspraxis und wir sollten jetzt mal aufhören mit unserer Kritik, dann kann ich dazu nur sagen: Das Ringen um die richtige Interpretation eines Urteils ist doch kein freier Kreativwettbewerb, bei dem die größte Verzerrung gewinnt.
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Wenn ein Jurist von Ihnen ernsthaft meint, dieses Urteil würde besagen, wir müssten jetzt mit unserer Kritik aufhören, dann kann ich dazu nur sagen: So jemand verwechselt auch das Einreichen von Scheidungspapieren mit einem Heiratsantrag.
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Bei der Umsetzung von Urteilen des Bundesverfassungsgerichts muss man seriös vorgehen. Insofern sage ich hier in aller Deutlichkeit: Natürlich, das Urteil ist keine Verpflichtung zur kompletten Sanktionsfreiheit.
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Es ist keine Verpflichtung, aber es ist auch kein Verbot. – Eine kleine Nachhilfe, was Modalverben anbelangt, für die Herren ganz rechts: „Können“ ist eben nicht dasselbe wie „müssen“. Aber das müssen Sie womöglich auch noch lernen.
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Im Urteil – Randnummer 224 – heißt es – Zitat –: Der Gesetzgeber hat einen Ermessensspielraum, „ob er weiterhin Leistungsminderungen“, also Sanktionen, „vorgeben will“. Das heißt, politisch können wir uns sehr wohl – das hat Karlsruhe jetzt gezeigt – für die komplette Abschaffung aller Sanktionen aussprechen. Und genau das schlagen wir, Grüne und Linke, heute in unserem gemeinsamen Antrag vor.
({8})
Zugleich sagen wir in diesem Antrag: Wir wollen, dass in den Jobcentern mehr Energie in die Vermittlung fließt, in die Qualifizierung, in die Weiterbildung, weil wir natürlich wollen, dass Menschen bei ihrer Suche nach Erwerbsarbeit, bei ihrer Suche nach einer Möglichkeit, sich sinnstiftend in die Gesellschaft einzubringen, unterstützt werden. Die Erfahrung, die zum Beispiel jemand wie Inge Hannemann gemacht hat, besagt: Wenn man auf die Androhung von Sanktionen verzichtet, ist das am Ende sogar produktiver und nachhaltiger.
({9})
Es gibt viele gute Gründe für Sanktionsfreiheit. Aus Zeitgründen nenne ich nur zwei: Wir wissen, jeder Dritte, der sanktioniert wird, lebt mit Kindern zusammen. Das heißt, Sanktionen gefährden das Kindeswohl. Und wir wissen, das Damoklesschwert der Hartz-IV-Sanktionen führt dazu, dass Leute schon im Bewerbungsgespräch bereit sind, niedrigere Löhne und schlechtere Arbeitszeiten in Kauf zu nehmen. Wem es also um gute Arbeit und die Wehrhaftigkeit der Beschäftigten geht, der muss auch sagen: So kann es mit den Hartz-IV-Sanktionen nicht weitergehen.
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Kollegin Kipping, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Abgeordneten Kleinwächter?
({0})
Na, vielleicht kann er ja noch was lernen.
({0})
Voneinander zu lernen, das ist doch das Ziel der Debatte. – Was sagen denn Sie zu Randnummer 63 des Urteils, das ich ebenfalls gelesen habe? Dort wird ausgeführt:
In einer weiteren Stellungnahme im Rahmen einer Anhörung zu Anträgen der Bundestagsfraktion Die Linke (BTDrucks 18/3549, 18/1115) und der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen (BTDrucks 18/1963) wird dargelegt, dass die Forschung zu Sanktionen positive arbeitsmarktpolitische Wirkungen zeige, insbesondere den beschleunigten Übergang in Beschäftigung. Leistungsminderungen könnten die richtigen Anreize setzen und auch Verhaltensänderungen bewirken.
Und so weiter. Sie haben ja vorgegeben, den gesamten Text gelesen zu haben. – Was wollen Sie denn eigentlich erreichen mit einer komplett sanktionsfreien Hartz-IV-Auszahlung, und wie reagieren Sie dann auf das eigentliche Prinzip des Hartz-IV-Systems, auf das Prinzip des Förderns und Forderns, das wir ja beide falsch finden? Dass die Leute möglichst bald wieder zu tun haben, dass sie möglichst bald wieder eine Arbeit aufnehmen, das muss das Ziel eines Systems sein. Im Hartz-IV-System geht das nur mit Sanktionen. Was sagen Sie gegen das Argument, das selbst im Urteil des Bundesverfassungsgerichts unter den Randnummern 62 und 63 niedergelegt ist, dass das positive arbeitsmarktpolitische Wirkungen hat?
({0})
Na gut, Sie beherrschen die Grundkompetenz des Lesens. Im Urteil wird weiterhin ausgeführt, dass für Sanktionen, die 60 Prozent und mehr umfassen, eine solche Wirkung nicht nachgewiesen ist. Das Urteil nimmt auch Bezug auf andere Untersuchungen, die deutlich gemacht haben, dass Sanktionen eben auch zu kontraproduktiven und für die Gesellschaft gefährlichen Entwicklungen geführt haben. Das wird auch im Urteil erwähnt. Da ist von Isolation und Rückzug die Rede. Ich sage Ihnen: Wenn in einer Gesellschaft gerade arme Menschen immer mehr isoliert werden, sich ihr Lebensraum am Ende auf die eigene Wohnung reduziert, aus Angst, dass man ansonsten nicht über die Runden kommt, dann ist das hochgefährlich, auch für die Demokratie. Auch deswegen kämpfen wir so entschieden gegen Hartz IV.
({0})
Zurück zum Urteil, zur Randnummer 123. Dort heißt es:
Insbesondere die Menschenwürde ist ohne Rücksicht auf Eigenschaften und sozialen Status, wie auch ohne Rücksicht auf Leistungen garantiert … sie muss nicht erarbeitet werden …
Das ist ein Satz zum Einrahmen: Die Menschenwürde muss nicht erarbeitet werden.
({1})
Ich finde, dieses Urteil stellt einen geschichtlichen Fortschritt dar. Das ist natürlich ein Bruch mit einer Logik, die landläufig so formuliert wird: Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen; das muss man sich ja auch leisten können usw. – All das steckt hinter der Logik der Agenda 2010. Ich merke doch, dass sowohl Sozialdemokraten als auch Christdemokraten mit diesem Grundsatz „Die Menschenwürde muss nicht erarbeitet werden“ und der Konsequenz daraus hadern, dass sie sich schwer damit tun.
({2})
Aber ich sage Ihnen: Auch in Ihrer Ideengeschichte gibt es Anknüpfungspunkte dafür. Weil wir hier schon aus der Bibel zitiert haben, erlaube ich mir, aus der Bergpredigt zu zitieren: Seht ihr nicht die Vögel, sie säen nicht, sie ernten nicht, und der himmlische Vater ernährt sie doch.
({3})
Also noch einmal: Wir werden immer mehr, die sich für Sanktionsfreiheit aussprechen. Wollen Sie wirklich wieder die Letzten sein, die dazukommen? Erinnern wir uns, wie das beim Mindestlohn war: Was gab es nicht für Einwände aus allen Ecken, als wir das zum ersten Mal gefordert haben? Nachdem der Mindestlohn eingeführt war, haben alle so getan, als ob sie höchstpersönlich ihn erfunden und durchgekämpft hätten.
({4})
Ich sage Ihnen Folgendes: Eines Tages sind wir nicht nur mehr, sondern dann ist auch hier in diesem Plenum die Mehrheit für Sanktionsfreiheit. Und wenn wir die dann beschlossen haben, werde ich mir voll Freude anschauen, wie all diejenigen, die heute noch zögern, so tun, als hätten sie die Sanktionsfreiheit höchstpersönlich erkämpft. Warten Sie nicht wieder so lange. Geben Sie sich einen Ruck, kommen Sie auf die Seite des sozialen Fortschritts,
({5})
und sagen Sie: Weg mit den Hartz-IV-Sanktionen, her mit Sanktionsfreiheit und guter Arbeit.
Vielen Dank.
({6})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Abgeordnete Peter Weiß das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Das Bundesverfassungsgericht hat ein kluges Urteil gefällt, und wir werden das tun, was eine Selbstverständlichkeit ist: Wir werden das Verfassungsgerichtsurteil achten und es Wort für Wort im Gesetz umsetzen.
({0})
Aber wir sind nicht bereit, genau das Gegenteil von dem zu machen, was das Bundesverfassungsgericht in sein Urteil geschrieben hat, um auch das klarzustellen.
Frau Kipping, als Sie von der Menschenwürde gesprochen haben, haben Sie – das will ich klipp und klar sagen – eine große Nummer gewählt: Die Würde des Menschen resultiert für mich als Christ aus der Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Das hat mit Arbeit nichts zu tun, sondern jedem von uns ist Würde zugesagt und kommt Würde zu.
({1})
Das Prinzip des „Forderns und Förderns“, das dem Sozialgesetzbuch II zugrunde liegt, ist vom Verfassungsgericht bestätigt worden. Der Gesetzgeber darf erwerbsfähigen Bezieherinnen und Beziehern von Arbeitslosengeld II zumutbare Mitwirkungspflichten auferlegen.
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Die Verletzung dieser Mitwirkungspflichten darf sanktioniert werden,
({3})
indem vorübergehend staatliche Leistungen entzogen und damit Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts gemindert werden. Also: Sanktionen sind nach diesem Verfassungsgerichtsurteil weiterhin möglich,
({4})
und wir werden sie verfassungsgerichtsfest ausgestalten.
({5})
Im Übrigen, Herr Kollege Lehmann, herrscht jetzt kein großes Chaos in den Jobcentern. Die Bundesagentur für Arbeit hat den Jobcentern eine Handlungsorientierung zukommen lassen, wie sie vorübergehend, bis zur Neuregelung, mit diesem Urteil umzugehen haben. Ich bin froh, dass in unseren Jobcentern kluge Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind, die dank dieser Handlungsorientierung wissen, was sie zu tun haben. Es herrscht kein Chaos in unseren Jobcentern.
({6})
Jetzt will ich mal etwas Grundsätzliches sagen, warum ich der Auffassung bin, dass wir um Sanktionsmöglichkeiten nicht herumkommen.
Erstens. Sanktionen betreffen durchschnittlich gerade 3,2 Prozent der Bezieherinnen und Bezieher von Arbeitslosengeld II. Die große Mehrheit hat also damit überhaupt kein Problem.
Zweitens. Von diesen Sanktionen sind 77 Prozent Sanktionen wegen Meldeversäumnissen, also zum Beispiel wenn jemandem, der unentschuldigt einen Termin im Jobcenter nicht wahrnimmt, die Leistungen um 10 Prozent gekürzt werden.
({7})
Jetzt sprechen wir mal von denen, die das System finanzieren, den normalen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bei uns in Deutschland. Wenn ein Arbeitnehmer morgen unentschuldigt in seinem Betrieb fehlt, dann hat das unangenehme Konsequenzen für ihn.
({8})
Dieser Arbeitnehmer finanziert aber mit den Steuern, die von seinem Lohn abgeführt werden, das System des Arbeitslosengeldes II. Die Vorstellung der beiden Fraktionen, die einen Antrag stellen, ist nun offensichtlich, dass derjenige, der aus den Steuergeldern dieses Arbeitnehmers sein Arbeitslosengeld II bezieht,
({9})
nicht sanktioniert werden soll, wenn er morgen einen vereinbarten Termin mit dem Jobcenter unentschuldigt versäumt und nicht hingeht. Wo ist denn das Gleichgewicht zwischen Arbeitnehmern und denjenigen, die Arbeitslosengeld II beziehen? Ich finde, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland, die mit ihren Steuern brav und treu dieses System finanzieren, haben ein Anspruch darauf, dass sie bei Terminversäumnissen nicht schlechtergestellt werden als jemand, der Arbeitslosengeld II bekommt.
({10})
Meine Erfahrung aus vielen Gesprächen ist, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von uns als Gesetzgeber erwarten, dass wir sie nicht schlechterstellen. Vielmehr ist klar: Wer einen Termin versäumt und sich nicht vorher dafür entschuldigt, was der normale menschliche Anstand gebietet, der kann nicht einfach so weitermachen; denn sonst hätten wir, Entschuldigung, ein bedingungsloses Grundeinkommen für jeden, der Pflichtversäumnisse für eine Selbstverständlichkeit hält, und das geht nicht.
({11})
Was aber entscheidend ist, ist die Frage, wie wir das Fördern ausgestalten. Ich finde, wir haben mit dem Teilhabechancengesetz, das seit 1. Januar gilt, mit den hohen Lohnzuschüssen für Leute, die schon sehr lange arbeitslos sind, einen zusätzlichen Anreiz geschaffen, in Arbeit zu kommen. Aber wir haben vor allen Dingen eins gemacht: Wir haben das Instrument des Coaches gestärkt. Ich habe bei vielen Jobcenterbesuchen extra mit diesen Coaches gesprochen. Ich muss sagen: Die Leute, die sich da zur Unterstützung und Beratung von Langzeitarbeitslosen bei der Eingliederung in Arbeit bereitgefunden haben, sind tolle Leute, machen eine tolle Arbeit. Ich glaube, der entscheidende Punkt ist – den hat auch die Kollegin Tack schon angesprochen –: Wir müssen die personelle Hilfe und Unterstützung, um rauszukommen aus Arbeitslosigkeit, verstärken, und wir müssen nicht Sanktionsmöglichkeiten für alle Zeiten abschaffen.
({12})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir machen das, -
Achten Sie auf die Zeit, Kollege Weiß.
– was das Bundesverfassungsgericht uns aufgetragen hat, aber wir wollen auch weiterhin Fordern und Fördern im Gleichgewicht in unser Gesetz hineinschreiben.
({0})
Das ist übrigens das Erfolgsrezept, mit dem wir Langzeitarbeitslosigkeit in Deutschland abbauen.
Vielen Dank.
({1})
Für die AfD-Fraktion hat nun der Abgeordnete René Springer das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich werde mich auf den Antrag der FDP-Fraktion beschränken. Die FDP-Fraktion möchte Hartz IV reformieren und ein sogenanntes liberales Bürgergeld einführen. Sie wollen den Sozialstaat entbürokratisieren und höhere Anreize zur Arbeitsaufnahme schaffen. Beide Zielsetzungen unterstützen wir als AfD-Fraktion ausdrücklich.
({0})
Was wir nicht unterstützen, ist die Art und Weise, wie Sie das Ziel erreichen wollen. Da möchte ich einige Beispiele bringen.
Heute hat ein alleinstehender Arbeitsloser Anspruch auf den Hartz-IV-Regelsatz in Höhe von 424 Euro plus Kosten der Unterkunft.
({1})
Hier in Berlin sind das knapp 500 Euro für einen Single. Sie wollen nun beides zu einer Pauschale zusammenfassen. Das klingt einfach, hat aber zur Folge, dass jemand, wenn er in einer WG lebt und beispielsweise nur 300 Euro Miete zahlt, 200 Euro mehr in der Tasche hat. Ich glaube nicht, dass irgendein Abgeordneter hier im Bundestag das Mandat hat, auf Kosten der Steuerzahler Taschengeld zu verschleudern. Wenn wir Ihre Pläne ernst nehmen, dann hat der erwähnte Berliner Single über 900 Euro im Monat zur Verfügung. Im Grunde ist das ein Grundeinkommen.
({2})
Herr Kober, wenn Sie sagen – warten Sie ab –, Sie wollen die Sanktionen nicht abschaffen, dann sollten Sie Ihren Antrag genauer lesen. In dem steht: „Abschaffung von Sanktionen der Kosten der Unterkunft“. Wir wissen nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, dass 30-Prozent-Sanktionen beim Regelsatz okay sind und 70 Prozent nicht. Das heißt also: Im Grunde ist es ein Grundeinkommen, das jeder erhält, der nicht arbeitet.
({3})
Nach Ihrem Antrag geht es sogar so weit, dass man diesen Anspruch hat, wenn ein Sozialleistungsempfänger mit einem Millionär zusammenwohnt. Denn Sie schreiben:
Schaffung eines einheitlichen Regelsatzes
– ich habe es gerade erwähnt -
für erwachsene Leistungsbezieherinnen und Leistungsbezieher, unabhängig davon, ob sie mit Partner oder ohne Partner leben …
Das halten wir für verkehrt. Wir halten das für verantwortungslos gegenüber denjenigen, die sich für einen Mindestlohn abbuckeln und am Ende des Monats, wenn man alles abzieht – die Sozialabgaben, die Steuern und die Miete –, weniger zur Verfügung haben als Sozialleistungsempfänger, die nicht arbeiten. Das halten wir für verkehrt.
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Es überrascht, dass Sie so einen Antrag überhaupt vorbringen. Im Übrigen sind das Fantasien der Linken, aber eben nicht das, was man üblicherweise von der FDP erwartet.
Aber es gibt noch etwas anderes in Ihrem Antrag: Sie wollen die Hinzuverdienstmöglichkeiten verbessern. Sie wollen, dass man mehr von seinem Zuverdienst zur Verfügung hat. Sie sagen: So lohnt sich eine Arbeitsaufnahme. – Dazu passen Sie quasi die Hinzuverdienstmöglichkeiten an, die es ja auch bislang schon gibt, aber die zugegebenermaßen eher von Arbeit abschrecken als animieren, Arbeit aufzunehmen. Von jedem dazuverdienten Euro soll man also mehr behalten dürfen. Aber das hat eben Konsequenzen. Ja, es führt dazu, dass mehr Menschen einen Job aufnehmen.
Es gibt eine Studie des IAB, des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, das im Jahr 2010 gesagt hat – es hat Ihren Vorschlag ja untersucht –: Wenn man die Hinzuverdienstregeln anpasst, gibt es 74 000 Leistungsbezieher, die tatsächlich in Arbeit kommen. – Aber die Studie sagt auch, dass dem 880 000 Menschen gegenüberstehen, die in den Hartz-IV-Bezug fallen. Da müssten Sie eigentlich selbst erkennen, dass das ein extrem schlechter Deal ist.
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– Ja, Sie haben auch eine Studie. Wahrscheinlich haben Sie die selber beim ifo-Institut beauftragt; aber ich beziehe mich auf die Studie des staatlichen Instituts, und die erscheint mir etwas glaubwürdiger zu sein.
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Mehr Leistungsempfänger bedeuten nach dieser Studie eben auch höhere Kosten. Diese Studie ging damals von 3,2 Milliarden Euro Mehrkosten pro Jahr aus. Wenn Sie sich also demnächst wieder in den Haushaltsberatungen hinstellen – ich glaube, Herr Fricke hat das neulich getan – und die Bundesregierung dafür kritisieren, zu Recht im Übrigen, dass die Sozialleistungen zu hoch sind, dann behalten Sie im Hinterkopf, dass mit Ihrem Bürgergeldmodell alles noch viel schlimmer wird.
({7})
Neben all der Kritik gibt es auch Forderungen, die wir unterstützen. Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin: Ja, wir sind bei Ihnen, wenn Sie in Ihrem Antrag fordern, die Betreuung in den Jobcentern zu verbessern. Wir sind dabei, wenn Sie sagen, Sie wollen die Weiterbildungsmöglichkeiten verbessern und die Übergänge in den ersten Arbeitsmarkt stärken. Da können Sie mit uns rechnen. Ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuss. Wir stimmen der Überweisung zu.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Schmidt für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie wir schon mitbekommen haben: Die ganze Frage der Sanktionen ist emotional stark aufgeladen, und sehr konträre Haltungen prallen aufeinander. Das ist nicht nur hier im Parlament so, sondern das ist auch in der Bevölkerung so, wie das in einer Demokratie eben so ist. Das Bundesverfassungsgericht hat vor diesem Hintergrund ein, wie ich finde, sehr kluges Urteil gesprochen.
Ich glaube, für die allermeisten Menschen ist die Haltung, für ihr eigenes Einkommen zu sorgen, eine absolute Selbstverständlichkeit. Es ist das Selbstverständnis, das sie haben, dass sie für ihr eigenes Leben selbst sorgen, ihren eigenen Lebensunterhalt auch irgendwie selber erwirtschaften. Man mag das eine kulturelle Haltung nennen oder – weil wir ja bei den christlichen Formulierungen waren – Arbeitsethos, aber ganz viele Menschen sind davon geprägt. Wäre das nicht so, dann hätten wir auch kein Problem mit verschämter Armut, weil genau das sich darin wiederfindet, dieses „Ich will nicht als Bittsteller oder Bittstellerin zum Amt gehen, und deswegen verzichte ich auf Dinge, die mir zustehen“. Deshalb war es auch – kleiner Exkurs – so wichtig, was wir in der Grundrente getan haben, damit die Menschen eben nicht zum Amt gehen müssen, sondern automatisch ihre Grundrente bekommen. Das war gut und richtig.
({0})
Also: Für viele Menschen ist das ein prägendes Selbstverständnis, und das Bundesverfassungsgericht hat diesem Selbstverständnis Genüge getan, indem es der Erwartung, dass es Mitwirkungspflichten gibt, dass es etwas Selbstverständliches ist, das Einkommen selbst zu sichern, entsprochen hat.
Aber es entspricht eben auch der Haltung der allermeisten Menschen, dass man unverschuldet in Not geraten kann und Hilfe braucht. Manchmal gerät man auch verschuldet in Not und braucht trotzdem Hilfe und eine zweite Chance und vielleicht manchmal auch eine dritte.
({1})
Deshalb hat das Bundesverfassungsgericht dieser Grundhaltung, für das eigene Einkommen sorgen zu müssen, die Rechte entgegengesetzt, die aus der Würde des Menschen entstehen, und stellt dazu klare Regeln auf. Wenn ich diese in eigenen Worten zusammenfasse, dann heißt das ungefähr so: Bei der Arbeit der Jobcenter muss viel stärker als bisher die jeweilige individuelle Lage des oder der einzelnen Arbeitslosen berücksichtigt werden. Die Arbeit des Jobcenters muss erwiesenermaßen Sinn machen – flexibel, zurücknehmbar und anpassbar –, und das Einfordern von Mitwirkungspflichten ist an ganz klare Voraussetzungen gebunden und hat harte Grenzen.
Damit diese Mitwirkung eingefordert werden kann, muss es folglich grundsätzliche Veränderungen im System geben. Diese haben wir in unserem Sozialstaatspapier zu Beginn dieses Jahres beschrieben. Der erste und wichtigste Punkt ist die individuelle Betrachtung. Wir haben gesagt, wir wollen aus der Eingliederungsvereinbarung eine Teilhabevereinbarung machen, eine Vereinbarung, in der gemeinsam auf Augenhöhe Rechte und Pflichten der jeweils anderen Seite festgeschrieben werden, und nicht nur einseitig die Pflichten der Arbeitslosen. Wir wollen einen großen, breiten Instrumentenkasten, mit dem unterstützt werden kann und der nicht nur Instrumente der Arbeitsmarktintegration, sondern auch Schritte der sozialen Teilhabe mit umfasst, denn manchmal muss auch erst ein persönliches Problem gelöst werden, bevor man für sich selbst sorgen kann.
({2})
Die Maßnahmen und die Unterstützung müssen Sinn machen. Arbeitslose sind mündige Bürgerinnen und Bürger, und sie sind Expertinnen und Experten ihrer selbst. Deshalb wollen wir ihre Rechte stärken und ihnen mehr Rechte geben. Es muss zum Beispiel die Möglichkeit geben, den Ansprechpartner, wenn die Chemie mal gar nicht stimmt, auch einmal wechseln zu dürfen und neutrale Ombudsstellen anzusprechen. Außerdem wollen wir ein Recht auf Qualifizierung und Weiterbildung. Aber wir wollen noch mehr als das: Wir wollen vor allem ein Recht auf Arbeit, ausgehend von dem Grundsatz, den ich am Anfang beschrieben habe: dass die allermeisten Menschen eigentlich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen wollen. Wir wollen ihnen diese Möglichkeit mit einem Recht auf Arbeit geben.
({3})
Unsere Antwort ist eben nicht die eines bedingungslosen Grundeinkommens, die Menschen am Ende des Tages rechts oder links liegen zu lassen, sondern wir wollen Arbeit statt Arbeitslosigkeit bezahlen.
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– Wir diskutieren das mal nicht hier, sondern woanders aus, Matthias Birkwald.
In einem solchen System ist es eine Frage des gegenseitigen Respekts, auch einen eigenen Beitrag einzubringen, mitzuwirken und sich im Rahmen seiner Möglichkeiten anzustrengen, -
Kollegin Schmidt!
– um auch selbst wieder stolz zu sein auf das, was man geleistet hat. In diesem Sinne freue ich mich auf die weitere Diskussion des Themas.
({0})
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Johannes Vogel das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da die Kollegin Kipping eben zu Recht sagte, dass die Interpretation eines Gerichtsurteils kein kreativer Ideenwettbewerb sei, sondern Seriosität voraussetze, möchte ich zu Beginn der Debatte festhalten:
Erstens. Sanktionen sind nicht verfassungswidrig. Alle sind zur Hilfe gegenüber allen verpflichtet, die diese Hilfe brauchen; aber jeder hat auch die Verantwortung, daran mitzuwirken, diesen Zustand wieder zu beenden.
({0})
Diesen Grundsatz ins Gesetz zu schreiben, ist vereinbar mit unserem Grundgesetz sowie mit der darin konstituierten und gesicherten Menschenwürde. Dass über 90 Prozent der betroffenen Menschen überhaupt nicht mit Sanktionen in Kontakt kommen, zeigt doch zweierlei:
Es ist richtig, lieber Kollege Lehmann, dass es unverantwortlich ist, Zerrbilder von den Menschen zu zeichnen, die unsere Unterstützung benötigen und diesen Zustand gern verlassen würden. Genauso falsch ist es aber auch, Zerrbilder von den Menschen zu zeichnen, die in den Jobcentern arbeiten und jeden Morgen aufstehen, um diesen Menschen zu helfen.
({1})
Beides ist falsch, und beides hören wir aber auch immer wieder in dieser Debatte.
Zweitens. Das Gericht hat klipp und klar gesagt – –,
Gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung?
Aber gern.
({0})
Vielen Dank für die Möglichkeit einer Zwischenfrage. – Frau Präsidentin! Herr Vogel, Sie haben gerade den Eindruck erweckt, dass jemand ein Zerrbild von den Beschäftigten in den Jobcentern, den Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeitern, zeichnen würde. Ich kann das für mich und ich denke, auch für jene, die diesen Antrag verfasst haben, eindeutig zurückweisen.
Wir sagen vielmehr, dass das jetzige Urteil die Beschäftigten in den Jobcentern in eine verdammt schwierige Situation bringt; denn es gibt unterschiedliche Interpretationen aus dem Hohen Haus. Es gibt unterschiedliche Aussagen, auch von der Spitze der Bundesagentur für Arbeit. Es gibt jetzt einen größeren Ermessensspielraum.
({0})
Dies macht es für die Mitarbeiter stressiger und schwieriger; denn sie sind immer mit einem konkreten Menschen konfrontiert.
Deshalb wollte ich Ihnen diese Rückmeldung geben und fragen, woher Sie die Aussage genommen haben, dass wir schlecht über sie sprechen würden. Ganz im Gegenteil: Wir sagen, die unbürokratischste Regelung wäre die Umsetzung mit einer Sanktionsfreiheit auch für die Beschäftigten in den Jobcentern.
({1})
Das kann ich Ihnen sagen, wie der Eindruck entsteht. Er entsteht, weil wir in der Debatte immer wieder von Einzelfällen hören, bei denen man in der Tat den Eindruck haben kann, dass zu Unrecht Sanktionen verhängt wurden und dann immer wieder in der öffentlichen Debatte der Eindruck kreiert wird, dass das der Regelfall wäre.
({0})
Richtig ist – das will ich an dieser Stelle auch ganz klar sagen – aber auch
({1})
– hören Sie bitte gut zu! – der zweite Teil des Urteils:
Erstens. Sanktionen sind eine außerordentliche Belastung, und sie dürfen nie so weit gehen, dass jemand beispielsweise seine Wohnung verliert.
Zweitens. Natürlich war es absurd, dass es Konstellationen im Gesetz gab, aufgrund derer es den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Jobcentern verboten war, eine Sanktion aufzuheben, obwohl das Verhalten längst geändert wurde.
Beides haben wir Freien Demokraten aber auch schon lange gesagt. Deshalb ist das Urteil in beiden Teilen richtig und nicht nur einstimmig, sondern auch klug gefällt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Unser höchstes Gericht hat damit – das ist doch eine Chance! – in den letzten Jahren zwei entscheidende Streitfragen bei der Grundsicherung geregelt. Immer wieder wurde über die Verfassungsmäßigkeit der Regelsätze und der Sanktionen diskutiert. Beide Fragen sind jetzt höchstrichterlich beantwortet. Das heißt, wir könnten doch jetzt einen Schritt zurücktreten, den Blick heben und uns fragen: Was müssen wir bei der Grundsicherung generell besser machen?
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Dies setzt aber zwei Dinge voraus, liebe Kolleginnen und Kollegen: Die Union darf nicht länger im Wortsinn konservativ sein und sich – und mit ihr die Koalition – nur genau so weit bewegen, wie sie gerade muss. Lieber Kollege Peter Weiß, die Eins-zu-eins-Umsetzung des Urteils reicht eben nicht, sondern wir müssen jetzt über die Grundsicherung generell sprechen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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– Da klatscht sogar die SPD, das freut mich sehr.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und den Linken, für Sie gilt aber genauso: Zwischen Sie beide passt nicht nur in der Arbeitsmarktpolitik mal wieder kein Blatt; man kann Sie fast auswechseln. Vielmehr darf es uns auch nicht darum gehen, was Sie wollen: Sie suchen den Abstand zur Agenda 2010 und die Nähe zum bedingungslosen Grundeinkommen.
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Was wir aber doch in Wahrheit suchen müssten, das sind die neuen Antworten für die neue Zeit, liebe Kolleginnen und Kollegen, und dabei gibt es natürlich Bedarf, wo die Grundsicherung besser werden muss.
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Erstens. Die Grundsicherung muss viel unbürokratischer werden. Die Menschen müssen von Amt zu Amt rennen und teils monströse seitenlange Bescheide ausfüllen.
Zweitens. Die Grundsicherung kann viel würdewahrender werden. Die Menschen müssen heute noch Details ihres Mietvertrags diskutieren und Fragen zu ihrer Beziehung beantworten. Das können mündige Bürger selbst entscheiden, auch wenn der Staat das Existenzminimum sichert.
Drittens und letztens muss die Grundsicherung chancenorientierter werden; mein Kollege Pascal Kober hat es schon gesagt. Wie läuft es denn in der Realität? Wenn jemand aus der Grundsicherung herausfindet, dann ist es heute doch oft so, dass er erst eine Stelle für ein paar Stunden in der Woche bekommt. Die ersten 100 Euro kann man auch behalten, aber wenn dann die Chefin oder der Chef sagt: „Komm doch ein paar Stunden mehr“, dann muss man von jedem verdienten Euro 80 Cent abgeben. Das ist absurd.
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Gerade wenn der Weg aus der Hilfsbedürftigkeit herausführt, legen wir heute Steine in den Weg. Stattdessen müssen wir eine trittfeste Leiter aus der Grundsicherung heraus bauen.
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Das wäre eine moderne und bessere Grundsicherung. Das nennen wir liberales Bürgergeld, und darüber sollten wir in den nächsten Wochen auch sprechen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Kai Whittaker das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Mit Blick auf den Blutdruck des geschätzten Kollegen Birkwald versuche ich jetzt, das Wort „bedingungsloses Grundeinkommen“ nicht weiter in den Mund zu nehmen.
({0})
Werte Kollegen, ich glaube, in der Debatte ist deutlich geworden, dass Grüne und Linke das Urteil für ihre politischen Zwecke missbrauchen.
({1})
Frau Kipping, Sie stellen sich hier an dieses Rednerpult und sagen: Sanktionen sind menschenunwürdig. – Damit suggerieren Sie, dass sie verfassungswidrig sind.
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Genau das ist etwas, was das Urteil nicht festgestellt hat. Vielmehr sind Sanktionen mit der Verfassung vereinbar.
({3})
Das Bundesverfassungsgericht hat auch ganz klar gesagt, dass man die Regelungen im Sinne des Nachranggrundsatzes ausgestalten kann.
({4})
Das heißt, dass jeder das tun muss, was er tun kann, damit er aus der Hilfe herauskommt.
Frau Kipping, Sie haben vorhin die Randnummer 124 aus dem Bundesverfassungsgerichtsurteil zitiert. Genau die habe ich mir auch aufgeschrieben.
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Sie haben den zweiten Satz unterschlagen. Er lautet – ich zitiere –:
Eine daran
– also an die Sanktionen -
anknüpfende Schonung der begrenzten finanziellen Ressourcen des Staates sichert diesem künftige Gestaltungsmacht gerade auch zur Verwirklichung des sozialen Staatsziels.
Das heißt mit anderen Worten: Nicht nur, dass sich die große Gemeinschaft um den Einzelnen kümmern muss und der Einzelne alles zu tun hat, um sich um das große Ganze zu kümmern, sondern auch: Er muss es auch tun. Wir müssen die Sanktionen verhängen. Wenn wir es nicht machen, untergraben wir den Sozialstaat in der Zukunft.
({6})
Herr Lehmann, genau deswegen ist es kein Spaltpilz, wenn wir auf den Sanktionen bestehen. Es ist ein Spaltpilz, wenn Sie sie abschaffen wollen.
({7})
Das treibt den Spaltpilz in die Gesellschaft hinein, Herr Lehmann.
Man muss auch ganz klar sagen: Es ist für Sie natürlich auch ein bisschen einfach, wenn Sie sagen: Die Sanktionen sind menschenunwürdig und müssen deshalb abgeschafft werden. – Wenn Sie suggerieren, dass die Sanktionen verfassungswidrig sind, dann heißt das, dass es keine andere Option gibt, als sie abzuschaffen. Damit entziehen Sie sich einer Erklärung gegenüber dem Steuerzahler, warum Sie diese eigentlich politische Forderung tatsächlich wollen.
({8})
Sie wissen, dass das eine sehr schwere Forderung ist, weil die absolute Mehrheit der Bürger in diesem Land – und das konsequent schon seit Jahren – für Sanktionen ist.
({9})
Eine absolute Mehrheit – gerade heute war dazu wieder eine Umfrage in den Zeitungen –, 53 Prozent, ist dagegen, Sanktionen abzuschaffen. – Sie wollen Politik gegen den gesunden Menschenverstand machen.
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Das ist natürlich deutlich schwieriger, als sich einfach hierhinzustellen und zu sagen, das habe das Verfassungsgericht mehr oder weniger so suggeriert.
Sie machen es sich auch deshalb leichter – auch das kam schon zur Sprache –, weil gerade einmal jeder elfte Hartz-IV-Empfänger im Laufe eines Jahres wirklich sanktioniert wird. Jeder Elfte! Sie schreiben in Ihrem Antrag: Das sind über 400 000 Menschen. – Das ist richtig, das sind viele Menschen. Aber das heißt im Umkehrschluss, dass 3,6 Millionen Menschen nicht sanktioniert werden.
({11})
Für die machen Sie hier in diesem Plenum gar keine Politik. Seit Jahr und Tag reden wir immer nur darüber, Sanktionen abzuschaffen oder abzumildern. Aber ich habe von Ihnen noch keinen substanziellen Vorschlag dazu vernommen, wie Sie diese 3,6 Millionen Menschen aus der Arbeitslosigkeit in die Arbeit bringen wollen. Das muss im Vordergrund stehen.
({12})
Wir glauben, dass wir einen neuen sogenannten ABC-Ansatz brauchen.
Kollege Whittaker, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Birkwald? Ich mache auch gleich darauf aufmerksam: Das ist dann die letzte, die ich hier zulasse.
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Ich gestatte die Zwischenfrage gerne.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! – Vielen Dank, lieber Kollege Whittaker, dass die Zwischenfrage zugelassen wird.
Erstens. Mit unserem Antrag in der vergangenen Sitzungswoche haben wir sehr wohl Vorschläge gemacht, wie man Erwerbslose besser in Arbeit bekommt. Zweitens. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass jeder vierte Erwachsene mit Hartz IV sein Gehalt ergänzt, also sein mieses Einkommen, sein Niedriglohneinkommen notwendigerweise aufstocken muss, also morgens früh aufsteht und zur Arbeit geht, drittens, weitere 26 Prozent der Hartz-IV-Betroffenen sich in Arbeitsförderung oder Weiterbildung befinden und dass viertens insgesamt nur eine Minderheit derjenigen, die von Hartz IV betroffen sind, wirklich arbeitslos sind? Das sind nämlich nur 25 Prozent.
Alle anderen sind Kinder. Ich hoffe, dass wir uns hier im Hohen Hause alle einig sind, dass wir keine Kinderarbeit wollen. Alles andere sind ferner Menschen, die Leistungen aufstocken. Es sind auch Menschen dabei, die krank sind. Das heißt, wir haben einen hohen Anteil von SGB-II-Leistungsberechtigten, die sehr wohl arbeiten gehen und zeigen, dass sie Leistung erbringen wollen. Dazu zählen auch all diejenigen, die sich in einer Weiterbildung befinden.
({0})
Die erste Bemerkung ist, dass in meinen Zahlen die Kinder nicht eingerechnet sind. Natürlich sind wir uns darin einig, dass Kinder auf dem Arbeitsmarkt nichts zu suchen haben. Das ist ganz klar.
Zweitens. Ja, auch unter den SGB-II-Empfängern sind sogenannte Aufstocker. Ob sie ihr mieses Gehalt, wie Sie sagen, aufstocken oder ob es schlicht und ergreifend am Stundenumfang liegt, den sie aus gesundheitlichen Gründen leisten können, sodass sie keine Vollzeitstelle haben, ist aus den Statistiken nicht eindeutig herauszulesen. Deshalb widerspreche ich Ihrer Interpretation in diesem Punkt.
Selbst wenn es so wäre, habe ich von Ihrer Fraktion auch noch keinen Vorschlag gehört, wie die Mitarbeiter in den Jobcentern in Zukunft solchen Menschen eine weitere Beratung zukommen lassen können, damit sie sich weiterbilden und in ihren Jobs aufsteigen können.
({0})
Das ist so im Aufstockerbereich nicht explizit vorgesehen. Die Jobcentermitarbeiter kümmern sich hauptsächlich um diejenigen, die gar keine Arbeit haben. Ich halte das durchaus für ein Problem. Aber von Ihrer Fraktion habe ich diesbezüglich nichts gehört.
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Sie haben letzte Woche lediglich den Antrag eingebracht, mit dem Sie sagen: Erst einmal bekommt jeder eine Art – jetzt sage ich es doch – bedingungsloses Grundeinkommen, aber mit irgendeiner Arbeit nebenher, die mit dem normalen Arbeitsleben nichts zu tun hat. – Ich empfinde es als keine menschenwürdige Arbeit, wenn man so tut, als ob Menschen arbeiten gehen könnten oder müssten. Vielmehr brauchen sie eine richtige Arbeit bei einem richtigen Unternehmen mit einem richtigen Arbeitsvertrag und einem richtigen Lohn. Das ist für mich eine erfolgreiche Vermittlung in den Arbeitsmarkt.
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Deshalb bleibe ich dabei: Wir brauchen einen neuen ABC-Ansatz. Das Erste: Anreize setzen. Da stimme ich in der Sache mit der FDP überein. Leider haben Sie in Ihrem Antrag ausgerechnet den Verdienst der ersten 100 Euro, also den geringsten Hinzuverdienst, völlig unberührt gelassen. Dabei sehen da die Sachverständigen, also die Wirtschaftsweisen der Bundesregierung, den größten Handlungsbedarf. Da geht Ihr Antrag fehl.
Zweitens. Es braucht mehr Bildung. Auch da noch mal der Hinweis an das Ministerium: Wir müssen uns dem Thema „Fachbildung und Weiterbildung“ massiv zuwenden, weil das, was zurzeit in den Jobcentern läuft, nicht unbedingt das ist, was in einem Hochtechnologieland wie Deutschland unbedingt gebraucht wird.
Drittens – Frau Kollegin Tack, da bin ich sehr dankbar, das von Ihnen zu hören –: das Thema Chance. Es geht um mehr Zeit, mehr Personal. Denn das heißt es ja am Ende. Wir brauchen eine bessere und engere Beratung in den Jobcentern. Ich glaube, dass wir das nicht mit mehr Personal hinkriegen, sondern wir müssen Personal umschichten: von denjenigen, die Hartz IV ausrechnen, zu denjenigen, die die Arbeitslosen in Arbeit bringen. Wenn das die Erkenntnis auch bei der SPD ist, dann freue ich mich sehr auf die Reformen, die vor uns liegen, um dieses Problem zu lösen.
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Danke schön.
({4})
Das Wort hat Dr. Martin Rosemann für die SPD-Fraktion.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich finde es schon bemerkenswert, dass gut eine Woche nach dem Urteil die Interpretation des Urteils von Teilen dieses Hauses immer noch so selektiv vorgenommen wird. Die Linken lesen das eine aus dem Urteil heraus, die CDU/CSU liest das andere heraus.
Dabei müssen wir schon das Urteil in Gänze zur Kenntnis nehmen, meine Damen und Herren. Das heißt dann – das haben Frau Tack und Frau Schmidt auch schon ausgeführt –, dass Mitwirkungspflichten weiterhin abverlangt werden können,
({0})
aber dass Sanktionen verhältnismäßig sein müssen. Das gilt für die Höhe. Das gilt für die Möglichkeit, Sanktionen zurückzunehmen. Das gilt vor allem dafür, dass der oder die Einzelne in den Mittelpunkt gestellt wird.
({1})
Da sind wir als Gesetzgeber gefragt. Damit bin ich zuerst einmal bei der FDP. Also, ich wünsche mir nach dieser Rede mehr Vogel in der FDP; ich wünsche mir wirklich mehr Vogel in der FDP.
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Aber wenn hier der Eindruck erweckt wird, wie vor allem vom Kollegen Kober, alles sei nur ein Problem finanzieller Anreize, dann muss ich sagen: Das greift doch etwas zu kurz.
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Ich will nicht sagen, dass wir gar keine Probleme bei Zuverdiensten haben, aber was die FDP will mit ihren Vorschlägen zum Zuverdienst, mit ihrem liberalen Bürgergeld, das hieße ja – –
Kollege Rosemann, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Kober?
Ich glaube, er sollte erst mal zuhören, was ich dazu sagen will.
„Erst mal“ ist nicht. Ich habe vorhin schon deutlich gemacht, wer hier das Wort erteilt. Entweder Sie gestatten das, oder es geht jetzt weiter.
Ich gestatte die Frage jetzt nicht. Vielleicht erledigt sie sich dann auch.
Der Ansatz der FDP bedeutet ja, dass zunächst mehr Menschen in die Grundsicherung kommen. Wir wollen genau das Gegenteil, wir wollen verhindern, dass Menschen überhaupt in die Grundsicherung kommen,
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durch einen höheren Mindestlohn, dadurch, dass wir die vorgelagerten Systeme stärken, dass wir jetzt ein höheres Wohngeld machen, dass wir den Kinderzuschlag ausgebaut haben und dass wir eine Kindergrundsicherung wollen. Weniger Leute in SGB II, nicht mehr – das ist doch die Antwort.
({1})
Finanzielle Anreize mögen ein Problem sein, zum Beispiel wenn Menschen, die keine Hartz-IV-Leistungen mehr bekommen, plötzlich Kitagebühren zahlen müssen, was sie vorher nicht mussten. Da müssen wir aber zielgenauer ansetzen. Vor allem sind finanzielle Anreize nicht das einzige Problem. Denn viele Menschen im SGB II haben eben Probleme. Da müssen wir doch in erster Linie zielgenau unterstützen durch eine individuelle Hilfe, indem der Sozialstaat als Partner die Leute im Einzelfall passgenau unterstützt.
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Das genau verlangt uns das Urteil ab. Was müssen wir tun, um das zu leisten?
Erstens. Wir brauchen einen Kulturwandel, nämlich dass die Menschen Bürgerinnen und Bürger mit eigenen Rechten sind und eben keine Bittsteller, dass sie nicht von einer Stelle zur anderen geschickt werden dürfen, sondern Hilfe und Unterstützung wie aus einer Hand bekommen.
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Zweitens. Wir müssen für mehr Augenhöhe sorgen. Wir brauchen ein Bündnis auf Augenhöhe zwischen dem Jobcenter und demjenigen, der die Unterstützung bekommt. Dazu gehört ein respektvoller Umgang, dazu gehört aber auch, dass wir eine Teilhabevereinbarung abschließen mit konkreten Schritten, verständlich und klar für beide Seiten, klar darin, was welche Seite zu leisten hat.
Drittens. Es geht um umfassende Unterstützung, nicht nur um Arbeit. Natürlich geht es um Arbeit und Weiterbildung, aber eben um mehr, um Kinderbetreuung, um Gesundheit, um alles, was die Menschen in ihrem persönlichen Umfeld an Problemen haben, was sie selber nicht mehr auf die Reihe kriegen. Deswegen lasst uns – ich bin Peter Weiß dankbar, dass er das Coaching angesprochen hat – das Coaching über den sozialen Arbeitsmarkt hinaus ausdehnen hin zu einem umfassenden Begleitungsangebot für alle.
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Und damit die Menschen, die in den Jobcentern arbeiten, die dort Beschäftigten, das auch leisten können, müssen sie in der Tat entlastet werden, auch von Bürokratie. Ja, das stimmt. Aber bitte kein Bürokratieabbau und keine Pauschalisierung auf Kosten der Betroffenen, wie das die FDP in Teilen vorgeschlagen hat!
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Meine Damen und Herren, ein umfassender Hilfeansatz kann nur funktionieren, wenn Hilfe und Unterstützung immer im Vordergrund stehen und wichtiger sind als Sanktionen. Wenn man so fördert, dann kann man von den Leuten auch einfordern, dass sie daran mitwirken und selbst etwas dafür tun, ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
Kollege Rosemann.
Das ist auch eine Frage der Solidarität, meine Damen und Herren. Deshalb wollen wir das SGB II in diesem Sinne gemeinsam mit dem Koalitionspartner weiterentwickeln.
({0})
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({1})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Dr. Astrid Freudenstein das Wort.
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Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wie gut geht es Deutschland? Das fragt die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ in einer aktuellen Reihe. Der Journalist, der die Antwort gibt, bezieht sich nicht auf die Bergpredigt, sondern auf Zahlen und Fakten, was ich in diesem Fall auch zielführender finde. Er kommt zu drei Feststellungen. Erstens. Die Armutsgefährdung der Deutschen befindet sich auf dem niedrigsten Niveau seit zehn Jahren. Zweitens. Der Anteil der Menschen, die in absolut ärmlichen Verhältnissen leben, ist so gering wie noch nie seit 2005. Drittens. Auch die Zahl der Menschen, die auf Grundsicherung angewiesen sind, ist so gering wie nie seit Einführung der Agenda 2010. – Ich finde diese Feststellungen wichtig, weil sie zeigen, dass wir auf dem richtigen Weg sind; denn unser Ziel ist es ja, dass möglichst wenige Menschen auf Grundsicherung angewiesen sind.
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Ein selbstbestimmtes und erfülltes Leben ist eben nur auf eigenen Beinen möglich und nicht und nie an der Hand des Sozialstaates.
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Wir stehen für einen aktivierenden Sozialstaat. Wir wollen die Menschen aus der Abhängigkeit herausholen und sie wieder in Arbeit bringen. Und genau das funktioniert ja auch ganz gut in unserem Land. Dazu beigetragen, dass das klappt, haben natürlich die Millionen fleißigen Menschen, die unseren Sozialstaat Monat für Monat mit ihren Beiträgen und Steuern finanzieren. Jeder bei uns im Land weiß, dass die wirtschaftlichen Erfolge der letzten Jahre eben nicht vom Himmel gefallen sind, dass sie hart erarbeitet worden sind von den Menschen, die früh aufstehen, zur Arbeit gehen, sich um ihre Familien kümmern und so den sozialen Zusammenhalt stärken, der uns so stark macht. Man kann eben nur Geld verteilen, das erwirtschaftet worden ist.
Dazu beigetragen, dass wieder mehr Menschen auf ihren eigenen Beinen stehen, haben aber eben auch die Hartz-IV-Reformen mit diesem Fördern und Fordern. Das ist jetzt 14 Jahre lang wissenschaftlich sehr ordentlich untersucht worden. Deshalb lässt sich viel über seine Wirkung sagen.
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Die Studien zeigen, dass die Sanktionen in der Grundsicherung zielführend sind, dass sie mehr Leute in Arbeit bringen, dass das Prinzip des Förderns und Forderns aus der Massenarbeitslosigkeit herausgeführt hat. Und das Bundesverfassungsgericht hat auch sehr klar bestätigt, dass das System an sich auch verfassungskonform ist.
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Man muss für diese Feststellungen nicht auf neoliberales Gedankengut zurückgreifen.
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Das will ich auch nicht. Das völlig unverdächtige IAB hat schon mehrmals ganz wunderbar den aktuellen Stand der Wissenschaft in dieser Frage dargestellt, für alle einsehbar, auch für die Kolleginnen und Kollegen der Opposition. Diese Analysen zeigen sehr deutlich, dass die Sanktionen durchaus dazu beitragen, die Menschen in Arbeit zu bringen, und zwar sowohl durch die Möglichkeit, dass sanktioniert werden kann, als auch durch die Leistungskürzung selbst.
Besonders interessant finde ich im Übrigen, dass die Sanktionen auch aus Sicht der Betroffenen ihren Sinn haben. In einer Umfrage in Nordrhein-Westfalen unter sanktionierten Personen haben 70 Prozent der Befragten der Feststellung zugestimmt, dass diese Sanktionen notwendig sind, sonst, so wörtlich, würden alle Leistungsbezieher machen, was sie wollen.
Worüber wir hier natürlich auch sprechen müssen, ist die Tatsache, dass Sanktionen Wirkungen zeigen, die wir nicht wollen. Dazu zählen, wenn es auch wenige Fälle sind, Wohnungslosigkeit oder der komplette Abbruch des Kontaktes der Betroffenen zu den zuständigen Behörden. Wir sehen also durchaus, dass wir uns bei den Sanktionen auf einem sehr, sehr schmalen Grat bewegen.
Grundsätzlich müssen wir immer wieder schauen, dass der Fall gar nicht eintreten kann, dass Menschen auf dieses letzte Netz angewiesen sind. Ein sehr schönes Programm, um Menschen in Arbeit zu bringen, hat der Freistaat Bayern gestartet, nämlich das Programm CURA. „CURA“ steht für: Coaching von Familien zur Bekämpfung urbaner Arbeitslosigkeit. Dort arbeiten Jobcenter sehr eng mit den Jugendämtern zusammen, und zwar aus der Erkenntnis heraus, dass ganze Familien unter dieser Situation leiden. So schaffen wir es durch sehr enge Zusammenarbeit der betroffenen Behörden mit den Familien, Menschen und ganze Familien aus der Arbeitslosigkeit herauszuführen.
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– Wunderbar, die Bayern, so ist es.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir können auf diese Sanktionen nicht verzichten. Wir als Gesetzgeber sind gefordert, den Rahmen vorzugeben und ihn nach diesem Urteil anzupassen. Ganz grundsätzlich sind wir immer auf das Fingerspitzengefühl der Mitarbeiter vor Ort angewiesen. Ihr Antrag aber führt in die falsche Richtung. Wir werden ihn ablehnen.
Vielen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Sehr geehrte Frau Präsident! Werte Kollegen! Geehrte Zuschauer! Produktionsrückgang um 12 Prozent , Exportrückgang um 15 Prozent , so sah die Halbjahresbilanz der Automobilindustrie im ersten Halbjahr 2019 aus. Doch bereits in 2018 ist die Produktion in Deutschland um 9,3 Prozent gesunken. Die Branche befindet sich also im zweiten Jahr in Folge im Niedergang und mit ihr alles, was daran hängt. Daher ist diese Aktuelle Stunde dringend notwendig.
Und was hängt daran? Ich sage es Ihnen: In 2018 hat die Automobilbranche in Deutschland 426,2 Milliarden Euro umgesetzt. Der Gesamtbeitrag des Kraftverkehrssektors zum deutschen Steueraufkommen beträgt über 90 Milliarden Euro pro Jahr. Das ist jeder vierte Euro im Bundeshaushalt. 800 000 Arbeitnehmer zählt die Branche, und nimmt man noch die indirekt abhängigen Arbeitsplätze hinzu, so wird diese Zahl auf 1,8 Millionen Arbeitsplätze erhöht. Zählt man noch Verwandte und Familie hinzu, so sind wir bei circa 3 Millionen Menschen, deren Wünsche, Erwartungen und Hoffnungen daran hängen, dass diese Frauen und Männer auch weiterhin mit ihrer eigenen Hände Arbeit in Stolz und Würde für den eigenen Lebensunterhalt und den ihrer Lieben sorgen können.
({0})
Diesen Menschen hat diese Regierung den Kampf angesagt. Es ist offensichtlich, dass die deutsche Automobilbranche ein zentraler Sektor der gesamten deutschen Wirtschaft ist, und das Fortbestehen dieser Industrie ist von elementarem Interesse für unser Land. Gerade an diese lebenswichtige Industrie legt diese Bundesregierung auf brutalste Weise die Axt an.
Zunächst stimmen die Regierungsparteien in der EU einer desaströsen CO2-Emissionsverordnung für unsere Pkws zu. Dann befeuern sie eine maßlos überzogene Stickoxiddebatte, die uns letztes Jahr hier beschäftigt hat. Am Ende wurde dieses vermeintliche Problem nicht mit praktischen Maßnahmen gelöst, sondern durch ein Stück Papier im Parlament. Ein reales Problem hat also wohl nie existiert.
Trotzdem haben Sie diese Debatte für einen geradezu religiösen Feldzug gegen das Auto benutzt.
({1})
Der notwendigen Diskussion über eine Reform der Erhebung der Stickoxidwerte sind Sie dabei aus dem Weg gegangen. Überhaupt beschleicht mich bei Ihrer Verkehrspolitik das Gefühl, man säße am muffigen Tisch eines kommunistischen Planwirtschaftskomitees.
({2})
In der Öffentlichkeit gelobt die Bundesregierung Technologieoffenheit; intern hat sie sich aber längst festgelegt: Stromgetrieben und mit zentnerschweren Akkus ausgerüstet soll das Auto von morgen sein. Dieses Prinzip ist zwar uralt und war schon mit dem Benz Patent-Motorwagen Nummer 1 überholt; aber wie man auch an Ihrem Fetisch für Windmühlen sieht, steht die technologische Antike bei dieser Regierung ganz, ganz hoch im Kurs.
({3})
Zurück zur Planwirtschaft. 1 Million Elektroautos hatten Sie bis 2020 geplant. Wo sind die denn? Auf unseren Straßen jedenfalls nicht! Also erhöhen Sie nun die Prämien, und die wohlhabende rot-grüne Bourgeoisie kann Ihre politisch korrekten Zweitwagen vom Steuerzahler finanzieren lassen. Der normale Arbeitnehmer, der aufs Geld schauen muss, kann sich diese grünen Ökospielzeuge gar nicht leisten.
({4})
Internationale Studien zeigen jedoch, dass diese Art von Auto in der Umweltbilanz verheerend ist.
Für Sie spielt das aber keine Rolle; denn das „Zentralkomitee“ hat sich festgelegt. Also fließen die Subventionsgelder, und die Umwelt ächzt. Wo ist diese Unterstützung bei wirklich alternativen und umweltfreundlichen Lösungen wie E-Fuels? Es gibt sie nicht!
({5})
Sie wollen lieber 3 Milliarden Euro an Steuergeldern für Ladestationen verprassen – 3 Milliarden Euro, und das für Elektroautos, die es gar nicht gibt. 0 Euro werden in synthetische Kraftstoffe für 43 Millionen real existierende Pkws investiert. Das ist Politik zum Davonlaufen, und genau das tun immer mehr Menschen. Jedes Jahr kehren Hunderttausende Leistungsträger diesem Land den Rücken.
({6})
Dass es Ihnen nur um Ideologie geht, zeigt sich auch daran, wie Sie CO2-Emissionen bemessen.
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Beim Verbrenner entsprechen diese dem realen Verbrauch. Beim Elektroauto werden sie willkürlich auf null gesetzt. Die CO2-Emissionen der Herstellung werden dabei unterschlagen. CO2-frei gibt es aber nicht. CO2-arm können sie sein – im Falle von E-Autos, wenn der Strom aus verlässlichen, zum Beispiel nuklearen Quellen stammt.
({8})
Aber CO2-frei ist eine Erfindung aus dem politischen Märchenland.
({9})
Sie wollen für unser Land die große Transformation, und die wird leider auch stattfinden, nur nicht so, wie Sie es den Bürgern verkaufen wollen.
({10})
Wenn Ihre Politik der Dekarbonisierung nicht gestoppt wird, werden Sie unser Land wirtschaftlich auf das Niveau eines Entwicklungs- oder Schwellenlandes hinabtransformieren,
({11})
wie es der Sozialismus immer getan hat. Da wird dann kein Geld mehr da sein für Umweltschutz.
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Die Menschen, die Sie mit Ihrer Politik arbeitslos machen, werden sich auch nicht über Umweltschutz unterhalten und nachdenken, wenn sie vor den Tafeln in der Schlange stehen, weil sie sich keine warme Mahlzeit mehr leisten können.
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Für diese Menschen kämpfen wir. Diese Menschen müssen wir vor Ihrer Politik schützen. Dafür sind wir hier angetreten.
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Wir lassen es nicht zu, dass unser Land im Ökosozialismus versinkt, und immer mehr Menschen in unserem Land sind dabei an unserer Seite – an Ihrer jedenfalls nicht, und das ist auch gut so.
Vielen Dank.
({15})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Thomas Bareiß.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die aktuellen Meldungen der Automobilbranche sowohl in Deutschland als auch in Europa als auch in der Welt nehmen wir in der Tat sehr ernst, und wir schauen auch mit einer gewissen Sorge darauf. Aber dennoch: Während andere die Automobilbranche kaputtreden, deren Niedergang herbeireden und vielleicht auch schadenfroh sind, geht die Bundesregierung dieses Thema konstruktiv und offensiv an, und sie versucht, gemeinsam mit der Automobilbranche die Zukunft zu gestalten. Ich glaube, das ist der richtige Weg für Deutschland.
({0})
Wir dürfen die deutsche Automobilbranche nicht kaputtreden. Wir haben in Deutschland eine hervorragende Automobilbranche und sind trotz eines ganz schwierigen Marktumfeldes noch sehr erfolgreich. Es gab beispielsweise in den letzten acht Jahren über 110 000 neue Beschäftigte in der Automobilbranche in Deutschland. Wir sind in Europa derzeit Marktführer und ein herausragender Produktionsstandort. Selbst Länder wie Frankreich, Italien, Spanien und England, die einmal große Autonationen waren, produzieren heute insgesamt weniger Autos als Deutschland. Das zeigt, wie stark der Automobilstandort Deutschland derzeit ist.
({1})
Wir sind Marktführer im Bereich der Premiumfahrzeuge; weltweit kommen über 80 Prozent dieser Fahrzeuge aus Deutschland. Trotz des schwierigen Marktumfelds haben wir den Marktanteil in der Welt stetig erhöht.
({2})
Auch das zeigt, was für eine starke Automobilbranche wir haben, und das zeigt, dass wir hier auf dem richtigen Weg sind.
Wir haben in Deutschland sichere, effiziente und hochwertige Fahrzeuge. Diese werden in der Welt gekauft, und das soll weiterhin so bleiben. Dafür arbeitet auch diese Bundesregierung.
({3})
Meine Damen und Herren, trotz gewissen Verfehlungen und schwarzen Schafen in der Branche stehen bei uns die Menschen im Mittelpunkt. Die 840 000 Beschäftigten stehen im Mittelpunkt, Leistungsträger, die in der Tat hart arbeiten, hochinnovativ sind und jeden Tag dafür sorgen, dass wir in diesem Land in Wohlstand und Wachstum leben dürfen und dass unsere Marktstellung in der Welt erhalten bleibt. Diese Menschen dürfen stolz sein auf ihre Produkte, Hochinnovationen und Ingenieurleistungen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, den die Bundesregierung in besonderer Weise unterstützt. Generell sind wir stolz auf unsere Produkte, die wir weltweit verkaufen.
({4})
Ich muss schon sagen: Einerseits wird hier der Niedergang der Branche herbeigeredet und diese ideologisch in Haftung genommen. Andererseits gibt es durchaus Personen, die sehr respektlos und unverfroren mit den Beschäftigten der Branche umgehen.
Beispielsweise sagt Winfried Hermann in Baden-Württemberg: „Verkehrswende bedeutet auch, dass die Bedeutung des Automobils zurückgedrängt wird.“ Das ist ein ganz falscher Ansatz,
({5})
den wir mit Entschiedenheit zurückweisen.
Ich sage in aller Deutlichkeit: Es ist der Gipfel der Unverfrorenheit, wenn Regine Günther hier in Berlin sagt: „Wir möchten, dass die Menschen ihr Auto abschaffen.“ Auch das ist ein ganz falsches Signal.
Wir wollen dagegenhalten und sagen, dass wir es anders sehen. Wir brauchen auch zukünftig Fahrzeuge und Mobilität. Hier muss Deutschland eine ganz herausragende Rolle spielen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Wir wollen vonseiten der Bundesregierung Wirtschaft und Beschäftigte unterstützen, Strukturwandel gestalten und Verantwortung übernehmen. Die letzten paar Monate haben gezeigt, dass wir gerade hier Vorreiter sind. Deutschland hat ein einzigartiges Netzwerk von Herstellern und Zulieferern. 70 Prozent der Teile eines Autos kommen von Zulieferern. Ich glaube, dass allein die Tatsache, dass 50 Prozent der Zulieferer Familienunternehmen und Mittelständler sind, zeigt, dass es gerade im ländlichen Raum und in der Fläche eine enorme Innovationskraft gibt. Das hat für uns eine sehr wichtige politische Wirkung; diese rücken wir bei unseren Weichenstellungen in besonderer Weise in den Mittelpunkt.
Die Kombination aus Groß und Klein, Flexibilität und Innovationskraft zeigt, dass wir auch dort eine Stärke haben, die herausragend ist und dazu geführt hat, dass der Standort Deutschland auch für Unternehmen aus den USA wie Tesla der richtige ist, um zu investieren. Das war ein starkes Signal für den Standort, wohingegen Tesla aber noch zeigen muss, dass Innovation, Profitabilität und Rendite wirklich zusammenpassen. Auch hier haben deutsche Unternehmen in den letzten Jahren schon mehr geleistet und gezeigt, dass sie Profit und Innovation verbinden können.
Natürlich steht die Branche vor großen Herausforderungen; wir müssen in den nächsten Jahren einige davon bewältigen. Es werden wahrscheinlich die größten Herausforderungen der Geschichte sein. Wir müssen die kurzfristigen konjunkturellen Themen angehen. Die Nachfrage in China ist beispielsweise etwas, das unsere Autohersteller besonders beschäftigt: minus 6 Prozent in diesem Jahr, bei Elektroautos sogar minus 30 Prozent.
({7})
Es gibt die Handelskriege. Wir brauchen aber freie und offene Märkte. Das ist ein weiteres Thema, das uns umtreibt. Wir müssen ebenfalls sehen, dass in den Unternehmen teilweise Managementfehler passiert sind; auch das bereitet uns manchmal Sorge.
Wir brauchen eine langfristige strukturelle Antwort auf die Herausforderungen der Zukunft. Es gibt Themen, die in den nächsten Jahren angegangen werden müssen; manche wurden von den Unternehmen schon angegangen, von uns sowieso. Diese Themen müssen wir jetzt in besonderer Weise in den Mittelpunkt dieser Regierungsarbeit stellen.
Ein Thema ist die Antriebstechnologie. Elektromobilität wird in den nächsten Jahren eine große Rolle spielen. Wir haben hier verschiedenste Punkte besprochen. Wir haben gesagt, dass wir bei der Ladeinfrastruktur einen ganz entscheidenden Auftrag der Bundesregierung sehen. 7 bis 10 Millionen Pkws sollen in den nächsten Jahren in der Elektromobilität auf die Straße gebracht werden. Dafür brauchen wir eine Ladeinfrastruktur, die verlässlich und stark ist und die Elektroautos der Zukunft entsprechend zuverlässig versorgt. Wir haben die Kaufprämie bis 2025 verlängert. Auch das sorgt dafür, dass Elektroautos entscheidend unterstützt werden.
({8})
Wir werden außerdem – das ist ein ganz wichtiger Punkt für unser Ministerium – in den nächsten Jahren über 1 Milliarde Euro investieren, um die Wertschöpfungskette der Batteriezellförderung in Deutschland zu positionieren.
({9})
Das ist ein Bereich, der in den nächsten Jahren wichtig und entscheidend sein wird. Wir werden dafür sorgen, dass die Batteriezellförderung wieder nach Deutschland zurückkommt, dadurch Stärke entsteht und wir einen ganz entscheidenden Anteil daran in der Welt für uns reklamieren. Dort sind wir derzeit ganz konkret dran. In den nächsten Wochen werden die Entscheidungen für die Unternehmen und Regionen getroffen.
Nicht nur das, was die Bundesregierung macht, sondern auch das, was die Unternehmen machen, hat Wirkung. Wir sind schon heute erfolgreich: Ein Drittel der Patente im Bereich der E-Mobilität kommt aus Deutschland. Das zeigt, dass wir für die Zukunft gut aufgestellt sind und hier schon die richtigen Weichen gestellt haben.
Meine Damen und Herren, ich sage aber auch: Nicht allein der Elektroantrieb wird der Antrieb der Zukunft sein. Wir brauchen auch da Technologieoffenheit.
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Wir brauchen breitere Ansätze. Wir brauchen die Batteriezelle, aber auch die Brennstoffzelle. Jetzt haben wir die Wasserstoffstrategie auf den Weg gebracht, die nicht nur bei den Pkws, sondern auch bei den Lkws einen ganz neuen Ansatz liefert.
Auch in Zukunft brauchen wir den effizienten Verbrennungsmotor; das wird eine Rolle spielen. Weltweit wird die Anzahl von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor in den nächsten Jahren wachsen. Ich möchte, dass Deutschland auch hier weiterhin Marktführer bleibt. Wir müssen dafür sorgen, dass die besten Autos mit Verbrennungsmotor aus Deutschland kommen und Diesel und Benzin zukünftig effizient eingesetzt werden.
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Ein weiterer Megatrend der Zukunft ist das autonome und vernetzte Fahren. Auch hier sind wir in der Weltspitze, Weltmarkt- und Technologieführer. Hier passiert viel, und in den letzten Jahren haben wir enorm viel gefördert. Allein im Bereich des autonomen Fahrens gingen 16 Millionen Euro aus unserem Ministerium in die Forschung und Entwicklung.
Das Geld kommt an: Allein 40 Prozent der weltweit angemeldeten Patente für autonomes und vernetztes Fahren sind von deutschen Unternehmen; das zeigt, dass wir Marktführer sind. Bei den USA sind es nur 30 Prozent; das zeigt, dass wir ihnen einen großen Schritt voraus sind. Auch bei unserer KI-Strategie spielt das Thema „autonomes Fahren“ eine ganz entscheidende Rolle; sie hat da eine Schlüsselfunktion. Dort werden wir in den nächsten Jahren einiges Neue erleben.
Im Bereich der Standardisierung werden wir in Europa und in der Welt weiter voranschreiten. Hier müssen wir Schrittmacher für die richtigen Produkte der Zukunft sein.
Diese beiden großen und herausfordernden Megatrends werden wir gestalten. Wir werden zeigen, dass die Autos der Zukunft aus Deutschland kommen und wir damit in den nächsten Jahren weiterhin eine gute Beschäftigung haben.
Meine Damen und Herren, Mobilität und Freiheit werden in den nächsten Jahren in der Welt hoffentlich zunehmen. Auch die Anzahl der Autos wird in den nächsten Jahren weiter steigen. Die Mobilität muss sowohl im Lkw- als auch im Pkw-Bereich mit den enormen Anforderungen Schritt halten. Wir möchten aus Deutschland heraus die beste Umwelt- und Klimafreundlichkeit liefern können. Deshalb brauchen wir eine enorm innovative Politik; die werden wir vorlegen. In diesem Sinne freue ich mich auf die kommenden Herausforderungen. Und wie gesagt: Wir packen das mit Entschlossenheit und Zuversicht gemeinsam an.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Oliver Luksic für die FDP-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland ist das Autoland. Wir bauen bis jetzt die besten Autos.
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Jedenfalls die meisten von uns fahren gerne Auto. Das muss auch so bleiben.
Wir stehen vor einer doppelten Herausforderung. Zum einen gibt es das Thema der Vernetzung – das wurde eben zu Recht angesprochen –, das auch bei uns in den Markt kommen muss. Zum anderen gibt es das Thema der alternativen Antriebe. Unsere Kritik gilt nicht der E-Mobilität an sich, die ja für urbane Räume sinnvoll ist. Es gibt keine direkten Emissionen. Mit Blick auf Lärm ist sie positiv. Für denjenigen, der eine eigene PV-Anlage auf dem Dach hat, macht das auch Sinn. Aber uns stört der einseitige planwirtschaftliche Fokus auf Quoten, Subventionen und Strafzahlungen für Hersteller. Deswegen ist es in der Tat ein planwirtschaftlicher Weg, der von dieser Regierung eingeschlagen wurde.
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Wir haben in der Tat hier ein Problem, weil den Herstellern derzeit Strafzahlungen drohen, was CO2-Flottengrenzwerte und Subventionen angeht. Deswegen muss das jetzt ab 2020 in den Markt kommen.
Das Problem ist, dass wir in Deutschland zwar beim Antriebsstrang stark sind, aber bei der Batterietechnik ein Stück Wertschöpfung verlieren werden, weil nicht die gesamte Wertschöpfungskette bei uns abgebildet werden wird, weil wir hohe Energiepreise haben, weil sich andere den Zugriff auf die Ressourcen gesichert haben und es auch ökologisch fragwürdig ist, uns so abhängig zu machen von Lithium, Kobalt und Seltenen Erden. Darauf hat China strategisch einen Fokus gelegt. Wir haben dies in der Tat bei den Flottengrenzwerten nicht einberechnet, und deswegen ist das ein Problem, weil die Hersteller jetzt Autos verkaufen müssen, die teurer werden, mit denen sie aber kein Geld mehr verdienen. Deswegen haben wir diesen massiven Kostendruck bei den Herstellern und den Zulieferern und kommt eine negative Meldung nach der anderen. Deswegen ist dieser einseitige planwirtschaftliche Fokus, den es hier bisher gibt, so falsch.
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Wir brauchen realistische und machbare Vorgaben, zum einen bei den Flottengrenzwerten: minus 37,5 Prozent bei den Pkws, minus 30 Prozent bei Lkws. Das ist bei den meisten noch gar nicht angekommen: Auch Lkws sollen elektrifiziert werden. Das stößt aber an technisch-physikalische Grenzen des Sinnvollen und Machbaren. Das hat jetzt eben einen massiven Einfluss auf die Planung der Industrie. Obendrauf kommt noch die Strafzahlung: 95 Euro pro Gramm pro Fahrzeug. Das wird die Industrie Hunderte Millionen Euro kosten, und deswegen reden jetzt alle über Arbeitsplatzverlagerung und Arbeitsplatzabbau.
Das ist eben das Kernproblem, kombiniert mit den Subventionen, die Staatssekretär Bareiß eben angesprochen hat, die eben sehr einseitig sind. Sie geben Milliarden nur für eine Technologie aus. Sie wollen 1 Million Ladepunkte bauen, aber beim Thema Brennstoffzelle passiert eben nichts.
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Sie setzen einseitig auf eine Technologie. Wir haben immer noch keine Schnellladestationen an den Autobahnen; von elektrifizierten Lkws auf den Autobahnen will ich überhaupt nicht reden. Was Sie machen, ist Planwirtschaft – nur Planwirtschaft ohne Plan.
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Damit es wirklich technologieoffen ist, wäre es sinnvoll und notwendig, zum Beispiel die Beimischung bei Biokraftstoffen zu erhöhen. Das wird nicht gemacht; Ökodiesel wird nicht zugelassen. Es wäre sinnvoll, auf E-Fuels zu setzen.
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Es gab im Bundesrat einen Antrag von Schleswig-Holstein zu synthetischen Kraftstoffen. Das hat die Bundesregierung bei den Verhandlungen nicht übernommen. Deswegen werden die eben nicht angerechnet, und deswegen gibt es dazu keinen Anreiz.
Beim Thema Brennstoffzelle bzw. Wasserstoff wird gekleckert. Sonntags wird beim E-Mobilitätsgipfel in Aussicht gestellt, Milliarden für diese Technologie auszugegeben, und montags wird beim Wasserstoffgipfel eben nichts gemacht. Dieser einseitige Fokus ist das Problem. Deswegen wäre es sinnvoll, wenn Sie auch mal mit den IG-Metall-Facharbeitern reden würden; ich mache das.
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Ich war auf einer Veranstaltung. Da hat der örtliche Bevollmächtigte mir zu 100 Prozent recht gegeben. Reden Sie mal mit den Facharbeitern vor Ort! Da gehen in der Tat hochbezahlte Arbeitsplätze verloren. Die Fahrzeuge des Einstiegssegments, die Kleinfahrzeuge, werden verteuert und fallen aus dem Markt. Deswegen ist das, was derzeit passiert, in der Tat doppelt unsozial: Gute Arbeitsplätze gehen verloren und Einstiegsmobilität wird verteuert. Vor allem für den ländlichen Raum ist das nicht fair und nicht gerecht.
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Deswegen brauchen wir in der Tat eine Strategie, die auf mehrere Antriebsarten setzt, die technologieoffen ist und das Gegenteil von dem, was jetzt gemacht wird. Wir haben einen ganz einseitigen Fokus auf die batteriegetriebene Elektromobilität. Das sorgt dafür, dass die Industrie unter Kostendruck gerät, dass Arbeitsplätze abgebaut und verlagert werden. Lassen Sie uns doch bitte unseren Ingenieuren vertrauen, wenn es um die Frage geht, welche Antriebe der Zukunft gebaut werden.
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Sie wollen denen das vorgeben.
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Wir sind der festen Überzeugung: Der Staat ist nicht der bessere Autobauer. Lassen wir das die Kunden, lassen wir das die Ingenieure entscheiden!
Was Sie machen, führt in der Tat zu einem massiven Arbeitsplatzabbau in der Industrie, bei Zulieferern, bei der Chemie, beim Maschinenbau, bei allen Branchen, die zusammen am Automobil hängen. Das ist eine Schlüsselindustrie, an die wir in der Tat wieder denken müssen. Hören Sie auf, diese durch Ihre einseitigen planwirtschaftlichen Vorgaben kaputtzumachen!
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Das Wort hat der Kollege Timon Gremmels für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist schon etwas grotesk: Die AfD-Fraktion beantragt eine Aktuelle Stunde zum Thema „Arbeitsplatzabbau in der Automobilindustrie“ ausgerechnet an dem Tag, an dem Elon Musk verkündet hat,
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im Großraum Berlin eine Tesla-Gigafactory zu errichten. Bis zu 10 000 Arbeitsplätze sollen dort entstehen. Das ist auch das Verdienst von Dietmar Woidke und der SPD-geführten Landesregierung in Brandenburg.
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Das ist ein gutes Signal für den Wirtschaftsstandort Deutschland, für die Automobilindustrie, für die Facharbeiter.
Vor allem, sehr geehrte Kollegen von der AfD: Was waren denn die Gründe von Tesla, sich für Brandenburg zu entscheiden?
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Die Verfügbarkeit von Ökostrom!
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– Hören Sie genau hin! – Insbesondere die erneuerbaren Energien und die Windkraft sind ein echter Standortfaktor für Deutschland.
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Das war ein Grund, warum sich Elon Musk für Brandenburg entschieden hat. Klimaschutz ist also ein Investitionsmotor. Es ist kein Programm zur Deindustrialisierung Deutschlands, wie Sie von der AfD hier immer behaupten. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind.
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Zweitens war die Weltoffenheit der Metropolregion Brandenburg ein weiterer wesentlicher Grund. Ich kann an Sie nur appellieren: Sorgen Sie mit Ihrer Politik nicht dafür, dass die Weltoffenheit verloren geht
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und dass sich Elon Musk das noch mal überlegt, meine sehr verehrten Damen und Herren. Dann tragen Sie dafür die Verantwortung.
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Was ist denn die größte Gefahr für die Automobilarbeitsplätze in Deutschland? Es ist die Abschottungspolitik! Abschottungspolitik ist der größte Faktor, der die Automobilindustrie gefährdet.
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Das sehen wir ja an Großbritannien: Tesla hat sich auch wegen des Brexits gegen Großbritannien entschieden.
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BMW hat seine MINI-Produktion gedrosselt, weil der Brexit droht. Ein Drittel aller im Vereinigten Königreich tätigen Automobilunternehmen hat bereits jetzt Arbeitsplätze abgebaut. Und genau so eine nationale Abschottungspolitik verfolgt doch die AfD. Sie gefährden die Automobilwirtschaft in Deutschland und niemand sonst!
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Ja, die Automobilindustrie steht in einem großen Transformationsprozess,
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aber den können wir nicht zurückdrehen; denn wenn wir jetzt abwarten und uns zurücklehnen, dann ziehen China und andere Länder an uns vorbei, und dann gucken die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Automobilindustrie in die Röhre.
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Wir müssen uns jetzt bewegen, wir müssen jetzt die innovativen Arbeitsplätze bei den Automobilunternehmen auf den Weg bringen.
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Und es ist ja nicht nur Tesla. Gucken wir mal auf Volkswagen! Volkswagen hat ein E-Mobilitätswerk in Zwickau gebaut bzw. entsprechend umgerüstet.
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Das ist genau der richtige Weg. Und auch bei mir im VW-Werk Kassel, in Baunatal in meinem Wahlkreis, ist die Belegschaft dabei, gemeinsam diese Transformation zu gestalten. Der dortige Betriebsratsvorsitzende von Volkswagen hat gesagt, dass er stolz auf seine engagierten Kolleginnen und Kollegen ist, die während des Wandels des Standorts hin zu einem E-Mobilitätswerk hart am Anlauf mitgearbeitet haben.
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Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind nämlich unsere Partner bei diesem Wandel; die müssen wir mitnehmen. Wir müssen den Wandel gestalten und dürfen uns dem nicht verweigern, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Der größte Standortvorteil für die Automobilwirtschaft ist die betriebliche Mitbestimmung. Das müssen wir deutlich sagen.
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– Sie brauchen gar nicht so zu geifern, Frau Weidel. Wer schreit, hat unrecht, und Sie schreien hier die ganze Zeit in meine Rede rein. Ich bitte, das zu unterlassen.
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Ich sage Ihnen: Die betriebliche Mitbestimmung und eine funktionierende Tarifpartnerschaft sind der entscheidende Standortvorteil für Deutschland. Das müssen wir auch Tesla sagen. Wir erwarten, dass das gut bezahlte Arbeitsplätze sind, dass die Mitbestimmung da funktioniert. Auch das muss man Elon Musk an so einem Tag wie heute sagen.
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Ehrlich gesagt: Natürlich gehört es auch dazu, dass wir gerade beim Schwerlastverkehr nicht nur E-Mobilität in den Fokus nehmen. Wir brauchen auch dort Alternativen, wie zum Beispiel LNG, wie zum Beispiel die Brennstoffzelle, wie zum Beispiel E-Fuels, wie zum Beispiel Erdgas. Auch beim Schwerlastverkehr müssen wir voranschreiten.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren von der AfD, wenn es Ihnen wirklich um industrielle Arbeitsplätze hier in Deutschland gehen würde, dann wäre mir an Ihrer Stelle in dieser Woche ein anderes Thema eingefallen. Wo sollen denn nach der Ankündigung in dieser Woche die meisten Arbeitsplätze abgebaut werden? In der Windkraftbranche! Im Bereich Windkraft fallen allein bei Enercon über 3 000 Stellen in Ostfriesland und Magdeburg weg. Dazu habe ich von Ihnen hier kein Wort gehört! Das ist zynisch, und das entlarvt Ihren Standpunkt, den Sie hier deutlich gemacht haben, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Ich sage Ihnen ganz klar und deutlich: Die Partei der Arbeit ist und bleibt die Sozialdemokratische Partei Deutschlands.
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Das ist gut so.
In diesem Sinne: Glück auf!
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Das Wort hat der Kollege Alexander Ulrich für die Fraktion Die Linke.
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Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Gremmels, von Ihrer Rede könnte ich vieles unterschreiben, aber den letzten Satz natürlich nicht:
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dass die SPD die Partei der Arbeit ist. Da hätte man Agenda 2010, Hartz IV, prekäre Beschäftigung nicht zugelassen. Das ist das Gegenteil von einer Partei der Arbeit.
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Die heutige Aktuelle Stunde auf Antrag der AfD entwickelt sich zum Rohrkrepierer. Wenn sich die AfD wirklich Gedanken über die Arbeitsplätze in der Automobilindustrie machen würde, dann dürfte sie nicht den menschengemachten Klimawandel leugnen. Denn wer das leugnet und damit allem Veränderungsbedarf eine Absage erteilt, der gefährdet Hunderttausende Arbeitsplätze in Deutschland. Deshalb ist das etwas, was Ihnen überhaupt niemand abnimmt.
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Die AfD ist bei den Automobilbauern sowieso nicht gern gesehen.
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Ich bin IG-Metaller, früher war ich Opel-Betriebsrat. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass der Faschist Björn Höcke, als er bei einer Demo in Eisenach war, von den Beschäftigten von Opel vertrieben wurde. Das war ein Richtsignal.
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Die Beschäftigten von Opel, die Angst um ihre Arbeitsplätze haben, glauben keiner AfD und keinem Höcke.
Aber richtig ist, dass in der Automobilindustrie aufgrund der veränderten Antriebstechnologien rund 100 000 Arbeitsplätze wegfallen.
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Ein Batterieauto hat nicht so viel Wertschöpfung wie ein Verbrennungsmotor.
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Auch die IG Metall sagt: Da werden wohl 100 000 Arbeitsplätze wegfallen;
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aber es werden auch neue entstehen.
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Deshalb ist das die entscheidende Frage. Volkswirtschaftlich – da bin ich mir sicher – werden durch diese Veränderungen keine Arbeitsplätze wegfallen. Wenn wir die Energie aus erneuerbaren Energiequellen gewinnen, die Windkraft wieder ausbauen und noch mehr Batteriezellenfertigungen nach Deutschland holen, werden wir am Schluss eine positive Arbeitsplatzbilanz haben.
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Das ist wahr, aber dafür muss noch einiges getan werden.
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Ich sage deshalb ganz deutlich: Die Bundesregierung muss endlich mit ihrem Dogma der schwarzen Null und der Schuldenbremse aufhören. Denn: Wenn wir das alles fördern wollen, wenn wir die Chancen erkennen wollen, muss der Staat eine aktive Industriepolitik betreiben und deutlich in diese Mobilitätswende investieren. Das wäre richtig; das muss getan werden. Da haben Herr Altmaier und sein Ministerium noch viel Luft nach oben.
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Wir werden – auch das sage ich ganz deutlich – Regionen haben, die davon profitieren, möglicherweise auch durch die Tesla-Ansiedlung. Wir werden aber auch Regionen haben, die unter diesen Veränderungen leiden. Herr Luksic, ich gebe Ihnen recht, dass auch das Saarland stark von diesen Veränderungen betroffen ist.
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Ich komme aus der Westpfalz. Wir sind nebendran, wir sind auch stark davon betroffen. Es wird so sein wie bei der Kohle: Wir werden Strukturprobleme in einigen Regionen bekommen.
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Der Staat muss diese Regionen – ähnlich wie beim Kohleausstieg – strukturpolitisch unterstützen, damit dieser Wandel auch gestaltbar ist.
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Die Menschen machen das alles mit. Auch die Arbeitnehmer machen das alles mit, wenn sie wissen: Sie sind nicht die Verlierer auf dieser Position.
Herr Luksic, wo ich Ihnen widerspreche, ist Folgendes: Sie sprechen von der IG Metall;
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es mag sein, dass das so ist. Ich bin IG-Metaller, und ich war auch auf dem Gewerkschaftstag in Nürnberg vor wenigen Wochen. Die IG Metall bekennt sich eindeutig zu den Pariser Klimaschutzzielen
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und sagt ganz deutlich: Wir müssen das tun. – Sie steht auch dazu, dass bis 2030 jedes zweite Auto auf der Straße ein Elektroauto sein wird. Dazu bekennt sich die IG Metall. Gleichzeitig sagt sie aber: Der Staat muss eine aktive Industriepolitik betreiben.
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Der Staat muss deutlich mehr in die Infrastruktur investieren. Der Staat muss den Menschen helfen, durch Qualifizierung und Weiterbildung neue, andere Jobs auszuüben. – Auch wir als Linke bekennen uns dazu. Ja, der Vorschlag der IG Metall zum Transferkurzarbeitergeld muss umgesetzt werden, damit die Menschen Chancen haben, andere Arbeitsplätze zu bekommen.
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Diese Aktuelle Stunde wird zu einem Rohrkrepierer auch aufgrund der Entscheidung von Tesla von vor zwei Tagen. Überall wird darüber geredet. Das Saarland sagt: Schade, dass es nach Brandenburg geht; wir wären dran gewesen. – Auch in Rheinland-Pfalz hat man das gedacht. Jedes Bundesland sagt jetzt: Wir wären knapp auch dabei gewesen. – Jeder hat sich darum bemüht, dieses Tesla-Werk zu bekommen. Mir ist erst einmal egal, wo es hinkommt. Ich bin froh, dass diese Entscheidung zeigt: Auch batterieangetriebene Fahrzeuge können viele Tausende Arbeitsplätze schaffen.
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Hier in der Region wird von 10 000 geredet. Das ist ein tolles Signal an den Autostandort Deutschland.
Tesla macht aber auch den deutschen Automobilherstellern klar: Sie haben jahrelang die Entwicklung verschlafen. Sie haben sich mehr um Schummelsoftware gekümmert,
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als den Trend im Bereich Elektromobilität vorzugeben.
Aber ich sage auch ganz deutlich: Arbeitsplätze sind nur dann Arbeitsplätze, wenn es gute Arbeitsplätze sind. Tesla und Musk aus Kalifornien ist bekannt dafür, dass er zu den größten Gegnern der amerikanischen Gewerkschaften gehört. Er hat einen richtigen Kampf gegen amerikanische Gewerkschaften geführt. Ich rufe Tesla zu: Wenn Sie investieren wollen, wenn Sie politische Unterstützung bei der Ansiedlung haben wollen, dann gilt für uns ab dem ersten Tag: Tarifverträge, Mitbestimmung und Betriebsrat.
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Wer das nicht einführen will, ist bei uns nicht willkommen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Der nächste Redner: für Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Cem Özdemir.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Daran, dass die AfD ein Problem mit Flüchtlingen hat, haben wir uns leider gewöhnen müssen.
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Dass die AfD ein Problem mit demokratischen Gepflogenheiten, mit Anstand hat, haben wir gestern mit Bedauern zur Kenntnis nehmen müssen.
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Aber was um Himmels willen haben Sie jetzt auch noch gegen das deutsche Auto? Das verstehen wir nun wirklich nicht, meine Damen und Herren.
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Denn anders ist die Debatte heute wirklich nicht zu verstehen.
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Ich darf noch mal für die Zuschauer an den Titel erinnern: „Politisch verursachter Arbeitsplatzabbau in der Automobilindustrie“. Das unterstellt, dass alle Fraktionen jenseits der AfD keine Ahnung vom Auto haben.
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Tun wir für eine Sekunde einmal so, als hätten Sie recht. Aber gilt das dann bitte schön auch für den Chef des Unternehmens Daimler bei mir im Wahlkreis, Herrn Källenius? Gilt das dann bitte schön auch für Herrn Zipse, den Chef des Weltunternehmens BMW? Gilt das dann bitte schön auch für Herrn Diess, den Chef von VW? Gilt das für die Zulieferer? Gilt das für die IG Metall? Für die Arbeitnehmervertretungen? Wir haben es doch gerade eben gehört: Die sind sich alle einig – so etwas gibt es nun wirklich selten in Deutschland –, dass es eine Antriebswende braucht, weil wir anders den Automobilproduktionsstandort Deutschland nicht retten können.
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Hören Sie wenigstens auf die, wenn Sie schon nicht auf uns hören.
Damit hier erst gar keine Verwirrung entsteht: Der Kernfrage ist doch: Glauben wir, dass es einen menschenverursachten Klimawandel gibt und dass auch der Verkehr einen Beitrag dazu leisten muss – das geht dann nur mit einer Antriebswende –, oder glauben wir es nicht? Ich will mich aus Gründen der Kürze der Zeit – Sie sehen es mir nach -
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an den Teil des Plenums richten, der nicht im finsteren Mittelalter lebt und akzeptiert, dass es diesen menschengemachten Klimawandel gibt, dass er nicht gut ist und dass wir etwas dagegen tun müssen.
Gott sei Dank gibt es mittlerweile einen weitgehenden Konsens in der Wissenschaft, in der Automobilindustrie und – ich höre das hier so heraus – so langsam endlich auch in der Politik darüber, dass für kurze und mittlere Strecken beim Pkw der batteriebetriebenen Elektromobilität die Zukunft gehört. Das heißt natürlich auch: Bei längeren Strecken, bei Lkws, bei Schiffen verspricht der Wasserstoff beispielsweise eine interessante Zukunft.
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Wir hoffen doch alle – darüber kann es hier doch gar keinen Streit geben –, dass auch synthetische Kraftstoffe, wenn wir weiter in die Forschung gehen, in Zukunft einen Beitrag dazu leisten.
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Anstatt hier wertvolle Zeit zu verlieren, sollten wir jetzt gemeinsam dafür ringen, dass wir endlich eine vernünftige Ladeinfrastruktur bauen, dass wir Recyclingstrukturen für Batterien haben, damit es künftig deutsche Autos sind, die von den Produktionsbändern laufen, und nicht – wie es wäre, wenn es nach der AfD geht – ausländische Autos sind. Denn das ist doch das, was passieren wird, wenn man auf Sie hört.
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Die Entscheidung von Tesla zur Gigafactory kann man begrüßen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Aber zur Wahrheitsbetrachtung gehört auch, dass sie uns noch einmal vor Augen geführt hat, dass es keine Selbstverständlichkeit ist, dass das, worauf wir zu Recht stolz sind – dass wir vor 130 Jahren das Auto erfunden haben –, immer so bleiben muss.
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Wir kennen das Schicksal der Elektroindustrie. Wir wissen, was mit Nokia passiert ist, die das Smartphone verschlafen haben. Wenn wir auf Sie hören, droht das Schicksal Nokias der deutschen Automobilindustrie. Dafür ist diese Leitindustrie der deutschen Industrie zu wichtig, als dass wir auf die Maschinenstürmer setzen können.
({12})
Wir setzen auf den technischen Fortschritt und sagen nicht Nein zur Zukunft.
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Die Zukunft des Autos liegt im autonomen Fahren, die Zukunft des Autos ist zunehmend geteilt, und sie muss angesichts der Klimakrise selbstverständlich emissionsfrei sein. Die gute Nachricht: Wir haben alles, was man dafür braucht: Wir haben hervorragende Ingenieure. Wir haben einen großartigen Mittelstand. Wir haben tolle Forschungseinrichtungen. Und im Gegensatz zu Ihnen haben wir Mut, den Stier bei den Hörnern zu packen.
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Wir werden das nachholen, was wir in den letzten Jahren verschlafen haben, und dann werden wir zeigen: Mit German Mut produzieren wir auch in Zukunft deutsche Autos!
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Ich weiß, das ist schwer für eine Partei, die sich auf das Schüren von Hass und das Schüren von Ängsten besonders spezialisiert hat.
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Das ist eine große Herausforderung für Sie. Aber für den Rest des Hauses sollte gelten, dass es unsere Aufgabe als Politikerinnen und Politiker ist, den Menschen Mut zu machen. Mut, weil es eine große Herausforderung ist; aber diese Transformation der Automobilindustrie ist auch eine Chance.
Meine Damen, meine Herren, der große Demokrit wusste schon: Mut steht am Anfang des Handelns, Glück am Ende.
Herzlichen Dank.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat als Nächstes das Wort der Kollege Dr. Matthias Heider.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Das ist heute eine Aktuelle Stunde, die die AfD beantragt hat. Ich stelle fest: Es ist schon nicht besonders klug, nicht mit der technischen Entwicklung gehen zu wollen, aber die Ängste von Arbeitnehmern und ihren Familien zu schüren und Hysterie mit Zahlen zu betreiben, das ist verantwortungslos.
({0})
Was die AfD auch nicht verstanden hat: Wir leben in Deutschland nicht auf einer abgeschotteten Insel der Glückseligen. Wirtschaft im 21. Jahrhundert funktioniert mit Wettbewerb, und das ist ein globaler Wettbewerb.
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Wie Sie an der Entscheidung von Elon Musk sehen: Dieser Wettbewerb steht bei uns vor der Tür, und wir müssen dem etwas entgegenhalten. Wenn es etwas Klügeres gibt, als offen zu sein für verschiedene Antriebe in der Automobilindustrie, dann ist es das Gebot der Stunde, diese technischen Entwicklungen in unserem Land voranzutreiben.
Dazu kommt, dass der menschengemachte Klimawandel uns besondere Anstrengungen abverlangt. Dazu gehört, dass wir selbst mit Produkten, mit Dienstleistungen an den Markt kommen und nicht den anderen dabei den Vorsprung lassen. In Asien werden derzeit Quantensprünge bei der Entwicklung der Antriebe gemacht.
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China führt bei der E-Mobilität. Japan führt derzeit auf dem Markt der Wasserstoffantriebe. Insbesondere China und die USA – Sie sehen es an dem genannten Unternehmen, das in Brandenburg investieren will – zielen auf den deutschen Absatzmarkt.
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Wenn wir uns die Neuzulassungen beispielsweise beim Diesel bei Volkswagen ansehen, dann sehen wir eine Volatilität, an der Sie auch die gesellschaftliche Diskussion in unserem Land nachvollziehen können.
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Ich glaube – wir hatten immerhin wieder rund 16 000 Zulassungen im Monat September –, es kommt stark darauf an, wofür, für welchen Zweck ich als Verbraucher ein solches Fahrzeug kaufen will.
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Deshalb ist es ein guter Rat, technologieoffen zu sein,
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genauso wie es der Staatssekretär Thomas Bareiß vorhin beschrieben hat.
Meine Damen und Herren, die Zukunft der Automobilwirtschaft liegt in einer deutschen Schlüsselindustrie. Es ist auch die Zukunft des Mittelstands, darunter sind viele Familienbetriebe. Es geht um zahlreiche Arbeitsplätze, die wir mit mehr Wettbewerbsfähigkeit in unserem Land schützen müssen. Zur Technologieoffenheit gehört aber auch, auf neue Antriebe und neue Energien zu setzen: Wasserstoff und Brennstoffzelle, Biodiesel, Methan, Ethanol, Flüssiggas, das alles spielt eine wichtige Rolle.
Wenn wir uns jetzt einmal ein bisschen von der Branche wegbewegen: Hören Sie einen Moment zu, und überlegen Sie mit, welche Bewegungen der Wandel in den 1960er-Jahren etwa vom Lebensmitteleinzelhändler zum Discounter in Gang gesetzt hat. Heute gibt es 16 000 Discounter in Deutschland. Schauen Sie einmal auf die 1990er-Jahre: vom stationären Einzelhandel zum Onlinehandel. Mittlerweile werden 10 Prozent, 53 Milliarden Euro, im Onlinehandel erwirtschaftet.
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Wenn Sie gerne noch ein technisches Beispiel hören wollen: Wenn Sie den Wandel von der Glühlampe zu LED verfolgen, dann ist daran gut abzulesen, dass wir innerhalb eines Zeitraums von mehr als zehn Jahren dazu gekommen sind, dass wir in den Haushalten erheblich Energie durch die Verwendung andere Beleuchtungsmittel einsparen können.
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Das ist ohne große Brüche in der Branche der Elektrotechnik vonstattengegangen. Im Gegenteil: Es hat mehr Wertschöpfung gegeben; es hat mehr Qualität gegeben, und es hat einen Wandel in der Arbeitswelt gegeben, den die Arbeitnehmer genauso mitgetragen haben wie die Unternehmer.
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Anpassung von Dienstleistungen, Anpassung von Produkten, kombiniert mit den richtigen Förderinstrumenten, die alle schon genannt worden sind, ist eine Strategie, die wir im 21. Jahrhundert verfolgen müssen.
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Wir müssen uns gut aufstellen. Für diesen Wandel müssen wir auch bereit sein, uns zu bewegen. Wir müssen die Arbeitnehmer und ihre Familien dabei mitnehmen.
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Ängste zu schüren, ist der falsche Weg.
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Aber Rahmenbedingungen in unserem Land zu schaffen, die eine gute Zukunft dieses Wandels gewährleisten, ist das Ziel, das jede Politik haben muss, auch die dieser Bundesregierung.
Herzlichen Dank.
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Für die AfD-Fraktion hat als Nächstes das Wort der Kollege Dr. Dirk Spaniel.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Aktuell geht eine Ankündigung von Massenentlassungen in der Automobilindustrie durch das Land. Die Menschen sind zu Recht verunsichert, und viele fragen sich: Wie kann das sein? Ist unsere Industrie nicht mehr wettbewerbsfähig? Diese Massenentlassungen und die Krise in der Automobilindustrie sind politisch verursacht, und zwar von einer EU-Verordnung.
({0})
Die Autoindustrie wird politisch gezwungen, Elektromobilität umzusetzen. Herr Özdemir, das wissen Sie ganz genau.
({1})
Viele bejubeln seit gestern die angebliche Entscheidung von Tesla,
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eine neue Fabrik im Umland von Berlin anzusiedeln und bestenfalls bis zu 6 000 Arbeitsplätze zu schaffen. Sie verschweigen jedoch, dass dieses Werk vor allem deshalb entstehen soll, weil hier in Deutschland unvorstellbare Summen an Subventionen für diesen Produktionsstandort fließen werden
({3})
und Elektromobilität unverantwortlich subventioniert wird.
({4})
Wir sehen, dass Sie den Fehler der Förderung der Solarindustrie nun wiederholen und das Steuergeld der hart arbeitenden Bevölkerung für Ihre ideologischen Spielereien verbrennen.
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Sie verschweigen auch, dass es für das Elektroauto bei seinem derzeitigen technischen Entwicklungsstand überhaupt keinen Markt gibt. Die Menschen wollen keine Elektroautos.
({6})
Dieser Markt – auch in Norwegen – wird nur durch Verbote von konkurrierender Technologie und Subventionen des Elektroantriebes von Ihnen künstlich geschaffen.
({7})
Im Verkehrs- und Umweltausschuss wurden letztes Jahr Experten und Gewerkschaftsvertreter – ja, von der IG Metall – angehört; sie haben Ihnen diese Krise genau vorhergesagt. Es sind Sätze gefallen wie: Das könnte das Ende der deutschen Automobilindustrie sein.
({8})
Sie wurden gewarnt, und es war Ihnen klar, was kommen wird. Sie wussten es. Sie von den Grünen wollten sogar noch Verschärfungen der Verbrauchsregeln. Sie von der Regierung haben es billigend in Kauf genommen.
({9})
Am 23. März letzten Jahres hat die AfD in diesem Haus erbeten, Einspruch gegen diese EU-Verordnung, um die es hier geht, einzulegen. Diese ist die Wurzel allen Übels.
({10})
Wir wollten öffentlich darüber sprechen, welche Konsequenzen für unsere Industrie durch diese Verordnung drohen.
({11})
Doch Sie alle, inklusive der FDP, haben eine öffentliche Debatte darüber von der Tagesordnung gewischt. Sie wollten nicht, dass die Menschen in diesem Land erfahren, was durch Ihre Politik auf sie zukommt.
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Eine herbeifantasierte Verkehrswende und das Tanzen von verblendeten Menschen auf der Straße werden die Familien Hunderttausender Betroffener in der Automobilindustrie jedenfalls nicht ernähren.
({13})
Speziell der emotionale Kreuzzug gegen das Automobil, den Sie ja alle betreiben und der von den Grünen und von den Linken befeuert wird, ist unverantwortlich für eine moderne Industriegesellschaft.
({14})
Mit der Definition emissionsfreier Fahrzeuge, wie Sie sie in der EU-Verordnung finden, verhindern Bürokraten und Juristen in Berlin und in Brüssel, dass Ingenieure überhaupt ergebnisoffen nach technischen Lösungen suchen können. Genau deshalb, Herr Özdemir, weil die Bürokratie und die Politik diese Lösungen verhindern, muss sich die Autoindustrie so entscheiden, wie sie es heute tut.
({15})
Sie von der FDP – es hat mich ja gewundert, dass Sie auf einmal für synthetische Kraftstoffe sein wollen oder es zumindest hier sagen -
({16})
haben im Ausschuss unseren Antrag zu synthetischen Kraftstoffen genau wie alle anderen Parteien hier abgelehnt. Weil Sie ihn abgelehnt haben, ist das, was Sie hier machen, Heuchelei.
({17})
In Wirklichkeit interessiert Sie das alles gar nicht. Sie versuchen nur, in der Öffentlichkeit einen guten Eindruck zu erwecken. Sie haben unseren Antrag zu synthetischen Kraftstoffen und für mehr Wettbewerb, um diese Verordnung zu erfüllen, abgelehnt. Das ist ein Fakt. Das kann jeder in den Protokollen nachlesen.
({18})
Und wissen Sie was, der kommt ja noch einmal ins Plenum. Und wenn Sie jetzt dafür sind,
({19})
dann können Sie diesem Antrag ja zustimmen. Wir werden hier namentliche Abstimmung beantragen.
({20})
– Ja, genau.
({21})
Dann können die Menschen in diesem Land sehen, wer von Ihnen, der hier auf den blauen Sesseln sitzt, für den Verlust ihrer Arbeitsplätze verantwortlich ist. Ich hoffe, dass die Menschen das dann auch bei der nächsten Wahl berücksichtigen werden.
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Wir stehen zum Automobil und zur deutschen Automobilindustrie. Sie alle haben diese Arbeitsplätze verraten.
Vielen Dank.
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Der nächste Redner ist der Kollege Falko Mohrs, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir erleben, dass die AfD mal wieder alles schlechtredet und Angst schürt. Das fängt beim Titel dieser Aktuellen Stunde an. Das ist wirklich so was von billig.
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Herr Spaniel, ich habe ja mit meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bei Volkswagen in drei Schichten Autos gebaut. Da haben Sie wahrscheinlich gerade den Sessel in Ihrem Büro warmgehalten.
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Wissen Sie eigentlich, was wir mit Leuten in unserer Halle gemacht hätten, die so wenig Ahnung vom Automobilbau haben wie Sie? Die hätten wir rausgeschmissen.
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So ist die Realität, Herr Spaniel.
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– Regen Sie sich doch nicht so auf, Kolleginnen und Kollegen. Es wird noch schlimmer für Sie.
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Denn das Letzte, was die Beschäftigten der Automobilindustrie brauchen, ist die AfD.
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Wenn Sie mir nicht glauben, dann hören Sie zum Beispiel auf Hiltrud Werner, Vorstand bei Volkswagen. Sie sagt, sie erkennt bei der AfD kein Zukunftsbild.
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Alles, was sie erkennt, ist Vergangenheit, und dahin möchte sie nicht zurück.
({7})
Das ist die Realität. Sie leben in der Vergangenheit, Sie leben in der technologischen Vergangenheit, Sie wollen Grenzen errichten,
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und das ist Gift für jede Industrie, die auf weltweite Märkte angewiesen ist, meine Damen und Herren. So sieht es mit der AfD aus.
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Wenn Sie mir das immer noch nicht glauben, dann nehmen Sie vielleicht einmal zur Kenntnis, dass sich sowohl das Unternehmen Volkswagen als auch die IG Metall und der VW-Betriebsrat aktiv darum bemühen, die Volkswagenhalle in Braunschweig, wo Sie Ihren Parteitag abhalten, davon zu überzeugen, den Namen der Halle zu ändern, weil sie nämlich nicht bereit sind, den Namen Volkswagen der AfD und ihrem Parteitag zur Verfügung zu stellen.
({10})
Ich hoffe, dass am 30. November, während Sie Ihren Parteitag dort abhalten wollen, möglichst viele auf der Straße sind.
({11})
Ich gehöre zu den Aufrufenden. Dann werden wir Ihnen einmal zeigen, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Automobilindustrie Sie überhaupt nicht wollen.
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Ich kenne den Stresstest, den die Automobilindustrie durchmachen muss. Digitalisierung und Veränderung der Antriebsstränge – ich weiß, dass dort Milliarden für Forschung und Entwicklung und für den Aufbau von Standorten notwendig sind. Natürlich, das ist die Realität. Eine Industrie, die sich in der Transformation befindet, braucht aber keine Menschen, die Angst schüren, sondern Menschen, die die Unternehmen und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an die Hand in der Veränderung nehmen.
({13})
Sie brauchen Menschen, die sagen: Wir qualifizieren euch, damit ihr auch morgen noch einen Job habt, und wir sind bereit, die Infrastruktur aufzubauen. – Sie brauchen Menschen, die bereit sind, einen Masterplan in die Wege zu leiten. Es mag ja sein, dass Sie den Unterschied zwischen Masterplan und Planwirtschaft nicht verstehen. Aber was bringt es denn, wenn Sie hier fordern, dass wir nichts in den Ausbau der Infrastruktur der E-Mobilität investieren sollen, und die Fahrzeuge, die dort gebaut werden, gebaut werden müssen, am Ende keine Abnehmer finden, weil die Menschen sagen: „Ich weiß ja gar nicht, wo ich das laden soll“? Das ist doch die Realität. Sie verweigern jeden Masterplan. Sie verweigern jede politische Steuerung. Sie leben in den Zeiten von 1933 bis 1945; in dieser Zeit sind Sie auch technologisch stehen geblieben.
({14})
Wenn Sie jetzt hier irgendwie so tun, als wären Sie die Arbeiterpartei, liebe Kolleginnen und Kollegen der AfD – das „liebe“ nehme ich zurück –, sage ich: Sie sind – das ist die Realität – gegen die Mindestausbildungsvergütung, gegen Mietpreisbremsen, gegen Tarifverträge, die Sie als Sozialismus abtun. Sie sind dafür, dass die sachgrundlose Befristung beibehalten wird. Das ist doch Ihre Politik. Sie haben noch nicht einmal ein Rentenkonzept, aber geben sich hier den Anstrich einer Sozialpartei, Herr Spaniel.
({15})
– Nein, es geht darum, dass Sie so tun, als ob Sie für die Beschäftigten reden; das tun Sie aber nicht. Sie reden für Ihre nationalistischen Eliten, Herr Spaniel. Das ist die Realität.
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Was wir, meine Damen und Herren, in dieser Aktuellen Stunde erlebt haben, ist eine plakative Überschrift, die Angst macht, Reden von Ihnen, die Angst machen sollen, aber bestenfalls lustig sind und von Ahnungslosigkeit strotzen.
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Sie selber haben keinen einzigen Vorschlag präsentiert. Sie nehmen die Beschäftigten der Automobilindustrie in Geiselhaft. Das können wir beim besten Willen nicht durchgehen lassen. Das werden wir Ihnen auch nicht durchgehen lassen. Ich bin froh, dass Menschen wie Sie hier keine Verantwortung übernehmen. Das wird so bleiben. Dafür stehen wir. Dafür kämpfen wir als SPD mit der überwiegenden Mehrheit in diesem Haus.
In diesem Sinne: Alles Gute! Glück auf!
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Ich erteile das Wort dem Kollegen Bernhard Loos, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn es Ihnen von der AfD wirklich um die Beschäftigten in der Automobilindustrie gehen würde, dann wäre ich als direkter Abgeordneter des Münchener Wahlkreises, in dem die Firmen BMW und MAN ansässig sind, wahrscheinlich derjenige, der als Erster für die Arbeitnehmer und die Unternehmen kämpfen würde.
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Die Automobilindustrie ist eine Schlüsselindustrie in unserem Land mit einer enormen Imagewirkung weltweit.
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Darum geht es Ihnen aber sicherlich nicht. Sie betreiben doch nur Schwarzmalerei, um Angst um den Arbeitsplatz bei den Menschen zu schüren.
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Sie denken, das würde Ihnen Wählerstimmen bringen; aber glauben Sie mir: Die Bürgerinnen und Bürger durchschauen Ihre Motive.
Die deutsche Automobilwirtschaft muss sich Herausforderungen wie neuen Technologien, einem Strukturwandel und einem globalen Wettbewerb stellen. Wir wollen die Automobilwirtschaft dabei unterstützen, für diese Zukunftsherausforderungen einer sich weltweit wandelnden Mobilität fit zu sein. Anders, als Sie es die Bürger glauben machen wollen, ist Klimaschutz aber kein Gegensatz zur Automobilität.
Wir werden natürlich nicht den Ast absägen, auf dem wir industriepolitisch sitzen.
({3})
Wir brauchen vielmehr einen Neustart für die Zukunftsidee Automobil. Saubere Technologien sind dabei notwendige Kernkompetenzen. Dazu gehören synthetische Kraftstoffe, moderne Batterieforschung und Wasserstoff als Energieträger der Zukunft.
Und weil Sie auch in Bayern auf einigen Märkten Flugblätter verteilen ließen, sage ich Ihnen als bayerischer Abgeordneter, was der Freistaat Bayern ganz konkret macht. Erstens. Aus dem Forschungszentrum für synthetische Kraftstoffe in Straubing wird ein nationales Referenzzentrum. Der Campus wird um vier neue Lehrstühle aufgestockt. Mittelfristig wird eine neue Power-to-Liquid-Anlage installiert. Dort soll synthetischer Kraftstoff entwickelt werden.
({4})
Zweitens. Zusätzlich zum Bundesprojekt in Münster investiert Bayern in ein bayerisches Batterienetzwerk. Ziel ist die Entwicklung einer neuen Generation von klimafreundlichen und leistungsfähigeren Batterien für die Elektromobilität.
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Drittens. Gemeinsam mit Baden-Württemberg soll in Nördlingen und Ellwangen eine neue Batterieproduktion mit der Industrie entstehen.
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Viertens schließlich wird in Nürnberg ein neues Wasserstoffzentrum entstehen, um diese Technologie zwischen Hochschule und Wirtschaft zu vernetzen.
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Als Automobilstandort ist Bayern und Deutschland als Ganzes gut aufgestellt. Es gibt also keinen Grund für Ihre Hiobsbotschaften.
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Weil Sie gerne den Zusammenhang zwischen Klimaschutz und einem Arbeitsplatzabbau herstellen würden, sage ich Ihnen: Das Klimapaket ist ja noch gar nicht in Kraft.
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Der Widerspruch wird am Beispiel der Schaeffler-Gruppe deutlich,
({10})
die bereits im Frühjahr 2019, als noch gar nicht bekannt war, welche Regelungen kommen würden, verkündet hat, einzelne Maßnahmen zur Vermeidung betriebsbedingter Kündigungen aufgrund volatiler Märkte und des technologischen Veränderungsdrucks zu ergreifen. Die Wahrheit ist doch: Die technologische Entwicklung geht immer weiter. Sie können als Unternehmer nicht nur aus der Schublade verkaufen, sondern müssen das verkaufen, was der Markt verlangt.
({11})
Ich bin von der FDP etwas enttäuscht, die Ihnen sogar noch das Wort redet und das Wort „Planwirtschaft“ in den Mund nimmt. Ich denke, unternehmerisch tätig zu sein, ist etwas anderes.
({12})
Wirtschaft heißt Wettbewerb. Wettbewerb heißt Einstellen auf neue Verfahren und Innovationen. Innovation heißt Fortschritt.
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Die Elektromobilität ist dabei nicht der einzige, aber ein entscheidender Weg und kein Hirngespinst deutscher Politiker.
Ein Blick nach China, wo ich selbst als Unternehmer tätig bin, aber auch nach Kalifornien, zeigt es doch: Wir reden von einem globalen Trend. Da der Export für die deutsche Automobilwirtschaft eminent wichtig ist,
({14})
muss er sich den globalen Herausforderungen und Anforderungen stellen, den Trend aufgreifen, ja, den Trend vorgeben.
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Wir, die Politik, müssen beim Technologiewandel unterstützen. Das ist doch der Grund, warum der Bund die Batteriezellenforschung massiv voranbringt.
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Technologisch ist nicht zu leugnen, dass ein Elektromotor weniger Teile hat als ein Verbrennungsmotor.
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Aber wir haben auch keine Röhrenfernseher mehr, weil die technologische Entwicklung vorangeschritten ist, trotzdem haben wir heute Fernsehen.
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Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass die neuen Technologien durchaus neue Arbeitsplätze schaffen,
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wie jetzt auch Tesla in Berlin, insbesondere mit dem Ingenieur- und Designzentrum, was immerhin 10 000 Arbeitsplätze bringt. Ist das politisch verursachter Arbeitsplatzabbau? Ich denke, nicht. Aber wir sollten nicht allein auf Elektromobilität setzen, sondern auch auf andere Technologien.
Herr Kollege, Ihre Redezeit.
Wir von der Union schauen mit Zuversicht in die automobile Zukunft. Optimismus statt Pessimismus – das unterscheidet uns von Ihnen. Wir bringen Deutschland voran.
Danke.
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Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Dr. Martin Rosemann.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! „Politisch verursachter Arbeitsplatzabbau in der Automobilindustrie“ – allein der Titel zeigt die Realitätsverweigerung der AfD.
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Sie meinen offenbar die deutsche und die europäische Politik. Was Sie überhaupt nicht erkennen, ist die Abhängigkeit vom Weltmarkt, ist die Tatsache, dass Weichenstellungen vor allem in China vorgenommen werden.
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Ich will, meine Damen und Herren, dass in Deutschland die Autos von morgen auch in Baden-Württemberg gebaut werden. Dann müssen wir uns auf den Weltmarkt einstellen, dann müssen wir auf Innovationen setzen, dann müssen wir offen sein für Neues.
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Meine Damen und Herren, die Klimaziele sind nicht etwa eine Laune der Politik.
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Im globalen Rahmen entscheiden sie über das Überleben der Menschheit. Hier in Deutschland gilt, dass wir unseren Beitrag leisten müssen. Vor allem sind wir das einzige Industrieland, das gleichzeitig aus der Kohle und der Atomenergie aussteigt.
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Dabei wollen wir Industrieland bleiben. Da müssen wir gleichzeitig zeigen, dass es dabei sozial gerecht zugeht.
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Natürlich bedeutet das einen großen Transformationsprozess,
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aber nicht nur bei den neuen Antriebstechniken, sondern auch beim Thema Digitalisierung. Durch Digitalisierung verändert sich die Arbeit in großem Stil. Nicht nur die Automobilhersteller selbst, sondern vor allem die Zulieferer sind davon betroffen. Das gilt übrigens auch für die Handelskriege. Wollen Sie für die Handelskriege auch noch die Verantwortung bei der Bundesregierung suchen? Damit haben wir am allerwenigsten zu tun.
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Also: Wir haben tatsächlich eine ganze Menge von Herausforderungen. Wir sehen das bereits. Auch bei den Zulieferern hat die Kurzarbeit zugenommen.
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Wir haben tatsächlich in einigen Bereichen die Ankündigung von Stellenabbau. Ich meine, da ist vorausschauende, aktive Arbeitsmarktpolitik gefragt. Vor allem müssen wir dafür sorgen, dass wir nicht gleichzeitig Fachkräftemangel und Arbeitslosigkeit produzieren.
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Das werden wir mit Sicherheit nicht mit einer Politik schaffen, die so tut, als könne alles so bleiben, wie es früher einmal war. Das schaffen wir nur mit einer Politik, die die Beschäftigten im Wandel unterstützt, jeden und jede Einzelne, das heißt, mit einer Arbeitsmarktpolitik, die Schutz und Chancen im Wandel bietet, alle mitzunehmen, jeden Einzelnen zu unterstützen und mit dem Sozialstaat als Partner, der sich darum kümmert, dass alle bei diesem Wandel mitkommen.
({10})
Es geht um individuelle Unterstützung, schon im Arbeitsleben, damit Arbeitslosigkeit erst gar nicht entsteht. Wir sprechen vom Recht auf Arbeit. Es ist klar: Weiterbildung ist der Schlüssel dafür, dass die Beschäftigten von heute die Arbeit von morgen machen können. Wir haben hier angefangen. Wir haben das Qualifizierungschancengesetz beschlossen, mit dem wir Perspektiven für alle schaffen. Diesen Weg, meine Damen und Herren, wollen wir weitergehen: erstens auch wenn nicht nur einzelne Beschäftigte betroffen sind, sondern große Teile ganzer Belegschaften, zweitens wenn Beschäftigte keine Perspektive im eigenen Unternehmen mehr haben,
({11})
und drittens geht es darum, auch Brücken zu bauen, wenn Unternehmen und Branchen in die Krise kommen. Deswegen müssen wir Instrumente wie Kurzarbeit und Transfergesellschaften in viel stärkerem Maße nutzen, um die Leute heute schon für die Aufgaben von morgen zu qualifizieren, also für Weiterbildung.
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Deshalb, meine Damen und Herren, ist es gut, dass Hubertus Heil, unser Arbeits- und Sozialminister, das Arbeit-von-Morgen-Gesetz angekündigt hat.
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Genauso wichtig ist es aber, dass wir diesen Wandel gemeinsam gestalten: Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Deswegen ist die Sozialpartnerschaft in Deutschland so wichtig in jedem einzelnen Betrieb, meine Damen und Herren.
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Klar ist: Die Risiken im Wandel sind unterschiedlich verteilt. Deshalb werden wir die Herausforderungen nur gemeinsam und solidarisch bewältigen. Dafür stehen wir als sozialdemokratische Partei in Deutschland ein.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, lieber Kollege Dr. Rosemann. – Als Nächster hat das Wort der Kollege Uwe Schummer, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren! Wenn von rechts außen kritisiert wird, dass das, was wir alles tun, nur Planwirtschaft ist,
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wenn von links außen gesagt wird, wir tun zu wenig,
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es werden viel zu wenige staatliche Eingriffe organisiert, dann glaube ich, dass wir im Zentrum der Gesellschaft, in der Mitte, genau richtig aufgehoben sind: bei der sozialen Marktwirtschaft, in der der Staat auch eine Aufgabe hat.
({2})
Soziale Marktwirtschaft bedeutet mehr als Markt. Der Sozialbegriff umfasst auch die ökologische Frage, auch die Frage der Verantwortung für die Schöpfung. Klimaschutz und Industriearbeit wollen wir zusammenführen. Wir wollen versöhnen, wo andere polarisieren und radikalisieren.
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Nur wer Perspektiven zeigt, wird Menschen auf Dauer für das Wirtschaften überzeugen können. Es gibt gute Beispiele, die jeweils genannt wurden: Investition von Tesla hier im Berliner und Brandenburger Raum mit 10 000 Arbeitsplätzen, VW hat in Zwickau 1,2 Milliarden Euro investiert für 8 000 Arbeitsplätze und 13 000 Trainingstage für den Umstieg auf die Elektromobilität für die dort Beschäftigten. VW-Chef Ulbrich sagt als Vorstandsvorsitzender: Wir wollen die Vormachtstellung als Autobauer weltweit verteidigen. – Nicht Rückschau, sondern Vorwärtsstrategie ist deren Konzept. Anders als hier rechts außen.
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In einem weiteren neuen Werk will VW mehr als die Hälfte seiner Elektroautos für den chinesischen Markt produzieren. Wir wissen im Ruhrgebiet, dass Kommunen Elektrobusse kaufen wollen, aber keine deutschen Anbieter finden. Da wären Aufträge hilfreich und sinnvoll. Aber wir können nicht liefern. Deshalb muss dieser Rückstand aufgeholt werden.
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Autozulieferer Schaeffler baut in Baden-Württemberg. Auch hier sollen 10 000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Das heißt, nicht ein Weg, sondern viele Wege müssen wir beschreiten: der Verbrenner, der weiter optimiert wird, der Einsatz von Wasserstoff zur Herstellung synthetischer Kraftstoffe oder für die Brennstoffzelle. Es geht uns nicht um den Ausstieg beim Auto, sondern wir wollen den Umstieg in eine Produktion, die dauerhaft zukunftsfähig ist. Made in Germany
({6})
ist ein Gütesiegel, beste Ingenieurtechnik, langlebige Produkte, maximale Leistung bei minimalem Ressourcenverbrauch. Angekratzt wurde dieses „made in Germany“ durch kurzatmige Manager, die mit einer Schummelsoftware die Öffentlichkeit und auch die eigenen Unternehmen und Kunden betrogen haben. Das ist langfristiger Schaden, worauf wir politisch miteinander reagieren.
Wenn man Arbeit auf Dauer sichern will, dann ist der Schlüssel hierzu: klare und faire Produkte, Qualifizierung, um soziale, wirtschaftliche und ökologische Herausforderungen zu meistern. Der Autogipfel im Bundeskanzleramt hat mit den Unternehmen, mit den Gewerkschaften und auch mit den weiteren Verbänden gute Impulse gegeben. Wir wollen qualifizieren statt entlassen. Von daher ist das auch ein Punkt, mit dem wir den Wandel begleiten, den wir aber natürlich nicht planwirtschaftlich organisieren können.
({7})
Der Unterschied ist, dass wir die Probleme angehen und Erkenntnisse der Wissenschaft nicht leugnen. Wenn der Abgeordnete Hilse von der AfD im „Tagesspiegel“ die steile These vertritt, Menschen hätten überhaupt keinen Einfluss auf die Temperatur, es gehe um eine natürliche Rückerwärmung der Eiszeit,
({8})
dann frage ich mich: Was hat er geraucht?
({9})
Kollege Gauland, Sie geben in der „Welt am Sonntag“ die taktische Richtung vor: Nach dem Euro und der Zuwanderung stellen Sie nun die Klimapolitik an den Pranger. Ihr Ziel ist: Raus aus allen Verträgen, Agitation statt Wahrheit. Angst ist Ihr ständiger Begleiter.
Ich kenne Walter Wallmann noch persönlich. Walter Wallmann war der erste Umweltminister in Deutschland im Kabinett Helmut Kohl.
({10})
Er war ein großer liberaler Christdemokrat. Eine seiner ersten Maßnahmen war damals 1986 die Änderung der Kfz-Steuer zur Unterstützung schadstoffarmer Autos. Ich kann nur sagen: Er wäre entsetzt, Herr Gauland, würde er Ihren moralischen und politischen Niedergang erleben.
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Sie sollten sich schämen.
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Für uns gilt: Kurzarbeit mit Qualifizierung hat uns 2009 aus der Wirtschaftskrise geführt. Für uns zählt: Die Bundesagentur für Arbeit hat Rücklagen in Höhe von 24 Milliarden Euro. Wir sind finanziell gerüstet für eine mögliche Krise, die wir so abwehren können.
({13})
Der stärkste Schutz der Beschäftigten in der Automobilindustrie ist beileibe nicht die AfD, sondern die soziale Partnerschaft.
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Gewerkschaften und Arbeitgeber arbeiten vernünftig zusammen. Die Mitbestimmung ist wichtig.
Unser Ziel ist: Sicherheit im Wandel. Diese Herausforderung ist politisch. Wir gehen sie an mit den Unternehmen, mit den Verbrauchern und mit den Beschäftigten.
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Der letzte Redner in der Aktuellen Stunde ist der Kollege Dr. Christoph Ploß, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Schöne, als letzter Redner in einer Debatte zu reden, ist: Man kann ein bisschen Lob für die guten Debattenbeiträge verteilen und natürlich auch Kritik äußern. Während meine Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion natürlich ausschließlich Lob verdient haben, so muss ich doch etwas Verwunderung zum Ausdruck bringen über einige Aussagen vor allem von der AfD, aber auch von der Linkspartei und den Grünen.
Liebe Kollegen von der AfD, Ihre Auffassung ist, dass man eigentlich gar nichts machen müsste.
({0})
Sie sagen: Trotz des Klimawandels, der Klimaschutzziele und der Transformation im Mobilitätssektor müsste gar nichts passieren. Wie Sie angesichts der offenkundigen Entwicklung auf so etwas kommen, ist mir wirklich schleierhaft. Ich sage: Am Ende wird genau diese Haltung Arbeitsplätze in der Automobilindustrie kosten.
({1})
Es gilt der alte Spruch: Wer nicht mit der Zeit geht, der geht mit der Zeit. Ich glaube, es würden sich einige hier wünschen, dass das für Sie im Parlament zutrifft.
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Im Gegensatz zu Ihnen haben das alle in der Automobilindustrie und auch die meisten hier im Hause verstanden.
Wir haben auf der anderen Seite die Linkspartei.
({3})
Einige Kollegen, auch von den Grünen, verbreiten Weltuntergangsstimmung und setzen allein auf batteriegetriebene Elektromobilität.
({4})
Sie sprechen sich gegen innovative Ideen wie Wasserstoff und synthetische Kraftstoffe wie E-Fuel aus. Ich sage: Beide Ansätze wären falsch für unser Land. Wir als CDU/CSU-Fraktion werden deswegen einen anderen Weg gehen.
({5})
Wir werden die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass in Deutschland neue Technologien entwickelt werden.
({6})
Wir wollen damit Arbeitsplätze sichern. Wir wollen mit Technologien Exportschlager für die Welt entwickeln.
Wir sprechen hier über Zukunftskonzepte. Leider habe ich außer von den Kollegen der CDU/CSU kaum von jemandem gehört, wie wir uns die Mobilität in Deutschland im Jahr 2030 oder 2035 vorstellen. Für uns ist dabei ganz klar: Neben einem gut ausgebauten U- und S-Bahn-System wird das Auto in Deutschland immer noch eine große Rolle in der Mobilität spielen, vor allem im ländlichen Bereich. Aber in 10, in 15 Jahren werden wir immer mehr Autos haben, die klimafreundlich unterwegs sind, die immer leiser unterwegs sind. Wir werden Autos auf den Straßen haben, die die Menschen nicht mehr selbst fahren, sondern mit denen die Menschen gefahren werden. Es wird einen digital vernetzten Verkehr geben, der klimaschonend und effizient ist und der Staus vermeidet. Tödliche Verkehrsunfälle werden der Vergangenheit angehören. Das ist das Konzept, an dem wir als CDU/CSU-Fraktion arbeiten. Wir arbeiten aber auch daran, die Automobilindustrie zu stärken, indem wir die Ladeinfrastruktur in Deutschland mit jedem Jahr weiter verbessern,
({7})
indem wir neue Ladepunkte schaffen, indem wir Wasserstofftankstellen schaffen und indem wir synthetische Kraftstoffe fördern.
({8})
Es wird völlig unterschiedliche Antriebe geben. In den Großstädten – das wurde schon angesprochen – werden wahrscheinlich mehr batteriegetriebene Elektroautos unterwegs sein.
({9})
Aber gerade dort, wo große Reichweiten erforderlich sind, brauchen wir auch Wasserstoff und die synthetischen Kraftstoffe.
({10})
Deswegen ist der technologieoffene Ansatz der CDU/CSU-Fraktion genau der richtige Weg.
({11})
Am Ende müssen die Verbraucher die Wahl zwischen den verschiedenen Technologien haben. Wir wollen als CDU/CSU gar nicht entscheiden, was die Menschen sich für ein Auto kaufen sollen,
({12})
aber es muss mehrere Möglichkeiten geben. Wir wollen die politischen Rahmenbedingungen ändern; denn ganz wichtig bei der Mobilität der Zukunft ist, dass wir von einer ölbasierten Mobilität zu einer strombasierten Mobilität kommen. Um das zu erreichen, brauchen wir die steuerliche Förderung, die Ladeinfrastruktur und die Forschung an Wasserstoff und an synthetischen Kraftstoffen. Wir wollen Strom günstiger machen. Deswegen ist es auch so gut, dass wir die Stromsteuer senken werden.
({13})
Wir wollen mithilfe deutscher Technologie Exportschlager entwickeln, sodass in den sonnen- und windreichen Regionen dieser Welt deutsche Technologie zum Einsatz kommt. Wir wollen Wasserstoff oder synthetische Kraftstoffe produzieren.
Die ersten Erfolge der Politik der Bundesregierung – Steffen Bilger und Thomas Bareiß sitzen auf der Regierungbank – kann man doch sehen, zum Beispiel die Gigafactory von Tesla, die erwähnt wurde,
({14})
oder die neue Fabrik von VW in Zwickau. Gerade in den Regionen des Landes, wo wir enormen Bedarf haben, kommt Bewegung rein, entstehen Arbeitsplätze.
({15})
Dort gelingt die Transformation. Deswegen ist es auch so gut, dass wir mit dem nächsten Bundeshaushalt Produktionsanlagen für strombasierte Kraftstoffe und Biokraftstoffe fördern, dass wir Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie fördern und dass wir die Lade- und Tankinfrastruktur für alternative Kraftstoffe fördern.
({16})
Das wird der Weg sein, den wir in den nächsten Jahren gehen. Ich bin überzeugt: Damit werden wir neue Arbeitsplätze schaffen. Wir werden die Klimaschutzziele erreichen. Wir sind auf dem besten Wege, wenn es um die Mobilität der Zukunft geht.
Herzlichen Dank.
({17})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tribünen! Mit dem heute hier vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung setzen wir eine Richtlinie des Europäischen Parlamentes um, mit dem die EU europaweit einheitlich das Recht auf Zugang zum Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls erreichen will. Die durch die Richtlinienumsetzung notwendige Änderung des Rechts der notwendigen Verteidigung und Pflichtverteidigung haben wir zum Anlass genommen, diesen derzeit nur teilweise gesetzlich geregelten Bereich klar zu normieren im Sinne von Rechtsklarheit für alle Beteiligten, nämlich sowohl Beschuldigte, Richter als auch Anwälte.
Künftig ist dem Beschuldigten, auch wenn er aufgrund eines Haftbefehls verhaftet wird, von Amts wegen ein Verteidiger zu bestellen, und zwar auch bei einer vorläufigen Festnahme, sobald eine Vorführung beabsichtigt ist. Darüber hinaus präzisieren wir, wann ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt, indem wir den Katalog des § 140 StPO um einige weitere Fälle ergänzen. Hier nehmen wir die Vorgaben der EU-Richtlinie auf, aber auch Rechtsprechung des BGH, um der gerichtlichen Praxis Klarstellung und eine leichtere Handhabbarkeit für die Fälle der notwendigen Verteidigung an die Hand zu geben.
Ein Beispiel, wann zukünftig dem Beschuldigten, der keinen Verteidiger hat, ein Pflichtverteidiger beizuordnen ist: Das ist der Fall, wenn zu erwarten ist, dass die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor dem Oberlandesgericht, dem Landgericht oder dem Schöffengericht stattfindet oder wenn sich der Beschuldigte aufgrund richterlicher Anordnung oder mit richterlicher Genehmigung in einer Anstalt befindet.
Nach der Neuregelung des § 140 Absatz 2 StPO wird zukünftig ein Fall der notwendigen Verteidigung auch dann vorliegen, wenn wegen der Schwere der Tat, der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge oder wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann.
Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir schaffen klare Tatbestände, wann ein Beschuldigter, der keinen Anwalt hat, einen Pflichtanwalt beigeordnet bekommt, damit seine Rechte verteidigt werden können, und zwar durch einen professionellen Rechtsanwalt, durch anwaltliche Hilfe. Ich finde, damit sorgen wir für Waffengleichheit des Beschuldigten gegenüber der Justiz. Auch das gehört zu einem starken Rechtsstaat: dass die Beschuldigten in der Lage sind, ihre Rechte, gerade im Strafverfahren, zu verteidigen.
({0})
Was den Zeitpunkt der Bestellung des Pflichtverteidigers angeht, ändern wir die Regelungen des heutigen § 141 StPO und auch den Gesetzentwurf mit unserem Änderungsantrag ab. Wir wollen, dass der Beschuldigte über seine Rechte Bescheid weiß. Deswegen regeln wir durch den Änderungsantrag, dass der Beschuldigte darüber belehrt werden muss, dass er die Bestellung eines Pflichtverteidigers beantragen kann.
Unabhängig davon, ob der Beschuldigte einen Antrag stellt, wird ihm auf jeden Fall in den Fällen der notwendigen Verteidigung ein Pflichtverteidiger bestellt, sobald dem Beschuldigten Haft droht oder eine einstweilige Unterbringung.
Wir verlängern auch die Frist – da nehmen wir eine Anregung aus der Sachverständigenanhörung auf –, innerhalb derer ein Beschuldigter den Pflichtverteidiger wechseln kann, wenn er mit dem Pflichtverteidiger nicht klarkommt. Da waren ursprünglich zwei Wochen vorgesehen. Wir machen hieraus drei Wochen.
Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir schaffen durch diese zahlreichen Änderungen Rechtsklarheit und ermöglichen dem Beschuldigten den Zugang zu einem Pflichtverteidiger. Das ist ein ganz wichtiges Element in unserem Rechtsstaat.
Auch mit dem zweiten Gesetz, dessen Entwurf wir heute beraten, setzen wir eine EU-Richtlinie um, nämlich die Richtlinie über die Verfahrensgarantien in Strafverfahren für Kinder. Auch hier geht es darum, Kindern und Jugendlichen ihr Recht auf Unterstützung durch einen Rechtsbeistand zu sichern und zu ermöglichen. Auch in diesem Gesetz werden weitere Fälle der notwendigen Verteidigung und Regelungen zum Zeitpunkt der Verteidigerbestellung normiert. Wir stellen klar, dass, wenn zweifelhaft ist, ob ein Beschuldigter zur Tatzeit das 18. Lebensjahr vollendet hat, auf jeden Fall für diese Person die für Jugendliche geltenden Bestimmungen und Verfahrensvorschriften anzuwenden sind.
Die Änderungen, die wir mit dem Änderungsantrag vornehmen, sind ebenfalls wichtig. Wir regeln, dass die Jugendgerichtshilfe über das Ergebnis ihrer Nachforschungen schnell, und zwar so schnell wie möglich, dem Gericht Auskunft geben muss, sodass vor einer Entscheidung des Gerichts, ob Anklage gegen den Jugendlichen erhoben wird, auf jeden Fall die Einschätzung der Jugendgerichtshilfe vorliegt.
Zudem stellen wir klar, dass ein Pflichtverteidiger bei allen Arten der Haft zu bestellen ist, unabhängig davon, ob ein Antrag vom jugendlichen Beschuldigten gestellt wird. Das machen wir anders als bei den Erwachsenen, weil wir der Meinung sind, dass gerade Jugendliche besonders schutzbedürftig sind. Sie sollten auf jeden Fall einen Pflichtverteidiger bekommen, wenn sie sich nicht verteidigen können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen die Jugendlichen schützen, damit sie ihre Rechte professionell durch einen Anwalt wahrnehmen können. Genau das regeln wir mit diesem Gesetzentwurf.
({1})
Zugegeben, das ist eine sehr trockene und von Fachbegriffen durchzogene Debatte und Thematik. Ich glaube, das Entscheidende ist, dass wir für alle Beschuldigten, gerade für die Jugendlichen, klare Regelungen haben, dass sie in dieser schwierigen Lage Zugang zu einem Verteidiger zur Verteidigung ihrer Rechte im Strafverfahren bekommen. Lassen Sie uns deswegen diese Gesetzentwürfe so beschließen.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank, Herr Kollege. – Der nächste Redner: für die AfD-Fraktion der Kollege Thomas Seitz.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn überbezahlte EU-Beamte in Brüssel
({0})
nachts von Vampiren in Transsilvanien träumen und sich am nächsten Tag noch daran erinnern können,
({1})
dann kommen sie plötzlich auf die Idee, dass vielleicht auch heute noch dort nicht alles in bester Ordnung sei. Man hört zwar nichts mehr von Vampiren, aber es könnte in Transsilvanien heute stattdessen brutale Polizisten, willkürlich handelnde Staatsanwälte und faule Richter geben, die Beschuldigte auf Grundlage von mit Täuschung, Drohung oder Gewalt erpressten Geständnissen zu hohen Strafen verurteilen. Und schon ist sie geboren, die Idee für eine neue EU-Richtlinie. Richtlinien, wie sie dem heute zu beschließenden Gesetzentwurf zugrunde liegen, haben zum Ziel, vermutete oder vielleicht auch tatsächliche Probleme irgendwo in der EU zu lösen. In Deutschland hätte es dieses Aufwands nicht bedurft. Der Zwang, eine auf dem Prinzip der Prozesskostenhilfe aufbauende Richtlinie in unser deutsches System der notwendigen Verteidigung einzubauen, löst keine Probleme, sondern schafft sie erst.
So weit, so schlecht oder vielleicht auch so gut, also in Transsilvanien. Auch dort wird die Richtlinie irgendwie, größtenteils zumindest, umgesetzt, allein schon, um ein Vertragsverletzungsverfahren zu vermeiden. Aber wird dieses aufgezwungene Recht in der Praxis auch angewendet und gelebt, oder kommt dann zum brutalen Polizisten, gewissenlosen Staatsanwalt und faulen Richter noch ein korrupter Anwalt hinzu, der einfach wegschaut, wenn der Beschuldigte unter Druck gesetzt wird? Und wenn dann die EU zusätzlich die Aufzeichnung jeder Vernehmung verlangt, dann schaltet der Anwalt eben die Kamera aus, während sein Mandant verdroschen wird. Nur zur Klarstellung: Es geht nicht darum, Transsilvanien und Rumänien hier an den Pranger zu stellen.
({2})
Das ist nur ein Beispiel.
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Es geht darum, dass Harmonisierung – ein passenderes deutsches Wort wäre „Gleichschaltung“ – auch dann, wenn es nur um die Festlegung von Mindeststandards geht, nie ein Allheilmittel sein kann; denn wenn es die vermuteten Probleme in Deutschland gar nicht gibt, sind derartige Richtlinien für Deutschland bestenfalls überflüssig und in jedem anderen Fall nachteilig.
Wegen jeder Richtlinie muss in Deutschland aber entweder neues Recht geschaffen oder bestehendes Recht geändert werden. Der deutsche Steuerzahler verliert also immer, nicht nur bei diesem Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung.
Dieses Gesetzesvorhaben zeigt mustergültig auf, was falsch läuft in Deutschland und Europa; denn jedes Land muss selbst den besten Weg suchen, um seine Vorstellung von Rechtsstaat und Wahrung von Beschuldigtenrechten zu verwirklichen. Das mag in dem einen Land der Pflichtverteidiger sein, der ab dem ersten Kontakt mit der Polizei tätig wird und immer vom Staat bezahlt wird, oder eben, wie in Deutschland, die bewährte Regelung der notwendigen Verteidigung, die keiner weiteren Änderung bedurft hätte. So, meine Damen und Herren, sieht echte Vielfalt aus. Weniger EU ist mehr Europa.
Danke.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Thorsten Frei.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, bei diesem Tagesordnungspunkt muss man überhaupt nicht dramatisieren, sondern kann die Dinge durchaus vernünftig einordnen. Da wird nämlich gar nichts schlechter, aber manches besser. Ich glaube, dass es wichtig ist, die Dinge in einen größeren Rahmen zu setzen.
Heute vor einer Woche haben wir in erster Lesung einen Gesetzentwurf zur Modernisierung des Strafprozessrechts behandelt. Aller Voraussicht nach werden wir den Gesetzentwurf morgen hier verabschieden. Wenn wir uns heute hier mit der Prozesskostenhilfe im Strafverfahren und mit dem Jugendgerichtsverfahren und mit der Stärkung der Beschuldigtenrechte in diesen Verfahren auseinandersetzen, dann sind das im Grunde genommen verschiedene Seiten ein und derselben Medaille. Beides gehört zusammen. Wir wollen effiziente, schnelle, zügige Strafverfahren; aber wir möchten natürlich auch, dass die legitimen Interessen von Beschuldigten gewahrt werden.
Mit diesen Gesetzen – ich möchte sagen: mit diesem kleinen Gesetzespaket – gelingt uns das ganz hervorragend. Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hat uns einen guten Gesetzentwurf vorgelegt. Wir haben ihn im parlamentarischen Verfahren noch ein Stück besser gemacht. Insofern haben wir das Struck’sche Gesetz perfekt eingehalten. Wir werden hier etwas Gutes beschließen und nicht etwas Schlechtes. Es ist ganz wichtig, das so einzuordnen.
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Aber es stimmt natürlich: Es ist immer schwierig, wenn unterschiedliche Rechtstraditionen aufeinandertreffen, wenn man europäisches Richtlinienrecht mit deutscher Gesetzgebungstradition in Verbindung bringen muss. Da gab es in der Tat ein paar Punkte, die man sich genauer hat anschauen müssen, etwa wenn es um den Zeitpunkt geht. Polizei, Staatsanwaltschaft, Gerichte mussten sich mit der Frage auseinandersetzen, wann denn nun ein Verteidiger beizuordnen ist.
({1})
Diese Frage musste beantwortet werden, weil es letztlich im deutschen Prozessrecht nicht angelegt ist, dass bereits vor der ersten polizeilichen Vernehmung eine solche Zuordnung eines Verteidigers erfolgt. Das Gleiche gilt auch für die Prozesskostenhilfe als solche, die wir zwar im deutschen Recht kennen, aber nicht im Strafverfahrensrecht für den Beschuldigten. Auch das ist etwas, was wir lösen mussten. Wir hatten und haben die Tradition der notwendigen Verteidigung.
Daran knüpft auch gleich schon das dritte Problem an, nämlich die Frage, ob man darauf verzichten kann. Das kann man eben im deutschen Recht nicht. Wenn ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt, dann hat man nicht nur den vom Anwaltverein geforderten Verteidiger der ersten Stunde, sondern dann hat man sogar auch den Pflichtverteidiger wider Willen, weil das unabhängig von der Frage ist, ob der Angeklagte ihn möchte oder nicht. Das ist ja durchaus zutreffend, wenn es um Fälle geht, wo im ersten Rechtszug das Landgericht oder das Oberlandesgericht tätig wird. Wenn es um Verbrechen geht, wenn es um Haftangelegenheiten geht, dann ist es durchaus richtig und zutreffend.
Diese Zielkonflikte galt es im Gesetzgebungsverfahren aufzulösen. Ich finde, dass das sehr gut gelungen ist, dass wir nicht nur einen Weg in der Mitte gefunden haben, sondern dass wir im Grunde genommen auch geltendes Recht noch besser gemacht haben, und das ist ja der Kern von guter Gesetzgebung. Das kann man an verschiedenen Punkten sehen, etwa wenn man da ansetzt, dass man den Beschuldigten im Verfahren frühzeitig und umfassend belehrt, er einen Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers stellen kann, wenn er das dann aber nicht tut, umgekehrt auch die Staatsanwaltschaft nicht gezwungen ist, von Amts wegen einen solchen Antrag zu stellen. Das eröffnet sowohl für die Rechtsdurchsetzung des Staates als auch für die Interessen des Angeklagten oder Beschuldigten die Möglichkeit, dass dieser sehr früh im Verfahren reinen Tisch machen kann, dass er Ross und Reiter nennen kann, dass er dann, wenn er weiß, was er sagt und worum es geht, auch tatsächlich entscheiden kann, frühzeitig ein umfassendes Geständnis abzulegen, das anschließend auch gerichtsverwertbar ist, weil er natürlich auch genau weiß, dass es für die Strafzumessung durchaus entscheidend ist, ob so etwas früh im Verfahren passiert oder ob es gegen Ende der Beweisaufnahme erfolgt. Es geht also nicht nur um die Interessen des Rechtsstaates, sondern es geht durchaus auch um die Interessen eines Beschuldigten, und das bilden wir in diesem Gesetzgebungsverfahren, wie ich finde, sehr gut ab.
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Darüber hinaus haben wir im Bereich der Hauptverhandlungshaft, also dann, wenn jemand in Haft kommt, weil er zuvor eine Hauptverhandlung versäumt hat, im Grunde genommen das gleiche Rechtsregime angewendet. Er muss einen Antrag auf Beiordnung einer Verteidigung stellen, ansonsten bedarf es dieser nicht, weil wir schließlich nicht möchten, dass jemand, der eine Hauptverhandlung versäumt, anschließend auch noch dadurch belohnt wird, dass ihm ein Pflichtverteidiger zur Seite gestellt wird; das ist der eine Aspekt. Der andere Aspekt ist, dass es im Zweifel auch gar nicht angemessen ist, angesichts der geringen Schwere der Taten zu dieser Zeit mit einem Pflichtverteidiger zu agieren.
Es ist auch richtig, darauf hinzuweisen, dass wir in Jugendgerichtsverfahren – Herr Fechner hat das in seiner Rede dargestellt – durchaus auch von anderen Regeln ausgehen, weil wir es dort nicht mit der gleichen Art von Beschuldigten zu tun haben, weil man dort vielleicht auch nicht umfassend erkennen kann, welche Konsequenzen Aussagen im Laufe des Verfahrens tatsächlich haben. Deswegen finden wir für das Jugendstrafverfahren spezielle Regelungen, die aus meiner Sicht auch absolut angemessen und richtig sind. Es ist aber auch richtig, dass das Jugendstrafverfahren den Erziehungsgedanken in den Mittelpunkt stellt. Wenn der Erziehungsgedanke wirken soll, dann ist entscheidend, dass die Strafe auf dem Fuß folgt, dann ist entscheidend, dass Verfahren schnell über die Bühne gehen. Deswegen ist es richtig, dass es nicht notwendig ist für die Anklageerhebung, dass der Bericht der Jugendgerichtshilfe abgewartet wird, sondern dass es ausreichend ist, wenn die Jugendgerichtshilfe auskunftsfähig ist, damit zügig Anklage erhoben werden kann, zügig ein Strafverfahren oder vielmehr ein Jugendgerichtsverfahren durchgeführt werden kann und damit eben in der Konsequenz letztlich auch der Erziehungsgedanke durchgesetzt werden kann.
Wenn ich darunter den Summenstrich ziehe, dann, muss ich wirklich sagen, haben wir deutliche Verbesserungen erreicht. Das stärkt die Beschuldigtenrechte im Verfahren vom Anfang bis zum Ende, ohne dass es die Zielsetzungen, die wir mit der Modernisierung der Strafprozessordnung verfolgt haben, torpediert und Verfahren unangemessen in die Länge zieht. Das ist im Grunde genommen genau das, was wir wollen. Insofern sind es zwei gute Gesetzentwürfe, und ich bitte um Zustimmung dazu.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Der nächste Redner: der Kollege Stephan Thomae, FDP-Fraktion.
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen! Verehrte Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir alle kennen vom Samstagabendkrimi den Satz des Kommissars: „Sie sind verhaftet. Alles, was Sie sagen, kann gegen Sie verwendet werden. Sie haben das Recht, zu schweigen oder sich einen Anwalt zu nehmen.“ So ist es im deutschen Samstagabendkrimi. Im US-Krimi geht der Satz noch weiter. Da heißt es dann nämlich noch vom Kommissar: „Und wenn Sie keinen eigenen Anwalt haben, wird Ihnen einer beigeordnet.“
Genau um diesen Zusatz, Herr Kollege Frei, geht es in der europäischen PKH-Richtlinie. Was muss man tun, damit ein Beschuldigter, gegen den ermittelt wird und der keinen Anwalt hat, einen solchen erhält? Darum geht es, und das ist der Inhalt des Antrages der FDP-Fraktion. Das, Herr Kollege Frei, was Sie, wie Sie sagen, noch besser gemacht haben am Regierungsentwurf, liefern wir noch besser ab und meinen, dass wir damit die EU-Richtlinie am besten umsetzen.
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Denn ein faires Verfahren – ich denke, darüber besteht Konsens bei allen Fraktionen – ist das A und O des Rechtsstaats. Aber das Verfahren, von dem wir sprechen, beginnt nicht erst für den Angeklagten mit der Eröffnung des Hauptverfahrens, auch nicht erst für den Angeschuldigten bei der Erhebung der öffentlichen Anklage, sondern schon für den Beschuldigten mit der ersten polizeilichen Vernehmung. Auch da kann es schon ungeheuer wichtig sein, dass die Weichen richtig gestellt werden; denn schon da, bei der Vernehmung durch die Polizei, können einschneidende Maßnahmen gegen den Beschuldigten verhängt werden.
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Deswegen ist es richtig, dass der Beschuldigte von der ersten Stunde an einen Pflichtverteidiger erhält. Das ist der erste Punkt, um den es geht.
Der zweite Punkt ist: Für wen ist denn dieser Pflichtverteidiger beizustellen? Da meinen wir: für alle, wenn eine Freiheitsstrafe im Raume steht. Nicht nur dann, wenn eine Mindeststrafe von sechs oder zwölf Monaten droht, sondern – das zeigt auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte – immer dann, wenn eine Freiheitsstrafe droht, ist der Fall einer notwendigen Verteidigung gegeben. Das betrifft nicht nur die dicken Fische und die Schwerverbrecher, die sich ohnehin oft teure Anwälte leisten können. Nein, das betrifft vor allem den mittellosen Beschuldigten. Deswegen ist es richtig, dass immer dann, wenn eine Freiheitsstrafe im Raume steht, eine solche notwendige Verteidigung anzunehmen ist. Das ist der zweite Punkt.
Der dritte Punkt ist – auch da, Herr Kollege Frei, kann ich Ihnen nicht zustimmen –: Es genügt nicht, nur auf Antrag des Beschuldigten den Fall einer notwendigen Verteidigung anzunehmen und einen Pflichtverteidiger zu bestellen. Nein, es ist richtig, dies von Amts wegen zu tun. Denn was steckt denn hinter dem Gedanken, dass erst auf Antrag ein Pflichtverteidiger bestellt werden soll? Na ja, könnte man denken, vielleicht verzichtet mancher darauf, kommt gar nicht erst auf den Gedanken. Vielleicht werden viele diesen Antrag gar nicht erst stellen, oder man kann sie noch ein bisschen davon abbringen. Nein, all das ist nicht gut, all das ist nicht wirklich richtig. Das einzig Richtige ist, es von Anfang an von Amts wegen zu tun.
Insofern, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ist mein Fazit und das meiner Fraktion, dass wir heute den Gesetzentwurf der Regierung ablehnen werden, weil wir der Meinung sind, dass wir als FDP-Fraktion einen Antrag unterbreitet haben, der die europäische PKH-Richtlinie richtig und europarechtskonform umsetzt, nämlich mit einer Pflichtverteidigung erstens von Anfang an, ab der ersten Stunde, zweitens von Amts wegen bestellt und drittens immer dann, wenn eine Freiheitsstrafe im Raume steht.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Der nächste Redner: für die Fraktion Die Linke der Kollege Niema Movassat.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir stimmen heute erstens über die Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung, der sogenannten Pflichtverteidigung, ab und zweitens über ein Gesetz zur vermeintlichen Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Jugendstrafverfahren.
Zunächst zur Neuregelung der Pflichtverteidigung. Pflichtverteidigung ist vor allem für Menschen wichtig, gegen die ein Strafverfahren läuft, die aber kein Geld haben, um sich selber einen Anwalt zu nehmen. Hier springt der Staat ein und übernimmt die Kosten für den Pflichtverteidiger. Vieles Richtige ist im Gesetzentwurf der Regierung enthalten. Aber an einem Punkt geht Ihr Entwurf gar nicht: Statt die Pflichtverteidigung zu stärken, was nötig wäre, schwächen Sie sie. Damit schwächen Sie auch die Beschuldigtenrechte. Wir als Linke werden einer Verschlechterung von Beschuldigtenrechten niemals zustimmen.
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Worum geht es genau? Im neuen § 141 Strafprozessordnung wird erstmalig ein Antragserfordernis für die Stellung eines Pflichtverteidigers eingeführt. Dies führt dazu, dass ein Beschuldigter während einer polizeilichen Vernehmung ausdrücklich die Stellung eines Pflichtverteidigers beantragen muss. Sie können sich vielleicht vorstellen, welche emotionale Ausnahmesituation es ist, wenn man von der Polizei wegen einer Straftat vernommen wird. Sie wissen auch, wie missbrauchsanfällig Ihre Regelung ist; denn formuliert der Beschuldigte nicht ganz ausdrücklich und klar, dass er einen Pflichtverteidiger will, dann wird er ihm möglicherweise vorenthalten. Ihre Änderung führt dazu, dass ein Beschuldigter in Zukunft wesentlich einfacher ohne Anwalt vernommen werden kann. Nemo tenetur se ipsum accusare – niemand ist verpflichtet, sich selbst anzuklagen.
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Dieser Grundsatz ist ein wichtiger Grundpfeiler unseres Rechtsstaates. Dazu gehört, dass der eigene Anwalt den Beschuldigten über seine Rechte aufklärt. Ihre Änderung ist schlecht für den Rechtsstaat, deshalb werden wir dazu Nein sagen.
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Das Ganze hat noch eine Dimension: Ein vermögender Beschuldigter, der sich einen Anwalt leisten kann, ist von Ihrer Neuregelung überhaupt nicht betroffen. Ihre Neuregelung geht ausschließlich zulasten armer Beschuldigter. Das ist Klassenjustiz, und dazu sagen wir Nein.
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Damit komme ich zur Neuregelung des Jugendstrafverfahrens. Anders als der Titel Ihres Gesetzes behauptet, stärken Sie nicht die Rechte der jugendlichen Beschuldigten im Gerichtsverfahren, sondern Sie verschlechtern sie. Bisher ist es so, dass ein jugendlicher Beschuldigter – etwa bei der polizeilichen Vernehmung – immer einen Pflichtverteidiger erhält. Sie wollen nun in § 68b Jugendgerichtsgesetz Ausnahmen schaffen, bei denen einem Jugendlichen ein Pflichtverteidiger vorenthalten werden kann, wenn er von der Polizei oder vom Staatsanwalt vernommen wird.
Interessant ist auch, wer über das Vorliegen des Ausnahmetatbestandes entscheidet. Nach Ihrem Entwurf entscheidet derjenige darüber, der den Jugendlichen vernimmt, also Polizei oder Staatsanwaltschaft. Das ist doch total missbrauchsanfällig. Sie können doch nicht allen Ernstes den Ermittler darüber entscheiden lassen, ob der Beschuldigte einen Pflichtverteidiger erhält oder nicht.
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Auch diese Regelung geht zulasten armer Menschen, weil es die ärmeren Jugendlichen sind, die sich keinen Verteidiger leisten können, und ihnen dieser dann möglicherweise als Pflichtverteidiger vorenthalten wird. Auch das ist Klassenjustiz, und auch dazu sagen wir als Linke Nein.
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Auch Ihre Änderung in § 68 Nr. 5 lehnen wir ab. Hiernach muss einem Jugendlichen ein Pflichtverteidiger gestellt werden, wenn die Verhängung einer Jugendstrafe zu erwarten ist. Nicht erfasst ist der Fall, wenn ein Jugendarrest zu erwarten ist. Dieser kann bis zu vier Wochen dauern. Er wirkt wie eine Freiheitsstrafe. Freiheitsentzug bleibt Freiheitsentzug, egal wie man es nennt. Diese Regelung geht wiederum zulasten der Rechte junger Beschuldigter. Wir als Linke lehnen daher Ihre beiden Gesetzentwürfe insgesamt ganz klar ab.
Danke schön.
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Die Kollegin Canan Bayram hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute zwei Gesetzentwürfe, die gemeinsam haben, dass sie der Umsetzung jeweils entsprechender Richtlinien der Europäischen Union dienen.
Die erste Richtlinie betrifft die Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen im Strafverfahren, die zweite betrifft die Verfahrensgarantie im Strafverfahren für Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen im Strafverfahren sind. Für beide Richtlinien kann ich mich den Ausführungen von Herrn Pollähne, dem Sachverständigen in der Anhörung des Rechtsausschusses, insoweit anschließen, als beide Richtlinien tatsächlich unzureichend umgesetzt werden.
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Im Einzelnen: Die Anhörung zur Prozesskostenhilferichtlinie hat ergeben, dass der Gesetzentwurf einen Bruch im bisherigen System der notwendigen Verteidigung darstellt; denn durch das eingeführte Antragserfordernis wird nunmehr der europaweit anerkannte Fair-Trial-Grundsatz gebrochen, der das Recht auf einen Rechtsanwalt bei drohender Freiheitsstrafe von sechs Monaten bzw. einem Jahr sicherstellt. Das lehnen wir ebenso wie viele der Sachverständigen in der Anhörung im Rechtsausschuss ab, meine Damen und Herren.
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Zu beanstanden ist auch eine Regelung, wonach Polizeibeamte entscheiden sollen, ob dem Beschuldigten ein Pflichtverteidiger an die Seite gestellt wird oder nicht. Ja, wie soll denn damit der Ermittler beauftragt werden, der ganz andere Dinge im Kopf hat, als die Rechte des Beschuldigten in den Blick zu nehmen? Das wird nicht funktionieren, deshalb lehnen wir auch diese Regelung ab. – So weit in aller Kürze zur Prozesskostenhilferichtlinie.
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Die Anhörung zum Jugendstrafverfahren hat deutlich gemacht, dass eine unterschiedliche Behandlung von Jugendlichen im Ermittlungsverfahren vorgesehen ist. Das heißt, jemand, der sich aufgrund seiner wirtschaftlichen Verhältnisse keinen Wahlverteidiger leisten kann, bleibt allein und ohne Verteidigung. Das lehnen wir ab, meine Damen und Herren.
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Denn die Menschen werden nicht nur im Stich gelassen, sondern es ist auch eine Schlechterstellung sowohl des Jugendlichen als auch des gesamten Strafverfahrens, da unterschätzt wird, welche Rolle und Verantwortung die Rechtsanwälte gerade in den Verfahren mit den Jugendlichen übernehmen können.
Wir, Bündnis 90/Die Grünen, sind der Ansicht, dass der Freizeitarrest ein Fall der notwendigen Verteidigung sein sollte. Diese Ansicht wurde von dem Sachverständigen Herrn Dr. Nöding in der Anhörung ebenfalls vorgetragen. Dennoch wurde uns heute dieser Gesetzentwurf unverändert, ohne diese Regelung, vorgetragen.
Deswegen kann ich zusammenfassend feststellen: Leider wurde eine Gelegenheit verpasst, die Umsetzung von zwei Richtlinien evidenzbasiert im deutschen Strafrechtssystem zu realisieren, und mithin wurde eine Chance verpasst, Verbesserungen zu erreichen. Vielmehr werden mit diesen Gesetzentwürfen massive Verschlechterungen und Versäumnisse rechtlich zementiert. Daher lehnen wir beide Gesetzentwürfe ab.
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Für die AfD-Fraktion hat der Kollege Roman Reusch das Wort.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Richtlinie für das Jugendstrafverfahren wäre an sich für deutsche Verhältnisse im Wesentlichen nicht nötig gewesen. Die Ziele, die damit verwirklicht werden sollen, haben wir seit Ewigkeiten als geltendes Recht verwirklicht.
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Der Gesetzentwurf geht aber teilweise deutlich über die Richtlinie hinaus, was insbesondere von den Sachverständigen, soweit sie Praktiker waren, scharf kritisiert wurde. Nur ein Beispiel, was uns darin unnötig erscheint: der neue § 1 Absatz 3 des JGG, die Zweifelsregelung. Du liebes bisschen! Es ist deutsches Recht, seit es dieses gibt, dass man im Zweifel selbstverständlich zugunsten entscheidet. Das muss doch nicht ins Gesetz geschrieben werden. Was soll der Unsinn?
Einige schlimme Übertreibungen des Gesetzentwurfes hat die Koalition durch einen Änderungsantrag entschärft; das ist so – gleichwohl leider nicht alles. Die Regelung zum Pflichtverteidiger in § 68 Nr. 5 des Entwurfs bleibt bestehen. Das mag alles in Ballungsräumen funktionieren, wo es vielleicht einen Anwaltsnotdienst gibt. Aber was machen wir denn bitte auf dem platten Land? Wo soll denn bitte die Kripo, die in der Nacht jemanden aufgegriffen hat und ihn vernehmen will, einen Verteidiger herbekommen? Belehrungspflichten müssen eingehalten werden. Soll sie ihm einen Packen Formulare geben? Die Jungs können doch meist nicht einmal lesen, und wenn sie es ihm vorlesen, dann versteht er das noch nicht einmal. Audiovisuelle Aufzeichnung von Vernehmungen ist jetzt so ein Modeding. Hat einer nach dem Kindeswohl gefragt? JGH, alles nach wie vor streng formalisiert. Was jetzt wunderbar funktioniert, das muss man doch nicht durch formalisierte Regelungen verschärfen.
Wir können uns diesem Entwurf nicht anschließen. Wir werden ihn ablehnen.
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Der letzte Redner ist der Kollege Alexander Hoffmann, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Die beiden vorliegenden Gesetzentwürfe haben mehrere Gemeinsamkeiten. Es handelt sich um Umsetzungen von EU-Richtlinien. Bei beiden Richtlinien ist die Umsetzungsfrist schon abgelaufen. Beide Richtlinien werden schon unmittelbar angewandt. Das heißt, wir bekommen aktuell aus der Praxis schon intensive Rückmeldungen. So gab es jetzt auch während des parlamentarischen Verfahrens Rückmeldungen, die wir verwerten konnten.
Das Ziel der beiden Richtlinien ist auch jeweils ein ähnliches. Es geht nämlich um die Stärkung – das ist schon klar geworden – von Beschuldigtenrechten, etwa bei der Frage, dass möglichst frühzeitig ein Verteidiger einzubinden ist. In dem Fall, in dem eine notwendige Verteidigung vorliegt und der Beschuldigte sich keinen Anwalt leisten kann, wird das über die Prozesskostenhilfe abgebildet.
Kommen wir zur dritten Gemeinsamkeit. Die Rückmeldungen aus der Praxis, also aus den Polizeibehörden der Länder, haben gezeigt: Wir müssen schon gucken, dass wir bei der Richtlinienumsetzung am Schluss kein Recht konstituieren, das vor allem in der Praxis nicht mehr handhabbar ist. Da denke ich gerade an die Polizistinnen und Polizisten mit ihrer Arbeit vor Ort. Wir dürfen keine Regelungen schaffen, die Verfahrensverzögerungen Tür und Tor öffnen. Wir dürfen eben auch keine Regelungen etablieren, die unter Umständen ganz neue und diffuse Revisionsgründe in sich tragen.
Deswegen war es richtig und gut, dass wir gerade die letzten Wochen und Monate so intensiv Rückmeldungen aus den Ländern bekommen haben, auch von den Vollzugsbehörden. Ich will das zusammenfassen und sagen, dass das Paket, das wir jetzt geschnürt haben, vor allem deswegen ein gutes ist, weil diese unmittelbaren Eindrücke aus der Praxis eingeflossen sind und wir – so will ich es mal auch für unseren Koalitionspartner sagen – den Bedenken der Länder wirklich in vollem Umfang Rechnung getragen haben.
Ich will auch dem Justizministerium und dem Koalitionspartner Danke sagen. Ich glaube, dass ein parlamentarisches Verfahren gerade dann wertig ist, wenn wir eben in die Praxis das Signal geben können: Jawohl, wir haben verstanden. Diese und jene Fälle wollen wir bewusst so gestalten, dass ihr in der Praxis damit arbeiten könnt. Allein deswegen sind die beiden Gesetzentwürfe, wie sie heute vorliegen, sehr gut gelungen.
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Ich will vier Einzelheiten herauspicken, aus jedem Gesetz jeweils zwei, um es ein bisschen konkreter zu machen, weil das alles vorhin ein bisschen – ich sage es mal so – vermischt worden ist.
Wir wollten unbedingt, dass weiterhin die Möglichkeit besteht, auf die Beiordnung eines Rechtsanwalts zu verzichten. Diese Möglichkeit gibt es heute schon. Es gibt einfach Angeklagte, die keinen Rechtsanwalt wollen. Gerade wenn kein Antrag gestellt wird, dann ist das wie ein Verzicht zu werten. Das ist ausdrücklich in die Begründung eingeflossen. Das gilt dann auch für die Fälle der Hauptverhandlungshaft, weil wir hier sonst zu ganz grotesken Ergebnissen kommen. In die Hauptverhandlungshaft kommt derjenige, der zur Hauptverhandlung nicht erscheint, unter Umständen auch derjenige, der eigentlich nur einen einfachen Diebstahl begangen hat. In der Hauptverhandlungshaft braucht er einen Verteidiger. Das heißt, bis der neue Termin für die nächste Verhandlung vom Richter festgelegt wird, vergehen unter Umständen Wochen. In der Zeit sitzt der Angeklagte dann in Haft.
Die Beiordnung einer Verteidigung kann doch in der Praxis nicht das gewünschte Ergebnis sein, auch nicht das gewünschte Ergebnis für den Angeklagten. Deswegen, glaube ich, war es praxistauglich und gut, dass wir diese Regelung ausdrücklich geschaffen haben.
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Ich will noch zwei Beispiele aus dem Gesetzentwurf zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Jugendstrafverfahren herausgreifen. Da gab es Fälle, die uns aus den Ländern gemeldet worden sind und uns umgetrieben haben. In Bayern gab es folgende Konstellation: Da nimmt ein Schüler einem anderen Schüler die Jacke weg – unter Androhung von Gewalt. Das ist ein Raub. Auch ein Verbrechen? Das heißt, wenn dann die Polizei gerufen wird, kann der Schüler erst vernommen werden, wenn ein Rechtsanwalt da ist. Parallel konnte aber schon das Handy ausgewertet werden, weil man Sorge haben musste, dass Beweismittel verschwinden.
Auch das ist eine Konstellation, die in der Praxis für die Polizei am Ende überhaupt nicht handhabbar wäre, wenn wir hier nicht die Möglichkeit eröffnen, dass auf die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts verzichtet werden kann. Deswegen haben wir die Regelung – das ist mir vorhin etwas zu kurz gekommen – ausdrücklich vorgesehen, dass eben dann der Fall einer notwendigen Verteidigung gerade nicht vorliegt, wenn zum Zeitpunkt der Vernehmung schon deutlich wird, dass das Verfahren ohnehin eingestellt werden wird, wie in dem Fall mit der Jacke, den ich geschildert habe.
Am Ende noch ein paar Sätze zur Jugendgerichtshilfe. Ich glaube, dass wir auch hier die Frage „Wie ist die Jugendgerichtshilfe einzubinden?“ nicht zu formal skizziert haben, sondern wir haben das mit sehr viel Augenmaß gemacht. Allein heute ist es schon so, dass die Jugendgerichtshilfe in jeder Phase des Verfahrens hinzuzuziehen ist.
Uns war wichtig, klarzumachen – hier soll kein Missverständnis entstehen –, dass vor Anklageerhebung nicht der vollständige Bericht der Jugendgerichtshilfe vorzuliegen hat. Das ist praktisch nicht realisierbar. Aus der Erfahrung weiß man eben auch, dass viele Jugendliche unter Umständen mit der Jugendgerichtshilfe nicht sprechen, solange die Anklageschrift noch nicht auf dem Tisch liegt. Deswegen war es wichtig, die Regelung so zu formulieren, dass vor der Anklageerhebung eine Stellungnahme einzuholen ist, aber der vollständige Bericht noch nicht vorliegen muss.
Über allem – das ist vorhin schon angeklungen – steht im Jugendstrafverfahren die Idee der Verfahrensbeschleunigung, weil nur ein beschleunigtes Verfahren am Schluss erzieherischen Charakter hat: Die Strafe soll der Tat auf dem Fuß folgen. Deswegen war es wichtig, die Instrumentarien der Jugendgerichtshilfe nicht so überbordend zu formulieren, dass sich ein Verfahren dadurch unendlich in die Länge zieht. Deswegen: zwei gute Gesetzentwürfe, für die ich ausdrücklich werben möchte.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Kollege Hoffmann. – Ich schließe die Aussprache.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Landsleute! Der Staat ist per Gesetz dazu verpflichtet, mit dem Geld, das er von den Bürgern einzieht, sparsam und verantwortungsbewusst umzugehen. Sparsam ist die Bundesregierung nur, wenn es um Leistungen für die eigene Bevölkerung geht, für Menschen, die jeden Tag zur Arbeit gehen und unseren Wohlstand erarbeiten. Die und vor allem die, die unsere wirtschaftliche Grundlage mit ihrer Hände Arbeit geschaffen haben, speisen Sie zu einem nicht unerheblichen Teil mit einem Hungerlohn ab, der sie geradewegs in die Altersarmut führt. Da wird um jeden Cent gefeilt. Schämen Sie sich!
Für die ganze Welt, für alle möglichen Umerziehungs- und Weltenrettungsprojekte können die Hände der Verschwender gar nicht groß genug sein, um so viel Geld wie möglich in hohem Bogen aus dem Fenster zu werfen.
Der Bundesrechnungshof, kurz BRH, legte nun einen Bericht nach § 88 Absatz 2 der Bundeshaushaltsordnung zu externen Beratungsleistungen im Geschäftsbereich des Umweltministeriums vor. Er beschreibt nicht nur den Umfang dieser Leistungen in Höhe von skandalösen 600 Millionen Euro – für dieses Geld müsste eine Krankenschwester in Deutschland 25 000 Jahre arbeiten gehen –; der BRH moniert daneben auch die äußerst fragwürdige Vergabepraxis, die fehlenden bzw. unzureichenden Dokumentationen zu externen Beratungsleistungen und des Weiteren, dass die Beantwortung der parlamentarischen Anfragen von Ihnen allen zu externen Leistungen seiner Ansicht nach unzureichend und ausweichend erfolgt.
Laut BRH sollten die Bundesressorts generell Aufgaben möglichst eigenständig wahrnehmen. Dies gewährleiste die Neutralität bei der Aufgabenwahrnehmung und den Erhalt von Kompetenzen. Dem Umweltministerium und seinen Behörden stehen dafür fast 4 000 Stellen zur Verfügung. Der BRH geht davon aus, dass diese Behörden erhebliche fachliche Expertise besitzen. Wir als AfD haben da berechtigte Zweifel – aber seiʼs drum.
Die Begründungen des Umweltministeriums für die Auslagerung von bestimmten Aufgaben sind so gut wie immer pauschal gefasst: keine Expertise vorhanden, keine entsprechenden wissenschaftlichen Qualifikationen und Kapazitäten im nachgeordneten Bereich. Diese pauschalen Begründungen genügen allerdings bei Weitem nicht, um die Notwendigkeit solcher externen Leistungen zu begründen. Das könnte von fehlendem Sachverstand zeugen, es kann aber auch – und davon gehen wir aus – ein Beleg für Täuschungsabsicht sein.
Der BRH kritisiert, dass das Umweltministerium eine exakte Datenvorhaltung für die Beantwortung parlamentarischer Anfragen von Ihnen allen für entbehrlich hält. Das ist eine unglaubliche Arroganz gegenüber den Steuerzahlern und den Abgeordneten dieses Bundestages.
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Entbehrlich ist nicht die Datenvorhaltung, entbehrlich sind Menschen, die sich in dieser arroganten Art und Weise über Gesetze und Regelungen hinwegsetzen.
Die Bundesregierung teilte dem Haushaltsausschuss seit 2007 bis einschließlich 2018 regelmäßig mit, dass im Etat des Umweltministeriums keine Ausgaben für externe Berater eingestellt wurden. Es war das einzige Ressort, das dem Finanzministerium regelmäßig eine sogenannte Fehlanzeige meldete. Auch hier handelte es sich entweder um fehlende fachliche Fähigkeiten oder beabsichtigte Täuschung. In beiden Fällen müssen die Verantwortlichen für diese falschen Angaben aus ihren Ämtern entfernt werden.
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Für die Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage der Linken ermittelte das Umweltministerium, bezogen auf den Prüfzeitraum 2014 bis 2018, insgesamt 3 685 Aufträge mit einem Kostenaufwand von circa 588 Millionen Euro in seinem Geschäftsbereich. Nachdem es Kenntnis von den Antworten der anderen Ressorts erhalten hatte, wurde ihm klar, dass seine Angaben stark aus dem Rahmen fielen. Es korrigierte wegen der politischen Bedeutung seine Meldung am nächsten Tag auf 1 000 Aufträge mit einem Auftragsvolumen von 110 Millionen Euro, ohne dass diese Änderung plausibel erklärt werden konnte oder sich aus einer erneuten Datenerhebung ergab.
Auch hier zeigt sich sehr deutlich, dass das Umweltministerium gar nicht willens ist, parlamentarische Anfragen – allein in dieser Legislaturperiode vier schriftliche Fragen und fünf Kleine Anfragen – wahrheitsgemäß zu beantworten. Deshalb müssen die bisherigen parlamentarischen Mittel als ausgeschöpft angesehen werden.
Die Vergabepraxis des BMU ist intransparent, und das BMU ist offenbar seit Jahren zu keiner Auskunft bereit. Die Einberufung eines Untersuchungsausschusses gemäß Artikel 44 Grundgesetz wird daher auch in Anbetracht des finanziellen Umfangs von 600 Millionen Euro als unumgänglich angesehen.
Die Erfahrung zeigt, dass Sie diesen Antrag wahrscheinlich aus parteipolitischen Gründen ablehnen werden
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und das mit Argumenten wie „fachlich schlecht gemacht“ oder „Für die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses brauchen wir die AfD nicht“ usw. begründen. Trotzdem fordere ich Sie, die Oppositionsfraktionen, ausdrücklich auf, uns zuzustimmen oder ersatzweise, wenn Sie das aus parteipolitischen Gründen nicht können, einen eigenen Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zu stellen. Diesem, der dann natürlich sehr super sein wird, werden auch wir zustimmen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Der Kollege Professor Dr. Patrick Sensburg ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Zuerst einmal zum Antrag der AfD; denn es geht heute um die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses und noch gar nicht um die Sache selber. Dazu müssen wir erst mal feststellen, dass nach Artikel 44 des Grundgesetzes die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses von 25 Prozent, also einem Viertel der Mitglieder des Deutschen Bundestages, verlangt werden kann. Diese Anzahl an Abgeordneten haben Sie auf Ihrem Antrag nicht erreicht. Wenn ich es richtig sehe, hat die AfD als Fraktion insgesamt den Antrag gestellt. Sie haben 91 Sitze, Sie bräuchten aber 178 Abgeordnete, die das unterstützen. Die haben Sie nicht. Deswegen ist der Antrag schon aus dem Grunde erfolglos.
Aber ich habe Sie so verstanden, Herr Kollege: Sie werben ja noch.
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– Genau. Sie werben ja noch. – Die Werbung war aber nach meiner Meinung in weiten Teilen etwas untauglich; denn Sie haben inhaltliche und materielle Fehler in Ihrem Antrag. Das mag daran liegen, dass er sich – ich sage es mal charmant – in weiten Teilen sehr an den Einsetzungsantrag zum Untersuchungsausschuss zu den Beraterverträgen des Verteidigungsministeriums anlehnt, fast wortgleich.
Problematisch ist dabei die Zusammensetzung, die Sie in Ihrem Antrag vorsehen. Sie verlangen eine Zusammensetzung des parlamentarischen Untersuchungsausschusses, den Sie beantragen, aus vier Sitzen für die CDU/CSU, zwei Sitzen für die SPD, zwei Sitzen für die AfD und jeweils einem Sitz für die Fraktionen FDP, Linke und Grüne. Das entspricht nicht § 4 des Gesetzes zur Regelung des Rechts der Untersuchungsausschüsse des Deutschen Bundestages. § 4 besagt, dass das Verhältnis im Parlament sich auch in parlamentarischen Untersuchungsausschüssen widerspiegeln muss.
Schauen wir uns das einmal an: In Ihrem Antrag fordern Sie genauso viele Sitze wie die SPD.
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Die SPD hat aber im Parlament 152 Sitze, und Sie haben 91. Damit kommt man nicht auf ein gleiches Verhältnis der Sitze in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss. Ich kann den Wunsch verstehen. Es entspricht aber nicht der Regelung in § 4 des Gesetzes für parlamentarische Untersuchungsausschüsse. Von daher müssten Sie vielleicht später in der Debatte Ihren Antrag noch mal schärfen. So wird es nicht gehen.
Auch in der Sache ist der Antrag so nicht mittragbar. Es fehlt im Grunde an der hinreichenden Bestimmtheit. Parlamentarische Untersuchungsausschüsse sind das stärkste Schwert insbesondere der Opposition im Bereich der parlamentarischen Möglichkeiten zur Ausforschung und Aufklärung, die eine Opposition gegenüber der Regierung hat. Dafür müssen Einsetzungsanträge hinreichend konkret, hinreichend bestimmt sein und einen ganz konkreten Sachverhalt, der im öffentlichen Interesse ist, und das, was als Verstöße der Bundesregierung angesehen wird, beschreiben. Dies tun Sie in Ihrem Antrag, den ich extra mit nach vorne genommen habe, nicht. Es fehlt ein Bereich im Antrag, wo Sie konkrete Verstöße formulieren. Sie formulieren auf einer Seite Fragestellungen in 15 Punkten. Es fehlt aber die Nennung der konkreten Verstöße, die Sie mit Ihren Fragestellungen aufklären wollen. Das reicht nicht für die Bestimmtheit. Auch die Fragen sind nicht hinreichend bestimmt.
Ich erinnere mich an die letzte Legislaturperiode, die, glaube ich, die Legislaturperiode mit den zweitmeisten parlamentarischen Untersuchungsausschüssen in der Parlamentsgeschichte war. Wir haben bei jeder Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses lange um die Konkretheit und Bestimmtheit des Einsetzungsbeschlusses gerungen – nicht umsonst: Denn wir müssen anschließend in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss ganz konkret Fragestellungen untersuchen, um dann dem Parlament anschließend die Antworten vorlegen zu können. Das leistet Ihr Antrag – leider, muss ich sagen – nicht.
Von daher kann ich nur sagen: ein nicht hinreichendes Quorum, ein falsches Verhältnis der Zahl der Abgeordneten der einzelnen Fraktionen bei der Einsetzung, obwohl § 4 PUAG das ganz klar regelt, und materiell nicht hinreichend konkret und bestimmt – Entschuldigung, das ist fachlich so nicht akzeptabel.
Sie werden sagen: Die Fraktionen stimmen aus parteipolitischen Gründen unseren Antrag wieder nieder. – Nein, auch Sie von der AfD müssen fachlich halbwegs korrekte Arbeit machen. Sonst fällt es halt durch, und das ist hier der Fall.
Danke schön.
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Für die FDP-Fraktion hat das Wort die Kollegin Judith Skudelny.
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Meine Damen und Herren! Herr Präsident! Vor gar nicht allzu langer Zeit hatte ich eine IPS-Studentin aus Moldawien bei mir. Wissen Sie, was sie hier bei uns am meisten beeindruckt hat? Die Architektur des Hauses. Sie hat gesagt, das Lichtdurchflutete, das Offene, das Gläserne, die Transparenz sei für sie ein Spiegel der Demokratie, die wir hier leben. Die Transparenz, die unsere Gebäude widerspiegeln, findet sich aber offenbar nicht im Inneren eines jeden Ministeriums wieder.
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Die Vorwürfe des Bundesrechnungshofes wiegen schwer. Es geht um Beraterverträge im Wert von 600 Millionen Euro, es geht um eine Haushaltsführung des Bundesministeriums für Umwelt, die eine ordnungsgemäße Prüfung des Bundesrechnungshofes offenbar nicht ermöglicht, und bei den Stichproben, die entnommen worden sind, wurde bezüglich der Zuordnung der Verträge festgestellt, dass über die Hälfte der Verträge falsch zugeordnet war. Und was sagt das BMU? Das BMU stellt fest: Wir haben das seit 2006 schon immer so gemacht.
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Meine Damen und Herren, ich stelle mir vor, dass jemand, der eine Steuerprüfung hat, dem Prüfer vor Ort und damit dem Finanzministerium, wenn Fehler bei der Buchführung festgestellt werden, erklärt: Hey, ich habe das seit 2006 schon immer so gemacht. – Diese Haltung des BMU ist eine schallende Ohrfeige für alle Menschen, die strafbewehrt eine ordnungsgemäße Buchführung in Deutschland abzugeben haben!
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Es geht sogar noch ein Stück darüber hinaus; es geht nämlich tatsächlich um mehr. Der Bericht sagt, dass Anfragen von Parlamentariern unvollständig und damit falsch beantwortet wurden, dass Fragen der Fraktionen eben nicht zur Transparenz beigetragen haben, und in mindestens einem Fall wurden – ich zitiere – „wegen der politischen Bedeutung“ absichtlich und vorsätzlich Zahlen geändert. Deutlicher kann man eigentlich nicht sagen, dass der Bundesrechnungshof feststellt, dass das Parlament hier getäuscht werden sollte.
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Damit, Frau Schulze,
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geht es auch ein Stück weit um die Glaubwürdigkeit unserer Demokratie. Sie haben jetzt die Möglichkeit, Verantwortung dafür zu übernehmen und tatsächlich Transparenz und Klarheit herzustellen. Nehmen Sie Ihre Chance wahr, die Würde Ihres Ministeriums zu erhalten und von sich aus und eigenständig die Dinge, die der Bundesrechnungshof auf den Tisch gelegt hat, aufzuklären!
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Andernfalls werden wir Freie Demokraten die Rechte der Bürger und des Parlaments wahrnehmen und für Transparenz und Klarheit hier im Hause sorgen.
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Der Parlamentarische Staatssekretär Florian Pronold ist der nächste Redner.
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Das mache ich.
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Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Präsident! Ich will mal den Fokus darauf legen, was in dem Bundesrechnungshofbericht steht, und damit beginnen, was darin nicht steht, weil Vorredner hier etwas wiedergegeben haben, was in dem Bundesrechnungshofbericht so nicht zu finden ist.
Der Bundesrechnungshof kritisiert nicht die Vergabepraxis.
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Der Bundesrechnungshof sieht keinen Verstoß gegen die Grundsätze der Haushalts- und Wirtschaftsführung oder sonstiger Rechtsvorschriften. Der Bundesrechnungshof sieht keinen Schaden für den Bundeshaushalt.
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Der Bundesrechnungshof kritisiert nicht die Struktur der Vergabestellen, und der Bundesrechnungshof sagt nicht, dass wir Beraterverträge im Umfang von 600 Millionen Euro verschwiegen hätten. Das sagt er nicht.
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– Sie aber haben vorhin in Ihrem Wortbeitrag versucht, diesen Eindruck zu erwecken.
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Worum geht es denn? Es geht darum, liebe Frau Skudelny, dass es seit 2006 eine sehr lange Definition des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages zu externen Beratungsleistungen gibt,
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und es würde meine Redezeit hier sprengen, wenn ich sie vorlesen würde. Sie enthält Positiv- und Negativbeispiele, wann von einem Beratervertrag auszugehen ist, der dann entsprechend meldepflichtig ist.
Wir haben dem, was der Bundesrechnungshof kritisiert hat, widersprochen. Wir haben dem sehr ausführlich widersprochen – übrigens, unsere Stellungnahme ist ausnahmsweise sogar öffentlich gemacht worden, weil uns auch daran liegt, dass wir hier eine breite Transparenz haben; sie ist auf der Homepage nachzulesen –, und wir haben versucht, Punkt für Punkt deutlich zu machen, worum es dort geht.
In diesen Richtlinien des Haushaltsausschusses steht zum Beispiel sehr deutlich, dass es auch darauf ankommt, was der überwiegende Gegenstand einer Leistung ist. Bei Ressortforschungsvorhaben, an deren Ende eine Antwort auf die Frage „Was folgt daraus für politische Handlungen?“ steht, ist der Schwerpunkt die wissenschaftliche Arbeit.
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– Das ist nach der Definition des Haushaltsausschusses so. – Dementsprechend haben wir diese Dinge seit 2006 so gehandhabt. Es sind hier 44 konkrete Fälle vom Rechnungshof benannt worden. Nach meiner Kenntnis geht es allein in 28 dieser Fälle um Ressortforschungsvorhaben. Das muss man an dieser Stelle also mal zur Kenntnis nehmen.
Ich bin schon lange in diesem Parlament und war auch schon Mitglied eines Untersuchungsausschusses. Darum weiß ich – das ist vorhin von dem Kollegen auch schon gesagt worden –, dass das ein sehr scharfes Schwert ist. Das übliche Verfahren ist: Es gibt einen Rechnungshofbericht. Zu diesem Rechnungshofbericht haben wir eine Erwiderung geschrieben. Sie ist aus unserer Sicht unvollständig aufgenommen worden. Jetzt wird diesen Fragen im Haushaltsausschuss oder im Rechnungsprüfungsausschuss nachgegangen. Dort werden wir alle Fragen detailliert beantworten. Dort werden wir auch verschiedene Dinge, die hier zum Teil missverständlich dargestellt worden sind – zum Beispiel, wenn es um Unterstützungsleistungen im Verhältnis zu Beraterverträgen geht –, und alle anderen Dinge minutiös aufdröseln, weil unser Ministerium hier immer sehr offen und transparent ist. Das ist unser Anspruch, und das werden wir auch in Zukunft sein.
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Wenn in diesen Gremien, die dafür vorgesehen sind, dann tatsächlich noch Fragen offenbleiben, dann wäre tatsächlich der Moment gekommen, dass man über einen Untersuchungsausschuss nachdenken kann.
Ich schlage vor, hier nicht verkürzt und verdreht bestimmte Dinge darzustellen, sondern das jetzt seriös zu behandeln, weil man einen Rechnungshofbericht ernst nehmen muss – auch als Ministerium.
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Damit ist nicht gesagt, dass man alle Einschätzungen des Rechnungshofes teilt. Ich finde, es ist dann auch die Aufgabe des Haushaltsausschusses und der Parlamentarier, das zu bewerten.
Mein Eindruck ist – das habe ich in der Fragestunde auch schon gesagt –, dass wir aufgrund dieser Definition von einer halben Seite, die hier keiner vorlesen kann, weil das jede Redezeit sprengen würde, in diesem Gesamtkomplex Unklarheiten haben, die von Ministerium zu Ministerium zu unterschiedlicher Anwendungspraxis führen. Das gilt auch für das Beispiel, das in Bezug auf die Unterstützungsleistungen angesprochen worden ist, dass nämlich vom BMU, das alles angeblich verheimlichen will, mehr angemeldet wurde und das dann auf einmal reduziert wurde. – Lassen Sie uns das aufklären!
Ich glaube aber, wir müssen – und das ist ja Sinn dieser Vorschrift – eine Vergleichbarkeit zwischen den Ministerien erreichen. Alle Ministerien müssen diese Berichte tatsächlich nach denselben Auslegungskriterien erstellen, womit nicht nur Transparenz – dafür haben wir immer gesorgt –, sondern auch Vergleichbarkeit hergestellt wird.
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Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Der Kollege Ralph Lenkert hat das Wort für die Linke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Liebe Bürgerinnen und Bürger! Es gibt Gesetze, Verordnungen und Grenzwerte, damit aus Schornsteinen keine giftigen Stäube entweichen, damit Lärmbelastungen eingeschränkt werden, damit Funkwellen nicht krank machen, damit wir in Flüssen und im Meer gefahrlos baden können und damit Chemikalien Menschen und Natur nicht vergiften. – So weit, so klar. Das alles sind Aufgaben des Umweltministeriums. Es prüft die Zulassung von Chemikalien, erlässt Grenzwerte, schützt unsere Flora und Fauna und erlässt Regelungen zum Schutz der Gewässer und des Grundwassers. Das Umweltministerium ist für all dies zuständig, und es ist zuständig dafür, die Ursachen für die Klimaveränderung zu erkennen, und für Maßnahmen zum Klimaschutz.
Beim Klimaschutz wird es klar: Das ist ein Reizwort für die AfD. Sie ignorieren die Erkenntnisse der Wissenschaft, und stattdessen versuchen Sie, das Umweltministerium ins Visier zu nehmen. Statt die Wurzel des Problems in Form von Werkverträgen, von Beraterverträgen anzugehen, will die AfD keine Lösung, sondern die AfD sucht eine neue Bühne für ihre Skandal- und Empörungsorgien,
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um darzustellen, wie schlimm alles ist.
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Wir als Linke kritisieren seit Jahren die neoliberale Politik der Bundesregierung, die in der Auslagerung von ganzen Aufgabenbereichen aus öffentlichen Verwaltungen und Ministerien besteht: IT-Bereiche – an Fremdfirmen vergeben; Hausmeister- und Reinigungsleistungen – an Fremdfirmen vergeben; Sicherheitsdienstleistungen und Fahrdienste ‑ausgelagert; Laborkapazitäten – reduziert; Analysen – fremdeingekauft. Dies alles führt häufig zum Abbau von Arbeitsplätzen, zu Lohndumping und zu schlechten Arbeitsbedingungen, und das kritisiert Die Linke scharf.
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Dann bezieht sich die AfD auf unsere Kleine Anfrage;
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eine solche haben wir gestellt.
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Wir wollten wissen, wie viele Unterstützungsleistungen und Beraterleistungen das Bundesministerium eingekauft hat. Aber warum wollten wir das wissen? Wir wollten einfach wissen, wie erschreckend groß – das mussten wir feststellen – das Ausmaß dieser Ausgliederungen ist.
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Das ist der eigentliche Skandal.
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Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, die AfD kümmert sich nicht darum, die Ursachen zu bekämpfen oder eine Lösung vorzuschlagen. Das würde anders aussehen.
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Dass IT-Dienste, Hausmeisterdienstleistungen, Reinigungskräfte, Labore über Werkverträge abgewickelt werden, ist eine Folge des Kaputtsparens des öffentlichen Dienstes, insbesondere durch Union und FDP. Die Linke will den öffentlichen Dienst stärken, damit so etwas nicht mehr notwendig ist.
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Bei der schnellen Entwicklung von Wissenschaft, Technik und Industrie ist es unmöglich, dass Ministerien alle Fachleute selber vorhalten können. Deswegen fordert Die Linke eine finanziell bessere Ausstattung von staatlichen Hochschulen und staatlicher Forschung, damit diese uns unabhängig beraten können. Das ist ein Weg, um Beraterverträge, die zweifelhaft sind, zwar nicht hinsichtlich der Offenlegung der Kosten, sondern einfach von der Struktur her, zu beseitigen.
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Natürlich ist es auch notwendig, dass die Ministerien und Behörden genügend eigene Mitarbeiter haben. Da müssen Stellen eben zügig nachbesetzt werden und entsprechende Kapazitäten vorgehalten werden. Und das fordert Die Linke.
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Das sind die Aufgaben, das ist der Weg, damit weniger Vergaben von Fremdleistungen, von Werkverträgen und von Beratungen erfolgen.
Und was beantragte die AfD? Einen Untersuchungsausschuss. Der bringt nichts. Stopp, ich irre mich: Er blockiert die Ressourcen des Umweltministeriums. Zufall? Ich wiederhole: Die AfD hat ein Problem mit Klimaschutz. Die AfD hat ein Problem mit Maßnahmen für Umweltschutz. Sie will mit diesem Antrag das Umweltministerium lähmen.
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Die AfD bringt keine Lösungen; sie verhindert diese. Deswegen lehnen wir diesen Antrag ab.
Vielen Dank.
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Die Kollegin Steffi Lemke ist die nächste Rednerin für Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Worum geht es? Im Bundesumweltministerium gibt es Probleme mit bestehenden Beraterverträgen. Wir sehen dort durchaus relevante Probleme. Das hat mein Kollege Sven-Christian Kindler deshalb auch als erster Bundestagsabgeordneter öffentlich kritisiert, und zwar sehr scharf und sehr deutlich.
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Wir kritisieren, wie das Umweltministerium mit den externen Beraterverträgen umgegangen ist, nicht, dass es welche eingegangen ist,
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und vor allem – das hat der Staatssekretär hier ausgeführt, durchaus selbstkritisch; so habe ich ihn verstanden –, dass dazu unklare Angaben gemacht worden sind, und zwar mehrfach, auch gegenüber dem Parlament.
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Das muss aufhören. Das muss aufgeklärt werden. Das muss transparent gemacht werden.
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Deshalb hat meine Fraktion erstens eine Berichtsanforderung gestellt, zweitens schriftliche Fragen gestellt, Gespräche mit den Verantwortlichen im BMU geführt. Dieses Thema ist heute auch im Haushaltsausschuss auf der Tagesordnung. Wir haben darüber hinaus einen Prozess angestoßen, um klarer zu definieren, wie Beratungsleistungen von Unterstützungsleistungen unterschieden werden, und um klarer zu definieren und präziser abzugrenzen, was dann wie öffentlich gemacht werden muss.
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Das ist der Sachverhalt. Das ist unsere übliche Arbeit im Parlament. Es ist unsere Aufgabe als Opposition, die Regierung zu kontrollieren, zu kritisieren und Verbesserungen anzustoßen.
Um all das geht es der AfD mit ihrem Antrag hier heute nicht.
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Das haben Sie, Herr Hilse, gestern in der „Welt“ dokumentiert, indem Sie sich dort zitieren lassen mit: Diese ganze Mühe wollen wir uns gar nicht erst geben. ‑
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Damit meinen Sie die schriftlichen Anfragen, die Auseinandersetzungen mit dem BMU, all das, was der Kollege Sensburg vorhin hier ausgeführt hat, was man tut, wenn man ernsthaft einen Untersuchungsausschuss einsetzen möchte.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hilse?
Nein, aus der AfD gestatte ich keine Zwischenfrage.
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– Ja, ja, ja.
„Diese Mühe wollen wir uns ersparen“, so lassen Sie sich zitieren. Und Sie haben, Herr Hilse, gestern demonstrativ den Plenarsaal verlassen, als in der Fragestunde unsere Kollegin Skudelny von der FDP zu ebendiesem Themenkomplex Fragen aufgeworfen hat; in diesem Moment sind Sie raus aus dem Plenarsaal. Das Thema interessiert Sie überhaupt nicht. Ihnen geht es darum, zu diffamieren, zu diskreditieren,
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zu beschuldigen und zu beleidigen.
Der Hintergrund für dieses Ihr Vorgehen ist in der Tat, dass es Ihnen darum geht, Wissenschaft zu diskreditieren, die Klimakrise zu leugnen
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und dafür diejenigen, die in der Wissenschaft dafür arbeiten, Fakten zusammentragen, die Regierung beraten, zu diskreditieren und diese demokratischen Institutionen zu beschädigen und parlamentarische Prozesse lahmzulegen und verächtlich zu machen.
Das haben Sie auch in der letzten Woche im Umweltausschuss bewiesen, als der Umweltausschuss seine Sachverständigenanhörung zum Klimapaket der Bundesregierung durchgeführt hat.
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Es ist üblich, dass wir als demokratische Fraktionen uns dort in der Sache hart auseinandersetzen.
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Das ist dort passiert. Die AfD hat dort einen Sachverständigen benannt, einen selbsternannten Sachverständigen, der nicht nur die Klimakrise leugnet – das ist Ihr gutes Recht; das dürfen Sie tun –,
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sondern auch von seinem persönlichen Twitteraccount Tweets verschickt, in denen er die Mondlandung leugnet, in denen er behauptet, Notre-Dame habe nicht brennen können, weil es aus Stein bestehe, und in denen er Verschwörungstheorien mit antisemitischen Bezügen twittert. Das ist Ihr Sachverständiger zu diesem Thema im Umweltausschuss gewesen. Auch damit haben Sie dokumentiert, dass es Ihnen nicht um die Sache geht, sondern dass Sie diskreditieren, beschädigen und im Zweifelsfall verleugnen wollen. Das ist der Hintergrund Ihres Antrages.
Das haben Sie auch dokumentiert, indem Sie die Beratung dieses Antrags erst letzten Freitag gegen den ursprünglich von Ihnen vorgesehenen TOP ausgetauscht haben. Eigentlich hätten wir hier heute auf Ihren Antrag „Opferbereitschaft deutscher Soldaten anerkennen – Einführung eines Verwundetenabzeichens in der Deutschen Bundeswehr“ diskutieren sollen. Das Plenum endete letzten Freitag um 18.58 Uhr. Danach haben Sie einen Austausch der Tagesordnungspunkte und eine Debatte über die Einsetzung dieses Scheinuntersuchungsausschusses beantragt.
All das dokumentiert: Es geht Ihnen mit diesem Antrag hier weder um Aufklärung noch um Transparenz noch um Parlamentarismus.
Danke.
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Das Wort zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Karsten Hilse.
Vielen Dank, Herr Präsident, dass Sie die Kurzintervention zulassen. – Ich möchte richtigstellen, dass ich in der „Welt“ unvollständig zitiert wurde. Ich habe vorhin auch angedeutet, dass hier schon mehrere parlamentarische Initiativen erfolgten, also mehrere Anfragen, die so gut wie alle nicht vollständig und ausweichend beantwortet wurden. Deswegen habe ich gesagt, dass zumindest aus unserer Sicht die vorherigen parlamentarischen Initiativen
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als ausgeschöpft anzusehen sind. Also, es ging nicht darum, mir die Arbeit zu ersparen, sondern alle Parteien, zumindest alle Oppositionsfraktionen, haben quasi eigentlich schon eine Vorarbeit geleistet mit ihren schriftlichen Anfragen – allein dieses Jahr fünf Kleine Anfragen und vier schriftliche Anfragen.
Ich möchte bitte klarstellen, dass Herr Piers Corbyn zu diesen ganzen Anschuldigungen, für die Herr Beutin im Ausschuss zurechtgewiesen wurde, selber gesagt hat: Das sind alles Fake Tweets gewesen. – Er hat gesagt, er habe nie solche Tweets veröffentlicht. Ich möchte das einfach nur zur Kenntnis geben.
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Frau Kollegin, möchten Sie darauf erwidern? – Bitte schön.
Herr Kollege Hilse, mit dieser jämmerlichen Kurzintervention haben Sie bestätigt, was ich vorher ausgeführt habe. Es ist eine schwache Verteidigungsrede, wenn Sie sich jetzt auf eine schriftliche Anfrage der Linksfraktion beziehen,
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diese als Beweis anführen und in epischer Breite einen Artikel von „Spiegel Online“ zitieren, den Sie sonst als „Lügenpresse“ diffamieren
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und von dem Sie behaupten, da würden ja nur falsche Aussagen drinstehen. Das alles zeigt doch Ihr gesamtes jämmerliches Konstrukt auf.
Gehen Sie mit diesem Antrag nach Hause. Versuchen Sie, ihn das nächste Mal vielleicht besser zu schreiben. Vor allem: Reden Sie mit anderen Fraktionen darüber, wenn Sie ernsthaft annehmen wollten, dass Sie jemals für so was eine parlamentarische Mehrheit bekommen.
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Ihr ganzes Vorgehen zeigt, dass Sie das nicht wollen, sondern dass es Ihnen nur ums Diffamieren geht.
Zu Ihrem sogenannten Sachverständigen in der letzten Ausschussanhörung: Ich habe mir den Twitter-Account des Herrn angeguckt. Er ist in allererster Linie wirr; er twittert dort in permanenter Weise Verschwörungstheorien mit antisemitischen Bezügen. Die sind so wirr, dass sie strafrechtlich nicht relevant sind. Er hat im Ausschuss erklärt, er hätte solche Sachen aus Versehen retweeted. Das war seine Erklärung im Ausschuss. Ich habe mir nur seine Original-Tweets, also die, die er selber verfasst hat, angeguckt, und dort leugnet er die Mondlandung, erklärt, Notre Dame wäre aus Stein und könne nicht brennen.
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Wenn Sie solche Sachverständigen in einen Ausschuss des Deutschen Bundestages zu einer Anhörung einladen, dann müssen Sie sich den Vorwurf gefallen lassen, dass Sie überhaupt nicht an ernsthafter Arbeit interessiert sind, sondern nur an einem solchen Schauspiel, das Sie dort aufführen, um – das habe ich ausgeführt – zu diskreditieren und zu diffamieren. Das ist Ihre Absicht dahinter.
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Vielen Dank. – Wir setzen die Aussprache fort. Der nächste Redner: Alexander Throm, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Um was geht es heute? Heute geht es ganz nüchtern um die Frage, ob wir einen weiteren Untersuchungsausschuss einsetzen sollen oder gar müssen. Dabei geht es um die Frage, ob es einen Missstand in der Regierungsführung gibt und ob es ein öffentliches Interesse daran gibt, diesen aufzuklären. Es geht heute eindeutig nicht darum, zu bewerten, ob in der Bundesregierung und im Umweltministerium alles richtig gemacht wurde oder ob Fehler gemacht wurden. Das würde nämlich das Ergebnis eines Untersuchungsausschusses und den Untersuchungsauftrag vorwegnehmen.
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Genau das aber haben Sie, Herr Hilse, in Ihrer Begründung vorhin getan. Ich zitiere Sie: Die Ausführungen des Bundesrechnungshofs und des Umweltministeriums sind ein „Beleg für Täuschungsabsicht“ im Umweltministerium.
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Das haben Sie gerade vorhin gesagt. Schauen Sie sich das Protokoll Ihrer eigenen Rede nochmals an.
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Sie haben damit also genau das ausgeführt, worum es heute nicht geht. Sie haben ein Ergebnis vorweggenommen, das Sie angeblich erst im Rahmen eines umfassenden Untersuchungsauftrages im Untersuchungsausschuss erzielen wollen, Herr Hilse. Schauen Sie es sich an! Sie haben das so gesagt. Ich habe es bei Ihrer Rede entsprechend mitgeschrieben.
Sie haben auch etwas Weiteres vorweggenommen. Sie haben nämlich gesagt: Wahrscheinlich werden die Regierungsfraktionen und auch andere Fraktionen den Antrag ablehnen, weil er fachlich schlecht gemacht ist. – Erstens: Sie haben recht; er ist fachlich schlecht gemacht. Zweitens: Wir werden ihn insofern ablehnen.
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Sie haben jetzt offensichtlich eine gewisse Freude an Untersuchungsausschüssen gefunden; das wird langsam inflationär. Wir haben einen Untersuchungsausschuss zur Pkw-Maut – das betrifft das Verkehrsministerium –, davor den Untersuchungsausschuss zu den Beraterleistungen im Verteidigungsministerium.
Jetzt soll ein Untersuchungsausschuss zu Beraterleistungen im Umweltministerium eingesetzt werden. Wenn man sich Ihren heutigen Antrag ganz genau ansieht, dann stellt man fest, dass Sie Copy-and-paste gemacht haben. Sie haben den alten Antrag bezüglich des Verteidigungsministeriums herangezogen, haben „Verteidigungsministerium“ durch „Umweltministerium“ ersetzt und uns diesen Antrag hier vorgelegt. Ganz so einfach kann man es sich aber nicht machen. Ein bisschen Hirnschmalz muss man schon investieren, wenn man einen neuen Untersuchungsausschuss einsetzen will.
Und ja – das wurde auch schon gesagt –, das Recht zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses ist das schärfste Schwert, das ein Parlament zur Kontrolle der Regierung hat. Deswegen müssen im Antrag und in dem Beschluss die entsprechenden Fragen, die aufzuklären sind, konkret gestellt werden; das ist bei Ihnen nicht der Fall. Der Ausgangspunkt für Ihre Argumentation soll der Bericht des Bundesrechnungshofs sein. Den erwähnen Sie aber erstmals in der Begründung und nicht in dem konkreten Untersuchungsauftrag. Insofern – das haben Sie wahrscheinlich schon selber bemerkt – kommt Ihr Antrag dem Gebot der Bestimmtheit bei einem solchen Untersuchungsauftrag nicht nach und wird diesem nicht gerecht.
Wenn man sich die Mühe macht und einen Untersuchungsauftrag erstellt, dann muss man auch konkrete Vorwürfe erheben. Auch das tun Sie nicht. Sie stellen vielmehr das gesamte Ressort unter Generalverdacht. Sie beabsichtigen eine Generalüberprüfung sämtlicher Auftragsvergaben eines Ressorts in Bezug auf Beratungs- und Unterstützungsleistungen. Damit verkennen Sie ebenfalls die Aufgabe eines Untersuchungsausschusses. Er ist kein Ausforschungsausschuss, sondern man muss belegbare Missstände vermuten können, um diese dann entsprechend zu untersuchen. Diese konkreten Vorwürfe erheben Sie auch nicht. Damit verstoßen Sie gegen das Prinzip der Gewaltenteilung.
Letztlich muss die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses notwendig sein, weil es daran ein gewisses öffentliches Interesse gibt.
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Jetzt schauen Sie sich einmal an, in welcher Form dies bisher diskutiert wird. Wenn man bei Google sucht, was es dazu gibt, dann stellt man fest: Das Thema ist um den 30. Oktober 2019 von der Presse aufgegriffen worden. Der Bericht selbst ist noch gar nicht öffentlich. Er soll erst in den parlamentarischen Gremien beraten werden, bevor er dann öffentlich gemacht wird. Genau das wäre die richtige Vorgehensweise auch für Sie gewesen. Sie sollten erst einmal die parlamentarischen Möglichkeiten, die Sie haben, ausnutzen, bevor Sie zum schärfsten Schwert, zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, greifen. Sie machen hier den zweiten vor dem ersten Schritt. Deswegen würde ich Ihnen einfach anraten: Nutzen Sie diese Möglichkeiten! Glauben Sie aber nicht, dass ich Ihnen jetzt Tipps gebe, welche Möglichkeiten Sie dazu genau haben.
Wir jedenfalls werden, auch aufgrund der fachlichen Mängel, diesen Untersuchungsauftrag heute ablehnen.
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Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist für die Fraktion der SPD der Kollege Carsten Träger.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Vielen Dank für die Gelegenheit, für die SPD-Fraktion zu dem Antrag Stellung zu nehmen. Dazu ist schon viel gesagt worden. Der Antrag ist fachlich einfach schlecht gemacht. Inhaltlich hat der Kollege Pronold die Vorwürfe ausgeräumt. Im Wesentlichen geht es um Verfahrensfragen: Wie bewertet man den Beratungsanteil bei einem Forschungsvorhaben? Diese Fragen werden beantwortet werden. Wenn es gewünscht wird, sollte man das Verfahren, das zwar seit zwölf Jahren geübte Praxis ist, aus gegebenem Anlass natürlich noch mal hinterfragen. Damit ist der ganze Skandal dann eigentlich auch erledigt, Herr Hilse.
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Man muss sich da auch nicht schützend vor das Umweltministerium stellen. Aber ich nehme jede demokratische Institution, die Sie angreifen, in Schutz, und ich lobe ausdrücklich den Rechtsausschuss mit seiner Entscheidung von gestern Nachmittag.
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Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Es gibt einen einmaligen Vorgang in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, in der Geschichte dieses Parlaments: Alle Fraktionen sind sich einig,
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dass der Vorsitzende eines Ausschusses untragbar ist wegen seiner antisemitischen Tweets, wegen seiner schlampigen Amtsführung und seiner Tendenz, Hass und Hetze zu verbreiten.
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Das haben alle bestätigt; alle haben zugestimmt.
Dieser Vorsitzende ist eine Schande für den Rechtsausschuss und für den Deutschen Bundestag.
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Wenn Sie schon uns nicht glauben:
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Das haben nicht wir gesagt, das hat der Deutsche Anwaltverein gesagt, das hat der Deutsche Richterbund gesagt.
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Es ist also sehr durchsichtig, dass Sie hier ein Ablenkungsmanöver vorhaben und das Umweltministerium mit Dreck beschmeißen wollen.
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Liebe Svenja Schulze, in meiner Heimat sagt man: Des mag da wurscht sein. – Aber man kann auch sagen: Nimm es als Kompliment! – Denn Svenja Schulze steht für all das, was gegen Ihre Auffassung ist. Sie steht für Zusammenhalt und Einbindung der Interessengruppen; das haben wir bei der Kohlekommission gesehen. Sie steht für einen weltoffenen Ansatz, dass wir multilateral vorgehen. Sie steht für Klimaschutz. Sie steht für Anstand.
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Sie steht für Menschenrechte. Das ist all das, was Sie verachten. Deswegen schmeißen Sie mit Dreck darauf.
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Ich sage Ihnen: Die Opposition hat im Parlament eine hohe Verantwortung.
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Deswegen sind alle Fragen, die der Rechnungsprüfungsausschuss aufwirft, berechtigt, und denen muss mit aller Ernsthaftigkeit und Seriosität nachgegangen werden. Aber was Sie machen, ist nichts anderes als
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eine weitere Schmutzkampagne. Sie feiern Champagnerfeten auf Kosten der Steuerzahler. Sie geben sich als angebliche Arbeiterpartei, waren aber heute für die Abschaffung des Solis für Superreiche, sind gleichzeitig gegen den Mindestlohn und gegen Tarifverhandlungen. Das ist alles sehr durchsichtig, das ist alles beschämend.
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Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Skandale – da haben Sie genug zu tun –, und spielen Sie keine Spielchen mit dem Parlament,
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indem Sie die Beschlussfähigkeit anzweifeln, wenn von Ihren alten Herren nur 15 Leute selber da sind und der Rest des Parlaments anwesend ist!
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Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Damit schließe ich die Aussprache.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf setzen wir die zweite Aktionärsrechterichtlinie in deutsches Recht um. Diese Regelungen haben durchaus eine Reihe von praktischen Auswirkungen auf die Unternehmenskultur in Deutschland.
Ich sage dazu auch: Es ist durchaus nicht ganz einfach, dieses europäische Recht in deutsches Recht umzusetzen; denn in vielen europäischen Ländern gibt es ein sogenanntes monistisches System, während wir in Deutschland ein dualistisches System haben. Deswegen sind viele Regelungen nicht ganz einfach auf unser deutsches Recht zu übertragen. Aber wir haben das gemacht, und ich glaube, wir haben auch wirklich etwas Gutes vorgelegt.
Wir lassen uns von folgenden Gedanken leiten: Was ist das Ziel? Wir wollen die Mitwirkung von Aktionärinnen und Aktionären verbessern. Wir wollen vor allen Dingen Transparenz schaffen; dafür haben wir eine ganze Reihe von Regelungen auf den Weg gebracht und in den Gesetzentwurf geschrieben. Es geht uns auch ausdrücklich darum, das nachhaltige Wachstum von Unternehmen zu fördern und damit den langfristigen Erfolg von Unternehmen zu garantieren bzw. wesentlich dazu beizutragen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will ganz deutlich sagen: „Aktionärsrechterichtlinie“ klingt zwar ein bisschen technisch, das sind aber keine rein rechtstechnischen Fragen, sondern das hat ganz viel damit zu tun, ob Menschen Vertrauen in unsere soziale Marktwirtschaft haben, ob wir vernünftige gesellschaftsrechtliche Regelungen haben.
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Gerade der Punkt, auf den ich jetzt zu sprechen kommen möchte, nämlich die Vorstandsgehälter, hat etwas damit zu tun, ob es in unserer Gesellschaft gerecht zugeht und ob das auch wahrgenommen wird. Ich glaube, wir können sagen: Diese unangemessen hohen Vorstandsgehälter sind auch ein Grund dafür, dass Bürgerinnen und Bürger kritische Fragen stellen.
Es ist grundsätzlich überhaupt nichts dagegen einzuwenden, dass gute Arbeit gut bezahlt wird und dass Personen, die viel Verantwortung in Unternehmen tragen, auch enorme Gehälter bekommen. Aber mittlerweile haben die Vorstandsvergütungen eine Höhe erreicht, die schlicht und ergreifend nicht mehr nachvollziehbar ist. Deswegen haben wir als SPD dieses Thema auch schon sehr lange auf die politische Tagesordnung gesetzt.
Ich will ein paar Zahlen nennen – nicht zu viele, aber ein paar –, um das zu illustrieren. Wenn der Vorstandsvorsitzende der Beiersdorf AG 23,45 Millionen Euro in einem Jahr verdient,
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dann ist das nicht mehr angemessen.
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Wenn die DAX-Vorstände im Schnitt – das sind Durchschnittszahlen – im Jahr 2018 das 52-Fache der Gehälter der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in diesen Unternehmen verdienen, dann ist auch das nicht mehr nachzuvollziehen.
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Und wenn es bei der Deutschen Bank eine Steigerung der Vorstandsgehälter um 55,2 Prozent gegeben hat und gleichzeitig die Aktionäre Verluste in ungefähr derselben Höhe hinzunehmen haben, dann ist das nicht mehr nachzuvollziehen.
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Bei allem Respekt vor guten Leistungen muss man sagen: Hier bestand dringender Regelungsbedarf. Was machen wir? Wir schaffen jetzt eine verbindliche Regelung. Bisher war zwar schon klar – das war freiwillig möglich; der Deutsche Corporate Governance Kodex hat das auch empfohlen –, dass es eine Maximalvergütung und vor allen Dingen ein ausgewogenes Vergütungssystem in den Unternehmen geben soll; aber wir haben gesagt, es reicht nicht, dass das auf freiwilliger Basis erfolgt, und wir haben jetzt eine gesetzliche Verpflichtung formuliert.
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Es war dringend notwendig, dass wir diese gesetzliche Verpflichtung bekommen und dass wir auch klar sagen, dass es sich um eine Maximalvergütung handelt. Darüber soll nicht irgendwer entscheiden, sondern der Aufsichtsrat; denn das ist genau der richtige Ort, wo diese Entscheidung zu treffen ist.
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Darüber, ob das der richtige Ort ist, haben wir hier ein bisschen gestritten. Aber wir haben aus guten Gründen gesagt – ich freue mich auch, dass wir das jetzt so beschließen werden; jedenfalls haben wir es vereinbart –, dass der Aufsichtsrat diese Maximalvergütung festsetzt; denn uns ist es sehr wichtig, dass es dasjenige Organ im Unternehmen tut, das mitbestimmt ist und in dem die Arbeitnehmerseite vertreten ist. In den Aufsichtsräten mitbestimmter Unternehmen hat die Arbeitnehmerseite damit auch ein Wörtchen mitzureden. Ich fand es sehr bemerkenswert, dass sowohl BDI als auch DGB sich in einer gemeinsamen Empfehlung an uns gewandt und gesagt haben: Lasst es bitte beim Aufsichtsrat; da liegt es richtig.
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Wir haben trotzdem die Hauptversammlung gestärkt, indem wir eine Möglichkeit geschaffen haben, dass auch die Hauptversammlung über die Vergütungen mitbestimmt; allerdings haben wir das auf die Möglichkeit der Absenkung beschränkt. Ich glaube, das ist auch genau richtig. Die Hauptversammlung kann bei der Festlegung des Vergütungssystems jetzt ein Wörtchen mitreden, aber eben nur das absenken, was der Aufsichtsrat beschlossen hat. Ich glaube, das ist eine wirklich gute Regelung, die wir da vorlegen.
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Ein weiterer Punkt darf nicht untergehen – es ist mir auch sehr wichtig, das hier heute noch mal zu betonen –: Wir haben auch eine Regelung formuliert, mit der wir sichern, dass die Unternehmen sich nachhaltig, langfristig gut entwickeln. Das klingt vielleicht ein bisschen selbstverständlich, aber dass gerade der Aspekt der Nachhaltigkeit – eine Kombination aus sozialen und ökologischen Aspekten – festgeschrieben wird und im Vergütungssystem berücksichtigt werden muss, ist auf jeden Fall eine wichtige und richtige Weiterentwicklung.
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Als letzten Punkt erwähne ich unter dem Stichwort „Transparenz“ – auch das ist eine wichtige Regelung –, dass wir auch bei Geschäften mit nahestehenden Personen oder Unternehmen klare Regeln haben und mehr Transparenz einführen. Ich glaube, das stärkt auch das Vertrauen in unsere Unternehmenskultur.
Deswegen kann ich sagen: Dieser Gesetzentwurf ist eine gute Weiterentwicklung des Gesellschaftsrechts. Ich würde mich freuen, wenn er hier im Haus viel Zustimmung bekommt.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist Fabian Jacobi für die Fraktion der AfD.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! ARUG II – Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie der EU. Im Mai haben wir diesen Gesetzentwurf der Bundesregierung hier in erster Lesung beraten. Ich habe seinerzeit neben unseren grundsätzlichen Vorbehalten gegen eine Gesetzgebung, die lediglich nachvollzieht, was zuvor von der EU dekretiert wurde, auch den Punkt angesprochen, der uns inhaltlich an diesem Gesetzentwurf stört. Denn wenn hier auch fast alles durch die Brüsseler Richtlinie vorentschieden war,
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so blieben doch geringe Spielräume für den Deutschen Bundestag, in denen er selbst etwas entscheiden durfte,
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so die Frage, ob die Eigentümer eines Unternehmens über das System der Vorstandsvergütung selbst entscheiden können oder ob sie lediglich ein vom Aufsichtsrat beschlossenes Vergütungssystem abnicken dürfen. Hier hat sich die Bundesregierung für das Abnicken entschieden. Wir sind weiterhin der Meinung, dass diese Materie in die Entscheidungskompetenz der Hauptversammlung gehört.
Wir haben deshalb im Ausschuss einen Änderungsantrag gestellt, um diesem Mangel des Gesetzentwurfs abzuhelfen. Unser Änderungsantrag ist – natürlich – abgelehnt worden. Jedoch haben die Regierungsfraktionen, zumindest die CDU/CSU-Fraktion, immerhin wahrgenommen, dass Nachbesserungsbedarf besteht. Sie haben kurz vor der gestrigen Ausschusssitzung noch einen eigenen Änderungsantrag eingebracht, der im Gegensatz zu unserem naturgemäß auch angenommen wurde.
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Leider hat sich aber in dem von uns angesprochenen Punkt offenbar die SPD-Fraktion durchgesetzt; denn die vorgenommenen Änderungen sind lediglich kosmetischer Natur. In der Sache soll es weiterhin bei der maßgeblichen Entscheidungszuständigkeit des Aufsichtsrats bleiben. Wir stimmen deshalb dem Gesetzentwurf auch in der jetzigen, leicht modifizierten Form nicht zu.
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Neben dem Gesetzentwurf der Bundesregierung stimmen wir gleich auch noch über einen Entschließungsantrag der Fraktion der Grünen ab, der hier auch nicht unerwähnt bleiben soll. Es hat ja in letzter Zeit eine wenig fruchtbare Diskussion um den Begriff des Bürgerlichen gegeben, den alle möglichen Seiten für sich in Anspruch genommen oder anderen abgesprochen haben. Hier nun haben wir mit dem Antrag der Grünen einen Text vor uns, der ein weiteres Mal belegt, dass jedenfalls die Grünen mit diesem Begriff gänzlich fehlbezeichnet wären. Denn, wie kürzlich schon zu einem anderen Thema angemerkt, maßgeblicher Kern des Bürgerlichen ist nun mal die Unterscheidung zwischen privat und öffentlich oder auch zwischen Staat und Gesellschaft.
Kern dieses Antrags der Grünen ist dagegen die These, dass Unternehmen nicht eigentlich private Organisationen zu privaten Erwerbszwecken seien, sondern vielmehr Bestandteil der staatlichen bzw. politischen Sphäre, weshalb Unternehmen darin auch auf genuin politische bzw. staatliche Ziele verpflichtet werden sollen. Aufgezählt werden soziale und ökologische Ziele wie Kampf gegen Armut und Hunger, Maßnahmen gegen Biodiversitätsverlust und notwendigerweise gegen Klimawandel. Unternehmensleitungen als Außenstellen der Politik – der Antrag der Grünen atmet den alten Ungeist des Sozialismus. Oder anders gesagt: Er müffelt recht streng nach DDR.
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Wir werden auch diesen Antrag ablehnen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der CDU/CSU Dr. Heribert Hirte.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es schon gehört: Wir setzen hier die zweite Aktionärsrechterichtlinie, eine europäische Richtlinie, um. Wir haben gerade wieder gehört, das sei dekretiert von Europa. Nein, sie ist nicht dekretiert von Europa, sondern die Europäische Union macht das, was sie machen soll: Sie regelt die Rahmenbedingungen für den gemeinsamen Markt.
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Denn wenn Unternehmen in einem Land anders agieren können als im anderen Land, dann führt das zu unseriösen Wettbewerbsvorsprüngen, und die wollen wir vermeiden. Deshalb ist es die Kerntätigkeit der Europäischen Union, hier regelnd einzugreifen.
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Dass wir an dieser Stelle seitens der Bundesregierung über den Ministerrat mitgewirkt haben, wie wir das bei allen Richtlinien tun, sei in diesem Zusammenhang nur in Erinnerung gerufen. Wir haben einige Fragen offengelassen. Das sind die Fragen, über die wir jetzt am Ende noch ein wenig streiten müssen. Es war – die Kollegin Högl hat es schon gesagt – in der Tat ein langes Verfahren, weil zentrale Punkte strittig waren. Aber am Ende steht, jedenfalls aus meiner Sicht, ein guter Kompromiss.
Wir haben die Vergütung der Vorstände zu regeln. Die Exzesse sind natürlich immer nur Einzelfälle, aber diese Einzelfälle zerstören das Vertrauen in die Marktwirtschaft. Deshalb mussten wir an dieser Stelle eingreifen. Die Vergütung der Vorstände regeln wir jetzt klarer und deutlicher. Wir haben im Gesetzgebungsverfahren darauf hingewirkt, dass die Faktoren Nachhaltigkeit und Langfristigkeit bei der Vergütungsorientierung nebeneinanderstehen. Ich finde, das ist ein ganz wichtiges Zeichen.
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Der zentrale Streitpunkt war das sogenannte Say on Pay, die Frage: Wie weit redet die Hauptversammlung bei der Vergütung des Vorstands mit? Eine jahrelange Diskussion geht hier zu Ende. Und in der Tat prallen hier unterschiedliche Konzepte aufeinander: dualistisches System, unser klassisches System, auf der einen Seite, monistisches angloamerikanisches System auf der anderen Seite. Aber wir haben bei uns inzwischen beide Systeme, was manch einer übersieht. Deshalb müssen wir auch hier eingreifen.
Wenn man so will, bleiben wir dabei in der systematischen Linie, dass zunächst einmal der Aufsichtsrat einen Vorschlag zu machen hat. Er muss die Vergütungsstruktur der Vorstandsmitglieder, auch der einzelnen Vorstandsmitglieder, vorlegen. Er muss eine Höchstgrenze – das ist neu – festlegen. Und er muss auch Angaben zur Frage machen, ob frühere zu Unrecht gezahlte Vorstandsvergütungen zurückgefordert werden können. Auch hier gilt: Der Aufsichtsrat muss auf eine nachhaltige Vergütungspolitik hinwirken.
Neu ist – genau das ist der zentrale Punkt des Kompromisses –: Es geht um die Stärkung der Aktionärsrechte. Das ist das, was die Richtlinie will. Wir hätten uns sicher vorstellen können, dass in allen Fällen zwingend die Hauptversammlung über diese Frage entscheidet. Der Kompromiss, den wir jetzt gefunden haben – dass die Hauptversammlung auf Antrag einer Minderheit entscheidet –, ist, glaube ich, der richtige Weg. Er setzt das Zeichen, dass die Hauptversammlung – also die Eigentümer, marktwirtschaftlich richtig gesagt – die oberste Verantwortung hat. Aber er lässt andererseits die Arbeitnehmervertreter, die im Aufsichtsrat mitwirken können, müssen und sollen, in ihrer Verantwortung. Es kann herabgesetzt werden, und das ist eine marktwirtschaftskonforme Regelung.
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Wir haben natürlich über die Frage nachgedacht: Hat das Auswirkungen auf Altverträge? Das hat es nicht. Die Verträge, die jetzt bestehen, bleiben bestehen; insoweit gilt Vertrauensschutz. Bei neuen Verträgen, die ab Inkrafttreten des Gesetzes geschlossen werden, muss man natürlich auf die Punkte, die wir jetzt beschließen, achten und potenzielle Kündigungs- oder ähnliche Klauseln verabreden.
Ein zweiter großer Punkt ist das Thema „Related Party Transactions“. Das sind die Geschäfte mit nahestehenden Personen; die Kollegin Högl hat auch das schon angesprochen. Auch hierüber haben wir lange nachgedacht. Da steht natürlich wieder die Frage der Organisationsstruktur der Gesellschaften im Hintergrund. Wie stark wollen wir die Kontrolle des Vorstandshandelns – in diesem Falle durch den Aufsichtsrat – verbessern? Oder reicht es aus, es bei der bisherigen Regelung zu belassen?
Wir werden hier den Grenzwert von 2,5 Prozent des Anlage- und Umlaufvermögens, der im Regierungsentwurf vorgeschlagen war, noch etwas herabsetzen auf 1,5 Prozent und damit die Kontrolle verstärken. Ich sage dazu deutlich: Wir als Unionsfraktion hätten uns auch eine weitere Absenkung vorstellen können. Wir hätten uns außerdem vorstellen können, Geschäfte mit einzelnen Personen noch einmal einer individuellen Kontrolle zu unterwerfen. Aber trotz allem: Das ist ein guter Schritt in eine richtige Richtung.
Das alles kollidiert mit den klassischen Regelungen des Konzernrechts, die wir in Deutschland haben. Wir werden uns an der Stelle fragen müssen, ob diese Regelungen im internationalen Vergleich noch zukunftsfähig sind. Aber das ist eine lange Diskussion, die wir hier nicht führen können.
Insgesamt ist es ein guter Kompromiss. Die Kodex-Kommission wird dem Rechnung zu tragen haben. Ich freue mich und hoffe auf Ihre Zustimmung.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Reinhard Houben für die Fraktion der FDP.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In einem vielbeachteten Kommentar in der „FAZ“ hat Christoph Schäfer am Montag das Schweigen der deutschen Unternehmer in den öffentlichen Debatten kritisiert. Vielen sei es am liebsten, wenn sie gar nicht in der Öffentlichkeit auftauchen. Wer aber nicht am öffentlichen Diskurs teilnimmt, meine Damen und Herren, darf sich am Ende nicht über wirtschaftsfeindliche Politik beschweren.
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Herr Schäfer hat recht. Eine Folge dieser Mutlosigkeit der deutschen Wirtschaftselite haben wir vor uns. Die Bundesregierung nennt ihren Gesetzentwurf „behutsam“, ich nenne ihn ein Misstrauensvotum gegenüber den Eigentümern in Deutschland.
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Konsequent und richtig wäre es hingegen gewesen, wenn die Hauptversammlung grundsätzlich und verbindlich über das gesamte Vergütungssystem mitentscheiden würde. Dabei geht es uns nicht um die Schwächung der Arbeitnehmervertreter, sondern um die Gleichberechtigung der Eigentümer.
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Gerade die Auswüchse mancher Managervergütungen in den vergangenen Jahren zeigen doch, dass die Aufsichtsräte offensichtlich gar kein großes Interesse haben, sich für angemessene Managervergütungen einzusetzen.
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Warum auch? Es geht schließlich nicht um ihr Geld. Es sind die Aktionäre, die mit ihren Vermögen für die Arbeit des Unternehmens haften.
Der Aufsichtsrat von VW hat die überzogene Abfindung für Kurzzeitvorstand Christine Hohmann-Dennhardt nicht verhindert, sondern noch ermöglicht. Wo war denn der Widerstand der Gewerkschaften und auch der SPD-geführten Landesregierung in dieser Frage, meine Damen und Herren?
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Die SPD und die Linke wollen den Einfluss der Arbeitnehmervertreter in den Himmel reden und misstrauen gleichzeitig den Aktionären. Dies ist bedauerlich, aber es war erwartbar.
Frau Högl, Sie haben von nicht nachvollziehbaren Gehältern in diesem Zusammenhang gesprochen.
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In unserer Gesellschaft ist es zwar nachvollziehbar, dass Fußballer, Models oder Filmschauspieler sehr viel Geld verdienen, dass sich ein ehemaliger Bundeskanzler für viel Geld einem russischen Konzern andient – das ist alles unproblematisch –;
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aber wenn einer Unternehmensführung, die für Hunderttausende Arbeitsplätze und für Milliarden Umsätze zuständig ist, entsprechend hohe Gehälter gezahlt werden, dann haben wir ein Problem damit.
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Das verwundert mich, meine Damen und Herren.
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Unser großes Problem hier in Deutschland ist, dass wir immer wieder Misstrauen gegenüber der Wirtschaft und den Eigentümern von Unternehmen haben. Das ist aber weder gut für die Betriebe noch gut für die dort arbeitenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
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Nur wenn wir mit der Wirtschaft zusammenarbeiten, werden wir es schaffen, wirklich Wohlstand für alle zu erhalten.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Gökay Akbulut für die Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute liegt uns erneut das Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie vor. Wie wir in der ersten Lesung schon dargestellt haben, geht es unter anderem um mehr Transparenzpflichten und die Frage der Vergütung der Vorstände. Die Koalition schreibt in ihrem Entwurf selbst: Zur Vergütung der Mitglieder der Unternehmensleitung sollen Rahmenregelungen für Vergütungssysteme geschaffen werden.
Dass dieses Ziel von der Koalition nicht ernst genommen wurde, zeigte sich unter anderem bei der Anhörung der Sachverständigen im Juni dieses Jahres im Bundestag. Der Leipziger Professor Dr. Tim Drygala bewertete die Umsetzung der Richtlinie als „mutlos“, und sie sei, was die Kompetenzen der Hauptversammlung angehe, „übermäßig restriktiv“. Eine Stärkung der Aktionärsrechte werde mit dem Entwurf sogar möglichst vermieden. – Und was macht die Koalition? Sie hat sich geeinigt. Und Sie von der SPD feiern sich, dass Sie eine Maximalvergütung der Vorstandsmitglieder durchgesetzt haben.
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Ich zitiere Sie jetzt, Frau Högl: Der mitbestimmende Aufsichtsrat soll Vorstandsvergütungen der Höhe nach begrenzen.
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Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Sie glauben doch wohl nicht, dass der Aufsichtsrat seine Vorstandsmitglieder bei ihrer Vergütung ernsthaft begrenzen wird?
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Unserer Auffassung nach sollte es nämlich eine verbindliche Beschränkung für Managergehälter geben.
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Die Gesamtbezüge eines Vorstandsmitglieds sollten nicht mehr als das 20-Fache der Bezüge eines einfachen Mitarbeiters betragen dürfen. Dem wird man auch nicht gerecht, wenn man, wie die Koalition jetzt beschlossen hat, der Hauptversammlung ein Recht einräumt, die Vergütung weiter abzusenken. Denn wir wissen doch, dass dies nur Pseudobefugnisse und ‑lösungen sind, die nicht dazu führen werden, dass sich der Vergütungsabstand und die sogenannte Manager to Worker Pay Ratio signifikant zugunsten der abhängig Beschäftigten entwickeln wird. Vorstände von DAX-Konzernen verdienen heute etwa das 71-Fache, im Extremfall sogar das 160-Fache des Durchschnittsverdienstes ihrer Angestellten. Ein solches Verhältnis von Leistung, Haftung und Vergütung ist hier nicht mehr zu rechtfertigen.
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An dieser Problematik wird sich auch mit diesem Vorschlag der Koalition nichts ändern.
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Man hätte hier die Möglichkeit gehabt, die Hauptversammlung mit echten und wirkungsvollen Rechten zur Regulierung auszustatten. Entsprechend des öffentlichen und gesellschaftlichen Drucks wäre die Einführung des Vergütungsabstands als ein Korrektiv zu einer gleichgerichteten Entgelterhöhung auch möglich gewesen. Die Koalition hätte hier einen Beitrag dazu leisten können, dass die Schere zwischen Arm und Reich in unserer Gesellschaft nicht noch größer wird. Das hat sie aber mit diesem Gesetzentwurf nicht geschafft. Wieder einmal machen Sie Politik im Interesse der Manager. Deshalb lehnen wir Ihren Gesetzentwurf ab.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Katja Keul für Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss sagen, die plötzliche Hektik in diesem Gesetzgebungsverfahren ist schon ein bisschen auffällig. Da können Sie sich ein Jahr lang nicht einigen, wie es gehen soll, und dann muss es von Dienstagabend bis Mittwochmorgen ganz schnell gehen. Scheinbar vertrauen Sie selbst nicht mehr der Haltbarkeit Ihrer Vereinbarungen. Jedenfalls agieren Sie derzeit als Gesetzgeber so, als stünde das Ende der Legislatur unmittelbar bevor.
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Zur Sache. Ziel der EU-Richtlinie ist es, die Aktionärsrechte zu stärken und Vergütungsexzesse, wie wir sie leider häufig erleben mussten, zu verhindern. Beides gelingt Ihnen nicht wirklich. In Ihrem Gesetzentwurf ist nun zwar ein Deckel für Managergehälter vorgesehen, aber aus unserer Sicht zäumen Sie das Pferd von hinten auf. Es bestimmt nämlich weiterhin im Wesentlichen der Aufsichtsrat, und der hat es ja auch in der Vergangenheit nicht geschafft, die Exzesse zu verhindern, liebe Kollegin Högl. Das Votum der Hauptversammlung über das vom Aufsichtsrat vorgelegte Vergütungssystem bleibt leider unverbindlich. Zum Trost darf die Hauptversammlung jetzt die Höchstgrenzen herabsetzen. Die Richtlinie hat an dieser Stelle deutlich mehr an Mitbestimmung der Aktionäre in der Hauptversammlung gefordert. Diesen Anspruch der Richtlinie haben Sie nicht erfüllt.
Leider sagt Ihr Gesetzentwurf auch nichts darüber aus, wie die Höhe der Maximalvergütung zu ermitteln ist. Wir hätten uns ein gesetzliches Maximalverhältnis zwischen den Vorstandsgehältern und den durchschnittlichen Einkommen innerhalb des Unternehmens gewünscht. Damit hätte man Verhältnisse wie bei der Post, wo Vorstände das 232-Fache des Durchschnittseinkommens verdienen, gesetzlich verhindern können.
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Diese Chance haben Sie leider verpasst.
Verpasst haben Sie leider auch, ein Signal für nachhaltiges Wirtschaften zu setzen. Gut, dass die Sachverständigen Sie wenigstens davon überzeugen konnten, das Wort „nachhaltig“ in § 87 Aktiengesetz nicht zu streichen, wie ursprünglich im Regierungsentwurf geplant. Noch besser wäre es gewesen, die Bezüge der Vorstandsmitglieder zukünftig an die Erfüllung nachhaltiger, sozialer und ökologischer Kriterien zu knüpfen.
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Die Menschen im Land erwarten, dass sich endlich etwas ändert, auch und gerade in der Wirtschaft.
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Da geht es um ressourcenschonende Produktion, um Innovationen und den Einsatz neuer klimaschonender Technologien. Eine Chance, hier für Verbindlichkeit derartiger Kriterien zu sorgen, ist vertan worden. Da wäre deutlich mehr drin gewesen. Ihren Gesetzentwurf lehnen wir ab.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Dr. Volker Ullrich für die Fraktion der CDU/CSU.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Rechtsform der Aktiengesellschaft ist eine kluge und gut strukturierte, wenn es darum geht, sich an unternehmerischem Handeln zu beteiligen und diese Beteiligung auch leicht zu kaufen und zu verkaufen. Vor diesem Hintergrund müssen die Anforderungen an die Mitwirkungsrechte der Aktionäre so sein, dass Transparenz gilt und dass gleichzeitig auch die Eigentumsrechte der Aktionäre gewahrt werden. Im Rahmen der Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie werden wir hier nachschärfen.
Zum einen werden wir die Transparenz erhöhen. Die Aktiengesellschaft selbst hat ein Recht darauf, zu erfahren, wer ihre Aktionäre sind. Wer ist Teileigentümer meiner Gesellschaft? Deswegen werden wir gerade im Hinblick auf Stimmrechtsberater und institutionelle Anleger dafür Sorge tragen, dass die Gesellschaft genau weiß: Wer ist eigentlich mit verantwortlich für diese Aktiengesellschaft? – Ich glaube, das ist ein wichtiger Schritt für mehr Transparenz und Offenheit.
Gleichzeitig werden wir bezüglich der Frage der Mitwirkung eine Vorschrift einbauen und dafür Sorge tragen, dass zukünftig bei Geschäften mit nahestehenden Personen und Gesellschaften, also überall dort, wo Interessenskonflikte zu Besorgnis führen, die 1,5 Prozent des Gesellschaftswerts übersteigen, auch eine Zustimmungspflicht besteht. Das dient im Interesse aller Aktionäre und im Interesse der Lauterbarkeit des Geschäftsbetriebs dazu, das Vermögen der Gesellschaft zu schützen. Ich glaube, das sind zwei wesentliche Vorschriften zum Schutz der Aktionäre, und es ist gut, dass wir sie heute umsetzen.
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Ja, wir müssen auch über die Vergütung der Managementebene sprechen, insbesondere der Vorstände. Ich glaube schon, dass auf der einen Seite der Grundsatz gelten muss, dass sich ein unternehmerischer Erfolg auch in der Vorstandsvergütung widerspiegeln muss. Auf der anderen Seite zeigt die Entwicklung der letzten Jahre, dass die Vorstandsvergütungen wesentlich stärker gestiegen sind als die Gehälter der Arbeitnehmer und dass sich gleichzeitig unternehmerischer Erfolg nicht immer in diesen Vergütungen widergespiegelt hat. Wenn 2005 noch das 42-Fache einer durchschnittlichen Arbeitnehmervergütung gezahlt worden ist, sind wir heute beim über 70-Fachen. Man kann nicht sagen, dass sich diese Relation auch im unternehmerischen Erfolg vieler DAX-Konzerne widergespiegelt hat.
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Das zerstört Vertrauen, auch in die soziale Marktwirtschaft. Deswegen wollen wir das ändern.
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Wir werden es so ändern, dass der Aufsichtsrat zukünftig verpflichtet ist, eine Obergrenze einzuziehen, dass er ganz genau sagt, wie hoch die Vergütungen sind, aber dass die Hauptversammlung auch nach unten abweichen kann. Das ist übrigens ein ganz wichtiges Instrument. Ich bin dankbar, dass es uns gelungen ist, das einzuführen. Ich will es an einem Beispiel klarmachen: Es gibt in Deutschland einen DAX-Konzern, der für einen zweistelligen Milliardenbetrag ein US-Unternehmen gekauft hat. Das US-Unternehmen wird von zahlreichen Menschen in den Vereinigten Staaten verklagt. Infolgedessen hat sich der Aktienkurs des Unternehmens fast halbiert. Zudem hat es gesagt, dass es 12 000 Stellen in Deutschland streichen wird. Die Hauptversammlung des Unternehmens hat den Vorstand nicht entlastet. Das ist ein einmaliger Vorgang in der Geschichte der deutschen DAX-Kultur.
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Trotzdem ist die Vorstandsvergütung auf gleicher Höhe geblieben.
Mit unserem Gesetzentwurf kann die gleiche Hauptversammlung, die die Entlastung verweigert, zukünftig auch das Gehalt heruntersetzen und sagen: Für diese unternehmerische Leistung – die ich nicht beurteilen mag – sind 5 Millionen Euro Jahresgehalt einfach zu viel. – Das heißt, mit diesem Gesetz bekommt das Mitspracherecht der Aktionäre klar und deutlich mehr Gewicht. Damit steigt auch das Vertrauen in die soziale Marktwirtschaft, weil die Exzesse verhindert werden. Deswegen bitte ich um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Keine weiteren Wortmeldungen. Ich schließe die Aussprache.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tribünen! In den letzten Wochen und Monaten haben wir hier ja sehr intensiv strafrechtliche und zivilrechtliche Thematiken behandelt. Eines ist uns dabei immer klar geworden: Die besten Gesetze bringen nichts, wenn wir für ihre Anwendung bei der Polizei, bei den Sicherheitsbehörden und bei den Gerichten zu wenig Personal haben. Deswegen wollen wir auch mit diesem Gesetz dafür sorgen, dass die Gerichte nicht überlastet sind. Das ist eine ganz wichtige Maßnahme.
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Ich darf daran erinnern, dass wir schon in den letzten Haushaltsberatungen neue Stellen am BGH geschaffen haben, nämlich zwölf am Standort in Karlsruhe und zwölf am Standort in Leipzig. Das war gut und richtig so; denn ich finde, gerade beim Bundesgerichtshof, der ja oft Urteile in zivilrechtlichen Angelegenheiten fällt, die Millionen betreffen, müssen wir genügend Richterinnen und Richter haben.
Einen Weg, um den BGH noch weiter zu entlasten, beschreiten wir heute mit diesem Gesetz, indem wir die Wertgrenze von 20 000 Euro für die Nichtzulassungsbeschwerde in Zivilsachen als Dauerlösung festschreiben; denn die Richterinnen und Richter am BGH sind ganz erheblich überlastet. 2018 wurden rund 3 600 Nichtzulassungsbeschwerden eingereicht. Ohne die Wertgrenze, also ohne eine Regelung, nach der ein Beschwerdewert von 20 000 Euro erreicht werden muss, wären es noch wesentlich mehr Fälle. Es wäre mit einem massiven Anstieg der Zahl von Nichtzulassungsbeschwerden zu rechnen. Das würde den BGH überfordern, was wir nicht wollen; denn wichtige Grundsatzurteile könnten dann nicht mehr zeitnah ergehen, wichtige Rechtsfragen blieben auf Dauer unbeantwortet bzw. unentschieden. Dies gilt ebenso für Fallkonstellationen, die Millionen Menschen betreffen. Das wollen wir nicht, und deswegen haben wir uns – zugegebenermaßen nach zu vielen Befristungen – entschlossen, die Beschwerdewertgrenze von 20 000 Euro jetzt festzuschreiben.
Diese Wertgrenze kann man als juristisches Murmeltier, das uns gefühlt jedes Jahr grüßt, bezeichnen. Deswegen ist es für alle Beteiligten gut, dass wir jetzt zu einer Dauerlösung kommen.
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Dabei ist mir eines wichtig: Wir verkürzen den Rechtsschutz eben gerade nicht. Auch bei kleineren Streitwerten unter 20 000 Euro wird es bei Grundsatzfragen nach wie vor die Möglichkeit geben, Recht beim BGH in letzter Instanz zu suchen. Wir werden also den Rechtsweg nicht in unangemessener Weise verkürzen.
In der Sachverständigenanhörung hat das BGH-Präsidentin Frau Limperg sehr deutlich gemacht und gesagt, dass insbesondere bei mietrechtlichen Streitigkeiten, wo es oft um kleine Summen geht, häufig eine grundsätzliche Frage vorliegt und die Oberlandesgerichte es dann ermöglichen, dass die Grundsatzentscheidung beim Bundesgerichtshof fallen kann. Also kann ganz klar gesagt werden: Es gibt keine unverhältnismäßigen Einschränkungen des Rechtsschutzes für die Bürgerinnen und Bürger an dieser Stelle, meine lieben Kolleginnen und Kollegen.
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Wir wollen mit zahlreichen weiteren Maßnahmen in diesem Gesetz die Qualität der Rechtsprechung weiter verbessern. Indem wir zum Beispiel Spezialspruchkörper für bestimmte Rechtsgebiete einrichten, sorgen wir dafür, dass die zuständigen Richter eine noch größere Erfahrung in diesen Rechtsgebieten sammeln und Expertise erlangen.
In der Anhörung wurde gesagt: Das wäre nicht gut, weil Bürger dann zu den Gerichten länger fahren müssten. – Ich glaube, für den Vorteil, dass ein Gericht, ein Spruchkörper, auf ein Rechtsgebiet spezialisiert ist, sind sicherlich viele Bürgerinnen und Bürger bereit, längere Fahrtwege in Kauf zu nehmen, weil ihre Prozesse dann schneller und mit fundierter Qualität entschieden werden.
Ich will schließlich noch eine weitere Neuerung nennen; denn ich glaube, dass sie in der Praxis für wesentliche Verfahrensbeschleunigungen sorgen wird, nämlich die Vereinfachung des gerichtlichen Vergleichs. Hier stellen wir mit der entsprechenden Neuregelung klar, dass ein gerichtlicher Vergleichsvorschlag zukünftig auch durch zu Protokoll gegebene Erklärungen angenommen werden kann. Das erspart entsprechende Schriftsätze und entlastet die Gerichte.
Im Vergleich zum ursprünglichen Gesetzentwurf haben wir, die Koalitionsfraktionen, auf Wunsch der Bundesländer dem zukünftig immer wichtiger werdenden elektronischen Datenaustausch Rechnung getragen, indem wir in zahlreichen Gesetzen geregelt haben, dass eine elektronische Zustellung von Auszügen aus Akten möglich sein soll.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, insgesamt sehen Sie, dass wir auch mit diesem Gesetz – wir sorgen mit dem Pakt für den Rechtsstaat für mehr Personal; mit der Modernisierung des Strafverfahrens morgen haben wir uns sehr viel vorgenommen – dafür sorgen, dass die hohe Qualität unserer Rechtsprechung erhalten bleibt. Wir verbessern die personelle Situation an den Gerichten. Wir sorgen auch mit dieser Maßnahme für Verfahrensbeschleunigung. Das alles dient unserem Rechtsstaat, und den wollen wir in seiner Stärke erhalten.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Abgeordnete Jens Maier für die AfD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Dr. Fechner, man kann das gar nicht
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mehr hören. Es ist schon enttäuschend, was Sie hier als Gesetzentwurf vorgelegt haben.
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Es kann doch nicht nur um die Entlastung des Bundesgerichtshofs gehen, sondern wir brauchen eine bürgerfreundliche Justiz. Davon habe ich bei Ihnen nicht viel gehört. Man hätte hier die Gelegenheit gehabt, endlich etwas Größeres zu schaffen. Von Marginalien am Rande abgesehen, beschränkt man sich aber darauf, ein Provisorium zu einer endgültigen Regelung zu machen. Die Wertgrenze für die Nichtzulassungsbeschwerde soll auf 20 000 Euro festgeschrieben werden. Das war es. Dabei war doch nach der Anhörung der Sachverständigen im Rechtsausschuss eines klar geworden: Die beste Medizin gegen unbegründete Nichtzulassungsbeschwerden, gegen eine Überlastung des BGH mit unsinnigen Verfahren besteht in der Verbesserung des Berufungsverfahrens.
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Das ist evident, wenn man sich die Zahlen ansieht. Es sind im vergangenen Jahr 2 300 Nichtzulassungsbeschwerden gegen Urteile erhoben worden. Hinzu kommen noch sage und schreibe 1 300 Nichtzulassungsbeschwerden gegen Zurückweisungsbeschlüsse, von denen gerade einmal 31, also 2,4 Prozent der eingegangenen Beschwerden, erfolgreich waren. Die erfolgreichen Nichtzulassungsbeschwerden beim BGH belaufen sich im Ergebnis auf lediglich 190 im vergangenen Jahr. Diese geringe Erfolgsquote zeigt vor allem eines: Die Leute sind frustriert. Darum legen sie unsinnige Rechtsmittel ein. Diesen Frust kann man aber deutlich absenken, indem nämlich in der Berufungsinstanz wie früher eine mündliche Verhandlung durchgeführt werden muss. Transparenz und Mündlichkeit machen Entscheidungen für jedermann verständlicher. Eine Zurückweisung der Berufung ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss muss ein Ende haben. Der § 522 Absatz 2 ZPO muss weg.
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Wenn die Mündlichkeit im Berufungsverfahren wiederhergestellt wird, dann ist eine Absenkung der Wertgrenze von 20 000 Euro auf 10 000 Euro vertretbar. Das wurde ebenfalls in der Anhörung deutlich.
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Das haben wir in unserem Änderungsantrag aufgegriffen.
Weiterhin sind wir auch der Meinung, dass es bei besonders hohen Streitwerten immer den Zugang zum BGH geben muss, weil es auch um die Existenz der Leute geht. Wir haben in unserem Änderungsantrag die Grenze bei 50 000 Euro festgelegt, weil wir meinen, ab dieser Grenze muss der Weg zum BGH immer offenstehen. Wir meinen, dass vor allen Dingen unser Änderungsantrag dem Ergebnis der Anhörung Rechnung trägt. Sie haben davon überhaupt nichts aufgegriffen,
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Sie haben wieder einmal nur durchgezogen, was ich sehr enttäuschend finde.
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Daher: Schließen Sie sich unserem Vorschlag an. Im Prinzip sind hier von links bis rechts alle dieser Meinung, die wir hier auch vertreten, nur Sie nicht. Sie haben nicht den Mut dazu.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Alexander Hoffmann für die Fraktion der CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gestatten Sie mir, dass ich drei Themenfelder gesondert herausgreife.
Das erste Themenfeld ist die Wertgrenze für die Nichtzulassung der Revision beim BGH. Herr Maier, ich zeichne von der Anhörung ein ganz anderes Bild. Sie waren doch auch in der Anhörung. Man muss doch ganz ehrlich sagen, dass ein Großteil der Abgeordneten – fast alle, mindestens fünf sind es gewesen – gesagt hat: Es macht Sinn, diese Wertgrenze beizubehalten.
Ich will einmal ins Gedächtnis rufen, dass es unsere Aufgabe ist, die Funktionstüchtigkeit unserer Spruchkörper aufrechtzuerhalten. Diese Wertgrenze hat das Ziel, den BGH zu entlasten. Wenn man sich einmal die Zahl vor Augen führt, dass 80 Prozent der Verfahren beim BGH Nichtzulassungsbeschwerden sind, dann erklärt sich allein aus dieser Zahl, dass diese Wertgrenze Sinn macht. Dann kommt als Argument, Wertgrenzen seien dem System fremd. Auch das ist nicht richtig. Wer das Zivilprozessrecht kennt, weiß, dass das Zivilprozessrecht durchzogen ist von Wertgrenzen.
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Dann kommt die Behauptung, die Wertgrenze verkürze den Rechtsschutz. Auch das ist nicht richtig. Das ist nur die halbe Wahrheit, wenn man das sagt. Bei Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung oder bei Rechtsstreiten, bei denen es um die Fortbildung oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung geht, ist die Revision zuzulassen, § 543 ZPO. Also lassen Sie das bitte nicht einfach immer unter den Tisch fallen.
Dann kann man es natürlich so machen wie Sie und sagen: Sie verlängern einfach ein Provisorium. – Das ist die eine Perspektive. Ich kann aber auch eine andere Perspektive wählen und sagen: Wir verlängern etwas, was sich seit dem Jahr 2002 bewährt hat. Gerade deshalb hat es seine Daseinsberechtigung, weil es die Praxis bestätigt.
({1})
Das zweite Themenfeld ist die Frage der Streichung von § 522 ZPO. Auch das haben Sie gerade postuliert. Wir sollten einmal in das Gesetz schauen und einen Blick darauf werfen, um welche Fälle es geht. § 522 ZPO erfordert, dass das Berufungsgericht einstimmig – einstimmig – der Auffassung ist, dass eine Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, dass die Sache keine grundsätzliche Bedeutung hat und dass eine mündliche Verhandlung nicht geboten ist. Sehen Sie einmal, wie hoch die Hürden sind. Dort gaukeln Sie den Menschen vor, dass Sie an der Lage irgendetwas verbessern, wenn Sie auch noch eine mündliche Verhandlung zulassen. Auch hier war das Stimmungsbild in der Anhörung nicht so eindeutig, dass wir sagen können: Alle Sachverständigung waren der Auffassung, dass der Paragraf zu streichen sei.
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Zwei Sachverständige – der Sachverständige Fölsch und der Sachverständige Schultzky – sagen, die Streichung von § 522 ZPO sei kein Allheilmittel, es gebe keine Erkenntnisse darüber, dass Landgerichte oder Oberlandesgerichte den § 522 ZPO als Instrument zur Arbeitsentlastung leichtfertig missbrauchen.
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Im Übrigen ist es so, dass im schriftlichen Verfahren floskelhafte Begründungen – das müssten Sie wissen – ohnehin unzulässig sind.
Dann bestätigen beide Sachverständige, dass der § 522 ZPO sehr wohl zu einer Beschleunigung führt, nämlich zur Beschleunigung von anderen Verfahren mit mündlichen Verhandlungen. Das ist doch nachvollziehbar: Der Richter schaut in seinen Terminkalender, und je weniger mündliche Verhandlungen dort stehen, umso eher kann er andere mündliche Verhandlungen terminieren. Das Argument der Beschleunigung liegt am Ende sehr deutlich auf der Hand.
Deswegen sind wir am Schluss zu dem Ergebnis gekommen, dass es keinerlei Verbesserung bringt, den § 522 ZPO zu streichen. Dann streuen Sie den Menschen nicht Sand in die Augen und sagen, dass es den Anspruch auf richterliches Gehör verletzt. Das ist nämlich schon überprüft. Hier war die Aussage, dass der Anspruch auf richterliches Gehör nicht verletzt wird.
Das dritte Themenfeld – das ist bisher noch gar nicht angesprochen worden, das ist mir wichtig – ist die Schaffung von weiteren Spezialkammern und Spezialsenaten. Das will ich deshalb herausgreifen, weil es eine echte Fortentwicklung unserer Spruchkörper sein wird. Es gibt zwei Gründe, die dafür sprechen. Zum einen haben wir, meine Damen, meine Herren, sehr viel komplexere Rechtsfragen und sehr viel komplexere Lebenssachverhalte, nicht zuletzt auch wegen der Digitalisierung und der Tatsache, dass viele Dinge im tatsächlichen Leben heute viel schneller und beschleunigter stattfinden als früher in der analogen Welt. Wir haben außerdem – das ist der zweite Grund – bei der Anwaltschaft heute ein ganz anderes Maß an Spezialisierung. Wir haben Fachanwälte, die echte Experten in ihrer Materie sind. Deswegen müssen wir wegkommen von dem Richter, der ein Stück weit versucht, den Gemischtwarenladen anzubieten. Wir brauchen auch dort hochspezialisierte Leute, die tief in der Materie sind.
Deswegen ist das, was wir heute hier vorlegen, ein sehr guter, ein sehr gelungener Gesetzentwurf, für den ich unbedingt um Zustimmung werben möchte.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegen Katrin Helling-Plahr für die Fraktion der FDP.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Wertgrenze in Höhe von 20 000 Euro für Nichtzulassungsbeschwerden zum Bundegerichtshof lehnen wir ab.
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Die Bedeutung einer Rechtssache ist nicht allein durch den wirtschaftlichen Wert determiniert oder durch diesen limitiert. Wir sollten die Möglichkeit zu Nichtzulassungsbeschwerden vielmehr auch vor dem Hintergrund der meist herausragenden Wichtigkeit der Entscheidungen für die Beteiligten auch auf familiengerichtliche Verfahren ausweiten.
Und trauen Sie sich endlich, die missglückte Regelung zur Möglichkeit der Zurückweisung von Berufungen durch Beschluss nach § 522 Absatz 2 und 3 ZPO zu streichen, und eröffnen Sie den Parteien endlich wieder die Möglichkeit, stets mit dem Berufungsgericht zu kommunizieren.
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Und, Herr Kollege Hoffmann, wenn Sie hier über angeblich hohe Hürden sprechen, dann werfen Sie doch mal einen Blick auf die Fallzahlen. Auf die Zahlen der Fälle, in denen diese hohen Hürden tatsächlich fallen. Und wenn Sie hier Sachverständige zitieren, dann werfen Sie mal einen Blick darauf, welche Perspektive die haben und wo die beruflich tätig sind. Dann wird das Ganze vielleicht etwas klarer.
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Die Streichung des § 522 Absatz 2 und 3 ZPO ist längst überfällig. Sogar die Präsidentin des BGH wäre damit zwischenzeitlich einverstanden.
Aber Gelegenheit dazu, Ihnen, sehr geehrte Kollegen von der Großen Koalition, all das mitzugeben, hatte ich in dieser Wahlperiode eigentlich bereits genug. Damit Ihnen und mir nicht langweilig wird, möchte ich gerne auf das Thema Digitalisierung eingehen, das Sie auch im Rahmen dieser ZPO-Reform wieder einmal komplett verschlafen.
Unser Antrag „Zivilprozesse modernisieren – Für ein leistungs- und wettbewerbsfähiges Verfahrensrecht“ steht ja heute auch hier zur Debatte. Sinn und Zweck der Justiz ist, den Bürgern zu dienen. Dann muss sie aber auch niederschwellig zugänglich sein. Dazu bietet Digitalisierung die Chance!
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Die rechtliche Möglichkeit, mündliche Verhandlungen mittels moderner Kommunikationsmethoden wie zum Beispiel Videostream durchzuführen, gibt es bereits. Sie wird aber kaum genutzt, weil die Gerichte nicht über die entsprechende Technik verfügen. Legen wir einen Digitalpakt für die Justiz auf und ändern das!
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Warum muss das Einreichen zum Beispiel von Klageschriften so kompliziert sein? Wieso trauen wir uns nicht zum Beispiel an einfache Onlineeingabemasken heran? Und schließlich: Warum schaffen wir nicht ein komplettes Onlineverfahren, das ermöglicht, geringwertige Forderungen niedrigschwellig, schnell und kostengünstig gerichtlich geltend zu machen?
({5})
Der gesamte Verfahrensablauf, vom Eingang der Klageschrift bis zum Urteil, könnte elektronisch erfolgen. Die Parteien könnten bei der Durchführung des Verfahrens zum Beispiel durch vorgefertigte Eingabemasken, über die die wesentlichen Verfahrensschritte durch Frage-Antwort-Systeme abgefragt werden, unterstützt werden.
Hören Sie auf, die Debatten der Vergangenheit zu führen, und trauen Sie sich endlich an die Zukunft.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion Die Linke der Kollege Friedrich Straetmanns.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Schon wieder diskutieren wir an dieser Stelle über die Wertgrenze bei Nichtzulassungsbeschwerden, die Sie jetzt bei 20 000 Euro festschreiben wollen, was wir ablehnen.
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Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass Sie damit viele Bürgerinnen und Bürger daran hindern, sich Recht zu verschaffen. Seit 2011 laborieren Sie an dieser Wertgrenze herum und haben deren Geltung auch fortlaufend verlängern lassen. Heute wollen Sie diese nun endgültig festschreiben. Meine Fraktion lehnt dieses Ansinnen genauso ab, wie wir die jeweilige Verlängerung der Wertgrenze abgelehnt haben.
({1})
Wir sprechen uns gegen jegliche Wertgrenze bei der Nichtzulassungsbeschwerde aus und darüber hinaus auch gegen die Möglichkeit der Zurückweisung der Berufung ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss. Das Recht auf rechtliches Gehör, das heißt, in einem Streit auch ein Urteil zu bekommen, ist für unsere rechtsstaatliche Ordnung einfach zu wichtig, als dass es Ihrer Kosten-Nutzen-Abwägung geopfert werden dürfte.
({2})
Ich komme nicht umhin, es Ihnen deutlich zu sagen: Allein in dieser Woche haben Sie dreimal die Axt an den Strafprozess und damit an die Beschuldigtenrechte und hier an den Zivilprozess gelegt; alles unter dem Vorwand, die Gerichte zu entlasten. Aber in Wirklichkeit geht es Ihnen darum, Geld zu sparen. Darüber hinaus können Sie bei keinem dieser Vorhaben nachweisen, dass Ihre Maßnahmen Erfolg versprechen. Was Reformen mit dieser Zielsetzung aber brachten und bringen, sind eine erhebliche Verunsicherung bei den Gerichten und damit ein Wust an uneinheitlicher Rechtsanwendung durch die Gerichte. An § 522 Absatz 2 Zivilprozessordnung, also der Zurückweisung von Berufungen ohne Urteil, konnte man das ganz exemplarisch beobachten. Nachdem diese zwischenzeitlich zu Protest von Bürgerinnen und Bürgern und zu Petitionen führte, von denen ich die von Herrn Horst Glanzer noch einmal besonders hervorheben will,
({3})
führte die damalige Bundesregierung schließlich auch hier die Nichtzulassungsbeschwerde ein. Bis dahin war der Rechtsfrieden durch diese falsche Politik allerdings erheblich geschädigt worden und ist es bis heute. Das haben Sie mit der Nichtzulassungsbeschwerde auch nicht wirklich repariert. Denn die Nichtzulassungsbeschwerde ist kein adäquater Ersatz für einen normalen Rechtsweg, und die Wertgrenze von 20 000 Euro ist viel zu hoch. Es ist Bürgerinnen und Bürgern nicht vermittelbar, dass ihnen bei einem geringeren Streitwert in der Regel der Rechtsweg verschlossen bleibt. Ich habe es hier schon einmal ausgeführt: Über hundert Jahre kam unser Zivilrecht ohne diese Einschränkung der Rechtsmittel aus, und das sollte auch in Zukunft möglich sein.
({4})
Sicherlich, die Aufhebung des § 522 Absatz 2 ZPO kann zu einer stärkeren personellen Belastung an den Rechtsmittelgerichten führen, und als Richter kann ich diese Sorgen auch verstehen. Aber das sollten uns der gleiche Zugang zum Recht und die Wahrung des Rechtsfriedens wert sein.
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Wir werden diesen Gesetzentwurf daher ablehnen.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist wiederum die Kollegin Katja Keul von Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was Sie hier heute vorlegen, ist keine Reform der Zivilprozessordnung, sondern vielmehr das Eingeständnis eines Scheiterns. Seit einer gefühlten Ewigkeit verlängern Sie alle zwei Jahre die provisorische Streitwertgrenze für die Nichtzulassungsbeschwerde zum Bundesgerichtshof, obwohl sich schon damals alle einig waren, dass diese nur eine unzulängliche Notlösung sein kann, bis man eine sachgerechte Lösung gefunden hat. Und nun behaupten Sie 18 Jahre später, diese Notlösung habe sich bewährt, und schreiben sie dauerhaft ins Gesetz, weil Ihnen nichts Besseres eingefallen ist. Sinn und Zweck der Revisionsinstanz ist es aber, Rechtseinheit, Rechtskonkretisierung und Rechtsfortbildung herzustellen, und dabei ist die Frage des Streitwertes letztlich irrelevant.
Einziges Argument für die Streitwertgrenze ist die Angst vor einer Überlastung des BGH. Der erste und wichtigste Schritt wäre die Stärkung der mündlichen Verhandlung in der Berufungsinstanz durch die Abschaffung des § 522 Absatz 2 und 3 ZPO, wonach eine Berufung auch im schriftlichen Verfahren zurückgewiesen werden kann. Diese Vorschrift hat sich nach einhelliger Beurteilung der Praxis nicht bewährt, zumal gegen diese schriftlichen Beschlüsse dann wiederum die Nichtzulassungsbeschwerde zum BGH eröffnet sein muss. Auch die Präsidenten der Oberlandesgerichte haben uns bestätigt, dass der Verzicht auf die mündliche Verhandlung kaum Arbeitsentlastung schafft, dafür aber die Akzeptanz der Entscheidungen bei den Betroffenen schwächt, die umso mehr den Weg der Nichtzulassungsbeschwerde ergreifen.
Wenn wir also nicht von heute auf morgen auf die Streitwertgrenze verzichten wollen, könnten wir doch zumindest die Herabsetzung der Streitwertgrenze von 20 000 Euro auf, sagen wir mal, 5 000 Euro in Kombination mit einer Abschaffung des § 522 Absatz 2 und 3 ZPO beschließen und dann für einen befristeten Zeitraum die Auswirkungen dieser Rechtslage auf die Belastung des BGH auswerten.
({0})
Das wäre ein pragmatischer Schritt in die richtige Richtung, der die rechtsstaatliche Bedeutung und Funktion der Revisionsinstanz achtet und nicht vor dem schlichten Argument der Arbeitsbelastung kapituliert.
Letztlich geht es um die Akzeptanz von Gerichtsurteilen und das Vertrauen der Bürgerinnen in unseren Rechtsstaat. Vor diesem Hintergrund ist auch die Ungleichbehandlung der Familienverfahren im Vergleich zu den sonstigen Zivilverfahren nicht hinzunehmen. Im Familienverfahren gibt es nach wie vor gar keine Nichtzulassungsbeschwerde, selbst wenn das Berufungsgericht ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, und das in einem Bereich, der die Rechtssuchenden höchstpersönlich betrifft. Auch hier ist wieder das einzige Argument die sonst möglicherweise erforderliche Einrichtung eines zweiten Familiensenats am BGH. Das würde dann angeblich die Einheitlichkeit der Rechtsprechung gefährden. Das kann schon deswegen nicht überzeugen, weil wir so bereits unterschiedliche Rechtsprechung an sämtlichen Oberlandesgerichten und dort auch noch Unterschiede zwischen den einzelnen OLG-Senaten haben. Und sollte es am BGH zu unterschiedlichen Rechtsauffassungen zwischen zwei Familiensenaten kommen, wären diese mit den üblichen Verfahren zu bewältigen. Wenn es um die Stärkung des Rechtsstaates und das Vertrauen der Menschen in den Rechtsstaat geht, kann und darf das Argument des zusätzlichen Aufwandes nicht per se ausreichen, um Defizite hinzunehmen und fortzuschreiben.
({1})
Es gibt genug sinnvolle Vorschläge, die zu diskutieren sich lohnt. Die Festschreibung der provisorischen Streitwertgrenze gehört nicht dazu.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank ebenfalls. – Letzter Redner in der Debatte ist Dr. Heribert Hirte für die Fraktion der CDU/CSU.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben jetzt sehr viel über die Abschaffung der bisher befristeten Regelung hinsichtlich der Streitwertgrenze bei der Nichtzulassungsbeschwerde gehört. Was wir nicht gehört haben, ist, dass die zugelassene Revision keine Streitwertgrenze kennt und deshalb der Zugang zum obersten deutschen Gericht, dem Bundesgerichtshof, ohne Weiteres auch für solche grundsätzlichen Fälle möglich ist. Das gilt es in Erinnerung zu rufen.
({0})
Im Übrigen ist es völlig richtig – das will ich auch sagen –: Natürlich haben wir – und das sind dann auch die Fälle, die zum Bundesgerichtshof kommen – Fälle mit kleinen Streitwerten, aber von grundsätzlicher Bedeutung, die in der Tat eine Klärung durch die oberste Instanz erfordern, und da brauchen wir möglicherweise auch andere Ansätze. Da gibt es Hilfsmittel, zum Beispiel, dass man die Streitwertfestsetzung ein bisschen heraufsetzt, um auf diese Weise nach oben zu kommen. Und wir müssen auch – und da gibt es durchaus bedenkenswerte Anregungen in einigen der vorliegenden Anträge – bei den Verfahren des kollektiven Rechtsschutzes darüber nachdenken, ob alle die Fälle wirklich so erfasst werden, wie wir uns das am Ende vorstellen. Das ist ein Aspekt, und zu ihm wurde viel geredet.
Was mir wichtiger ist, ist, noch einmal darauf hinzuweisen – der Kollege Fechner hat es eingangs schon gesagt –: Das Gesetz enthält eine ganze Reihe anderer Regelungen, nämlich Regelungen zur Stärkung der Spezialisierung bei den Land- und Oberlandesgerichten. Da wollen wir bei Land- und Oberlandesgerichten zu Materien wie dem Presserecht, dem Erbrecht und dem Insolvenzrecht spezialisierte Kammern, spezialisierte Senate vorsehen. Ich halte das für einen sehr guten, sehr wichtigen Schritt, weil das Materien sind, bei denen die Sachkompetenz zentralisiert leichter bei den Gerichten vorhaltbar ist. Das entlastet nicht nur die Gerichte – in der Tat, darum geht es –, es erleichtert auch dem Bürger den Zugang zur Justiz in diesen komplexen Materien.
Sicher, das führt auf der anderen Seite dazu, dass die Fachleute nur mit Fachleuten reden; dieses Problem muss man dann möglicherweise auch ins Auge fassen. Aber wir kennen das von den Kammern für Handelssachen. Bei den Kammern für Handelssachen, die es schon seit weit über hundert Jahren gibt, haben wir große Erfahrungen damit. Aber: Was wir gerade bei den Kammern für Handelssachen sehen oder gesehen haben, ist: Dort gibt es auch Bedarf, möglicherweise zu spezialisierten Zivilkammern zu gehen, zu Drei-Personen-Zivilkammern, die für Handelssachen zuständig sind, aber nicht „Kammern für Handelssachen“ heißen. Das ist längst geltendes Recht. Wir hätten das bei dieser Gelegenheit – das hätte ich mir gewünscht – auch im Gesetz klarstellen können. Das hätte eine gewisse Querbeziehung zum Insolvenzrecht aufgewiesen – denn das Insolvenzrecht ist gerade für Unternehmen so etwas wie das verlängerte Handelsrecht, das verlängerte Wirtschaftsrecht –, und dann hätten wir diese beiden Materien unter Umständen auch ein bisschen besser zusammenfassen können. Das geht auch jetzt schon – das Justizministerium hat uns das erklärt –; denn die Spezialisierung der Gerichte, die Spezialisierung der Kammern und Senate erfordert ja nicht, dass sie ausschließlich mit einer Materie befasst sind. Wir können also wirtschaftsrechtliche Kammern und Senate zusammenfassen. Ich glaube, das ist eine Möglichkeit – wir haben es in der Anhörung gehört –, von der vor allem kleine Landgerichte auf dem Land – das ist die Justiz, die wir ja auch erhalten wollen – durchaus Gebrauch machen können.
Damit komme ich zu einem letzten Punkt. Das ist ein Punkt, der in der Tat eine Nummer größer war – wir haben es auch in der Anhörung angesprochen. Gerade wenn die insolvenzrechtliche Zuständigkeit jetzt bei den Gerichten stärker spezialisiert wird: Ich hätte mir gewünscht, dass wir bei dieser Gelegenheit auch über die Frage der höheren Kompetenz bei den Insolvenzgerichten nachgedacht hätten, wenn etwa größere Spruchkörper über die Vergabe von Insolvenzverfahren, über die Bestellung von Insolvenzverwaltern in Großverfahren vor allen Dingen, zu entscheiden haben. Man hätte über die Frage nachdenken können, ob man die Zuständigkeit für solche Großverfahren von den Amtsgerichten auf die Landgerichte verlegt. Ich weiß, das ist komplex. Wir werden das im nächsten Gesetzgebungsverfahren weiter angehen; aber ich glaube, die Diskussion ist eröffnet. Hier tun wir einen ersten Schritt. Ich freue mich und bitte um Ihre Zustimmung.
Herzlichen Dank.
({1})
Vielen Dank, Herr Hirte. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Debatte.
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wer hier im Bundestag die Bundesregierung nach Waffenexporten fragt, bekommt gebetsmühlenartig die Antwort zu hören oder auch zu lesen: „Die Bundesregierung verfolgt eine restriktive“, also eine zurückhaltende, „und verantwortungsvolle Rüstungsexportpolitik“.
({0})
Zugleich findet sich in den Antworten der Bundesregierung auch regelmäßig folgender Textbaustein: „Die Beachtung der Menschenrechte im Empfängerland spielt bei der Entscheidungsfindung eine hervorgehobene Rolle.“ Zitat Ende. Die Realität, meine Damen und Herren, ist weit davon entfernt. Die Wahrheit ist nämlich, dass die Rüstungsexportpolitik der Bundesregierung allein bei den deutschen Waffenschmieden die Champagnerkorken knallen lässt und bei niemandem sonst.
({1})
Im laufenden Jahr 2019 hat die Bundesregierung bereits Rüstungsexporte in Höhe von 7,4 Milliarden Euro genehmigt.
({2})
Das ist eine dramatische Steigerung im Vergleich zum letzten Jahr, 2018, als die Genehmigungen noch einen Wert von 4,8 Milliarden Euro hatten. Und das Jahr ist noch nicht einmal um. Man muss ja sagen: Es gibt ja noch zwei Monate.
({3})
Vermutlich wird der bisherige Spitzenwert im Rekordjahr 2015 von 7,9 Milliarden Euro bis zum Jahresende 2019 auch noch getoppt. Sieht so eine zurückhaltende Rüstungsexportpolitik aus?
({4})
Wohl kaum, meine Damen und Herren.
({5})
Die Wahrheit ist: Ihre Behauptung, eine zurückhaltende Rüstungsexportpolitik zu verfolgen, ist glatt gelogen; denn fast jeder Antrag der Rüstungsschmieden ist ein Treffer, meine Damen und Herren. Wer einen Waffenexportantrag bei Ihnen einreicht, der bekommt ihn auch genehmigt. 2018 wurden von über 11 000 Genehmigungen lediglich 88 abgelehnt,
({6})
und in den zehn Monaten dieses Jahres haben Sie von fast 10 000 Anträgen gerade mal 56 abgelehnt. Das sind 0,56 Prozent. Das ist doch nicht zurückhaltend. Das ist keine Genehmigungspraxis.
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Das ist nur noch eine Durchwinkepraxis, was die Bundesregierung hier macht.
({8})
Diese Durchwinkepraxis ist alles andere als zurückhaltend, alles andere als verantwortungsbewusst. Das ist nur ein Bombengeschäft für die Rüstungsschmieden. Schämen Sie sich einfach!
({9})
Jetzt versuchen Sie auch noch, über den Aachener Vertrag, über ein deutsch-französisches Abkommen, entsprechende Vereinbarungen zu treffen, um die eigenen Rüstungsexportrichtlinien über Gemeinschaftsprojekte mit Frankreich und anderen EU-Ländern zu umgehen, damit weiter Waffen geliefert werden können, wie beispielsweise über Frankreich an die islamistische Kopf-ab-Diktatur Saudi-Arabien, und damit das deutsche Waffenembargo umgangen wird.
({10})
Ich finde, das ist auch skandalös. Ihren Betrug werden wir immer wieder hier entlarven.
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Zum Zweiten versuchen Sie jetzt auch noch, sich der mangelhaften Kontrolle – es gibt ja gar keine Kontrolle; das sehen wir ja – für deutsche Rüstungskonzerne und ihre Exporte zu entledigen.
({12})
Die üble Praxis der Auslagerung von Rüstungsfilialen ins Ausland wie im Fall von Rheinmetall, die dann tödliche Munition für den Jemen-Krieg nicht aus Deutschland, sondern aus Italien, aus Südafrika weiter liefern, ist skandalös. Diese Praxis muss beendet werden.
({13})
Hören Sie auf, Ihre Augen davor zu verschließen. Ebenso skandalös ist die Lizenzproduktion deutscher Waffen in der Türkei oder Saudi-Arabien. Die Türkei, Ihr Partner, überfällt gerade mal völkerrechtswidrig ein Nachbarland mit deutschen Waffen. Schämen Sie sich nicht dafür, dass islamistische Terrorbanden deutsche Waffen von der Türkei bekommen haben und dort gegen die Kurden vorgehen? Ich finde, das ist skandalös.
({14})
Deshalb haben wir mit den Grünen zusammen hier einen Antrag eingebracht, um diese Killerexporte und diese Gesetzeslücken endlich zu beenden.
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Hören Sie auf, Bundestag und Öffentlichkeit zu belügen.
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Ihre Rüstungsexportpolitik blamiert sich anhand der Zahlen.
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Hören Sie auf mit dieser Praxis.
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Vielen Dank, Frau Dağdelen. – Nächster Redner ist Klaus-Peter Willsch für die Fraktion der CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Kommen wir nach diesem Ausfall von Frau Dağdelen jetzt zur Abteilung „sachliche Information“.
({0})
Das ist ja immer wieder schwer zu ertragen, was Sie hier aufführen. Aber ich will zum Ausdruck bringen, dass ich froh bin, dass wir in diesem Haus endlich mal wieder über Rüstungsexporte debattieren. Diesmal sind es gleich sieben Anträge, und wieder mal wird hier der falsche Eindruck vermittelt – Frau Dağdelen, Sie machen das immer ganz besonders –, dass Deutschland die Rüstungsschmiede der Welt wäre. Das ist natürlich völliger Quatsch. Aber ich will hier trotzdem noch mal darstellen, weil die Menschen an den Bildschirmen und auch auf der Besuchertribüne ja nicht jedes Mal dabei sind, wenn wir dieses Thema hier diskutieren: Wir haben in Deutschland seitens der Bundesregierung eine restriktive und verantwortungsvolle Rüstungsexportpolitik. Über die Erteilung von Genehmigungen für Rüstungsexporte entscheidet die Bundesregierung im Einzelfall und im Lichte der jeweiligen Situation nach sorgfältiger Prüfung
({1})
unter Einbeziehung außen- und sicherheitspolitischer Erwägungen. Grundlage hierfür sind die rechtlichen Vorgaben des Gesetzes über die Kontrolle der Kriegswaffen, des Außenwirtschaftsgesetzes, der Außenwirtschaftsverordnung sowie die am 26. Juni 2019 in geschärfter Form verabschiedeten Politischen Grundsätze der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern, der Gemeinsame Standpunkt des Rates der Europäischen Union vom 8. Dezember 2008 betreffend gemeinsame Regeln für die Kontrolle der Ausfuhr von Militärtechnologie und Militärgütern und der Vertrag über den Waffenhandel, Arms Trade Treaty. Die Beachtung der Menschenrechte im Empfängerland spielt bei der Entscheidungsfindung eine herausgehobene Rolle. Wenn hinreichender Verdacht besteht, dass die zu liefernden Rüstungsgüter zur internen Repression oder zu sonstigen fortdauernden und systematischen Menschenrechtsverletzungen missbraucht werden, wird eine Genehmigung grundsätzlich nicht erteilt.
So weit erst mal die Faktenlage. Es ist eben nicht so, dass man hier zu Rheinmetall oder sonst wohin wie in einen Supermarkt gehen kann und sagen kann: „Ich suche mir jetzt mal raus, was ich brauche, und nehme das mit“, sondern das ist eindeutig geregelt, international, innerhalb der EU und darüber hinaus auch weltweit. Es gibt in der internationalen Staatengemeinschaft eine Reihe von Waffenembargos, die gegen einzelne Staaten verhängt wurden. Insgesamt stehen etwa 20 Staaten auf der Embargoliste, große Staaten wie China, Russland und der Iran, aber auch Kongo, Somalia und Sudan.
In ihren Anträgen fordert Die Linke, dass wir ein Waffenembargo gegen Algerien, Ägypten, Indien und Pakistan verhängen. Pauschale Embargos widersprechen aber nicht nur unserer, wie ich finde, richtigen Politik der Einzelfallentscheidung, sondern sind auch mit europarechtlichen Vorgaben nicht vereinbar.
({2})
Die Genehmigungswerte für Rüstungsexporte für Algerien und Ägypten fallen in den letzten Jahren – das wissen Sie auch sehr genau – nur deshalb so groß aus, weil es sich um Lieferungen von Fregatten bzw. im Falle von Ägypten um U-Boote handelt
({3})
und das eben einigermaßen ansehnliche Volumina sind. Ich weiß ja, dass Ihnen nicht gefällt, dass wir eine Politik hier machen, die restriktiv ist,
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dass Sie eine ganz andere Politik wollen. Aber nehmen Sie doch einfach mal zur Kenntnis: Wir haben extra für Sie eine Expertenanhörung veranstaltet. Das war doch Ihr Wunsch. Und die Expertenanhörung hat natürlich ergeben, dass wir im internationalen Vergleich, im europäischen Vergleich eine äußerst restriktive Politik verfolgen.
({5})
– Ich habe keine zwei Weltkriege zu verantworten, Frau Dağdelen. Ich weiß nicht, was Sie für eine Erbsünde mit sich rumtragen. Ich weiß schon, wie man verantwortlich Außenpolitik und Rüstungsexportpolitik macht.
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Professor Krause hat sich in seiner Stellungnahme zu diesem Thema unmissverständlich geäußert. Er hat gesagt:
… Produktionsverlagerung ins Ausland oder technische Unterstützung ausländischer Unternehmen sind ein unvermeidbares Folgeproblem einer deutschen Rüstungsexportpolitik, die deutlich restriktiver ist als die seiner europäischen Partnerländer. Eine zu strenge deutsche Genehmigungspraxis treibt Unternehmen ins Ausland. In einer globalisierten Wirtschaft und einer integrierten europäischen Wirtschaftszone ist das kaum zu unterbinden.
Wichtig – und das ist ein positives Zeichen, auch für die zukünftige Rüstungszusammenarbeit in Europa – ist, dass wir im Vertrag von Aachen hierzu mit unseren französischen Nachbarn klare Absprachen getroffen haben und das jetzt in Toulouse weiterentwickelt haben.
Am 23. Oktober ist das im Vertrag verabredete Abkommen über Ausfuhrkontrollen im Rüstungsbereich in Kraft getreten. Wir haben dort glücklicherweise eine De-minimis-Regel vereinbaren können, die besagt, dass die Ausfuhrgenehmigung, wenn der Anteil unter 20 Prozent liegt, im Einvernehmen mit dem Hauptlieferanten, dem Land, in dem der Hauptwertschöpfungsanteil erstellt wird, erteilt wird, damit wir nicht wieder solche absurden Situationen erleben wie damals, als ein Hubschrauber nicht nach Usbekistan geliefert werden konnte, von wo aus wir alle unsere Transporte nach Afghanistan abgewickelt haben, weil ein deutscher Schleifring darin war und das nach unserem Reglement nicht möglich war; erst musste das ganze Fluggerät umdesignt werden.
Meine vereinbarte Redezeit läuft ab; deshalb höre ich jetzt auf,
({7})
nicht ohne meiner Hoffnung Ausdruck zu verleihen, dass wir uns in Kürze schon wieder zu diesem spannenden Thema hier austauschen werden.
({8})
Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Hansjörg Müller für die Fraktion der AfD.
({0})
Hohes Präsidium! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die AfD-Fraktion hat das Ziel verstanden, das Linke und Grüne mit ihren Anträgen wirklich verfolgen:
({0})
die Deindustrialisierung Deutschlands.
({1})
Ich erzähle Ihnen gern die Chronologie des Grauens der links-grünen Industrievernichtung: Erst wurde eine einstmals führende deutsche Energieversorgung kaputtgemacht – Stichwort „Energiewende“ –, weiterhin dann das Bildungssystem auch noch prophylaktisch mit an die Wand gefahren,
({2})
damit unser rohstoffarmes Land auch ja nichts mehr erfinden kann; und nach der Automobilindustrie ist jetzt die Rüstungsindustrie dran. Ein weiterer Baustein deutscher Hochtechnologie wird auf dem Altar eurer Ideologie geopfert.
({3})
Ja, ist doch klar: Wir hatten eigenständige und wettbewerbsfähige Kapazitäten in der deutschen Rüstungsindustrie, welche in den letzten drei Jahrzehnten zusammengestrichen wurden. „Kaputtsparen der Bundeswehr“ hieß das, und damit sind folgende Probleme entstanden:
({4})
Erstens. Nicht nur Großunternehmen wie Rheinmetall oder Krauss-Maffei Wegmann nehmen inzwischen in ihrer Bedeutung ab, sondern es trifft wie immer die vielen mittelständischen Zulieferbetriebe. Aber deren Existenz ist euch Ideologen von der wirtschaftsfeindlichen Seite ja völlig wurscht.
({5})
Das zweite Problem, das durch das Zusammenstreichen entstanden ist – das ist ja genau zum Thema –, ist, dass die deutsche Rüstungsindustrie inzwischen zu klein geworden ist und ohne internationale Partner keine komplexen Projekte mehr stemmen kann. Und jetzt, nachdem ihr diese internationale Zusammenarbeit durch das Zusammenstreichen erst erzwungen habt, wollt ihr sie unmöglich machen – zum einen die Links-Linken und zum anderen die Links-Grünen mit ihren Anträgen,
({6})
weil – das wissen Sie ganz genau, liebe Kolleginnen und Kollegen – die deutschen Wehrtechnikunternehmen ohne diese internationale Zusammenarbeit nicht mehr in der Lage sind, deutsche Soldaten mit dem notwendigen Gerät auszustatten, um damit die Bundesrepublik Deutschland verteidigen zu können, was ja grundgesetzlicher Auftrag ist.
({7})
Wir haben auch Verpflichtungen gegenüber unseren europäischen Partnern, die auf die Verlässlichkeit Deutschlands bei internationalen Rüstungsprojekten drängen, und wenn wir da nicht mitmachen, weil Sie da drüben die Exportmöglichkeiten für die deutschen Waffensysteme einschränken, dann haben wir bald keine konkurrenzfähigen Wehrtechnikunternehmen mehr, und dann haben wir den nächsten Baustein in dieser Chronologie des Grauens der Deindustrialisierung Deutschlands.
({8})
Das ist der Punkt, und das ist sehr wohl zum Thema.
({9})
Ein Staat, der sich militärisch verteidigen können will und dabei auf eine eigene Rüstungsproduktion verzichtet, sei undenkbar. – Wer hat das gesagt, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union? Das war Rupert Scholz, Ihr früherer CDU-Verteidigungsminister – in einer Zeit, als die Minister in der CDU noch geradeaus denken konnten.
({10})
Wie ich sehe, hat die Bundesregierung wohl jetzt einer neuen Rüstungsvereinbarung mit Frankreich zugestimmt, wonach Zulieferungen bis zu 20 Prozent des Warenwertes keine Rüstungsexportgenehmigung aus dem Herkunftsland mehr benötigen. Aber das ist zu wenig. Das kann nur der Anfang sein. Was machen wir denn, wenn Frankreich unser neues gemeinsames europäisches Flugzeug an Drittländer verkauft? Dann muss der deutsche Anteil höher sein. Da reichen 20 Prozent nicht. Warum machen wir nicht gleich 50 Prozent? Das ist richtige Industriepolitik, und wir von der AfD haben dabei auch ein ganz reines Gewissen,
({11})
weil bei diesen indirekten Rüstungsexporten nämlich ein deutsches Vetorecht enthalten sein muss, und das bedeutet: keine Exporte in Kriegsgebiete sowie in Staaten, die das Existenzrecht Israels infrage stellen.
({12})
– Jetzt frage ich mich schon, warum nur die AfD-Fraktion klatscht. Haben die anderen Fraktionen vielleicht ein Problem mit dem Existenzrecht Israels? Diese Frage muss ich dann schon stellen.
({13})
Um die friedensromantischen Träume Ihrer Wähler zu befriedigen, Links-Grün, wollen Sie wahrscheinlich dann auch noch den Produktionsstandort von Rheinmetall Denel Munition in Südafrika schließen. Aber ich kann Ihnen sagen, dass die Welt dadurch – Sie nicken gerade – keinen Deut sicherer wird, und sie wird auch nicht dadurch sicherer, dass Deutschland vielleicht eine Rakete ohne Sprengstoff entwickelt, die aus ökologischen Gründen für Sie auch noch solarbetrieben fliegen wird. Das bringt es auch nicht.
({14})
Es ist die Aufgabe der AfD, die Sicherheit Deutschlands und seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu erhalten. Unsere Rüstungsindustrie ist ein untrennbarer Bestandteil davon.
({15})
Ich bedanke mich für das lebendige Mitdiskutieren. Wiederschauen!
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der SPD der Kollege Frank Junge.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kehren wir nach der zweiten Märchenstunde zu den Fakten zurück. Ich möchte aus diesem Grund noch mal auf die Grundsätze, die meiner Fraktion bei Rüstungsexporten wichtig sind, hinweisen.
Zunächst ist es meiner Fraktion vordringlich nicht wichtig, wenn es sich bei Rüstungsexportentscheidungen um wirtschaftliche Zusammenhänge handelt. Meiner Fraktion ist es besonders wichtig, wenn es in allererster Linie um außen- und sicherheitspolitische Aspekte geht. Das sind die Kriterien, nach denen wir einordnen müssen, ob wir Rüstungsexporte stattfinden lassen oder nicht. Dabei ist uns auch und besonders wichtig, den Verpflichtungen aus unseren Bündnissen, wie mit der NATO, oder unseren Partnerschaften innerhalb Europas verlässlich nachzukommen. Zum einen garantiert nur das unsere eigene Sicherheit, und zum anderen tragen wir so auch zur Stärkung unserer Bündnisse und zu unserem gemeinsamen Wertesystem bei, das uns verbindet. Genau das hilft uns auch – darauf will ich ausdrücklich hinweisen –, dass wir unter geopolitischen Gesichtspunkten gemeinsam für mehr Sicherheit in Krisengebieten dieser Welt sorgen
({0})
und zusammen unter globalen Gesichtspunkten auch ernstzunehmende Abrüstungsinitiativen anstoßen können. Das sind Zusammenhänge, die von großer Bedeutung sind, und das muss man an dieser Stelle auch so klar benennen.
({1})
Deshalb sehe ich es gar nicht ein, warum wir an EU-Staaten und an NATO- oder der NATO gleichgestellte Länder, wie zum Beispiel Australien oder Neuseeland, keine Rüstungsgüter liefern sollten. Ich hebe das deshalb noch mal so ausdrücklich hervor, liebe Fraktion Die Linke, weil Sie ja offenbar keine Gelegenheit auslassen, ein generelles Rüstungsexportverbot zu fordern. Das ist aus meiner Sicht in hohem Maße unrealistisch und weltfremd.
Anders, liebe Kolleginnen und Kollegen, verhält es sich nach unserer Auffassung durchaus, wenn es um Drittländer geht. Hier steht die SPD-Fraktion ganz klar für eine restriktive Rüstungspolitik, nach der unter anderem nicht nur – das wurde hier schon erwähnt – jeder Einzelfall vor dem Hintergrund der Menschenrechtslage im Empfängerland geprüft werden soll; dem Verbleib von Rüstungsgütern wird auf unsere Initiative mit den Post-Shipment-Kontrollen auch nachgegangen, um zu prüfen, inwieweit die Empfängerländer die Waffen bei sich im Land behalten oder weiterveräußern.
({2})
Vor diesem Hintergrund setzt sich meine Fraktion auch kritisch damit auseinander, wenn Entscheidungen des Sicherheitsrates getroffen werden, und wir glauben, dass wir beim Status quo durchaus noch weiterkommen können. Ich erinnere daran, dass wir genau deshalb im Sommer dieses Jahres unsere geltenden Regelungen verschärft und unter anderem geregelt haben,
({3})
dass Kleinwaffen ab diesem Zeitpunkt nicht mehr in Drittländer exportiert werden, und ich denke, das wird auch Wirkung zeigen. Hier dürfen wir nicht stehen bleiben, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir brauchen nach meiner Auffassung ganz klar ein Rüstungsexportgesetz mit klaren und verbindlichen Kriterien.
({4})
Außerdem müssen wir uns dafür einsetzen, dass wir bei Gemeinschaftsprojekten mit europäischen Partnern, wie zum Beispiel Frankreich, mehr Grundsätze zur Geltung bringen, die uns wichtig sind.
Das sind zwei Punkte aus Ihrem Antrag, liebe Fraktion der Grünen, die wir für sehr, sehr sinnvoll halten. Ich denke aber, dass das nicht reicht, sondern dass wir zukünftig eine gemeinsame europäische Rüstungspolitik und abgestimmte Kontrollmaßnahmen brauchen. Und wir brauchen nach meiner Auffassung auch eine gemeinsame Rüstungsbeschaffungspolitik; denn meiner Meinung nach muss es in Europa möglich sein, dass wir die Dinge, die wir unter diesem Aspekt brauchen, selber produzieren und dadurch von der globalen Situation unabhängiger werden.
Mir ist klar, dass das ureigene Interessen der europäischen Nachbarstaaten berührt. Ich denke aber, dass wir vor dem Hintergrund einer geschlossenen Haltung Europas auch in dieser Frage geopolitisch ein noch größeres Gewicht erhalten würden und auf der Grundlage unseres Wertesystems auch noch mehr Einfluss in der Welt ausüben könnten. Aus meiner Sicht wäre das diese Mühen allemal wert.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank. – Als Nächste spricht für die Fraktion der FDP die Kollegin Sandra Weeser.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wieder einmal sehen wir uns heute hier im Parlament einer Flut von Anträgen zu Rüstungsexporten gegenüber. Man müsste eigentlich bei vielen der Anträge sagen:
({0})
– Genau. Lassen Sie mich bitte meine Ausführungen beenden, Frau Dağdelen. Wir sehen hier Anträge der Linken zur Beendigung jeglicher Rüstungsexporte;
({1})
denn die Zielländer, die in Ihren Anträgen erwähnt werden, reichen ja von Algerien über Indien bis nach Pakistan.
Nicht, dass Sie mich falsch verstehen: Wir Freien Demokraten lehnen auch Waffenexporte in Krisengebiete ab
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und halten auch die Einbeziehung der Menschenrechte bei den Entscheidungen für absolut notwendig. Aber die Diversität dieses Antragspotpourris, was wir heute haben, offenbart uns doch das ganze Dilemma, das wir haben. Deutschland hat überhaupt keine klare Linie bei der Exportkontrolle.
({3})
Die Linke fordert einfach mit jedem Kurzantrag pro Land den Stopp von Exporten und den Widerruf aller Genehmigungen. Die Grünen bohren in ihrem Antrag schon an der gerade erst geschlossenen Einigung zur De-minimis-Regelung. Wahrscheinlich würde die SPD das am liebsten auch tun; nur darf sie das nicht wegen der GroKo. Aber sie hat schon mal vorsorglich
({4})
bei den Verhandlungen in Frankreich gegen einen höheren Prozentsatz in der De-minimis-Regelung gestimmt.
Wir müssen über Rüstungsexporte endlich offen, differenziert und sachlich sprechen. Dabei gehört auch der Bundestag einbezogen. Als Parlament sollten wir uns doch die nötigen Werkzeuge an die Hand geben. Wir müssen von der Bundesregierung hier klare Entscheidungen und eine klare Linie einfordern können.
Erstens. Dazu gehören Transparenz und klare Entscheidungsgrundlagen zu Rüstungsexporten.
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Ein Forschungsprogramm muss dringend notwendiges Hintergrundwissen erarbeiten. Dann kann die Bundesregierung auch nicht einfach Ad-hoc-Entscheidungen aus dem Zauberhut präsentieren, ohne dass der Bundestag über die nötigen Informationen verfügt, um diese dann umfassend hinterfragen zu können.
Zweitens. Wir brauchen eine eigene Rüstungspolitik als wesentlichen Bestandteil deutscher sicherheitspolitischer Verantwortung, und das in einem entsprechenden europäischen Kontext.
({6})
Wir müssen uns mit unseren europäischen Partnern auf Rahmenbedingungen einigen.
Ich habe in den letzten Tagen, meine Damen und Herren, viele Gespräche mit französischen Kollegen geführt. Glauben Sie mir: Die werden nicht auf uns warten. Es wird eine deutsche Verteidigungsindustrie in Zukunft nur im Rahmen einer europäischen Entente geben, oder es wird sie in der Zukunft überhaupt nicht mehr geben.
({7})
Unsere Partner erwarten mehr von uns, und zwar erwarten sie nicht mehr Zurückhaltung, sondern sie erwarten mehr Engagement und auch mehr Zuverlässigkeit.
({8})
Drittens. Wir brauchen eine Länder- und eine Regionalstrategie, nach Sicherheitslage und ‑interessen differenziert.
({9})
Nur so können wir unseren europäischen und internationalen Partnern auch eine klare Ansage bei Rüstungsexporten machen. Beispiel: In Land A exportieren wir überhaupt nicht, da Krisengebiet. Oder: Land B ist systemrelevant für die regionale Stabilität. Daher exportieren wir defensive Waffen. Oder: Land C ist Bündnispartner und EU-Mitglied. Hier sollten sich eigentlich gar keine Fragen stellen.
Kurz: Die Freien Demokraten setzen sich für einen klaren Kompass zu Rüstungsexporten ein statt für unzureichende Einzellösungen, wie wir sie heute hier wieder erleben und wie wir sie aktuell praktizieren.
({10})
Unser Antrag, der heute vorliegt, detailliert die von mir angesprochenen Forderungen. Es wäre toll, wenn Sie diesen Antrag unterstützen würden, nicht zuletzt, damit es in Zukunft bessere Entscheidungsgrundlagen gibt. Wir würden damit auch unser Parlament stärken. Das kann doch nur in Ihrem Interesse sein.
Vielen Dank.
({11})
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Katja Keul für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Gemeinschaftsprojekt von Rheinmetall und Erdogan zum Bau eines türkischen Panzers ist zwar inzwischen de facto gescheitert, aber die Gesetzeslücke, die dort genutzt werden sollte, besteht immer noch fort. Das Entsenden eigener Mitarbeiter ins Ausland und die Beteiligung an ausländischen Rüstungsunternehmen ist für die deutsche Industrie bis heute immer noch völlig genehmigungsfrei, und das ist ein erhebliches Sicherheitsrisiko.
({0})
Die Bundesregierung hat hier keinerlei Kontrollmöglichkeiten und will sie auch offensichtlich gar nicht haben. Wer aber wirklich mehr Verantwortung in der Welt übernehmen will, muss sich dafür interessieren, was die eigene Rüstungsindustrie weltweit so treibt. Das machen sowohl die USA als auch Frankreich. Kein Amerikaner darf beispielsweise ohne die Genehmigung der US-Regierung bei einem deutschen Rüstungskonzern arbeiten. Die angeblich immer so restriktiven deutschen Exportkontrollnormen bleiben hier weit hinter denen unserer Bündnispartner zurück.
({1})
Auch der ehemalige Präsident des Bundesamtes für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, Herr Dr. Wallraff, hat in der Anhörung diese Regelungslücke als solche benannt und konkrete Vorschläge gemacht, wie diese Lücke geschlossen werden kann. Mangelnde Expertise können Sie unserem Antrag nun wirklich nicht vorwerfen.
({2})
Sie werden ihn wie immer ablehnen. Aber ich sage Ihnen ganz klar: Wenn Sie diese Lücke nicht schließen, ist das sicherheitspolitisch unverantwortlich.
({3})
Unverantwortlich ist auch Ihr Zusatzabkommen zum Aachener Vertrag, mit dem Sie nun endgültig und ausdrücklich die Grundsätze der Bundesregierung über die Rüstungsexportkontrollen aufheben und in die 70er-Jahre zurückfallen, als Helmut Schmidt und Michel Debré sich in die Hand versprochen haben, bei Rüstungsexporten des jeweils anderen nicht im Wege zu stehen.
In diesem Zusatzabkommen heißt es im Hinblick auf gemeinsame Rüstungsprojekte wörtlich – ich zitiere –:
Eine Vertragspartei widerspricht einer von der anderen Vertragspartei beabsichtigten Verbringung oder Ausfuhr an Dritte nicht, außer in dem Ausnahmefall, in dem ihre unmittelbaren Interessen oder ihre nationale Sicherheit dadurch beeinträchtigt würden.
Hier wird nicht einmal mehr zwischen Bündnispartnern und Drittstaaten wie Saudi-Arabien differenziert.
Im Gegensatz dazu heißt es in den Grundsätzen der Bundesregierung, dass Rüstungsexporte an Drittstaaten grundsätzlich nicht zu genehmigen seien, es sei denn, dass besondere sicherheitspolitische Interessen eine Ausnahme rechtfertigen.
Das Zusatzabkommen besteht im Kern also darin, dass die Grundsätze der Bundesregierung im Verhältnis zu Frankreich nicht mehr gelten sollen.
Aber auch nach den Kriterien des Gemeinsamen Standpunktes der EU dürften Sie weder an Saudi-Arabien noch an die Vereinigten Emirate noch an die Türkei Rüstungsgüter liefern. Und jetzt vereinbaren Sie, auf einen Widerspruch zu verzichten, auch wenn der jeweils andere diese verbindlichen Kriterien missachten sollte. Ein Hohn, dass Sie in dem Zusatzabkommen dann auch noch behaupten, Sie würden den Gemeinsamen Standpunkt der EU hochhalten und achten!
Diese gravierende Abkehr von bestehenden Grundsätzen vereinbaren Sie auch noch ohne jede Beteiligung des Bundestages. Rechtlich mag es Ihnen freistehen, Ihre eigenen Grundsätze abzuschaffen. Ich habe allerdings meine Zweifel, ob sie hier nicht auch im Widerspruch zu den gesetzlichen Regelungen des Kriegswaffenkontrollgesetzes und des Außenwirtschaftsgesetzes stehen.
Wie soll sich denn die zuständige Genehmigungsbehörde künftig verhalten, wenn klar ist, dass die nach Frankreich zu liefernden Bauteile anschließend in Saudi-Arabien landen und dieser Export nach den gesetzlichen Genehmigungsvorschriften des Kriegswaffenkontrollgesetzes eigentlich nicht genehmigt werden dürfte? Soll sich die Behörde künftig anders verhalten, wenn die Bauteile über Frankreich geliefert werden, als wenn sie über Spanien oder über Italien laufen? Soll die Behörde etwa entgegen Recht und Gesetz genehmigen?
Ich fordere Sie auf, unmissverständlich klarzustellen, dass die Grundsätze der Bundesregierung auch im Verhältnis zu Frankreich weiter gelten.
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Setzen Sie sich endlich dafür ein, dass die Einhaltung des Gemeinsamen Standpunktes der EU auch europäisch kontrolliert wird! Und legen Sie uns endlich ein Rüstungsexportkontrollgesetz vor, damit sichergestellt ist, dass Sie Ihre eigenen Grundsätze nicht einfach so wieder abschaffen können!
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Bernhard Loos für die Fraktion der CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren von der Opposition, fällt Ihnen nichts Neues ein? Immer wieder die gleiche alte Leier: überzogene Kritik an einer notwendigen Rüstungszusammenarbeit bzw. an verantwortlichen Rüstungsexporten Deutschlands.
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Herr Loos, entschuldigen Sie bitte mal einen Augenblick. – Ich darf die Besucher auf der Tribüne bitten, das Plakat herunterzunehmen. Das ist nicht statthaft, wenn Sie an den Debatten des Deutschen Bundestages teilnehmen. – Fahren Sie bitte fort.
Erst am 26. Juni hat die Bundesregierung neue verschärfte Politische Grundsätze für Rüstungsexporte beschlossen. Das scheint Ihnen offenkundig entgangen zu sein.
Da zu den Rüstungsexporten – um mit Karl Valentin zu sprechen – schon alles gesagt wurde, nur nicht von jedem, möchte ich meine Redezeit für die internationale Rüstungszusammenarbeit, besonders mit unseren französischen Freunden, verwenden. Der französische Staatspräsident hat unrecht, wenn er vom „Hirntod der NATO“ spricht. Natürlich meint er damit die Dominanz der USA im NATO-Bündnis und die Machtlosigkeit der europäischen Partner, selbst im eigenen Vorhof, wie zum Beispiel in Syrien, sicherheitspolitisch tätig zu werden. Zu einem kraftvollen Europa gehört eben auch eine effektive Zusammenarbeit Europas in der Rüstungsproduktion.
Bereits im Vertrag von Aachen haben sich daher die Bundesregierung und die französische Regierung darauf verständigt, bei gemeinsamen Projekten einen gemeinsamen Ansatz für Rüstungsexporte zu entwickeln. Das Abkommen über Ausfuhrkontrollen im Rüstungsbereich, am 23. Oktober von der Bundesregierung beschlossen, gibt den Rahmen für die zukünftige Zusammenarbeit der deutschen und französischen Verteidigungsindustrie. Es ist ein elementarer Schritt für eine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit und schafft vor allem auch Planungssicherheit. Wichtiger noch: Es ein Schritt hin zu einer europäischen Harmonisierung der Rüstungsexportpolitik, die wir alle wollen.
Die Union will den Dreiklang: erstens nationale Verteidigungsfähigkeit und Gewährleistung der äußeren Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger – also eine unabhängige Wehr- und Abwehrfähigkeit Deutschlands –, zweitens Erhalt einer eigenen leistungsfähigen deutschen wehrtechnischen Industrie – deutsche Hightechfähigkeit darf nicht unwiederbringlich verloren gehen; dazu brauchen wir eine Produktion –, drittens Zusammenhalt im Bündnis. Wir planen und produzieren als verlässliche Partner gemeinsame Rüstungsprojekte im Bündnis, die wir selbst, aber auch unsere europäischen NATO-Partner alleine nicht wirtschaftlich produzieren könnten.
Daher ist es richtig, ein gemeinsames europäisches Kampfflugzeug – FCAS – mit Frankreich und Spanien zu bauen. Aber ich sage auch: Wir werden darauf achten, dass die deutschen Partner – wie wir dies im Maßgabebeschluss des Haushaltsausschusses festgelegt haben – auf Augenhöhe eingebunden sind, dass zum Beispiel MTU als Partner definiert ist und nicht still und heimlich Subunternehmer eines französischen Partners wird.
Immer öfter macht bei der Rüstungskooperation das Schlagwort „German-free“ die Runde,
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weil man Angst hat, mit uns gemeinsam entwickelte Rüstungsgüter nicht verkaufen zu können. Und hier setzt das neue deutsch-französische Regierungsabkommen an, indem es Regeln und Verfahren zur Exportkontrolle von Rüstungsgütern in drei Fallgruppen setzt: regierungsamtliche Zusammenarbeit, industrielle Zusammenarbeit sowie Zulieferungen, die außerhalb von derartigen Kooperationen erfolgen.
Bei Zulieferungen greift bis zu einem Schwellenwert von 20 Prozent der De-minimis-Grundsatz, das heißt, es gilt ein vereinfachtes Genehmigungsverfahren. Ausgenommen davon sind besonders sensible Zulieferungen, die in einer Ausnahmeliste im Abkommen definiert sind. Sie entspricht im Wesentlichen den für Zulieferungen relevanten Positionen der Kriegswaffenliste, darunter auch Kleinwaffen. Unter Beachtung von Konsultationsvorgaben sind Ausnahmen möglich, wenn nationale Sicherheit bzw. nationale direkte Interessen beeinträchtigt sind. Ich sehe wirklich nicht, wo hier irgendwelche Umgehungen angelegt sein sollen.
Bei dieser Faktenlage die internationale Fähigkeit Deutschlands zur Zusammenarbeit zu beschädigen, das Vertrauen in geschlossene Kooperationsverträge in Zweifel zu ziehen, -
Herr Kollege, Sie müssen jetzt Ihren Schlusssatz sprechen. Sie haben schon deutlich überzogen.
– an die Wurzeln der deutschen wehrtechnischen Industrie irreparabel die Axt anzulegen und damit Arbeitsplätze in Deutschland zu vernichten, das ist nicht der Weg der Union.
Danke.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der SPD der Kollege Dr. Karl-Heinz Brunner.
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Sehr verehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Zu dieser Stunde komme ich mir vor wie in dem amerikanischen Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“,
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weil wir diese Debatte in schöner Regelmäßigkeit immer wieder in diesem Hohen Hause führen.
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In dieser Debatte
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– Frau Kollegin Dağdelen, wenn Sie mir zuhören würden, dann könnten wir weitermachen -
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geht es jedes Mal darum, dass Rüstungsgüter und Rüstungsexport nicht den gleichen Regeln unterliegen wie die Herstellung und der Vertrieb von Brezeln. Das sind nämlich andere Handelsgüter. Rüstungsgüterexport betrifft völkerrechtliche, moralische und sicherheitspolitische Fragen und – daraus mache ich keinen Hehl – bedarf daher einer konsequenten Regulierung.
Daraus folgt ein Auftrag an die Politik. Dafür sind Anträge als solche gut. Aber wer etwas bewegen will, liebe Kolleginnen und Kollegen, der muss auch Verantwortung übernehmen, und die Sozialdemokraten und die Union haben das mit dem Koalitionsvertrag getan. Sie haben eine Regierung gebildet, die sie tragen, und in dem Koalitionsvertrag die Schärfung der bestehenden Rüstungsexportrichtlinien festgelegt.
Deshalb hat unser Auswärtiges Amt – ich sage Außenminister Heiko Maas an dieser Stelle herzlichen Dank – bereits im Jahr 2018, und zwar im Juni, also kurz nach Unterzeichnung des Koalitionsvertrags, einen Vorschlag an das federführende Ministerium gerichtet. Letztendlich hat das Bundeskabinett dann am 26. Juni 2019 die neuen politischen Grundsätze beschlossen, auf deren Grundlage nun die Rüstungsexportegenehmigungen erfolgen.
Meine Damen, meine Herren, das zeigt aber einmal mehr, dass die Koalitionsfraktionen und hier die SPD Motor dieser Regierung sind. Das werden wir auch weiterhin sein, und das wollen wir sein, indem wir den Rüstungsexport in einem Rüstungsexportkontrollgesetz manifestiert haben wollen.
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Denn Rüstungsexport gehört nicht – das sage ich ganz deutlich – in die Zuständigkeit des Ministeriums für Wirtschaft. Rüstungsexport kann nur unter sicherheitspolitischen Gesichtspunkten geregelt werden, indem der Deutsche Bundestag die Leitlinien für die sicherheitspolitischen Regeln in einem Gesetz festlegt, das dann die Exekutive umsetzt.
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Dass dies funktionieren kann, hat sich gezeigt. Unsere Initiative insbesondere beim Einsatz von Kleinwaffen trägt Früchte. Durch die Post-Shipment-Kontrollen, die Kleinwaffenkontrollen beim Export in Drittländer, sind nämlich – auch das ist ein Stück der Wahrheit – die Kleinwaffenexporte, die im Jahr 2017 noch bei 15,1 Millionen Euro lagen, auf derzeit weit unter 1 Million Euro gesunken. Wer in diesem Hause ehrlich ist, muss sagen: Ein Flugzeugträger, ein Flugzeug oder eine Fregatte zur Grenzsicherung im Meer richtet weit weniger Schaden an als die vielen Millionen Kleinwaffen, die exportiert werden.
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Unsere Idee der Endverbleibskontrolle bewährt sich.
Erteilte Exportgenehmigungen sollten künftig befristet werden, auch damit die Bundesregierung auf die entsprechenden Veränderungen reagieren kann.
Für all dies, meine sehr verehrten Damen und Herren – die Rüstungsexporte zu begrenzen, entsprechende Regelungen zu schaffen, die EU und die NATO entsprechend zu berücksichtigen, unsere eigenen militärischen Fähigkeiten zu erhalten und Forschung und Innovation in diesem Lande zu erhalten –, ist es notwendig, dass wir eine gute Endverbleibskontrolle und eine gute gesetzliche Regelung bekommen.
Ich bin mir sicher, dass es uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten gelingt, gemeinsam mit unserem Koalitionspartner noch in dieser Legislatur den richtigen Weg und die richtige Richtung vorzugeben und ein Rüstungsexportgesetz zu verabschieden, das dem Namen gerecht wird und das dann auch all diese Eckpunkte mitberücksichtigt.
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Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Letzte Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Gisela Manderla für die Fraktion der CDU/CSU.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir debattieren heute über ein wichtiges und zugegebenermaßen auch schwieriges Themenfeld, und das zum wiederholten Mal: die militärische Zusammenarbeit und Rüstungsexporte.
Zum einen stellen Kooperationen mit wichtigen strategischen Partnern einen elementaren Bestandteil unserer Außen- und Sicherheitspolitik dar. Und zum anderen, meine Damen und Herren, sind sie ein legitimes politisches Instrument und liegen durchaus auch in unserem wirtschaftlichen Interesse.
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Wenn ein Land einen Beitrag zu unserer Sicherheit sowie der Sicherheit unserer NATO-Partner leisten kann, dann ist der Rüstungsexport durchaus gerechtfertigt und legitim.
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Dies kann freilich nur unter der Voraussetzung gelten, dass die exportierten Güter nicht zur Begehung von Menschenrechtsverletzungen eingesetzt werden.
Was aber in der Debatte oftmals vergessen wird: Die Rüstungsexportpolitik der Bundesregierung ist eine der verantwortungsvollsten und restriktivsten weltweit. Jeder einzelne Fall wird einer sorgfältigen Prüfung unterzogen, welche alle außen- und sicherheitspolitischen Erwägungen inkludiert. Hierzu, meine Damen und Herren, existieren klare rechtliche Vorgaben in Form von Gesetzen, politischen Grundsätzen oder multilateralen Abkommen wie etwa dem Vertrag über den Waffenhandel. Aus den genannten Gründen verfügen wir über eines der strengsten und transparentesten Rüstungsexportkontrollrechte weltweit, und das ist auch richtig so, sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen.
Nach geltendem Recht existiert keine Grundlage für einen pauschalen Ausschluss von Rüstungsexporten in ein bestimmtes Empfängerland ohne Durchführung einer Einzelprüfung.
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Klar ist aber: Wenn die Einzelprüfung ergibt, dass die von uns gelieferten Güter zur Unterdrückung der Bevölkerung vor Ort oder zu Menschenrechtsverletzungen missbraucht werden, dann wird eine Genehmigung versagt.
Gleiches gilt auch für bereits genehmigte Exporte, wie dies zuletzt bei Saudi-Arabien der Fall war. So wurden nach der Tötung des saudischen Regierungskritikers Jamal Khashoggi alle deutschen Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien unverzüglich gestoppt.
Dass gleichzeitig das Abkommen mit Saudi-Arabien zur Ausbildung von militärischem Personal bestehen bleibt, hat jedoch einen guten Grund: Diese Ausbildung ist ein wertvolles Instrument für uns, um unter anderem demokratische Wertvorstellungen zu vermitteln. Was soll hieran falsch sein, liebe Kolleginnen und Kollegen?
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Auf diesem Wege werden nämlich Tausenden Männern und Frauen die Rolle der Bundeswehr als Parlamentsarmee, das Prinzip der inneren Führung, die Bindung an die Verfassung, das humanitäre Völkerrecht sowie viele weitere Grundsätze eines demokratischen Rechtsstaates nähergebracht, und das ist eine der Kernbotschaften dieser Debatte. Im Falle von Saudi-Arabien finden die Lehrgänge übrigens in Deutschland statt. Eine Aussetzung dieser Lehrgänge wäre aus unserer Sicht ein Schritt in die falsche Richtung.
Von daher sind die vorliegenden Anträge aus unserer Sicht abzulehnen.
Herzlichen Dank.
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Ich schließe die Aussprache.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Es ist uns gelungen, ein gutes und schlagkräftiges Paket zur Bekämpfung von Geldwäsche auf den Weg zu bringen. Wir zeigen damit deutlich, wie wichtig die Arbeit unseres Parlamentes ist, für faire Regeln in der analogen und auch in der digitalen Welt zu sorgen. Als SPD stärken wir damit, glaube ich, auch europäische Werte; denn wir überlassen nicht den Mächtigen einfach das Spielfeld, und wir gehen deutlich gegen diejenigen vor, die gegen unsere Regeln verstoßen.
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Deswegen, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben wir in diesem Gesetzespaket auch zwei Dinge verbunden. Wir haben dafür gesorgt, dass es klare Regeln im Kampf gegen Geldwäsche gibt, und wir sorgen für faire Regeln im digitalen Markt.
Schauen wir uns an, was aktuell in Berlin passiert: 77 Immobilien wurden im vergangenen Jahr beschlagnahmt, mit einem Wert von 9 Millionen Euro, und dabei ging es nur um einen einzigen Fall im Bereich der Geldwäsche. Das zeigt, der Immobilienbereich ist ein Hochrisikosektor. Deswegen hat die Koalition sich auch entschlossen, in diesem Bereich stärker gegen Geldwäsche vorzugehen, den Behörden bessere Instrumente an die Hand zu geben und auch alle bei Immobilientransaktionen Beteiligten stärker in die Verantwortung zu nehmen.
Es muss dafür gesorgt werden, dass Transparenz bei Immobilientransaktionen herrscht,
({1})
dass der komplette Bereich dargelegt wird. Es kann einfach nicht sein, dass man am Ende gar nicht weiß, wer da eine Immobilie erworben hat. Wir nehmen ganz bewusst auch die Notarinnen und Notare, die bei solchen Transaktionen eine wichtige Rolle spielen, mit in die Verantwortung. Und, das ist mir besonders wichtig, wir stärken auch die wichtigste Stelle im Kampf gegen Geldwäsche, die Financial Intelligence Unit beim Zoll. Sie bekommt mehr Möglichkeiten, auch auf Daten zuzugreifen, damit sie ihre wichtige Arbeit am Ende auch erfüllen kann.
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Wir ändern mit diesem Gesetz das Zahlungsdiensteaufsichtsgesetz – ein sperriger Name. Wir haben darüber lange diskutiert. Wir wollen mit diesem Gesetz auch dafür sorgen, dass auch auf digitalen Märkten Regeln gelten.
Ich finde, es ist ein guter Tag für dieses Parlament – das will ich einmal sagen, weil in den letzten Tagen hier ganz viel über dieses Gesetz diskutiert wurde und weil hinter den Kulissen mit sehr viel Lobbydruck gearbeitet wurde –, wenn wir dieses Gesetz heute hier verabschieden. Denn wir machen damit eine Sache klar: Der Gesetzgeber in unserem Land ist das Parlament, und wir sind das höchste Entscheidungsgremium, das Gesetze macht. Es sind eben nicht irgendwelche Unternehmen, die in Nacht-und-Nebel-Aktionen irgendwo anrufen und Gesetze verhindern können. Das machen wir nicht mit.
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Wir haben hier klare Kante gezeigt, und das ist ein guter Tag für dieses Parlament. Das will ich ganz klar sagen.
Wir haben momentan an so vielen Stellen, gerade im Bereich Digitalisierung, zu kämpfen, und auch dieses Parlament hat schon an vielen Stellen gezeigt, dass es zum Beispiel nicht bereit ist, im Kontext von Libra einfach zu akzeptieren, dass eine private Währung eingeführt werden soll. Aus diesem Parlament heraus kommt auch ein Widerstand dagegen, dass wir beim Thema 5G das Ganze einfach laufen lassen. Der Finanzausschuss zeigt damit – wenn das Parlament heute hier zustimmt –, dass wir bei so etwas, was so leicht daherkommt wie eine „Zahlungsdiensteschnittstelle“, eben auch dafür stehen, dass in unserem Land fairer Wettbewerb gilt, und das kann doch nicht zu viel verlangt sein.
({4})
Insofern freue ich mich sehr, dass wir hier im parlamentarischen Verfahren ein Gesetz wirklich besser gemacht haben, und werbe um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Stefan Keuter für die AfD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich stehe hier, um für die AfD die Alarmglocke in diesem Land zu schlagen.
Was passiert hier? In einer verkürzten, 27-minütigen Debatte wird massiv an den Freiheitsrechten in diesem Land gesägt.
({0})
Die Geldwäscherichtlinie, die vom Europäischen Parlament und vom Europäischen Rat vorgegeben wurde, biegt links ab. Europa biegt links ab. Deutschland zahlt, und Deutschland folgt in den Sozialismus.
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Was passiert hier? Was wollen Sie? Sie wollen die Vollkontrolle des Bürgers. Sie stellen den ehrlichen deutschen Bürger unter Generalverdacht. Sie haben bereits das Bankgeheimnis abgeschafft, und Sie arbeiten an der Eindämmung des Bargeldes. Das wollen wir als AfD nicht.
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Was will diese Richtlinie aus Brüssel? Sie schreibt vor, dass Edelmetallkäufe anonym nur noch bis 2 000 Euro erfolgen dürfen, nachdem die Grenze schon von 15 000 Euro auf 10 000 Euro abgesenkt wurde.
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Sie verpflichtet Steuerberater, Lohnsteuerhilfevereine, Makler, Kunsthändler, sonstige Intermediäre zu Verdachtsmeldungen, wenn sie von Geldwäsche ausgehen. Das fördert ein Denunziantentum in diesem Land, was wir nicht gutheißen können.
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Die anonyme Bargeldnutzung soll auf 10 000 Euro abgesenkt werden. Es soll ein Bankkontenregister eingeführt werden. Die Überwachung der Zahlungsströme und die Überwachung des Konsumverhaltens sind davon nur noch ein My entfernt. Das ist keine Terrorbekämpfung, das ist Drangsalierung, Bespitzelung und Überwachung unserer Bürger. Meine Damen und Herren, das ist mit uns nicht zu machen.
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Es gibt jetzt die FIU – Financial Intelligence Unit –, ein sexy englischer Name, weil „Finanzielle Intelligenzeinheit“ nicht so sexy klingt. 2018 hat diese Einheit, die dem Zoll und dem Bundesfinanzministerium angegliedert ist, 77 000 Verdachtsmeldungen bekommen. Davon sind 50 000 Fälle immer noch nicht abschließend behandelt. Da frage ich mich: Was passiert mit diesen ganzen Daten, dem Datenmoloch? Die AfD ist, glaube ich, in diesem Parlament die einzige freiheitliche Partei.
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Wir lehnen diese Bespitzelung unserer Bürger ganz entschieden ab. Wir sind für den Erhalt der Privatsphäre und sagen: Der Staat muss nicht alles wissen.
Dann noch ein kleiner Kommentar zu Herrn Schäffler von der FDP. Sie meinten nach einer nichtöffentlichen Ausschusssitzung einen Tweet absetzen zu müssen: Die AfD hat unserem Änderungsantrag nicht zugestimmt, Mi, Mi, Mi. Die AfD ist für 2 000 Euro anonyme Goldkäufe. -
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Ich sage es Ihnen ganz klar: Ihre Klientelpolitik, die auf eine ganz kleine Spitze zielt, tragen wir nicht mit.
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Solange Sie hier keinen großen Wurf machen, sind Sie besser still.
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Dann sage ich Ihnen noch etwas: Bürgerbespitzelnde Unrechtsregime hat es in der Vergangenheit schon gegeben. Alle sind bisher gescheitert,
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nicht zuletzt vor 30 Jahren wenige Meter von hier.
Um auf die Eingangsrede zurückzukommen: Der Hochrisikofaktor in diesem Land ist die Große Koalition.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
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Der Kollege Sepp Müller hat für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Geldwäschebekämpfung ist Kriminalitätsbekämpfung. Warum? Wenn Max als Drogenhändler Heroin und Crystal Meth an Schülerinnen und Schüler in Berlin im Prenzlauer Berg verkauft, dann nimmt er dafür Geld ein,
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und dieses Geld nutzt er, um Immobilien hier in Berlin illegal zu erwerben, weil es illegales Geld ist. Er hat Immobilien bis dato bar bezahlt. Uns als Großer Koalition war es wichtig, hier ein klares Signal zu setzen. Ich freue mich, dass das Finanzministerium dem Wunsch nachkommt und im Gesetzestext festschreibt, dass, wenn eine gewisse Bargeldobergrenze erreicht ist und mit einem Geldkoffer eine Immobilie bezahlt wird, wie das Max bis dato gemacht hat, der Notar eine Geldwäscheverdachtsmeldung abgeben muss, damit diese Kriminalität bekämpft werden kann.
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Jährlich – jährlich! – werden in Deutschland 100 Milliarden Euro an kriminellen Geldern gewaschen. Deswegen sagen wir: Wir müssen hier einen Riegel vorschieben. Dieser Riegel funktioniert auch mit dem Transparenzregister, weil Transparenz dazugehört. Aber klar, als Große Koalition haben wir uns auch im parlamentarischen Verfahren dazu entschieden, die ehrenamtlichen Vereine, 500 000 an der Zahl, die gemeinnützig engagiert sind und im Transparenzregister eingetragen sind, von der Gebühr für das Transparenzregister zu befreien; denn das Ehrenamt muss gestärkt und darf nicht bestraft werden.
({2})
Es gibt einen zweiten Punkt, den wir durchgesetzt haben. Wir haben die Zugriffsmöglichkeiten der Behörden gestärkt. Wir haben auch in Richtung Bundesrat, der heute leider nicht vertreten ist, deutlich gemacht, dass, wenn Terrorverdächtige wie Anis Amri, der Attentäter auf dem Breitscheidplatz – er führte beispielsweise unterschiedlichste Prepaidkarten mit sich; eine Meldung ging an die FIU –, in Länderdateien geführt werden, die FIU wissen muss, dass es ein potenzieller Terrorattentäter ist. Deswegen ist es richtig, dass eine Information aus den Länderdateien an die Ermittlungsbehörden und an die FIU erfolgt. Hier haben wir uns durchgesetzt; denn hier geht Sicherheit vor Nachsicht gegenüber einzelnen Interessen.
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Wir brauchen auch eine gemeinsame Kraftanstrengung. Wir haben deutlich gemerkt, dass die vielen Verpflichteten – Steuerberater, Autohändler, aber auch Finanzämter – aufgrund der Fülle, die sie den ganzen Tag zu bewältigen haben, gar nicht alle Fallkonstellationen von Geldwäsche im Fokus haben. Deswegen haben wir uns in der Großen Koalition dazu durchgerungen, ab 2024 jeden einzelnen Verpflichteten online bei der FIU registrieren zu lassen, damit es einen besseren Datenaustausch gibt, damit der Autohändler weiß, dass ein Hartz-IV-Empfänger keinen Ferrari fahren darf; schließlich ist auch Sozialleistungsmissbrauch eine kriminelle Tat. Deswegen muss eine Geldwäscheverdachtsmeldung abgegeben werden. Wir gehen hier den richtigen Weg.
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Für uns ist weiterhin klar – das ist der vierte Punkt, den wir durchsetzen konnten –: Wer in Deutschland investieren will, muss nach deutschen Spielregeln spielen. Jede GmbH, jeder Verein muss in Deutschland im Transparenzregister eingetragen werden, und es muss klar sein, wer dahintersteht. Kommen ausländische Investoren, dann war bis dato nicht klar, wer dahintersteht. Wir als Große Koalition haben gesagt: Was für deutsche Unternehmen beim Immobilienerwerb gilt, muss zukünftig auch für ausländische Investoren gelten.
Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben: In der Stadt Annaburg in meinem Wahlkreis gibt es regelmäßig bulgarische Investoren, die dort Blöcke kaufen; aber keiner weiß, wer hinter dieser Kapitalgesellschaft aus Bulgarien steht. Ab Januar nächsten Jahres wird es so sein: Wenn der ausländische Investor nicht seine Hosen runterlässt und sagt, wer hinter dieser Kapitalgesellschaft steht, dann wird es vom Notar ein Beurkundungsverbot geben, weil klar ist: Wer auf dem deutschen Spielfeld steht, spielt nach deutschen Regeln.
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Ich komme zum fünften Punkt. Max ist auch Fußballfan und hat bei der Weltmeisterschaft 2006 mitgefeiert: „Die Welt zu Gast bei Freunden“. Vor 13 Jahren gab es nicht einmal das iPhone; das kam später.
Kollege Müller, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Meiser?
Ja, gerne.
Vielen Dank, Herr Müller, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Es geht bei diesem Punkt auch darum, tatsächlich gleiche Spielregeln zwischen deutschen Banken, Sparkassen, und zum Beispiel Apple und Co im Zahlungsverkehr zu ermöglichen. Jetzt habe ich gelesen, dass es im Finanzausschuss eine Unterbrechung der Abstimmung gab, weil die US-Botschaft und Apple an diesem Punkt im Kanzleramt interveniert hätten. Mein Kollege De Masi wurde vom US-Botschafter sehr scharf dafür kritisiert, dass er das öffentlich gemacht hat. Wenn das zutrifft, halte ich das wirklich für empörend. Meine Frage: Stimmt das so, wie ich es dargestellt habe, und, falls ja, wie bewerten Sie als frei gewählter Abgeordneter, dass es eine solche Intervention im parlamentarischen Ablauf gibt?
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Herr Meiser, ich danke, dass die Frage von Ihnen kommt; sie ist nämlich berechtigt. Diese Frage ist deswegen berechtigt, weil wir uns über unser Selbstverständnis als Parlamentarier klar sein sollten. Das Parlament hält sich eine Regierung, und nicht andersherum.
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Die Parlamentarier sitzen auf dieser Seite des Hauses und bestimmen die Gesetze.
Ich kann Ihnen nicht sagen, was im Kanzleramt abgelaufen ist; ich selbst war bei der historischen gestrigen Ausschusssitzung dabei. Aber eines ist klar: Wir in Deutschland bestimmen die Gesetze im Deutschen Bundestag und lassen sie uns von niemandem vorschreiben. Wenn das heute durchgeht, dann schaffen wir Waffengleichheit zwischen Großkonzernen aus Amerika und China und unserer deutschen Finanzwirtschaft, den Sparkassen und Volksbanken. Wenn das durchgeht, dann hat dieses Parlament Rückgrat bewiesen, und dann ist das eine Sternstunde der Demokratie im Deutschen Bundestag, weil wir uns nicht die Feder von Großkonzernen führen lassen.
Ich weiß – das möchte ich abschließend sagen –, dass bis zur letzten Minute Kolleginnen und Kollegen dieses Hohen Hauses in Größenordnungen belästigt werden von Herrschaften, von Rechtsanwälten,
({1})
die die Absetzung dieses Tagesordnungspunkts verlangt haben. Das werden wir nicht zulassen. Wir werden diese zweite und dritte Lesung durchführen, um Waffengleichheit zu schaffen zwischen deutschen Sparkassen, deutschen Volksbanken, deutschen Privatbanken und Internetkonzernen aus Amerika und China. Denn unser Selbstverständnis ist: gleiche Waffen, gleiche Spielregeln – auf deutschen Märkten wie auf internationalen Märkten. Danke für Ihre Frage!
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Lieber Herr Kollege, nun haben Sie mir meinen letzten Punkt fast weggenommen. Herzlichen Dank dafür. – Wir schärfen hier deutlich nach. Wir sagen: 100 Milliarden Euro pro Jahr sind 100 Milliarden Euro pro Jahr zu viel. Es ist richtig: Geldwäschebekämpfung ist Kriminalitätsbekämpfung. Lassen Sie uns das Thema nachschärfen; dafür sind wir da. Wir sind der Souverän!
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Das Wort hat Dr. Florian Toncar für die FDP-Fraktion.
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Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon sehr richtig gesagt worden: Geldwäschebekämpfung ist Bekämpfung schwerster Kriminalität und – ich füge hinzu – auch Bekämpfung des internationalen Terrorismus; denn auch für diese Finanzströme gelten die Regeln des Geldwäschegesetzes. Ich glaube, dass es ein überragend wichtiges Ziel ist, eine effektive Geldwäsche- und Terrorismusbekämpfung zu haben. Deswegen ist es auch gut und richtig, dass wir diese Richtlinie heute hier umsetzen.
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Wir haben konstruktiv beraten. Es gab viel Gemeinsames. Ich möchte auch betonen, dass der Bundestag und die Kolleginnen und Kollegen in den Ausschüssen nach meiner Beobachtung den Entwurf im parlamentarischen Verfahren noch besser gemacht haben, als er hineingegangen ist. Das begrüßen wir Freie Demokraten ausdrücklich.
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Einige Dinge allerdings hätten wir – mit den entsprechenden Mehrheiten – anders geregelt, weil wir glauben, dass in diesen Bestandteilen des Gesetzes die Verhältnismäßigkeit nicht immer ganz beachtet worden ist. Das betrifft beispielsweise die Frage der angesprochenen Registrierungspflicht für alle Verpflichteten. Die wurde damit begründet, dass man die Verpflichteten besser über ihre Pflichten informieren möchte. Das ist ein legitimes Ziel. Aber eine Registrierungspflicht und das Anlegen einer neuen Datei sind, wenn man so will, etwas, von dem ich glaube, dass es allein für den Zweck der Information über die geltende Rechtslage unverhältnismäßig ist, und das wollen wir nicht.
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Wir haben vorgeschlagen, dass wir bei dem Thema Transparenzregister, in dem Daten und Angaben zu Unternehmen und deren Eigentümerstruktur enthalten sind, klarstellen, dass die öffentliche Auskunft zwar gewährt wird – das verlangt die Richtlinie ja auch; darüber können wir nicht beliebig verfügen –, aber wir auch klarstellen, dass ein Auskunftsersuchen nur im Zusammenhang mit dem Thema Geldwäscheprävention gestellt werden darf und nicht bei jeder beliebigen anderen Thematik. Das ist bei dem Gesetz, das Sie heute beschließen wollen, nicht ausgeschlossen. Auch das hätten wir besser anders geregelt.
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Es gibt dann selbstverständlich noch das Thema, was man auf Englisch als Gold Plating bezeichnet. Das bedeutet im Grunde, dass an die Umsetzung von EU-Richtlinien in Deutschland schärfere Anforderungen gestellt werden, als es die EU-Richtlinie verlangt. Das führt wiederum dazu, dass das Wettbewerbsumfeld innerhalb der Europäischen Union für die hiesigen Anbieter nachteilig ist. Das haben Sie zum Beispiel bei den Meldeschwellen für die Güterhändler gemacht. Auch da hätten wir klar empfohlen, bei dem zu bleiben, was die Richtlinie vorsieht, und das europaweit einheitlich zu handhaben.
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Unterm Strich wird es sowieso immer eher darauf ankommen, dass Geldwäschebehörden gut ausgestattet und in der Lage sind, Geldwäscherecht effektiv zu vollziehen; einige unserer Anträge haben darauf abgezielt. Das ist allemal wichtiger als Regelungsperfektionismus und ein hoher Detaillierungsgrad.
Das hat übrigens unsere Anhörung am Montag gezeigt, als beispielsweise die Vertreterin der Staatsanwaltschaft Berlin gesagt hat: Wir könnten mit mehr Personalausstattung schon auf Basis der geltenden Rechtslage sehr viel mehr Fälle fangen. – Ich glaube, wir sollten bei allem Perfektionismus nie vergessen, Gesetze besser zu machen. Der Vollzug ist wichtiger als die Gesetze selber.
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Daran muss stärker gearbeitet werden.
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Unterm Strich: Wir werden uns bei der Abstimmung über das Gesetz enthalten. Es hat gute und schlechte Seiten.
Ich bedanke mich sehr für die kollegiale Beratung im Ausschuss.
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Das Wort hat der Kollege Fabio De Masi für die Fraktion Die Linke.
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Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Deutschland ist ein Paradies für Finanzkriminalität. Es geht um etwa 100 Milliarden Euro schmutziges Geld, das Jahr für Jahr in Deutschland gewaschen wird. Die Party steigt in Betongold. Ölscheichs und Oligarchen kaufen ganze Hochhäuser und treiben die Mieten in die Höhe.
Herr Keuter, auch das muss hier gesagt werden: Sie sollten den Wählerinnen und Wählern verraten, dass die Kriminalbeamten in der Anhörung sagten, dass mit den Ideen der AfD ein Schutzraum für Terrorgelder, Kinderpornografie und Menschenhandel geschaffen wird. Ihre Wählerinnen und Wähler haben einen Anspruch, das zu erfahren.
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Zum Geldwäschegesetz. Gut ist: Auf Druck der EU-Kommission wird das Transparenzregister der Eigentümer von Briefkastenfirmen öffentlich. Notare müssen bei Immobilienkäufen genauer hinschauen. Es soll eine Aufsicht über das Darknet der Finanzen – Crypto-Assets wie Bitcoins, vielleicht bald auch Libra und Co – erfolgen. Aber das ist zu wenig. Daher werden wir uns ebenfalls bei der Abstimmung über den Gesetzentwurf enthalten. Warum?
Erstens. Die Daten im Transparenzregister sind schlecht. Erst ab 25 Prozent Anteil an einer Briefkastenfirma muss man als wahrer Eigentümer die Hosen runterlassen. Rocco und vier Brüder reichen daher, um anonym zu bleiben.
Zweitens. Es fehlt ein Register der wahren Eigentümer von Immobilien; in den Grundbüchern stehen die nämlich nicht drin.
Drittens brauchen wir dringend eine härtere Finanzaufsicht. Die BaFin ist oft Teil des Problems und nicht der Lösung. Im Nichtfinanzsektor – bei Juwelieren, Casinos oder Notaren – sind die Bundesländer zuständig. Nichts funktioniert da; es gibt kaum Kontrollen oder Strafen.
Viertens bleibt die Finanical Intelligence Unit mit etwa 50 000 unbearbeiteten Geldwäscheverdachtsmeldungen ein Sicherheitsrisiko. Wir brauchen ein echtes Finanz-FBI in Deutschland.
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Die Landeskriminalämter müssen mit ihren Kriminalisten bei der ersten Analyse von Geldwäscheverdachtsmeldungen wieder einbezogen werden.
Wir haben einen Masterplan gegen Geldwäsche vorgelegt und acht Änderungsanträge zum Geldwäschegesetz eingebracht. Bis ein Immobilienregister Transparenz schafft, sollen Behörden von jenen, die in den Grundbüchern stehen, Auskunft über die wahren Eigentümer von Immobilien verlangen können; sonst müssen Immobilien auch beschlagnahmt werden können.
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Ich bin gegen die Abschaffung des Bargelds; aber es ist absurd, wenn ganze Immobilien auch weiterhin aus dem Rindslederkoffer bezahlt werden können.
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Die Abwicklung von Immobilienkäufen muss wieder über Notaranderkonten laufen.
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Zum Schluss – der Kollege Meiser hat das angesprochen, und ich finde, der Kollege Müller hat dazu das Nötige gesagt –: Gestern hat Apple im Kanzleramt offenbar interveniert, weil Apple bei der Abwicklung von Zahlungen die Tür für Sparkassen öffnen soll, wie es umgekehrt bereits der Fall ist. US-Botschafter Richard Grenell hat mich dafür attackiert, dass ich dies öffentlich gemacht habe. Ich sage hier an seine Adresse ganz deutlich: Die Gesetze werden hier im Bundestag gemacht – von den frei gewählten Abgeordneten, nicht von Apple, nicht von Richard Grenell. Das wird er früher oder später lernen.
Vielen Dank.
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Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat Dr. Irene Mihalic das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Geldwäschebekämpfung muss integraler Bestandteil unserer Sicherheitspolitik sein. Bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität ist das nicht nur Kür, sondern auch absolute Pflicht.
Die von der Bundesregierung vorgelegte erste Nationale Risikoanalyse zur Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung zeigt jetzt noch einmal, wie groß der Handlungsbedarf inzwischen geworden ist. Deutschland ist seit Langem nicht nur für legale Investitionen attraktiv, sondern bietet leider auch ideale Rahmenbedingungen für Geldwäsche im Immobiliensektor.
Aus diesem Befund erwächst eine nationale, aber auch internationale Verantwortung, meine Damen und Herren;
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denn Geldwäsche schädigt redliche Wirtschaftsteilnehmerinnen und ‑teilnehmer und macht internationale und schwerste Kriminalität überhaupt erst lohnenswert. Wir Grüne haben schon vor einiger Zeit auf diese Zusammenhänge aufmerksam gemacht und auch einen entsprechenden Antrag zur Bekämpfung von Geldwäsche im Immobiliensektor vorgelegt. Schließlich drohen die ohnehin sehr aufgeheizten Immobilienpreise durch massive Investitionen aus kriminellen Zusammenhängen noch weiter anzusteigen, was nicht zuletzt die Mieten noch weiter steigen lassen könnte. Das dürfen wir nicht zulassen, meine Damen und Herren.
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Der Gesetzentwurf der Bundesregierung hat diesen Aspekt anfangs noch sehr stiefmütterlich behandelt. Aber die Änderungen, die jetzt im parlamentarischen Verfahren vorgenommen worden sind, lassen deutliche Verbesserungen erkennen; das will ich an dieser Stelle ausdrücklich loben. Sie haben zwei zentrale Forderungen von uns aufgenommen. So sollen Notare künftig stärker in die Pflicht genommen werden. Es sollen keine Beurkundungen mehr stattfinden, wenn die eigentlichen Eigentümer, die sogenannten wirtschaftlich Berechtigten, nicht identifizierbar sind. Auch müssen zukünftig ausländische Investoren bei Immobilienkäufen ins Transparenzregister eingetragen werden. Dadurch werden die Hintermänner offengelegt, und Mieterinnen und Mieter können in Erfahrung bringen, wem die Immobilien eigentlich gehören, in denen sie wohnen. Beides sind wichtige Bausteine gegen Geldwäsche, und ich bin froh, dass sie nun aufgenommen werden.
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Leider greift der Gesetzentwurf aber an einigen Punkten zu kurz oder setzt auf die falschen Akzente; das ist eben schon angesprochen worden. So soll trotz massiver Warnungen des Bundes Deutscher Kriminalbeamter und Stellungnahmen des Bundesrates die Financial Intelligence Unit Anfragen in besonders geschützten polizeilichen Datenbanken vornehmen dürfen. Herr Zimmermann, das hat nichts mit Befindlichkeiten oder dergleichen zu tun; denn was sich erst einmal sehr harmlos anhört, birgt enorme Sicherheitsrisiken. Herr Müller, dann geht es eben nicht darum, mehr Sicherheit zu schaffen,
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sondern dann ist das Risiko ist einfach sehr, sehr groß. Wir müssen uns vor Augen führen, dass es sich hier um sensibelste Daten zu Ermittlungen im Bereich der organisierten Kriminalität handelt, die selbst innerhalb der Polizei nicht von jedem eingesehen werden dürfen, sondern nur von einem sehr, sehr eng umrissenen Personenkreis.
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Dass Sie hier so wenig Problembewusstsein haben, ist für mich einfach nicht nachvollziehbar.
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Sehr geehrte Damen und Herren, die Geldwäschebekämpfung muss insgesamt gestärkt werden. Wichtig ist, dass die beschlossenen Maßnahmen einer regelmäßigen Revision unterzogen und noch weitere Schritte eingeleitet werden. Wir haben deshalb hier einen Entschließungsantrag vorgelegt, der auch zur Abstimmung steht. Ich bitte Sie, dem Entschließungsantrag zuzustimmen.
Ganz herzlichen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Metin Hakverdi für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bekämpfung der Geldwäsche steht auch im Zusammenhang mit den neuen Technologien der Digitalisierung. Sogenannte Fintechs und Kryptowährungen sind heute schon auf dem Markt – eine relevante Branche, in der weltweit über 160 Milliarden Dollar im Umlauf sind, die Tendenz ist stark steigend.
Facebook – es ist hier schon gesagt worden – will mit Libra ganz groß ins digitale Bezahlgeschäft einsteigen, und andere Big Techs stehen wahrscheinlich schon in den Startlöchern. Wir dürfen nicht zulassen, dass Plattformmonopolisten wie Facebook, Google, Apple, Amazon, aber auch Alibaba, Alipay, Tencent, WeChat oder wie sie alle heißen Bezahldienstleistungen auf ihren Plattformen monopolisieren. Wir müssen sie gesetzlich zwingen, ihre Plattformen für andere Anbieter zu öffnen.
Die regulatorische Unterscheidung zwischen der analogen und der digitalen Welt macht in unserer Zeit in vielen Bereichen keinen Sinn mehr. Geldwäsche findet genauso analog wie digital statt.
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Wenn wir als Gesetzgeber nicht mit dem digitalen Fortschritt mithalten, dann werden illegale Geschäfte natürlich immer weiter in den digitalen Raum verlagert. Durch Regulierung müssen wir dafür sorgen, dass erstens illegale Machenschaften verhindert werden und zweitens seriöse Anbieter im Kryptoverwahrgeschäft eben nicht diskreditiert werden.
Deshalb nehmen wir das Kryptoverwahrgeschäft jetzt in den Katalog der Finanzdienstleistungen nach § 1 Absatz 1a Satz 2 des Kreditwesengesetzes auf. Damit wird es erlaubnispflichtig und unterliegt der Aufsicht der BaFin; das ist schon heute gängige Praxis. Verwahrer von Kryptowährungen werden verpflichtet, bei Geldwäscheverdachtsfällen die zuständigen Stellen zu informieren, und das ist auch gut so.
Übrigens: Regulierung in der digitalen Welt dient natürlich auch dem Verbraucherschutz. Wir tun also gut daran, auch bei der Regulierung mit der Zeit zu gehen und immer auf der Höhe der Zeit zu bleiben.
Ich bedanke mich in diesem Zusammenhang bei denen, die viel Zeit und Energie in dieses Gesetzesvorhaben gesteckt haben: den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Ministerien, der Fraktionen und der Bundestagsbüros. Besonders möchte ich heute Jens Zimmermann danken. Es war in diesem Prozess sehr hilfreich, jemanden dabeizuhaben, der sowohl im Ausschuss für Digitale Agenda als auch im Finanzausschuss unterwegs ist. Das hat uns sehr geholfen. Und ich möchte mich auch ganz ausdrücklich bei allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern – bis an die Spitze – im Bundesministerium der Finanzen bedanken, dass sie diesem enormen Druck standgehalten haben und nicht nachgegeben haben. Das war eine Werbeveranstaltung für die Demokratie.
Ich bedanke mich.
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Das Wort hat der Kollege Alexander Radwan für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Meine Kollegen Vorredner haben ja schon den Zweck der Umsetzung der Richtlinie zur Geldwäsche angesprochen: Es geht um Kriminalitätsbekämpfung, und es geht um die Bekämpfung der Finanzierung von Terrorismus. Ich habe jetzt meinen Fokus darauf gelegt, dass dieses Gesetz auch in die Zukunft gerichtet ist.
Mein Vorredner, der Kollege Hakverdi, hat ja schon den Bereich der Kryptowährungen angesprochen, in dem zukünftig Verwahrgeschäfte, aber auch die Werte an sich durch das KWG erfasst werden. Das heißt, die BaFin wird erstmals Zuständigkeiten im Bereich der Kryptowährungen und der Entwicklung in diesem Bereich bekommen, damit diese eben nicht als Ausweichmöglichkeiten genutzt werden, um das Geldwäschegesetz in der analogen Welt entsprechend zu umgehen.
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Neben der Ausweitung der Aufsicht durch die BaFin geht es – das wurde gestern schon im Ausschuss angesprochen; Kollege Zimmermann hat es heute angesprochen – auch um die NFC-Schnittstelle mit digitalen Großkonzernen. Meine Damen und Herren, ich halte es für eine Sternstunde unseres Parlaments, dass sich trotz des Drucks und trotz entsprechender Interventionen – das sage ich gerade mit Blick auf die Linken – die Koalitionsfraktionen gestern entsprechend entschieden haben, sich ein Stück Zeit zu nehmen. Dass Bedenken rechtlicher Art noch einmal geprüft werden, ist, glaube ich, selbstverständlich; aber letztendlich ist man hier aufgestanden und hat diesen Weg beschritten.
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Lassen Sie mich wie folgt anfangen. Es ging los mit der PSD2, die ja letztendlich die Banken momentan verpflichtet, gegenüber Fintechs entsprechende Daten offenzulegen, um diesen eine Wettbewerbschance in diesem sich entwickelnden Markt zu geben. Umso wichtiger ist es, wenn sich neue Entwicklungen ergeben, entsprechende gesetzliche Regelungen zu schaffen. Wir haben die Entwicklung, dass im Bereich der Digitalisierung, der Smartphones eine Art Monopolisierung entstanden ist und es neue Geschäftsmodelle bei Google, bei Apple, bei Amazon gibt.
Es ist keine Lex Apple, sondern betrifft den Bereich des gesamten neu entstehenden Marktes der Digitalisierung, meine Damen und Herren. Darum ist es dringend notwendig, hier entsprechende gesetzliche Regelungen zu schaffen, die für Wettbewerbsgleichheit sorgen werden. Denn alles, was dort zu Monopolen führt – das gilt für die analoge Welt wie zukünftig für die digitale Welt –, wird zum Nachteil der Bürger sein.
Darum ist es richtig, dass wir heute im Deutschen Bundestag ein eindeutiges Zeichen setzen, ein Zeichen für die Regulierung in Deutschland. Aber es muss auch ein Zeichen Richtung Brüssel sein.
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Denn diese Regelungen können wir in Deutschland zwar anstoßen, aber letztendlich ist es eine kartellrechtliche Frage auf europäischer Ebene. Es ist meine Aufforderung an die neue Kommission, dies entsprechend aufzunehmen, meine Damen und Herren.
Es geht über den Bereich der Finanzwirtschaft hinaus. Momentan beziehen sich unsere Regelungen auf die Regionalbanken, auf die Genossenschaftsbanken, auf die Sparkassen. Aber wenn ich mir die Problematik anschaue, dass die Kundenbindung über die Digitalisierung, über die Smartphones stattfindet, dann wird klar, dass das den gesamten deutschen Mittelstand betrifft. Und der gesamte deutsche Mittelstand, die gesamte deutsche Wirtschaft braucht zukünftig dort, wo sie Dienstleistungen erbringt, einen fairen Zugang zum Endkunden, und das heißt Offenlegung der Schnittstellen zu einem verträglichen Preis, zu einem fairen Preis, zu einem diskriminierungsfreien Preis.
Auf die Diskussion mit den großen Fintechs – ob aus Asien/China oder aus den USA – freue ich mich schon. Sie haben ja mitbekommen, wie selbstbewusst deutsche Abgeordnete sein können. Sie sind herzlich eingeladen zu einem Dialog mit uns.
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Meine Damen und Herren, wir haben extra festgelegt – die Kollegen haben ja zu Recht Wert darauf gelegt –, dass zukünftig Vereine zwar in das Register eingetragen werden, aber von den Zahlungen befreit werden. Es ist richtig so. Wir wollen dadurch das Ehrenamt honorieren und stützen.
Meine Bitte an das Finanzministerium im Zusammenhang mit der Diskussion um Vereine – geben Sie es bitte an den Finanzminister weiter –: Ich bin der Meinung, zukünftig sollte die Gemeinnützigkeit von Vereinen nicht von der Mitgliedschaft abhängen, sondern nach wie vor vom Zweck. Ersparen Sie mir bitte die Diskussion, dass ich meinem katholischen Frauenbund vor Ort erklären muss, dass er mich jetzt aufnehmen muss, damit er zukünftig noch gemeinnützig ist.
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Geben Sie das bitte weiter, dann hat das auch noch einen entsprechenden Zweck.
Besten Dank.
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Ich schließe die Aussprache.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute über die verschiedenen Anträge der AfD-Bundestagsfraktion zu – so der vollmundige Titel – wirksame Reduzierung beim Pflanzenschutzmitteleinsatz, zu Tiertransporten und zu einer Förderung gesundheitlicher Ernährung.
Ich möchte für uns auf alle Fälle zuerst einmal feststellen – eines ist für uns natürlich klar –: Innovative und wirksame Pflanzenschutzmittel gehören zu einem modernen, wettbewerbsfähigen und nachhaltigen Pflanzenbau, auch in der Zukunft und vor allen Dingen auch in unserem Land. Das ist sicherlich ein wichtiges und entscheidendes Kriterium. Gleichzeitig ist es auch Grundlage für gesunde, aber auch rückstandsfreie Lebensmittel. Das gehört hier dazu.
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Zum Glyphosateinsatzverbot in der Nähe von Gewässern, welches die AfD, also die neue alternative Verbotspartei für Deutschland, in ihrem Antrag fordert, reicht ein auszugsweiser Blick in die Anwendungsbestimmungen, werte Kolleginnen und Kollegen. Dort ist nämlich festgehalten:
Zwischen behandelten Flächen mit einer Hangneigung von über 2 % und Oberflächengewässern … muss ein mit einer geschlossenen Pflanzendecke bewachsener Randstreifen vorhanden sein. Dessen Schutzfunktion darf durch den Einsatz von Arbeitsgeräten nicht beeinträchtigt werden. Er muss eine Mindestbreite von …
– 5 bis 10 Metern –
haben. Dieser Randstreifen ist nicht erforderlich, wenn … die Anwendung im Mulch- oder Direktsaatverfahren erfolgt.
Das zeigt sehr deutlich: In den Anwendungsbestimmungen ist die entsprechende Vorsorge schon getroffen. Deshalb bedarf es nicht dieses Verbots, das hier gefordert wird.
Ich möchte mich mit einem weiteren Punkt befassen. Es wird auch ein monetäres Anreizprogramm für die Reduzierung von Pflanzenschutzmitteln gefordert. Ich glaube, das Monetäre ist von Haus aus die Grundlage, dass Pflanzenschutzmittel reduziert eingesetzt werden;
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denn es ist das Geld der Bäuerinnen und Bauern, der Unternehmer, deshalb werden sie den Einsatz automatisch reduzieren. Deshalb müssen wir hier nicht zusätzliche Programme diesbezüglich beschließen.
Ich möchte mich wegen der Aktualität auch damit befassen, dass Pflanzenschutzmittel immer in die Ecke gedrängt werden, sie seien verantwortlich für weniger Biodiversität und sonstiges und vielleicht auch dafür, dass mit ihnen der Insektenschwund einhergeht. Sowohl in der neuen Studie der Technischen Universität München – wenn man sie ideologiefrei liest – als auch in der Krefelder Studie findet der Insektenschwund innerhalb eines Jahres statt. Das sollte uns veranlassen, auch bereit zu sein, über die Ursachen nachzudenken, statt hier immer nur Vermutungen anzustellen und über Ideologien zu diskutieren.
Herr Kollege Straubinger, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Dr. Diether Dehm?
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Sicherlich, Herr Kollege.
Herr Kollege Straubinger, ich weiß, dass Sie ein großer Freund der Tradition sind, und ich versuche, dem auch Rechnung zu tragen.
Das sieht man.
Ist Ihnen denn nicht aufgefallen, dass es Unterschiede gibt zu der Zeit, als wir beide jung waren,
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als die Bienen noch überall gesummt haben, als die Schmetterlinge noch geflogen sind, als auf den Wiesen noch ein einziges Summen zu hören war? Ist Ihnen nicht der Gedanke gekommen, es könnte vielleicht an bestimmten Mitteln liegen, die zum sogenannten Pflanzenschutz verwendet werden, dass dies heute anders ist? Welche Erklärung haben Sie denn für den dramatischen Verlust unserer Lebensqualität und der Lebensqualität der Insekten? Ich weiß, dass Ihnen das genauso am Herzen liegt wie mir. Welche Erklärung haben Sie dafür?
Es ist wahr, dass mir die Bienen sehr am Herzen liegen. Vor allen Dingen sind Sie offensichtlich einer Fehlinformation aufgesessen: Die Anzahl der Bienenvölker – das ist entscheidend – hat in den letzten zehn Jahren in Deutschland erheblich zugenommen.
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Das war auch die Falschbehauptung beim Volksbegehren in Bayern, dass die Bienen gefährdet seien. Im Gegenteil: Den Bienen ging es noch nie so gut wie heute. Lieber Herr Kollege, wir können uns darüber bei einem Bier austauschen, dann können wir die einzelnen Bienen durchzählen. Das wird sicherlich eine interessante Unterhaltung werden, lieber Herr Kollege Dehm.
Interessant ist auch, dass es in den jüngsten Feststellungen des Wissenschaftlichen Beirats des Bundeslandwirtschaftsministeriums heißt: Die Landwirtschaft hat ihren Anteil daran; aber entgegen landläufiger Darstellungen können beispielsweise nur 13 Prozent der Veränderungen der Biodiversität der Insekten auf Pflanzenschutzmittel zurückgeführt werden. Herr Kollege, Beiratsmitglieder wie Herr Professor Taube oder Herr Professor Grethe stehen sicherlich nicht im Verdacht, Lobbyisten für die chemische Industrie zu sein und den Einfluss der Pflanzenschutzmittel schöngerechnet zu haben.
Ich glaube, das sind beredte Beispiele für richtigen und vor allen Dingen nach guter landwirtschaftlicher Praxis eingesetzten Pflanzenschutz;
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dieser wird auch in Zukunft unabdingbar sein. In diesem Sinne werden wir diesen Antrag der AfD ablehnen, der letztendlich den Verbotsgeruch trägt, der auch bei anderen Parteien feststellbar ist.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat der Abgeordnete Stephan Protschka für die AfD-Fraktion.
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Habe die Ehre, Frau Präsident! Servus, liebe Kolleginnen und Kollegen der Alternative für Deutschland! Liebe bundesrepublikanische Einheitspartei! Also auf die Rede von Herrn Straubinger muss ich jetzt nicht unbedingt eingehen; denn es ist klar, dass er unseren Antrag nicht gelesen hat. Das hat er in seiner Rede kundgetan, und wie die Union zu den Landwirten steht, hat man in der Rede desselben Kollegen, Herrn Straubinger, ja gesehen. Bei Direktzahlungen hat er sich ganz aufopferungsvoll für die Landwirte und gegen diesen Gesetzentwurf ausgesprochen, und bei der namentlichen Abstimmung hat er natürlich für diesen Gesetzentwurf gestimmt.
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Liebe Wählerinnen und Wähler, lasst euch von der Union nicht verarschen.
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Hier reden sie so, wie Sie es hören wollen, und bei den Abstimmungen verhalten sie sich dann anders.
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Die Ernährungs- und Agrarpolitik der Großen Koalition steht sinnbildlich für den allgemein maroden Zustand dieser Bundesregierung. Seit nunmehr 14 Jahren lähmen Sie mit halbherzigen und unwissenschaftlichen Entscheidungen diesen wichtigen Wirtschaftszweig.
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Wie groß der Unmut mittlerweile ist, zeigen eindrucksvoll die gegenwärtig stattfindenden Bauerndemonstrationen in ganz Deutschland: vorgestern in Niederbayern, heute in Hamburg und am 26. November hier in Berlin. Die Bauern haben von eurer Politik die Schnauze gestrichen voll.
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Aber ganz ehrlich, liebe Landwirte: Wir stehen hinter euch! Wir helfen euch!
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Was viele hier im Hohen Haus anscheinend vergessen haben, ist, dass die Land- und Forstwirtschaft von einer Bruttowertschöpfung von etwa 20 Milliarden Euro sprechen. Jeder neunte Arbeitsplatz hängt direkt oder indirekt mit der Ernährungs- oder Landwirtschaft zusammen,
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ganz abgesehen von der Tatsache, dass die Landwirtschaft unsere hochwertigen Lebensmittel produziert, übrigens auch für Vegetarier und Veganer, die gegen die Bauerndemonstrationen demonstriert haben. Auch sie benötigen einen Landwirt dafür, dass ihr Salat wächst. An dieser Stelle möchte ich mich ganz herzlich bei unseren Landwirten bedanken, die unsere Lebensmittel so vernünftig produzieren.
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Wir stimmen heute über drei Anträge der AfD aus dem Bereich Ernährung ab. Im ersten Antrag fordern wir die Bundesregierung auf, positive Anreize für diejenigen Landwirte zu schaffen, die den Einsatz chemischer Pflanzenschutzmittel verringern. Herr Straubinger, Sie wissen, in unserem Antrag steht: Wir wollen das unterstützen, wenn jemand darauf verzichtet. Wir wollen nichts verbieten, da die Zulassung für Glyphosat 2023 vermutlich ausläuft, außer Ihre Ministerin stimmt der Verlängerung zu; es ist ja noch nicht sicher, was die Union vorhat.
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– Frau Künast, Sie haben Glyphosat eingeführt. Sie müssen ganz still sein.
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Dass man die Landwirte schon jetzt unterstützen muss, wenn sie darauf verzichten, habt ihr wahrscheinlich wieder vergessen, genauso wie ihr es bei der Ferkelkastration vergessen habt. Da fällt euch kurzfristig wieder irgendetwas ein. Seid dankbar, dass es uns gibt. Wir weisen euch jetzt schon darauf hin, dass ihr etwas machen sollt für die Landwirtschaft, damit es Alternativen gibt, wenn sie darauf verzichten müssen. So lange es keine chemischen Alternativen gibt – ihr seid auch für den Rückstau in der Zulassung mit verantwortlich –, müssen wir Anreize schaffen, dass sie es mechanisch anders machen.
Des Weiteren reden wir über einen Antrag, den Frau Mackensen von der SPD und Herr Ebner von den Grünen – das wollte ich noch sagen – ja sehr gut gefunden haben. Ich bin gespannt, wie sie sich bei der namentlichen Abstimmung herauswinden, sodass sie ja nicht der AfD zustimmen müssen. Sie begründen es vermutlich nur parteipolitisch; denn inhaltlich ist es ja ein sehr guter Antrag.
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Sie müssten ja parteipolitisch gegen die AfD stimmen. Stellen Sie solche Anträge, dann stimmen wir auch zu.
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Außerdem fordern wir Sie heute auf, gemeinsam mit uns endlich die unwürdigen Tiertransporte in Drittländer zu beenden,
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solange vom Exporteur nicht lückenlos nachgewiesen werden kann, dass den Tieren auf dem gesamten Transport keine unnötigen Leiden zugefügt werden. Dass sie in einem Land, welches den Tierschutz 2002 als Staatsziel im Grundgesetz verankert hat, überhaupt noch möglich sind, ist für uns ein Skandal, meine Damen und Herren. Viele Bundesländer haben dieser unwürdigen Praxis aber zum Glück bereits einen Riegel vorgeschoben. Jetzt braucht es dringend eine bundeseinheitliche Regelung der Tiertransporte.
Meine Damen und Herren, Sie sind nur Ihrem Gewissen verantwortlich. Sie sind nicht Ihrer Fraktion verantwortlich. Gehen Sie heute Abend mit reinem Gewissen in den Feierabend, und stimmen Sie unseren Anträgen zu.
Danke schön.
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Herr Protschka, ich mache Sie darauf aufmerksam: Ja, alle Abgeordneten sind ihrem Gewissen verpflichtet. Gleichzeitig bitte ich Sie, bei der Ihnen natürlich freistehenden Bewertung des Agierens der anderen Fraktionen sich zukünftig einer etwas parlamentarischeren Ausdrucksweise zu befleißigen.
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Das Wort hat die Abgeordnete Ursula Schulte für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Der vorliegende Antrag der AfD mit dem Titel „Förderung einer gesundheitsbewussten Ernährung – Bessere Kennzeichnungspflichten, hochwertigeres Schulessen, keine EU-Ausschreibungspflicht“ stammt aus dem Januar dieses Jahres. Die gestellten Forderungen der AfD haben kein Alleinstellungsmerkmal und sind durch Regierungshandeln teilweise schon überholt.
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Aber der Antrag gibt uns immerhin Gelegenheit, über das Thema gesunde Ernährung zu diskutieren. Dazu will ich gerne meinen Beitrag leisten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle wissen nur zu gut, dass 53 Prozent der Erwachsenen in Deutschland übergewichtig und 16 Prozent sogar adipös sind. Natürlich sind uns auch die gesundheitlichen Folgen und die Kosten für das Gesundheitssystem bekannt. Mich treibt besonders das Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen um. Sie leiden nicht nur unter den Folgeerkrankungen; sie leiden auch unter den damit verbundenen Hänseleien und Ausgrenzungen.
Vor diesem Hintergrund bin ich wirklich enttäuscht, dass sich unser Koalitionspartner nicht dazu durchringen kann, eine Regelung zu schaffen, die dafür sorgt, dass zumindest der Zuckeranteil in gesüßten Limonaden, ein Hauptdickmacher, verbindlich um 50 Prozent gesenkt werden muss. Hier reicht freiwillige Reduzierung wahrlich nicht aus.
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Heute ist Weltdiabetestag. Wenn man sich mit dieser Krankheit näher befasst, landet man ganz schnell beim Thema Zucker. Vor diesem Hintergrund haben unsere Forderungen noch einmal ein ganz anderes Gewicht. Freuen können wir uns immerhin, dass acht Vereinbarungen im Rahmen der freiwilligen Reduktionsstrategie jetzt vorliegen. Ich gehe davon aus, dass weitere folgen werden.
Die AfD fordert eine freiwillige Lebensmittelkennzeichnung. Da kann ich nur sagen: Ist doch längst erledigt. Der Nutri-Score kommt. Die Kennzeichnung befindet sich gerade im Notifizierungsverfahren. Möglicherweise haben wir mit dieser Entscheidung sogar den Grundstein für eine europäische Kennzeichnung gelegt. Wir werden als Koalitionäre auch nicht müde, bei den Ländern für mehr Ernährungsbildung in den Schulen zu werben; denn Kindern und Jugendlichen Ernährungswissen mit auf den Weg zu geben, ist gutes Rüstzeug für das spätere Leben. Davon bin ich zutiefst überzeugt.
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In diesem Zusammenhang möchte ich auch an den Ernährungsführerschein erinnern, den Kinder in der dritten und vierten Klasse erwerben können, ein Angebot, das gut ankommt und das ebenfalls ein Erfolg ist. Viele Landfrauen engagieren sich hier. Herzlichen Dank dafür.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Nationale Aktionsplan für gesunde Ernährung und Bewegung, kurz: IN FORM, sorgt mit dafür, dass die DGE-Standards für die Schulverpflegung zur Anwendung kommen. Die wirklich gute Nachricht ist, dass eine Studie zeigt, dass Schulessen nach DGE-Standards nur ein paar Cents teurer ist als die sonst üblichen Mahlzeiten. Jetzt müssen nur noch die Kommunen und die Schulleiter besser über diese Standards informiert werden. Das kann auch jeder von uns bei seinen Besuchen tun. Darum kümmern sich aber auch die Vernetzungsstellen, die wir noch mal finanziell gestärkt haben.
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Mit dem Institut für Kinderernährung und dem „1000 Tage Fenster“ nehmen wir die Ernährung unserer Jüngsten ganz gezielt in den Blick. Zudem sind mit dem Gute-KiTa-Gesetz die Handlungsfelder Ernährungsbildung und Verpflegungsqualität noch einmal verankert. Da gilt mein besonderer Dank unserer Familienministerin Franziska Giffey.
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Worüber ich mich wirklich freue, ist, dass wir uns gemeinsam mit den Tafeln um die Ernährungsbildung der überforderten Familien kümmern. Das ist genau die Zielgruppe, die wir zwingend erreichen müssen. Gemeinsam mit meiner Kollegin Frau Landgraf und dem Parlamentarischen Staatssekretär Fuchtel haben wir hier, finde ich, gute Arbeit abgeliefert.
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Ich hätte noch etwas anderes zu sagen, aber meine Redezeit rennt mir ein bisschen weg. Deswegen sage ich, dass mir wichtig war, auch mal aufzuzählen, was die Regierung, die Koalition, im Bereich gesunde Ernährung auf den Weg gebracht hat; denn da wird ja manchmal so getan, als wären wir vollkommen untätig.
Aber ich verschweige auch nicht, dass die SPD-Fraktion manches gerne anders, verbindlicher und schneller geregelt hätte. Damit komme ich auf den Anfang meiner Rede zurück. 50 Prozent weniger Zucker in gesüßten Limonaden, keine Werbung mehr für ungesunde Kinderlebensmittel und ein Verbot von Energydrinks für unter 16-Jährige – das wäre unter einer SPD-geführten Bundesregierung schon beschlossen; da bin ich mir vollkommen sicher.
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Dennoch kann sich das Erreichte sehen lassen. Kleine Schritte in die richtige Richtung sind auch ein Erfolg; da bin ich eher pragmatisch unterwegs.
Herzlichen Dank, dass Sie mir zugehört haben.
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Das Wort hat die Kollegin Carina Konrad für die FDP-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! – Was ist denn da los? Hört die Unionsfraktion nicht zu?
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– Es kommt so eine Unruhe auf. Kann es sein, dass der Wirkungstreffer der FDP immer noch nicht verschmerzt wurde? Ich sage bezugnehmend auf die Debatte von gestern vielleicht mal: Kollege Färber, Kollege Auernhammer – der gerade wegläuft –, wer Freie Demokraten in diesem Haus als Heuchler und als Populisten bezeichnet, nur um von der eigenen Konzeptlosigkeit und Hilflosigkeit in dieser Koalition abzulenken, der macht die wahren Populisten in diesem Haus stark. Und die nutzen gerade die Gunst der Stunde. Die legen heute drei Anträge vor, zwar ohne viel Inhalt, aber mit einem Ziel: Bauernfängerei.
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Die Kollegen der AfD fordern von der Bundesregierung ein Konzept, das bis Ende des Jahres ein monetäres Anreizsystem für die Landwirte schaffen soll, die den Einsatz von chemischen Pflanzenschutzmittel reduzieren. Das zeigt aber wiederum, wie wenig die AfD von praktischer Landwirtschaft versteht; denn das monetäre Anreizsystem, das finanzielle Anreizsystem, Pflanzenschutzmittel einzusparen, besteht darin, den Einsatz von Pflanzenschutzmittel zu reduzieren. Das spart direkt Geld im Geldbeutel der Landwirte. Kein Landwirt setzt Pflanzenschutzmittel ein, die nicht nötig sind. Vielmehr setzt er sie nur dort ein, wo sie gebraucht werden.
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In Ihrem Antrag ist kein Satz zur Lösung vorhanden. Sie reduzieren sich auf einzelne Mittel – dazu komme ich gleich noch –, aber Sie schreiben keinen Satz zur Lösung.
Die Böden sind die Grundlagen für die Landwirte. Sie haben kein Interesse daran, diese Böden in irgendeiner Art und Weise nachhaltig zu schädigen; denn Landwirte denken in Generationen und nicht in Legislaturperioden, wie man das hier ziemlich oft erleben kann.
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Die Landwirte brauchen dringend mehr als Lippenbekenntnisse oder die Symbolpolitik der Koalitionsfraktionen.
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– Ja, es muss mal Schluss sein mit diesem grünen Light, das hier veranstaltet wird, bei dem das Bauchgefühl überhandnimmt und Wissenschaft und Erfahrungen völlig ausgeblendet werden.
Pflanzenschutzmittel sind ein Baustein, um Pflanzen erfolgreich anzubauen und hochwertige Lebensmittel zu produzieren. Die Folgen dieser grünen Lightpolitik sind ja bereits real. Man kann sie besichtigen. Da verbieten Kommunen Glyphosat und setzen dann die 82-fache Menge hochtoxischer Pelargonsäure ein. Ist das die Zukunft?
Da hat diese Bundesregierung dem Verbot von neon-kotinoiden Wirkstoffen zugestimmt, und die Folge davon ist: Saatgut wird jetzt nicht mit einer ganz geringen Wirkstoffmenge gebeizt bzw. krustiert, stattdessen werden Landwirte dazu gezwungen, mehrfach mit der Pflanzenschutzspritze auszurücken, wenn die Insekten kommen und die Ernte bedrohen. Das ist der Erfolg dieser Politik, und das ist eine Gefahr für die Umwelt und keine Verbesserung.
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Wir gehen im Moment rückwärts und nicht vorwärts.
Die Landwirtschaft ist eine hoch innovative, eine neugierige Branche. Dort ist im Moment jede Menge in der Pipeline. Das kann man in dieser Woche auf der Agritechnica besichtigen. Aber es wird der Landwirtschaft überhaupt nicht die Chance gegeben, sich weiterzuentwickeln, nach vorne zu sehen und noch mehr zu tun. Stattdessen werden in Deutschland jeden Tag nach wie vor 60 bis 70 Hektar aus der Produktion genommen, indem man sie zubetoniert und allein die Landwirtschaft dafür verantwortlich macht, dass geringere Artenvielfalt und Insektenschwund vorherrschen. Das ist nicht ehrlich. So kann man mit den Leuten nicht umgehen. Das treibt die Leute auf die Straße.
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Wir Freien Demokraten stehen an der Seite der Landwirte. Ich würde mich freuen, wenn auch die Unionsfraktion diese Haltung einnehmen würde.
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Das Wort hat Dr. Kirsten Tackmann für die Fraktion Die Linke.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Es geht in der Debatte um Pflanzenschutz, Ernährung und Tiertransporte. Das sind unzweifelhaft Zukunftsthemen der Landwirtschaft. Aber der Versuch der AfD, sich mit den vorliegenden Anträgen einen gutbürgerlichen Heiligenschein zu verpassen, ist doch allzu durchsichtig.
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Als Linke wollen wir chemische Pflanzenschutzmittel nicht nur reduzieren, sondern minimieren. Dabei müssen wir mit den für den Menschen und für die Natur gefährlichsten Wirkstoffen beginnen. Oder besser: Solche Wirkstoffe sollten erst gar nicht zugelassen werden. Aber genau das passiert immer wieder.
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Das ist auch in der öffentlichen Anhörung zur Petition von Thomas Radetzki von der Aurelia Stiftung vor wenigen Wochen noch einmal sehr deutlich geworden. Dort wurde eine lange Liste der Lücken im Zulassungsverfahren vorgelegt. Dabei geht es nicht nur um Defizite bei Transparenz und Unabhängigkeit, sondern auch um Unvollständigkeit der Prüfung, weil zum Beispiel Langzeitstudien völlig fehlen. So kommt es immer wieder zu Fehlern. Aktuell geht es zum Beispiel um den Wirkstoff Thiacloprid. Die Zulassung dieses Pestizidwirkstoffes kann Schäden bei ungeborenen Kindern sowie an Tieren und Umwelt verursachen. Trotzdem war Thiacloprid bis 2017 zugelassen. Weil die Neubewertung nicht rechtzeitig vorgelegen hat, ist dieses Pestizid sogar bis April 2020 weiter zugelassen. Ich finde, so geht das nicht.
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Chlorpyrifos ist ein anderer Pestizidwirkstoff. Er wurde 2006 zugelassen aufgrund von fehlerhaften Studien, wie wir heute wissen, und obwohl es seit 2011 Hinweise gab, dass er Gehirnschädigungen beim Menschen auslösen kann. Das wurde übrigens im August 2019 von der EFSA, der zuständigen Lebensmittelsicherheitsbehörde, bestätigt. Die Zulassung läuft trotzdem erst im Januar 2020 aus.
Also: Ohne Verbesserung des EU-Zulassungsverfahrens werden höchstens Symptome gelindert. Als Linke wollen wir aber die Ursachen beseitigen.
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Außerdem darf es nicht nur um den Ersatz von Wirkstoffen gehen, sondern auch um vorbeugende Konzepte, zum Beispiel um Anbausysteme, in denen sich unterschiedliche Anbaukulturen gegenseitig stärken und schützen. Gute Böden sind wichtig. Auch Pflanzenstärkungsmittel sind ein wichtiges Thema; denn auch bei Pflanzen gilt: Defizite befördern Erkrankungen. Auch die Digitalisierung kann hier sinnvoll helfen, wenn zum Beispiel Pflanzenerkrankungen frühzeitig erkannt werden und kleinräumig bekämpft werden oder Beikräuter mit modularen Maschinensystemen mechanisch bekämpft werden.
Ja, die Umstellung zu einer anderen Landwirtschaft ist nicht einfach, aber die Zeit der Ausreden muss jetzt vorbei sein.
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Auch bei Tiertransporten darf es nicht länger um Kosmetik gehen, und zwar im Interesse der Tiere, aber auch zur Unterstützung der Vollzugsbehörden. Welches Veterinäramt kann schon sicherstellen, dass bis zu den EU-Außengrenzen und darüber hinaus die EU-Tierschutzbestimmungen eingehalten werden? Aber genau das fordert ein aktuelles Urteil des Europäischen Gerichtshofs. Und als Tierärztin frage ich mich: Wieso müssen lebende Tiere überhaupt so lange transportiert werden, statt Schlachtkörper, Spermien oder Eizellen zu transportieren?
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Als Linke denke ich gleichzeitig an die prekären Arbeitsbedingungen der Fahrerinnen und Fahrer bei solch langen Transporten. Deswegen sage ich ganz klar: Das ist weder sozial noch ökologisch sinnvoll und muss beendet werden.
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Aber auch in unserem Land müssen Tiere immer länger transportiert werden, weil es immer weniger, dafür immer größere Schlachthöfe gibt. Ich finde diese Entwicklung vollkommen absurd. Deswegen sagen wir Linke: Wir wollen nicht nur Symptome lindern, sondern das System und die strukturellen Ursachen beseitigen.
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Dazu tragen regionale Kreisläufe bei, gerade bei der Tierhaltung. Natürlich dürfen Erzeugerpreise keine Almosen von großen Schlachthofkonzernen oder Lebensmittelkonzernen sein. Um fairen Handeln geht es auch direkt vor unserer eigenen Haustür, und zwar im Interesse von Mensch, Natur und Tier.
Vielen Dank.
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Das Wort hat die Kollegin Renate Künast für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kirsten Tackmann, meine Vorrednerin, hat über die AfD, über deren Anträge wir hier diskutieren, gesagt: Sie versucht nur, sich ein gutbürgerliches Image zu geben.- Ich wollte eigentlich an dieser Stelle mit Ihrem Lieblingsthema, dem Wolf, antworten.
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– Sagen Sie einmal den gleichen Satz außerhalb des Plenums, dann meldet sich der Anwalt bei Ihnen wegen einer Gegendarstellung und einer Unterlassungserklärung.
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Eigentlich wollte ich über Ihr Lieblingsthema reden. Das heißt, dass Sie wieder einmal als Wolf im Schafspelz daherkommen, meine Damen und Herren. Sie haben quasi aufgeschrieben, was überall schon steht, ohne etwas ganz konkret vorzulegen. Ich glaube, dass wir uns einer Sache an dieser Stelle bewusst sein müssen, nämlich dass beim Thema „Agrarwirtschaft, Landwirtschaft und Ernährung“ die Luft brennt. Die Bauern und Bäuerinnen gehen immer öfter auf die Straße – heute wieder in Hamburg –, die Unruhe ist groß. Aber auch die Städterinnen und Städter gehen auf die Straße. Beide fragen nach ihrer Zukunft.
Die Bauern fragen: Was ist mit meinem Betrieb? Wohin geht die Reise? Sie stellen grüne Kreuze auf. Sie haben Wut über den Kampf mit der Bürokratie. Aber ich glaube, das ist gar nicht der Kern. Die Frage ist, ob Bauernfamilien in diesem Land eine Vorstellung davon haben, wohin die Gelder gehen und wo ungefähr ihre Zukunft ist. Das betrifft die Leute.
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Die Städter fragen sich: Was ist mit unserer Ernährung? Sie wissen um die Verantwortung für das, was auf dem Land passiert, und zwar in jeder Hinsicht: betrieblich, für die Umwelt, den Boden, das Wasser, die Luft, die Artenvielfalt. Sie sagen: Wir wollen gute und gesunde Lebensmittel. – Sie wollen eher Lebensmittel vom Bauern als die hochverarbeiteten Lebensmittel einer internationalen Lebensmittelindustrie. Unsere Aufgabe ist es, beides zusammenzubringen.
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Alles andere nützt den Bauern gar nichts. Wir sollten die Landwirtschaft an der Stelle nicht alleinlassen, sondern sagen: Wir müssen klar die Wahrheit sagen. Wir dürfen niemanden hinter die Fichte führen, sondern müssen ernsthaft miteinander über Lösungen reden, meine Damen und Herren.
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Ich muss an der Stelle allerdings auch sagen: Wenn einige demonstrieren, wie vergangenen Sonntag passiert, und dabei Redakteure von Zeitungen heimsuchen und noch vor der Haustür sitzen bleiben, wenn der Journalist schon bei der Arbeit ist und Frau und Kinder Angst haben, dann ist das nicht in Ordnung. Das ist keine politische Debatte.
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Man muss auch einer Kommunalpolitikerin keinen Mist vor die Haustür werfen oder eine Petition machen und die Entlassung einer Agrarredakteurin beim Bayerischen Rundfunk fordern, weil einem der Bericht nicht passte. Lassen Sie uns alle miteinander über Lösungen reden.
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Ich verstehe ja, dass man unruhig ist, weil nichts passiert, und zwar in allen Punkten. Bei der Tierwohlkennzeichnung weiß keiner, was kommt. Jetzt hat der Handel die erste Stufe der Initiative „Tierwohl“ verlängert. Was ist das? Das sind quasi Ausnahmeregelungen des Tierschutzgesetzes. Kein Mensch weiß, wie lange sie noch gelten. Das entscheiden die Gerichte. Die Ministerin hat Werbemittel in Höhe von 70 Millionen Euro, aber kein Konzept, wie man Qualität am Markt verkauft, wie man Tierschutz verkauft. Das wäre gut für die Bauern und Städterinnen und Städter, die einkaufen.
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Kükenschreddern sollte doch zu Ende sein. Nichts ist passiert. Glyphosat – wo ist die Ausstiegsstrategie? Man verweist darauf, dass es möglicherweise in Europa keine Verlängerung der Einsatzerlaubnis mehr geben wird. Der Chef vom Bundesamt für Verbraucherschutz, der bisher in der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln geübt ist, soll sich nicht um das Management des Verbraucherschutzes kümmern.
Ich sage Ihnen: Wir brauchen eine ganz andere Diskussion. Wir brauchen die guten Produkte der Bauern, wir brauchen sowohl Produktqualität als auch Prozessqualität. Wir brauchen Preise, die Absatzmöglichkeiten mitten in Europa und in Deutschland schaffen.
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Kollegin Künast, achten Sie auf die Zeit?
Wir brauchen eine Agrarreform in Europa und in Deutschland. Wir brauchen ein Konzept für die Tierhaltung der Zukunft. Darüber müssen wir diskutieren. Es geht nicht darum, die Emotionen von irgendjemandem hochzuschaukeln. Emotionen haben wir alle selber genug.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat die Kollegin Ingrid Pahlmann das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Darüber, wer hier Emotionen hochschaukelt, Frau Künast, müssen wir reden.
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Ich denke, wir produzieren momentan die besten, sichersten und günstigsten Lebensmittel überhaupt.
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Wir debattieren heute über drei Anträge der AfD-Fraktion. Es geht um Pflanzenschutzmittel und um Tiertransporte. Ich werde mich mit dem Antrag zur gesunden Ernährung befassen.
Der Antrag enthält Forderungen wie eine erweiterte Nährwertkennzeichnung und hochwertige Essensversorgung in Schulen und Kitas. Über diesen Antrag haben wir Ende September im Agrarausschuss schon einmal debattiert, und es kam die Kritik auf, dass vieles, was im Antrag gefordert wird, schon längst auf den Weg gebracht wurde. Sie werden sich vielleicht wundern: Diese Kritik kam nicht etwa aus unseren Reihen, nein, sie kam von einer Kollegin der Linksfraktion. Nun mag man vieles über Die Linke sagen, aber ihr zu unterstellen, dass sie unsere Koalition ohne Grund lobt, das geht wirklich nicht.
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Aber die Kollegin hatte recht: Die Koalition hat im Bereich Ernährungspolitik bereits einiges umgesetzt, auch wenn unser Koalitionspartner das vielleicht manchmal anders sieht. Wir hätten auch gerne oftmals etwas anders gestaltet, stellen das aber nicht unbedingt hier im Plenum zur Schau; so viel zu unserem Koalitionspartner.
Wir haben die Nationale Innovations- und Reduktionsstrategie für Zucker, Fette und Salz in Fertigprodukten auf den Weg gebracht. Der Anteil an Fertigprodukten steigt, sie sind voll im Trend, und deshalb ist es wichtig, in diesem Bereich in Zusammenarbeit mit der Ernährungswirtschaft zu Verbesserungen bei den Inhaltsstoffen zu kommen.
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Ein Schwerpunkt der Strategie liegt hierbei bei Produkten für Kinder. Dazu gehört zum Beispiel auch das Verbot von Zucker in Säuglings- und Kindertees.
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Die Umsetzung dieser Strategie wird von einem wissensbasierten Produktmonitoring umfassend flankiert. Erste Ergebnisse hierzu werden im März 2020 vorliegen.
Dann werden im Antrag gesunde Mahlzeiten in Schule und Kita gefordert. Im Gute-KiTa-Gesetz haben wir die Stärkung der Ernährungsbildung im Vorschulbereich und die Verpflegungsqualität als einen Baustein mit aufgenommen. Dann gibt es das Schulprogramm der Europäischen Union. Im Rahmen dessen werden bereits seit vielen Jahren frisches Obst, Gemüse, Milch und Milchprodukte kostenlos oder stark vergünstigt an die Schulen abgegeben. Die Verantwortlichen in den Kommunen haben dazu die regionalen Anbieter schon längst ins Boot geholt und achten weiterhin aus eigenem Antrieb darauf, Caterer, die frisch, gesund und ausgewogen kochen, zu verpflichten. Ich bin selbst noch kommunalpolitisch tätig und kann Ihnen versichern, dass wir großen Wert auf eine gute Schulverpflegung legen. Dazu brauchen wir keinen Antrag der AfD.
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Zur Lebensmittelkennzeichnung. Auch hier kommt der Antrag zu spät. Die erweiterte Lebensmittelkennzeichnung, wie im Koalitionsvertrag festgelegt, ist bereits in der Pipeline und wird in Kürze eingeführt. Damit bekommen die Verbraucher mithilfe eines farbigen Logos, dem Nutri-Score, eine schnelle und leicht verständliche Orientierung über die Zusammensetzung vieler Lebensmittel; momentan nur auf freiwilliger Basis, aber unsere Bundesministerin Julia Klöckner setzt sich für ein EU-weit einheitliches System ein, und wir unterstützen sie dabei.
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Aber ich sage: Der Nutri-Score ist nur eine vereinfachte Richtlinie. Uns ist bewusst, dass Ernährungsbildung und ‑aufklärung für erwachsene Konsumenten einen weitaus höheren Stellenwert bekommen muss. Denn eines ist auch klar: Um die Ernährungskompetenz von Kindern und Jugendlichen zu fördern, können wir uns nicht nur auf Schulen und Kitas beschränken. Kinder und Jugendliche lernen von uns Erwachsenen, und damit sind in erster Linie die Eltern gefragt, mit gutem Beispiel voranzugehen.
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Die stärkste Prägung in Sachen Ernährung geht nun mal von der Familie aus. Deswegen gibt es viele weitere aus Bundesmitteln finanzierte Projekte für alle Lebensphasen. Als Beispiel nenne ich das Projekt IN FORM. Das ist längst etabliert und seit Jahren auf dem Markt. Auch hier greift der AfD-Antrag mal wieder viel zu kurz.
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Das einzig Gute an dem AfD-Antrag zur Ernährungsbildung ist die Möglichkeit, öffentlich über das wichtige Thema Ernährung zu sprechen, inhaltlich können wir dem schwachen Antrag der AfD aber beileibe nicht zustimmen.
Vielen Dank.
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Das Wort hat die Kollegin Isabel Mackensen für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Zuschauerinnen! Liebe Zuschauer! Ich komme aus Rheinland-Pfalz, aus der Vorderpfalz. Ich bin zwar kein Bauernkind, aber mit der Landwirtschaft, genauer: mit dem Weinbau, aufgewachsen. Es heißt zwar immer, es gebe nur noch Großbetriebe, doch ich kann Ihnen sagen: Bei mir in der Heimat gibt es noch die Bandbreite an kleinen landwirtschaftlichen Betrieben, und gerade diese zu unterstützen, ist das Ziel der SPD-Bundestagsfraktion:
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die Gemüsebauern, die den Pfalzmarkt beliefern, die Zuckerrübenbauern, die die regionale Zuckerproduktion ermöglichen, die Obstbauern mit den Apfelbäumen, vor allem aber die Winzer, die uns mit ihrem herrlichen Rebensaft versorgen.
Die Bedeutung der Landwirtschaft als Branche brauche ich Ihnen nicht zu erläutern. Sie versorgt uns tagtäglich mit qualitativ hochwertigen Lebensmitteln. In welchem Ausmaß der chemische Pflanzenschutz in Zukunft notwendig ist, muss in der Gesellschaft diskutiert werden, und das selbstverständlich mit der Landwirtschaft auf Augenhöhe. Dabei müssen die Bewirtschaftungsmaßnahmen des integrierten Pflanzenschutzes vermehrt Aufmerksamkeit bekommen und die Erkenntnisse aus dem Ökolandbau genutzt werden bis hin zum zielgenauen und sehr dosierten Einsatz von Pflanzenschutzmitteln, um Kulturpflanzen zu schützen. Bei mir zu Hause beispielsweise wird der Einsatz von Drohnen im Weinbau erprobt.
Es besteht Handlungsbedarf; denn das Insektensterben hat ein drastisches Ausmaß angenommen, was die Studie der TU München erst kürzlich bestätigt hat. Die Ursachen sind multifaktoriell. Deshalb müssen die Lösungen genauso vielfältig sein.
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Im derzeit erarbeiteten Aktionsprogramm Insektenschutz der Bundesregierung werden neben der Landwirtschaft unter anderem auch Bereiche wie Siedlungsentwicklung, Lichtverschmutzung und die Verkehrsinfrastruktur adressiert. Als größter Landnutzer trägt die Landwirtschaft einen wesentlichen Beitrag zum Insektenschwund bei, und daher können die vorhandenen Probleme nur gemeinsam mit den Landwirtinnen und Landwirten gelöst werden.
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Die vorliegenden Anträge zur Reduzierung von chemischen Pflanzenschutzmitteln und zum Verbot von Tierexporten aus Deutschland greifen zu kurz. Beim Antrag zu den Tiertransporten werden keine Lösungen der praktischen Probleme aufgezeigt. Wir sollten die deutsche EU-Ratspräsidentschaft im nächsten Jahr nutzen, um die europäische Tiertransportverordnung zu überarbeiten. Generell muss das Ziel sein, Tiertransporte weitgehend zu vermeiden, zu züchterischen Zwecken jedoch können Spermien, Embryos oder befruchtete Eier transportiert werden.
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Die im Antrag enthaltenen Vorschläge zum Pflanzenschutz sind überholt; denn das kommende Aktionsprogramm Insektenschutz und die aktuell erarbeitete Ackerbaustrategie sind die Grundlage für die Reduzierung von chemischen Pflanzenschutzmitteln.
Wir können die Sorge der Landwirtinnen und Landwirte wegen der bevorstehenden Veränderungen in der Landwirtschaft durch das eben erwähnte Insektenschutzprogramm, die Anpassung der Düngeverordnung und das Klimaschutzpaket nachvollziehen. Die Herausforderungen, mit denen wir alle konfrontiert sind, sind nicht plötzlich aufgetreten. Der Rucksack, der jetzt auf den Schultern der Landwirte sitzt, hat sich über die Jahre immer praller gefüllt. Der Druck steigt und führt zu Verunsicherungen. Dafür haben wir absolut Verständnis. Aber die Landwirtinnen und Landwirte sollten auch einmal hinterfragen, ob ihre Interessenvertretung auch wirklich ihre Interessen, die aller Landwirtinnen und Landwirte, vertritt.
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Die Landwirtschaft in Deutschland ist heterogen. Daher ist eine differenzierte Sicht der Dinge notwendig. Das ist nur im Dialog möglich. So wird es schon nächste Woche einen runden Tisch der Bundesregierung zum Insektenschutzprogramm geben, bei dem gemeinsam mit den Interessenvertretern der Branche die genaue Umsetzung erarbeitet wird.
Vielen Dank.
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Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, ich bitte um Aufmerksamkeit für den letzten Redner in dieser Debatte, den Kollegen Dieter Stier für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Protschka, zunächst freue ich mich sehr, dass die Kolleginnen und Kollegen der AfD nun auch das Thema Landwirtschaft für sich entdeckt haben und damit ihren thematischen Fokus etwas breiter aufstellen wollen.
Wir alle wissen, wie kontrovers zurzeit über die grundsätzliche Ausrichtung unserer Landwirtschaft gestritten wird. Jeder ernstgemeinte Beitrag ist daher durchaus willkommen. Aber sehen wir uns Ihre Kernforderungen einmal an: erstens Pflanzenschutzmittel reduzieren, zweitens gesundheitsbewusste Ernährung fördern, drittens Tierexporte verbieten. Das klingt beim ersten Lesen wie ein recht alter Antrag der Grünen.
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Das hat mich dann doch überrascht.
Beispiel Pflanzenschutzmittel – wenn ich jetzt einmal zu den Einzelheiten kommen darf –: Die dringende Notwendigkeit einer Reduzierung, meine Damen und Herren, wird heute wohl von niemandem mehr ernsthaft bestritten. Aber – und darauf kommt es an – eine Landwirtschaft ohne Glyphosatwirkstoffe ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht praktikabel; denn alle verfügbaren Wirkstoffe sind mit einem vielfach höheren Risiko verbunden. Das ist eine Tatsache, die Sie bewusst außen vor lassen und die bei Ihnen gegenwärtig nicht vorkommt.
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Im Gegensatz zu Ihrem Antrag, meine Damen und Herren, sprechen Sie sich in Ihrem eigenen Bundesprogramm für ein Totalverbot von Glyphosat aus. Jetzt frage ich Sie heute einmal: Was gilt denn nun eigentlich? Ihr Antrag – dort wollen Sie das nämlich nur sehr eingeschränkt – oder Ihr Bundesprogramm? Woher kommt denn diese plötzliche 180-Grad-Wende?
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Eine echte Lösung für unsere Landwirte, die heute praktikabel ist, bleiben Sie leider schuldig. Leider! Doch genau die brauchen wir, wenn es auch morgen noch Landwirtschaft in Deutschland geben soll. Und dass es sie morgen noch gibt, das wollen wir zumindest, und dafür setzen wir uns auch in dieser Koalition ein.
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Um die Glyphosatproblematik wirksam anzugehen, erarbeitet das Bundeslandwirtschaftsministerium – Herr Staatssekretär Fuchtel sitzt hier – bereits sehr gründlich eine Ackerbaustrategie. Und hier setzt unsere Lösung an: Ergebnis dieser Ackerbaustrategie wird eine erkennbare Reduzierung des Pflanzenschutzmitteleinsatzes sein.
Im Übrigen – auch das dürfen wir nicht ausblenden – sind bereits drei Neonikotinoide EU-weit verboten worden. Das dürfte Ihnen allen bekannt sein. Ich will es der Vollständigkeit halber hier dennoch erwähnt haben.
Außerdem hat sich die Bundesregierung im Aktionsprogramm Insektenschutz für das Ende des Glyphosateinsatzes bis 2023 ausgesprochen. Damit ist klar: Wir haben bereits gehandelt, meine Damen und Herren, und weitere Verbesserungen werden folgen.
Lassen Sie mich abschließend noch auf Ihre Idee des Verbots von Tierexporten in Nicht-EU-Länder eingehen. Sie wollen ein Verbot, wenn Tierschutzstandards im Ausland nicht eingehalten werden. Dramatische Bilder und einschlägige Berichte aus Gebieten außerhalb der EU belegen Handlungsbedarf. Richtig ist: Wer gegen EU-Tiertransportvorgaben verstößt, muss Sanktionen zu spüren bekommen. Das sehe ich ganz genauso.
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Der Vorwurf der Tatenlosigkeit geht ins Leere.
Um die Situation zu verbessern, hat die Ministerin schon eingelenkt. Um Veterinären künftig bessere Entscheidungsbedingungen zu bieten, wurde mit den Agrarministern der Länder die Schaffung einer speziellen Datenbank vereinbart. Informationen über Transportrouten werden künftig Grundlage sein, ob ein Tiertransport in Drittstaaten genehmigt oder untersagt wird. Das ist ein guter Ansatz, den bisher verbliebenen Defiziten entschieden entgegenzutreten, meine Damen und Herren. Wir werden auch weiter dafür eintreten, die Wirksamkeit der Länderkontrollen durch den Bund zu erhöhen.
Wie Sie sehen, haben wir vielen der aufgeschriebenen Dinge schon Rechnung getragen. Deshalb sind Ihre Anträge entbehrlich, und wir werden sie selbstverständlich heute ablehnen.
Vielen Dank.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Antrag wollen wir die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung des freien, offenen und sicheren Internets richten. Zeitlicher Anlass ist das Internet Governance Forum der Vereinten Nationen, kurz IGF, das in diesem Jahr vom 25. bis zum 29. November in Berlin stattfindet. Das IGF findet unter dem Motto „One World. One Net. One Vision.“ statt. Daher auch der Titel unseres Koalitionsantrags. Erstmalig findet das IGF in Berlin statt. Das ist ein großer Erfolg, und dafür haben sich die Digitalpolitiker der Union und der damalige Kanzleramtschef Peter Altmaier in der letzten Legislatur besonders eingesetzt.
Meine Damen und Herren, bei einigen Staaten beobachten wir mit Sorge, dass es Tendenzen zur Fragmentierung des Internets gibt, Tendenzen zur Schaffung von nationalen Intranets oder regional geschlossenen Systemen.
Das neue Internetgesetz, das Anfang dieses Monats in Russland in Kraft trat, ist jüngster Ausdruck davon und dient unserer Auffassung nach dem Ziel, das Netz vollständig unter staatliche Kontrolle zu bekommen. Und das erfüllt uns mit Sorge.
Oder blicken wir nach China. Freier Netzzugang existiert hier nicht mehr. Internetzensur findet aus verschiedenen Gründen statt. Zum einen werden Informationen über ausländische, westliche Ideen begrenzt. Zum anderen dient die Kontrolle dem Wirtschaftsprotektionismus in China. Der Zugang zu bestimmten Webseiten ist nur über einen VPN-Tunnel möglich.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, blicken wir in die Türkei. Internetzensur ist auch hier an der Tagesordnung. Im August 2019 hat ein Gericht die Sperrung von mehr als 130 Webseiten von Oppositionellen aus Politik, Medien und Kunst angeordnet. Zusätzlich wurde eine neue Regelung zur Kontrolle von Internetplattformen eingeführt, die Filme, Videos und Radioinhalte verbreiten. Wikipedia ist seit mehr als zwei Jahren in der Türkei nicht mehr aufrufbar.
Das sind Tendenzen, denen wir als Deutscher Bundestag und im Rahmen des IGFs klar entgegentreten.
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Meine Damen und Herren, auch die Bestrebungen einiger Akteure, Entscheidungen stärker in staatlich dominierte Gremien wie die ITU, also die International Telecommunications Union, zu verlagern, sehen wir kritisch. Einzelne Regierungen rücken dort Themen wie die Kontrolle von Inhalten und Einschränkungen des freien Datenflusses in den Vordergrund und wollen ihre Version eines abgeschotteten und zensierten Netzes etablieren. Dem stellen wir unsere Version eines offenen Netzes entgegen. Dabei setzen wir auf einen Multi-Stakeholder-Ansatz, um einen gleichberechtigten und konstruktiven Dialog zwischen Interessenvertretern aus Staaten, internationalen Organisationen, der Wirtschaft, der Wissenschaft, der technischen Community und der Zivilgesellschaft zu ermöglichen.
Das IGF ist jene offene Diskussionsplattform der Vereinten Nationen zu zentralen rechtlichen, politischen, sozialen und technischen Fragen des Internets.
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Der Multi-Stakeholder-Ansatz bringt dabei alle relevanten Gesellschaftsgruppen an einen Tisch, insbesondere auch bislang unterrepräsentierte Vertreter aus Entwicklungs- und Schwellenländern.
Auf rein parlamentarischer Ebene wirkt so beispielsweise auch die Parlamentarische Versammlung der OSZE, in der einige Kollegen dieses Hauses aktiv mitarbeiten. Dieses Gremium hat jüngst einen eigenen Berichterstatter für die Digitale Agenda benannt. Das Thema „Digitalisierung und freies Internet“ rückt also auch bei diesem multilateralen Gremium in den Fokus.
Meine Damen und Herren, seit nun fast 15 Jahren existiert mit dem IGF ein Forum der Verständigung, in dem global über die politischen Herausforderungen des Internets diskutiert wird. Das IGF kann globale politische Konflikte auf dem Feld des Internet Governance vielleicht nicht lösen, aber es kann, befreit von Entscheidungszwängen, dazu beitragen, ein gemeinsames Verständnis der Konflikte zu gewinnen und Lösungsansätze dafür zu entwickeln; und das ist der Wert an sich, auch wenn die Empfehlungen des IGFs unverbindlich sind.
Auch der Deutsche Bundestag wird sich am IGF beteiligen. Am Tag Zero wird ein Parlamentariertreffen stattfinden, zu dem Parlamentarier aus der ganzen Welt, die am IGF teilnehmen, eingeladen sind. Am letzten Tag wird der Deutsche Bundestag auf einem abschließenden Parlamentariertreffen die Vorschläge und Empfehlungen des IGFs 2019 in Empfang nehmen und diese im Anschluss an das Ausrichterland des IGFs 2020, an Polen, übergeben.
Vielen Dank an die Kollegen aus der Arbeitsgruppe Wirtschaft für die Zusammenarbeit, insbesondere aber auch an Ronja Kemmer, die dieses Thema als Berichterstatterin im Ausschuss Digitale Agenda betreut. Mein Kollege Hansjörg Durz, der Mitglied beider Ausschüsse ist, wird noch zu uns sprechen. Auch ihm sei gedankt für diesen Antrag wie auch unserem Koalitionspartner, der Treiber bei diesem Antrag war.
Ich freue mich auf das IGF und spreche nochmals eine herzliche Einladung an die Kolleginnen und Kollegen aus, sich zahlreich an diesem Forum zu beteiligen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat die Abgeordnete Joana Cotar für die AfD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Ende November tagt das Internet Governance Forum in Berlin. Netzexperten aus der ganzen Welt werden zusammen über politische, rechtliche und technische Fragen des Internets diskutieren – eine tolle Sache, die der Ausschuss Digitale Agenda aktiv begleitet.
CDU/CSU und SPD nutzen dieses Ereignis nun für einen Antrag, der da lautet: „… Internet Governance Forum für ein offenes und freies globales Netz“. Sie verzeihen, dass ich schon beim Titel lachen muss, werte Kollegen von der Koalition. Ausgerechnet Sie, die Parteien, die in den letzten Jahren mit Hingabe die Bekämpfung der Freiheit im Internet vorangetrieben haben, ausgerechnet Sie fordern jetzt ein freies und globales Netz. So viel Chuzpe muss man erst mal haben!
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Ausgerechnet Sie, die Erfinder des NetzDGs und Durchpeitscher der Uploadfilter, reden davon, das freie Internet erhalten zu wollen. Wie dreist kann man eigentlich sein?
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Sie stellen hier Schaufensteranträge, die toll klingen, die den Bürgern weismachen sollen: „Schaut, wir kümmern uns um euch, wir kämpfen für die Freiheit“, und in Wirklichkeit tun Sie das genaue Gegenteil.
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Beispiel Netzwerkdurchsetzungsgesetz: ein in weiten Teilen verfassungswidriges Gesetz, das wie kein anderes die Meinungsfreiheit im Internet einschränkt. Um nicht gesperrt zu werden und die Löschung des eigenen Profils zu riskieren, schreiben viele Menschen nicht mehr das, was sie denken.
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Die Studien der letzten Zeit zeigen es: Die Mehrheit der Deutschen fühlt sich in ihrer Meinungsfreiheit eingeengt, bei bestimmten Themen müsse man vorsichtig sein, was man sagt. – Nie im Leben hätte ich gedacht, dass es in einem freien und demokratischen Land wie Deutschland wieder einmal so weit kommen kann.
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Wir haben letzte Woche 30 Jahre Mauerfall gefeiert. Anstatt aus der Geschichte zu lernen, feiern in Deutschland das Denunziantentum und die Zensur Wiederauferstehung.
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Aber wissen Sie was, einigen diente Ihr fabelhaftes Gesetz tatsächlich als Vorlage: Autoritäre Regime wie Venezuela, Vietnam, Belarus, Russland oder Honduras, sie haben das NetzDG kopiert und nutzen es als Tarnung für die Zensur und Unterdrückung ihrer eigenen Bürger. „Herzlichen Glückwunsch“, kann man da nur sagen! Wir haben einen neuen Exportschlager. Ich hoffe, Sie sind stolz darauf.
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Wir von der AfD haben bereits im Dezember 2017 einen Gesetzentwurf zur Aufhebung des NetzDGs vorgelegt. Er wurde jetzt zum fünften Mal von der Tagesordnung des Ausschusses gestrichen, nachdem er bereits 2018 zigmal abgesetzt wurde.
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Sie wollen sich damit nicht beschäftigen, weil Ihnen die jetzige Beschneidung der Meinungsfreiheit noch nicht weit genug geht. Sie arbeiten bereits an einer Verschärfung des NetzDGs. Gummiparagrafen sollen dann jeden notwendigen Spielraum bieten, um missliebige Meinungsäußerungen zu bestrafen.
Wissen Sie, wann mir der Begriff „Hetze“ zum ersten Mal begegnet ist? Mein Vater wurde in Rumänien unter der Herrschaft von Ceausescu zu zwölf Jahren Haft verurteilt – angeblich, weil er gegen den Staat gehetzt hat. Merken Sie etwas, meine Damen und Herren? Merken Sie, was passiert, wenn die Politik bestimmt, was Hetze ist?
Auch im neuen UN-Bericht des Beauftragten für Meinungsfreiheit taucht das NetzDG wieder auf – als Negativbeispiel. Es sei unscharf formuliert und führe zu Overblocking. Der damit verbundene Handlungsdruck führt automatisch zum Einsatz von Uploadfiltern, Technologien, die Inhalte sperren, noch bevor sie auf den Plattformen landen.
Und da sind wir beim zweiten Thema: Uploadfilter. Vor der Abstimmung auf EU-Ebene haben sich Internetpioniere wie der Erfinder des World Wide Web, Tim Berners-Lee, öffentlich an die EU-Abgeordneten gewandt. Uploadfilter würden aus dem offenen und freien Internet „ein Werkzeug für die automatisierte Überwachung und Kontrolle der Nutzer machen“. Plattformen würden gezwungen, eine „Infrastruktur für die Überwachung und Zensur tief in ihre Netze einzubetten“. Das hat Sie nicht interessiert. Der Haupttreiber der Uploadfilter auf EU-Ebene war Axel Voss, CDU-Mitglied; Katarina Barley von der SPD hat zugestimmt. Und Sie beschweren sich in Ihrem Antrag jetzt tatsächlich darüber, dass das offene und freie Netz weltweit bedroht ist? – Stimmt, auch durch Sie, liebe Vertreter der Regierungsparteien!
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Da müssen Sie nicht mit dem Finger auf Russland oder China zeigen; es zeigen drei Finger auf sie zurück.
Ihr jetziger Antrag wirkt auf mich wie blanker Hohn. Dass die Regierungsparteien jetzt auch noch von der Regierung, also Ihren eigenen Leuten, einen schnellen Internetausbau fordern – plus 24 weitere Forderungen –, weil die Regierung, also Ihre eigenen Leute, seit Jahren in Sachen Digitalisierung ihre Hausaufgaben nicht macht, rundet das Absurde für mich ab.
Der FDP-Antrag geht dagegen in die richtige Richtung: Wahrung der Meinungsfreiheit, Ende-zu-Ende-Verschlüsselung, keine Nachschlüssel für Internetprotokolle, keine Backdoors oder Zero-Day-Exploits. Das hat die AfD bereits im Mai dieses Jahres in ihrem Antrag „Freiheit im Internet – Bürgerrechte stärken" gefordert.
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Schön, dass wir uns da einig sind, liebe Kollegen.
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Die Koalition sollte dagegen im Duden den Begriff „Freiheit“ noch einmal nachschlagen. Vielleicht hilft Ihnen auch ein Zitat von Nestroy:
Die Zensur ist das lebendige Geständnis der Großen, daß sie nur verdummte Sklaven …, aber keine freien Völker regieren können.
Vielen Dank.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am vergangenen Wochenende haben wir hier in Berlin gefeiert, dass die Mauer eingerissen wurde. Wir wollen auch ein globales Internet ohne Mauern.
Da muss ich mich doch gleich mal zu Beginn zu den Kolleginnen und Kollegen von der AfD herüberlehnen. Sind es denn nicht Sie, die mit Besuchen bei Herrn Assad in Syrien und auf der besetzten Krim immer wieder klarmachen, was Sie von Freiheit, von Ländern und von Akteuren halten, die diese Freiheit auch im Internet mit Füßen treten?
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Es war verräterisch, meine Damen und Herren, was Sie da eben von sich gegeben haben.
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In zwei Wochen findet hier bei uns in Berlin eine Konferenz der Vereinten Nationen statt, das Internet Governance Forum. Im 70. Jahr des Bestehens des Grundgesetzes sind wir alle stolz auf unsere Verfassung. Die Stärke dieser Verfassung ist die Rechtsstaatlichkeit und das Bekenntnis zu fundamentalen Grundprinzipien der Demokratie. Der Erhalt eines offenen und freien Netzes ist ein wesentlicher Bestandteil des Internet Governance Forums. Wir als SPD-Fraktion sagen ganz klar: Wir wollen dieses freie Internet erhalten, meine Damen und Herren.
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Ich kann alle Kolleginnen und Kollegen nur einladen, an dieser Konferenz teilzunehmen. Das ist ein spannendes Format. Wir waren im vergangenen Jahr mit dem Ausschuss in Paris und haben dort teilgenommen. Es ist wirklich ein Format, an dem alle gesellschaftlichen Gruppen teilnehmen,
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wo wir als Parlamentarierinnen und Parlamentarier genauso Rederecht haben wie andere gesellschaftliche Gruppen.
Ich glaube, wir haben eine gute Chance, drei wichtige Themen zu setzen: Wir müssen unsere europäischen Werte in diesem weltweiten Format vertreten. Wir müssen auch unsere Rolle als Gastgeber gut ausrichten. Wir müssen auch dafür sorgen, dass der Austausch zwischen den Parlamentarierinnen und Parlamentariern besser wird. Das haben wir beim letzten Mal in Paris erlebt.
Deswegen freue ich mich sehr, dass es in diesem Jahr explizit ein Zusammenkommen aller teilnehmenden Kolleginnen und Kollegen aus aller Welt geben wird. Dafür möchte ich insbesondere auch Jimmy Schulz, unserem Ausschussvorsitzenden, sehr herzlich danken, der sehr viel Herzblut in diese Sache hineingesteckt hat.
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Natürlich möchte ich ebenso dem Präsidium des Deutschen Bundestages danken, das dies finanziell ermöglicht, und auch der Bundesregierung und dem Haushaltsgesetzgeber für die Finanzierung des IGF. Das ist nicht selbstverständlich.
Man muss einfach noch einmal klar sagen: Wir alle nehmen es für selbstverständlich, dass wir ein freies Internet haben. Aber schauen wir in andere Länder. Ob es die große chinesische digitale Firewall ist oder ob es das ist, was wir jetzt aus Russland hören, ein Internet, das eben keins mehr sein wird, das komplett abgehängt wird: Das sind Entwicklungen, die uns Sorgen machen müssen. Diesem digitalen Autoritarismus werden wir uns entgegenstellen. Dafür werden wir auch das Internet Governance Forum nutzen, meine Damen und Herren.
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Es ist richtig und wichtig, dass Deutschland das IGF 2019 als Chance nutzt. Wir haben mit dem Antrag, den wir jetzt diskutieren, für uns als Koalition ein digitalpolitisches Pflichtenheft vorgelegt. Das ist auch immer wieder wichtig. Wir wollen Digitalisierung auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene gestalten. Unser Ziel ist und bleibt ein freies und offenes Netz. Wir werden Maßnahmen gegen eine Fragmentierung des Internets ergreifen.
Herr Kollege Zimmermann, Sie müssen zum Schluss kommen.
Wir bauen – das ist der Geist der Vereinten Nationen – auf den Dialog, damit wir dieses Ziel gemeinsam verfolgen können.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Zimmermann. – Bevor ich dem Abgeordneten Höferlin das Wort erteile: Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass die Sitzungsleitung gewechselt hat.
Ich will auf Folgendes hinweisen: Ab 22 Uhr werde ich keine Zwischenfragen und keine Kurzinterventionen mehr zulassen. Momentan liegt das errechnete Sitzungsende bei 2 Uhr. Alle Bemühungen der Parlamentarischen Geschäftsführer, die Dauer zu reduzieren, haben bisher nicht gefruchtet. Ab 22 Uhr, wie gesagt, keine Zwischenfragen und keine Kurzinterventionen.
Ich bitte darum, die Redezeiten einzuhalten. Das passiert wie folgt: Zehn Sekunden vor Ablauf der Redezeit blinkt dieses kleine Gerät am Rednerpult. Zwei bis drei Sekunden nach Ablauf der Redezeit werde ich darum bitten, zum Ende zu kommen, und spätestens 15 Sekunden nach Ende der Redezeit werde ich das Wort entziehen – damit das zwischen allen Beteiligten klar ist. Es muss hier mal ein bisschen Geschwindigkeit reinkommen.
Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Manuel Höferlin, FDP-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich wirklich sehr, dass es gelungen ist, das 14. Internet Governance Forum oder auch IGF, wie es mehrfach genannt wurde, nach Deutschland zu holen. Es wurde auch Zeit, dass es hierherkommt. Ich freue mich sehr darüber. Letztes Jahr haben wir es in Paris besucht. Es war, ehrlich gesagt, ein sehr interessantes Erlebnis. Ich freue mich, dass wir dieses Forum dieses Mal hier haben werden.
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Für mich ist das Internet mehr als eine der größten technologischen Errungenschaften unserer Zeit. Die gesamte Welt, in der wir leben, hat sich durch das Internet verändert. Mehr noch: Es ist Ausdruck des Strebens nach einer offenen und freien Gesellschaft – hier, aber auch ganz besonders in vielen Teilen der Welt.
Menschen können plötzlich im wahrsten Sinne Schranken und Grenzen des Wortes überwinden. Genau diesem Kerngedanken des Internets trägt das IGF Rechnung, weil es eine Plattform für alle Teile der Gesellschaft weltweit ist, die das Internet und die Zukunft des Internets gestalten wollen. Beim IGF geht es also um mehr als nur um technische Aspekte oder regulatorische Rahmenbedingungen. Es geht um eine Vision unserer digitalen Welt der Zukunft.
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Der Antrag der Großen Koalition hat leider keine Vision von der Zukunft und der Gestaltung des Internets. Wahrscheinlich haben die Kolleginnen und Kollegen auch deshalb das Motto des IGF abgeschrieben: „One World. One Net. One Vision“. Ihr Antrag liest sich aber nicht so, sondern eher wie ein Hausaufgabenheft. Kollege Zimmermann selbst hat es gerade „Pflichtenheft“ genannt. Ich muss sagen: in diesem Sinne schon wieder eines.
Das Sammelsurium der netzpolitischen Aufgaben, die in dem Antrag stehen, hat leider keine klare Linie. Es gibt keinen Hinweis darauf, wann diese Aufgaben erledigt werden sollen. Es ist schon genannt worden: Es sind teilweise leider auch Aufgaben, die schon längst hätten erledigt werden sollen oder müssen. Gerade nationale Aufgaben sind schon genannt worden.
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Das hat nichts mit Visionen zu tun, sondern das ist, wie gesagt, erneut das Abarbeiten eines Pflichtenheftes.
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Wer aber keine Vision hat, der kann auch keine Ideen für die Zukunft entwickeln. Gerade das ist jetzt so wichtig, weil wir erkennen, dass die Freiheit im Internet in Gefahr ist. In China wird mithilfe des Internets die Bevölkerung überwacht. In Russland will die Regierung das Volk in einem eigenen Netz von der Welt abschotten, zunächst einmal für den Notfall und als Pilotprojekt. Aber wohin das läuft, kann sich jeder denken.
In der Türkei – das ist auch schon erwähnt worden – wird in das Netz massiv eingegriffen. Dort wird sogar das Netz benutzt, um Bürger mit Spionage-Apps zu bespitzeln. Das funktioniert nicht nur dort, sondern auch bei uns. Aber nicht nur autoritäre Staaten missbrauchen das Netz. Diese Staaten machen es vor und liefern dadurch anderen einen Vorwand, das nachzumachen.
Auch in Europa ist das freie Netz in Gefahr. Sie haben dem freien Netz mit einigen Dingen, die die Freiheit des Netzes einschränken, etwa durch Regelungen, die die Freiheit des Netzes zumindest in Gefahr bringen, einen Bärendienst erwiesen, zum Beispiel die Uploadfilter, das NetzDG, aber auch die wiederholten Versuche, das Internet immer wieder zu kontrollieren und die Kommunikation zu überwachen. Genau das ist nicht Freiheit des Internets.
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Es ist uns deshalb ein wichtiges Anliegen gewesen, einige Anstöße für eine wirkliche Vision des Internets vorzugeben. Eine Vision des Internets besteht für mich aus folgenden Pfeilern:
Erstens: die uneingeschränkte Gültigkeit der Meinungs- und Pressefreiheit in der gesamten digitalen Welt. Zweitens: die universelle Beachtung der Privatsphäre im Netz. Dazu gehört vor allen Dingen eine sichere Ende-zu-Ende-Verschlüsselung ohne staatliche Eingriffe in diese Kommunikation.
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Drittens. Wir sollten wirklich darauf hinarbeiten, dass wir völkerrechtliche Regelungen auch zur Steigerung der IT-Sicherheit haben.
Dazu gehören eben auch die Diskussion und der Drang, Beschränkungen des Einsatzes von digitalen Waffen vorzunehmen. Wir haben vorgeschlagen, einen ABCD-Waffensperrvertrag für atomare, biologische, chemische und eben auch digitale Waffen vorzunehmen.
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss.
Das IGF bietet unserer Bundesregierung jetzt die Möglichkeit, Deutschland in der Vorreiterrolle zu positionieren. Ich bitte Sie, das zu machen. Nutzen Sie es!
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Höferlin. Alles ausgenutzt bis zum Schluss. – Als nächste Rednerin hat die Kollegin Anke Domscheit-Berg, Fraktion Die Linke, das Wort.
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Prost!
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Sehr geehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieser Tage ist viel von Krisen die Rede: von der Klimakrise, von der Krise der Demokratie. Ich sehe auch das Internet in einer Krise. Das frühe Internet – wir hätten es mit einem Wort beschrieben: Dezentralität –, die globale Vernetzung von Computern, das war und das ist revolutionär. Es hat Wissen demokratisiert. Wissen ist Macht in einer Wissensgesellschaft. Klassische Medien haben ihre Funktion als Relevanzfilter verloren. Jeder Mensch, der Zugang zu Computern und Internet hatte, konnte zum Medium werden, kann das auch heute noch und so eine Stimme bekommen für diejenigen, die bis dahin keine hatten.
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Viele neue Geschäftsmodelle sind entstanden, von E-Commerce bis Social Media. Das frühe Internet stand auch für Kreativität und Innovationen.
Heute erleben wir im Internet gigantische Monopole, vor allem aus den USA. Google, Amazon, Apple, Facebook und Microsoft haben gemeinsam einen Marktwert, der so groß ist wie die gesamte Wirtschaftsleistung Deutschlands im Jahr 2018. Um es uns noch mal vor Augen zu führen: Facebook allein hat 2,4 Milliarden Nutzer – durch den Kauf von WhatsApp sind es weitere 1,6 Milliarden – und will gerade weltweit eine elektronische Währung, Libra, einführen.
Egal ob wir suchen, einkaufen oder soziale Kontakte im Internet pflegen: Alles ist monopolisiert. Die Politik weltweit ließ zu, dass es zu einer gnadenlosen Kommerzialisierung selbst menschlicher Beziehungen im Internet kam. Ich halte das für gefährlich. Die bisherige Governance hat schlicht versagt.
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Das Internet ist in einer Krise. Monopole behindern den Wettbewerb. Sie kaufen überall Talente auf; sie kaufen Start-ups, um Wettbewerb zu verhindern. Sie investieren Millionen in Lobbyismus, damit Regulierung ihnen am besten gefällt. Sie zahlen aber kaum Steuern und schaden damit direkt und indirekt dem Gemeinwesen. Sie profitieren bewusst von Geschäftsmodellen, die radikalisieren, uns spalten und die Demokratie schwächen. Sie behandeln uns Nutzerinnen und Nutzer als Rohstofflieferanten für Daten. Sie brechen Gesetze, lügen in Parlamenten und lachen über Strafzahlungen. Ich sage: Langsam reicht es damit. Es ist höchste Zeit, zu handeln.
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Es ist höchste Zeit, das Internet wieder zu dezentralisieren, die Macht der Monopole zu brechen und sie im Zweifel auch zu zerschlagen und als Regulierer Zähne zu zeigen. Es braucht ein Ende der Ohnmacht von Nutzerinnen und Nutzern auf der ganzen Welt. Das Gemeinwohl und die Gemeinwohlorientierung müssen wieder gestärkt werden. Natürlich sagen wir auch Nein zu staatlicher Kontrolle im Internet, wie wir sie in der Türkei, in China oder in Russland erleben.
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Das Internet Governance Forum als wichtigste globale Debattenplattform zur Zukunft des Internets ist eine Gelegenheit, wo wir mit Parlamentarierinnen und Parlamentariern, der Techcommunity und der Zivilgesellschaft weltweit Antworten auf wichtige Fragen unserer Zeit suchen können: Wie kann man den Monopolen beikommen? Wie verhindert man die Schwächung der Demokratie? Wie schaffen wir mehr Nutzen für alle, Teilhabe und Inklusion auch des globalen Südens? Wie schaffen wir ein wirklich soziales Netz, das nicht von Profitmaximierung lebt? Und wie sichern wir ein offenes, freies und neutrales Internet – oder erhalten es wieder zurück – für alle überall auf der Welt?
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Das Internet ist in einer Krise. Aber mein Motto ist „Never waste a crisis!“: Verschwenden wir keine Krise! Deshalb fordere ich die Bundesregierung auf, eben nicht nur schön zu reden, sondern auch zu handeln, und dazu gehört: Legen wir uns mit den Großen an!
Im Übrigen bin ich der Meinung: Informationen zu Schwangerschaftsabbrüchen haben nichts im Strafrecht verloren. § 219a gehört abgeschafft.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Domscheit-Berg. Ich sehe, dass Sie von Ihrer Fraktion mit Flüssigkeit versorgt worden sind. Insofern bin ich beruhigt. – Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Konstantin von Notz, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der effektive Schutz digitaler Infrastrukturen und der Privatheit der Kommunikation von Bürgern, Unternehmen und Behörden sind längst zentrale politische Fragen, und diesen Fragen müssen wir uns endlich mit aller Ernsthaftigkeit zuwenden, national wie international. Aber – auch wenn Tankred Schipanski heute Abend hier klingt wie ein Netzaktivist – diese Ernsthaftigkeit vermissen wir bei der Bundesregierung leider bis zum heutigen Tag, meine Damen und Herren.
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Es ist doch für Deutschland schlicht hochnotpeinlich, dass es bis heute keine angemessene Koordinierung digitalpolitischer Belange aufseiten der Exekutive gibt.
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In wenigen Wochen schreiben wir das Jahr 2020, und Sie lassen jeden Ehrgeiz vermissen, die Digitalisierung im Sinne von Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit endlich zu gestalten. So geht es nicht, meine Damen und Herren.
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Und wer national nichts koordiniert und wichtige Grundsatzentscheidungen meidet, kann auch international nicht glaubhaft auftreten.
Erklären Sie von der Koalition mal: Wie wollen Sie Praktiken wie die hier zu Recht beschriebenen von China, Russland und Nordkorea kritisieren, wenn man sich gleichzeitig mit diesen Ländern auf dem Schwarzmarkt für Sicherheitslücken gegenseitig überbietet? Wie soll man glaubhaft den totalitären Anspruch dieser Staaten bei der digitalen Überwachung kritisieren, wenn man gleichzeitig unserem Innenminister zuhört, der sich für Hintertüren in allen Geräten des Internets der Dinge starkmacht und die Ausweitung der Gesichtserkennung im öffentlichen Raum herbeisehnt? Und wie soll man den längst entbrannten Cyberwar ernsthaft kritisieren, wenn man selbst Hackbacks propagiert? – All das passt schlicht nicht zusammen. All dies ist Gift für die IT-Sicherheit.
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Zu all dem gibt es Alternativen. Wir müssen sie endlich nutzen, meine Damen und Herren. Nur so können wir ein wirklich ernstzunehmender Gesprächspartner auf internationaler Bühne werden. Ich würde mir das sehr wünschen. Wir müssen uns sehr viel stärker an die Seite derer stellen, die für den Schutz eines offenen Internets und die Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit kämpfen.
Die Bundesregierung hat sich in etlichen internationalen Kooperationen ja sehr weit gehend selbst verpflichtet – unter anderem in der Freedom Online Coalition –, nämlich zum Einsatz für Grund- und Menschenrechte, zu mehr Transparenz und Open Government und zu einer umfassenden Beteiligung der Zivilgesellschaft. Diesen selbst eingegangenen Verpflichtungen wird man noch immer nicht gerecht. Während andere Länder seit vielen Jahren Ministerinnen und Minister zu den einschlägigen Runden schicken, glänzt diese politische Ebene von uns allzu häufig durch Abwesenheit.
Wir müssen uns viel stärker in Internet-Governance-Strukturen engagieren. Darauf hat schon die lichtweisende Enquete „Internet und digitale Gesellschaft“ vor zwei Wahlperioden hingewiesen, Kollege Höferlin.
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Deswegen begrüßen auch wir – das sage ich ausdrücklich –, dass es gelungen ist, das IGF nach Berlin zu holen. Darauf haben viele Menschen viele Jahre gut hingearbeitet und daran mitgewirkt. All ihnen gilt unser ausdrücklicher Dank, meine Damen und Herren.
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Wir freuen uns auf die Gäste und Diskussionen. Wir freuen uns auch, wenn die Bundesregierung das IGF jetzt zum Anlass nimmt – so klingt es hier an, Herr Kollege Schipanski –, ihr internationales Engagement endlich zu intensivieren. Ihr Antrag macht dazu einige vernünftige Vorschläge, die wir sehr gerne mit Ihnen ernsthaft diskutieren werden.
Ganz herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Dr. von Notz. – Als nächster Redner hat der Kollege Hansjörg Durz, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Über alle Fraktionen hinweg eint die Digitalpolitiker ein Ziel: Wir wollen digitalpolitische Themen zu den Themen dieses Parlaments und zum Inhalt deutscher Politik machen. Die Begeisterung dafür, die ich als kommissarischer Ausschussvorsitzender bei den Kollegen aller Fraktionen wahrnehme, ist ungebrochen.
Als ein Resultat dieser Begeisterung hat der Bundestag bereits vor einiger Zeit die Bundesregierung aufgefordert, sich um die Ausrichtung des Internet Governance Forums zu bewerben. Peter Altmaier hat das IGF nach Deutschland geholt. Dass es in diesem Jahr in Berlin tagt, zeigt, dass wir erfolgreich waren. Diese Chance werden wir nutzen, nicht nur um das IGF hierzulande bekannter, sondern auch stärker zu machen.
Der Ausschuss Digitale Agenda hat im vergangenen Jahr erstmals mit einer Delegation am IGF teilgenommen. Bei dem Zusammentreffen in Paris ist uns klar geworden, was zu tun ist. Die Debatten aus dem IGF müssen in die Parlamente und auch in unser Parlament getragen werden. Denn lange Zeit fanden diese Debatten nicht den Weg in unser Hohes Haus. Lediglich vereinzelt haben sich Politiker mit den Diskussionen des IGF befasst.
Herauszuheben ist dabei ein Politiker, der schon in der Vergangenheit dafür gesorgt hat, dass Digitalpolitik ihren Platz im deutschen Parlament findet; das ist genau jener Mann, den ich im Amt des Vorsitzenden des Digitalausschusses seit Beginn der Legislatur vertrete: Jimmy Schulz. Jimmy Schulz hat schon seit Jahren regelmäßig am IGF teilgenommen. Die Änderungen, die wir bei der diesjährigen Ausrichtung des IGF vornehmen, sind deshalb auch seinem Engagement zu verdanken. Ich weiß, dass er selbst gerne hier heute gesprochen hätte, und sage von hier aus deshalb ganz herzlich: Danke schön.
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Das IGF ist dank der Vielfalt der Beteiligten die größte globale Bürgerversammlung der digitalen Welt. Bei solch einer Veranstaltung darf das Parlament nicht fehlen. Erstmals werden sich im Vorfeld nun Parlamentarier aus aller Welt treffen, um ebenfalls über die Zukunft des Netzes zu debattieren. Am letzten Tag werden die Ergebnisse dann zusammengefasst den Vertretern Polens, des nächstjährigen Ausrichters des IGF, übergeben werden. Wir hoffen damit eine neue Traditionslinie setzen zu können.
Auf den ersten Blick mögen die Debatten nur Technerds betreffen. Doch das Internet ist die Grundlage für unser digitales Zeitalter. Damit sind solche Debatten nicht nur technischer, sondern auch politischer, rechtlicher und sozialer Natur. Denn die Gestaltung des Netzes von heute entscheidet über unser Leben von morgen.
Trotz dieser Tragweite dürften viele Menschen das IGF kaum kennen. Dabei versammeln sich bei der diesjährigen Tagung des IGF, das unter dem Dach der UN gegründet wurde, Vertreter von Staaten, internationalen Organisationen, von Wirtschaft, Wissenschaft, technischer Community und Zivilgesellschaft, um eines zu tun: um darüber zu streiten, wie die freie und offene Struktur des Internets erhalten und gefördert werden kann. Die Einbindung der Parlamentarier soll auch die Wertschätzung für dieses Forum ausdrücken.
Unterstützung ist bitter nötig. Schließlich ist eine dezentrale, offene und freie Netzstruktur kein Naturgesetz. Im Gegenteil, sie ist zunehmend Angriffen ausgesetzt. Es wurden Beispiele genannt. Schon im Jahr 2014 hat China mit dem Aufbau einer alternativen Weltinternetkonferenz begonnen. Es mag wenig verwundern, dass dort wenig über ein Internet der Freiheit diskutiert wird, vielmehr über ein Internet, wie es auch dem russischen Präsidenten vorschwebt. Anfang dieses Monats trat dort ein Gesetz in Kraft, das das russische Internet faktisch zum Intranet macht.
In Deutschland haben wir vor wenigen Tagen den Fall der Mauer gefeiert, die die Menschen hier in Berlin vor 30 Jahren niedergerissen haben. Heute müssen wir dafür kämpfen, dass solche Mauern nicht digital wieder aufgebaut werden. Wir sollten deshalb darauf achten, die Debatte um digitale Souveränität immer mit einer klaren Bejahung des freiheitlichen Netzes zu verbinden, an dessen Gestaltung die Zivilgesellschaft Anteil hat. In anderen Ländern mögen allein die Herrscher souverän sein. In Europa muss jedoch auch im Digitalen gelten: Der Bürger ist Souverän.
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Deshalb halte ich die Debatten zu Data Governance auf dem IGF, aber auch bei uns hier in Deutschland, auch im Parlament, für besonders wichtig. Wie wir den Umgang mit Daten regeln, bestimmt, welche Rechte wir unseren Bürgerinnen und Bürgern, unseren Unternehmen zugestehen. Deshalb müssen wir in Deutschland und Europa den Umgang mit Daten in einer Datenstrategie festlegen. Auch Datentreuhänderstrukturen, mit denen Bürger einfach und souverän über die Verwendung ihrer Daten bestimmen können, müssen wir vorantreiben. Und das können wir Europäer. Schließlich haben wir es in Europa immer wieder geschafft, die Souveränität des Volkes über den Machtanspruch Einzelner zu stellen. Schon deshalb müssen wir Parlamentarier uns an der globalen Debatte über die Zukunft des Netzes beteiligen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Durz. – Als letzter Redner in dieser Debatte hat das Wort der Kollege Falko Mohrs, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben es jetzt mehrfach gehört: Demnächst ist das Internet Governance Forum, das IGF, bei uns in Berlin zu Gast. Das ist positiv. Es freut mich vor allem, weil es eben auch auf das Engagement von Kolleginnen und Kollegen aus diesem Haus zurückgeht, dass das IGF in Deutschland tagt und dass wir als Deutsche damit ein klares Bekenntnis abgeben, dass für uns ein freies Internet die Maßgabe und der Maßstab ist.
Es ist wichtig, dass das IGF in einem Multi-Stakeholder-Ansatz abgehalten wird, das heißt, dass sowohl Politik wie Zivilgesellschaft wie auch Wirtschaft dort miteinander darüber diskutieren, wie die Governance, also die Art und Weise der Regelbildung im Internet, aussehen und sich verändern muss.
Meine Damen und Herren, das Internet ist eigentlich mit eines der großen Freiheitsversprechen der letzten Jahrzehnte. Das zeigt auch, welches Potenzial im Internet steckt. Wir haben an verschiedenen Stellen gesehen, wie es Revolutionen, Freiheitskämpfe ermöglicht hat. Gleichzeitig sehen wir aber eben auch, welche Risiken eine Technologie wie das Internet bereithalten kann, wenn nämlich genau diese Grundidee der Freiheit gefährdet ist.
Meine Damen und Herren, wir haben in den letzten Monaten erleben müssen – das Beispiel Russland ist genannt worden –, wie Staaten die Freiheit des Internets eingrenzen, um für sich politisch Meinungen, Kommunikation zu kontrollieren. Wir haben im Sommer bei den Oppositionsprotesten einen entsprechenden Vorgeschmack darauf bekommen, wie plötzlich genau in den Bereichen, wo die Proteste stattgefunden haben, keine Kommunikation mehr möglich war. Das zeigt, welche repressiven Möglichkeiten auch im Internet stecken. Deswegen ist es richtig und wichtig, zu sagen: Für uns steht das freie Internet ganz oben, und das, meine Damen und Herren, muss so bleiben.
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Wir erleben aber auch, dass die Freiheit der Einzelnen teilweise bedroht ist im Internet: durch Hass, durch Hetze, man muss sagen: insbesondere von rechts. Frau Cotar, da wundert es mich dann auch nicht, dass Sie insbesondere das NetzDG hier kritisieren – ist doch genau eine Funktion des NetzDGs, Hass und Hetze aus dem Internet herauszubekommen.
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Da das einer der Kommunikationswege ist, die Sie nutzen, ist wirklich nicht überraschend, dass Sie hier mit Ihrer Kritik ansetzen.
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Ich sage Ihnen: Sie werden damit bei uns keinen Erfolg haben, und das, meine Damen und Herren, ist auch gut so.
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Wozu Hass und Hetze im Internet führen können, das haben wir vor einigen Tagen auch in Niedersachsen erlebt, in einer, finde ich doch, wirklich perversen Art und Weise. Mike Finke, bis vor Kurzem Vorsitzender des Landeselternrates in Niedersachsen, also jemand, der wirklich ganz klassisch ehrenamtlich aktiv ist, um sich für die Bedürfnisse von anderen ehrenamtlich zu engagieren, ist vor einigen Tagen zurückgetreten, weil auch er als Vorsitzender des Landeselternrates tagtäglich mit Hass und Hetze im Internet konfrontiert wurde. Das, meine Damen und Herren, ist doch wirklich die absolute Perversion: wenn diejenigen, die sich für die Gesellschaft einsetzen, am Ende die Opfer von solchen Angriffen werden.
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Das darf nicht akzeptiert werden, meine Damen und Herren.
Und wir haben es – das ist eben deutlich geworden – natürlich auch mit neuen Herausforderungen zu tun, nämlich der Frage, wie wir eigentlich auch bei uns in Deutschland, in Europa und weltweit mit der Frage eines neuen, modernen Datenrechts umgehen. Das, meine Damen und Herren, wird auch eine der Aufgaben von uns sein: ein modernes Datenrecht für uns in Deutschland und Europa zu gestalten.
Also: Es geht für uns um ein freies Internet ohne Zensur, das die Freiheit aller Menschen sichert und fördert. Das, meine Damen und Herren, ist unser gemeinsames Ziel.
Vielen Dank.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! 2017 hat Wolfgang Schäuble als Präsident des Deutschen Bundestages eine Kommission zusammengerufen, um Vorschläge zu machen, wie dieses Parlament arbeitsfähiger und kleiner wird. Wir haben getagt. Wir haben Überlegungen angestellt, und es ist Zeit, zu Ergebnissen zu kommen. Deswegen legen heute drei Fraktionen, Linke, Grüne und Freie Demokraten, einen Gesetzentwurf zur Verkleinerung des Deutschen Bundestages vor.
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Er sieht folgende Maßnahmen vor – die Bertelsmann-Stiftung hat uns bescheinigt, wir erreichen unser Ziel –:
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Wir reduzieren die Zahl der Wahlkreise auf 250, erhöhen die Regelgröße auf 630 und lassen das sogenannte Mindestkontingent wegfallen. Damit sind wir die Einzigen, die bisher einen Vorschlag gemacht haben, und wir warten auf Vorschläge der Koalition oder auch der AfD; denn sie haben bisher leider keinen entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt.
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Es ist eine ureigene Aufgabe des Parlaments, sich um solche Dinge zu kümmern; aber leider wurde bisher allen Vorschlägen der Union ihre Verfassungswidrigkeit bescheinigt, weil Sie nämlich bei allen anderen gekürzt haben, außer bei sich selbst. Ein gutes Wahlrecht muss aber darauf achten, dass es proportional bei jeder Fraktion gleichmäßig Sitze abschmilzt.
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Wir müssen Ihnen deswegen sagen: Sie werden auch in Zukunft Wahlen nicht am Taktiktisch gewinnen, sondern Sie werden Wählerstimmen erreichen müssen, um entsprechend mehr Sitze zu erreichen. Also: Ändern Sie Ihre Haltung. Geben Sie Ihre Blockade auf, und geben Sie diesem Parlament seine Glaubwürdigkeit zurück, indem Sie einen eigenen Vorschlag machen oder auf uns zukommen, um über Kompromisse zu reden.
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Für uns gilt: Das bestehende Wahlrecht hat sich bewährt. Es ist demokratisch. Jede Stimme ist gleich viel wert in unserem Land, und es wird von den Menschen akzeptiert.
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Was die Menschen nicht akzeptieren werden, ist, dass in diesem Haus irgendwann 850, 870 Parlamentarier sitzen. Sie können hundert Deutsche fragen: Wollt ihr lieber einen etwas größeren Wahlkreis, oder wollt ihr lieber, dass 850 Parlamentarier in diesem Haus sitzen? Ich kann Ihnen sagen: Alle werden antworten: Wir nehmen den größeren Wahlkreis in Kauf, um die Arbeitsfähigkeit des Parlaments zu erhalten.
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Wir müssen als Vertreter kleinerer Parteien schon heute viele Wahlkreise zusätzlich betreuen. Ich glaube, das werden Sie auch schaffen. Deswegen sagen wir Ihnen: Sie haben in den letzten Jahren die Parteienfinanzierung erhöht. Sie haben die Fraktionsfinanzierung erhöht. Sie haben die Mitarbeiterpauschale erhöht. Sie haben sich also unabhängig vom Wähler gemacht. Ihnen kann es mittlerweile finanziell egal sein, wie viele Stimmen Sie erreichen, weil Sie finanziell immer wieder auf die gleichen Ressourcen zugreifen können. Das setzt das Demokratieprinzip außer Kraft, und deswegen müssen Sie davon abrücken.
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Insgesamt geht es also darum, dass wir die Glaubwürdigkeit bewahren und zeigen, dass wir unsere eigenen Angelegenheiten selbst regeln können.
Nun hat Herr Minister Altmaier, der eben noch da war, Ihnen eine Art exekutive Nachhilfe gegeben, indem er gesagt hat: Die Zahl der Abgeordneten soll alle vier Jahre um 40 Abgeordnete reduziert werden. – Auch er ist uns leider die Erklärung schuldig geblieben, wie er das machen will. Insofern: Jede Stimme muss gleich viel zählen. Der Bundestag muss kleiner werden, und die Union muss ihre Blockade aufgeben.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Ruppert. – Als nächster Redner hat für die CDU/CSU-Fraktion das Wort der Kollege Ansgar Heveling.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Es war einmal …“ So fangen in der Regel Märchenerzählungen an. Ja, es waren einmal die Bundestagswahlen in der Bonner Republik: zwei große Volksparteien, mal die eine vorn, mal die andere; beide mit Wahlergebnissen, die cum grano salis mit den Erststimmenergebnissen korrespondierten; darum herum kleinere Parteien.
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Es war die hohe Zeit des personalisierten Verhältniswahlrechts.
Und dann kam die Nachwahl bei der Bundestagswahl 2005 in Dresden. Weniger Stimmen für die CDU haben damals zu einem zusätzlichen Mandat von der Liste der CDU in Nordrhein-Westfalen geführt. Dieses negative Stimmgewicht hat das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 3. Juli 2008 für verfassungswidrig erklärt. CDU/CSU und FDP sind seinerzeit den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts mit der Wahlrechtsnovelle 2011 nachgekommen.
Die anderen Fraktionen im Bundestag zogen dann gegen die unveränderte Beibehaltung ausgleichsloser Überhangmandate erneut nach Karlsruhe. Das Bundesverfassungsgericht bezog daraufhin mit Urteil vom 25. Juli 2012 weitere inverse Effekte in das negative Stimmgewicht ein und verlangte erneut eine Neuregelung des Wahlrechts zum Deutschen Bundestag.
In einem Konsens aller Fraktionen wurde dann das Wahlrecht 2013 so geändert, dass jede Fraktion ihre Vorstellungen verwirklicht sah. Den Preis einer nichtkalkulierbaren Größe des Bundestages hat man dabei dann aber in Kauf genommen. Die Frage ist nun: Gibt es im System des personalisierten Verhältniswahlrechts eine Lösung, bei der die Größe des Bundestages kalkulierbar begrenzt werden kann und wieder gleichzeitig alle Interessen angemessen berücksichtigt werden können? Ich fürchte, nein.
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Ist damit die Geschichte des personalisierten Verhältniswahlrechts auserzählt, wie manche Staatsrechtler meinen? Ich glaube, ebenfalls nein. Das personalisierte Verhältniswahlrecht ist durchaus noch reformierbar. Aber der Vorschlag der AfD-Fraktion, entstehende Überhangmandate einfach zu streichen, ist sicherlich die schlechteste Option. Ihr Vorschlag legt die Axt an das personale Element unseres Wahlrechts. Uns ist dagegen die Repräsentanz durch in Wahlkreisen gewählte Abgeordnete außerordentlich wichtig. Damit wird ein unmittelbarer Bezug zur Wahlbevölkerung sichergestellt.
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Wahlkreisabgeordnete vertreten das ganze Volk, aber haben gleichzeitig eine sichtbare Rückkopplung an ihre konkrete Wahlbevölkerung. Das ist ein wichtiges Zeichen demokratischer Repräsentanz. Wir wollen keine Abgeordneten, die überwiegend innerhalb des S-Bahn-Rings unter ihrer Käseglocke leben
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und für den Wähler nur noch über Social Media und YouTube zu erleben sind.
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Nach der von den anderen Oppositionsfraktionen vorgeschlagenen Reduktion auf 250 Wahlkreise wird der einzelne Wahlkreis allerdings so groß, dass eine angemessene Repräsentanz durch Wahlkreisabgeordnete nicht mehr gewährleistet werden kann.
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Die von Ihnen als selbstverständlich geforderte vollständige Proportionalität zwischen dem Ergebnis nach den Zweitstimmen und der Sitzverteilung im Deutschen Bundestag ist, anders als Sie vorgeben, keinesfalls verfassungsrechtlich geboten, ganz im Gegenteil.
Das Bundesverfassungsgericht hat im Urteil vom 25. Juli 2012 ausdrücklich festgestellt, dass die mit der ausgleichslosen Zuteilung von Überhangmandaten verbundene Differenzierung des Erfolgswertes durch das besondere Anliegen einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl gerechtfertigt sein kann. Ich darf zitieren:
Auf diese Weise möchte der Gesetzgeber die Verbindung zwischen Wählern und Abgeordneten, die das Volk repräsentieren, stärken und zugleich in gewissem Umfang der dominierenden Stellung der Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes … ein Korrektiv im Sinne der Unabhängigkeit der Abgeordneten … entgegensetzen. …
Dieses Ziel kann nur verwirklicht werden, wenn der erfolgreiche Kandidat sein Wahlkreismandat auch dann erhält, wenn das nach dem Proporz ermittelte Sitzkontingent der Landesliste seiner Partei zur Verrechnung nicht ausreicht ...
Das Anliegen der Personenwahl und das mit der Verhältniswahl verfolgte Ziel weitgehender Proportionalität stehen mithin in einem Spannungsverhältnis, das sich nur durch einen vom Gesetzgeber vorzunehmenden Ausgleich beider Prinzipien auflösen lässt. Im Rahmen des ihm insoweit zukommenden Gestaltungsspielraums darf der Gesetzgeber das Anliegen einer proportionalen Verteilung der Gesamtzahl der Sitze grundsätzlich zurückstellen und Überhangmandate ohne Wiederherstellung des Proporzes zulassen.
So das Bundesverfassungsgericht.
Nicht akzeptabel ist für uns auch die von Ihnen vorgeschlagene vollständige faktische Verrechnung von Überhangmandaten mit Listenmandaten in anderen Ländern. Dies widerspricht schon dem föderalen Charakter unserer Bundestagswahl als in 16 Bundesländern stattfindende Wahl.
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Kommen Sie bitte zum Schluss.
Dennoch glaube ich, dass eine Lösung möglich ist. Herr Ruppert hat die Kommission angesprochen, aber verschwiegen oder nicht gesagt, dass auch die anderen Oppositionsfraktionen den Vorschlag des Bundestagspräsidenten abgelehnt haben. Ich glaube – –
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Herr Kollege, Ihre Redezeit ist deutlich abgelaufen. – Ich habe Ihnen das Wort entzogen. Bitte nehmen Sie Platz.
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Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Albrecht Glaser, AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit Beginn dieser Wahlperiode steht das Thema Bundeswahlrecht auf der Agenda. Dies hat seinen Grund darin, dass die Bundestagswahl 2017 zu 111 zusätzlichen Mandaten geführt hat, über die 598 hinaus, die gesetzgeberisch der Normalfall sein sollen. Bei den bestehenden politischen Kräfteverhältnissen würde die Wahl 2021 – es ist gesagt worden – über 800 Mandate ergeben.
Nachdem die Wahlrechtsreformkommission, die der Bundestagspräsident einberufen hatte, im Frühjahr 2019 gescheitert war, herrscht seither untätiges Schweigen. Die Untätigkeit derer, die stets von Verantwortung reden, wird und soll Fakten schaffen für das Mammutparlament, das angeblich niemand will.
Die Gefahr haben 102 Staatsrechtslehrer erkannt und deshalb am 20. September an den Bundestag appelliert, die Reform des Bundeswahlrechts in Angriff zu nehmen. Das derzeitige Wahlrecht habe – Zitat – „als wichtigste demokratische Äußerungsform paradoxerweise einen geradezu entdemokratisierenden Effekt“, schreiben sie. Es dürfe auf keinen Fall der Eindruck entstehen, vielen Abgeordneten sei das eigene Hemd wichtiger als der Rock des Gemeinwohls. Es lägen Vorschläge auf dem Tisch, die ohne die aufwendige Vergrößerung der Wahlkreise auskämen.
Der Wirtschaftsminister erklärt öffentlich, die Verkleinerung des Bundestages sei „seit zehn Jahren überfällig“. Das politische System unseres Landes befinde sich in einer Dauerkrise.
Aus all diesen Gründen hat die AfD-Fraktion Anfang Oktober ihren bereits in der Kommission vorgelegten Reformvorschlag als Beschlussantrag in den Bundestag eingebracht. Danach könnte man einen Bundestag auch mit weniger als 500 Abgeordneten festlegen. Reflexartig stürzten sich diejenigen, die sich selbst exklusiv „demokratische Parteien“ nennen, unter Einschluss der Clara-Zetkin-Kommunisten, auf das Werkstück.
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Der Angriff gegen die rationale Problemlösung der AfD wurde auf seltsame Weise geführt. Die AfD habe ihren Vorschlag nicht paraphiert vorgelegt, sondern wolle hierfür die Bundesregierung beauftragen; das ginge schon gar nicht.
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Denn Wahlrechtsänderungen müssten aus der Mitte des Parlaments kommen. Das sei schon immer so gewesen; nur die AfD wisse das nicht.
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– Seien Sie vorsichtig mit dem Beifall!
Eine Nachschau in der Literatur führt zur Darstellung eines Ministerialdirektors und nachmaligen Professors, der schreibt: „Bis vor wenigen Jahren erfolgten Änderungen des BWG in der Staatspraxis ganz überwiegend auf der Grundlage von Vorlagen der Bundesregierung.“
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Diese Bemerkung bezieht sich auf 14 Wahlrechtsnovellen – 14! Die neuere Praxis, merkt der Autor an, sei qualitativ nicht überzeugend. Zudem läge die Vermutung nahe, dass diese Entwürfe auf Vorarbeiten des Fachministeriums beruhten.
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So viel Hybris muss schon sein bei den „wahren Demokraten“.
Die Große Koalition der kleinen Parteien legt heute einen eigenen Reformentwurf vor. Er umfasst rund zwei Textseiten – zwei! – und enthält drei markante Regelungen: Die Verkleinerung des Bundestages soll dadurch erreicht werden, dass die Zahl der Mandate im § 1 BWG von – nach bisheriger Festlegung – 598 auf 630 erhöht wird. – Ja, Sie haben richtig gehört: die Verkleinerung des Parlaments durch die Erhöhung der Mandatszahlen; versteht jeder.
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Und parallel dazu soll die Zahl der Wahlkreise von 299 auf 250 herabgesetzt werden.
Der dritte markante Punkt findet sich im Überleitungsrecht. Er ist jedoch der allerwichtigste. Dort steht – Zitat –: „Die Wahlkreiskommission ... hat dem Deutschen Bundestag bis zum Ablauf des dritten Monates“ nach Verkündung dieses Gesetzes eine Wahlkreiseinteilung für 250 Wahlkreise vorzulegen.
Alles, was in diesem Entwurf steht, ist nicht wichtig. Wichtig ist allein die Dreimonatsfrist zur Neueinteilung aller Wahlkreise. Hierdurch wird der Eindruck erweckt, als könnte ab heute – heute! – bis März 2020 eine Wahlrechtsreform auf die Beine gestellt werden, und das deshalb, weil diese Antragsteller die Initiative ergriffen hätten.
Die Wahrheit hingegen ist, dass der vorgelegte Vorschlag weder eine Problemlösung enthält noch bis März 2020 ein Neuzuschnitt aller Wahlkreise praktisch möglich sein wird.
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Warum März 2020? Ab dem 25. März 2020 können nach geltendem Recht Kandidaten für die Bundestagswahl 2021 aufgestellt werden. Sobald dieses Datum also erreicht ist, ist eine Wahlrechtsreform in dieser Legislaturperiode nicht mehr möglich, und das wissen die Antragsteller. Es geht also darum, einen Schuldigen für das demokratische Desaster zu finden, wenn die Reform vertändelt wird, liebe Freunde.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege.
Ich komme in einem Satz zum Schluss. – Die AfD legt deshalb einen Gesetzentwurf vor, der uns allen drei zusätzliche Monate an Zeit verschafft, um vielleicht doch noch ein Wahlrechtsreformgesetz hinzubekommen. Stimmen Sie diesem bitte zu!
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Vielen Dank. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Mahmut Özdemir, SPD-Fraktion.
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Die Ausführungen des Kollegen von der AfD
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führen dazu, dass ich etwas tun muss, was ich ungern tue.
Herr Kollege, würden Sie Ihre Rede freundlicherweise mit „Herr Präsident!“ beginnen und dann anfangen zu reden?
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Das mache ich gleich. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Ausführungen des Kollegen von der AfD führen dazu, dass ich etwas tun muss, was ich ungern tue. Ich muss Konrad Adenauer zitieren:
Wir leben alle unter dem gleichen Himmel, aber wir haben nicht alle den gleichen Horizont.
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Wir reden heute erneut über die Geschäftsgrundlage unserer Demokratie; aber bedauerlicherweise besteht nicht der Wille, einvernehmlich hier und heute einen Antrag auf Änderung einzubringen. Stattdessen haben sich einige Oppositionsfraktionen zusammengeschlossen und das aufgeschrieben, was ihnen nützt. Das finde ich befremdlich.
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Als Regierungsfraktion wären wir ebenso in der Lage gewesen, einen Gesetzentwurf hier und heute einzubringen,
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der lediglich uns nützt. Deshalb betone ich gerne einige Spielregeln.
Wir sollten diese Debatte zum Anlass nehmen, das Wahlrecht parteiübergreifend zu bewerten, um eine gemeinsame Lösung und ein anständiges Verfahren zu finden. Jede Änderung, egal wer sie auch vorschlägt, muss schließlich auch einer verfassungsrechtlichen Überprüfung standhalten.
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Das Wahlrecht sichert schließlich die Möglichkeit, dass auch eine Minderheit zur Mehrheit in diesem Land werden kann. Daher mahne ich mit Nachdruck: Wir tragen nicht nur Verantwortung für die Parteien, die in diesem Haus mit Fraktionen vertreten sind, sondern für alle Parteien in diesem Land, die zu Bundestagswahlen zugelassen werden.
Blicken wir zurück, wie es überhaupt dazu kam, dass das Bundeswahlrecht in dieser Wahlperiode stetig auf die Tagesordnung gekommen ist.
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Wir beobachten, dass die Gesamtzahl der Abgeordneten des Deutschen Bundestages stetig gewachsen ist. Dies hat verschiedene Gründe: das Wahlrecht selbst, durch Verfassungsstreitigkeiten errungene Veränderungen und letztlich auch – das ist der unumstößlichste Grund – die Entscheidungen des Wahlvolkes bei den Wahlen. Eine Feststellung ist mir wichtig, weil der Eindruck erweckt ist, dass es nicht so sei: Wir haben verfassungsrechtlich keinen Handlungszwang.
Nun wird ein Bundestag, der 800 Mitglieder und mehr zählen könnte – das sind alles Rechenspiele; jeder hat irgendeine Studie oder einen Wissenschaftler, der das belegt –, von Ihnen zur Begründung genommen und diese wiederum zum Selbstzweck erhoben, um Veränderungen einzufordern. Das ist schlicht töricht; der Gedankengang ist aus meiner Sicht fehlerhaft.
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Ich warne auch dringend davor, Begriffe wie „Bläh-Bundestag“ zum Ausgangspunkt für angestrebte Veränderungen zu machen. Denn die Größe des Deutschen Bundestages ist das Ergebnis davon, dass man der Stimme von jeder Wählerin und jedem Wähler Gewicht in der genauen Zusammensetzung des Deutschen Bundestages verleiht. Sie verwechseln schlicht Ursache und Wirkung.
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Rechtfertigen muss sich jede Veränderung insbesondere im Hinblick auf das Verhältnis von Zählwert und Erfolgswert von Stimmen. Jede abgegebene Stimme wiegt gleich viel. Wenn wir jedoch die abgegebenen Stimmen auf den Deutschen Bundestag und – genauer genommen – auf Landeslisten verteilen, stellen wir fest, dass es mehr Erst- oder Zweitstimmen gibt. Wir stellen aber auch fest, dass eine Partei nicht genug Stimmen auf sich vereinigen konnte, um beispielsweise den Einzug in dieses Haus zu erreichen. Auch diese Stimmen müssen aus meiner Sicht in der Erfolgswertung berücksichtigt werden.
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Diejenigen, die allerdings eine Verkleinerung des Deutschen Bundestages verlangen und die Begrenzung mit einer starren Höchstzahl fordern, müssen wissen und den Menschen da draußen erklären, dass sie in die Kraftentfaltung jeder abgegebenen Stimme eingreifen, weil sie dieses Stimmgewicht in der Wirkung auf die Zusammensetzung des Deutschen Bundestages erheblich verkürzen, und das muss verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden.
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Wir brauchen ein Wahlsystem, das die Menschen kennen. Sie müssen die Zusammensetzung hier in diesem Haus verstehen. Überhangmandate, Ausgleichsmandate und Sitzkontingente müssen verständlicher Sprache und einfach erkennbaren Mechanismen, wie es zur Zusammensetzung in diesem Haus kommt, weichen.
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Mit Ihrem Gesetzentwurf schlagen Sie vor, die Zahl der Direktwahlkreise auf 250 zu kürzen und die reguläre Gesamtzahl der Sitze des Bundestages moderat zu erhöhen. So wollen Sie also zugunsten des Verhältniswahlrechts Direktwahlkreise schleifen.
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Ich bin direkt gewählter Abgeordneter aus Duisburg und fühle mich geehrt, meinen Wahlkreis hier vertreten zu dürfen. Bei den Worten fängt es schon an: Während Sie beispielsweise von „Wahlkreise betreuen“ sprechen, lebe und arbeite ich dafür, hier meinen Wahlkreis zu vertreten
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– Sie haben zu früh geklatscht, Kollege –, und mit mir zusammen ganz viele Kolleginnen und Kollegen über Parteigrenzen hinweg, außer in der FDP. Für eine Kürzung der Zahl von Direktwahlkreisen werde ich mich persönlich nicht in meiner Fraktion aussprechen. Ich werde nicht dafür werben, ich werde genau das Gegenteil tun.
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Eine solche Kürzung bedeutet nämlich, dass wir 49-mal die Vertretung von im Durchschnitt 250 000 Einwohnern umschichten müssen. Wir müssen Wahlkreise neu zuschneiden, wir müssen Wahlkreise neu einteilen. Das heißt, Sie wollen die direkte Vertretung von 12,5 Millionen Einwohnern umverteilen auf weniger Abgeordnete. Kürzen bei den Direktwahlkreisen bedeutet Kürzen bei der direkten Demokratie in unserem Land.
({13})
5 von 69 Abgeordneten sind bei den Linken direkt gewählt, 1 von 67 bei den Grünen, bei der FDP ist von 80 Abgeordneten niemand direkt gewählt. Daher geht es Ihnen leicht von der Hand, die Zahl der Direktwahlkreise kürzen zu wollen,
({14})
weil sich Ihre Fraktion bis auf wenige hochgeschätzte Ausnahmen aus den Landeslisten speist.
({15})
Das zeigt im Übrigen auch: Bei Direktmandaten gibt es keine kleinen und großen Parteien. Es gibt nur Direktbewerber, die sich mit ihrer Persönlichkeit und mit ihrer Partei als Einheit oder als Einzelbewerbung der Wahlauseinandersetzung stellen.
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In der Gesamtschau ist es sinnvoll und notwendig, über das stetige Anwachsen der Bundestagsgröße zu reden und Vermeidungsmöglichkeiten zu beraten. Dieses Ziel gilt es jedoch mit einem Verfahren zu erreichen, bei dem alle Fraktionen gemeinsam beraten
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und den Drang zur Eigenbegünstigung, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, auch ablegen.
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Als Sozialdemokraten sind wir dazu bereit, an diesem Ziel zu arbeiten. Wir stellen aber auch fest, dass das geltende Bundeswahlrecht verfassungsgemäß ist und jeder Stimme größtmögliche, vielleicht sogar übermäßige Erfolgsgarantie gibt. Unsere Pflicht ist es, sicherzustellen, dass jede Wahlentscheidung auf jedem Stimmzettel in unserem Land die gleiche Kraft entfaltet, zu bestimmen, wer hier Platz nehmen darf.
Wir streben eine Lösung an, die nach Möglichkeit ohne Verringerung der Anzahl von Direktwahlkreisen auskommt, da wir die Nähe von Abgeordneten und Wahlvolk bestmöglich wahren möchten.
({19})
Die Festlegung einer starren Obergrenze bei Überhangmandaten hingegen muss sich hierbei einer kritischen wissenschaftlichen Bewertung von meinetwegen wahrscheinlich vorhersehbaren Wahlausgängen stellen. Wir Sozialdemokraten wollen eine Veränderung des Wahlrechts, die den abgegebenen Stimmen und ihrem Wert dient.
({20})
Eine Wahlrechtsänderung, die jedoch nur den Verfassern dient, lehnen wir ab.
Ich entschuldige mich beim Präsidenten, dass ich ihn nicht zuvörderst gegrüßt habe. Jetzt steht es, glaube ich, unentschieden, weil er mir das letzte Mal drei Sekunden vor Ende meiner Redezeit das Mikrofon abgedreht hat. Deswegen sage ich: Unentschieden.
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Herr Kollege Özdemir, das kann eigentlich gar nicht sein. Wahrscheinlich haben Sie die Uhr nicht richtig im Auge gehabt.
({0})
Aber ansonsten nehme ich Ihre Entschuldigung an.
Der nächste Redner ist für die Fraktion Die Linke der Kollege Friedrich Straetmanns.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Zur Beratung liegt der gemeinsame Gesetzentwurf der Fraktionen Die Linke, Bündnis 90/Die Grünen und der FDP zur Verkleinerung des Bundestages vor. Vorab herzlichen Dank an die miteinbringenden Fraktionen! Ich denke, dies zeigt: Trotz großer Unterschiede gibt es auch demokratische Gemeinsamkeiten,
({0})
eine wichtige Erkenntnis in einer Zeit zunehmenden Rechtspopulismus. Bezeichnend ist, dass die AfD diesen Weg genauso wenig mitgehen konnte wie CDU/CSU und SPD.
Unser Vorschlag der Reduzierung auf 250 Wahlkreise, des Ausgleichs der Überhangmandate erst auf Bundesebene und der maßvollen Anhebung der Regelgröße des Bundestages auf 630 Sitze würde auf der Basis des Wahlergebnisses von 2017 zu einer Gesamtzahl von rund 630 Abgeordneten im Bundestag führen. Das ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung und berücksichtigt sowohl die verfassungsrechtlichen Vorgaben wie auch den eindeutigen Wunsch der Bevölkerung nach Verkleinerung des Bundestages.
({1})
Ich will nicht verhehlen, dass dieser Vorschlag auch uns als Fraktion und Partei schmerzhaft treffen würde, aber er zeichnet sich eben dadurch aus, dass er allen Parteien gleichermaßen wehtut. Aus meiner Zeit als Richter habe ich eine Erkenntnis mitgenommen: Ein guter Vergleich verlangt allen Beteiligten etwas ab. Das tut unser gemeinsamer Gesetzesvorschlag eben auch, und das ist gut so.
({2})
Der Vorschlag berücksichtigt aber auch die Erkenntnisse der Wahlrechtskommission, die unter der Leitung des Bundestagspräsidenten tagte; das ist wichtig festzuhalten. Viele andere Vorschläge zur Verkleinerung des Bundestages sind eben nicht mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben in Übereinstimmung zu bringen.
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Deshalb war es hilfreich, die Aussagen der juristischen und wahlmathematischen Experten aus der Kommission für die Entwicklung unseres Gesetzesvorschlages nutzen zu können.
Wichtig ist für mich persönlich auch, dass die fast einjährige Tätigkeit in dieser Kommission nicht gänzlich vergebens war. Die Bevölkerung darf zu Recht erwarten, dass wir als Abgeordnete uns der Aufgabe zuwenden, die Zahl der Mandate im Bundestag zu verringern. Ich weiß: Zum Teil werden Kosten der Demokratie für die Verkleinerungsbemühungen angeführt. Hiervon möchte ich mich ausdrücklich distanzieren. Nach allem kann Demokratie nie zu teuer sein.
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Mir ist jedoch ein anderes Argument wichtig, nämlich die Frage der Akzeptanz des Parlaments in der Bevölkerung. Wie kann es gelingen, die parlamentarische Demokratie zu stärken und sie so zugleich zu verteidigen?
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Ich finde, hierfür müssen wir als Parlament sichtbarer werden und mehr Rechenschaft ablegen.
Meine Fraktion hat eine Reihe von Vorschlägen gemacht, die dabei helfen würden. Zum einen brauchen wir mehr Öffentlichkeit, und zwar das ganze Jahr über. Das beginnt mit grundsätzlich öffentlichen Ausschusssitzungen und deren Übertragung im Internet.
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Genauso müssen wir zum anderen aber auch über uns selbst Rechenschaft ablegen, zum Beispiel durch die Einführung eines verbindlichen Lobbyregisters.
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Nur ein Parlament, das zum einen die Breite der Meinungen widerspiegelt und zum anderen eben nicht als Selbstbedienungsladen gesehen wird, kann erfolgreich arbeiten.
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Dass bei einer Reform die Wahlkreise größer werden, ist unangenehm – ich will das nicht verhehlen –, darf aber einer Reform letztlich nicht entgegenstehen. Hier werden sich in der weiteren Beratung aber sicher Lösungen finden lassen. Daher ist dieser Gesetzentwurf zugleich auch eine Einladung an die bisher nicht beteiligten Fraktionen, sich in die Diskussion einzubringen. Lassen Sie uns diesmal eine Gesetzesinitiative mit ausreichender Zeit und Expertise angehen. Bei der Anhebung der Parteienfinanzierung haben Sie, wie wir wissen, beides gerade nicht getan. Die Reform des Wahlrechts wäre eine gute Gelegenheit, es anders zu machen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege Straetmanns. – Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Britta Haßelmann, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Die Zeiten der alten Bonner Republik sind vorbei. Wir sind im Jahr 2019. Die Parteienlandschaft hat sich verändert,
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und vor allen Dingen die Kräfteverhältnisse der Parteien haben sich erheblich verändert.
Da hier alle das personalisierte Verhältniswahlrecht beschwören, führt das auch dazu, dass wir uns dringend der Frage stellen müssen, wie wir auf der Grundlage des personalisierten Verhältniswahlrechts alle gemeinsam unsere Verantwortung wahrnehmen, um auf dieser Grundlage einen arbeitsfähigen Bundestag, der nicht mit bis zu 800 Abgeordneten arbeitet, zustande zu bringen.
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Meine Damen und Herren, wir Abgeordnete haben alle eine Verantwortung für unser Parlament, für die Akzeptanz unseres Parlamentes, für die Akzeptanz unseres Wahlrechtes und für das Funktionieren unserer parlamentarischen Demokratie. Daran will ich insbesondere bei SPD und CDU/CSU appellieren. Was nicht geht, ist, zu sagen: Wir wollen das akzeptierte personalisierte Verhältniswahlrecht beibehalten; denn es ist hochakzeptiert, es ist die Grundlage unserer Rechtsprechung. Aber eigentlich wollen wir nichts ändern.
Sie halten hier ein Loblied ausschließlich auf die Direktmandate. Jede und jeder, die oder der sich mit dem Wahlrecht befasst, weiß, dass die Diskrepanz zwischen der Zahl der Direktmandate, die Sie erzielen – insbesondere bei der Union –, und dem Zweitstimmenergebnis zu dem Überhang führt. Und der muss wiederum für alle Fraktionen ausgeglichen werden. Meine Damen und Herren, der einzige Weg, die Zahl dieser Überhangmandate und Ausgleichsmandate nicht so überbordend werden zu lassen, ist die Reduzierung der Zahl der Wahlkreise.
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Das weiß jede und jeder, die oder der sich mit dem Wahlrecht schon mal beschäftigt hat.
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Meine Damen und Herren, unser Vorschlag fußt auf dem personalisierten Verhältniswahlrecht und sieht vor: die Reduzierung der Wahlkreise von 299 auf 250,
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die Abschaffung der Sitzkontingentverfahren und die moderate Erhöhung der Gesamtsitzzahl von 598 auf 630. Insgesamt, meine Damen und Herren, sollten wir alle die Verantwortung wahrnehmen, an einer gemeinsamen Lösung zu arbeiten. Da nutzt die Methode der SPD – „Kopf in den Sand“ – gar nichts.
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Meine Damen und Herren, für uns gilt der Grundsatz: Jede Stimme muss uns gleich viel wert sein. Deshalb kann eine Partei, die 29 Prozent erzielt, auch nur für 29 Prozent in den Bundestag einziehen. Alles andere verzerrt das Zweitstimmenergebnis.
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Warum versteht die SPD das nicht?
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In Ihrer Lage müssten Sie flammend für das personalisierte Verhältniswahlrecht werben.
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Meine Damen und Herren, unser Vorschlag trifft alle Parteien proportional gleich. Wann verstehen Sie das? Rechnen Sie das einfach mal nach!
Dann sage ich Ihnen noch was zu den Direktkandidatinnen und ‑kandidaten, den Direktmandatierten und den Listenmandaten.
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In Ihrer Fraktion sind 153 Abgeordnete,
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95 Abgeordnete davon sind über Listen eingezogen. Wie reden Sie hier eigentlich über die Leute?
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Ich finde diese Abschätzigkeit unfassbar. Das gilt für alle Kolleginnen und Kollegen hier im Deutschen Bundestag. Wir sind 709 Abgeordnete, 410 davon sind über Listen der Parteien eingezogen.
Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss, bitte.
Ich verbitte mir dieses abfällige Gerede über Abgeordnete. Es gibt nicht Abgeordnete erster und zweiter Klasse.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Haßelmann. – Als nächster Redner hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Michael Frieser.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist noch nicht mal alter Wein in neuen Schläuchen, sondern es ist immer noch der alte Wein in den alten Schläuchen.
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Eine typische Haßelmann, mit dem ersten Satz zu sagen: „Wir stehen zum personalisierten Verhältniswahlrecht“, und sich das Reden über Listenmandatsträger zu verbitten
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und im selben Satz das Direktmandat und die direkt legitimierten Abgeordneten dieses Hauses niederzureden. Frau Haßelmann, so geht es nicht.
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Das ist unglaubwürdig und inkonsistent.
Ich muss Ihnen sagen: Sie wollen mit Ihrem Vorschlag – das ist die Wahrheit, die Sie den Wählerinnen und Wählern nicht erzählen – zum Wahlrecht von 2008 zurück; Kollege Heveling hat es angesprochen. Wir haben uns damals mit der absoluten Mehrheit dieses Hauses, mit Ihrem Zutun, dazu entschlossen, den wesentlichen Punkt, das negative Stimmengewicht, zu reduzieren. Im Ergebnis machen Sie es jetzt sogar noch schlimmer: Sie öffnen die Tür wieder für das negative Stimmengewicht und nehmen noch 50 Wahlkreise weg. Das ist im Grunde die Verdoppelung dessen, was wir eben nicht zulassen sollten.
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Und warum? Ohne jede Gewähr dafür, dass dieser Bundestag wirklich kleiner wird. Jeder, der in dieser Wahlreformkommission saß, weiß anhand der Zahlen ganz genau: Selbst mit Ihrem Vorschlag ist ein Bundestag von 700, 750 Personen möglich, weil Sie nicht an das zugrundeliegende Problem herangehen. Sie lösen gar nichts, Sie nehmen nur Wahlkreise weg.
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Schon heute sitzen in diesem Deutschen Bundestag 40 Prozent Wahlkreisdirektabgeordnete und 60 Prozent Listenmandatsträger. Die tragen alle zur Demokratie bei,
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überhaupt keine Frage. Nur, man kann doch nicht allen Ernstes behaupten, es gehe hier um eine Gleichberechtigung; denn die Wähler, die ihre Erststimme abgegeben haben, sind nach dem personalisierten Verhältniswahlrecht eben nicht gleichberechtigt in diesem Bundestag vertreten. Genau das ist es, was Sie im Grunde in Marmor meißeln wollen.
In Wahrheit geht es darum, das zu verstetigen, wovon Sie die Größe Ihrer Fraktionen wirklich abhängig machen, nämlich das Listenmandat als Ausgleichsmandat. Dafür nehmen Sie die demokratisch legitimierten Direktwahlkreise weg. Das ist die Wahrheit. Nur, das wollen Sie dem Wähler tatsächlich nicht erzählen. Da können und wollen wir definitiv nicht mitmachen.
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Was Sie mit mathematischen Tricks gewinnen, ist eine ganz andere Frage. Sie müssen sehr tief in die Trickkiste hineingreifen, damit Sie so tun können, als könnten Sie den Deutschen Bundestag tatsächlich verkleinern. Das wird nicht funktionieren.
Und jetzt wird es wirklich krude. Weil man sich selber nicht ganz traut, geht man in dem Oppositionsantrag noch einen Schritt weiter und sagt: Wir könnten uns auch einen Bestenwahlkreismodus vorstellen. – Da sind wir verdächtig nah am Vorschlag der AfD. Aus meiner Sicht macht das Ihren Vorschlag nicht unbedingt glaubwürdiger.
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Stellen Sie sich dem Wettbewerb vor Ort! Vor was haben Sie denn Angst? Es ist doch nicht in Marmor gemeißelt, dass irgendjemand von der SPD oder von der Union einen Wahlkreis gewinnt. Stellen Sie sich dem Wettbewerb und dem Kampf!
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Sie wissen ganz genau, dass selbst bei 30 Wahlkreisen weniger keine Verwaltungsbezirkgrenze mehr zu halten ist. Sie wissen, dass bei 50 Wahlkreisen weniger selbst die Ländergrenzen nicht mehr zu halten sind. Sie wissen, was Sie diesem Land an dieser Stelle antun: Sie legen die Axt an die Grundlage der Demokratie.
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Deshalb lade ich Sie ein und sage: Kommen Sie mit, lassen Sie uns ein Modell finden, das den Bundestag wirklich begrenzt, ohne nur so zu tun.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Frieser. – Als letzter Redner hat der Kollege Axel Müller, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident Kubicki! Sehr geehrter Herr Parlamentspräsident Schäuble! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Grundkonsens ist – das hat die Debatte gezeigt –, dass wir nach Wegen suchen müssen und sollten, die das Parlament weg von den derzeit 709 Mitgliedern in die Nähe seiner gesetzlichen Sollstärke von 598 Mitgliedern führt.
Dass wir neben den 299 in personalisierter Verhältniswahl direkt gewählten Abgeordneten weitere 410 durch reine Verhältniswahl bestimmte Abgeordnete haben und damit über den Zahlen liegen, hängt – entgegen dem, was der Gesetzentwurf behauptet – nicht allein mit den sogenannten Überhangmandaten zusammen, sondern auch mit einem falschen Verständnis, wie diese auszugleichen sind. Nach dem Bundesverfassungsgericht, Frau Haßelmann, muss das eben nicht eins zu eins geschehen, sondern kann in einem begrenzten Maße erfolgen.
({0})
Etwa 15 ausgleichslose Überhangmandate werden seitens des Bundesverfassungsgerichts als zulässig angesehen.
Die weiteren rechtlichen und systematischen Einzelheiten haben die Vorredner dargelegt. Ich möchte mich daher dem Thema von einer ganz anderen Seite nähern, nämlich der tatsächlichen, und damit aufzeigen, warum auch in dieser Frage die normative Kraft des Faktischen eine richtige Antwort auf das gibt, was geht und was nicht geht. Ich will Ihnen das anhand von zwei Beispielen darlegen und damit auch auf das Bezug nehmen, was der Kollege Heveling gesagt hat: Wie stellt man denn den Bezug zum Wahlkreis und zu den Menschen her?
Erstes Beispiel. Diese Woche hatte ich, wie viele von uns, eine Besuchergruppe aus dem Wahlkreis hier zu Gast: 50 ehrenamtlich engagierte Menschen aus allen Teilen meines Wahlkreises Ravensburg. Rückreise nach Süddeutschland: morgens um 7.30 Uhr. Um 6.30 Uhr bin ich mit dem Fahrrad in den Ostteil der Stadt gefahren – 10 Kilometer vom Reichstag entfernt –, um ihnen eine gute Heimreise zu wünschen. Warum mache ich das? Weil ich mich ihnen, diesen Menschen, verbunden fühle, weil ich ihr Vertreter, ihr Repräsentant hier bin.
({1})
Zweites Beispiel. Im Frühsommer dieses Jahres habe ich mir einen gebrauchten VW-Bus gekauft, bin damit während der parlamentarischen Sommerpause zusätzlich zu den vielen anderen Terminen, die ich das Jahr über wahrnehme, in allen Städten, Gemeinden, Ortschaften meines Wahlkreises gewesen. Vor Kirchen, Rathäusern, auf Marktplätzen,
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vor Dorfgemeinschaftshäusern und Sportplätzen habe ich zusätzliche Bürgersprechstunden angeboten.
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Ein Wahlkreis, der 1 500 Quadratkilometer groß ist und im Übrigen das abbildet, was § 3 des Bundeswahlgesetzes verlangt, nämlich die politischen Verwaltungsgrenzen des Landkreises.
Viele Wochen war ich mit „Politik auf Achse“ unterwegs; hundertfach habe ich Gespräche geführt.
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Viele Menschen haben gesagt: Ich bin nicht politikverdrossen, aber ich kritisiere den Berufsstand der Politiker.
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Ein Vorwurf, den Sie sicher auch öfter zu hören bekommen, wiederholte sich. Er lautete: Politiker und Parteien würden sich meistens nur vor Wahlen sehen lassen. – Dem habe ich meine „Politik auf Achse“-Tour gegenübergestellt und wurde dafür durchweg gelobt.
Meine Damen und Herren, der direkt gewählte Abgeordnete ist für mich der Kümmerer
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für die Menschen aus dem Wahlkreis, gleich, wer sie sind und um was es dabei geht. Er ist einer von ihnen. Er ist ihr Sprachrohr.
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Aber mitnehmen kann man nur, wenn man vor Ort ist, um abzuholen. Und das kann niemand besser als der direkt gewählte Abgeordnete.
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Ich finde es nicht fair, Herr Dr. Ruppert, wenn jemand hier sagt: Machen wir die Wahlkreise doch etwas größer; es fällt doch leicht, dem Rechnung zu tragen.
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Meine Damen und Herren, diese Zustimmung der Mehrheit der Menschen meiner Heimat, deren Vertreter ich hier bin, schafft auch Unabhängigkeit in Berlin. Sie bildet ein festes Fundament für den – so steht es im Grundgesetz – freien und an Weisungen nicht gebundenen Abgeordneten.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Vor diesem Hintergrund finde ich es schon befremdlich, dass gerade von denjenigen, die sonst mehr direkte Demokratie fordern, dieselbe gekürzt werden soll.
({0})
Das stößt bei mir nicht nur auf Verwunderung – –
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten leider zu sehr später Stunde einen wichtigen Antrag. Es geht um die Frage, wie wir Kinder weltweit schützen wollen und wie es uns gelingen kann, ausbeuterische Kinderarbeit zu verhindern. Das ist ein extrem wichtiges Thema, und unser vorliegender Antrag stellt dieses Thema auch in den Mittelpunkt, um klarzumachen, dass der Schutz von Kindern weltweit ein wichtiger Bestandteil unserer Außenpolitik, unserer Entwicklungspolitik, unserer Menschenrechtspolitik und auch der humanitären Hilfe ist.
({0})
Aber wir müssen dieses Engagement verstärken, auch das bringt dieser Antrag zum Ausdruck; denn Kinderrechte sind Menschenrechte,
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und sie müssen immer gelten, überall und für jedes Kind.
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Wir wissen genau, dass es viele Bereiche gibt, in denen das leider noch nicht zutrifft. Wir alle kennen die Zahlen von Kindern, die in keine Schule gehen können. Wir wissen von dem Unrecht, das Kindern in bewaffneten Konflikten widerfährt, und wir kennen das Leid von Kindern auf der Flucht und in ausbeuterischer Arbeit.
Der Antrag hat einen Hintergrund und eine Genese. Ich freue mich, dass viele, die einen Anstoß und Anregungen zu diesem Antrag gegeben haben, zu so später Stunde noch auf der Tribüne sind. Es sind nämlich zivilgesellschaftliche Organisationen wie „Brot für die Welt“, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und ganz viele junge Menschen, die sich für dieses Thema starkgemacht und eingesetzt haben. Herzlich willkommen!
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Die Idee basiert auf einer Kampagne des indischen Friedensnobelpreisträgers Kailash Satyarthi, der mit seiner Kampagne „100 Million“ dem entgegenwirken möchte, dass Kinder weltweit vernachlässigt werden. Das Ziel ist klar: Jedes Kind an jedem Ort der Welt, wie er selbst sagt, „free, safe and educated“, also frei, sicher und in der Chance auf Bildung, aufwachsen zu lassen.
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Die Realität sieht anders aus: Im 21. Jahrhundert zeichnet die Internationale Arbeitsorganisation ein entsetzliches Bild. Fast jedes zehnte Kind weltweit arbeitet; das sind 152 Millionen Kinder und Jugendliche. 73 Millionen verrichten besonders gefährliche Tätigkeiten – um diese besonders gefährlichen Tätigkeiten geht es gerade auch – in Steinbrüchen, in Bergwerken, auf Kakaoplantagen, beim Goldabbau. Viele Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen hier haben das bereits persönlich gesehen und diesen Kindern in die Augen geschaut. Ich sage Ihnen aus persönlicher Erfahrung: Diese Augen vergisst du nicht. – Es ist wichtig, gegen ausbeuterische Kinderarbeit vorzugehen.
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Deshalb brauchen wir gesetzliche Regelungen. Ich bin zutiefst überzeugt: Diese Regelungen brauchen wir auch für die Einfuhr von Produkten aus ausbeuterischer Kinderarbeit. Auch das muss geächtet und verhindert werden. Es gibt Länder in Europa, die vorangehen. Ich denke an die Niederlande, die ein explizites Gesetz zum Kampf gegen ausbeuterische Kinderarbeit erlassen haben. Ich denke in einem größeren Rahmen aber auch an Länder wie Frankreich, Großbritannien, einige US-Bundesstaaten, Australien und auch Länder wie Kanada, die Regelungen vorbereiten, um Lieferketten zu unterbinden, Menschenrechte zu stärken und Kinderarbeit generell zu verhindern.
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Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. Unser Antrag enthält ein Bündel an Forderungen und ein Bündel an Ideen und Maßnahmen, um zu einer Verhinderung von ausbeuterischer Kinderarbeit zu kommen. Ich bitte Sie alle, diesen Antrag zu unterstützen.
Danke.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Kofler. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Ulrich Oehme, AfD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! In wenigen Tagen begehen wir die Jubiläen des 70. Jahrestags der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und des 30. Jahrestags des Übereinkommens über die Rechte des Kindes, der Kinderrechtskonvention. Ein Anlass zum Feiern sind sie allerdings nicht; denn nach all dieser Zeit sieht die Realität düster aus.
Einigkeit darüber, dass Kinderarbeit abgeschafft gehört, besteht in diesem Haus zweifelsohne. Wie aber lässt sich diese abschaffen? Und wer ist dafür verantwortlich? Entsprechend lehnen wir nicht das Ziel dieses Antrages ab, sondern bemängeln die darin enthaltenen Schlussfolgerungen.
Die Internationale Arbeitsorganisation, die ILO, schätzt die Zahl der von ausbeuterischer Kinderarbeit betroffenen Kinder 2017 auf circa 152 Millionen. Andere Schätzungen gehen von bis zu 250 Millionen Kindern aus. 71 Prozent davon, circa 108 bis 177 Millionen Kinder, arbeiten in der Agrarwirtschaft, und – das ist sehr bedenklich – 4,3 Millionen befinden sich in Zwangs- und Sklavenarbeit.
Kinderarbeit entstand und entsteht ausschließlich aus ökonomischem und finanziellem Druck. Die Kinder gehen nicht oder nur selten in die Schule, und es beginnt ein Teufelskreis aus Armut, schlechter Bildung und schlechter Bezahlung. In vielen unserer Gebrauchsgüter kann ein Stück Kinderarbeit stecken, unter anderem die Rohstoffe Kobalt und Gold in elektronischen Geräten und damit auch in der Elektromobilität der Bundesregierung. Kinderarbeit steckt auch in der täglichen Tasse Kaffee oder Tee, in der Schokolade, vielfach in der Kleidung, die wir tragen, und in den Steinen, die wir im Baumarkt günstig einkaufen.
Bestrebungen, diese Zustände zu verbessern, gab es viele. Im Antrag selbst sind der Zertifikate- oder Siegeldschungel und das Lieferkettengesetz genannt. Alle haben bisher nicht zum gewünschten Ziel geführt und werden auch nicht zum gewünschten Ziel führen, da sie die Symptome der Kinderarbeit, aber nicht deren Ursachen bekämpfen.
Nehmen wir zum Beispiel den Fairen Handel: Verbraucher, die Produkte dieser Siegel kaufen, glauben, etwas Gutes für die Erzeuger zu tun. Schließlich handelt es sich um fair gehandelte Produkte. Wenn man sich jedoch mit der Geschichte des Labels genauer beschäftigt, stellt man ganz schnell fest, dass das, was damals geplant war, nämlich den Bauern zu einem soliden Einkommen zu verhelfen, verfehlt wurde.
1994, bei der Einführung von Fairtrade, lag der Weltmarktpreis für eine Tonne Kakao bei 1 200 US-Dollar. Heute müsste der Preis inflationsbereinigt bei 8 000 US-Dollar liegen. Aktuell steht er jedoch bei 2 190. Wie sollen Erzeuger angesichts solcher Preise ihren Lebensunterhalt bestreiten? Für die Familien ist die Mitarbeit der Kinder lebensnotwendig.
Der planwirtschaftliche Eingriff in die Regelungen eines Marktes mit Premiumzahlungen durch Zertifikate und Ertragssteigerungen führte in den letzten Jahren zu einer Überproduktion. Zu diesem Schluss kommt das Kakao Barometer 2018. Das Gleiche gilt für Kaffee. Kleinstbetriebe können auch sonst nicht mit großflächigen Plantagen beim Preis konkurrieren.
Warum glorifizieren wir also diese Art der Produktion? Fairtrade und andere Siegel verschleiern hinter relativ kostenaufwendigen und intransparenten Strukturen, dass die Kinderarbeit eben nicht reduziert wurde, während das Gewissen des Konsumenten jedoch aufgrund des höheren Preises beruhigt wird.
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Das ist moderner Ablasshandel, an dem auch das neue Siegel von Herrn Müller, der Grüne Knopf, nichts ändern wird. Schon 2015 bescheinigte der Beirat für Technikfolgenabschätzung, dass Zertifikate nichts bis kaum etwas an der Situation innerhalb einer Lieferkette ändern und meist nur als Feigenblatt der Industrie gelten.
Die neuesten Ideen des Nationalen Aktionsplanes, NAP, und des eventuell folgenden Lieferkettengesetzes werden ebenfalls nicht zur gerechten Entlohnung von Arbeitern und zur Abschaffung von Kinderarbeit führen. Die Nachweispflichten für Unternehmen über die Lieferketten, die sie zusätzlich belasten, werden den Wettbewerb zwischen großen Konzernen und kleinen und mittelständischen Unternehmen weiter verzerren und deutsche Unternehmen weltweit benachteiligen.
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Solange die Regierungen der Erzeugerländer keine soziale, ökonomische und vor allem rechtliche Verantwortung für ihre Länder übernehmen, wird sich wenig bis nichts ändern. Dies gilt vor allem für die 54 Staaten, die bis zu zwei Drittel ihres Haushaltes durch internationale Hilfsgelder finanzieren.
Kinderarbeit wurde in Deutschland und Europa vor allem dadurch eingedämmt, dass die Schulpflicht durch den Staat durchgesetzt wurde, das Bevölkerungswachstum zurückging, damit die finanzielle Belastung schrumpfte und die Eltern ein existenzsicherndes Einkommen generieren konnten.
Wir lehnen diesen Antrag ab, da er ein Weiter-so als Lösung des Problems ansieht. Wir sollten aufhören, uns weiter eines Entwicklungsmodells der 60er-Jahre zu bedienen, um die Probleme des 21. Jahrhunderts zu lösen.
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Gern können Sie, so Sie Mitglied der deutschen Delegation des Europarates sind, meine zweite Motion zu diesem Thema mitzeichnen. Die erste hatten Sie und die Leitung des Europarates abgelehnt.
Danke.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächster Redner hat für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Dr. Wolfgang Stefinger das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine siebenköpfige Bauernfamilie verdient mit der Kakaoernte etwa 100 Euro im Monat. 100 Euro für sieben Personen im Monat! Das Geld reicht nicht. Die Folge: Armut, Hunger und in vielen Fällen Kinderarbeit. Von diesen Beispielen gibt es viele. Rund 150 Millionen Kinder müssen weltweit arbeiten, um das Überleben ihrer Familie zu sichern.
Die Kinderrechtskonvention wird nächste Woche 30 Jahre alt. Ihr Ziel: die Lage der Kinder weltweit zu verbessern und deren Rechte zu schützen. In den vergangenen 30 Jahren – das möchte ich schon betonen – ist viel passiert. Die Kinderarbeit konnte nämlich halbiert werden. Unser Ziel ist aber – und es gibt noch viel zu tun –, die ausbeuterische Kinderarbeit ganz zu beenden;
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denn wir müssen feststellen, dass weltweit noch immer über 70 Millionen Kinder unter ausbeuterischen Bedingungen arbeiten müssen.
Kinder schuften in Afrika auf Kakaoplantagen, damit die Schokolade bei uns im Supermarkt günstig ist. Kinder riskieren ihre Gesundheit und ihr Leben in den Minen, um Coltan für unsere Smartphones und auch für unsere E-Autos zu gewinnen.
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Die Kinder schleppen in Bergwerken in Peru und in Steinbrüchen in Indien schwere Lasten, um Gold und Steine für unseren Markt zu gewinnen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das wollen und müssen wir ändern.
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Um die Kinderarbeit wirksam zu bekämpfen, müssen wir vor allem an drei Stellen ansetzen. Erstens. Wir müssen die Armut bekämpfen und für existenzsichernde Löhne für die Erwachsenen, die Eltern, sorgen. Zweitens müssen wir den Kindern die Chance auf Bildung ermöglichen. Schließlich müssen wir, drittens, unser Konsumverhalten überdenken und auch unsere Unternehmen in die Pflicht nehmen.
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In erster Linie sind natürlich selbstverständlich die Länder gefordert. Es sind staatlich-hoheitliche Aufgaben in souveränen Staaten zu erfüllen. Die Regierungen dieser Staaten müssen Kinderrechte durchsetzen und gewährleisten. In vielen Fällen ist hier aber unsere Unterstützung notwendig, beispielsweise beim Arbeitsmarktaufbau und auch beim Aufbau sozialer Sicherungssysteme.
Ich möchte betonen: Die Armutsbekämpfung ist und bleibt ein Schwerpunktthema der Entwicklungszusammenarbeit. Wir müssen den Teufelskreis durchbrechen. Häufig erleben wir: Eltern hatten keine Bildung, und dadurch bekommen die Kinder auch keine. Schulgebühren sind zu hoch und Schulbücher zu teuer. Aber nur mit einer guten Ausbildung können die Kinder ihr Leben gestalten und – vor allem – die Nationen, die Länder, vorankommen. Deswegen fordern wir in unserem Antrag eine intensivere Unterstützung der Bundesregierung für ein funktionierendes Bildungssystem in diesen Ländern.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zu uns, zu unserem Konsumverhalten. Und ich komme auch dazu, dass wir auch die unternehmerische Verantwortung sehen müssen; denn wir alle, egal ob Verbraucher oder Unternehmer, können dazu beitragen, dass die ausbeuterische Kinderarbeit gestoppt wird.
Deshalb müssen wir uns fragen: Muss es wirklich immer das Schnäppchen sein? Benötigen wir wirklich noch ein neues T-Shirt oder schon wieder ein neues Handy? Wenn ja, was sind wir bereit dafür zu zahlen? Ist Geiz wirklich geil, wie es uns die Werbung immer vorgibt? Wollen wir weiter akzeptieren, dass Kinderarbeit verrichtet wird und Hungerlöhne gezahlt werden, damit wir Bananen, Kaffee, Schokolade, Kleidung und so manches Elektrogerät günstig kaufen können?
Wir fordern eine gezielte Aufklärung zu den Produkten, die transparent macht, was unter Einhaltung sozialer, ökologischer und nachhaltiger Standards produziert worden ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es braucht klare Regeln. Es braucht Zertifizierungssysteme, Siegel, die eine verlässliche Orientierungshilfe für den Verbraucher sind, und es braucht auch eine besondere Verantwortung der Unternehmen.
Die Unternehmen sind in besonderer Weise gefordert, in ihren Lieferketten sicherzustellen, dass sie Produkte ohne Kinderarbeit und nicht unter ausbeuterischen Bedingungen produzieren.
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Ich möchte hier sagen, dass es viele Unternehmen gibt, die diese Verantwortung bereits wahrnehmen. Sie achten in ihrer Lieferkette darauf, dass Umwelt-, Sozial- und Menschenrechtsstandards eingehalten werden. An dieser Stelle diesen Unternehmen ein herzliches Dankeschön.
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Derzeit läuft eine Unternehmensbefragung zur Lieferkette. Ich kenne, wie Sie alle, die Debatte dazu nur zu gut, vor allem auch die Widerstände zum Thema Lieferkettengesetz. Von verschiedener Seite höre ich, ein Nachweis sei ganz schwierig und es geht alles überhaupt nicht. Eine große Aufregung bei verschiedenen Verbandsvertretern, die meiner Meinung nach die Zeichen der Zeit nicht erkannt haben.
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Eine Vielzahl von Unternehmen haben die Zeichen der Zeit erkannt und nehmen auch ihre Verantwortung war. Sie zeigen, dass es geht. Auch wir zeigen, dass es mit dem stattlichen Textilsiegel „Grüner Knopf“ geht. Wir haben gezeigt, dass es geht: ein Siegel, klare Standards, Mehrwert für Unternehmen, Mehrwehrt für den Verbraucher, aber vor allem Mehrwert für die Menschen vor Ort, vom Baumwollfeld bis zur Textilfabrik.
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Wir setzen natürlich auf die Freiwilligkeit und auf gemeinsame Lösungen mit der Wirtschaft. Aber ich sage noch einmal ganz deutlich, auch in Richtung aller Verbände. Die Lösung kann nicht heißen: blockieren, verzögern und am Ende gar nichts machen.
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Ich bin überzeugt: Am Ende werden auch die Verbraucher abstimmen und entsprechende Nachweise erzwingen. Wir fordern die Bundesregierung auf, das Thema Lieferketten im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft nächstes Jahr zum Thema zu machen. Deutschland ist stark, aber mit Europa sind wir noch stärker.
Herr Präsident, ich komme zum Ende. Wir sprechen oft von Fairness, von Fairness im Umgang, von Fairness beim Sport oder bei Entscheidungen. Wir haben es in der Hand, für faire Bedingungen zu sorgen, und zwar aus Verantwortung für die Menschen vor Ort, aus Verantwortung für die Kinder.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Till Mansmann, FDP-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Ausbeuterische Kinderarbeit ist weltweit ein großes Problem, und im Antrag der Großen Koalition ist es richtig und empathisch beschrieben. Wir Freie Demokraten begrüßen es, dass Sie dieses wichtige Thema auf die Tagesordnung gesetzt haben.
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Steigen wir also in die Diskussion ein. Das Problem der Kinderarbeit und die Frage der Armut können nur gemeinsam gelöst werden. Wo die Leistung der Kinder zur Existenzsicherung der Familie notwendig ist, wird sich die Kinderarbeit nicht bekämpfen lassen. Wer Kinderarbeit bekämpfen möchte, muss die Armut bekämpfen. Herr Kollege Dr. Stefinger, Sie haben das auch ganz richtig benannt.
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Und da kommen wir zur Kritik an Ihrem Antrag. Die Problematik ist gut beschrieben. Als Lösung schlagen Sie letztlich aber ein deutsches Lieferkettengesetz vor. Wir müssen nun erst einmal richtig darüber diskutieren, ob das wirklich der richtige Weg ist. Wir fürchten nämlich, dass es am Ende nicht funktionieren wird, die verfehlte Arbeitspolitik anderer Länder ins deutsche Recht, sogar ins deutsche Strafrecht hinüberzuziehen und deutschen Unternehmern aufzubürden. Bei großen Konzernen mag das eine gewisse Wirkung erzielen. Im deutschen Mittelstand, den wir doch in viel größerem Maße als Investoren in EZ-Partnerländern gewinnen wollen, wird das nicht funktionieren. Dort werden Sie nur eines bewirken: einen Rückzug aus den Investitionen, die diese Länder doch so dringend brauchen. Das heißt: weniger Jobs, weniger Dynamik und am Ende mehr Armut, mehr Kinderarbeit.
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Wohlstand und sozialen Fortschritt werden wir nur erreichen können, wenn wir den freien Markt bestärken. Deutschlands Unternehmen sind nicht Teil des Problems. Deutsche Unternehmen sind wichtige Partner zur Lösung des Problems. Privatwirtschaftliche Investitionen schaffen Jobs und lösen eine positive wirtschaftliche Dynamik aus. Nehmen wir ein Beispiel, bei dem von den politisch Handelnden die Privatwirtschaft bewusst zurückgedrängt wurde. Venezuela. Laut Zahlen des Arbeitsministeriums der Vereinigten Staaten müssen dort über 100 000 Kinder zwischen 10 und 14 Jahren arbeiten. Der Grund ist die von der sozialistischen Planwirtschaft ausgelöste schwere Wirtschaftskrise im Land.
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Wir glauben übrigens auch, dass die Ebene nicht stimmt. In unserem Binnenmarkt legt die Europäische Union die Regeln für den Außenhandel fest. Sie argumentieren aber über den Nationalen Aktionsplan auf nationalstaatlicher Ebene. Das ist nicht richtig passend.
Liebe Kollegen der Großen Koalition, Ihre Intention ist über jeden Zweifel erhaben, aber das alleine reicht nicht aus. Über die richtigen Instrumente müssen wir noch intensiv diskutieren. Es ist wie beim Klimaschutz: Nationale Alleingänge werden das Problem nicht lösen.
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Lassen Sie mich zum Schluss noch ein aktuelles Beispiel für die moralische Verantwortung nennen, die wir durchaus in den sich entwickelnden Ländern einfordern müssen: Bolivien. Gerade ist Evo Morales ins Exil gegangen. Er ist ein Sozialist, der in Bolivien maßgeblich das sogenannte Gesetz Nr. 548 zu verantworten hatte. Ein Gesetz, das Kinderarbeit nicht nur bekämpft, sondern sogar noch explizit legalisiert. Morales hat über die Abschaffung der Kinderarbeit gesagt – Zitat –, sie käme der Abschaffung des sozialen Gewissens der Kinder gleich.
Vor ein paar Tagen hat die Fraktion der Linken eine Ergebenheitsadresse an Morales geschickt, in der zu lesen war, die Absetzung des Präsidenten sei – Zitat – „ein Anschlag auf die sozialen Errungenschaften Boliviens“.
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Da musste ich schon schlucken.
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Wir müssen in unseren Ausschüssen dringend über Kinderarbeit diskutieren, auch ganz grundsätzlich.
Bei diesem Antrag werden wir uns enthalten, weil das Thema zwar richtig, der vorgezeichnete Weg aber fragwürdig ist.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Mansmann. – Die Kollegin Helin Evrim Sommer, Fraktion Die Linke, und der Kollege Uwe Kekeritz, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.
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Deshalb rufe ich als nächsten Redner den Kollegen Dr. Sascha Raabe, SPD-Fraktion, auf.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich war in dieser Legislaturperiode dienstlich unter anderem in Madagaskar, Togo, Ghana und jüngst in der Demokratischen Republik Kongo. Wenn man vor Ort sieht, wie zum Beispiel in Madagaskar Kinder in einem Eimer in einem Loch versenkt werden, das einen Meter breit ist, und nach ein paar Stunden wieder hochgeholt werden, weil sie dort ein paar Diamanten klopfen müssen, wenn man sieht, wie in der Elfenbeinküste, in Ghana und in Togo 2 Millionen Kinder auf Kakaoplantagen mit Macheten in der sengenden Hitze arbeiten, nicht zur Schule gehen können, nicht spielen können, wenn man im Kongo sieht – ich bin vor vier Wochen aus dem Kongo zurückgekommen – unter welch fürchterlichen Bedingungen in den Minen Gold, Kobalt und andere Mineralien abgebaut werden, wie Kinder dort ganz schwere Lasten tragen müssen, dann macht einen das fassungslos. Denn auf dem Papier hat sich die Weltgemeinschaft schon längst verpflichtet, dass es so was gar nicht mehr geben darf.
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Deswegen dürfte es unseren Antrag heute eigentlich gar nicht geben; denn auch die Länder selbst haben sich verpflichtet, das zu unterbinden.
Nur nützt es nichts, wenn wir das hier nur beklagen. Wir müssen dann auch – hier geht meine Kritik an den sonst geschätzten Kollegen Herrn Mansmann von der FDP – die Unternehmen, die viel Geld damit verdienen, in die Pflicht nehmen. Genauso müssen wir die Regierungen der Länder in die Pflicht nehmen. Das ist nicht ein Gegeneinanderausspielen, sondern beides muss kommen.
Ich bin froh und dankbar, dass Entwicklungsminister Müller zusammen mit Hubertus Heil, unserem Arbeitsminister, Initiativen ergreift: Lieferkettengesetze, den Nationalen Aktionsplan für Menschenrechte verbindlich machen wollen. Wir können doch nicht sagen: Bitte, bitte, seht zu, dass keine Kinder für euch schuften! – Das ist ein Menschenrecht, das wir einfordern müssen. Das muss verbindlich und verpflichtend sein, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Wir haben Gott sei Dank Unternehmen, die anders denken als das Motto der FDP lautet: Wenn jeder für sich selbst sorgt, ist für alle gesorgt. – Sie sagen: Wir wollen auch verantwortungsvoll sein, damit wir ein Level-Playing-Field haben, damit wir faire Wettbewerbsbedingungen haben. Sie sagen: Wir wollen unser Geld nicht mit Blutgold oder mit blutigen T-Shirts verdienen, sondern wir wollen verantwortungsvoll handeln. – Deswegen glaube ich, dass es nach wie vor eine große Bereitschaft bei vielen verantwortungsvollen und ehrbaren Kaufleuten gibt, auch gesetzliche Regelungen zu unterstützen. Das werden wir hier auch einfordern, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Gleichzeitig müssen wir die Regierungen auch in die Pflicht nehmen. Deshalb sage ich schon seit Langem – es ist gut, dass es in unserem Antrag steht –, dass wir in einem Handelsabkommen so etwas verbindlich machen müssen. Wir müssen auch Regierungen, die dagegen verstoßen, drohen, dass wir die Zollfreiheit für die Importe in die Union stoppen. Wir müssen sagen: Dann müsst ihr Zölle zahlen. – Dann sieht man auch – in Kambodscha gibt es ein Überprüfungsverfahren, weil dort gegen Arbeitnehmerrechte verstoßen wird –: Auf einmal reagieren sie. Wenn Eliten, Regierungen und Politiker, die oft Geschäfte mit den Bergbauunternehmen, mit der Textilindustrie, mit den Schokoladenfabrikanten machen, merken, dass es ihnen am Ende wirtschaftlich schlechter geht, dann werden sie etwas tun.
Heute war der kongolesische Präsident zu Besuch. Als ich in Kinshasa war, habe ich einen Reichtum gesehen, den Sie sich gar nicht vorstellen können. Eine Pizza kostet 20 Euro, ein Bier kostet 5 Euro. Die Kinder der Politiker gehen in die Ballettschule. Sie werden in großen SUVs abgeholt. Gleichzeitig schuften Kinder in den Minen dort.
Wir müssen den Ländern deutlich machen: Wenn ihr wollt, dass wir als Europäische Union mit euch Handel treiben und Zollfreiheit vereinbaren, dann kann das nur ein fairer Handel sein, kein freier Handel. Auch das steht in unserem vorliegenden Antrag. Deshalb bitte ich Sie alle, unseren Antrag zu unterstützen. Wir brauchen verbindliche gesetzliche Regelungen. Dafür werden wir kämpfen, damit wir im nächsten Jahr -
Kommen Sie zum Schluss, bitte?
– oder spätestens im Jahr 2021 – wenn das die Zielsetzung der Vereinten Nationen ist – Kinderarbeit endgültig ausrotten. Das ist keine Frage der Moral oder der freiwilligen Verpflichtung.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Vielmehr muss das ein Menschenrecht sein, das wir durchsetzen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Als letzter Redner hat das Wort zu diesem Tagesordnungspunkt der Kollege Dr. Georg Kippels, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, dass am Ende der Debatte relativ zwanglos festgehalten werden kann, dass eine vollkommene Übereinstimmung gegeben ist, dass bei der Hinnahme von Kinderarbeit das Ende der Geduld schon lange erreicht ist. 100 Jahre ist die ILO nun mit diesem Thema befasst. Die Kinderrechtskonvention ist 30 Jahre alt. Nach all den Jahrzehnten, in Zeiten, in denen wir eine gute wirtschaftliche und technologische Entwicklung haben, ist es eigentlich ein undenkbarer Zustand, dass trotzdem noch für Gegenstände, die keineswegs für den notwendigen Lebensbedarf bestimmt sind, sondern häufig zu den Luxusgütern gehören, Kinder arbeiten müssen, ihre Gesundheit ruinieren, ihre Zukunft ruinieren und damit in eine Abwärtsspirale getrieben werden.
Offensichtlich gibt es bei diesem Thema eine geradezu brisante Spannung zwischen verschiedenen Instrumenten, die angewendet werden können und angewendet werden müssen. Wir haben verschiedene Ansätze von den verschiedenen Fraktionen gehört. Auf der einen Seite gibt es die Vorstellung, man müsse mit Brachialgewalt auf die Unternehmen zugehen und diese in die Verantwortung nehmen und darüber hinaus ihnen die Möglichkeit nehmen, mit Produkten, die aus Ländern mit unsicheren Arbeitsverhältnissen kommen, zu handeln. Andere wiederum, so wie wir von der CDU/CSU-Fraktion, bauen wesentlich mehr auf die positive Dynamik des Marktes, nämlich insoweit, dass der Verbraucher im Zusammenwirken mit den Unternehmen erkennt, dass bestimmte Produktions- und Vertriebsbedingungen einfach nicht mehr tolerabel sind und dadurch intensiver Druck aus dem Verbraucherbereich kommt.
Ich wünsche mir im Moment, in einer Zeit der Sensibilität der Menschen, der Verbraucher im Umgang mit Ressourcen, mit Menschenrechten und auch im Umgang mit unserer Umwelt, dass eine gleiche Dynamik wie jetzt gerade bei der Klimadiskussion aufkommt. Vor zwei Stunden war ich bei einer Veranstaltung, die Misereor zum Thema Kinderrechtskonvention durchgeführt hat. Dort war eine Gruppe von Schülern einer 9. Klasse eines Neuköllner Gymnasiums, die sich intensiv mit der Frage der Kinderrechte und der Kinderarbeit beschäftigt haben. Sie haben ihrerseits ihre Vorstellungen, vor allen Dingen ihre Wünsche artikuliert und sind sehr aktiv in die Diskussion gegangen. Ich bin zuversichtlich, dass aus einem derartigen Antrieb auch ein Anschub in unseren Markt kommt, wodurch sich die produzierenden Unternehmen ihrer Verantwortung bewusst werden.
Ich bin der felsenfesten Überzeugung, dass unsere heutigen technologischen Möglichkeiten der Überwachung von Produktflüssen und Vorprodukten es ohne Weiteres zulassen, zu erkennen, woher ein Vorprodukt kommt und unter welchen Bedingungen es produziert worden ist. Diese Verantwortung müssen wir anmahnen, diese Verantwortung müssen wir ansprechen, und diese Verantwortung müssen wir natürlich auch mit den Ländern intensiv diskutieren, in denen die entsprechenden Produktionen stattfinden.
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Kollege Stefinger hat es eben deutlich hervorgehoben: Die Ursache ist die Armut. Aber wenn wir von einer Minute auf die andere alle Handelsbeziehungen mit diesen Ländern ultimativ abbrechen, ist die Möglichkeit einer Umstellung von Produktionsbedingungen nicht mehr gegeben. Insofern muss ein intensiver Austausch auf Regierungsebene und auf der Ebene der beteiligten Unternehmen stattfinden.
Als nach dem Ereignis von Rana Plaza, das auch die Produktionsbedingungen erfasste, Minister Müller die Initiative für das Textilsiegel ergriffen hat, wurden von vielen Seiten Zweifel an der Wirksamkeit geäußert. Aber nach recht kurzer Zeit gab es ein hohes Maß an Beteiligung, weil die Erkenntnis gewachsen war, dass unter humanitären Gesichtspunkten aus ethischen und moralischen Gründen eine elementare Verpflichtung besteht, die Erträge und das Kapital nicht auf Kosten des Lebens und der Gesundheit von Arbeitern und Arbeiterinnen und natürlich auch nicht junger Menschen zu verdienen. So ist die konsequente Weiterführung des Siegels Grüner Knopf nur die logische Folge. Ja, wir vertrauen darauf, dass aus einer Erkenntnis in der Freiwilligkeit die notwendigen Maßnahmen ergriffen werden. Aber wir haben unmissverständlich deutlich gemacht, dass dann, wenn nicht kurzfristig Erfolge erkennbar werden, die logische Konsequenz ein Regulativ in Form einer gesetzgeberischen Maßnahme ist.
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Dieses Damoklesschwert schwebt nun über der deutschen Wirtschaft. Ich glaube, dass diese Erkenntnis mittlerweile vorhanden ist. Reaktionen im positiven Sinne konnten schon kürzlich im Beschaffungswesen der öffentlichen Hand festgestellt werden. Das Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Lübeck hat verkündet, dass künftig grundsätzlich nur noch Bettwäsche mit dem Grünen Knopf beschafft wird. Das sind die positiven Beispiele, die entsprechenden Handlungsdruck erzeugen.
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Der Weg, den wir mit dem vorliegenden Antrag vorgezeichnet haben, ist der richtige. Wir werden ihn konsequent verfolgen. Damit werden wir das Problem im Laufe der Zeit schnell und effektiv lösen können.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege Kippels. – Mit dem besonderen Lob für das UKSH in Schleswig-Holstein beende ich die Debatte.
Danke. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als der Europarat vor einigen Jahren die Istanbul-Konvention ins Leben rief, war das ein starkes Signal. Mit diesem Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt wurde anerkannt, dass Gewalt an Frauen und Mädchen eine Menschenrechtsverletzung ist. Es geht aber um noch mehr; denn das Abkommen zielt zudem auf eine Beendigung dieser Gewalt, und zwar durch eine koordinierte Gesamtstrategie. Bis auf zwei Länder haben mittlerweile die übrigen 45 Mitgliedstaaten des Europarats die Konvention unterzeichnet. In 34 Ländern wurde sie ratifiziert,
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auch in Deutschland mit einem einstimmigen Beschluss des Bundestages vom 1. Juni 2017. Seit Februar 2018 ist das Menschenrechtsabkommen geltendes Recht. Es gibt aber noch keine koordinierte Gesamtstrategie und auch keinen Aktionsplan. Nachhaltige Maßnahmen zum Ausbau des Hilfesystems sind nicht in Sicht.
Fragt man die Ministerin nach den Fortschritten, wird man erstens auf die Zuständigkeit der Länder verwiesen und zweitens auf das Hilfetelefon. Keine Frage, das Hilfetelefon ist eine richtig gute Sache, aber es reicht bei Weitem nicht aus. Es muss endlich mehr passieren.
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Denn, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Lage und die Anzahl der betroffenen Frauen haben sich nicht verbessert.
Mindestens jede vierte Frau in der Bundesrepublik hat schon einmal häusliche Gewalt erlebt. Jährlich werden 22 000 Frauen und ihre Kinder in Frauenhäuser aufgenommen. Mindestens genauso viele finden keinen Platz und müssen abgewiesen werden. Es gibt bundesweit eine eklatante Unterversorgung. Wir brauchen endlich mehr Anstrengungen, um das Hilfesystem auszubauen und finanziell abzusichern.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit der Istanbul-Konvention wird von den Staaten zu Recht der Schutz aller Gewaltopfer gefordert. Gemeint sind damit auch geflüchtete Frauen, Frauen mit einem unsicheren Aufenthaltsstatus, Frauen mit Behinderungen, Frauen, die obdachlos sind, Frauen ohne Papiere. Der Schutz aller Frauen ist gemeint, und das ist auch richtig so.
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Deshalb muss die Bundesregierung die Vorbehalte gegen Artikel 59 streichen, weil sie diese Zahlen nämlich nicht laufend und vor allem nicht systematisch erhebt.
Nein – ich habe gerade meinen Zettel verdödelt.
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Aber ich will Ihnen nicht vorenthalten, was ich noch sagen wollte. – Ich wollte Sie nämlich auf die wichtige Tatsache hinweisen, dass im Jahr 2019 bereits 147 Frauen ermordet wurden. Meist haben die Opfer mit dem Täter unter einem Dach gelebt. Mindestens 147 Femizide in zehneinhalb Monaten, das heißt, jeden zweiten Tag wird eine Frau ermordet, weil sie eine Frau ist. Die genauen Zahlen und die konkreten Gründe kennt die Bundesregierung nicht, weil sie diese Zahlen nämlich nicht laufend und vor allem nicht systematisch erhebt. Sie will es nicht wissen, vielleicht nach dem Motto: Wer keine Probleme sieht, muss auch nicht handeln. – Wir fordern die Bundesregierung deshalb mit unserem Antrag auf, endlich hinzusehen und die Grundlagen zur Umsetzung der Istanbul-Konvention zu schaffen.
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Dafür braucht es eine staatliche Stelle, die die Maßnahmen der Ministerien und Länder koordiniert, eine unabhängige Monitoringstelle und eine externe unabhängige Forschungsstelle, die Daten erhebt und ein jährliches Lagebild erstellt.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, an dieser Stelle wollte ich eigentlich kräftig über das Schneckentempo der Regierungskoalition meckern. Aber ich habe gehört, dass in den Haushaltsberatungen ein Antrag der Regierungsfraktionen auf dem Tisch liegt, der offensichtlich die Mittel für Monitoring und Koordinierung bereitstellt. Wenn das nicht nur ein Gerücht ist, wäre das natürlich absolut großartig und ein guter Schritt zur Umsetzung der Istanbul-Konvention.
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Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Möhring. – Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Sylvia Pantel, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Alle Formen von Gewalt gegenüber Frauen sind inakzeptabel. Wir treten dem mit unserem Tun aktiv und ganz entschieden entgegen.
Mit der Bekämpfung der häuslichen Gewalt haben unsere Kolleginnen und Kollegen bereits vor über 25 Jahren begonnen. Vor 22 Jahren wurde die Vergewaltigung in der Ehe strafbar. Ich kann mich noch sehr gut an die hitzigen Diskussionen damals erinnern. Viele konnten sich diese Form von Gewalt zu Hause überhaupt nicht vorstellen. Es gibt sie leider noch, und es ist gut, dass die eheliche Vergewaltigung als Verbrechen geahndet wird.
Das im März 2013 gestartete bundesweite Hilfetelefon gegen Gewalt an Frauen ist ein nach wie vor akzeptiertes und richtiges Angebot, um von Gewalt betroffenen Frauen direkt zu helfen und sie zu beraten. Beim Hilfetelefon erhalten betroffene Frauen rund um die Uhr kostenlos und anonym in 17 Sprachen kompetente Beratung durch Fachkräfte, und auf Wunsch kann eine Weitervermittlung an Unterstützungspunkte vor Ort erfolgen. Das Beratungsangebot kann telefonisch, per E-Mail oder als Onlineberatung, auch mit der Möglichkeit der Hinzuziehung eines Gebärdendolmetschers, genutzt werden. Viele von uns haben gerade in dieser Woche für das Hilfetelefon mit der Rufnummer – ein kleiner Werbeblock – 08000 116 016 geworben.
Mit der Reform des Sexualstrafrechts in 2016 haben wir bei sexuellen Übergriffen auf Frauen eine weitere massive Änderung im Strafrecht erreicht. Die „Nein heißt Nein“-Regelung schreibt vor, dass sich jeder strafbar macht, der gegen den erkennbaren Willen der betroffenen Person eine sexuelle Handlung vornimmt.
Sexuelle Straftaten an widerstandsunfähigen Personen haben wir mit § 177 StGB verschärft. Ferner wurde der Begriff des Tatbestandes der Vergewaltigung deutlich erweitert. Außerdem enthält § 184i einen neuen Straftatbestand, sexuelle Belästigung betreffend. Zusätzlich wurde ein neuer Straftatbestand – § 184j StGB – eingeführt, mit dem Personen bestraft werden, die in einer Gruppe gemeinsam eine andere Person bedrängen, wenn es also zu einer Straftat nach § 177 oder 184i StGB kommt.
Das am 1. Juli 2017 in Kraft getretene Prostituiertenschutzgesetz ist die Grundlage für ein gezieltes Vorgehen gegen Ausbeutung von und Gewalt gegen Frauen in der Prostitution. Die Ausgestaltung dieses Gesetzes liegt nun in der Zuständigkeit der Länder. Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass die Umsetzung des Gesetzes in manchen Bundesländern leider zu zögerlich gehandhabt wird.
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Aber leider liegt das nicht in unserer Kompetenz.
Wir haben am 12. Oktober 2017 die Istanbul-Konvention ratifiziert, nach der Gewalt gegen Frauen auf allen staatlichen Ebenen bekämpft werden soll, und sind in der praktischen Arbeit dabei, mit einem Bündel von Maßnahmen weiter gegen alle Formen von Gewalt gegenüber Frauen vorzugehen.
Heute haben wir beschlossen, dass eine diskrete Spurensicherung bei Misshandlungen und sexualisierter Gewalt von den gesetzlichen Krankenkassen finanziert wird. Dabei haben wir zur Sicherstellung der Anonymität darauf geachtet, dass kein konkreter Bezug zu einer betroffenen Frau als versicherter Person hergestellt werden kann. Die gesetzlichen Krankenkassen sollen demnächst die Kosten einer vertraulich-diskreten Spurensicherung in Arztpraxen oder Kliniken erstatten; bislang mussten die Opfer die Kosten der Spurensicherung zumeist selber tragen. Damit werden wir die Erfolgsaussichten der Opfer vor Gericht, die Täter zu überführen, in erheblichem Maße verbessern.
Das Aktionsprogramm zur Prävention und Unterstützung für von Gewalt betroffene Frauen und Kinder kann der Bund nur gemeinsam mit den Ländern und Kommunen voranbringen. Deshalb ist der von der Bundesministerin einberufene Runde Tisch gegen Gewalt an Frauen genau der richtige Ansatz. Ein Programm ohne die Länder und Kommunen würde zu keinem Erfolg führen. Der Runde Tisch sowie das im Jahre 2019 aufgelegte Bundesförderprogramm „Gemeinsam gegen Gewalt an Frauen“ sind zwei wichtige Bausteine des Aktionsprogramms. Ziele des Runden Tisches von Bund, Ländern und Kommunen sind der bedarfsgerechte Ausbau von Frauenhäusern, die Errichtung digitaler Strukturen, die eine verbesserte Koordinierung von freien Plätzen ermöglichen, und ambulante Hilfs- und Betreuungseinrichtungen für von Gewalt betroffene Frauen und ihre Kinder.
Mit dem Bundesförderprogramm will der Bund im Rahmen seiner Förderkompetenzen Länder und Kommunen bei der bedarfsgerechten Weiterentwicklung des Hilfesystems unterstützen und weitere Hilfsangebote anschieben. Im Rahmen des Bundesförderprogramms sind in 2019 bereits die ersten fünf Maßnahmen in Form von innovativen modellhaften Projekten auf Bundesebene gestartet, die für das gesamte Hilfs- und Beratungssystem relevant sind.
Die von der Bundesregierung geförderten Frauenhauskoordinierungsstellen und die des Bundesverbandes der Frauenberatungsstellen und der Frauennotrufe sind wichtige Vernetzungsorgane sowohl für die Frauenhäuser als auch die ambulanten Frauenberatungsstellen in Deutschland. Dass wir nichts tun, stimmt also nicht.
In Zusammenhang mit dem Bundesförderprogramm sollen auch Maßnahmen im Bereich der Forschung zu Gewalt gegen Frauen berücksichtigt werden. Die in Artikel 10 genannten Aufgaben der Koordinierungsstelle auf Bundesebene werden bereits durch die zuständigen Bundesressorts innerhalb der Bundesregierung gemeinsam wahrgenommen. Zudem wird derzeit geprüft, ob und durch welche strukturellen Maßnahmen sich die Koordinierung, die Beobachtung und Bewertung der Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen auf Bundesebene noch weiter verbessern lassen. Für den Schutz von Frauen vor Gewalt gibt es im Ministerium aktuell 15,85 Stellen. Das zeigt, wie wichtig uns diese Aufgabe ist.
Als weitere Maßnahme wurde die Datenerhebung mit einer geänderten Polizeilichen Kriminalstatistik weiterentwickelt. Neben der Erfassung aller der Polizei bekanntgewordenen strafrechtlichen Sachverhalte unter dem jeweiligen Straftatschlüssel erfolgt seitdem eine auf Bundesebene einheitliche Erfassung weiterer Angaben zu Tatverdächtigen, Opfern sowie Opfer-Tatverdächtigen-Beziehungen. Dies erlaubt eine differenzierte Erhebung und Dokumentation von Delikten häuslicher Gewalt.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Seit November 2018 liegen zum dritten Mal eine solche Kriminalstatistik und ihre Auswertung vor.
Die Bemühungen des Bundes habe ich gerade aufgezeigt. Wir tun sehr viel. Insofern weisen wir diesen Antrag zurück.
Herzlichen Dank.
({0})
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächste Rednerin ist für die AfD-Fraktion die Kollegin Mariana Harder-Kühnel.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! In der Istanbul-Konvention haben sich die Unterzeichnerstaaten unter anderem dazu verpflichtet, gegen Genitalverstümmelung, Zwangsheirat, Ehrenmorde und sexuelle Gewalt vorzugehen. Gewalt an Frauen und Mädchen zu verhindern und zu bekämpfen: Das muss uns allen eine Herzensangelegenheit sein,
({0})
aber als Selbstzweck und nicht als Mittel zur Durchsetzung einer Ideologie der „Gleichstellung der Geschlechter“, wie es im Antrag der Linken und auch in der Istanbul-Konvention zum Ausdruck kommt.
({1})
Setzen Sie sich doch einmal ideologiefrei mit den wahren Ursachen für die massiv angestiegenen Gewaltphänomene gegen Frauen und Mädchen in Deutschland auseinander, neue Phänomene, die wir früher hier nicht kannten!
(Zuruf von der SPD: Da bin ich mal gespannt!
Beispiel „Weibliche Genitalverstümmelung“. Diese bestialische Praxis
({2})
bringt jährlich weltweit Tausenden von kleinen Mädchen den qualvollen Tod. Jedes zehnte Kind stirbt dabei, und die Spätfolgen führen für die Überlebenden oft zu lebenslangem Leid. Die Zahl dieser Verstümmelungen nimmt in den letzten Jahren dramatisch zu. Laut Terre des Femmes sind über 17 000 Mädchen akut bedroht, und das nicht nur in der Dritten Welt, sondern auch hier, mitten in Deutschland. 70 000 genitalverstümmelte Frauen leben derzeit unter uns, und diese Zahl ist seit 2016 um sage und schreibe 44 Prozent gestiegen. Hauptherkunftsländer der Betroffenen: Eritrea, Irak, Somalia, Ägypten, Äthiopien.
Beispiel „Zwangsheirat“. Allein in Berlin werden jedes Jahr circa 6 000 Frauen zwangsverheiratet; das sind 16 am Tag.
Beispiel „Kinderehen“. Zwei Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Bekämpfung von Kinderehen sind in Deutschland zwar 813 Fälle registriert, aber nur 10 Kinderehen aufgehoben worden. Die Datenerhebung verläuft völlig unkoordiniert. In manchen Bundesländern – Bayern – wurden fast 370 Fälle registriert, in anderen – Berlin – nur 3. Die Dunkelziffer liegt laut Terre des Femmes bundesweit exorbitant darüber. Hauptherkunftsländer der Betroffenen: Syrien, Bulgarien, Türkei, Irak etc.
Beispiel „Sogenannte Ehrenmorde“. Hier gab es zuletzt 2011 eine bundesweite statistische Erhebung. Niemand kennt aktuelle Zahlen. Von der steigenden Zahl an Gruppenvergewaltigungen, sexuellen Übergriffen, Messermorden etc. will ich gar nicht erst anfangen.
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Zudem fehlen Zehntausende von Plätzen in Frauenhäusern, und dieser Platzmangel ist häufig tödlich; denn auch die Zahl der Fälle häuslicher Gewalt nimmt drastisch zu. 140 000 Fälle gab es allein in 2017. Versuchen Sie einmal, sich mit den Frauen in den Frauenhäusern auf Deutsch zu unterhalten! Fast 70 Prozent der untergebrachten Frauen haben einen Migrationshintergrund.
({4})
So viel zu den Fakten! Zunehmende Gewalt gegen Frauen und alle Bürger in Deutschland ist leider eine bittere Realität, die wir nicht länger leugnen können.
({5})
Ja, wir brauchen dringend bundesweite staatliche Datenerhebungen zur Genitalverstümmelung, zu Zwangs- und Kinderehen, zu sogenannten Ehrenmorden etc.; denn für eine wirksame Gewaltprävention müssen wir genau wissen, wer welche Art von Gewalt gegen wen ausübt,
({6})
welchen Hintergrund – auch Migrationshintergrund – Täter und Opfer haben. Und ja, wir brauchen dringend bundesweite Koordinierungsstellen, die die Hilfs- und Präventionsmaßnahmen im Kampf gegen die Gewalt koordinieren.
Was wir aber nicht brauchen, meine Damen und Herren, ist die Verquickung von Gewalt gegen Frauen mit genderistischer Quacksalberei,
({7})
wie es die Istanbul-Konvention vorsieht und wie sie auch im Antrag der Linken vorkommt. Dort heißt es nämlich, dass die zunehmende Gewalt gegen Frauen – ich zitiere – „Ausdruck der ungleichen Geschlechterverhältnisse“ in Deutschland sei. Diese Behauptung ist entweder dreist oder naiv;
({8})
denn Fakt ist, dass wir viele Gewaltphänomene bis vor wenigen Jahren im nicht gegenderten und geschlechtlich nicht gleichgestellten Deutschland gar nicht kannten,
({9})
weder Genitalverstümmelung noch Zwangs- oder Kinderehen, weder Gruppenvergewaltigungen noch Ehrenmorde.
Aber so ist das eben, wenn man innerhalb weniger Jahre beträchtliche Teile der Dritten Welt zu sich holt. Dann bekommt man eben auch leider sehr schnell Probleme der Dritten Welt, und dann geht es eben sehr schnell nicht mehr um das x-te Geschlecht, sondern leider um den x-ten Ehrenmord. Dann geht es eben sehr schnell nicht mehr um queerfeministischen Klimawandel, sondern um die mindestens 70 000 Mädchen und Frauen, die in Deutschland auf bestialische Weise genitalverstümmelt sind.
({10})
Dann geht es sehr schnell nicht mehr um die Ehe für alle, sondern dann reden wir von Kinderehen und Zwangsheirat.
({11})
Wir importieren Konflikte,
({12})
wir importieren Traditionen, wir importieren Frauenbilder, die mit den freiheitlich-demokratischen Werten unseres Grundgesetzes unvereinbar sind, meine Damen und Herren.
({13})
Es ist Ihre Politik der grenzenlosen Migration, mit der immer häufiger auch archaische Vorstellungen, Sitten und Gebräuche in Deutschland Einzug gehalten haben, die Frauen und Mädchen zu Menschen zweiter Klasse degradieren. Schaffen Sie also endlich die geforderten bundesweiten staatlichen Datenerhebungs- und Koordinierungsstellen, aber nicht zur Durchsetzung der vom Gender-Mainstreaming missbrauchten Istanbul-Konvention, sondern zum Schutz vor Zwangs- und Kinderheirat,
({14})
vor Genitalverstümmelung, vor Massenvergewaltigungen, vor Messer- und Ehrenmorden!
({15})
Denn angesichts Tausender Opfer unter Frauen, Kindern und auch Männern muss endlich Schluss sein mit der Multikultiideologie und dem großflächigen Versagen des Rechtsstaates.
Vielen Dank.
({16})
Vielen Dank. – Bevor ich die nächste Rednerin aufrufe, will ich nur ankündigen, dass ich mit Blick auf die fortgeschrittene Zeit – es geht auf Mitternacht zu – keine Kurzinterventionen mehr gestatte und keine Zwischenfragen mehr zulasse, und wer die Redezeit um mehr als 15 Sekunden überschreitet, muss damit rechnen, dass das Mikrofon abgestellt wird. Ich werde also die harte Kubicki-Linie hier fortsetzen und bitte um Verständnis.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Gülistan Yüksel für die Fraktion der SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren, die uns eventuell noch zuschauen! Jede vierte Frau in Deutschland ist einmal in ihrem Leben Opfer von körperlicher oder sexueller Gewalt geworden. Gewalt findet überall statt: im privaten wie öffentlichen Raum und verstärkt auch im digitalen. Es ist die Aufgabe des Staates, darauf zu reagieren und seine Bürgerinnen und Bürger vor Gewalt zu schützen.
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Was die Rechte und den Schutz von Frauen und Mädchen angeht, haben wir in den letzten Jahren über Parteigrenzen hinweg einiges erreicht. Aber wir sind noch nicht am Ziel; denn jede Frau, die Opfer einer Gewalttat wird, ist eine zu viel.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Ratifizierung der Istanbul-Konvention im November 2017 – könnten Sie bitte auf der rechten Seite ein bisschen ruhiger sein; danke -
({2})
bestärkt uns alle darin, entschieden zu handeln. Sie verpflichtet uns, umfassende Maßnahmen zur Prävention, zur Intervention, zum Schutz und zu rechtlichen Sanktionen gegen geschlechtsspezifische Gewalt zu ergreifen.
Die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, an der sich der Bund weiter verstärkt beteiligen muss. Deshalb haben wir in dieser Legislaturperiode bereits entscheidende Maßnahmen auf den Weg gebracht. Zum Beispiel hat die Bundesregierung den Runden Tisch gegen Gewalt an Frauen ins Leben gerufen. Wir haben uns zum Ziel gesetzt, den bedarfsgerechten Ausbau und die adäquate finanzielle Absicherung der Arbeit von Frauenhäusern und ambulanten Hilfs- und Betreuungsmaßnahmen zu verbessern. Genau so haben wir das im Koalitionsvertrag auch festgeschrieben.
Die Hauptverantwortung für die Finanzierung von Frauenhäusern liegt aber bei den Ländern und Kommunen; das sieht unser föderales System so vor.
({3})
Dennoch sind wir alle verpflichtet, im Sinne der Frauen zu handeln. Ich begrüße es daher sehr, dass beim Runden Tisch der Bund, alle 16 Bundesländer und die kommunalen Spitzenverbände zusammenkommen und die bestehenden Probleme gemeinsam angehen.
Sehr geehrte Damen und Herren, wer Gewalt an Frauen entschieden angehen will, muss dafür Geld in die Hand nehmen. Gemeinsam mit unserer Bundesfamilienministerin Franziska Giffey haben wir durchgesetzt, dass ab 2020 jedes Jahr 30 Millionen Euro zum Ausbau und zur Sanierung von Frauenhäusern bereitgestellt werden.
({4})
Unser Ziel ist es, dass zukünftig keine Frauen und ihre Kinder mehr wegen Platzmangels oder eines fehlenden barrierefreien Zugangs abgewiesen werden.
Als weitere wichtige Maßnahme haben wir heute Mittag im Bundestag beschlossen – Sie sind ja schon darauf eingegangen, Frau Kollegin –, dass Frauen, die Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt wurden, das Recht auf eine anonymisierte Spurensicherung bekommen, das heißt eine gerichtsfeste Dokumentation ihrer Verletzungen, ohne sich dem mutmaßlichen Täter offenbaren zu müssen. Dafür haben wir hart gekämpft; denn häufig kommt es aus Scham oder Furcht vor dem Täter gar nicht erst zur Anklage.
Wir wollen aber nicht nur die Symptome von Gewalt bekämpfen, sondern auch die Ursachen. Deshalb starten wir am 25. November eine bundesweite Öffentlichkeitskampagne zur Ächtung von Gewalt gegen Frauen, um das Thema auch in das Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit zu tragen. Frauen müssen ermutigt werden, das Schweigen zu brechen, sich Hilfe zu holen und Gewalt anzuzeigen. Gleichzeitig darf niemand wegschauen, sondern jede Person muss befähigt werden, Gewalt zu erkennen und Hilfe zu leisten.
Die Istanbul-Konvention sieht auch die Schaffung einer unabhängigen Monitoring- und Koordinierungsstelle vor, worauf ja unsere Kollegen von der Fraktion Die Linke auch eingegangen sind. In den Haushaltsverhandlungen haben wir Frauenpolitikerinnen der SPD uns hierfür stark eingesetzt, und wir lassen auch in der Bereinigungssitzung nicht locker, die ja aktuell noch tagt. Wir hoffen, wir bekommen gleich noch grünes Licht. Eine unabhängige Stelle mit dem Monitoring zu beauftragen, ist nämlich ein Ausweis von Rechtsstaatlichkeit, Transparenz und guter Regierungsführung.
Auf internationaler Ebene hat der UN-Sicherheitsrat auf deutsche Initiative hin ein energischeres Vorgehen gegen sexuelle Gewalt in Krisengebieten gefordert. Deutschland hat 2020 den Vorsitz im Europarat. Ich wünsche mir, dass Deutschland den Vorsitz als Chance nutzt, Gewalt gegen Frauen auch auf europäischer Ebene verstärkt als Thema zu platzieren.
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Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, Gewalt – in welcher Form auch immer – darf in unserer Gesellschaft keinen Platz haben. Lassen Sie uns gemeinsam dafür kämpfen, dass Frauen nicht länger schweigen!
Herzlichen Dank.
({6})
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Nicole Bauer für die Fraktion der FDP.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Manche Dinge kann man kaum glauben. Man hält sie nicht für möglich, man denkt, sie beträfen einen nicht, sie seien weit weg – bis zu einem bestimmten Punkt im Leben, bis zu einem bestimmten Ereignis, bis zu einer bestimmten Begegnung. Ich konnte mir lange nicht vorstellen, dass Gewalt in Partnerschaften, häusliche Gewalt mitten in unserer Gesellschaft so weit verbreitet ist, bis ich ein Frauenhaus in meinem Wahlkreis besucht und eine Frau, eine Ingenieurin wie ich, kennengelernt habe. Sie hat mir ihre Geschichte eindrücklich erzählt. Ich war sprachlos und fassungslos zugleich. Diese Gewalt müssen wir beenden – als Gesellschaft und als Politik.
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Der Status quo ist sehr erschreckend: 2017 haben wir die Istanbul-Konvention ratifiziert; 2018 ist sie in Kraft getreten. Seither haben wir einen ganz klaren Auftrag, und der lautet: Handeln!
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Die Bundesregierung kommt diesem Auftrag aktuell aber nur begrenzt nach. Worauf warten Sie? Das möchte ich Sie fragen! Nach wie vor fehlen Zahlen, Daten, Fakten. Noch immer fehlt eine fundierte Analyse, wo wir überhaupt stehen oder wo wir hinwollen. Noch immer fehlt eine zentrale Koordinierungsstelle für die Zusammenarbeit mit den beteiligten Bundesministerien und zwischen den Ländern, und noch immer fehlt eine Gesamtstrategie.
Was haben Sie denn eigentlich konkret schon gemacht? Ja, ich weiß schon: Jetzt kommt das Bundesförderprogramm oder der Runde Tisch gegen Gewalt an Frauen. Aber wissen Sie was, der Runde Tisch hat jetzt drei- von fünfmal getagt. Trotzdem fehlen in Deutschland immer noch mehr als 10 000 Frauenhausplätze, und das ist noch milde gerechnet. Also: 10 000 Einzelschicksale, 10 000-mal ist der Staat seiner eigentlichen Schutzaufgabe nicht nachgekommen! Menschen, die häusliche Gewalt erleben – seien es Frauen, Männer oder Kinder –, brauchen unseren Schutz.
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Das ist die Grundvoraussetzung für ein freies und selbstbestimmtes Leben, meine Damen und Herren.
Damit müssen wir uns auch in der Gesellschaft entsprechend auseinandersetzen. Wir brauchen also einen umfassenden Ansatz mit Maßnahmen in verschiedenen Bereichen – Prävention, Schutz, Hilfesysteme, Beratung, Betreuung, Rechtsschutz und Strafverfolgung –, und wir brauchen vor allem die Zusammenarbeit der verschiedenen Ebenen und Akteure: der Frauenhäuser, der Fachberatungsstellen, der Ärzte, der Polizei und der Justiz in Bund, Ländern und Kommunen. Das ist es, was wir brauchen, meine Damen und Herren. Also, loslegen und handeln!
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Es gibt genau drei Dinge zu tun:
Erstens. Wir brauchen eine übergreifende Koordinierungsstelle als einen zentralen Ansprechpartner, der genau weiß, was die linke und die rechte Hand tun.
Zweitens. Wir brauchen Transparenz in den Zahlen, in den Unterdeckungen, in den Bedarfen und in den Zielgrößen. Auf welcher Grundlage wollen wir denn am Ende entscheiden, und nach welchen Grundlagen wollen wir denn bewerten? Man mag manchmal den Eindruck gewinnen, Sie hätten Angst vor einem Monitoring.
Drittens. Wir brauchen ein Gesamtkonzept des Bundes, eine Strategie. Auch wenn die Länder eigentlich für die Umsetzung zuständig sind – das ist richtig –, bringt es uns nichts, wenn diese immer nur vor sich hinarbeiten. Die Länder schauen erwartungsvoll auf den Bund.
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Orientierung und Koordinierung sind gerade in einem föderalen System sehr wichtig.
Mit der Istanbul-Konvention haben wir einen ganz klaren Auftrag. Also: Machen Sie endlich ihre Hausaufgaben, meine Kollegen der Großen Koalition!
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Vielen Dank. – Letzte Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Ulle Schauws, Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In elf Tagen ist der Internationale Tag gegen Gewalt an Frauen. Jedes Jahr hören wir an diesem Tag die nahezu gleichen erschreckenden Zahlen – Zahlen zu Gewalttaten gegenüber Frauen, meist von Tätern aus ihrem direkten Umfeld verübt.
„Gewalt gegen Frauen“ umschreibt, dass Frauen aufgrund ihres Geschlechts von bestimmten Gewaltformen überproportional betroffen sind und dass die Täter überproportional häufig männlich sind. Jedes Jahr zeigen wir darüber die gleiche Empörung. Aber Empörung reicht nicht.
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Wir sind gefordert, nach Lösungen zu suchen; denn Gewalt gegen Frauen findet weiter und überall und jeden Tag statt. Sie hat viele Gesichter und beginnt nicht erst mit tätlichen Übergriffen. Das Recht auf ein Leben ohne Gewalt ist ein Menschenrecht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland gehörte 2011 – vor nunmehr acht Jahren – zu den Erstunterzeichnern der Istanbul-Konvention. Erst seit Februar 2018 wird die Konvention in Deutschland nun endlich schrittweise ratifiziert. Die Bundesregierung hat sich hierfür viel zu viel Zeit gelassen.
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Dabei besteht erheblicher Handlungsbedarf in der Umsetzung.
Alle im vorliegenden Antrag der Linken genannten Forderungen sind zentrale Forderungen der Istanbul-Konvention, die wir Grüne unterstützen. Es sind keine neuen Forderungen. Sämtliche Frauen- und Menschenrechtsverbände haben durchdekliniert, was die Bundesregierung zur Umsetzung der Istanbul-Konvention tun muss.
Ich sage darum in Richtung Regierung: Sie haben eine hervorragende Expertise an ihrer Seite – Sie haben das Deutsche Institut für Menschenrechte, die Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe, den Dachverband DaMigra, die Frauenhaus-Dachverbände –, dennoch handeln sie viel zu wenig. Obwohl glasklar ist, was getan werden müsste, wollen Sie für das kommende Jahr nicht mal Haushaltsmittel zur Einsetzung der unabhängigen Monitoringstelle gemäß der Istanbul-Konvention einführen. Sie wollen sie nur prüfen. Ich wiederhole noch einmal: Das ist definitiv zu wenig.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, was kommen soll, sind investive Mittel in Höhe von 35 Millionen Euro für Maßnahmen gegen Gewalt an Frauen ab 2020 – vor allem für bauliche Veränderungen. Das ist ohne Frage ein wichtiges Vorhaben. Insbesondere die Barrierearmut in Frauenhäusern muss über bauliche Maßnahmen verbessert werden. Woran es nach wie vor fehlt, sind bundesweit mehr Frauenhausplätze und ein unbürokratischer Zugang zu einem Schutzraum für Frauen in Not. Wenn Sie als GroKo bei diesem Mangel ausschließlich auf Länder und Kommunen verweisen, entziehen Sie sich der Mitverantwortung als Bund.
Wir Grüne fordern Sie auf, die Istanbul-Konvention ernst zu nehmen, und zwar lösungsorientiert. Und wir fordern: Nehmen Sie endlich Ihren Vorbehalt gegen Artikel 59 der Istanbul-Konvention zurück, damit geflüchtete oder migrierte und von Gewalt betroffene Frauen endlich die so wichtige Aufenthaltserlaubnis bekommen, wenn sie in einem Strafverfahren als Zeugin aussagen. Jede Frau, die von Gewalt betroffen oder bedroht ist, muss in Deutschland eine staatlich gesicherte Möglichkeit haben, eine Schutzeinrichtung aufzusuchen. Welchen Aufenthaltstitel sie hat oder wo sie untergebracht ist, darf dabei überhaupt nicht ausschlaggebend sein. Für alle Frauen muss gelten: Schutz geht vor.
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Deswegen: Artikel 59 der Istanbul-Konvention muss vorbehaltlos ratifiziert werden.
Geschätzte Kolleginnen und Kollegen, wir Grünen beantragen im Haushalt die Einsetzung der jetzt schon viel genannten unabhängigen Monitoringstelle und eine staatliche Koordinierungsstelle als wichtigen Grundpfeiler der Istanbul-Konvention. Machen Sie das jetzt möglich! Stimmen Sie diesen Anträgen zu, oder legen Sie Ihre dazu; denn Empörung über Gewalt gegen Frauen allein reicht nicht aus!
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Dr. Silke Launert, CDU/CSU, und Josephine Ortleb, SPD, geben ihre Reden zu Protokoll.
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Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue mich, dass wir auch zu späterer Stunde die Gelegenheit haben, über die Raumfahrt und über die ESA-Ministerratskonferenz, die in zwei Wochen stattfinden wird, zu sprechen.
Die Raumfahrt ist ein Thema, deren Inhalte viele nicht sehen können und das für unser Leben ziemlich elementar ist. Kein Smartphone würde funktionieren, keine Drohne würde fliegen, kein Auto könnte sein Ziel erreichen ohne Satellitennavigation. Wir wüssten nicht viel über den Klimawandel und darüber, wie die Polkappen aussehen, wenn wir keine Erdbeobachtungssatelliten hätten. Man könnte nicht einmal „Das Dschungelcamp“ sehen, weil dieses exzellente Fernsehprogramm gar nicht aus Australien übertragen werden könnte.
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– Ob das wirklich ein Verlust wäre, Herr Kollege, weiß ich nicht. – Das zeigt die Spannbreite dessen, was an Infrastruktur durch die Raumfahrt vorhanden ist und wie wichtig sie auch für uns ist.
Es gibt nicht wenige Leute, die sagen, dass die Raumfahrt heute vielleicht an der Stelle ist, wo die Luftfahrt vor 50 oder 60 Jahren war: eine Sache mit sehr viel Manufakturanteil, an der relativ wenige arbeiten, die aber auf dem Sprung in die nächste große Industrie hinein sein könnte. Deshalb, glaube ich, müssen wir uns dafür rüsten und die richtigen Rahmenbedingungen setzen, damit wir an all dem, was uns unter New Space und Industrialisierung der Raumfahrt bevorsteht, teilhaben können.
Ich möchte Ihnen heute mal fünf Schwerpunkte nennen, mit denen wir in die Verhandlungen auf der Ministerratskonferenz gehen. Wir haben ein Budget von fast 3 Milliarden Euro, und es geht um Entscheidungen für die nächsten drei bis fünf Jahre.
Der erste Schwerpunkt, den wir hier setzen, ist nicht der Mond, der Mars oder was auch immer, sondern der Mittelstand. Die Bundesregierung setzt ganz klar auf den Raumfahrtmittelstand. Das ist hierbei für uns das wichtigste Thema. Wenn wir auf die letzten Ministerratskonferenzen zurückblicken, dann sehen wir: Wegen der großen Projekte wie ISS und Ariane fehlten manchmal die Gelder für die Technologieprogramme GSTP und ARTES. Hier wollen wir ganz dezidiert einen Schwerpunkt setzen.
Das zweite Thema sind die Start-ups, New Space, Innovationen und alles, was sich dahinter verbirgt. Wir werden auch die Titel deutlich erhöhen, in denen es darum geht, Unternehmensgründungen zu ermöglichen. Die Business-Application-Programme der ESA werden wir auch im Sinne eines BIC 2.0 ausbauen.
Wir werden aber auch dafür sorgen, dass neue Technologien, wie zum Beispiel Micro-Launcher, wofür es in Deutschland mehrere Initiativen gibt, zum Einsatz kommen werden, indem wir nicht in die Entwicklung hineingehen, wie wir das bisher aus der Raumfahrt kannten, sondern indem wir neue Strategien anwenden, die wir von der NASA kennen, und Aufträge generieren, Produkte abnehmen und damit einen Markt schaffen.
Als dritten Schwerpunkt werden wir in den Bereich der Erdbeobachtung investieren. Hier ist Deutschland bislang führend. Wir sind beim COPERNICUS-Programm vorne dabei. All die Dinge, die mit Klimaschutz zu tun haben, sind Ergebnisse der Erdbeobachtung. Wir werden hier unsere Stellung halten und auch neue Technologien ausbauen.
Der vierte Schwerpunkt – jetzt kommen wir zu dem, was wahrscheinlich die meisten direkt unter Raumfahrt verstehen – wird die Beteiligung an der Mondmission der Amerikaner, an ARTEMIS, sein. Wir finden es faszinierend, dass 2024 wieder Menschen den Mond betreten sollen, und wir wollen natürlich auch, dass es dann einen europäischen Astronauten
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oder – vielleicht noch viel besser – eine Astronautin geben wird.
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– So, jetzt sagen schon die Ersten, es müsse eine deutsche Astronautin, ein deutscher Astronaut werden. Genau das ist eben auch unser Ziel.
Wir sind Teil der Mondmission der Amerikaner, indem wir etwas liefern, bei dessen Namen die Finanzpolitiker schon kribbelig werden. Es heißt ESM. Es handelt sich hier aber nicht um Rettungsprogramme für Griechenland, sondern es geht darum, dass die Technikplattform für das Raumschiff „Orion“, mit dem die Amerikaner zum Mond fliegen werden, wirklich Hightech „Made in Europe“ und vor allem „Made in Germany“ ist. Die meisten Komponenten werden in Bremen gebaut. Jeder Astronaut, der künftig zum Mond fliegt, wird das auf der Plattform eines deutschen bzw. europäischen Raumschiffs tun.
Wir wollen zusätzlich auch eine robotische Mondmission. Wir wollen die Ariane-Rakete mondfähig machen, und wir werden hier in Oberflächenprogramme investieren, mit denen man tatsächlich für die astronautischen Missionen herausfinden kann, wie die Beschaffenheit des Mondes genau ist. Das ist kein einfaches Unterfangen. Einige Nationen haben es schon versucht, viele sind hart gelandet. Es wird für uns eine komplexe Aufgabe sein, das Ganze wirklich ans Laufen zu bringen.
Der letzte, der fünfte, Punkt. Es geht um das Thema „Kontinuität in den Programmen“. Damit meine ich insbesondere auch den europäischen Launcher, die Ariane. Ende nächsten Jahres wird die Ariane 6 fertiggestellt. Das Kabinett hat gestern auf unsere Initiative hin beschlossen, dass künftig alle institutionellen Starts der Bundesrepublik Deutschland mit unserem europäischen Träger unternommen werden sollen.
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Das klingt eigentlich selbstverständlich, ist es aber nicht, weil wir uns einem harten Preiswettbewerb gegenüber den amerikanischen Trägern ausgesetzt sehen, der sehr viel mit institutionellen Mitteln gefördert wird. Wir glauben, dass der unabhängige Zugang zum Weltraum weiterhin ein wichtiges Thema ist, aber gar nicht so sehr für kommerzielle Anwendungen. Mit Galileo haben wir ein Navigationssystem geschaffen, das uns unabhängig macht. Angesichts der Entwicklungen, die wir sehen, müssen wir es in der Zukunft möglicherweise auch schützen.
Um genau solche Dinge tun zu können, brauchen wir einen eigenen Zugang zum All.
Am Ende danke ich dem Team des DLR-Raumfahrtmanagements für viel harte Arbeit in den letzten Wochen und Monaten im Vorfeld dieser Ministerratskonferenz und dem Team im Bundeswirtschaftsministerium. Ich danke aber auch den eigenen Kollegen – insbesondere dem Kollegen Willsch – dafür, diesen Antrag hier vorbereitet zu haben. Insofern freue ich mich darauf, dass wir hier zu guten Ergebnissen kommen werden.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Als Nächster spricht der Kollege Frank Magnitz für die Fraktion der AfD.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Raumfahrt ist Technologie- und Konjunkturmotor, ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, und sie verbindet Schlüsseltechnologien des Industrie- und Informationszeitalters. In dieser Eigenschaft löst sie Wertschöpfung in anderen Wirtschaftsbereichen aus. Die deutsche Industrie ist in diesem Segment gut aufgestellt. Die allgemeinen Raumfahrtaktivitäten und die Anzahl staatlicher Akteure und Wettbewerber nehmen jedoch zu.
Eine strategische Grundvoraussetzung für die Souveränität europäischer Staaten ist der unabhängige Zugang zum All. Aber diese Souveränität braucht Regeln. Noch fehlt ein umfassendes und aktuelles deutsches Weltraumgesetz. Es ist jedoch im Koalitionsvertrag vereinbart.
Der FDP-Antrag ist trotz einiger Schwächen geeignet, Exporthemmnisse abzubauen, das Abwandern deutscher Unternehmen zu verhindern und private Initiativen in der Raumfahrt zu stärken. Wir sind aber der Auffassung, dass ein Weltraumgesetz analog zur Flugsicherheit auch strafbewehrt sein sollte. Trotzdem stimmen wir diesem Antrag grundsätzlich zu. Solange ein internationaler Rechtsrahmen noch nicht in Sicht ist, bedarf es zunächst klarer nationaler Regelungen; aber das wissen wir ja spätestens seit 2015.
Ein weiterer Aspekt, für den die Politik zu sorgen hat, sind faire Wettbewerbsbedingungen für deutsche Unternehmen. Die Praxis sieht leider anders aus. Die europäische Ausschreibungspflicht steht gegen den Buy American Act oder „Make in India“. Schade, dass die Benachteiligung durch „Make in India“ offenbar erst bemerkt wurde, nachdem der Raumfahrtnation Indien 1 Milliarde Euro geschenkt wurde.
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Infant-Industry Protection lässt Entwicklungshilfezahlungen an die Raumfahrtnation China zumindest fragwürdig erscheinen. Es kann und darf keine Freundschaftsgeschenke an Wettbewerber geben. Zukünftig ist grundlegend zu prüfen, was unseren nationalen Interessen dient.
Meine Damen und Herren, der Wettbewerb wird härter, und eine weitere Förderung von Start-ups sowie der Ausbau der Business Incubation Centres wie jetzt in Bremen und Berlin sind richtig und notwendig. Es ist geboten, an der bewährten Zusammenarbeit mit der ESA festzuhalten.
Deutsche Einflussnahmemöglichkeiten sind im Sinne deutscher Interessen wahrzunehmen. Der Regierung dazu einen klaren Auftrag zu erteilen, ist ein sinnvoller Ansatz. Hierzu zählt auch, bei der anstehenden ESA-Ministerratskonferenz nur Anwendungsprogramme zu zeichnen, durch die auch messbarer Nutzen für Deutschland entsteht.
Die Mission Athena ist unabhängig vom ESA-Wissenschaftsprogramm sicherzustellen, da sie der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU dient.
Wir treiben immensen Aufwand für Entwicklungshilfe, Flüchtlinge und UN-Missionen. Dass Raumfahrtprogramme Orientierung für Hilfsorganisationen oder UN-Blauhelmsoldaten leisten sollen, während der Grenzschutz unerwähnt bleibt, ist unverständlich.
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Angeblich kann die deutsche Grenze nicht gesichert werden. Einen Bahnhof oder Flughafen können wir nicht bauen – aber die Welt vor einem Meteoritenschwarm schützen, das können wir? Bitte neben Space Safety auch in Border Safety, also in Grenzschutz, investieren! Die realen Bedrohungen für Wohlstand und Sicherheit erreichen uns derzeit auf dem Landweg und nicht über das All.
Falsch ist weiterhin die Annahme:
Mit dem Copernikus-Programm der EU stehen diese Daten zudem erstmals kostenfrei zur Verfügung.
Deutsche, französische und andere Steuerzahler haben diese Daten bezahlt. Die Open-Data-Strategie bedeutet, dass wir für das zahlen, was andere kostenlos bekommen.
Wir treten dafür ein, Startdienstleistungen mit europäischen Trägern zu vermarkten. Dazu sind Möglichkeiten zu schaffen, von weltweiten Ausschreibungen abzusehen. Neben Ariane 6 sind Mini-Launcher mit 500 bis 1 000 Kilogramm Nutzlast die Zukunft. Hier muss ergebnisoffen und unter Berücksichtigung strengster Sicherheitsaspekte die Möglichkeit eines nationalen Startpunktes gesucht werden. Die neuen Marktteilnehmer sind HyImpulse, Isar Aerospace, Rocket Factory Augsburg und andere. Es ist eine zukunftsfähige Mini-Launcher-Infrastruktur bereitzustellen.
Im Großen und Ganzen gehen die Anträge in die richtige Richtung. Daher werden wir ihnen zustimmen, trotz einiger bedenklicher Punkte.
Danke für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der SPD der Kollege Johann Saathoff.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Zukunft liegt in den Sternen; so doppeldeutig würde ich jetzt mal die Anträge der Koalition, aber auch der FDP zusammenfassen,
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denn das eint unsere Anträge auch. Man kann feststellen: Alle Antragsteller sind sich der zunehmenden Bedeutung der Raumfahrt absolut bewusst.
Im Vorfeld der ESA-Ministerratskonferenz – Herr Jarzombek hat darauf hingewiesen – Ende November in Sevilla fassen wir als Koalitionsfraktionen die zentralen Handlungsfelder bei der Raumfahrt jetzt noch einmal zusammen. Ich möchte mich an dieser Stelle für die angenehme Zusammenarbeit bedanken, Herr Willsch. Es hat richtig Spaß gemacht mit Ihnen – als Energiepolitiker kann man das nicht zu jedem Tagesordnungspunkt so sagen.
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Die Luft- und Raumfahrt, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist eine Schlüsselbranche für die deutsche Wirtschaft. Sie stellt eine Verbindung zwischen den Hochtechnologien des modernen Informations- und Industriezeitalters dar und hat eindeutig strategische Bedeutung für den Wirtschaftsstandort Deutschland.
Durch die Raumfahrt werden grundlegende Infrastrukturen und Innovationen bereitgestellt, die eine Wertschöpfung in vielen Bereichen erst möglich machen, zum Beispiel wäre ohne Luft- und Raumfahrttechnik autonomes Fahren einfach nur Science-Fiction. Ohne Luft- und Raumfahrttechnik gäbe es keinen Flugverkehr, würden keine Schiffe fahren, die Wetterdienste würden nicht funktionieren, und fast jedes Telefon hat heute ein Navigationsmodul, das nicht funktionieren würde, wenn es keine Satelliten gäbe; ohne Satelliten wäre die moderne Wirtschaft einfach nicht mehr funktionabel.
Einen erheblichen Beitrag leistet die Luft- und Raumfahrttechnik zur Erfüllung der Klimaschutzziele. Das Klimamonitoring erfolgt nämlich maßgeblich über satellitengestützte Erdbeobachtung, und dort kann man sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD: Es gibt ihn doch, den menschengemachten Klimawandel.
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Aber nicht nur wissenschaftlich, sondern auch gesellschaftlich ist die Raumfahrt megainteressant. Ich erinnere nur an die beeindruckenden Bilder von Alexander Gerst aus dem Erdorbit in die sozialen Netze hinein,
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aber nicht nur in die sozialen Netze hinein, sondern auch in die Köpfe und in Herzen der Menschen hinein, vor allen Dingen der jungen Menschen, die erkannt haben, was der Klimawandel für die Erde eigentlich bedeutet.
Ich kann mich erinnern, wie Ulf Merbold bei mir in der Schule zu Besuch war. Er hat schon damals, Mitte der 80er-Jahre, darauf hingewiesen, wie unglaublich dünn die Atmosphäre um die Erde herum ist, die für das Überleben aller notwendig ist. Hätten wir diese Warnungen von Ulf Merbold Mitte der 80er-Jahre doch ein bisschen ernster genommen!
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Ein Schwerpunkt unseres Antrags ist der Bereich Space Safety, also die Abwehr von Gefahren im Weltraum und aus dem Weltraum. Da geht es um Weltraumschrott im Orbit, aber es geht genauso auch um die Überwachung von Asteroiden und vor allen Dingen dann auch, wenn diese der Erde gefährlich nahe kommen, um Asteroidenabwehr.
Raumfahrt, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist Industriepolitik. Als Landesgruppenvorsitzender Niedersachsen/Bremen richte ich das Auge dabei besonders auf Bremen. Dort gibt es nämlich viel Hightech und eine Vielzahl guter Arbeitsplätze,
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und die wollen wir auch erhalten, sowohl im Bereich der Trägersysteme Ariane 5 und Ariane 6 als auch beim Bau von Satelliten bis hin zur Orion-Mission, die nach über 50 Jahren endlich wieder den Mond als nächstes Ziel ansteuert.
Nicht nur in Bremen, sondern in ganz Deutschland ist Luft- und Raumfahrttechnik wichtig. Die wenigsten wissen, dass 90 Prozent der Satelliten eine Positionierungsoptik aus Jena haben. Das ist also auch ein gesamtdeutsches Thema.
Wir haben uns in beiden Anträgen klar dafür ausgesprochen, dass es für unsere Schlüsselindustrie wichtig ist, dass bei zukünftigen institutionellen staatlichen Missionen die europäische Trägerrakete Ariane 6 genutzt wird, also die europäische Präferenz durchgesetzt wird. Es ist industriepolitisch wichtig, dass das nationale Programm und der deutsche Beitrag für die Programmzeichnung bei der ESA kontinuierlich erhöht werden, also mehr Geld für Luft- und Raumfahrt ausgegeben wird. In diesem Zusammenhang danke ich meinem Kollegen Thomas Jurk und dem Bundesfinanzminister Olaf Scholz. Im Bereich Raumfahrt ziehen wir an einem Strang, in die gleiche und in die richtige Richtung.
Mehr Geld braucht diese Branche, aber sie braucht auch mehr Aufmerksamkeit. Zu Galileo ist immer wieder zu hören: Das kommt zu spät, dauert zu lange, ist zu teuer. – Als Galileo dann initialisiert wurde, wusste kaum einer, dass man tatsächlich Galileo nutzt. Die allermeisten von uns nutzen ihr Handy mit einem Galileo-System.
Unser Antrag sollte auch dazu dienen, dass mehr Aufmerksamkeit für die Raumfahrttechnik erzeugt wird. Denn, wie ich schon sagte: Die Zukunft liegt in den Sternen. Oder auf Plattdeutsch: Uns Tokunft liggt in de Steerns.
Besten Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist Reinhard Houben für die Fraktion der FDP.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Zu später Stunde“, haben Sie gesagt, Herr Jarzombek. Ja, warum denn zu später Stunde? Ursprünglich war dieser Tagesordnungspunkt für 15 Uhr vorgesehen. Dann hat am Montag der BDI nicht so reagiert, wie man sich das gewünscht hat; er hat gesagt, die Vorschläge, die Sie einbringen, seien nicht so toll. – Also versenken wir diesen Tagesordnungspunkt auf nach 23 Uhr, mit der entsprechenden Resonanz.
Wenn Sie, Herr Jarzombek und Herr Saathoff, dann breit vorstellen, wie wichtig das Thema Weltraum ist, wie wichtig diese Technologie ist, wie wichtig es ist, das breit in die Bevölkerung zu tragen, warum konnten Sie dann nicht sicherstellen, dass dieser Tagesordnungspunkt zur Primetime im Bundestag beraten wird statt mitten in der Nacht?
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Das müssen Sie sich doch fragen lassen. Entschuldigen Sie bitte, das ist doch ein bisschen schizophren.
Dann bekommt man also einen Antrag: elf Seiten mit neun Seiten Vorlauf Ministeriallyrik. Super, das kennen wir doch alle, ganz toll, ganz viele Forderungen, die altbekannt sind, die in Ihrem Koalitionsvertrag stehen. Das Einzige, was Sie nun wirklich umsetzen, ist der Einstieg, dass wir die Ariane 6 auch wirklich national und in Europa komplett nutzen für die Einsätze, die wir vergeben können, und nicht in einen merkwürdigen, falschen Wettbewerb mit privaten Anbietern aus den USA eintreten, die ja quersubventioniert werden. Das ist das einzige Ergebnis. Ich würde mich an Ihrer Stelle schämen, Entschuldigung,
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ich würde mich schämen, einen Antrag einzubringen, in dem wiederum steht, es sei jetzt wichtig, zu beschließen, ein Weltraumgesetz einzuführen. Das steht doch schon in Ihrem Koalitionsvertrag, das haben Sie doch vor zwei Jahren schon beschlossen. Warum liegt denn dieses Gesetz hier nicht vor? Warum können wir darüber nicht diskutieren?
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Nein, wir gefallen uns in Allgemeinplätzen darüber, wie wertvoll die Raumfahrt für uns alle ist.
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Und dann beziehen Sie sich auf eine Raumfahrtstrategie. Das freut uns Liberale natürlich besonders; denn sie ist aus dem Jahr 2010 und stammt von Minister Rösler. Ich finde es klasse, dass diese Bundesregierung sich immer noch auf ein solches Konzept bezieht.
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Ich fände es ehrlicherweise zielführender, wenn man nach ungefähr zehn Jahren mal prüft, ob denn das, was seinerzeit entwickelt worden ist, wirklich noch aktuell ist. Ich glaube, nicht.
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Wir können in diesem Zusammenhang aus unserem Antrag noch einmal die Frage der Wagniskapitalfinanzierung aufgreifen; das ist bei uns ein Dauerbrenner; das fehlt auch in der privaten Raumfahrt. Dort könnte man aktiv werden. Man könnte auch andere Möglichkeiten finden, die Raumfahrtindustrie zu unterstützen, vor allen Dingen private Unternehmen und Start-ups.
Last, but not least lassen Sie mich eines sagen – es ist angesprochen worden –: Astronautinnen. Zwei gab es bei der ESA – eine Französin und eine Italienerin –, keine einzige aus Deutschland. Natürlich steht Eignung immer im Vordergrund, gar keine Frage. Aber in 40 Jahren gab es keine einzige Frau. Das muss besser gehen, meine Damen und Herren. Wir Freien Demokraten fordern deswegen eine erste deutsche Frau im Weltraum.
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Meine Damen und Herren, diese Technologie lässt es nicht zu, lange zu warten. Deswegen müssen wir nicht über den Weltraum reden, sondern diese Bundesregierung muss konkret handeln, statt sich in langatmigen Anträgen zu gefallen.
Vielen Dank.
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Eine Frau auf dem Mond wäre schön, aber auf der Landesliste wäre auch nicht schlecht, nicht?
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Klaus Ernst gibt seine Rede zu Protokoll, Dieter Janecek ebenfalls.
Klaus-Peter Willsch hat als Letzter hier das Wort.
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Bin schon da, jawohl. – Ehe wir jetzt noch personalisieren, wen wir auf den Mond schießen wollen, lassen wir das Thema lieber.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten lieben Kollegen! Liebe Zuschauer! Auf der Tribüne haben wir nur noch zwei Zuschauer, aber an den Fernsehschirmen schaut uns die Weltraumcommunity zu, Herr Houben. Weltraumfahrer, das sind ausgeschlafene Kerlchen – und Mädels auch, hoffentlich. Deshalb werden wir auch heute zu dieser Uhrzeit eine entsprechende Wirkung haben. Auch ich hätte mir gewünscht, wir wären früher dran gewesen, aber Sie wissen ja, wie das ist. Immerhin ist hier heute noch keiner umgefallen.
Ich bin froh, dass wir das Thema Raumfahrt diskutieren und dass wir uns ein bisschen Zeit dafür nehmen. Denn es ist wichtig, und das ist von allen Rednern betont worden. Ich will auch noch mal dem Kollegen Saathoff danken; das war wirklich ein angenehmes Zusammenwirken. Daran sieht man: Wenn man sich auf dem richtigen Feld begegnet, funktioniert das gut.
Ich will auch Thomas Jarzombek, unserem Raumfahrtkoordinator der Bundesregierung, danken, der aus dem Parlament heraus die Treiberrolle auf diesem Feld hat. Die Raumfahrtpolitik wird zwar stark von der Exekutive vorangetrieben; aber letztlich sind es wir in den nationalen Parlamenten, die die Mittel bereitstellen müssen. Wir müssen dafür die Hand heben und den Menschen zu Hause erklären, warum wir für Raumfahrt Geld ausgeben.
Ich glaube, das ist heute viel leichter zu erklären als früher. Wir alle haben ein Smartphone in der Tasche. Das muss man nur hochhalten und sagen: Überleg dir mal, wie viel der Funktionalität davon du ohne Raumfahrtanwendungen nutzen könntest! – Das wäre nur ein Bruchteil. Deshalb ist es wichtig, dass wir diesem Thema heute hier Raum geben und deutlich machen, dass die Raumfahrt Grundvoraussetzungen für unser modernes Leben legt.
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Herr Houben, entgegen dem, was Sie dargestellt haben, ist vonseiten des BDI – ich habe Anfang der Woche an einem gemeinsamen Frühstück teilgenommen – durchaus eine positive Stimmung rübergekommen. Die Meldungen über Mittelkürzungen und Ähnliches, die kolportiert wurden, stimmen ja nicht; das wissen Sie. Es sind für die Jahre 2020 und 2021 115 Millionen Euro zusätzlich für den ESA-Bereich mobilisiert worden.
Ich denke, wenn auf der Konferenz „Space19+“ in Sevilla gute Ergebnisse erzielt werden, dann kann man auch noch mal reden. Aber wichtig ist jetzt erst mal, dass unsere Regierung die Delegation mit einer im Haushalt finanziell unterlegten Zusage dorthin schickt, damit Deutschland weiterhin eine führende Rolle in der europäischen Raumfahrt einnimmt. In diesem Geiste schicken wir unsere Delegation nach Sevilla und hoffen, dass dort ein gutes Ergebnis erzielt wird.
Raumfahrt ist in Deutschland eine Spitzentechnologie. Sie ist zugleich ein Technologie- und Konjunkturmotor, sie verbindet verschiedene Schlüsseltechnologien: Elektronik, Robotik, künstliche Intelligenz, Mess-, Steuer-, Werkstoff-, Regeltechnik. Vieles, was wegen spezieller Probleme – Leichtigkeit des Materials, Festigkeit des Materials, Temperaturfestigkeit des Materials – für die Raumfahrt entwickelt worden ist, hat später in viele Lebensbereiche Eingang gefunden und ist zum State of the Art geworden.
Es sind insgesamt 9 300 Beschäftigte in dem Bereich, und es werden 3 Milliarden Euro Umsatz erzielt. Das alles ist relativ klein. Dem gegenüber steht aber das, was dadurch induziert wird: Raumfahrt ist ein Ermöglicher, Raumfahrtinfrastruktur ist ein Ermöglicher für neue Geschäftsmodelle, für neue Möglichkeiten, wirtschaftliche Wertschöpfung zu generieren und Dienstleistungen anzubieten, die uns jeden Tag das Leben leichter machen. Wir haben eine Rendite von 9 : 1 für jeden in der Weltraumforschung investierten Euro. Das heißt, durch das, was wir dort tun, wird ein Vielfaches induziert.
Raumfahrt hat natürlich eine strategische Bedeutung, eine sicherheitspolitische Bedeutung. Wir haben mit dem zivilen Satellitennavigationsprogramm Galileo, das Herr Saathoff schon angesprochen hat, ein präziseres System als das vielzitierte GPS, nur leider reden zu wenige darüber. Wir arbeiten heute mit Galileo. Das ist in der Tat wahr.
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Unsere Handys berechnen den Standort mit Galileo-Daten. Das müssen wir auch bekannt machen, wir müssen zeigen, dass wir hier als Europa wirklich vorne sind.
Was den autonomen Zugang angeht – deshalb war das Bekenntnis noch einmal wichtig –: Wir haben sowohl mit Vega im kleinteiligeren Bereich als auch mit Ariane einen europäischen Zugang, der wichtig ist und mit dem wir angefangen hatten, weil wir in den 70er-Jahren mit den Franzosen zusammen einen Satelliten ins All schießen wollten, uns gegenüber dem amerikanischen Träger aber verpflichten mussten, dass wir den Satelliten nicht kommerziell nutzen, sondern nur für Wissenschaftszwecke. Das war anders vorgesehen. Dann haben wir gesagt: Europa braucht einen eigenständigen Zugang ins All, um in dieser Kategorie und in dieser Liga mitspielen zu können.
Ich glaube, dass wir mit dem Beschluss, den Thomas Jarzombek eben kurz vorgestellt hat – vielen Dank noch mal dafür –, nämlich einer Präferenz bei institutionellen Starts für den europäischen Launch, die Ariane, genau den richtigen Schritt gehen. In vielen anderen Ländern auf der Welt käme niemand auf die Idee, das anders zu machen. Natürlich macht man institutionelle Starts mit der eigenen Rakete und gibt ihr damit auch ein bisschen Grundlast, was es überhaupt erst möglich macht, eines Tages auch kommerziell erfolgreich zu werden.
Wir haben es mit interessanten Entwicklungen und mit Markterweiterungen in dem Bereich zu tun, die atemberaubend sind. Wir haben private Akteure, die auf den Markt drängen, in den USA vor allen Dingen, aber auch hier bei uns.
Die Mittelstandskomponente ist angesprochen worden. Dort ist in der Tat viel Musik drin, wir erleben Start-ups, neue Unternehmen, junge Unternehmen, die dort hineingehen und mit Daten, Erkenntnissen, die im All gewonnen werden, neue Geschäftsmodelle kreieren. Damit nutzen sie den Verbrauchern und auch der Wissenschaft.
Wir haben heute im Plenum ein bisschen die fraktionsübergreifende Mission erlebt, die von diesem Thema ausgeht. Schade, dass die Grünen ihre Reden zu Protokoll gegeben haben; sie wären wahrscheinlich nicht viel anders ausgefallen.
Das Gleiche erleben wir auch international. Ich kann Ihnen sagen: Als ich Alex Gerst nach Baikonur begleitet habe, haben wir bei seinem ersten Start einen Moment lang die Luft angehalten. Das war nämlich kurz nachdem die Russen die Krim besetzt hatten. Da habe ich mich gefragt, ob das alles wohl gutgehen wird. Wir sind nach Moskau geflogen und von Moskau aus mit einer Roskosmos-Maschine nach Baikonur, und dann ging die Rakete hoch mit einem Deutschen, mit einem Russen und mit einem Amerikaner.
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Wenn Sie die Geschichte zu Ende erzählen wollen, müssen Sie langsam zum Schlusssatz kommen.
Wes das Herz voll ist, des geht das Maul über. Ich kann gar nicht aufhören, wenn ich über Raumfahrt rede. Aber ich will natürlich Ihre Ermahnung ernst nehmen und zum Schluss kommen.
Lassen Sie uns gemeinsam auch Probleme angehen wie die Beseitigung von Weltraumschrott oder die Abwehr von Asteroiden, wenn sie sich auf einer gefährlichen Bahn bewegen. Bruce Willis ist in meinem Alter. Dass das wie in „Armageddon“ noch lange klappt mit ihm, davon müssen wir uns vielleicht verabschieden. Das müssen wir in Zukunft anders lösen.
Herr Präsident, ich spüre Ihren ermahnenden Blick im Rücken und höre auf, auch wenn es mir leidtut. Ich hätte noch ein bisschen weitermachen können. Es hat mir Freude gemacht.
Stimmen Sie zu! Es ist ein toller Anfang.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man das Jahr 2019 mit einem Wort beschreiben müsste, dann wäre das das Wort „historisch“. Wir feiern unglaublich viele erstaunliche Jubiläen, unter anderem die Mondlandung. Vor 50 Jahren hat die Menschheit die Grenzen der Mobilität verschoben.
Unser Antrag kann diesem Durchbruch in der Raumfahrt zwar nacheifern, wird aber auf dem Boden der Tatsachen bleiben. Tatsache ist: Wenn wir die Klimaschutzziele erreichen wollen, brauchen wir einen deutlichen Wandel der Mobilität. Der Verkehrsbereich ist heute noch der drittgrößte Verursacher von Treibhausgasemissionen in Deutschland. Allein schon um dies zu ändern, müssen wir die Entwicklung innovativer Technologien vorantreiben, die eine klimafreundliche, also emissionsarme Mobilität ermöglichen.
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Für unsere Wirtschaft liegt darin eine Riesenchance.
Sie können im Antrag nachlesen, wie viele Förderprojekte von verschiedenen Ressorts bereits das Ziel, Mobilität nachhaltig zu gestalten, verfolgen. Aber eine Übersicht über all diese sinnvollen Aktivitäten fehlt. Das hat auch die Abstimmung unseres Antrages mit den Kolleginnen und Kollegen aus den mitberatenden Ausschüssen deutlich gemacht. Ziel ist daher, dass die Bundesregierung eine ressortübergreifende Strategie zur Mobilitätsforschung entwickelt.
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Dann wird auch die Verzahnung mit anderen Handlungsfeldern wie zum Beispiel der kommenden Wasserstoffstrategie gut gelingen.
Mobilitätsforschung hat zwei Seiten, erstens natürlich die technische Innovation, insbesondere was emissionsarme Antriebe von Verkehrsmitteln betrifft, und zwar für die individuelle Mobilität wie auch für den Güterverkehr. Welche Antriebsarten sich wofür langfristig durchsetzen werden, ist noch nicht ausgemacht. Neben der batteriebetriebenen E-Mobilität gibt es erfolgversprechende Lösungsansätze durch zum Beispiel LNG, wasserstoffbasierte Antriebe oder den Einsatz synthetischer Kraftstoffe. Darum ist für uns ganz klar: Wir fördern Forschung technologieoffen.
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Durch die Möglichkeit der Digitalisierung, aber auch aufgrund eines sich wandelnden Verhaltens der Menschen, die mobil sein wollen, ist es neben der Technologieinnovation genauso wichtig, dass wir zweitens systemische und transdisziplinäre Forschung fördern – für neue, leistungsfähige Mobilitätskonzepte.
Egal ob man in der Stadt oder auf dem Land wohnt, die Menschen müssen die Möglichkeit haben, wege- und zeitoptimiert und dabei besonders umweltverträglich von A nach B zu kommen. Dabei kann Forschung helfen.
Forschung kann helfen, eine Vernetzung verschiedener Verkehrsmittel zu schaffen, die mit digitalen Anwendungen, optimal an den individuellen Bedarf angepasst, genutzt werden können, sowohl im Personen- als auch im Güterverkehr. Die fachlichen Stichworte hier lauten: „inter- und multimodaler Verkehr“.
Forschung kann helfen, geeignete Wege zu finden, die Teilhabe der Betroffenen bei der Entwicklung dieser neuen Mobilitätskonzepte zu sichern, von den Bürgerinnen und Bürgern über die lokale Wirtschaft bis zu den Verkehrsunternehmen und den Stadtplanern. Das halte ich für ausgesprochen wichtig, damit die neuen Möglichkeiten wirklich dem Bedarf vor Ort entsprechen und auch angenommen werden.
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Forschung kann helfen, Mobilität in der Stadt und auf dem Land miteinander vernetzt zu denken. Das ist unser erklärtes Ziel: gleichwertige Lebensverhältnisse zu gewährleisten. Das ist besonders wichtig. Für Jugendliche und ältere Menschen bedeutet es Teilhabe, wenn in dünnbesiedelten Räumen neue Angebote individualisierten öffentlichen Nahverkehrs entwickelt werden. Mobilitätsangebote können im ländlichen Raum auch ein Standortfaktor sein, wenn es darum geht, wie Auszubildende Berufsschulen und Ausbildungsbetriebe mit vertretbarem Aufwand erreichen können. Hier müssen sich Kommunen zusammentun und Lösungen entwickeln.
Das BMBF fördert solche Ansätze bereits. Besonders wichtig für eine schnelle flächendeckende Verbreitung von neuen Ideen sind Möglichkeiten zur Erprobung in sogenannten Reallaboren. Meine Heimatstadt ist Teil eines solchen Reallabors mit dem Namen „Mobiles Münsterland“. Hier wird beispielhaft eine echte Schnellbusstrecke zur Verbindung des ländlichen Raums mit dem Oberzentrum gefördert.
Wir planen ebenso als Vernetzung zwischen den Landkreisen und der Stadt mehrere Velorouten. Und Radfahren wird mithilfe der Digitalisierung auch über weitere Strecken attraktiver. Die Beleuchtung kann nach Bedarf, also energiesparend, geregelt werden. Vorrangschaltungen für den Radverkehr können eingerichtet werden,
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und bei uns werden auch die alten Leinpfade entlang des Kanals zu Velorouten.
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So machen wir das klimafreundliche Fahrradfahren sicherer, schneller und schöner.
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Auch das trägt dazu bei, Pendlerverkehre und den dabei entstehenden Staueffekt zu verringern.
Außerdem brauchen wir noch individualisiert nutzbare Angebote. Diese On-Demand-Dienste, die möglichst einfach zugänglich über Apps und möglichst verkehrsverbundüberschreitend konzipiert sein müssen, müssen in die Fläche gehen, damit wir in Zukunft das eigene Auto immer seltener gebrauchen.
Ich möchte mich zu dieser späten Stunde bei allen Kolleginnen und Kollegen aus den mitberatenden AGs mit den Fachzuständigkeiten für Verkehr, Wirtschaft, Umwelt, Digitales und auch Bau bedanken. Wir haben uns zu diesem Zukunftsthema intensiv untereinander abgestimmt, und das erwarten wir auch von der Bundesregierung.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Nächster Redner für die Fraktion der AfD ist der Kollege Wolfgang Wiehle.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! „Schlagwortalarm“ möchte man rufen, wenn man diesen Antrag zur sogenannten nachhaltigen Mobilitätsforschung liest. Beginnt man damit, im Text Begriffe wie „KI“, „systemische“, „transdisziplinäre“ usw. zu zählen, läuft der Zähler schnell heiß.
Trotz der wallenden Wortlyrik haben die Autoren aber schon bei der Überschrift gepatzt. Geht es hier um eine nachhaltige Forschung? Was wäre das eigentlich? Oder geht es um Forschung an nachhaltiger Mobilität? Sie können das Wortklauberei nennen, ich sage: Wenn man die Wissenschaft in den Dienst nehmen möchte, sollte man schon ordentlich formulieren.
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Natürlich hat der Antrag einen ernsthaften Kern, aber auch hier versinkt er im Wünsch-dir-Was. Die kaum erreichbare planwirtschaftliche Vorgabe, dass der Verkehrssektor bis 2030 40 oder gar 42 Prozent weniger CO2 erzeugen soll, dient auch hier als politischer Rahmen. Wie könnte es anders sein!
Natürlich ist es richtig, dass der Verkehr so sicher, so energiesparend und so schadstoffarm wie möglich organisiert werden soll und dass dafür die Möglichkeiten ausgereizt werden, die neue Technologien hierfür bieten können. Es hat aber auch mit den Naturgesetzen zu tun, dass man für Mobilität Energie braucht.
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In einem Land, dessen Regierung im Alleingang gleichzeitig aus der Kernenergie und der Kohlenutzung aussteigen will, bekommt man zwangsläufig eine politisch ausgelöste Energiekrise, und diese wird auch am Verkehrssektor und vor allem an den E-Autos nicht vorbeigehen. Keine Forschung der Welt wird uns in einem solchen Szenario vor massiven Einschränkungen bewahren können.
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Der Bürger wird das nicht mehr verstehen können, vor allem dann nicht, wenn er weiß, dass gleichzeitig in China jedes Jahr eine zweistellige Zahl von Kohlekraftwerken neu gebaut wird
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und wir hier in Europa und in Deutschland zugleich Klimaaskese üben dürfen.
Der Bürger taucht in Ihrem Antrag an zwei Stellen auf. Da ist die Rede vom Menschen, der immer „im Mittelpunkt“ stehen soll. Die AfD fordert, dass der Bürger hier als Handelnder, als Verkehrsteilnehmer im Mittelpunkt stehen soll und weniger als Gegenstand von Verhaltenslenkung, also Nudging – oder wie immer man das nennt.
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Außerdem ist die Rede von „partizipativen Ansätzen“ bei der sogenannten Mobililtätswende und von einer – so wörtlich – „sinnvollen Einbindung entsprechender Akteure in Gesellschaft und Wirtschaft“. Unter „sinnvoll“ verstehe ich nicht zuletzt den Respekt auch vor abweichenden Ansichten. Wir von der AfD werden das mit großer Aufmerksamkeit verfolgen.
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Laut dem weiteren Text soll der Deutsche Bundestag rund 20 bereits laufende Forschungsvorhaben begrüßen und von der Bundesregierung 17 Maßnahmen fordern. Die lesen sich zum Teil so, als wären es Planungen, die längst in der Schublade liegen, und zum anderen Teil beinahe lyrisch-wolkig. Wären wir im Ressort „Ernährung und Landwirtschaft“, könnte das wohl auch so beschrieben sein: Die Forschung an Nutztieren soll so optimiert werden, dass sie ein Ergebnis bringt, das nahrhafte ovale Delikatessen liefert, eine Fellqualität aufweist, sodass aus den Fasern wärmende Kleidungsstücke herstellbar sind,
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Flüssignahrung in einer auch für Säuglinge nutzbaren Konsistenz abgibt
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und außerdem zu Schnitzeln, Haxen und Kassler verarbeitet werden kann,
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mit anderen Worten: eine eierlegende Wollmilchsau.
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Das Ganze soll natürlich – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten – „im Rahmen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel“ geschehen. Auf Deutsch: Mehr Geld gibt es dafür aber nicht.
Zwischen Klein-Klein und Wortwolken könnte man ganz konkrete Ansätze ergänzen, wenn man nur wollte und daran dächte, zum Beispiel die Erforschung der neuesten Generation sicherer Kernreaktoren als Energielieferanten und das Ausnutzen der Digitalisierung zur Verkehrsvermeidung.
Ich würde ja hoffen, dass es bei der Diskussion des Antrags in den Ausschüssen gelingt, aus der ganzen warmen Luft voller Schlagworte noch etwas Handfestes zu machen.
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Es wäre – siehe Ziffer 3 – wirklich wichtig, mithilfe realistischer Maßnahmen den Industriestandort Deutschland zu stärken. Davon sind Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, mit diesem Antrag aber noch meilenweit entfernt.
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Vielen Dank. – Dr. Manja Schüle für die SPD, Mario Brandenburg für die FDP und Ralph Lenkert für die Linke geben ihre Reden zu Protokoll.
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Nächster Redner ist der Kollege Stefan Gelbhaar für Bündnis 90/Die Grünen.
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Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber beim Lesen des Antragstitels „Nachhaltige Mobilitätsforschung …“ hatte ich ein kurzes Déjà-vu. Vor ungefähr einem Monat wurde hier – genau an dieser Stelle – der Antrag meiner Fraktion zu exakt demselben Thema von der Großen Koalition gemeinsam mit den Stimmen von FDP und AfD abgelehnt. Nun, offensichtlich hatte unser Antrag doch eine Wirkung.
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Sie listen in Ihrem Antrag jedoch vor allem das auf, was Sie aus Ihrer Sicht schon alles Tolles gemacht haben. Mir fallen vor allem drei Dinge auf:
Punkt 1: Geschwurbel. Ich lese viel von Aktionsplänen, Strategien, Leitlinien und Agenden. Ob und was jetzt wirklich schon konkret umgesetzt wird, steht da nicht – im Zweifel nämlich nichts.
Punkt 2: Mobilität oder Motor? Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass es der wachsende Verkehr ist, der Menschen und Umwelt belastet. Das stimmt. Die Mehrzahl der aufgelisteten Forschungsvorhaben dreht sich jedoch einzig und allein um das Thema „Antrieb und Kraftstoffe“. Nur: Die Antriebswende löst unsere Verkehrsprobleme nicht.
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Wir brauchen Forschung für mehr Verkehrseffizienz und Verkehrsvermeidung. Gerade einmal 2 der 20 Projekte beschäftigen sich mit diesem Thema.
Beim Punkt „Forschung im Bereich des automatisierten und vernetzten Fahrens“ hatte ich kurz noch einmal Hoffnung. Aber leider auch hier: Sie fördern fast ausschließlich Autoforschung und nicht den öffentlichen Verkehr, obwohl genau hier unglaubliches Potenzial liegt.
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Punkt 3: Nachhaltigkeit. Im Antragstitel steht „Nachhaltige Mobilitätsforschung“. Dabei denke ich an nachhaltige Fortbewegungsmittel, wie Bus und Bahn, das Fahrrad oder auch den Fußverkehr.
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In Ihrer Liste steht sage und schreibe nur ein einziges Bahnforschungsprojekt. Das zeigt ganz klar die Haltung dieser Bundesregierung und eben auch dieses Antrages.
In den vergangenen zehn Jahren wurde für knapp 5 000 Auto- und Straßenforschungsprojekte der enorme Betrag von über 2 Milliarden Euro durch die Bundesregierung ausgegeben. Das ist ein riesiger Batzen Geld, und vor diesem Hintergrund ist es geradezu absurd, dass sich Verkehrsminister Scheuer für drei Radverkehrsprofessuren abfeiert. Dazu könnte der Antrag ja mal Stellung nehmen.
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Bei den Forderungen an Ihre eigene Regierung ist besonders der Punkt 6 bemerkenswert. Sie wollen die „Forschung zu Mobilitätskonzepten für ländliche Räume“ erweitern. Neben dem öffentlichen Verkehr sollen hier in Zukunft auch neue Mobilitätskonzepte wie On-Demand-Angebote und Pooling sowie Sharing-Modelle erforscht werden. Das klingt nicht verkehrt, sondern das klingt sogar richtig gut.
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Die Mittel sollen aber nicht erhöht werden, und das, obwohl das Forschungsgebiet erweitert wird. Das heißt in der Konsequenz: weniger Geld für die Erforschung von Bus und Bahn.
Und obendrauf: Dieses Geld würde dann wo landen? Bei den Automobilherstellern, die zunehmend genau diese Mobilitätsdienste anbieten wollen! Genau dieses Geld fehlt dann wiederum wo? Genau, bei den öffentlichen Verkehrsunternehmen!
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So ist das eben der falsche Weg.
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Wir brauchen endlich Städte und Regionen, die Experimentierräume werden können. Das Zusammenspiel zwischen den Verkehrsmitteln muss perfektioniert werden. Und, ja, das kostet Geld, aber nur so bekommen wir eben die Innovationen schneller auf die Schiene, auf die Radwege und auf die Straße. Es reicht eben einfach nicht, nur den Antrieb von Autos zum zehnten und fünfzehnten Mal zu erforschen.
Meine Damen und Herren, der Antrag der Koalition ist deswegen nicht grundlegend falsch. Der Antrag ist eher so was wie ein schlaffer, kraftloser Händedruck; Sie wissen, welches Gefühl ich beschreibe.
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– Wissen Sie nicht? Bei der AfD gibt es wahrscheinlich nur diesen Händedruck; deswegen kennen Sie das Gefühl vielleicht nicht.
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Dieser Antrag fokussiert allein auf das Auto, und ich würde mir wünschen, dass wir für eine echte Mobilitätsforschung und auch für eine Aufstockung der Mittel streiten. Lassen Sie uns ernsthaft für die Mobilitätswende arbeiten!
Vielen Dank.
({10})
Vielen Dank. – Andreas Steier, CDU/CSU, und René Röspel, SPD, geben ihre Reden zu Protokoll.
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Es liegen keine weiteren Wortmeldungen vor, und ich schließe die Aussprache.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir feiern in diesen Tagen ein großartiges Jubiläum. Vor 30 Jahren wurde von den Vereinten Nationen die Kinderrechtskonvention beschlossen. Sie umfasst 54 Artikel, in denen die Rechte von Kindern weltweit festgeschrieben sind. Egal woher sie kommen und wo sie leben, egal welchen familiären, ethnischen oder kulturellen Hintergrund sie haben: Alle Kinder sind gleich und gleich an Rechten. Das ist der Kern der Kinderrechtskonvention.
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Deutschland hat die Konvention 1992 ratifiziert und 2010 endlich den Auslegungsvorbehalt zurückgenommen. Die Kinderrechtskonvention hat damit den Status eines einfachen Bundesgesetzes, und das kann uns allen miteinander doch nicht reichen.
({1})
Kinderrechte gehören endlich ins Grundgesetz, nicht als symbolpolitische Lyrik, sondern mit Substanz und mit einer starken, bindenden Formulierung, damit das Kindeswohl ein höheres Gewicht erhält.
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Wir hoffen, dass die Justizministerin hier einen anständigen Entwurf vorlegt; denn wenn wir als Deutschland Kinderrechte in der Welt besser schützen wollen, dann müssen wir vor der eigenen Haustür kehren und ein wirklich kindgerechtes Land werden, ohne Kinderarmut und mit Chancen für alle.
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In 30 Jahren gab es international Fortschritte für Kinder, aber die weltweiten Verstöße gegen Kinderrechte sind hochdramatisch. 385 Millionen Kinder leben in extremer Armut, 150 Millionen Kinder sind chronisch unterernährt, 420 Millionen Kinder sind von Kriegen und Konflikten betroffen, jeder vierte Todesfall in einem Alter von unter fünf Jahren ist laut WHO auf Umweltverschmutzung zurückzuführen. Diese Liste ließe sich fortsetzen. Das sind skandalös hohe, unfassbar brutale Zahlen, hinter denen einzelne konkrete Schicksale stecken, Zahlen, die nicht nur traurig machen, sondern die uns allen miteinander auch Ansporn sein müssen, sich viel stärker zu engagieren und Kinder in den Mittelpunkt internationaler Politik zu rücken.
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Deshalb müssen wir jetzt endlich vom Bekenntnis zum Handeln kommen; denn Deutschland hat 2020 eine exponierte Rolle. Wir werden weiterhin dem UN-Sicherheitsrat und ab nächstem Jahr auch wieder dem UN-Menschenrechtsrat angehören, zudem wird die Bundesregierung die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen. Diesen Dreiklang muss die Regierung nutzen, um Kinderrechte weltweit zu verbessern. Deutschland braucht eine menschenrechtsbasierte und endlich auch kindgerechte Außenpolitik.
({5})
Der Forderungskatalog des grünen Antrags ist lang: Schluss machen mit Ausbeutung und Versklavung, gleiche Chancen für Mädchen und Jungen verwirklichen, Klima- und Umweltschutz verstärken, bessere Gesundheitsvorsorge und Bildungszugänge, Einsatz gegen Kinderarbeit und Kinderprostitution, Schluss mit der lebenslangen Haft von und dem Handel mit Kindern und vieles mehr.
Unser Antrag ließe sich eigentlich auch gut fraktionsübergreifend beschließen. Machen Sie also gerne mit!
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Kinder und Jugendliche selbst sind auch Menschenrechtsaktivistinnen und ‑aktivisten, und Autokraten in aller Welt sehen engagierte junge Menschen als Gefahr. Friedensnobelpreisträgerin Malala wäre wegen ihres Kampfs für Mädchenrechte fast ermordet worden, Greta ist für viele eine Ikone des Klimaschutzes, für manche eine Reizfigur.
Wir wollen auf jeden Fall, dass alle Kinder ihre Rechte kennen und sich einbringen können – und das überall –; denn auch Partizipation, Beteiligung, ist Fundament gelebter Kinderrechte hierzulande und weltweit.
Die Verabschiedung der Kinderrechtskonvention vor 30 Jahren war fraglos ein großer Schritt. Nach 30 Jahren sollten wir es endlich schaffen, Kinderrechte in Deutschland und weltweit tatsächlich umzusetzen; denn kein Kind kann etwas dafür, wo es zur Welt kommt. Die Würde jedes Kindes muss unantastbar sein – überall und tagtäglich.
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Vielen Dank. – Als Nächster spricht der Kollege Jürgen Braun für die AfD.
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Herr Präsident! Liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Kinder brauchen Eltern, Kinder brauchen den geschützten Raum der Familie. Das ist unverzichtbar. Dieser Schutz ist garantiert in Artikel 6 unseres Grundgesetzes. Doch die Familie gerät zunehmend in Gefahr.
Die Grünen wollen Familien spalten, wollen Kinder und Eltern gegeneinander aufbringen.
({0})
Das aber ist das typische Kennzeichen von totalitären Diktaturen auch und gerade in Deutschland.
({1})
Zwei deutsche Diktaturen haben Kinder gegen Eltern aufgebracht.
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Zwei deutsche Diktaturen haben Kinder politisch missbraucht. Die totalitäre grüne Weltuntergangssekte treibt dieses schreckliche Spiel weiter.
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Sie machen Kindern Angst vor dem Weltuntergang. Das ist Ihr finsteres Geschäft.
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Worum geht es eigentlich in diesem Antrag? Der Staat soll sich immer stärker in funktionierende Familien einmischen. Das ist das Ziel der Grünen. Den geschützten Raum für die Entwicklung des Kindes wollen die Antragsteller nicht.
Auch im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte – also geltendes Völkerrecht – hat die Familie nach Artikel 23 einen Anspruch auf besonderen Schutz, und zwar durch die Gesellschaft wie durch den Staat.
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Ich zitiere: „Die Familie ist die natürliche Kernzelle der Gesellschaft …“ – Das ist bindendes internationales Recht und in über 170 Staaten ratifiziert.
({6})
Dieser Antrag der Grünen ist außerdem grundgesetzwidrig.
({7})
Nach Artikel 6 Grundgesetz sind die Rechte der Kinder durch die Rechte der Familien geschützt.
({8})
Neue Kinderrechte würden dieses Grundrecht im Wesensgehalt verändern. Eine solche Änderung ist jedoch nach Artikel 19 Grundgesetz nicht erlaubt. Wörtlich steht dort:
In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.
({9})
Es bleibt dabei: Die besten Kinderrechte sind Familienrechte. Das berüchtigte Zitat von Olaf Scholz – heute Finanzminister und eventuell bald SPD-Vorsitzender – schon vor Jahren lautet: „Wir wollen die Lufthoheit über den Kinderbetten erobern.“ Sozialisten unter sich!
({10})
Die Grünen erwähnen zu Recht die Genitalverstümmelung als ein schreckliches Verbrechen an Mädchen. Gleichzeitig verharmlosen Sie diese Verbrechen, wenn Sie sie nur in einem Atemzug mit Homosexualität benennen.
({11})
Natürlich gibt es erschreckende Fälle von Missbrauch, natürlich sterben Väter und Mütter und hinterlassen minderjährige Kinder. In diesen Fällen muss geholfen werden. Hier ist auch der Staat gefragt.
Natürlich müssen Mädchen und Jungen dieselben Chancen haben. Hierzulande ist das eine Selbstverständlichkeit, in islamischen Ländern allerdings nicht. Das verschweigen die Grünen.
({12})
Die sozialistische Ideologie zerstört die Familien, die die Kinder so dringend brauchen.
({13})
Ob nun Eigentum enteignet wird oder mit radikaler Genderpolitik Kinderseelen gestört oder sogar zerstört werden: Der Sozialismus hat viele Gesichter, und alle sind hässlich.
({14})
Anstatt die Lufthoheit über den Kinderbetten zu fordern, sollten sich die Grünen lieber zu ihrem eigenen Antisemitismus äußern. In dieser Woche analysierte die wichtigste israelische Zeitung, die „Jerusalem Post“ – ich übersetze –: Wie die deutschen Grünen den iranischen Antisemitismus salonfähig gemacht haben.
({15})
Claudia Roth mit Kopftuch geduckt unter den Bildern von Ajatollah Chomeini und anderen radikalen Judenhassern!
({16})
Eilfertig und unterwürfig begrüßte sie einen der schlimmsten Feinde Israels, Laridschani.
({17})
Genau dieser Laridschani leugnete auf der Münchner Sicherheitskonferenz den Holocaust ganz ungeniert.
({18})
Die Grünen: die Partei der ganz, ganz großen Heuchler.
({19})
Alle Parteien hier im Hohen Hause – außer der AfD – sind in Koalitionen Partner dieser grünen Partei des Antisemitismus.
({20})
Grüne wie Claudia Roth gehören zum parlamentarischen Arm der internationalen Feinde Israels. Eine Schande für dieses Parlament.
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Herr Braun, es kommt selten vor, aber ich muss Sie zur Sache rufen. Sie schweifen ab.
({0})
Wenn unliebsame Ausschussvorsitzende für Petitessen abgewählt werden können,
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wenn nach Ihrer Ansicht das Grundgesetz so eine Willkür erlaubt, dann ist die sofortige Abwahl der Abgeordneten Roth als Vizepräsidentin nicht nur möglich, sondern zwingend.
({1})
Drei weitere Redner haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Auch wenn ich nicht Fan davon bin, um diese Uhrzeit zu reden: Das wollte ich in dieser Debatte doch nicht als letztes Wort hier stehen lassen.
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Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! Sehr geehrte Herren! Kinderrechte sind Menschenrechte – Herr Kollege Braun, an der Stelle sind Sie übrigens gar nicht auf den Antrag eingegangen, sondern nur auf eine Zeile, die in dem Antrag der Grünen steht –,
({1})
sie gelten immer und überall und für jedes Kind, und alle Kinder haben die gleichen Rechte auf Schutz und Fürsorge, eine Identität sowie ein Recht auf Bildung. Sie haben das Recht, ein erfülltes und angemessenes Leben zu führen.
In Deutschland ist es selbstverständlich, dass Kinder zur Schule gehen. In vielen Ländern dieser Welt haben sie oft keine Möglichkeit dazu, weil sie unter anderem tagein, tagaus arbeiten müssen. In diesem Zusammenhang wünsche ich mir, dass wir über unsere Grenze gucken.
Ich denke an den Friedensnobelpreisträger Dr. Mukwege aus dem Kongo und daran, dass seine Kinder und Enkelkinder die gleichen Chancen bekommen sollen wie meine Kinder und Enkelkinder. Und auch die Kinder und Enkelkinder der Frauen, die er als Doktor wegen der Kriegszustände in seinem Land zusammenflicken muss, wofür er eben den Friedensnobelpreis bekommen hat, sollen die gleichen Chancen erhalten!
Ich kann mich erinnern, dass ich in dieser Region – im Kongo – war und bei einem Gespräch ein Kind mit starren Augen auf dem Schoß einer Frau gesehen habe, die sich später als Tante dieses jungen Kindes herausstellte. Ich habe 20 Minuten lang versucht – ich habe vier Kinder und drei Enkel und liebe das Umfeld –, dem Kind eine Gefühlsregung abzuringen. Es war nicht möglich.
Das Mädchen war traumatisiert, unter anderem deswegen, wie ich später hörte, weil sie mit ihrer Mutter angeschossen wurde. Die Mutter starb und wurde zusammen mit dem Kind, weil man es auch für tot hielt, und mit mehreren anderen Menschen in ein Grab geschmissen. Die Oma hat sie dann unter den anderen Toten wieder herausgeholt. Traumatisiert! Nicht die gleichen Rechte wie wir!
Ich danke den Grünen, dass sie diesen Antrag eingebracht und sich Mühe gemacht haben, und ich danke für viele der Forderungen, die in diesem Antrag stehen. Er passt sehr gut zu dem Antrag mit dem Titel „Kinder weltweit schützen – Ausbeuterische Kinderarbeit verhindern“, den wir als Koalition vor, ich glaube, drei Stunden hier eingebracht haben.
Wenn sich der Beschluss der UN-Kinderrechtskonvention nächste Woche zum 30. Mal jährt, dann ist es gut, einen Blick zurück, einen Blick in die Gegenwart und einen Blick in die Zukunft zu werfen. Dabei sollten wir vielleicht auch über unsere Grenzen hinausschauen, was ich gerade sehr vermisst habe.
Der Blick in die Vergangenheit ist schon sehr schwierig. Da gibt es nicht nur dieses Bild von traumatisierten Kindern. Manchmal wirkt der Blick in die Gegenwart schon sehr deprimierend, trotzdem hat sich in den letzten 30 Jahren eine Menge getan: Die Sklaverei und Ausbeutung – auch unter Kindern; teilweise sogar bis in europäische Länder hinein – waren weitaus stärker verbreitet als heute. Die Selbstverständlichkeit, eine Schule zu besuchen, war damals absolut nicht gegeben – ganz besonders für Mädchen nicht. Und beim Thema Gesundheit? Der Prozentsatz der Menschen, die Zugang zur Gesundheitsversorgung haben, hat sich vervielfacht. Die Kindersterblichkeit war riesig und ist jetzt selbst in sehr schwachen Ländern viel geringer.
Aber selbst wenn man jetzt in die Gegenwart guckt, muss man vorsichtig sein, dass man nicht noch eine Menge an Frust kassiert. Nach Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation müssen zurzeit weltweit immer noch 152 Millionen Kinder arbeiten, 73 Millionen davon unter ausbeuterischen Umständen – in Subsahara-Afrika jedes dritte Kind im Alter zwischen 5 und 14 Jahren.
Die Arbeit ist sehr unterschiedlich. Es ist gibt Kinder – wie in der Region, von der ich gerade sprach, im Kongo –, die in die Bergwerke und Minen gehen müssen, die aus Sparsamkeitsgründen eben einfach für kleinere Menschen gebaut sind, um dort Coltan oder Lithium herauszuholen, die sich in manchen unserer Geräte befinden, sodass wir uns diese Dinge hier vielleicht billiger besorgen können. Es können auch Arbeiten im Haushalt oder Reinigungsarbeiten sein, es kann die Betreuung kleiner Kinder oder eine Arbeit bei der Produktion von Textilien, Schuhen oder Teppichen oder eine Arbeit in Minen sein. Die Zahlen hat der Kollege Gehring gerade genannt: 385 Millionen Kinder leben in extremer Armut, 36 Millionen Kinder können keine Schule besuchen.
Um Kinderarbeit wirksam zu verhindern, müssen Armut bekämpft, existenzsichernde Löhne für Erwachsene gezahlt sowie ein verbesserter Bildungszugang erreicht werden.
({2})
Natürlich tragen auch die steigende Anzahl an Fluchtgründen und die irreguläre Migration dazu bei, die Gefahr der Ausbeutung von Kindern zu erhöhen. Das UNHCR sagte letztes Jahr im Juni, dass sich 36 Millionen Kinder auf der Flucht befinden.
Dann habe ich wieder Achmed vor mir, der schon mehrere Monate in einem Flüchtlingslager in Jordanien leben muss, weil er aus Syrien, aus einem Kriegsgebiet, vertrieben wurde. Er ist 15 oder 16 Jahre alt, und bei dem Gedanken, dass die da drüben sein Haus und seine Kindergartenfreunde zerschießen, sagte er in unserer Runde: Ich brauche auch ein Gewehr; ich will sofort da rüber. – Was mich am meisten geschockt hat, war, dass seine Mutter keinen Einspruch erhoben hat.
Das geht bis in unseren Alltag hinein. Wir haben heute eine Veranstaltung zum Grünen Knopf gehabt. Das ist das, was von uns in der Politik als Reaktion kommen muss! Ich bin dankbar für das Heute. Der Grüne Knopf besagt ausdrücklich, dass Kinderarbeit bei der Verarbeitung von Textilien ausgeschlossen werden muss. Und ja: Im Hinblick auf den Aktionsplan „Agents of Change“ – so nennen Sie ihn auch in Ihrem Antrag – können wir darüber nachdenken, das Monitoring zu verbessern. Das BMZ möchte dabei der besonderen Rolle von Kindern und Jugendlichen Rechnung tragen. Kinder sind wichtige Akteure beim Wandel.
Bei der Unterstützung für das Forum Nachhaltiger Kakao e. V. geht es um die Verbesserung der Einkommenssituation in diesem Sektor.
({3})
Das kann man Sektor für Sektor, Branche für Branche machen. Da sind wir allerdings auf alle, nicht nur auf die Politik, sondern auch auf die Wirtschaft und auf den Konsumenten, angewiesen, Agents of Change zu sein.
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Und dann ist dieser Tage von einem unserer großen Discounter – einer derer, die den Nachhaltigkeitsfaktor verkörpern müssen –, zu hören: „Dann erhören wir die Jugendlichen von Fridays for Future, und dann verändern wir unsere Sortimente“ – und es verändert sich im Regal noch nichts, kaum bemerkbar.
Auch wenn die Grünen als Antragsteller das anders deuten werden: Ich glaube, die Bundesregierung hat einiges aufgesetzt. Ein Blick in die Zukunft zeigt: Wir sind leider noch nicht am Ziel. Bei der Feststellung der Zielrichtung und der Größe der Herausforderung sind wir mit Ihnen vollkommen einig. Ich wünsche mir aber, dass wir noch besser hingucken, zum Beispiel wenn Organisationen für Hauttransplantationen bei uns auf Kinder in Nepal zurückgreifen oder wenn Straftaten in sozialen Netzwerken – für Dienstleistungen, die bei uns von der Couch aus in Anspruch genommen werden – an Kindern auf den Philippinen vollbracht werden, verbrochen werden. Ich wünsche mir, dass wir das unterbinden,
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dass wir diese Rechte nicht nur für Kinder bei uns einfordern, sondern für alle Kinder. Wir müssen diese Finanzströme besser regeln. Es bleibt noch eine Menge zu tun.
Das war Ihr Schlusswort.
Nochmals danke fürs Einbringen. Lassen Sie uns gemeinsam an dieser Herkulesaufgabe arbeiten!
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es kommt nicht oft vor, dass der Titel eines Tagesordnungspunktes so kurz und prägnant ausdrückt, was wir erreichen wollen. Ja, wir wollen, dass die Jugend informiert gedenken und sich vergewissern kann, was in der Vergangenheit vorgefallen ist und wie es begonnen hat. Wir halten es für wichtig, dass schon zunächst kleine Abweichungen von den Menschenrechten zu einem Warnsignal werden können.
Mit dem Titel „Jugend erinnert“ richten wir uns ganz gezielt an die jungen Menschen, die selbst keine Erfahrungen mit Unrechtsregimen haben. Darüber freuen wir uns, und das soll auch so bleiben. Um Anzeichen einer Fehlentwicklung zu erkennen, muss man informiert sein und sich informieren können.
({0})
Für mich ist es schockierend, dass die systematische Judenvernichtung der deutschen Geschichte geleugnet wird. Mein Vater als Zeitzeuge war fassungslos darüber, dass heutzutage solche Äußerungen öffentlich möglich sind. Es ist eine Schande, dass Juden, die eine Kippa tragen, in der Öffentlichkeit Anfeindungen ausgesetzt sind und sich nicht sicher fühlen.
({1})
Das sind die Anfänge, denen man entschieden entgegentreten muss.
Sehr viel besser sieht es bei der Debatte, ob die DDR ein Unrechtsstaat war, auch nicht aus. Wer da Zweifel hat, den kann man zum Beispiel in das Museum in der „Runden Ecke“ in Leipzig schicken. In diesem ehemaligen Stasibunker kann man Anklageschriften sehen, an die die Parteiführung handschriftlich das Urteil geschrieben hat. So wurde dann von den Richtern geurteilt, so wurden Menschen enteignet und innerhalb von Stunden zwangsumgesiedelt. Ich weiß nicht, wie noch Zweifel daran aufkommen können, dass das ein Unrechtsstaat gewesen ist.
({2})
Mit zeitlichem Abstand zu den Ereignissen verblasst der Schrecken. Das machen sich die Kräfte zunutze, die ein Interesse am Fortbestand der Ideologie haben. Deshalb müssen die Gedenkorte wie das Museum in der „Runden Ecke“ erhalten bleiben.
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Deshalb müssen wissenschaftlich zweifelsfreie Dokumentationen der Geschehnisse hergestellt und Entstehung und Wirkungsweise der Diktaturen beschrieben werden.
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Wir brauchen darüber hinaus eine zeitgemäße Ansprache der jungen Leute auf den Kanälen, die junge Leute nutzen. Deshalb brauchen wir Begegnungsmöglichkeiten mit der Geschichte und den wenigen Zeitzeugen, und wir brauchen Bildungsreisen an die Gedenkorte.
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Zunehmend werden wir als aktive Inklusion auch die Vermittlung an Menschen mit einem anderen kulturellen Hintergrund brauchen.
Das alles kann man in unserem Antrag entdecken. Deshalb ist es gut, diesem Antrag zuzustimmen.
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Im Haushalt 2019 sind 7 Millionen Euro für die Arbeit mit Jugendlichen bereits bereitgestellt worden, und zusätzlich für pädagogische Arbeit in den Gedenkstätten 1,6 Millionen Euro und 20 Personalstellen. Ermutigend ist doch, dass im Ergebnis diese Angebote mit wachsendem Interesse angenommen werden. Die Jugend lehnt es nicht ab. Laut forsa-Umfrage, die von der Körber-Stiftung in Auftrag gegeben wurde, geben 56 Prozent der Schüler an, dass sie ein großes Interesse an Geschichte haben, und über 80 Prozent schätzen den Geschichtsunterricht als wichtig ein. Das Interesse ist vorhanden.
Ich empfinde es als unsere Pflicht, der Verharmlosung und Verklärung der Vergangenheit mit nüchternen Fakten entgegenzutreten und diese Fakten den jungen Menschen zeitgemäß zur Verfügung zu stellen.
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Die jungen Menschen haben ein Recht darauf, informiert zu werden, um Fehler zu vermeiden.
Wenn Überlegungen angestellt werden, was man in der Schule vermitteln sollte, um das Rüstzeug für ein gelingendes Leben zu haben, dann gehören die Wahrheiten über die Diktaturen des 20. Jahrhunderts und deren Entstehung dazu. Und da darf kein Unterschied zwischen Ost und West gemacht werden.
({8})
Das Programm „Jugend erinnert“ ist mehrjährig angelegt. Wir sammeln damit Erfahrungen, geben den Gedenkstätten und den Vereinen Planungssicherheit. Für mich ist klar, dass wir das Recht der jungen Menschen auf objektive Information dauerhaft erfüllen müssen.
Erinnerungskultur heißt, die Geschichte mit Abstand zu betrachten und sachlich und korrekt zu vermitteln. Das ist der richtige Umgang mit dem Vermächtnis der Opfer, denen wir es schuldig sind, dass diese Schrecken nicht wieder aufleben.
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So festigen wir das Vertrauen in Demokratie.
Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Dr. Götz Frömming für die AfD.
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Danke schön. – Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Kollege Selle, vieles an Ihrer Rede würde ich loben – er hört noch nicht zu, aber vielleicht gleich –, und vieles an diesem Antrag ist durchaus auch zu loben, vieles können wir unterschreiben. Insbesondere gefällt uns, dass hier erstmals neben der NS-Diktatur auch die SED-Diktatur in den Mittelpunkt gerückt und auch klar benannt wird. Es gab ja in letzter Zeit einige Unklarheiten, insbesondere in der SPD, dass die DDR ein Unrechtsstaat war. Das steht hier ausdrücklich drin. Wir begrüßen das und finden das sehr gut.
Ebenfalls gut gefällt mir der Satz in Ihrer Einleitung:
Jeder Relativierung der Verbrechen des Nationalsozialismus muss entschieden entgegengetreten werden.
Ich hoffe, meine Damen und Herren, Sie erinnern sich daran auch, wenn das nächste Mal wieder jemand in Versuchung geraten sollte, die AfD auch nur in die Nähe der NSDAP zu rücken.
({0})
Denn das wäre genau das: eine Relativierung der Verbrechen des Nationalsozialismus.
Meine Damen und Herren, neben vielem, was zu loben ist, gibt es aber doch etwas zu kritisieren, was uns letztlich dazu bringt, diesem Antrag nicht zustimmen zu können:
Erstens ein formaler Einwand: Erneut erleben wir hier einen Eingriff und auch einen Übergriff des Bundes auf die Kulturhoheit der Länder. Das ist insofern besonders interessant, da gerade die Kulturhoheit der Länder im Grundgesetz besonders fest verankert ist und übrigens auch ein Bollwerk sein sollte gegen jegliches Wiedererstarken einer zentralistischen Diktatur. Der Antrag widerspricht sich hier ein Stück weit sogar selbst.
Zweitens. Sie wollen Bezüge zu aktuellen Fragen herstellen; das klang auch in Ihrer Rede eben an, sehr verehrter Herr Kollege. Auch da läuten bei uns die Alarmglocken.
({1})
Geschichte ist nicht dafür da, sie für tagespolitische Zwecke zu instrumentalisieren.
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Das möchten wir bitte schön verhindert wissen. Geschichte soll um ihrer selbst willen betrachtet werden. Wie es der große Leopold von Ranke so schön ausgedrückt hat: Geschichtsschreibung heißt erst einmal, hinzugucken, wie es denn eigentlich gewesen ist, und das andere kommt dann später.
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Drittens. Wir haben hier wieder mal einen Antrag vor uns, meine Damen und Herren, der eine rein negative Sicht auf die deutsche Geschichte beinhaltet. Insbesondere wenn es Ihnen darum geht – wie Sie das eben ja auch sagten –, auch jüngere Menschen, insbesondere neu zu uns gekommene Menschen, für Deutschland zu begeistern, dann brauchen wir doch endlich mal ein Programm, um die positiven Seiten der deutschen Geschichte darzustellen, meine Damen und Herren.
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Davon finden wir leider in diesem Programm nichts und auch nicht in den Programmen der Länder, die ja weiß Gott schon viel in dieser Richtung machen. Es ist ja nicht so, dass man nun auf den Bund hätte warten müssen, damit es Kulturfahrten oder Fahrten zu Erinnerungsstätten gäbe. Aber es fehlt hier wirklich der Blick auf eine positiv-identitätsstiftende Geschichtsbetrachtung. Die haben wir in unserem Programm gefordert als AfD. Wir hoffen, dass Sie sich vielleicht auch mal dazu durchringen können, Programme zu entwickeln, in denen wirklich das Gute und Schöne der deutschen Geschichte auch mal in den Mittelpunkt gerückt werden.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Die letzten fünf Redner geben ihre Rede zu Protokoll.