Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 11/8/2019

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Ralph Brinkhaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004021, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Guten Morgen, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die erste gute Nachricht am heutigen Tag ist, dass es den beiden Kollegen, denen es gestern schlecht gegangen ist, wohl wieder besser geht. ({0}) Daran merkt man: Wir sind Menschen. Vielleicht sollten wir uns spätnachts auch so verhalten und berücksichtigen, dass wir Menschen nur eine begrenzte Belastungsfähigkeit haben. Ich glaube, das hilft uns weiter. ({1}) Meine Damen und Herren, zur Friedlichen Revolution, über die wir heute sprechen, fällt mir ein Erlebnis ein. Wir waren mit unserer Fraktion vor wenigen Wochen zu einer Sondersitzung in Leipzig. Ich habe mich vorher zusammen mit einigen Kollegen mit Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtlern in der Nordkapelle der Nikolaikirche getroffen, wir haben eine Andacht gefeiert, etwas diskutiert. Bei dieser Diskussion habe ich wirklich atemlos dagesessen und habe mir die Geschichten zu den Ereignissen von 1988 und 1989 angehört. Ich bin noch einmal eingetaucht in die Zeit, in der engagierte und mutige Menschen angefangen haben, sich Zentimeter für Zentimeter Freiräume zu erkämpfen, in der sie den Mut gefasst haben, sich zu versammeln, oft in Versammlungsräumen im Schutz der Kirche, in der sie den Mut gefasst haben, zu diskutieren, in der sie den Mut gefasst haben, Flugblätter zu verteilen. Aus wenigen sind dann ganz viele geworden, die auf den Straßen von Leipzig, aber auch in vielen anderen Orten der DDR demonstriert haben. Dies geschah übrigens unter einem hohen persönlichen Risiko. Nur zur Erinnerung: 1989 war auch das Jahr, in dem in China in Peking eine Demokratiebewegung blutig niedergeschlagen wurde. Keiner wusste, was aus diesen Demonstrationen werden würde, was passieren würde. Deswegen, meine Damen und Herren, können wir wirklich davon sprechen, dass es eben keine Wende war, wie uns der eine oder andere SED-Funktionär weismachen wollte, sondern eine Revolution, und zwar – und das ist das große Wunder – eine Friedliche Revolution. ({2}) Weil das so ist, sollten wir uns heute mit großem Respekt vor denjenigen verneigen, die diese Friedliche Revolution durch ihr Engagement, durch ihren Mut überhaupt erst möglich gemacht haben. Ich habe aber auch noch etwas anderes gelernt, nämlich dass 1988/1989 nicht der Anfang war. Zum Beispiel am 17. Juni 1953 hat es Menschen gegeben, die für Freiheit gekämpft haben, auch in der Öffentlichkeit. Aber auch zwischen 1953 und 1988 hat es ganz viele Menschen gegeben, von denen heute niemand mehr Notiz nimmt, die unter einem unglaublich hohen persönlichen Risiko für Freiheit gekämpft haben, ({3}) die dafür ins Gefängnis gegangen sind, denen dafür Berufs- und Lebenschancen genommen wurden, die von ihren Familien getrennt worden sind. Ich glaube, wir sollten uns heute auch vor diesen Menschen, vor den stillen Helden der Friedlichen Revolution, verneigen. ({4}) Ich denke, heute an diesem Tag sollten wir aber auch an diejenigen denken, die den Fall der Mauer nicht mehr erlebt haben, weil sie an der Mauer, am Stacheldraht, an der Grenze durch Selbstschussanlagen getötet worden sind. Heute ist der Tag, auch diese Menschen zu würdigen, die ihren Kampf gekämpft haben, ohne dass er am Ende erfolgreich war. Meine Damen und Herren, diese Friedliche Revolution hat uns alle sehr beeindruckt. Der Tag, der für diese Friedliche Revolution steht, ist natürlich der 9. November. Jeder, der diesen Tag erlebt hat, der weiß, was er damals gemacht hat, der weiß, wie er diese Stunden verbracht hat. Dieser Tag war – ich glaube, das kann man so sagen – der glücklichste in unserer Geschichte, der erfüllt war von Freude, von unschuldiger, vorbehaltloser Freude. Ich glaube, es ist einfach auch wichtig, sich in diesen Zeiten an diese Freude zu erinnern; denn wenn wir uns immer nur mit den traurigen Dingen beschäftigen, dann führt das auch in der Politik zu wenig. Deswegen ist es richtig, dass wir heute diese Debatte führen. ({5}) Aber ich kann nicht über den 9. November 1989 reden, ohne den 9. November 1938 zu erwähnen. Dieser Tag steht auch als Symbol für den millionenfachen Mord an Jüdinnen und Juden, verübt durch Deutsche. Ich glaube, es ist gerade in diesen Tagen sehr wichtig, das hier in dieser Debatte zu benennen, wo jüdisches Leben in Deutschland wieder angegriffen, attackiert und verfolgt wird. Deswegen sollte heute an diesem Tag aus diesem Deutschen Bundestag das ganz klare Signal kommen, dass dieser Deutsche Bundestag alles in seiner Macht Stehende tun wird, um Jüdinnen und Juden, ihre Häuser, ihre Versammlungsstätten, ihre Läden und auch ihre Synagogen zu schützen. ({6}) Aus dem 9. November wurde dann der 3. Oktober, wurde dann die Wiedervereinigung. Auch hier haben wir unglaublich vielen Menschen zu danken: den Männern und Frauen – ich habe vom Westen aus mit großem Respekt darauf geschaut –, die an den Runden Tischen versucht haben, das Land neu zu organisieren, den ersten Abgeordneten der frei gewählten Volkskammer – wir haben noch eine unter uns, die damals dabei war –, aber natürlich auch den Staatsmännern und Staatsfrauen, die die historische Chance beherzt ergriffen haben, ob das nun Helmut Kohl, Lothar de Maizière oder viele andere waren, und diese Wiedervereinigung organisiert haben. Ich möchte einen ganz besonders nennen, nämlich George Bush, den amerikanischen Präsidenten, ({7}) und zwar deswegen, weil wir in ihm einen Freund gehabt haben, der in unverbrüchlicher Freundschaft mit Deutschland verbunden war. Ich glaube, in Zeiten, in denen die deutsch-amerikanischen Beziehungen schwierig sind, muss das an dieser Stelle auch gesagt werden. Vielen Dank an George Bush! Es geht aber auch ein ganz herzlicher Gruß an Michail Gorbatschow, ({8}) der auch seinen Beitrag dazu geleistet hat, dass diese Wiedervereinigung möglich war. Tja, und dann, meine Damen und Herren, wurde aus der Euphorie des 9. Novembers, aus der Freude des 3. Oktobers Alltag. Und es war kein schöner Alltag, das muss man auch sagen. Betriebe waren nicht mehr wettbewerbsfähig, wurden verkauft, verkleinert oder ganz geschlossen. Es gab Arbeitslosigkeit, existenzielle Ängste. Die Städte waren marode. Die Umweltschäden waren so groß, wie wir uns das heute überhaupt nicht mehr vorstellen können. Es gab Brüche über Brüche. Es ist viel geschafft worden, viel Gutes erreicht worden, das ist überhaupt keine Frage. Es ist nicht alles richtig gemacht worden, was oft weniger am bösen Willen, sondern an mangelnder Erfahrung lag, aber es ist viel erreicht worden. ({9}) Aber eines haben wir nicht gesehen, und damit meine ich nicht die kaputten Straßen oder kaputten Städte, sondern wir haben nicht gesehen – und das sage ich als jemand aus dem Westen, aus Nordrhein-Westfalen –, welche großen Brüche sich in den Biografien der Bürgerinnen und Bürger in der damaligen DDR ergeben haben. Sie mussten sich komplett neu erfinden, sind aus einer alten Zeit in eine unsichere neue Zeit hineingefallen, mussten alles irgendwie neu machen. Ich glaube, wir können gar nicht ermessen, was es bedeutet, wenn man sich komplett neu erfinden muss mit all den Unsicherheiten, die damit verbunden sind. Das, meine Damen und Herren, war wirklich – das gestehe ich zu – der große Fehler im Prozess der Wiedervereinigung. Dass wir viel über Geld gesprochen haben, das war überhaupt keine Frage, auch nicht, dass das Geld aus dem Westen gekommen ist, im Übrigen auch von Kommunen wie Gelsenkirchen und Pirmasens, die es sich nicht leisten konnten. Aber Geld ist halt nicht alles, man muss auch die Menschen sehen. Vielleicht ist der entscheidende Punkt, dass wir uns vornehmen, mehr den Menschen zu sehen und weniger auf Geld, Infrastruktur und anderes zu schauen. ({10}) Meine Damen und Herren, die Friedliche Revolution war der Ruf nach Freiheit. Mir stellt sich die Frage, ob es der Ruf nach Freiheit von etwas war, von Diktatur und Unrechtsstaat – ja, es war übrigens eine Diktatur und ein Unrechtsstaat; das muss auch einmal klar gesagt werden –, ({11}) oder der Ruf nach Freiheit zu etwas. Freiheit muss immer zu etwas gebraucht werden, muss erkämpft werden, muss immer wieder verteidigt werden. Das bedeutet aber auch, Verantwortung zu übernehmen, Verantwortung für sich selbst und Verantwortung für das Land. Und das ist anstrengend, das ist überhaupt keine Frage. Genau deswegen, weil es anstrengend ist, haben wir im Westen wie im Osten momentan die Tendenz, dass gesagt wird: Lasst uns doch die Verantwortung weitergeben an den Staat, der für alles sorgen soll, an – meistens – starke Männer, die diesen Staat führen sollen, oder an autoritäre Parteien, die dann dafür sorgen sollen, dass alles geregelt ist und dass alles gut ist! Meine Damen und Herren, die Freiheit auf diese Art und Weise zurückzugeben, ist der größte Verrat an den Männern und Frauen vom Herbst 1989! ({12}) Natürlich ist es anstrengend – das ist überhaupt keine Frage –, und es ist mit Ängsten verbunden. Aber schauen wir doch noch einmal auf diejenigen, die in Leipzig und anderswo auf die Straßen gegangen sind. Sie haben gezeigt, dass man keine Angst haben muss. Sie haben gezeigt, dass es geht und dass Menschen, wenn sie sich einig sind, wenn sie friedlich und respektvoll demonstrieren, unglaublich viel erreichen können. Das sollte uns auch in die heutige Zeit hineintragen. Ich habe Ihnen am Anfang erzählt, dass wir in der Nikolaikirche mit Bürgerrechtlern zusammengesessen und dort auch eine Andacht gefeiert haben. In dieser Andacht haben wir ein Lied gesungen. Dieses Lied, das Kirchenlied „Vertraut den neuen Wegen“, das im Sommer 1989 ursprünglich für ein junges Hochzeitspaar in Eisenach geschrieben worden war, aber dann doch so viel von dem ausgedrückt hat, was diese Zeit geprägt hat, hat mich seitdem nicht losgelassen. ({13}) In der dritten Strophe heißt es: Wer aufbricht, der kann hoffen in Zeit und Ewigkeit. Die Tore stehen offen, das Land ist hell und weit. Meine Damen und Herren, vielleicht ist genau das die große Botschaft von 1989 an uns heute, wo wir auch vor Brüchen stehen: Wer aufbricht, der kann hoffen. Das Land ist hell und weit. Danke. ({14})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Tino Chrupalla, AfD. ({0})

Tino Chrupalla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004695, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Landsleute! Morgen jährt sich der Tag des Mauerfalls. Es ist ein ganz besonderes historisches Ereignis in der jüngeren Geschichte unseres Landes. Wie kein anderes Bauwerk symbolisierte dieses Gebilde die Entzweiung des deutschen Volkes und die Fremdherrschaft durch zwei Weltmächte, die unser Land im Herzen Europas für ihren Kalten Krieg einspannten. Die einen nannten es den antifaschistischen Schutzwall. Für die anderen war es die kommunistische Schandmauer. Ich nenne es heute den antideutschen Trennwall oder den Limes des 20. Jahrhunderts. ({0}) In der Nacht auf den 9. November 1989 bezwangen die Bürger der DDR diesen Trennwall mitsamt der dazugehörigen Drohkulisse, bestehend aus Grenzsoldaten, Stacheldraht, Minen und Selbstschussanlagen. Am 9. November 1989 wurde der Bann dieses Symbols gebrochen. In vielen deutschen Familien flossen in dieser Nacht die Freudentränen. Nun konnte wieder zusammenwachsen, was zusammengehört. Für viele von uns ging ein Traum in Erfüllung, den selbst deutsche Politiker nicht mehr zu träumen wagten. ({1}) Für uns ein Traum, für andere ein Albtraum. Herr Maas, Sie liegen völlig daneben mit Ihrer Aussage, die deutsche Einheit sei auf Wunsch der Europäer zustande gekommen. Das haben Sie in der Prager Botschaft – ich habe es selbst gehört – erzählt. Es wäre schön, wenn es tatsächlich so gewesen wäre. Aber die Realität sah anders aus. Ich habe die Aussagen von Maggie Thatcher und anderen namhaften europäischen und deutschen Politikern, vor allem aus der SPD, noch im Ohr, und sie schmerzen mich noch heute. ({2}) Sie tun uns keinen Gefallen, Herr Maas, wenn Sie hier die Tatsachen verschleiern. ({3}) Die Umwälzungen im Zuge der deutschen Einheit bescherten den neuen Bundesländern neue Freiheiten und Möglichkeiten; aber sie bescherten uns auch einen beispiellosen Raubzug durch die Treuhand, der noch längst nicht aufgearbeitet ist und dessen Folgen die Menschen in Mitteldeutschland heute noch immer spüren. Die Einheit bescherte uns auch neue Politiker, zum Beispiel die amtierende Kanzlerin Angela Merkel. ({4}) Ich bedaure, dass sie uns nicht verrät, welche Herrschafts- und Zersetzungsstrategien sie damals bei der FDJ gelernt hat. ({5}) Wie man ein Volk mit Agitation und Propaganda in Schach hält, ist wertvolles Wissen, das uns dabei helfen könnte, den Riss zu kitten, der heute wieder durch Deutschland geht. ({6}) Wie haben Sie es eigentlich geschafft, Frau Merkel, dass heute wieder ein antifaschistischer bzw. ein antideutscher Trennwall unser Land zerteilt? Diese Entwicklung fällt in Ihre Amtszeit. Dafür sind Sie verantwortlich. ({7}) Oder glauben Sie etwa, dass Ihren Untertanen Ihre vielen Mikroaggressionen gegen alles Deutsche entgangen sind? ({8}) Ich kann auch kaum glauben, dass eine Frau so wenig Mitgefühl und Liebe zu dem Volk empfindet, das sie selbst regiert und repräsentiert. ({9}) Ihre Beileidsbekundung an die Angehörigen der Opfer vom Breitscheidplatz erfolgte ein Jahr später. Als der kleine Junge in Frankfurt mutwillig vor den Zug gestoßen wurde, traten Sie schweigend Ihren Urlaub an. ({10}) In einem gut regierten Land hätte das Staatsoberhaupt Trauerbeflaggung angeordnet; aber es erfolgte nichts. ({11}) Soll ich Ihnen einmal sagen, wann Menschen gut und gerne in einem Land leben? Wenn sie das Gefühl haben, dass ihr Land von Personen regiert wird, die auch um ihr emotionales Wohlergehen bemüht sind. ({12}) Die Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley hat vor 29 Jahren davor gewarnt, dass die Stasimethoden die DDR überleben würden. ({13}) Sie sagte – ich zitiere –: Man wird diese Strukturen genauestens untersuchen – um sie dann zu übernehmen. Man wird sie ein wenig adaptieren, damit sie zu einer freien westlichen Gesellschaft passen. Man wird die Störer auch nicht unbedingt verhaften. Es gibt feinere Möglichkeiten, jemanden unschädlich zu machen. ({14}) Aber die geheimen Verbote, das Beobachten, der Argwohn, die Angst, das Isolieren und Ausgrenzen, das Brandmarken und Mundtotmachen derer, die sich nicht anpassen – das wird wiederkommen ... ({15}) Man wird Einrichtungen schaffen, die viel effektiver arbeiten, viel feiner als die Stasi. Auch das ständige Lügen wird wiederkommen, die Desinformation, der Nebel, in dem alles seine Kontur verliert. Zitat Ende. ({16}) Weil ich gerne mit einer hoffnungsvollen Botschaft zum Tag des Mauerfalls enden möchte, schließe ich mit einem Wunschtraum: In meinem Traum existiert wieder ein geeintes deutsches Volk im Herzen Europas, das zu seinen guten Traditionen und Werten steht, ein deutsches Volk, dem der Frieden in der Welt und in Europa am Herzen liegt und das sich dabei trotzdem nicht selbst verleugnet, ({17}) ein Land, das gelernt hat, dass es ruhig, aber bestimmt Nein sagen darf und sich nicht ausbeuten und zerstören lassen muss, ({18}) ein Land mit gesunden Grenzen, in denen man sich auch als Deutscher geborgen und wertgeschätzt fühlt, mit Grenzen, die uns schützen, anstatt uns zu entzweien. Vielen Dank. ({19})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Katrin Budde, SPD. ({0})

Katrin Budde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004686, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wer heute Morgen MOMA geschaut hat, der hat die Rufe gehört: Tor auf! Tor auf! Wir kommen wieder, wir müssen ja morgen zur Arbeit! Wir haben alle unsere Ausweise mit! Lasst uns doch einfach durchs Tor gehen! – Das war die Stimmung am 9. November abends. Wer sie noch einmal fühlen will, sollte sich in der Mediathek den MOMA-Beitrag von heute Morgen anhören. ({0}) Es gibt ganz viele Erinnerungsgeschichten, die in diesen Tagen auf Veranstaltungen und untereinander erzählt werden, weil wir uns erinnern. Diese Erinnerungsgeschichten, die ich immer wieder höre, unterscheiden sich sehr von meiner eigenen persönlichen Wahrnehmung. Natürlich hat jeder seine eigene persönliche Wahrnehmung vom Herbst 1989 und auch vom 9. November. Aber eines gleicht sich: Die meisten von uns waren staunend, sie waren ungläubig. Sie fragten sich auch wie Dietmar Woidke mit ein wenig Angst: Komme ich wieder zurück, wenn ich in meinem Ausweis den Stempel „Ausreise aus der DDR“ stehen habe? Wir waren überwältigt, und alles war ein wenig irreal. Aber so klar, wie die Geschichte heute in der Rückschau erzählt wird, war das alles damals nicht. Noch am 7. Oktober, also nicht lange davor, waren überall in der DDR ganz viele Menschen – einfache Passanten, aber auch Demonstrantinnen und Demonstranten, die gegen den Staat auf die Straße gegangen waren – festgenommen worden, inhaftiert worden. Wer die Gedächtnisprotokolle über Prügel, Schikane, über Verhöre und Inhaftierungen liest, der muss daran denken: Auch das war die DDR. Das MfS hatte die Tatze auf alle Teile der Volkspolizei gelegt, auch auf die, die normalerweise nichts mit dem MfS zu tun hatten. Am 6. November wurde die Aktenvernichtung angeordnet. Am 4. und 5. November, kurz vor dem 9. November, reisten 10 000 Bürgerinnen und Bürger ohne Visa über die CSSR nach Bayern aus. In dieser Zeit, meine Damen und Herren, wurde auch das Wort „Wende“ geboren. Das ist etwas, was es nie gegeben hat. Es hat keine Wende gegeben. Ich bin immer wieder erstaunt und überrascht, dass diese Bezeichnung die Bezeichnung „Friedliche Revolution“ abgelöst hat. Das macht mich wütend, und das macht mich auch traurig. ({1}) Die Wende war etwas, was Egon Krenz wollte. Wer eine Bestätigung dafür braucht, muss sich die Sendungen der „Aktuellen Kamera“ dieser Zeit ansehen. Egon Krenz hat gesagt, man wolle jetzt die Wende in der DDR schaffen. Diese Wende hat es, wie gesagt, Gott sei Dank nie gegeben. Deshalb kann sie auch heute nicht vollendet werden. Wenn man sich dies einmal klargemacht hat, meine Damen und Herren, dann weiß man, wie dumm, wie skurril, wie irreführend einige der Parolen von heute sind. Und wer diese Parolen ausgibt, der steht nicht in der Tradition der Friedlichen Revolution, der steht in der Tradition von Egon Krenz. ({2}) Mehr ist zu Ihrer Rede heute auch nicht zu sagen. Wir wollten eine Demokratisierung ohne SED, ohne Egon Krenz, ohne MfS. Wir wollten Presse-, Meinungs- und Reisefreiheit, eine saubere Umwelt. Wir wollten nicht nur die Brosamen, die uns die SED geben wollte. Wir wollten Veränderungen in unserem Zuhause; das haben die Menschen am 9. November zum Beispiel an der Bornholmer Straße auch gesagt. Und ja, wir wollten auch Wohlstand – selbstverständlich. Die DDR war eine Mangelwirtschaft. Das zeigte sich nicht nur, wenn es um Bananen, Farbfernseher und Trabis ging, sondern zum Beispiel auch, wenn man einen CT-Termin brauchte und kein Westgeld hatte. Verwechseln wir heute auch nicht gute strukturelle Dinge wie den SV-Ausweis oder den Impfstatus mit der DDR. Und verwechseln wir nicht das, wie ich finde, strukturell vernünftige Bildungssystem der DDR mit dem, wozu es benutzt wurde, nämlich zur Kontrolle und ideologischen Indoktrination von Geburt an. Und nein, ich konnte nicht einfach sagen: Ich will Abitur machen. – Und nein, ich konnte meinen Studienplatz nicht frei wählen. Und ja, ich musste unterschreiben, dass ich am Ende des Studiums für drei Jahre dahin gehe, wo der Staat mich braucht. Das musste man damals, es sei denn, man hatte wie ich eine Wohnung; denn Wohnungen waren noch knapper. Meine Damen und Herren, die Mauer ist nicht gefallen. Sie wurde von innen eingedrückt. Sie wurde gestürzt. Sie wurde überwunden. ({3}) Sie bekam Löcher. Sie bekam Löcher an den Stellen, wo die Brüdervölker nicht mehr gewillt waren, die Handlanger der Sowjetunion zu sein. Holen wir uns ein Stück dieses Glücksgefühls zurück, das wir im Herbst 1989 empfunden haben, und gestatten wir uns auch, zuzugeben, dass es eben nicht die Sicht auf den Herbst 1989, auf die Ereignisse und Ergebnisse dieser Zeit gibt. Die Empfindungen, die die Menschen mit dem Herbst 1989 verbinden, sind ganz unterschiedlich: ob sie ängstlich oder mutig waren, ob sie aktiv dabei waren oder staunend zugesehen haben und an der Seite standen, ob sie die DDR als ihren Staat gesehen haben oder eben – wie ich – nicht als ihren Staat gesehen haben. Das ist sehr, sehr individuell und sehr, sehr unterschiedlich. ({4}) Lassen wir nicht zu, dass 1989 ein Mythos wird. Denn ein Mythos erinnert nicht nur, sondern er vergisst, und er begradigt. Joachim Gauck hat in einem Interview die Zeit damals mit einem jugendlichen Liebespaar verglichen, das seine Liebessehnsucht stillen will, gar nicht voneinander lassen kann und unbedingt vereinigt werden will, später dann aber einen merkwürdigen Wandel von absoluter Verehrung und Hingabe erlebt hin zu einem Leben miteinander, in dem es plötzlich an der Beziehung arbeiten muss. ({5}) Ich finde, das ist ein gutes Gleichnis; denn so geht es auch uns emotional manchmal – in Ost und in West. ({6}) Ja, ich konnte mir 1989 nicht vorstellen, wie ein wiedervereintes Deutschland in den 90er-Jahren aussehen würde, wie es in 2015 oder 2019 aussehen würde. Denn ich wusste: Wenn der Kalte Krieg zu Ende geht, dann verändert sich etwas, überall auf der Welt. Die Systeme brechen auseinander; das sind große Bewegungen. Aber wer heute behauptet, er hätte gewusst, wie das aussehen würde, der schwindelt – zumindest ein bisschen oder ganz viel. Ja, es ist für uns Ostdeutsche – vielleicht – schwieriger, mit dieser offenen, freien, hoch komplizierten Welt heute umzugehen, mit dieser anstrengenden Moderne, mit dem Leben in einer freiheitlichen Moderne. Deshalb haben oder hatten wir keinen schlechteren Charakter. Aber auf dem Gebiet der DDR gab es im Grunde von 1945 bis 1989, 44 Jahre lang, eine Diktatur. Selbstverständlich gewöhnen sich Menschen an Anpassungsleistungen, die sie erbringen müssen, um ihre persönliche Freiheit zu sichern; auch das gehört zur Wahrheit. Immerhin gibt es aber inzwischen nach drei Jahrzehnten viele Generationen überall in der Bundesrepublik, die dies nicht mehr mussten. Deshalb finde ich es gut, dass über 70 Prozent den Einigungsprozess heute positiv sehen und dass sie den Glücksfall der Wiedervereinigung und des Einstürzens der Mauer auch alle gemeinsam positiv sehen. ({7}) Ich freue mich auf das 40. Jubiläum in zehn Jahren. Denn da werde ich hingehen, anders als damals, als ich als junge Frau mit einem Diplom in der Hand zwangsverpflichtet werden sollte, am 7. Oktober 1989 zur Feierstunde zu gehen, und gesagt habe: Nein, das mache ich nicht. – Denn diesmal verteidige ich diesen Staat. Diesmal ist es meiner, und es ist meine Demokratie. ({8}) Auch ein bisschen Diktatur und ein bisschen solcher Regelungen, wie Sie sie wollen, zerstören diese Freiheit und diese Demokratie. Deshalb werden wir es nicht zulassen, dass wieder Mauern aufgebaut werden. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Linda Teuteberg, FDP. ({0})

Linda Teuteberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004913, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Freude, Jubel, Erleichterung – das sind die Gefühle dieses Tages, morgen vor 30 Jahren: unglaubliche Freude über die Freiheit, Erleichterung über das Ende von Unfreiheit und Demütigung. Das war ein neues Kapitel deutscher und europäischer Geschichte, welches da aufgeschlagen wurde. Frau Kollegin Budde hat es gerade sehr richtig gesagt: Das war eine Revolution, keine Wende. Wir sollten diesen Sprachgebrauch wirklich nicht übernehmen. Egon Krenz sagte in seiner Antrittsrede am 18. Oktober, damit werde man wieder die „politische und ideologische Offensive“ erlangen. Das Gegenteil war der Fall, meine Damen und Herren. ({0}) Dass dieser Begriff – oft ohne böse Absicht – trotzdem so verbreitet ist, liegt offenbar an seiner Kürze. Wir sollten ihn aber aus einem zweiten Grund nicht zulassen: Er suggeriert eine gewisse Neutralität und dass das ein Prozess ist, an dem man unbeteiligt ist, dem man gelassen zusieht. Er vernachlässigt die Rolle jeder und jedes Einzelnen, den Mut, das Gewissen, die Verantwortungsbereitschaft, die damals nötig waren, um die Revolution durchzuführen, meine Damen und Herren. ({1}) Deshalb ist es so wichtig, dass wir diesen Revolutionscharakter sehen, trotz und mit seiner lobenswerten Friedlichkeit. Dieser Tag ist Anlass für Trauer, für Dank und für Freude, und zwar für Trauer um all die Menschen, denen Lebenschancen genommen wurden, die mit ihrer Freiheit oder gar ihrem Leben bezahlt haben für dieses System, die nicht den Beruf ergreifen konnten, nicht den Bildungsweg einschlagen konnten, den sie wollten, die gestorben sind auf dem Weg in die Freiheit, die sie gesucht haben. Darüber sollten wir ehrlich trauern und dabei an diese Menschen denken. ({2}) Wir haben aber auch allen Grund zum Dank. Wir danken allen, die dazu beigetragen haben, zum Beispiel unsere Nachbarn, vor allem die Polen. Der damalige Papst mit seinen Worten „Fürchtet euch nicht“ und die mutigen Menschen der Bewegung Solidarnosc haben ein Beispiel gegeben, auch für die Menschen in der DDR. ({3}) Auch die Ungarn haben ihren Anteil; daran sollten wir heute denken. Dank gilt auch unseren Verbündeten, insbesondere den USA; das wird in diesen Tagen von manchen unterschlagen. Auch denen sind wir zu Dank verpflichtet für die Unterstützung in diesem Prozess. ({4}) Ich grüße eine Gruppe von Mitarbeitern des Kongresses, die heute diese Debatte verfolgen. ({5}) Schließlich hat auch die KSZE-Schlussakte, auf die sich Menschen in Osteuropa, in der DDR berufen haben, wenn sie ihre Freiheitsrechte geltend machen wollten, dazu beigetragen, die Freiheitsbewegung in Gang zu bringen. Wir sind unseren Nachbarn und Verbündeten, allen, die mitgewirkt haben, zu Dank verpflichtet. Unser Dank gilt vor allem auch vielen Menschen in der DDR, für ganz unterschiedliches Handeln. Wir danken denen, die Ausreiseanträge gestellt haben und die das Land verlassen haben; denn sie haben die Frage nach Gehen oder Bleiben für alle sichtbar auf die Tagesordnung gehoben. Es war nicht mehr zu verdrängen, dass dieses Land geteilt ist, dass die Menschen eine Abstimmung mit den Füßen durchführen für die Freiheit. Sie haben das sichtbar gemacht, und dafür gilt ihnen unser Dank. ({6}) Auch und vor allem denjenigen, die mutig Opposition in der DDR betrieben haben, die dafür viel riskiert haben – das sind oft wenige, die ganz besonderen Mut beweisen –, gilt unser besonderer Dank. ({7}) Neben Trauer und Dank haben wir allen Grund zur Freude über die erkämpfte, selbsterrungene Freiheit in unserem Land. ({8}) Und, ja, vor der Einheit kam die Freiheit. Das ist richtig und wichtig zu sagen; denn es hätte den 9. November nicht ohne den 9. Oktober gegeben. Zugleich aber muss man doch keinen unnötigen Gegensatz zwischen Einheits- und Freiheitswillen konstruieren. Die allermeisten Ostdeutschen wollten beides. Übrigens hieß es in der Präambel unseres Grundgesetzes, wie es 1989 noch lautete, dass sich das deutsche Volk dieses Grundgesetz gegeben hat, und am Schluss heißt es: Es hat auch für jene Deutschen gehandelt, denen mitzuwirken versagt war. Das gesamte deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden. Es brauchte immer mal wieder das Bundesverfassungsgericht, um daran zu erinnern. Vor 30 Jahren führten diese Verirrungen bei manchen, die nicht mehr so an die deutsche Einheit dachten, dazu, dass sich Hans-Dietrich Genscher von Antje Vollmer sogar vorwerfen lassen musste – übrigens im Deutschen Bundestag –, er hätte mit den Bildern in Prag eine Sogwirkung für DDR-Flüchtlinge erzeugt. Diese Bilder werde man bald vergessen. – Welch ein Irrtum, meine Damen und Herren. ({9}) Die Menschen in der DDR waren Deutsche im Sinne des Grundgesetzes. Die beiden deutschen Staaten waren nicht Ausland füreinander, sondern standen in einer ganz besonderen Beziehung. Liebe Kollegen, diese Revolution war friedlich, und das trotz des Eindrucks der chinesischen Lösung, die viele Menschen noch im Blick hatten. Der Vorteil einer solchen friedlichen, friedfertigen Revolution ist: Es kommt keiner zu Tode, es fließt kein Blut. Es sind allerdings auch hinterher noch alle da. Und das hat Folgen. Deshalb hat der Bundesbeauftragte Jahn recht, wenn er sagt: Ja, auch die Peiniger wurden befreit, auch ihnen wurden Freiheit und Rechtsstaat gegeben. Manchmal hat man in den Jahren nach dem Mauerfall und der Wiedervereinigung von denen den Ausdruck „Siegerjustiz“ gehört. Daran ist wahr, dass Unrechtshandlungen, die eine politische Macht begeht, immer erst nach deren Niedergang justiziabel werden. Aber unser freiheitlicher Rechtsstaat beschränkt sich selbst. Er hält sich an seine Regeln, zum Beispiel ans Rückwirkungsverbot. Er bestraft nur strafrechtlich, was auch zum Zeitpunkt der Tat strafbar war. Diejenigen, die es betrifft, können verdammt froh sein, dass der freiheitliche Rechtsstaat sie so viel besser behandelt hat als sie ihre politischen Gegner in 40 Jahren. ({10}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, nun könnte man ja meinen, dass dieser zivilisatorische Fortschritt unseres freiheitlichen Rechtsstaats, das Strafrecht nicht politisch zu missbrauchen, anderen nicht zu vergelten, was sie getan haben, bei den Betroffenen zu einer gewissen Demut führt. Aber stattdessen wird es immer dreister, und diese geringe Anzahl von strafrechtlichen Verurteilungen wird als Persilschein benutzt, so wie es heute manche Ministerpräsidenten in Thüringen oder Mecklenburg-Vorpommern tun. ({11}) Das ist eine Verhöhnung unseres Rechtsstaates, der sich selbst beschränkt und die politische Aufarbeitung der Politik und der Gesellschaft überlässt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Ostdeutschen sind keine homogene Masse, wie das manche glauben machen wollen, die sie politisch vereinnahmen, die das zum Geschäftsmodell machen. Sie brauchen übrigens auch keine Belehrungen, gerade nicht aus der Nachfolgepartei der SED, darüber, wer Held war und wer nicht, oder wer erst den aufrechten Gang lernen musste. Es gab in den 40 Jahren auch Menschen, die konnten schon aufrecht gehen. Sie haben nur einen hohen Preis dafür bezahlt durch die Repressalien der SED. ({12}) Ich bin mir sicher, dass die mutigen Menschen, die damals in der DDR Mut bewiesen haben, auch gar keinen Wert darauf legen, von der Linken heute als Helden etikettiert zu werden. ({13}) Die Zeiten sind zum Glück vorbei, in denen Sie entschieden haben, wer Held ist in unserem Land. Ich will noch mit einem Thema hier kurz aufräumen: Immer wenn man ganz klare Worte zum Unrechtsstaat DDR findet, kommt das Thema Blockparteien. Auf diese Nebelkerze ist Verlass. Ich sage dazu nur so viel: Wir sollten nicht Ursache und Wirkung verwechseln. Es war die SED, die politisch Andersdenkenden die Flötentöne beigebracht hat, und zwar mit Gewalt. ({14}) Dafür gibt es Beispiele, ich nenne zwei aus Mecklenburg-Vorpommern für Frau Schwesig. Arno Esch zum Beispiel hat mit seinem Leben dafür bezahlt, dass er sich der Gleichschaltung der LDPD durch die SED verweigert hat. Er musste dafür in Moskau sterben. Der spätere FDP-Generalsekretär Karl-Hermann Flach wurde gewarnt und konnte durch Flucht diesem Schicksal entgehen. So ging es auch Menschen aus anderen demokratischen Parteien, die sich der Gleichschaltung widersetzt haben. Daran sollten wir heute auch denken. ({15}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, lange Teilung braucht auch Zeit zur Heilung. Die Heilung der Wunden und Kränkungen muss man allerdings auch wollen. ({16}) Manche streuen dieser Tage Salz in die Wunden. Sie versuchen, Ursache und Wirkung zu verkehren, machen etwa die Treuhand für die Misswirtschaft von 40 Jahren verantwortlich und für die strukturellen Probleme, die dadurch für viele Menschen entstanden sind. ({17}) Aber mit langfristigen schwierigen Entwicklungen umzugehen, erfordert auch die Fähigkeit, zu trauern und manchmal über Tragik zu sprechen, ohne immer einen Sündenbock zu suchen. ({18}) Mauer und Teilung haben mit allen etwas gemacht. Sie haben Menschen vor schlimme Entscheidungsnotwendigkeiten gestellt, und es ist niemandes eigener Verdienst, in welchem Teil unseres Landes er oder sie geboren ist und ob er vor diese Entscheidungen gestellt wurde oder nicht. ({19}) Wir brauchen mit sehr viel mehr Besonnenheit und ohne bestimmte Exzesse im Hinblick auf die DDR so etwas wie 68. Wir sollten darüber reden: Wie war das damals? Da ist übrigens Platz für viele Geschichten und für viele verschiedene Erfahrungen. Aber es ist nicht alles relativ. Die klare Grenzziehung zwischen Demokratie und Diktatur muss gewahrt bleiben. Denn Lebensleistungen von Menschen in der DDR gab es trotz und nicht wegen des politischen Systems. Übrigens sind auch die Täter zu respektieren. Sie haben ihre Menschenwürde, und die erkennt unser Rechtsstaat an. Aber nicht jede Lebensleistung ist von uns gleichermaßen zu würdigen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({20}) Wir Freie Demokraten wollen, dass dieser Prozess der inneren Einheit unseres Landes gelingt. Wir sind ins Gelingen verliebt, nicht ins Scheitern. Heute ist es, anders als bei der Entstehung unseres Grundgesetzes, niemandem mehr versagt, mitzuwirken. Das müssen wir jeden Tag wieder neu betonen. Wir sollten dieses Jahr, gerade weil 1989 nicht das Ende der Geschichte war, nutzen, und zwar für eine Offensive für Recht und Freiheit. Vielen Dank. ({21})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Abgeordneten Dr. Gregor Gysi, Die Linke. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Morgen feiern wir den 30. Jahrestag des Mauerfalls. Dieser 9. November 1989 ist für viele ein Tag der Freude, des Gedenkens, des Nachdenkens und der Besinnung. So zufällig und irrtümlich wie er zustande kam, so folgerichtig war es, dass der Selbstbefreiungsdrang der Ostdeutschen zum Fall der Mauer führte. Die DDR war eine geschlossene Gesellschaft. Das Reisen in viele Länder blieb den meisten Menschen verwehrt. Es gab erhebliche Einschränkungen in der Freiheit, der Demokratie, bei der Versorgung mit Waren und Dienstleistungen. Es gab auch staatliches Unrecht. Die Mauer und die tödliche Praxis der Grenzsicherung waren sein gröbster Ausdruck, der auch nicht dadurch zu rechtfertigen war, dass die Mauer die Trennlinie der Systeme markierte und von den Großmächten im Kalten Krieg als gegeben akzeptiert wurde. ({0}) Alle Toten dort sind nicht hinnehmbar. ({1}) Die Reisefreiheit war deshalb neben der Meinungsfreiheit, der Ablehnung von Zensur und Bevormundung eine zentrale Forderung der Demonstrantinnen und Demonstranten von Plauen über Berlin und Leipzig bis zum 4. November in Berlin. Man muss noch einmal in die Augen der Menschen sehen, die am Abend des 9. November vor 30 Jahren frei und ungehindert aus Ostberlin in den Westteil der Stadt strömten. Man muss sich ihre glückliche Fassungslosigkeit über die friedliche Überwindung der Mauer vor Augen rufen, um die historische Dimension der Leistungen vieler Ostdeutscher vor 30 Jahren zu erkennen. ({2}) Diese Leistungen müssen ebenso wie die Leistungen der Ostdeutschen ({3}) in den Jahrzehnten zuvor und in den Jahrzehnten danach endlich angemessen gewürdigt werden. ({4}) Es ist auch deshalb höchste Zeit, gleiche Löhne ({5}) für gleiche Arbeitszeit und gleiche Renten für die gleiche Lebensleistung in Ost und West zu zahlen. Außerdem muss es endlich gemäß Artikel 36 des Grundgesetzes so viele Ostdeutsche in Führungspositionen der Bundesbehörden geben, wie es ihrem Anteil an der Bevölkerung entspricht. ({6}) Der Bevölkerungsanteil liegt bei 17 Prozent, der Anteil an den Führungskräften nur bei 1,7 Prozent. Der Grundstein für die Ereignisse vor 30 Jahren, die später dann zur deutschen Einheit führten, wurde mit den von Gorbatschow eingeleiteten Entwicklungen von Perestroika und Glasnost gelegt. Es ist aber auch an die Rolle von Solidarnosc in Polen, an die Flucht in bundesdeutsche Botschaften und an die Grenzöffnung in Ungarn zu denken. Deshalb muss die Erzählung früher ansetzen als beim Fall der Mauer, auch weil sich mit diesem historischen Tag der Fokus der Akteure – freiwillig oder unfreiwillig – mehr und mehr in Richtung der deutschen Einheit verlagerte. Zuvor ging es um eine Veränderung der DDR. Wie gesagt, es gab in ihr staatliches Unrecht. ({7}) Trotzdem lehne ich den Begriff des Unrechtsstaates für die DDR ab, ({8}) weil der frühere Generalstaatsanwalt von Hessen Fritz Bauer ({9}) diesen Begriff zu Recht für die Nazidiktatur prägte. ({10}) Die Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler, die Demonstrierenden wollten zumindest bis zum Fall der Mauer die DDR grundsätzlich reformieren, was möglich erschien. ({11}) In einem Unrechtsstaat wie Nazideutschland war dies ausgeschlossen. Er konnte und musste abgeschafft werden. ({12}) Wegen der Reichspogromnacht gedenken wir morgen auch der durch die Nazis ermordeten Jüdinnen und Juden. ({13}) Den Mauerfall und auch die deutsche Einheit hätte es ohne die Gründung etwa des Neuen Forums, von „Demokratie jetzt!“ und des Demokratischen Aufbruchs, ({14}) ohne die Demonstrationen, die in Plauen und Leipzig ihren Anfang und den Menschen die Angst nahmen ({15}) und schließlich bei der Demonstration am 4. November 1989 in Berlin ihren Höhepunkt fanden, nicht gegeben. ({16}) Ich muss es ganz klar sagen: Die Demonstrierenden in vielen Städten haben erfolgreich für Freiheit und Demokratie in der DDR gekämpft ({17}) und die Mauer zu Fall gebracht. Nicht Helmut Kohl und seine Bundesregierung brachten das zustande; es war die Leistung der Ostdeutschen. ({18}) Die Bereitschaft der Menschen vor 30 Jahren, bis dahin Unerhörtes einfach zu tun, mit Massendemonstrationen, neuen Parteien und Organisationen das Machtsystem der SED infrage zu stellen, ohne es gewaltsam beseitigen zu wollen, folgte einem urdemokratischen Impuls, der auch den heutigen Verhältnissen durchaus guttäte. ({19}) Die Runden Tische zum Beispiel waren ein demokratisches Instrument, dessen wir uns aktiv erinnern sollten bei der Lösung aktueller Probleme. Die Friedlichkeit hatte zwei Seiten: keine Gewalt durch Demonstrantinnen und Demonstranten und der Verzicht darauf bei den Soldaten, bei der Polizei nicht gleich, aber später auch. Egon Krenz hatte wohl am Abend des 8. Oktober angeordnet, keine Gewalt mehr durch die Polizei anzuwenden. Es bleibt eine beachtliche Leistung, dass während des gesamten Umbruchs kein einziger Schuss fiel, ({20}) weder durch sowjetische Streitkräfte in der DDR noch durch die Angehörigen der sogenannten bewaffneten Organe der DDR, ({21}) auch und gerade nicht am Abend des Mauerfalls, als an der Grenze keiner so richtig Bescheid wusste und sich Diensthabende entschieden, die Grenze zu öffnen. Beides ist zu würdigen. ({22}) Nicht Schwarz-Weiß, sondern das große Dazwischen bestimmt den Lauf der Geschichte. ({23}) Die AfD – ich komme ja jetzt zu Ihnen – plakatiert die Wende 2.0 und will angeblich die Wende vollenden. Meine wenigen Damen und vielen Herren von der AfD hier, mit der Wende, mit dem Umbruch, mit der Friedlichen Revolution hatten und haben Sie nicht das Geringste zu tun. ({24}) Die Mehrheit der Ostdeutschen – hören Sie zu! – wollte die Mauer zum Einsturz bringen, nicht wie Sie die Errichtung neuer Mauern. ({25}) Die Mehrheit wollte ein vereinigtes Europa in Frieden, das Sie zerstören wollen. Die Demonstrierenden wollten Freizügigkeit und Toleranz und nicht wie Sie Hass, nationalen Egoismus, Rassismus und Antisemitismus verbreiten. ({26}) Abschottung und Ausgrenzung sind das Gegenteil von dem, wofür die Menschen vor 30 Jahren demonstrierten. ({27}) Gerade weil heute an den Grenzen Europas wieder Menschen sterben, die nach Freiheit, Demokratie, einem Leben in Sicherheit und mit einer wirtschaftlichen Perspektive streben, sollten wir uns daran erinnern, dass man mit Mauern und nationalem Egoismus ({28}) regelmäßig Probleme nur verschärft und nicht löst. ({29}) Außerdem sind Sie von der AfD feige; denn Sie bekämpfen die Schwächsten in der Gesellschaft: die Flüchtlinge. Da lobe ich mir die Linken, die den Mumm haben, sich mit den Stärksten anzulegen. ({30}) Ich weiß, was die spätere Einheit Menschen in Ostdeutschland zusätzlich gebracht hat, ({31}) zum Beispiel die Sanierung von Städten und Wohnungen, aber ich kenne auch die Fehler, die begangen wurden. Die Einheit hätte – so wie es Gorbatschow vorschlug – unter anderem genutzt werden können, um weder Osteuropa noch Westeuropa zu bleiben. Man hätte neutral und zu dem wesentlichsten Vermittler weltweit bei Konflikten werden können – egal ob es um den Konflikt Israel/Palästina, Russland/Ukraine oder um andere geht. Eine solche Rolle kann man übrigens auch heute trotz der NATO-Mitgliedschaft anstreben. Sie scheint mir den Wünschen der Demonstrierenden vom Herbst 1989 und dem Grundcharakter des Mauerfalls zu entsprechen. Diese Rolle wäre also vielen – auch mir – schon aus historischen Gründen, wenn ich an die Nazidiktatur und den Zweiten Weltkrieg denke, sehr sinnvoll erschienen. ({32}) Stattdessen hat sich die Mehrheit im Bundestag entschieden, nicht nur in der NATO zu bleiben, sondern die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr auch mit allen Konsequenzen weltweit zu entsenden. Außerdem wäre es vernünftig gewesen, bestimmte Momente aus der DDR wie die höhere Gleichstellung der Geschlechter, die Polikliniken, die Berufsausbildung mit Abitur für das vereinigte Deutschland zu übernehmen, ({33}) statt die Strukturen im Osten völlig zu negieren und zum Teil sogar herabzuwürdigen. Das hätte das Selbstbewusstsein der Ostdeutschen gestärkt ({34}) und den Westdeutschen ermöglicht, dank des Ostens eine Steigerung ihrer Lebensqualität zu erfahren.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Gysi.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich bin sofort fertig, Herr Präsident. ({0}) Auf andere Schwächen und Stärken der Einheit werde ich wegen der Begrenzung der Redezeit erst im nächsten Jahr eingehen. – Übrigens: Am 9. November 1918 begann mit der Ausrufung der Republik ({1}) die Demokratiegeschichte in Deutschland; auch daran sollten wir denken. ({2}) Der Fall der Mauer aber sollte uns alle mahnen, Probleme wirklich zu lösen und nicht zu versuchen, sie mit Mauern durch Einigelung vorübergehend unsichtbar zu machen. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Katrin Göring-Eckardt. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine großartigste und eindrucksvollste Erinnerung an den Herbst 1989 währte eigentlich nur einen einzigen Augenblick. Bei allen, die damals zu den großen Demonstrationen gingen, in Plauen, in Dresden, in Leipzig, in Berlin, überall, gab es Angst und die gleiche Frage: Was wird werden? Wird es friedlich bleiben? – Mit der Kerze in der Hand und mitten unter den vielen anderen Menschen kam dann der Moment, in dem sich die Angst auflöste, dieser Moment, der einem vertrauten Gefühl von heute und einem völlig unvertrauten Gefühl von damals Platz machte: Freiheit. Diese Freiheit verdanken wir denjenigen, die damals, im Herbst 1989, auf der Straße waren. Wir verdanken sie aber mindestens genauso sehr denjenigen, die davor wirklich viel riskiert haben, nämlich ihre Freiheit, ihr Leben: Marianne Birthler, die Poppes, Bärbel Bohley, Werner Schulz. All diesen Menschen, die wirklich viel riskiert haben, gebührt unser herzlicher Dank. ({0}) Die Freiheit, frei zu sein, ohne Angst, ohne totale Kontrolle des Staates über das eigene Leben, ohne die Erfahrung des Unrechtsstaates – plötzlich erscheint alles möglich, alles machbar: Frei denken, frei sprechen, frei sein. Das, was heute so selbstverständlich ist, war damals für uns das Größte. Wer Angst hat und sich von ihr leiten lässt – das weiß ich seit 1989 –, kann nicht frei sein. Ja, sich sorgen ist menschlich, sich fürchten vor Veränderungen, die nicht nur Gutes bringen – Globalisierung, Digitalisierung, künstliche Intelligenz, aber auch Klimakrise, Migration, Sicherheit –, das ist normal. Aber wer ängstlich ist, ist ausgeliefert. Wer Angst überwindet, kann handeln und gestalten. Der Auszug aus der Angst hat die Friedliche Revolution möglich gemacht. Deswegen: Angst, meine Damen und Herren, kann niemals Leitidee von Politik sein. ({1}) Die Freiheit von etwas, von Zwang, Kontrolle, Überwachung, ist immer auch die Freiheit zu etwas, nämlich Verantwortung zu übernehmen, sich einzubringen, mitzumachen. Mutig zu sein und Zukunft zu gestalten, es nicht anderen zu überlassen, die es irgendwie schon richten werden, und vor allem nicht den Rattenfängern mit den einfachen Antworten hinterherzulaufen, das ist Freiheit. ({2}) Das ist übrigens bei vielen Veränderungen nicht immer leicht gewesen, auch nicht nach 1990. Dass viele heute über die Neonazis in den 90er-Jahren sprechen, über die Baseballschlägerjahre, heißt eben auch: Diese Freiheit war und ist in unserem Gemeinwesen auch schon damals, schon in den 90er-Jahren, immer wieder bedroht worden. Auch darüber müssen wir sprechen, wenn wir über diesen 9. November reden. ({3}) Meine Damen und Herren, Freiheit ist eine Zumutung. Sie mutet uns zu, damit auch zu scheitern und Tiefschläge einzustecken. Hinfallen, aufstehen, trotzdem weitermachen: Viele Ostdeutsche haben diese Zumutung der Freiheit nach der Wiedervereinigung selbst erlebt. Millionen von Menschen haben in kürzester Zeit Veränderungen erfahren, positiv wie negativ, im Grunde genommen genug für drei Leben. Es ist ein guter Moment, sich wieder füreinander zu interessieren, über die gemeinsam gemachten Erfahrungen zu reden, zu fragen: Wie können wir für die Veränderungen, die vor uns liegen, die Erfahrungen der Ostdeutschen der letzten 30 Jahre eigentlich nutzen? Das, was in Sachsen und Brandenburg, in Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen und in Sachsen-Anhalt durchlebt wurde in den letzten 30 Jahren, diese Erfahrung ist ein Schatz, und sie ist zugleich eine Chance. Sie heute zu nutzen, das könnte uns, das würde uns starkmachen für viele Veränderungen, die vor uns liegen. ({4}) Aber nicht nur der Osten hat sich verändert. Er hat auch im Westen Spuren hinterlassen. Und ich rede nicht von Kleinigkeiten wie dem Ampelmännchen und dem grünen Pfeil und auch nicht von ein paar Kirchenliedern, die es ins gesamtdeutsche Gesangbuch geschafft haben. Kindertagesstätten und Ganztagsbetreuung sind heute überall selbstverständlich. Nationalparks und Biosphärenreservate hat der Osten als Naturerbe mit in die Vereinigung gebracht. Der § 175 StGB, der Homosexualität bestrafte, wurde später endlich auch im gesamten Deutschland abgeschafft. ({5}) Die Spätis übrigens sind eine ostdeutsche Erfindung gewesen. ({6}) Die nach 1990 eingegangenen Polikliniken tauchen heute als Medizinische Versorgungszentren überall wieder auf. ({7}) Meine Damen und Herren, ich glaube, es ist gut, auch diese Erinnerungen heute zu benennen. ({8}) Wir sind ein größeres, aber wir sind eben auch ein vielfältigeres Land geworden, und darauf können wir gemeinsam stolz sein. Aber diese Vielfalt wird uns eben auch zugemutet. Wir müssen die Freiheit anderer ertragen – das gehört dazu –, deren Meinungen, auch wenn wir sie unerträglich finden, sogar Ihre Reden hier – auch heute wieder – von der AfD. Aber das Verrückte ist doch: Sie glauben, Meinungsfreiheit hieße Widerspruchsfreiheit. Sie können sagen, was Sie wollen, auf den Marktplätzen, im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, im Netz, sogar hier im Parlament, überall. Nur müssen Sie auch ertragen, dass wir mit unserer freien Rede antworten. Sie müssen unsere Argumente anhören, und Sie müssen unsere Freiheit, Ihnen klar zu sagen, was Sie tun und wie Sie versuchen, dieses Land zu spalten, akzeptieren. Sie müssen aushalten, dass wir Ihren Hass klar benennen, dass wir Ihrer Menschenverachtung die Würde jedes einzelnen Menschen entgegenstellen, meine Damen und Herren von der AfD. ({9}) Sie müssen ertragen, dass wir auf Ihren Rassismus mit Zusammenhalt antworten und dass wir Ihrem Toben gegen selbstbewusste, gleichberechtigte Frauen mit einem kämpferischen und fröhlichen Feminismus begegnen, meine Damen und Herren. ({10}) Warum sage ich das heute? Ich sage das heute, weil ich tatsächlich vor 30 Jahren auf der Straße war und dafür gekämpft habe – anders als Herr Gauland und Herr Höcke und Herr Kalbitz – und weil ich weiß: Freiheit fordert von uns Respekt vor den Andersdenkenden, Zurückhaltung in der Auseinandersetzung. ({11}) Sie fordert Anstand von uns. Freiheit ist unbequem. Und dennoch, meine Damen und Herren: Ich würde jeden Tag wieder für sie auf die Straße gehen. Glauben Sie nur eines nicht: Glauben Sie bei all Ihren Versuchen, Angst zu schüren, nicht, ({12}) dass diejenigen, die für Freiheit und Demokratie stehen, die dafür jeden Tag kämpfen, sich auch nur eine Sekunde einschüchtern lassen von Ihrem Toben, von Ihren Angriffen auf die Freiheit und auf die Demokratie; denn sie ist stärker. ({13})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Alexander Dobrindt, CDU/CSU. ({0})

Alexander Dobrindt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003516, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bilder, die wir alle vor Augen haben, die tanzenden Frauen und Männer auf der Berliner Mauer, die sich umarmenden Menschen, die den größten Glücksmoment der deutschen Geschichte so miterlebt haben, meine Damen und Herren, das sind diejenigen, derer wir heute gedenken, mit denen wir heute feiern. Der Mut der Demonstranten in Leipzig, in Berlin und anderen ostdeutschen Städten, der Aufstand der vielen gegen das Unrechtsregime der wenigen, mit Worten statt Waffen, mit Gebeten statt Gewalt – das war der größte Glücksmoment und ein Segen für die deutsche Geschichte, meine Damen und Herren. ({0}) Gleichzeitig wehren wir uns entschieden gegen alle Versuche, die Geschichte umzuinterpretieren und ins Gegenteil zu verkehren. Deswegen sage ich auch hier sehr deutlich: „Wir sind das Volk“, das war ein Satz, der Mauern eingerissen hat und zusammengeführt hat, und wir dürfen nicht akzeptieren, dass er missbraucht wird und wieder neue Mauern errichten sowie spalten soll. Das sind wir der Bürgerrechtsbewegung schuldig, meine Damen und Herren. ({1}) Zur historischen Betrachtung gehört natürlich auch dazu, dass nicht alle im Westen die Wiedervereinigung so intensiv begleitet haben oder gar daran geglaubt haben. Den Versuch der Uminterpretation Deutschlands in eine Nation, zwei Staaten, den es auch gegeben hat, den haben wir nie mitgemacht, den haben wir abgelehnt. Gegen die Festschreibung der Teilung haben wir uns immer gewehrt. Es waren andere, die gesagt haben, dass das verfassungsrechtliche Wiedervereinigungsgebot ein Unglück für das deutsche Volk sei. Was für eine grandiose Fehleinschätzung, meine Damen und Herren! ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, neben vielen Mutigen auf der Straße, neben unseren Nachbarn in Europa, die anfangs ja auch mit Bedenken, aber trotzdem mit Freude die Entwicklungen zur Wiedervereinigung begleitet haben, war es auch Michail Gorbatschow in Moskau und waren es auch die Vereinigten Staaten von Amerika, die die Zeichen der Zeit erkannt und die Wiedervereinigung ermöglicht haben. Und deswegen, um es klar zu sagen: Die deutsche Einheit war nicht nur ein Geschenk Europas an Deutschland, sie war auch ein Geschenk der Vereinigten Staaten von Amerika an Deutschland. ({3}) Man sollte Jubiläen ja nicht nur feiern, sondern auch realpolitisch die richtigen Schlüsse daraus ziehen. Die Botschaft von 1949 hieß: Nie wieder Faschismus! Die Lehre von 1989 heißt: Nie wieder Kommunismus! ({4}) Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, bekämpfen wir die Extremisten außerhalb und innerhalb der Parlamente. ({5}) Wir treten dabei übrigens auch den Geschichtsvergessenen und den Relativierern entschlossen entgegen. Denjenigen, die behaupten, „die DDR sei das friedfertigste und menschenfreundlichste Gemeinwesen der deutschen Geschichte gewesen“; ({6}) denjenigen, die behaupten, es habe nie einen Schießbefehl gegeben, und denjenigen, die behaupten, die DDR sei kein Unrechtsstaat gewesen, denen sage ich klar, meine Damen und Herren: Der Begriff „Unrechtsstaat“ relativiert nicht die Lebensleistung der Ostdeutschen. Er wertschätzt und respektiert die Leistung derjenigen, die diesem Unrechtsregime entgegengetreten sind, es überwunden haben, es zu Fall gebracht haben. ({7}) Sehr geehrter Herr Gysi, wer die Freiheitskämpfer von 1989 wirklich ehren will, der muss auch das Verbrecherregime beim Namen nennen, das sie bekämpft haben. ({8}) Wir alle sind heute die Erben der Einheit. Jeder weiß, dass Erben leichter ist als Erarbeiten. Deswegen – auch das ist von Bedeutung – ist dieses Erbe ein Auftrag. Dieses Erbe ist der Auftrag, die Einheit zu bewahren. Die Einheit unseres Landes ist nicht gesetzt, sie muss immer wieder neu erarbeitet werden. Das ist der Auftrag auch heute. Danke schön. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Leif-Erik Holm, AfD, ist der nächste Redner. ({0})

Leif Erik Holm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004761, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Liebe Bürger! Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich wollte eigentlich mit meinen persönlichen Erlebnissen hier einsteigen. Ich möchte aber doch noch mal einen Satz zu Gregor Gysi sagen, der hier als Vertreter der Nachfolger der SED sitzt und eine wirklich schwache Rede gehalten hat, ({0}) der uns, der AfD, vorwirft, wir würden die Errichtung neuer Mauern befördern. ({1}) Erstens. Für die Mauertoten sind Sie verantwortlich und nicht wir. ({2}) Zweitens. Es macht einen Unterschied, ob man seine Bürger einsperrt oder ob man sagt: Wir wollen kontrollieren, wen wir in das Land hereinlassen. ({3}) Der 9. November, meine Damen und Herren, ist für uns ein bewegender Tag. Für uns junge Ossis war er damals wirklich ein prägender Tag. ({4}) Zwei Dinge haben uns in diesen Tagen wirklich stark bewegt: Erstens. Es war die Wiedergewinnung unserer Nation, es war ja die vorweggenommene Wiedervereinigung – das kann man wirklich sagen –: der 9. November, dieser glückliche Tag. ({5}) Die SPD hat damals noch in ihren Statuten das Ziel der Wiedervereinigung herausstreichen wollen. Das muss man heute auch noch mal sagen. ({6}) Diejenigen, die sich heute hierhinstellen und die große Einheit loben, haben damals das Ziel herausstreichen wollen. Aber wir Ostdeutsche haben uns sehr gefreut, dass wir endlich wieder zusammenkamen in Ost und West und dass wir wieder zusammenwachsen konnten. Wir freuen uns noch heute darüber. Zweitens. Dieser 9. November war die Wiedergewinnung der Freiheit. Mir klingt immer noch ein älterer Herr von der Bornholmer Brücke im Ohr, der damals gesagt hat: Det is unsere Stunde, det is die Stunde der Freiheit. – Genauso haben wir das im Osten empfunden. Es ging nicht nur um Reisefreiheit. Wir hatten auch keinen Bock mehr auf die ständige Bevormundung durch die SED-Herrscher, keinen Bock mehr auf Staatsbürgerkunde und all den Sozialistenquark. ({7}) Aber was ist daraus heute geworden? 30 Jahre nach unserer Friedlichen Revolution erleben wir wieder den Geist der Unfreiheit. ({8}) Ja, zum Glück kommt heute niemand in den Knast, wenn er seine Meinung sagt. ({9}) Aber die Stigmatisierung, die Diffamierung, das Mobbing muss man heute schon wieder ertragen, und mittlerweile sogar körperliche Angriffe. Das versteht wirklich keiner, der 1989 dabei war. ({10}) Wir haben damals gelernt, wie toll es ist, wenn man offen und frei heraus seine Argumente austauschen kann. Heute gewinnt schon wieder der, der die Moralkeule am lautesten schwingen kann. Davon haben wir wirklich die Nase gestrichen voll. Deswegen werden wir nicht zulassen, dass wir wieder in eine solche bleierne Zeit zurückfallen. ({11}) Es ist doch so, wir erleben es auch in diesem Hause: Wer die Masseneinwanderung kritisiert, der ist ein Ausländerfeind. ({12}) Wer sich für ein Europa der Vaterländer einsetzt statt für die Zentralisierung in Europa, der ist ein Europafeind. Und wer die Klimahysterie völlig überzogen findet, der ist ein Klimaleugner. ({13}) Es gibt auch heute wieder nur Totschlagargumente wie früher. Damals war es der Konterrevolutionär, der staatsfeindliche Hetze betreibt. Ja, wir haben auch heute schon wieder – man kann es zwischen den Zeilen merken; der Ossi ist da etwas sensibler – einen unerträglichen Meinungszwang in Deutschland. Das haben wir uns 1989 nicht erträumt. ({14}) – Ich weiß, es ist ja alles erfunden, was wir Ihnen erzählen. Ich höre das Geschrei. Es ist vermutlich erfunden, dass ein Unternehmer seine Biohirse nicht verkaufen kann, weil er das falsche Parteibuch hat. Es ist auch nicht wahr – natürlich –, dass Uniprofessoren ihre Vorlesungen nicht abhalten können, weil sie die falsche Weltanschauung haben. Hören wir doch mal zu, was der Präsident des Deutschen Hochschulverbandes, Bernhard Kempen, sagt – Zitat –: Im Namen der Political Correctness erfolgt zunehmend ein Angriff auf das Wesen der Universität: auf die Freiheit des Forschens, Denkens und Debattierens. Eine Minderheit versucht, ihnen unsympathische Ansichten nicht argumentativ zu widerlegen, sondern zu unterdrücken mit Drohungen, Shitstorms, Blockaden und manchmal psychischer Gewalt. Zitat Ende. – Das alles passiert heute: im freiesten Deutschland aller Zeiten. Das sehen und spüren die Bürger. Das zeigen auch die Studien. Drei Viertel der Deutschen sind heute lieber vorsichtig, was sie im öffentlichen Raum sagen. Zwei Drittel der Jugendlichen finden schon, dass man nicht offen über Migrationsprobleme sprechen könne. Das müssen Sie sich mal vorstellen! Schon unsere Kinder sind also vom Meinungsdruck eingeschüchtert. Aber Frau Merkel sieht die Meinungsfreiheit nicht in Gefahr, wie wir kürzlich lesen konnten. Da muss man wirklich schon sehr weit oben im Elfenbeinturm leben, um die Realität so zu negieren. ({15}) Wenn ich Sie hier so höre, dann scheint sehr viel Platz oben im Elfenbeinturm zu sein; denn offensichtlich scheinen Sie dort auch zu Hause zu sein. Aber vielleicht ist es bei manchen eben nicht nur Naivität, sondern auch Mittel zum Zweck: ({16}) die Moral- und Nazikeule als pures Machtinstrument, um sich die Pfründe zu sichern, ({17}) die jetzt bedroht sind, wo die Bürger unzufrieden mit Ihrer Arbeit sind. Genau deswegen kommen Sie mit irgendwelchen hanebüchenen Demokratieförderprogrammen für Ossis. Aber ich sage Ihnen: Wir brauchen gewiss keine Umerziehung von Ihnen. ({18}) Jeder, der damals vor 30 Jahren auf die Straße gegangen ist, ({19}) hat mehr für die Demokratie getan als Sie alle zusammen in Ihren phrasenhaften Sonntagsreden. ({20}) 30 Jahre nach dem Mauerfall müssen wir dem Geist von 1989 endlich wieder Leben einhauchen. ({21}) Wir alle in Ost und in West sollten passend zu diesem Jubiläum endlich damit anfangen. Meine Damen und Herren, det is die Stunde, die Stunde der Freiheit. Danke schön. ({22})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Fraktionsvorsitzende der SPD, Dr. Rolf Mützenich. ({0})

Dr. Rolf Mützenich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003599, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In seinem Festvortrag anlässlich des 60. Geburtstages der Bundeskanzlerin spürte der Historiker Jürgen Osterhammel der historischen Zeit und den Umbruchphasen nach. Bei all seiner Skepsis für Trends und angebliche Wahrheiten war er sicher, dass die größten Umbrüche in Zeiten der Verdichtung geschehen. Der Mauerfall war der wichtigste Teil dieser Verdichtung im Jahre 1989. Aber ich denke, wir sind, weil wir ein Parlament sind, das über Deutschland hinausschaut, auch anderen Ländern verpflichtet, zu erwähnen: 1989 war eine Chance, eine Verdichtung auch für die internationale Politik. Der Mauerfall hat das Entscheidende dazu beigetragen. Aber auch in Südafrika endete die Apartheid. Namibia war nicht mehr besetzt, sowjetische Truppen zogen aus Afghanistan ab. Es wäre vielleicht ein Moment der Befriedung dieses Landes gewesen, wenn sich nicht andere Mächte wieder eingemischt hätten. In Polen wurde Solidarnosc wieder zugelassen. Es ist sozusagen auch ein Glücksmoment in diesem Jahr 1989 gewesen, wo der Mauerfall natürlich das entscheidende Ereignis war, aber wenn man Geschichte richtig betrachtet, nicht linear, dann sieht man: Es wurde auch wieder der Keim des Unfriedens und der Unterdrückung gelegt. Wir sollten uns daran erinnern: In Peking, auf dem sogenannten Platz des Himmlischen Friedens, wurden 1989 Hunderttausende von Menschen eingeschüchtert, aber es wurden eben auch Menschen getötet. In Jugoslawien gab es die Hetzrede von Milosevic als Erinnerung an das Amselfeld. All das kann hier im Bundestag zeigen, wohin Hetze und der Versuch, Unfrieden und ein historisches Narrativ zu schaffen, führen. Ich finde, wir sind es dem Jahr 1989 schuldig, an diese Ereignisse zu erinnern. ({0}) Dennoch, meine Damen und Herren, zwei Alleinstellungsmerkmale bleiben: einerseits die Anziehungskraft der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und – was meine Kollegin Budde gesagt hat –, natürlich auch der Wohlfahrt, des Wohlstandes, andererseits die Akzeptanz und Einordnung in regionale und internationale Zusammenarbeit. Ohne den Mauerfall wäre 1990 nicht die Charta von Paris entstanden, in der sich die KSZE- bzw. die OSZE-Mitglieder zusammengefunden haben, um ein großes Regelwerk für die europäische Friedensordnung zu schaffen, mit der die Hoffnung aufkeimte: Wir werden eine pluralistische Sicherheitsgemeinschaft schaffen, in der Regeln, Werte und Normen eine Rolle spielen. Der Fall der Mauer hat dies ermöglicht. Ich will daran erinnern: In diesem Dokument – man muss es sich noch mal genau anschauen – waren unter der Überschrift „Sicherheit“ vier Absätze zum Thema Abrüstung enthalten. Abrüstung wurde damals für Sicherheit genutzt. Alle, die die Unterschrift geleistet haben, waren der vollen Überzeugung: Das ist die Richtung, in die wir gehen können. Wirtschaft und soziale Gerechtigkeit – das war eines der großen Kapitel in der Charta, ebenso wie Umwelt und insbesondere, dass sich die KSZE, die OSZE dem Regelwerk der Charta der Vereinten Nationen unterordnen sollte. Was für ein wunderbarer Moment für die internationale Politik! Jetzt könnte man sagen: Das war ein kurzes Aufblitzen. – Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten werden uns aber nicht mit der Behauptung des Aufblitzens abfinden. Wir werden auf der Lehre der Charta von Paris eine europäische Friedensordnung aufbauen, die sich so gestaltet, genau die Elemente, die ich eben angesprochen habe, zusammenzuführen. Die Charta war mehr als die NATO, sie war weniger als die Vereinten Nationen, aber sie war der Keim für eine europäische Friedensordnung, der nach dem Mauerfall hier nie wieder vergeht. Ich bin der festen Überzeugung: Man muss sich wieder daran erinnern, um diese Schritte auch für die Zukunft zu gehen. ({1}) Ich bin sicher: Wir haben diese Momente, meine Damen und Herren. Es wird immer noch – in einer schmalen Nische – über Abrüstung gesprochen. Wir als Parlament müssen zusammen mit der Bundesregierung alles versuchen, dass der letzte internationale Abrüstungsvertrag erhalten bleibt. Das ist uns damals, 1989, sozusagen mit auf den Weg gegeben worden. Es ist schade, dass wir wieder eine Allianz der Multilateralisten finden müssen, obwohl wir eigentlich gedacht haben: Genau das wäre unter der Charta von Paris möglich. Wir brauchen passende Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit, und wir finden sie in den Erfahrungen auch des Mauerfalls. Ich möchte an etwas erinnern: Ich glaube, dass neue Mauern immer in den Köpfen beginnen. Das ist das Fatale in unserer Zeit. Hier wird die Zivilgesellschaft, die es geschafft hat, dass die Mauer gefallen ist, so hervorgehoben. Wir sollten uns in diesen Stunden, in diesen Tagen daran erinnern: Die Zivilgesellschaft in Chile, in Hongkong, im Irak und an anderer Stelle ist bemüht, Regimen klarzumachen, dass diese sie als Menschen akzeptieren und dafür sorgen sollen, dass die Korruption, die Unterdrückung und viele andere Dinge zurückgehen. Deswegen sage ich: Keine neuen Mauern in den Köpfen nach den Erfahrungen davon, was die Zivilgesellschaft gerade bei uns erwirkt hat! ({2}) Meine Damen und Herren, 1988 war nicht absehbar, dass ein Jahr später die Mauer fällt, aber die Vorarbeiten waren geleistet. Wir müssen heute ermöglichen – und dürfen nicht darin nachlassen –, was wir für uns in der Zukunft wünschen. Vielen Dank. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Claudia Müller, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Claudia Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004830, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Friedliche Revolution und insbesondere die Öffnung der Mauer erlebte ich, wie es sich für eine Achtjährige wahrscheinlich gehört, schlafend im Bett. Vor Ihnen steht also keine aktive Aktivistin der Friedlichen Revolution, sondern eine Vertreterin der dritten Generation Ost oder, wie ich auch gerne sage, der Generation „Wiedervereinigung und Zusammenwachsen“. ({0}) Der 9. November war eine Zäsur in der deutschen Geschichte. Er markierte aber weder einen Beginn noch ein Ende der Entwicklung, aber es war ein Meilenstein. Die Entwicklung, die wir sahen, begann viel früher. Es begann mit den Bürgerrechtsbewegungen, und zwar nicht erst in den 80ern, sondern sie waren von Anfang an da. Sie blitzte immer wieder auf mit den Aufständen 1953, 1956 und 1968. All das ist in einem Kontext zu sehen. All das ist eine Entwicklung, die mit der glücklichen Wiedervereinigung endete. Aber die Entwicklung ist heute noch nicht abgeschlossen; denn eine echte Wiedervereinigung, eine echte Vereinigung Europas haben wir bis heute nicht erreicht. Die Veränderungen prägten nicht nur Ostdeutschland, sie prägten natürlich auch das alte Westdeutschland, auch wenn die Entwicklungen im Osten natürlich deutlich spürbarer waren. Denn es war dort, wo wir in kürzester Zeit praktisch alles von den Füßen auf den Kopf stellten: ein neues Verwaltungssystem, ein neues Bildungssystem mit neuer Form und neuen Inhalten, ein neues Sozialsystem, und das Ganze praktisch über Nacht. Über Nacht verschwanden die alten Gewissheiten, über Nacht musste man sich neu orientieren, und diese Orientierungslosigkeit spürte ich als Jugendliche ganz besonders, die spürte meine Generation. Denn in einer Lebensphase, in der man Orientierung sucht, in der man Orientierung auch bei seinen Eltern sucht, musste man feststellen: Auch diese Generation war orientierungslos und suchte selbst nach Orientierung, die niemand bieten konnte. Es war keine Orientierung da, und es fehlten die entsprechenden Institutionen und Strukturen, die das auffangen konnten. Das Ergebnis entlädt sich momentan in den Erzählungen, die wir unter #baseballschlägerjahre lesen müssen. Es zeigt sich: Die Orientierungslosigkeit, die danach folgte, prägt uns noch heute. ({1}) Ich möchte an dieser Stelle aber positiv nach vorne gucken; denn in der Zeit danach – Katrin Göring-Eckardt hat die gemeinsame Prägung angesprochen – hat sich insbesondere in Bezug auf das Thema „Frauenrechte und Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ viel getan, als insbesondere die jungen ostdeutschen Frauen massenhaft in die alten Bundesländer zogen und Ideen mitbrachten, die das Leben dort nachhaltig verändert und geprägt haben. Wir wären deutlich nicht da, wo wir jetzt sind bei diesem Thema, wenn es die Wiedervereinigung nicht gegeben hätte. ({2}) Wir müssen diese Phase nun nutzen, um eine gemeinsame Erzählung, eine gemeinsame ost- und westdeutsche Geschichte, eine gemeinsame europäische Geschichte zu finden, und wir müssen den Blick richten auf die Herausforderungen, die wir in Ost wie West haben: das Zusammenwachsen von Stadt und Land, der unterschiedlichen Regionen, der schnell wachsenden und der schrumpfenden Regionen. Es muss uns gelingen, gleichwertige Lebensverhältnisse in allen Teilen Deutschlands herzustellen; denn nur dann können wir zu einer echten Einheit kommen. Es geht um die Frage des Gemeinsamen. Das ist die Lehre aus 1989: Es war gemeinsam – die verschiedensten Gruppen mit verschiedenen Wertvorstellungen in den Großstädten wie Leipzig und Berlin, aber auch in kleinen und mittelgroßen Städten wie Plauen oder Waren an der Müritz, wo die Menschen auf die Straße gingen. Es war ein Gemeinschaftsprojekt, und nur in dieser Gemeinschaft können wir die Herausforderungen, die vor uns liegen, meistern, nur gemeinsam schaffen wir es, eine echte Einheit in unserem Land und in Europa voranzubringen. Vielen Dank. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Ministerpräsidenten des Freistaates Sachsen, Michael Kretschmer. ({0})

Michael Kretschmer (Gast)

Politiker ID: 11003572

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was für eine Fügung des Schicksals, dass der Tag der größten Freude für unser Land auf den Tag fällt, der uns dauerhaft, auch in den kommenden Jahrzehnten, immer wieder in Verantwortung nimmt für unsere Geschichte! Der Fall der Berliner Mauer und die Reichskristallnacht an einem Tag – immer wieder im Gedächtnis, dass alles das, was nach dem 9. November 1989 gelungen ist, nur denkbar ist, weil man sich nach 1945 der deutschen Geschichte gestellt hat, gerade auch in ihren schwierigen und dunklen Seiten, weil die Bundesrepublik Deutschland Verantwortung übernommen hat, weil sie sich in das westliche Bündnis eingefügt hat und damit ein unglaubliches Vertrauen genossen hat, was dazu geführt hat, dass andere uns vertraut haben bei dieser deutschen Einheit. ({0}) Meine Damen und Herren, nach zwei Jahren bin ich das erste Mal wieder in diesem Plenarsaal. ({1}) – Danke. – Und ich bin auf eine Weise erschrocken über Reden, die mich an Nazis erinnern, was ich nicht für möglich gehalten hätte. ({2}) Es ist doch vollkommen klar, dass nicht nur einer oder zwei, sondern alle die Verantwortung tragen, die sich beklatschen und bejubeln, für diese unsäglichen, verleumderischen, geringschätzenden, hasserfüllten Reden, meine Damen und Herren. ({3}) Und es ist genauso klar, dass, wenn Menschen wie Sie Verantwortung in den Jahren vor 1989 in der alten Bundesrepublik getragen hätten, dieses Ergebnis nicht möglich gewesen wäre. Sie spalten heute. Gott sei Dank haben Sie damals keine Verantwortung getragen. ({4}) Um es noch einmal deutlich zu sagen: Gegenüber Menschen wie Helmut Kohl, dem Kanzler der deutschen Einheit, sind Sie ärmliche Gestalten. ({5}) Meine Damen und Herren, die DDR war – das haben wir jetzt mehrmals schon diskutiert –, moralisch und wirtschaftlich am Ende. Die Begriffe, die man verwenden kann für dieses Land, sind sehr verschieden; aber es ist ganz klar: Ein Land, das seine Menschen einsperrt, das sie ermordet, wenn sie das Land verlassen wollen – immerhin 139 Mauertote –, ({6}) ein Land, in dem Staatsanwälte bei der SED-Kreisleitung oder -Bezirksleitung anrufen, ({7}) um sich sagen zu lassen, welches Urteil sie fällen sollen, ein Land, das verhindert, dass Menschen ihren Weg gehen, oder das Menschen mit bunten Haaren ins Gefängnis steckt, dieses Land, meine Damen und Herren, ist nichts anderes als ein Unrechtsstaat. ({8}) Wir haben das miteinander geschafft, Deutsche in Ost und West. Diese deutsche Einheit ist die größte patriotische Leistung, die Menschen füreinander erbracht haben: Der eine Teil verzichtet auf Wohlstandszuwachs, um dem anderen Teil zu helfen. Das, was wir hier aufgebaut haben, dieses beste Deutschland, das wir je hatten, haben wir gemeinsam geschafft. Deswegen: Lassen Sie uns nach vorn gehen. Lassen Sie uns aufhören mit dieser Diskussion über Deutsche erster oder zweiter Klasse, über Verlierer oder Nichtverlierer. Die Zukunft liegt vor uns. Lassen Sie sie uns mit beiden Händen ergreifen, meine Damen und Herren. ({9}) Wir haben in den vergangenen Jahrzehnten sechs Bundespräsidenten gewählt. Wir haben einen ostdeutschen Bundespräsidenten gehabt, und wir haben – zum Glück – eine ostdeutsche Bundeskanzlerin. ({10}) Wir sind gemeinsam Fußballweltmeister geworden. Wir haben schwierige Dinge wie Naturkatastrophen an der Elbe und an der Oder gemeinsam gemanagt. Wir haben eine unglaubliche Kraft gezeigt, dieses Land aufzubauen. Das soll uns auch für die kommenden Jahre die Kraft geben, meine Damen und Herren. Der Kompass ist klar: Dieses Land ist ein Land der Freiheit, der sozialen Marktwirtschaft, ein Land, das sich in Europa einbettet und das eine enge Einbindung in die NATO und in die westliche Welt haben muss. Das hat uns stark gemacht. Das hat uns bis hierher gebracht. Das ist die Leitschnur für die kommenden Jahrzehnte. ({11}) Natürlich gibt es Dinge, die noch zu klären sind. 90 Prozent der ostdeutschen Menschen haben nach 1989 einen anderen Arbeitsplatz suchen müssen. Da hat nicht alles funktioniert. Deswegen ist meine herzliche Bitte vor allen Dingen an Sie, meine Damen und Herren in den Koalitionsfraktionen, jetzt zügig das Thema Grundrente abzuschließen. Sie ist den Deutschen versprochen worden. Die Vorschläge, die heute vorliegen, würden für den Freistaat Sachsen bedeuten, dass 200 000 Menschen davon profitieren. Ich glaube, wir sind es den Leuten schuldig. Sie warten darauf. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn wir an dieser Stelle schnell zu einem Ergebnis kommen würden. ({12}) Meine Damen und Herren, wir haben große Erfahrungen mit der Aufarbeitung von wirtschaftlichem Notstand. Der Strukturbruch nach 1989 ist – auch das ist schon gesagt worden –, Ergebnis von Misswirtschaft in der ehemaligen DDR. Was heute vor uns liegt, sind andere Veränderungen: der Kohleausstieg und die Strukturentwicklung in diesen Regionen. Ich bitte Sie alle, dafür zu sorgen, dass auch in dieser Frage das, was versprochen wurde, gilt: Erst neue Arbeitsplätze, bevor andere wegfallen. ({13}) Das bedeutet, dass die Festschreibung des Jahres 2038 für uns notwendig ist, wie es in der Kommission vereinbart worden ist, damit erst Neues geschaffen werden kann. Ich sehe mit Sorge, dass an der einen oder anderen Stelle jetzt über andere Daten gesprochen wird. Es ist notwendig, dass das Geld bereitgestellt wird, dass zügig damit begonnen wird, Straßen zu bauen und die Infrastruktur aufzubauen, damit dieses Ziel erreicht werden kann. ({14}) Die letzte Bitte ist folgende: Sie alle kennen die Antwort auf die Frage: Hätten wir 1989/90 die gleichen Regelungen und Gesetze gehabt wie heute, hätten wir dann das Gleiche erreicht? Die Antwort ist: Nein. – Meine Damen und Herren, vertrauen wir den Menschen und der Wirtschaft in diesem Land wieder mehr, geben wir ihnen mehr Freiheit zum Unternehmertum, zum Handeln. Wir brauchen mehr Dynamik für Deutschland insgesamt, aber vor allem zur Bewältigung der großen Herausforderungen im Bereich Mobilität und im Zusammenhang mit dem Strukturwandel in den Kohleregionen, damit wir international wettbewerbsfähig bleiben, damit wir auch weiter in eine gute Zukunft gehen. Herzlichen Dank. ({15})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dr. Marc Jongen, AfD, ist der nächste Redner. ({0})

Dr. Marc Jongen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004768, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

„Das tritt, nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.“ Mit diesen legendären Worten, meine Damen und Herren, setzte Günter Schabowski am 9. November 1989 auf einer Pressekonferenz in Ostberlin die Ereignisse in Gang, die noch am selben Abend zum Fall der Mauer führen sollten. Die Friedliche Revolution war erfolgreich. Es folgte ein euphorischer Freudentaumel in Ost und West. Sich an den Mauerfall zu erinnern, ist Gelegenheit, sich durch das zeitweilige Wiedereintauchen in die damalige Freude über die Einheit bewusst zu machen, was uns zu einem Volk macht, über die regionalen und mittlerweile hoffentlich auch über die Parteigrenzen hinweg. Die SPD hätte es damals ja lieber bei zwei deutschen Staaten belassen, wie wir wissen. ({0}) Die Erinnerung an diese Tage der Freude darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, was dem folgte, nämlich nicht sofort blühende Landschaften, sondern der skandalöse Ausverkauf von DDR-Betrieben durch die Treuhand, hohe Arbeitslosigkeit, Abwanderung der Jugend in den Westen, viel bittere Bevormundung der Ossis durch Wessis und vielfache Rückkehr alter DDR-Eliten an Machtpositionen einschließlich der Etablierung der SED-Nachfolgepartei in diesem Hohen Haus, ein Skandal in Permanenz, meine Damen und Herren. ({1}) Wir müssen uns aber auch daran erinnern, was dem Mauerfall vorausging, nämlich 40 Jahre Unrechtsregime der DDR. Millionen Menschen wurden von der Staatssicherheit bespitzelt. Viele Tausend Unschuldige wurden aus politischen Gründen inhaftiert, mehrere Hundert wurden bei dem Versuch, aus dem Gefängnis namens DDR zu fliehen, getötet. Meine Damen und Herren, bis heute existiert keine zentrale Gedenkstätte für die Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft in Deutschland. Die AfD-Fraktion hat deshalb einen Antrag eingebracht, der die Bundesregierung auffordert, zusammen mit der Berliner Landesregierung an einem zentralen Ort in Berlin ein solches Denkmal zu errichten. ({2}) Wir befinden uns damit in Übereinstimmung mit einem Antrag, der am 2. Oktober 2015 vom Deutschen Bundestag angenommen worden ist und in dem bereits ein solches zentrales Denkmal zur Mahnung und Erinnerung an die Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft gefordert wurde. Nur, geschehen ist bisher nichts. Erinnern Sie sich an Ihren eigenen Beschluss, und schreiben Sie jetzt einen offenen Wettbewerb aus. Wir sind es den Opfern des Kommunismus schuldig. Vielen Dank. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Christoph Matschie, SPD. ({0})

Christoph Matschie (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst eine kurze Bemerkung zu Ihnen, Herr Jongen, in Bezug auf die SPD: Es war Willy Brandt, der durch die Politik der Annäherung einem friedlichen Wandel in Europa den Weg bereitet hat. ({0}) Und es war Willy Brandt, der als Erster gesagt hat: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.“ Das war die Position der SPD zur deutschen Einheit. ({1}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, natürlich werden an diesem Tag die großen Bilder heraufbeschworen: ({2}) die jubelnden Menschen auf der Mauer, die Trabis, die durch die Grenzübergänge fahren, und natürlich Emotionen, Gänsehaut pur. Ich gestehe: Ich mag diese Bilder. Aber für unsere Debatte, 30 Jahre danach, ist es auch wichtig, die Zeitenwende von 1989/90 als Ganzes zu verstehen; denn sie ist viel mehr als dieser eine funkelnde Moment. Sie ist eine lange Geschichte, die weit vor dem 9. November begann. Warum ist es wichtig, daran zu erinnern? Weil diese großartige Zeit eine wichtige Erfahrung in sich trägt, die wir nicht vergessen dürfen: Geschichte passiert nicht einfach so. Sie ist kein anonymes Geschehen, dem wir ausgeliefert sind. Wir sind immer Teil dieser Geschichte – im Guten wie im Schlechten, und wir tragen Verantwortung, meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Der Herbst 1989 ist somit eine Art Urerfahrung der Demokratie. Menschen können den Lauf der Geschichte ändern, wenn sie Mut haben, wenn sie zusammenstehen und wenn sie Verantwortung übernehmen. Eins ist mir auch wichtig zu sagen: Nicht die Fatalisten haben damals gesiegt. Es waren die Träumer, die Neugierigen, die Freiheitsliebenden, diejenigen, die Mauern einreißen wollten, nicht diejenigen, die Mauern aufbauen wollten. Das waren die treibenden Kräfte des Herbstes 1989. ({4}) Mir hat sich ein Moment im Herbst 1989 sehr tief eingeprägt, als nämlich in meiner Heimatstadt, in Jena, das erste Mal einige Tausend Menschen auf die Straße gegangen sind: friedlich, aber sehr entschlossen. Ich sehe das immer noch vor mir: das Glänzen in den Augen, die Menschen, die sich in den Armen liegen, das Glück, die Angst überwunden zu haben, das Glück, sein Schicksal in die eigene Hand zu nehmen und dieses Land zu verändern, meine sehr geehrten Damen und Herren. Das war der große Moment 1989. Sehr viele davon waren nicht nur in diesen Tagen auf der Straße, sondern sie haben danach Verantwortung übernommen: in ihren Gemeinderäten, in den Parlamenten, in Unternehmen, in Gewerkschaften. Sie haben Verantwortung übernommen und dieses Land neu aufgebaut. ({5}) In diesem Zusammenhang muss ich eine Bemerkung zu Ihnen hier auf der ganz rechten Seite machen, ({6}) die Sie ja in den letzten Monaten immer wieder behauptet haben, ({7}) die Revolution von 1989 weiterzuführen. Was für eine groteske Anmaßung! ({8}) Nicht Sie sind die Erben von 1989. Es sind die demokratischen Parteien, die dieses Land danach wieder aufgebaut haben, die in den vielen Parlamenten Verantwortung übernommen haben. ({9}) Es sind die vielen, die in Gewerkschaften, in Verbänden, in Vereinen und Unternehmen angepackt haben und das Land aufgebaut haben, nicht solche wie Sie, die nur jammern und spalten wollen. ({10}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, beim Blick zurück aus 30 Jahren Distanz werden aber auch die Brüche sichtbar, die Verletzungen, die enttäuschten Träume. Ich habe in den 90er-Jahren als junger Abgeordneter wieder auf der Straße gestanden, damals mit Menschen, die ihren Job verloren haben. In meiner Heimatstadt sind 1991 von 27 000 Beschäftigten bei Carl Zeiss 17 000 entlassen worden. Das ist nur ein Beispiel. Millionen Menschen haben damals genau das erlebt: das Gefühl, die Kontrolle über das eigene Leben zu verlieren, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Ich habe die Verzweiflung gesehen, die Wut, die Traurigkeit. Viele haben es heute geschafft; das ist wahr. Sie haben angepackt. Aber die Narben und die Erinnerungen bleiben. Sie bleiben nicht nur bei denen, die das direkt erlebt haben. Auch der jüngeren Generation wurde diese Erfahrung erzählt, und sie hat sich fortgepflanzt und prägt sie auch noch. Natürlich muss man von dem Mut derer reden, die angepackt und vieles geschafft haben – allen Problemen zum Trotz. Man muss über die Solidarität reden, die wir erlebt haben. Ohne die finanzielle Unterstützung aus dem Westen des Landes wäre der Aufbau so nicht möglich gewesen. Auch dafür will ich heute ganz klar Danke sagen. ({11}) Es bleiben auch nach 30 Jahren Unterschiede. Da gibt es Unterschiede, die schmerzen: unterschiedliche Löhne, die deutlich geringere Repräsentanz von Ostdeutschen in Vorständen, in Spitzenfunktionen, in den Medien. Wir sollten diese Unterschiede ernst nehmen. Das ist eine Frage der Achtung. Meine Generation hat zwei unterschiedliche gesellschaftliche Systeme erlebt, und sie hat den Umbruch hautnah erfahren. Das ist eine Erfahrung, die bleibt. Aber diese unterschiedlichen Erfahrungen müssen ja nichts Schlechtes sein. Der Osten muss nicht genauso sein wie der Westen. Aber er muss genauso ernst genommen werden. ({12}) Und – damit möchte ich schließen – wir sollten uns heute auch klarmachen: Uns verbindet natürlich viel, viel mehr, als uns trennt. Vielfalt in dieser Gesellschaft, die unterschiedlichen Erfahrungen, die wir mitbringen, das ist eine große Stärke. Wir sollten sie noch besser nutzen; denn eins ist klar: Gemeinsam, mit allen Erfahrungen, die wir haben, sind wir ein unglaublich starkes Land. ({13})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Heike Brehmer, CDU/CSU, ist die nächste Rednerin. ({0})

Heike Brehmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004019, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin dankbar für die Friedliche Revolution des Herbstes 1989 und den Sieg der Ostdeutschen über die Diktatur. Noch heute überkommt mich eine Gänsehaut, wenn ich an den 9. November zurückdenke, wohl wissend, dass ich nicht hier stehen würde ohne den Mut von Menschen in der gesamten DDR, ohne die Zivilcourage und den Widerstand, den Bürgerinnen und Bürger über Jahrzehnte gegen die Diktatur aufbrachten. Sie alle haben den Weg dafür geebnet, dass aus einem geteilten Land ein Volk wurde und wir morgen das 30-jährige Jubiläum des Mauerfalls feiern können. Reisefreiheit war eine der zentralen Forderungen während der Demonstrationen im Herbst 1989 in der DDR. Wie war das eigentlich vor dem 9. November 1989 mit dem Reisen in der DDR? Urlaubsplätze waren äußerst begrenzt. Einen FDGB-Ferienplatz zu bekommen, war schon etwas Besonderes. Für DDR-Bürger waren Auslandsreisen nur ins sozialistische Ausland möglich, allerdings auch dies nur begrenzt und nicht für jedermann. Reiseerleichterungen wurden zwar immer wieder angekündigt. Die Praxis jedoch war eine andere. Viele DDR-Bürger litten sehr darunter, dass Eltern und Geschwister in der Bundesrepublik lebten und ihnen nicht einmal Verwandtschaftsbesuche möglich waren. So konnte ich zum Beispiel 1984 nicht zur Silberhochzeit meines Onkels in die Bundesrepublik reisen, obwohl ich verheiratet war, ein kleines Kind hatte und zu meiner Familie zurückgekehrt wäre. Ich durfte nicht mal einen Antrag stellen. Umgekehrt – so haben es mir viele Kolleginnen und Kollegen erzählt – war es aber auch für Bürgerinnen und Bürger aus der Bundesrepublik nicht so einfach möglich, ihre Verwandten in der DDR zu besuchen. Viele erhielten gar kein Visum zur Einreise in die DDR. Meine heutige Redezeit reicht leider nicht aus, um über alle Erfahrungen aus der DDR zu berichten und darüber, wie wir in unserer Freiheit eingeschränkt waren. Der 9. November veränderte alles. Ich selbst saß damals vor dem Fernseher und hörte die Worte von Günter Schabowski, der sagte: Und deshalb haben wir uns dazu entschlossen, heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen. Persönlich hatte ich immer geglaubt, erst im Rentenalter in die Bundesrepublik reisen zu dürfen. Aufregend und beeindruckend war meine erste Reise zu unseren Verwandten nach Göttingen über Braunlage im Harz, was mich nachhaltig beeindruckt hat, denn der Harz war über Jahrzehnte durch die Mauer getrennt und ein besonderes Symbol der deutschen Teilung. Die touristische Aufbauarbeit und die Vermarktung in Ost und West waren zu Beginn nicht leicht. Doch es gab viele engagierte Ost-West-Brückenbauer, die sich dafür einsetzten, die touristischen Angebote auszubauen. Bereits im März 1991 organisierte dann ein gemeinsamer Harzer Tourismusverband für die Bundesländer Sachsen-Anhalt, Niedersachsen und Thüringen den Tourismus. Als Tourismuspolitikerin möchte ich noch ein paar Worte dazu sagen; denn unser Antrag heißt ja „30 Jahre Mauerfall und Reisefreiheit – Erfolgsgeschichte Tourismus“. Die Entwicklung des Tourismus in ganz Deutschland ist eine Erfolgsgeschichte. Über 3 Millionen Beschäftigte arbeiten in der Branche und kümmern sich rund um die Uhr um das Wohl der Gäste, ({0}) auch am Wochenende und an Feiertagen. Dafür möchte ich ihnen recht herzlich danken. Sie arbeiten hart dafür, dass für 30 Prozent der Bundesbürger Deutschland das beliebteste Reiseziel ist. Die Tourismusbranche in unserem Land zeichnet sich durch exzellente Qualität, Service und Gastfreundschaft aus. ({1}) Auch die Zahl ausländischer Gäste wächst kontinuierlich. Berlin gehört mit fast 33 Millionen Übernachtungen im Jahr 2018 zu den beliebtesten Städten Europas, direkt hinter Paris und London. Ein großes Dankeschön gehört daher der DZT, welche für unseren Tourismus im Ausland wirbt. ({2}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich persönlich freue mich über die Reisefreiheit, die nicht immer für alle von uns selbstverständlich war. Wir alle können stolz sein auf die Entwicklung des Tourismus in Deutschland. Reisen bildet, bringt neue Erfahrungen und trägt zur Verständigung zwischen den Menschen bei. Wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion setzen uns dafür ein, dass diese Erfolgsgeschichte fortgeführt werden kann. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Mario Mieruch.

Mario Mieruch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004822

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der 9. November ist der Schicksalstag der Deutschen, ein Tag, der es längst verdient hätte, Gedenk- und Feiertag gleichermaßen zu sein, weil er den Schrecken brennender Synagogen und den Freudentaumel über die Hoffnung auf Freiheit wie kein anderer verbindet. Es ist ein Tag, der uns erdet und zeigt, warum Erinnerung und Verantwortung untrennbar miteinander verknüpft sind. Geschichte wiederholt sich vielleicht nicht; aber manchmal reimt und gleicht sie sich. Ja, wir leben heute in Freiheit, und wir haben sehr viel Gutes erreicht. Aber manche Symptome – das sagte Hubertus Knabe kürzlich – beginnen sehr wohl, an die Vergangenheit zu erinnern. Wenn zwei Drittel der Deutschen meinen, man könne sich zu bestimmten Themen nicht mehr offen äußern, dann ist das eben keine Erfindung von Verschwörungstheoretikern, sondern es ist in dieser Anzahl ein gesamtdeutsches, deutlich geäußertes Bedürfnis nach mehr sachlicher und rationaler Teilhabe am demokratischen Diskurs. Wenn Ideologen Kinder und Jugendliche wieder dazu ermuntern, die Schule zu schwänzen, wenn es Vorsitzende der Grünen gut finden, dass Skeptiker ihrer Klimaapokalypse in den Medien nicht mehr zu Wort kommen sollen, wenn Bewerber um den SED-Vorsitz meinen, der Sozialismus sei bisher nur falsch angefasst worden, wenn nördliche Landeschefs der Union Koalitionen mit den amnesierten SED-Erben klug finden, wenn immer mehr staatliche Souveränität zentralisiert nach Brüssel verlagert und langjährigen Verbündeten regelmäßig beim 2-Prozent-Ziel oder, ganz frisch, bei deren Mitwirkung am Mauerfall vor den Kopf gestoßen wird, dann zeigt sich, wie sträflich es ist, dass Geschichte in der Schule nicht mehr Pflichtfach ist und dass auch die zweite deutsche Diktatur auf unserem Boden offensichtlich noch nicht richtig aufgearbeitet wurde. Es ist gleichermaßen falsch, bei der berechtigten Kritik an diesen Dingen als Mittel zum Zweck die Landolf Ladigs und ihre Freunde zu akzeptieren und den Osten als permanentes Opfer zu stilisieren; denn nach 1989 hatte jeder – auch im Osten – die Möglichkeit, Freiheit zu nutzen, sich selbst zu entfalten und Optionen in Anspruch zu nehmen. Es war in allererster Linie eine Frage der persönlichen Veränderungsbereitschaft. Als Ergebnis all dieser Zustände wirft man sich heute von links nach rechts und von rechts nach links Unvermögen und Boshaftigkeit vor, geißelt – durchaus zu Recht – geschichtsklitternde Sprache und sieht dabei, dass die Aktivisten von heute sich vielleicht gar nicht so sehr von den Aktivisten der ersten Stunde von damals unterscheiden. 30 Jahre nach dem Mauerfall gibt es in ganz Europa kein anderes Thema mehr als den wankenden Wirtschaftsriesen Deutschland. Der Arbeitsplatzabbau in unserem Land ist nicht abstrakt; er läuft – schonungslos in seinen Auswirkungen auf Familien in Gesamtdeutschland, auf den Mittelstand, auf Kommunen, auf Gemeinden. Ideologische Energie- und Verkehrsprojekte mit absolutem Anspruch zerstören gerade 100 000 Arbeitsplätze und machen uns ressourcenseitig ausgerechnet abhängig vom neuen fernöstlichen Sozialismus mit Social Scoring. Immer radikalere Forderungen treiben die Polarisierung unserer Gesellschaft voran, weil man nicht mehr zuhören, sondern nur noch erziehen will, weil viele nur noch Vater des Erfolges sein wollen, aber nicht mehr verantwortlich. Überall beginnt der Staat, wieder einzugreifen, meint er, alles regeln zu können und zu müssen. In feinen Scheiben wird die Freiheit weggehobelt und durch Verbote und Vorgaben „gemietdeckelt“. Diese Entwicklungen waren ganz sicher nicht das Ziel der Männer und Frauen, die vor 30 Jahren die Mauer zu Fall brachten.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege, denken Sie bitte daran, dass Ihre Redezeit abgelaufen ist.

Mario Mieruch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004822

Danke. Letzter Satz. – Auch wenn wir heute keine Mauern mehr haben: Es gibt wieder tiefe Gräben und demnächst auch einen vor dem Bundestag. Ich finde das sehr, sehr schade. Vielen Dank.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Mark Hauptmann, CDU/CSU, ist der voraussichtlich letzte Redner in dieser Debatte. ({0})

Mark Hauptmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004293, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Debatte heute, einen Tag vor einem historischen Jubiläum – 30 Jahre Mauerfall –, zeigt, dass auch 30 Jahre danach noch die Deutungshoheit darüber umkämpft ist, wem eigentlich dankzusagen ist und wie die Geschichte ihren Verlauf nahm. Deswegen ist es am Ende der Debatte wichtig, gerade in der Polarisierung rechts und links, einiges geradezurücken. Erstens. Wir gedenken und danken denjenigen, die mit der Kerze in der Hand, mit dem Gebet in der Kirche, friedlich auf den Straßen in der DDR gegen einen Staat demonstriert haben, der seine eigenen Menschen eingesperrt hat, der sie willkürlich verhaftet hat, der Meinungs- und Versammlungsfreiheit gar nicht kannte und der alle Staatsgewalt in die Hände einer Partei geschrieben hat. Herr Gysi, Sie müssen sich bis heute anhören: So einen Staat nennen wir einen Unrechtsstaat. ({0}) Zweitens. Die Demonstranten in der DDR waren nicht allein, sondern sie hatten Unterstützung und Hilfe, einerseits in der Regierung von Helmut Kohl, der die Stunde der Zeit, das Zeitfenster der Geschichte erkannte, aber auch unserer Bündnispartner und unserer internationalen Freunde, ob das Ronald Reagan war, der wenige Meter von hier davon sprach, die Mauer einzureißen, George Bush senior, der dabei tatkräftig half, die Wiedervereinigung mitzugestalten, oder auch Herr Gorbatschow; keine Frage. Deswegen sind wir dankbar für die internationale Hilfe, die uns hier widerfahren ist. Aber wir sagen auch: Wir müssen derjenigen gedenken, die hier nicht dieses Glück hatten, von dieser Freiheit und dieser Hoffnung zu profitieren. Es war noch im Jahr 1989 Chris Gueffroy, der in der Nacht vom 5. Februar infolge des Schießbefehls erschossen wurde. Es waren die vielen, die eingesperrt wurden, Unternehmer, die enteignet wurden, Mütter, Familien, denen Kinder für Zwangsadoptionen weggenommen wurden, aber eben auch viele, die einfach nur wie Roland Jahn, der Bundesbeauftragte für die Stasiunterlagen, von einer Party nach Hause gefahren sind und sich dann im Gefängnis wiedergefunden haben. Sie zeugen von dieser Unfreiheit, die wir damals erlebt haben. Deswegen müssen wir auch dieser Menschen gedenken. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich gehöre einer Generation an, die sich nur wenig persönlich erinnern kann, was die Umstände dieser Nacht des 9. November 1989 angeht. Ich war damals fünf Jahre alt. Nur die Stunde und die Gnade der späten Geburt haben das Pioniertuch bei mir verhindert und mir ermöglicht, in dem ersten gesamtdeutschen Jahrgang 1990 eingeschult zu werden. Auch diese Generation müssen wir heute in den Blick nehmen, eine Generation, die mit vielen Entwicklungen, die wir heute beschreiben, positive Hoffnungen und die Vollendung dessen verbindet, was wir den Menschen an Hoffnung gegeben haben. Es gibt heute eben keine Unterschiede mehr zwischen der jungen Generation Ost und West. Beide haben die Möglichkeit, freie Schul- und Berufswahl, Auslandsaufenthalte, Reisefreiheit und auch die grenzenlose Freiheit und ihren Wohlstand zu genießen. Deswegen können wir aufhören, hier verschiedene Begriffe zu benutzen. Linda Teuteberg hat etwas zum Begriff der Wende gesagt. Diesen Begriff sollten wir völlig zu Recht niederlegen. Wir sprechen von einer friedlichen Revolution; denn genau das war es. ({1}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir müssen auch aufhören, von den neuen Ländern zu sprechen; denn „neue Länder“, das klingt wie „nicht so ganz dazugehörig“, das klingt wie „Da gibt es die alten Länder, die eine große Leistung für dieses Land erbracht haben, und die neuen Länder, die irgendwie dazugekommen sind“. Hier sprach gerade ein Ministerpräsident, der die Tradition eines selbstbewussten Freistaats mit einer jahrhundertealten Geschichte vertritt. ({2}) Auch ich als Thüringer, der aus einem Freistaat kommt, wo Goethe und Schiller gewirkt haben und wo die Bibel von Martin Luther vor mehr als 500 Jahren übersetzt wurde, kann Ihnen sagen: Das sind nicht die neuen Länder; das ist ein alter Teil der deutschen Geschichte, und genau so sollten wir ihn auch behandeln, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({3}) Ich komme zum Schluss. – Dieser Tag steht für uns symbolisch für den Ruf nach Freiheit. Barack Obama hat nur wenige Meter von hier gesagt: Völker der Welt – schaut auf Berlin, wo eine Mauer fiel, ein Kontinent sich vereinigte und der Lauf der Geschichte bewies, dass keine Herausforderung zu groß ist für eine Welt, die zusammensteht. Meine sehr geehrten Damen und Herren, er meinte: Diese Stadt kennt den Traum von Freiheit. – Aber wir als Demokraten in der Mitte dieses Hauses wissen, dass Freiheit nicht nur ein Traum ist; „Freiheit“ heißt auch „Verantwortung“. Konrad Adenauer sprach bei der Gründung unseres Staats: „Wir wählen die Freiheit!“ Liebe Demokraten in der Mitte dieses Hauses: Lassen Sie uns diese Freiheit auch jeden Tag verteidigen! Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit schließe ich die Aussprache.

Michael Theurer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004914, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Guten Morgen, Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wie stellen wir uns Deutschland im Jahr 2050 vor? Ich sage: Wenn wir jetzt die richtigen Weichen stellen, dann werden wir im Jahr 2050 das Land sein, das die Digitalisierung mit der industriellen Wertschöpfung verknüpft hat. Wir werden das Land sein, das die Grundwerte der pluralistischen, der liberalen Demokratie westlicher Prägung in die digitale Welt übertragen hat und dort Privatsphäre, Rechtsstaat und die Meinungsfreiheit schützt. ({0}) Durch die weltbeste Bildung leben wir in einer Gesellschaft glücklicher, interessierter, neugieriger und produktiver Menschen. Als Entwicklungszentrum der Welt leisten wir einen wesentlichen Beitrag zum Fortschritt der Menschheit durch smarte Produkte, intelligente Maschinen und neue Technologien. Meine Damen und Herren, wir werden das Land sein, in dem das Klimaproblem durch die konsequente Anwendung von Digitalisierung und technischem Fortschritt gelöst wurde – nicht nur Fridays for Future, sondern Freiheit for Future und Future by Technology. Wir brauchen Zukunft durch Technologie, meine Damen und Herren, und keine Ideologie. ({1}) Doch um alle diese Ziele zu erreichen, brauchen wir wirtschaftliches Wachstum. Wirtschaftliches Wachstum ist die notwendige Grundvoraussetzung, um diese Ziele zu erreichen. ({2}) Ohne Wettbewerbsfähigkeit dieses Standorts wird hier nicht investiert, und ohne Investitionen gibt es keine Innovationen. Meine Damen und Herren, wir Freie Demokraten sind in großer Sorge, was die Wirtschaft in Deutschland angeht. Nachdem die Bundesregierung jahrelang täglich die Belastbarkeit der deutschen Wirtschaft durch immer neue gesetzliche und bürokratische Auflagen getestet hat, ist jetzt die Belastungsgrenze überschritten. ({3}) Wir stehen an der Schwelle zur Rezession. Die Wachstumserwartungen haben sich eingetrübt; es sind die zweitschwächsten in ganz Europa, knapp vor Italien. Meine Damen und Herren, es geht jetzt darum, die Lebenschancen für die Menschen in Deutschland zurückzugewinnen. Deshalb fordern wir Freie Demokraten mehr Tempo für Reformen, mehr Tempo für die Entlastung der Menschen. Wir schlagen vor, die Eigenkapitalbasis unserer Unternehmen zu stärken, damit sie wieder investieren können für Wachstum und Sicherung der Arbeitsplätze. ({4}) Liebe Freunde, meine Damen und Herren, sehr geehrte Bürgerinnen und Bürger, nur wenn es uns gelingt, die Steuerentlastung durchzusetzen, ({5}) die Bürokratieentlastung als Investition in die Modernisierung unseres Landes und der Verwaltung zu begreifen, werden wir die Zukunft gewinnen. Wir schlagen einen Zukunftsfonds vor für Wachstum und Beschäftigung nach dänischem Vorbild durch die Privatisierung der Anteile von Post und Telekom. Wir wollen Existenzgründern und Start-ups das Leben und eine Wachstumsphase ermöglichen. Und wir wollen, dass die Macher endlich machen können. Wir wollen Freiräume einführen, Freiheitszonen gestalten, nicht nur in den neuen Bundesländern, sondern auch in den alten. ({6}) Solange wir nicht wieder auf dem Wachstumspfad von 2 Prozent jährlich sind, darf es keine neuen Abgaben, keine neuen Steuern, keine Umverteilungen und keine Eingriffe in die unternehmerische Freiheit mehr geben. Wir brauchen Freiräume für die Menschen, Tempo für Wirtschaft, Wachstum und Wohlstand, mehr Tempo für Deutschland, damit unser Land im Jahre 2050 so aussieht, wie wir es uns wünschen. ({7}) Dafür kämpfen wir. Ich glaube, jetzt ist der richtige Zeitpunkt, die Trendwenden in Deutschland einzuleiten. Vielen Dank. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Andreas Lenz, CDU/CSU. ({0})

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Tempo für Deutschland“ heißt der Antrag der FDP. Die letzten Jahre wuchs die deutsche Wirtschaft kontinuierlich. Wir befinden uns immer noch in der längsten Aufschwungsphase der deutschen Nachkriegsgeschichte. Wir haben also Tempo gemacht, und vor allem die deutsche Wirtschaft hat die letzten Jahre Tempo gemacht. Das waren übrigens Jahre, in denen Sie von der FDP nicht oder größtenteils nicht an der Regierung beteiligt waren. ({0}) Das ist eben der Unterschied: Sie sprechen über Freiheitszonen, und wir liefern. ({1}) Aber in der Tat: Die konjunkturelle Entwicklung hat sich etwas eingetrübt. Das liegt allerdings in erster Linie an externen Schocks. Das liegt an der Unsicherheit hinsichtlich des Brexits, an der Unsicherheit hinsichtlich des Handelsstreits zwischen den USA und China und am schwachen Welthandel – alles Faktoren, die Deutschland übrigens nur mittelbar beeinflussen kann. Diese Faktoren beeinflussen auch den Wachstumsbeitrag des Außenhandels. Wir haben an dieser Stelle schon häufiger über die deutschen Außenhandelsüberschüsse gesprochen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir sehen doch gerade, dass wir mehr Angst davor haben sollten, keine Überschüsse mehr zu haben, als Angst davor, Überschüsse zu haben. Überschüsse sind immer auch ein Zeichen von Wettbewerbsfähigkeit, und diese muss natürlich in den Vordergrund gestellt werden. Gleichzeitig ist aber laut Sachverständigenrat nicht von einer breiten oder tiefgehenden Rezession auszugehen. Nach Jahren der Überauslastung kommen wir jetzt in einen Bereich der Normalauslastung der deutschen Wirtschaft und der deutschen Industrie. In der Industrie zeigt sich übrigens momentan wieder ein erster Hoffnungsschimmer: Die Zahl der Pessimisten nimmt laut ifo ab, und die Zahl der Auftragseingänge nimmt wieder zu. „50 Prozent der Wirtschaft ist Psychologie“; das sagte schon Ludwig Erhard. Es ist verantwortungslos, einen Abschwung herbeizureden, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({2}) Natürlich befinden wir uns in einer Zeit, in der Wirtschaftspolitik wichtiger wird. Deshalb ist es wichtig, dass der Staat kräftig investiert. Die Investitionen des Bundes sind mit 40 Milliarden Euro auf Rekordniveau. Wir investieren in Infrastruktur, wir investieren in Bildung und Forschung – wir investieren also in Zukunft. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Lenz, der Kollege Hoffmann würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte.

Dr. Christoph Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Ihre Worte, dass alles gut sei, klingen wie Hohn in den Ohren der Menschen, die sich Sorgen machen, zum Beispiel im Mittelstand in Baden-Württemberg, in der ganzen Zuliefererindustrie, die eigentlich jeden Tag um ihren Arbeitsplatz bangen. Sie haben gesagt, Sie hätten alles richtig gemacht und alle Weichen in der Wirtschaft richtig gestellt. Meine Frage an Sie ist: Glauben Sie nicht, dass wir ein Entwicklungsland sind in Sachen Breitband und dass da die Weichen schon vor langer Zeit von Ihrer Partei grundsätzlich falsch und einfach nicht schnell genug gestellt worden sind?

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank für die Frage. – Natürlich ist es so, dass wir im Moment eine konjunkturelle Eintrübung haben, dass wir gerade im Bereich der Automobilindustrie mit strukturellen Problemen zu kämpfen haben. Es ist aber auch so – weil Sie jetzt die Frage der Investitionen ansprechen –, dass wir gerade beim Breitbandausbau auf Rekordniveau investieren, dass wir gerade die Zukunftsthemen kräftig adressieren und dass es im Moment nicht am Geld scheitert, sondern an den Baufirmen und den Kommunen, die die Gelder gar nicht abrufen können. Insofern kümmern wir uns um die Zukunftsthemen Breitbandausbau und Infrastruktur, aber auch um Bildung und Forschung und adressieren eben gerade diese Zukunftsthemen mit kräftigen Impulsen und mit Investitionen, die sich auch im Bundeshaushalt entsprechend wiederfinden. ({0}) Gerade gestern haben wir beispielsweise die steuerliche Forschungsförderung beschlossen – ein weiterer wichtiger Impuls. Jetzt ist es so, dass die beschlossenen Maßnahmen einen Wachstumsimpuls in Höhe von 0,6 Prozent in diesem Jahr und in Höhe von 0,5 Prozent im nächsten Jahr bewirken. Hinzu kommt ein Impuls durch die Teilabschaffung des Solis. Natürlich wollten wir mehr; aber dieser Impuls wird sich 2021 auch entsprechend auf die konjunkturelle Entwicklung auswirken. Wir investieren auf Rekordniveau trotz ausgeglichenem Haushalt. Wenn ich die aktuelle Diskussion hier verfolge, dann stelle ich fest, dass die Kritiker eines ausgeglichenen Haushalts in Wirklichkeit nicht investieren, sondern konsumieren wollen. Das ist eine Politik, die zulasten der künftigen Generationen geht, und das ist mit uns nicht zu machen, meine sehr geehrten Damen und Herren. Schauen wir auf das Klimapaket. Wir schützen damit das Klima und stützen gleichzeitig die Wirtschaft. Wir setzen beispielsweise durch das Brennwertkessel-Programm und durch die Förderung neuer Heizungsanlagen in Höhe von 40 Prozent richtige Impulse für die Wirtschaft und für das Klima. Durch die steuerliche Förderung der Gebäudesanierung fördern wir ebenso private Investitionen und schützen gleichzeitig das Klima. Das ist kluge Politik, die auf Anreize und nicht auf Verbote setzt. Mit der Gründung der KfW Capital, der KfW-Tochter für Wagnisfinanzierungen, haben wir ein wichtiges Zeichen für den Bereich der Risikofinanzierungen gesetzt. Wir wollen in den nächsten zehn Jahren 2 Milliarden Euro in Wagnisfinanzierungen stecken. In diesem Bereich, dem Bereich der Start-ups, müssen wir aber noch mehr Anstrengungen unternehmen, damit wir gerade auch auf internationaler Ebene auf Augenhöhe mitspielen. Die Gründungen von heute sichern auch den Wohlstand von morgen. Wir sehen anhand der aktuellen Entwicklung, dass die Zeiten guter Konjunktur natürlich nicht gottgegeben sind. Wir müssen wachstums- und wirtschaftsfreundliche Politik deshalb künftig noch mehr in den Vordergrund stellen und beispielsweise auch über eine Unternehmensteuerreform diskutieren. Das machen wir. Wir legen Konzepte vor und werden diese auch entsprechend umsetzen. ({1}) Wir müssen uns für eine um uns herum ändernde Welt allerdings auch rüsten und die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft weiter stärken. Genau das werden wir machen. In diesem Sinne: Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({2})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Dr. Andreas Lenz für die Fraktion der CDU/CSU. ({0}) – Das war er gerade. Entschuldigung, ich bin noch nicht angekommen; aber jetzt bin ich da. ({1}) Dr. Enrico Komning für die Fraktion der AfD. ({2}) – Sie sind auch gleich noch befördert worden. ({3})

Enrico Komning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004787, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Vielen Dank für die Promotion, die Sie mir gerade erteilt haben. Ich bin bemüht, das in den nächsten Jahren vielleicht doch noch zu bewerkstelligen. Meine Damen und Herren, Deutschland bekommt gegenwärtig die über ein Jahrzehnt andauernde wirtschaftspolitische Tatenlosigkeit der Regierung Merkel zu spüren, und ich fürchte, das ist erst der Anfang. Das produzierende Gewerbe ist schon in der Rezession; der Dienstleistungssektor wird folgen. Und, meine Damen und Herren, Herr Lenz, wir reden hier nicht über eine Konjunkturdelle, sondern über strukturelle Defizite, die uns diese Regierung eingehandelt hat. ({0}) Der Verlust der Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland wird zu massivem Wohlstandsverlust führen, die Rückkehr von Massenarbeitslosigkeit beschleunigen und unsere aufgeblähten Sozialsysteme ein für alle Mal unbezahlbar machen. Die Konzeptionslosigkeit und Zögerlichkeit der Regierung bei der Digitalisierung steht als Beispiel dafür, wie Wirtschaftspolitik nicht geht. ({1}) Wir lassen große Bereiche völlig brachliegen, nämlich die ländlichen Räume. Hier, wo ein überdurchschnittlich hoher Anteil von Empfängern von staatlichen Sozialleistungen lebt, gibt es ungeheure Potenziale. ({2}) Aber was macht die Regierung? Sie verpulvert den Wohlstand des Landes in „Refugees welcome“ und Klimareligion - ({3}) Geld, das für Investitionen fehlt. Gerade in den ländlichen Räumen sind massive Investitionen in klassische wie auch in digitale Infrastrukturen dringend notwendig, um Wirtschaftswachstum auf breitere und nachhaltigere Füße zu stellen. ({4}) Aber auch Sie, liebe Kollegen von der FDP, müssen sich fragen lassen, wie stark Ihr Engagement für mehr Tempo für die deutsche Wirtschaft wirklich ist. Sie fordern in Ihrem Antrag eine substanzielle steuerliche Entlastung. Wir haben verschiedene Anträge hierzu zur Abstimmung gestellt. Als Beispiel nenne ich nur die steuerliche Besserstellung der ländlichen Räume – abgelehnt; Abschaffung der Grundsteuer zugunsten einer Einkommensteuerbeteiligung der Kommunen – abgelehnt. Davon abgesehen, enthält Ihr Antrag natürlich vieles Richtiges und Unterstützenswertes. Ein besseres Investitionsklima für Start-ups durch Bereitstellung von mehr Wagniskapital ist gut. Innovative Geschäftsideen müssen in Deutschland mehr Unterstützung erfahren, wenn wir ein Hochtechnologieland bleiben wollen. Wir brauchen daher erheblich mehr Investitionen in Forschung und Technologie, aber bitte ideologiefrei und technologieoffen. ({5}) Die Konzentration auf grüne Technologien ist eine Sackgasse. Gerade im Energiebereich wird der Ausstieg aus der Kernkraft Deutschland noch teuer zu stehen kommen. ({6}) Darüber hinaus wird der Ausstieg aus der Erforschung und Entwicklung neuer Reaktorenkonzepte Deutschland von einer sauberen, emissionsfreien, sicheren und bezahlbaren Energieerzeugung abschneiden und damit hinter alle Länder zurückwerfen. Irritiert hat mich aber doch, dass Sie vor drohenden Negativzinsen warnen, daraus in Ihrem Antrag aber keine Schlussfolgerungen ziehen. Solange eine Europäische Zentralbank über die Währungspolitik zulasten Deutschlands die Entschuldung der südeuropäischen Länder betreibt, bedeutet das einen nachhaltigen Schaden für unsere Zukunftsfähigkeit. ({7}) Deshalb, liebe FDP: Holen wir die Währungshüter zu uns nach Hause zurück, und beenden wir das Euro-Experiment! ({8}) Auf eines im Antrag der Grünen muss ich noch eingehen. Sie schreiben, dass die Automobilindustrie sich neu erfinden müsse, um den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht zu werden. ({9}) Welche Ironie, sind Sie es doch, die durch Ihr Anhängsel CDU die Automobilindustrie systematisch an die Wand fahren und ihr so jeden Raum für Innovationsforschung und Investitionen nehmen! Meine Damen und Herren, der CO2-schwangere Grünenantrag zeigt eines ganz deutlich: Wir brauchen in Deutschland eine neue Säkularisierung. Wir müssen den Staat und die Klimareligion endlich voneinander trennen, sonst endet Deutschland wie allseits bekannte totalitäre Republiken, in denen Unterdrückung und Staatsterror Tagesgeschäft sind; ({10}) denn das ist das größte Hemmnis für eine wachsende Wirtschaft. Insoweit freue ich mich auf konstruktive Beratungen im Ausschuss zum FDP-Antrag. Beim Antrag der Grünen fehlt mir leider jegliche Fantasie dazu. ({11}) Vielen Dank. ({12})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der SPD der Kollege Bernd Westphal. ({0})

Bernd Westphal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004442, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Megathemen des 21. Jahrhunderts liegen auf der Hand: Es sind der Klimaschutz, die Globalisierung, aber auch Digitalisierung und sozialer Zusammenhalt in der Gesellschaft. Mit einer nachhaltigen Wirtschaftspolitik stellen wir die richtigen Weichen. In den vorliegenden Anträgen wird eine Reihe von Themen angesprochen – teilweise konstruktiv als Grundlage für eine Debatte, teilweise werden Themen angesprochen, die wir in der Regierung schon erledigt haben oder die in Arbeit sind. Aber es sind teilweise auch wirklich alte Kamellen. Es tut mir leid: Da fehlt mir jede Fantasie, überhaupt darüber zu diskutieren. ({0}) Die jüngste Konjunkturprognose der Wirtschaftsweisen hat gezeigt: 0,5 Prozent Wachstum für dieses Jahr, 0,9 Prozent für das nächste Jahr. Ja, das ist eine konjunkturelle Abkühlung, aber bei Weitem keine Rezession. Es tut mir leid: Es gibt keine wissenschaftliche Grundlage für diese Debatten, die von der Opposition geführt werden. ({1}) Es macht die Arbeit der Opposition natürlich schwer – das gebe ich zu –, dass es hier keine Anknüpfungspunkte gibt. Regierungsseitig haben wir zudem mit Investitionen des Bundes wichtige Schritte getan. Sie sind auf Rekordhöhe, wie man sieht. In der Finanzplanung für die Jahre 2020 bis 2023 sind über 158 Milliarden Euro vorgesehen – 38 Milliarden bzw. 30 Prozent mehr als in der letzten Legislaturperiode –, und das zeigt die gute Grundlage für die Modernisierung unseres Staates. Wir haben 5 Milliarden Euro für den Digitalpakt der Schulen vorgesehen und 5,5 Milliarden für den sozialen Wohnungsbau. Für den öffentlichen Personennahverkehr sind 1,7 Milliarden Euro vorgesehen. Sie sehen, es sind bereits Konjunkturprogramme, die die Wirtschaft unterstützen sollen, unterwegs. Für den Strukturwandel in den Braunkohlerevieren sind 14 Milliarden Euro vorgesehen. Wir werden ihn gemeinsam mit den Kommunen, mit den Betriebsräten, Gewerkschaften und Verantwortlichen vor Ort gestalten. Was das Investitionsprogramm angeht, besteht nicht die Notwendigkeit, zusätzliche Mittel aufzubringen, und schon gar nicht, von einem ausgeglichenen Haushalt abzugehen. Auch der Klimaschutz ist ein Innovations- und Investitionsprogramm für die deutsche Wirtschaft, und dies mit einer gesunden Mischung aus Innovation und Investition in Infrastruktur. Ich wundere mich, dass die Anträge von der FDP und den Grünen, die hier vorliegen, das überhaupt nicht aufgreifen und honorieren. Zugleich wird in den Anträgen davon ausgegangen, dass die Steuern automatisch sprudeln. Nein, zu einer funktionierenden Wirtschaftspolitik gehört auch, dass wir zum Beispiel mit einem deutsch-französischen Vorschlag für eine gemeinsame Bemessungsgrundlage für die Körperschaftssteuer in der EU sorgen oder dafür, zwecks Bekämpfung von Umsatzsteuerbetrug auf elektronischen Marktplätzen eine stärkere Haftung der Betreiber einzuführen. Auch die Anstöße zur globalen Mindestbesteuerung auf G-20-Ebene in den OECD-Ländern gehören zu unserer erfolgreichen Wirtschaftspolitik. ({2}) Im Bereich der Digitalisierung haben wir die Strategie der Bundesregierung für die künstliche Intelligenz. 3 Milliarden sind für Transfer- und Spitzenforschung und zusätzliche Stellen an den Universitäten für Professoren vorgesehen. Mit der Versteigerung der 5G-Lizenzen verpflichten wir die Netzbetreiber, bis 2022 mindestens 4 000 neue 5G-Masten aufzustellen. Wir haben die Betreiber außerdem verpflichtet, bis Ende 2022 mindestens 98 Prozent der Haushalte mit 100 Mbit pro Sekunde – also schnellem Internet – zu versorgen. Auch der Ausbau der Glasfasernetze bis 2025 ermöglicht, die digitale Infrastruktur aufzubauen. Wir haben darüber hinaus im Qualifizierungschancengesetz Möglichkeiten für vom Strukturwandel betroffene Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geschaffen, sich auf die neuen Beschäftigungsbereiche vorzubereiten. Hier haben wir mit unserem wirklich sehr aktiven Arbeitsminister Hubertus Heil – auch was das Transformations-Kurzarbeitergeld angeht – einen Rechtsanspruch auf Förderung einer zweiten Berufsausbildung geschaffen, damit sich Beschäftigte auf die neuen Arbeitsplätze vorbereiten können. Wir haben am Mittwoch im Ausschuss mit dem Vorsitzenden der Monopolkommission und dem Präsidenten des Bundeskartellamtes über das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen diskutiert. Deshalb wundern mich diese Ausführungen in den Anträgen, weil hier klar erkennbar ist, dass wir mit einem Wettbewerbsrecht 4.0 genau auf diese Plattformökonomie, auf die Monopole, was Daten angeht, reagieren und dort neue Bereiche absichern und auch für Vielfalt auf dem Markt sorgen werden. ({3}) Auch was Venture Capital angeht, haben wir über die KfW bereits heute Möglichkeiten der Risikofinanzierung und Verbesserung des Kapitalmarktzugangs geschaffen. Auch dies stellt eine Möglichkeit für junge innovative Unternehmen dar, sich zu finanzieren. Wir haben zur Verringerung der CO2-Emissionen ein Nationales Dekarbonisierungsprogramm auf den Weg gebracht. Hier geht es darum, mit Forschung und Entwicklung und auch mit dem Kompetenzzentrum Klimaschutz in der Lausitz viele Dinge auf den Weg zu bringen, um unsere Industrie in den Stand zu versetzen, mit einer Wasserstoffstrategie ihre Prozesse zu defossilisieren. Wir haben hiermit die Chance, dass wir der Stahlindustrie, der Chemieindustrie und anderen Bereichen hier am Standort eine Perspektive der klimaneutralen Produktion ermöglichen. ({4}) 1979 – vor 40 Jahren – hat Willy Brandt mit Olof Palme im Nord-Süd-Dialog beschrieben, welche Verantwortung Industrieländer haben. In diesem Geist müssen auch wir heute Vorreiter auf dem Gebiet der neuen Technologien sein. Wir müssen hier Dinge entwickeln, die dann Nachahmer in anderen Länder finden, die uns in eine klimaneutrale Produktion folgen. Hierzu müssen Wertschöpfungsketten errichtet werden, zum Beispiel im Bereich der Wasserstofftechnologie, wo unser Maschinenbau Anlagen liefern kann, die Perspektiven für die Zukunft bieten. ({5}) National für uns heißt das Investition in gute Bildung, Infrastruktur und ein investitionsfreundliches Umfeld. Wir wollen Vollbeschäftigung mit Mitbestimmung und Tarifverträgen. ({6}) Die wirtschaftspolitische Strategie ist an unseren Werten ausgerichtet und setzt auf Offenheit, nicht auf Abschottung. Es geht um die Demokratisierung von Globalisierung und Digitalisierung. Den notwendigen Transformationsprozess sozial zu gestalten, Strukturwandel nachhaltig zu begleiten, das setzt auf gesellschaftliche Teilhabe und Zusammenarbeit. Wir arbeiten für das Wohl der Gemeinschaft. Herzlichen Dank und Glück auf! ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Alexander Ulrich für die Fraktion Die Linke.

Alexander Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003858, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Tempo für Deutschland“ – welch ein Titel! Die nächste Grippewelle wird sicherlich „Tempo“ benötigen, aber diesen Antrag der Fraktion der FDP braucht hier im Bundestag niemand. ({0}) Es sind die alten Gassenhauer, die hier zum wiederholten Male eingebracht werden: Steuersenkungen für Unternehmen, Steuersenkungen für Wohlhabende und Reiche, Flexibilisierung des Arbeitsrechts – was dann ja auch weniger Schutzrechte für die Arbeitnehmer bedeutet – und die Krönung: eine Schuldenbremse 2.0 im Grundgesetz. Ich weiß nicht, ob die FDP die Debatten richtig verfolgt. ({1}) Es gibt immer mehr auch konservative Wirtschaftsjournalisten, auch Wirtschaftsweise – bis in den Sachverständigenrat hinein –, die deutlich sagen: Die Schuldenbremse – die schwarze Null – ist eine Investitionsbremse in Deutschland und muss dringend gelockert werden. ({2}) Deutschland hat sich in die schwarze Null verliebt. Ich kann überhaupt nicht nachvollziehen, dass die SPD da immer mitmacht. Wer in Zeiten von Negativzinsen nicht endlich in die Zukunft des Landes investiert, versündigt sich an den kommenden Generationen. ({3}) Investitionen in die Zukunft wären der Maßstab einer zukunftsweisenden Wirtschaftspolitik der deutschen Bundesregierung. ({4}) Der Sachverständigenrat hat vor zwei Tagen deutlich gesagt: Deutschland müsste viel mehr investieren und lässt Zukunftschancen brachliegen. Man müsste in den sozialökologischen Umbau investieren. Man müsste in Bildung und Forschung investieren. ({5}) Die Schulen und Universitäten sind in einem schlechten Zustand. Die Infrastruktur verfällt. ({6}) Wir müssen in neue Technologien investieren. Das alles macht diese Bundesregierung viel zu wenig. ({7}) Hören Sie doch endlich einmal auf den Sachverständigenrat! Deutschland muss endlich loslegen und nicht weiter auf der Bremse stehen. ({8}) Herr Westphal, zu Ihrer Aussage, es gebe für die Opposition keinen Grund, das Thema hier anzusprechen, muss ich Ihnen schon sagen: Der Sachverständigenrat sagt ganz deutlich: Die Aufschwungphase ist vorbei. In der Industrie sind wir schon längst in einer Rezession. – Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht; Sie sind, glaube ich, wie ich Gewerkschaftler. Es dürfte Ihnen nicht ganz fremd sein, in welcher Not viele Beschäftigte in der Automobilindustrie, der Zulieferindustrie, der chemischen Industrie, im Braunkohlebereich sind. ({9}) Reden Sie mal mit Stahlarbeitern und anderen Arbeitnehmern, was da los ist. Da herrschen riesige Zukunftsängste. Die reichen bis weit in die Mitte, bis zum Ingenieurswesen. Die Leute haben Angst, was in zehn Jahren sein wird. Das ist Ihre Wirtschaftspolitik, die von der SPD immer mitgetragen wird. Es müssen aber endlich Antworten auf die Fragen, die mit dem bevorstehenden Umbau der Industrie zusammenhängen, gefunden werden. ({10}) Es ist tatsächlich ein Problem, dass wir zu exportabhängig sind. Das haben wir als Linke hier immer angesprochen und gesagt: Wir müssen die Binnenkaufkraft stärken. – Das hält uns zurzeit überhaupt noch über der Nulllinie. Wir müssen aber auch deutlich machen, dass Brexit und Handelskonflikte usw. in den nächsten Jahren dazu führen werden, dass der Export wahrscheinlich nicht so schnell aus den Puschen kommt. Auch deshalb müssen wir die Binnennachfrage stärken. Die Vorschläge der Linken liegen auf dem Tisch. Wir müssen auf dem Arbeitsmarkt endlich aufräumen. Wir brauchen endlich einen höheren Mindestlohn – von mindestens zwölf Euro. ({11}) Wir müssen die sachgrundlosen Befristungen abschaffen. Wir brauchen gleiches Geld für gleiche Arbeit in der Zeitarbeit, und wir brauchen endlich mehr Tarifbindung. Die Gewerkschaften machen auch in diesem Jahr einen guten Job bei den Tarifabschlüssen. Aber wenn immer weniger Beschäftigte von Tarifverträgen profitieren, brauchen wir endlich mehr Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen, und da muss die SPD – wie auch die Bundesregierung – endlich aus den Puschen kommen. ({12}) Wir haben einen Wirtschaftsminister, der bei der Debatte heute wieder einmal nicht da ist. Dabei hat er offensichtlich Langeweile. Die Probleme sind riesengroß, hunderttausende Arbeitsplätze sind im Automobilsektor, im Zulieferersektor, im Kohlesektor, im Stahlsektor in Gefahr, und unser Wirtschaftsminister hat anscheinend nichts anderes zu tun, als über Wahlrechtsreformen nachzudenken, über die Anzahl von Staatssekretären, über Wahltermine, darüber, wie Bundesländer im Bundesrat abstimmen. Vielleicht macht er sich gerade, da er nicht da ist, Gedanken darüber, wie seine nächste Wahlrechtsreform aussehen könnte. ({13}) Ich will es an dieser Stelle sagen: Ein Wirtschaftsminister, der nicht erkennt, was seine Aufgaben sind, ist für dieses Land unnötig. Er müsste eigentlich ausgetauscht werden. Herr Altmaier versteht nicht, was seine Rolle in dieser Bundesregierung ist. ({14}) Aber da er sich nun einmal Gedanken über eine Wahlrechtsreform macht, will ich hier nur ansprechen, dass es doch die Union ist, die jede Wahlrechtsreform blockiert. Herr Altmaier macht Vorschläge zur Wahlrechtsreform, aber es ist die Union, die das blockiert. Und noch keine andere Bundesregierung hat eine so große Anzahl an Staatssekretären gehabt wie diese. In Kürze soll ein Staatssekretär das Wirtschaftsministerium verlassen, wie man so hört. Herr Altmaier könnte dann ja auf eine Nachbesetzung verzichten. ({15}) Was wir in diesem Land dringend benötigen, sind deutlich mehr Investitionen. Darauf, dass die FDP wieder sagt, wir bräuchten Steuersenkungen, sage ich: Das Problem der Wirtschaft ist nicht, dass zu wenig Geld vorhanden ist. Wir haben kein Angebotsproblem, sondern ein Nachfrageproblem. Die Wirtschaft hat genug Geld; das ist nicht das Problem. Weitere Steuersenkungen würden nur eine weitere Umverteilung bedeuten. Wir brauchen keine Umverteilung von unten nach oben, sondern umgekehrt. Wir müssen wieder so umverteilen, dass die Kaufkraft gestärkt wird. Vorschläge dazu hat Die Linke zuhauf gemacht. ({16}) Lassen Sie mich etwas zur Situation im Automobilsektor sagen. Die Transformation in der Automobilindustrie geht einher mit der Digitalisierung. Das ist für viele Mitarbeiter ein riesengroßes Problem und auch für viele Unternehmen. Jeder von Ihnen hat in seinem Wahlkreis sicherlich den einen oder anderen Zulieferer, der Ihnen sagt, sie hätten kein Zukunftskonzept, wenn die Mobilitätswende greift. Das ist eine große Sorge. Deshalb muss der Sozialstaat andere Antworten liefern als bisher. So unterstützen wir die Forderung der IG Metall, dass die Bundesregierung deutlich mehr arbeitsmarktpolitische Instrumente für Qualifizierung der Mitarbeiter, für die Schaffung neuer Aufgaben anbieten muss. Auch das Transferkurzarbeitergeld der IG Metall ist ein toller Vorschlag, den wir aufgreifen müssen. ({17}) Ich komme gleich zum Schluss, Herr Präsident. – Noch einmal, Herr Westphal: Wir haben eigentlich viel zu tun, aber diese Bundesregierung macht zu wenig. In den Zeitungen ist zu lesen, dass am Wochenende ein Konzept zur Grundrente verabschiedet werden soll. Man hört, die SPD sei zu einer weiteren Unternehmensteuerreform bereit. Davor kann ich Sie nur warnen. Wieder die Steuern für die Unternehmen zu senken, das wäre der falsche Ansatzpunkt. Die SPD würde wieder auf ganzer Linie versagen. Nehmen Sie doch einen anderen Vorschlag der CDU auf. CDA-Präsident Lamers hat gestern gesagt, wir bräuchten einen höheren Mindestlohn. Seien Sie doch bereit, die Grundrente herzugeben für die Umsetzung der Forderung der CDU nach einem höheren Mindestlohn. Damit wäre dem Land sehr gedient. Vielen Dank. ({18})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Katharina Dröge für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Katharina Dröge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004263, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich kann mich Herrn Ulrich anschließen. Auch ich finde das Desinteresse, das Herr Altmaier an dieser Debatte zeigt, angesichts der Situation, in der sich die deutsche Wirtschaft befindet, erstaunlich. ({0}) Ich finde es nicht nur unhöflich uns gegenüber – daran haben wir uns mittlerweile gewöhnt –, ich finde es auch respektlos der deutschen Wirtschaft gegenüber, die gerade in dieser schwierigen Zeit Antworten von einem Wirtschaftsminister verlangt und wissen möchte, wie der Zukunftsplan des Wirtschaftsministers aussieht. ({1}) Herr Lenz, Herr Westphal, wir können darüber streiten, was nächstes Jahr bei der Entwicklung der Wirtschaft passieren wird. Ehrlich gesagt kann uns kein Wirtschaftsforschungsinstitut momentan seriös darüber Auskunft geben. ({2}) Fakt ist aber: Die Wirtschaft ist momentan in einem Abschwung. Fakt ist aber: Die Industrie ist jetzt schon in der Rezession. Fakt ist aber: Die Unsicherheiten sind extrem hoch. ({3}) Angesichts dessen bräuchte es eine Politik, die Vertrauen schafft, eine Politik, die Stabilität verspricht, und eine Politik, die einen Zukunftsplan hat. Leider – und das ist die Bilanz Ihrer Regierungszeit – gibt es all das momentan nicht. Es gibt keine langfristige Planung, Sie haben keine Zukunftsperspektive, und es gibt auch keine Stabilität. Das Chaos, das Sie allein mit dem Klimapaket angerichtet haben, die schlampige Gesetzgebung, über die sich die gesamte Wirtschaft beschwert, sind das Gegenteil von zukunftsfähiger Politik. ({4}) Aber was Ihnen fehlt, ist nicht nur, eine gute Politik zu machen, Ihnen fehlt es auch an der richtigen Analyse. Das finde ich wirklich fatal. Keiner in dieser Debatte hat bislang die strukturellen Herausforderungen, vor denen unsere Wirtschaft steht, konkret benannt. Wenn man sich die großen Industriebranchen ansieht – Automobil, Stahl und Chemie –, dann erkennt man, dass sie momentan vor massiven Transformationsprozessen stehen. Das liegt insbesondere an einem megaharten globalen Wettbewerb, an Staatsdumping, an Überkapazitäten auf den Märkten. Da bedürfte es einer Politik, die klar auf die Anwendung von Handelsschutzinstrumenten setzt, auf die Anwendung des Beihilferechtes setzt, auf die Anwendung des Vergaberechts, um die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland sicherzustellen. ({5}) Dazu keine Vorschläge von Ihnen! Zusätzlich bedürfte es jetzt einer Innovationsperspektive für dieses Land. ({6}) Selten war die Richtung für Innovation so klar. Die Klimakrise schreitet mit brutaler Geschwindigkeit voran. ({7}) Es ist keine Frage des Ob, es ist nur eine Frage des Wann, bis die ganze Welt Technologien nachfragen wird, die eine klimaneutrale Produktion ermöglichen. ({8}) Herr Theurer, Sie haben eben von Technology of Future oder so ähnlich gesprochen. Da stimmen wir Ihnen zu. Die Technologien, die wir hier in Deutschland entwickeln, können die Lösung für die ganze Welt sein. Aber es braucht eine Politik, die auch Absatzmärkte schafft, es braucht eine Politik, die diese Investitionen auch möglich macht. ({9}) Das, wovon Sie immer erzählen, der Staat solle sich heraushalten und technologieoffen in alle Richtungen sein, hilft keinem deutschen Großkonzern. ({10}) Wenn Sie mit Thyssenkrupp reden, wenn Sie mit der Chemieindustrie reden, wenn Sie mit der Automobilindustrie reden, dann sagen Ihnen alle: Sie müssen die politischen Instrumente in die Hand nehmen, Ordnungspolitik machen, Förderpolitik machen, damit wir wissen, dass klimaneutraler Stahl auf dem Markt auch gekauft wird, dass sich eine Investition in wasserstoffbasierte Technologie in der Chemieindustrie lohnt. Wenn Sie diese Weichenstellungen nicht vornehmen werden, dann werden die Unternehmen nicht investieren. All diese Technologien sind vorhanden. Wenn wir es nicht schaffen, dieses Land zu transformieren, dann ist das kein Versagen der deutschen Wirtschaft, sondern ein Versagen Ihrer Politik. ({11})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Dr. Matthias Heider. ({0})

Dr. Matthias Heider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004051, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Frau Kollegin Dröge, wenn man die Forderungen, die Sie hier aufmachen, in einem Atemzug mit Wettbewerbsfähigkeit zusammenbringt, dann bleibt es das Geheimnis der Grünen, wie das funktionieren soll. Ich kann da keine gemeinsamen Punkte mit Wettbewerbsfähigkeit erkennen. ({0}) Meine Damen und Herren, wir sind in Deutschland geneigt, über unsere Wettbewerbsfähigkeit erst dann nachzudenken, wenn uns ein äußerer Druck dazu veranlasst. So ist es gewiss auch kein Zufall, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, dass Sie gerade jetzt mit einem solchen Antrag um die Ecke kommen, wenn die ersten, sagen wir, hellgrauen Wolken am Konjunkturhimmel erkennbar sind. ({1}) Wir sollten jedoch nicht nur dann über Wettbewerbsfähigkeit und Konjunkturschwankungen nachdenken, wenn es einen aktuellen Anlass gibt und sich eine Eintrübung zeigt, wir sollten – und das ist meine dringende Forderung – eigentlich ständig über Reformen sprechen, die unsere Wettbewerbsfähigkeit an unserem Wirtschaftsstandort verbessern. ({2}) Das müssten alle an der Gesellschaft Beteiligten machen, nicht nur das Parlament, sondern auch die Tarifpartner, die zum Beispiel dazugehören, und alle anderen auch. Insofern sage ich in Richtung der Liberalen: Es ist ein schöner Text, den Sie da aufgeschrieben haben. ({3}) Es ist schön, dass Sie aufs Tempo drücken. Schöner wäre es aber gewesen, wenn Sie Ihre PS auch auf die Straße gebracht hätten. ({4}) Sie wissen, das geht nur, wenn man im Fahrzeug sitzt, wenn man Teil der Regierung ist. Ich weiß, Sie hören das an dieser Stelle nicht gerne, aber ich sage es trotzdem: Motorengeräusche zu machen, das reicht nicht, man muss auch mitfahren wollen. Das ist der eigentliche Punkt. ({5}) Sehen wir uns einmal einige Felder an. Es gibt durchaus viele Gemeinsamkeiten für die Anhänger der sozialen Marktwirtschaft. Dazu gehört zuerst das Feld des Unternehmensteuerrechts. Weltweit gehen die Steuersätze zurück. So wurde die Körperschaftsteuer in den USA auf 21 Prozent gesenkt, während in den europäischen Nachbarländern die Steuersätze für Unternehmen bei knapp 25 Prozent liegen. Selbst in Frankreich – ich schaue einmal auf die linke Seite – hat man gesehen, dass das sozialistische Höchststeuerexperiment von François Hollande nicht gerade die Wettbewerbsfähigkeit gefördert hat, sondern dass es eine gigantische Belastung für alle Unternehmen gewesen ist und Frankreich in seinem Fortkommen erheblich behindert hat. Meine Damen und Herren, in Deutschland werden Körperschaften unterdessen weiterhin mit 32 Prozent belastet. Für Personengesellschaften sind es sogar 45 Prozent. ({6}) Damit liegen wir weltweit im absoluten Spitzenbereich. Es wird höchste Zeit, dass wir den Wirtschaftsstandort Deutschland und unsere Unternehmen entlasten. Wie Sie wissen, arbeiten wir an einem solchen Konzept. Ich glaube, dass die Zeit wirklich dafür reif ist. ({7}) Auch beim Thema Außenhandel müssen wir deutlich aktiver werden. Mit JEFTA, dem Freihandelsabkommen zwischen Japan und der Europäischen Union, das seit dem 1. Februar gilt, haben wir einen wichtigen Schritt getan. Wir verbinden 125 Millionen Menschen in Japan mit 500 Millionen Europäern. Von einem Markt von solch einer Größe kann man Impulse erwarten. Ein gemeinsamer Markt mit den USA würde einen Wirtschaftsraum mit ungefähr 800 Millionen Bürgern bedeuten. Wenn es gelänge, das umzusetzen, könnten davon Impulse ausgehen, die dafür sorgen, dass wir weltweit auch bei der Wettbewerbsfähigkeit gegenüber China einen großen Schritt vorankommen. Meine Damen und Herren, in einem für uns ganz wesentlichen Feld der Wettbewerbsfähigkeit sind wir sogar ein paar Schritte voraus. Die anderen Wirtschaftsplätze auf dieser Welt blicken hier auf uns. Wir haben vor, das Wettbewerbsrecht zu revolutionieren. Wir wollen verhindern, dass große Internetfirmen, die Gigatech-Firmen, die Märkte aufrollen und den Wettbewerb auf diesen Märkten empfindlich stören. Die ungeheure Datenmacht von digitalen Plattformen wie Google, Facebook, Amazon und anderen schafft Abhängigkeiten auf unseren Märkten. Ganze Wirtschaftsbereiche haben ein erhebliches Missbrauchspotenzial zu befürchten – leider zum Nachteil der kleinen und mittleren innovativen Unternehmen in Deutschland, die vorwiegend aus dem Mittelstand kommen. Die Studien weltweit und auch die Berichte unserer Kartellbehörden bestätigen uns, dass dort dringender Handlungsbedarf besteht. Für dieses Vorhaben wurde viel Vorarbeit geleistet. Es befindet sich gerade noch in der interministeriellen Abstimmung; in der Tat, das Rechts- und das Wirtschaftsministerium sollten sich hier ein bisschen beeilen. Das zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Am Mittwoch haben wir das Thema auch im Wirtschaftsausschuss angerissen. Dort sind wir von der FDP dafür kritisiert worden, dass wir diese Schritte jetzt sehr früh unternehmen. Da stehen Sie dann auf der Bremse. Wir müssen unseren Marktplatz aber gegen all diese Einwirkungen befestigen; denn ansonsten werden wir gegenüber dem großen Marktplatz USA und den Marktplätzen in Asien das Nachsehen haben. Meine Damen und Herren, wir müssen mit Blick auf den deutschen Mittelstand verhindern, dass eine solche Situation eintritt. ({8}) Zum Thema Klimaschutz ist schon einiges gesagt worden. Sie sollten mal bedenken, dass wir weltweit die Einzigen sind, die den Ausstieg aus der Atomenergie sowie der Steinkohle- und Braunkohleverstromung gleichzeitig organisieren, aber eine immer noch ordentlich laufende Wirtschaft haben. Sie müssten mir einmal zeigen, welches andere Land auf der Welt das macht. ({9}) Wettbewerbsfähigkeit müssen wir mit sozialer Verantwortung verbinden; Kollege Westphal hat darauf hingewiesen. Wir dürfen nicht nur absolute Ziele verfolgen, sondern soziale Rücksicht und wirtschaftliche Vernunft müssen auch eine Rolle spielen. ({10}) Das kann diese Koalition übrigens besonders gut. Ich finde, das Ergebnis auch bei der CO2-Bepreisung kann sich sehen lassen. ({11}) Es ist ein marktwirtschaftliches Instrument und keine Steuer, die da vorgesehen ist. Das ist von daher der richtige Weg, meine Damen und Herren. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({12})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Hansjörg Müller für die Fraktion der AfD. ({0})

Hansjörg Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004831, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir machen jetzt ein Ratespiel. Ich lese einige Sätze vor, und Sie werden dann erraten, ({0}) was aus dem FDP-Antrag ist und was die Forderungen der AfD sind. ({1}) Erstes Ratespiel: Synthetische Kraftstoffe und E-Mobilität sind steuerlich gleichzustellen. – Oder: … die Diskriminierung von Wasserstoff und synthetischen Kraftstoffen gegenüber batterieelektrischen Antrieben (ist) zu beenden. Was davon war FDP, und was war AfD? Kommen wir zum zweiten Ratespiel: Auf einen teuren und klimapolitisch fragwürdigen Kohleausstieg zu verzichten, der im europäischen Emissionshandel ohnehin bereits angelegt ist. Oder: Beim Kohleausstieg keine weiteren planwirtschaftlichen Eingriffe in den Energiemarkt vorzunehmen, sondern stattdessen die Marktmechanismen des Europäischen Emissionshandels … zu nutzen … Welche Formulierungen sind aus dem aktuellen Antrag der FDP, und welche sind grundsätzliche Forderungen der AfD? ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, es ist höchste Zeit, dass Sie sich von Ihrem eigenen Antrag distanzieren; sonst zeigen Sie noch viel zu viel Nähe zur Programmatik der AfD. ({3}) Sie kommen auch noch dran, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. Sie lächeln ja schon in froher Erwartung. Sie sprechen in Ihrem Antrag von einer – ich zitiere – rückwärtsgerichteten Energiepolitik der Bundesregierung. ({4}) – Ein Hörgerät habe ich noch nicht. Wie bitte? ({5}) Die Grünen betreiben also angeblich eine nach vorne gerichtete Energiepolitik. ({6}) Denkt doch bitte einmal an die gefälschte Weissagung der Cree-Indianer – ihr als Umweltaktivisten müsst die ja kennen –: Erst wenn das letzte Kraftwerk abgeschaltet ist und die letzte Wohnung unbeheizt bleibt, werdet ihr feststellen, dass wir alle wieder, und zwar von allen Fraktionen, am Lagerfeuer hocken und in Höhlen sitzen, so wie in der Steinzeit. ({7}) Ich kann nur konstatieren, dass dieser sogenannte Antrag einen planwirtschaftlichen Unfug nach dem anderen enthält. ({8}) In Wahrheit liest er sich wie der feuchte Traum von Bomber-Harris. Ich möchte mit einem Zitat aus der Literatur schließen. Vieles ist natürlich im links-grünen Bildungssystem kaputtgemacht worden, aber vielleicht lernt doch noch jemand Gedichte. Also, ihr von den Grünen macht Umweltpolitik nach Heinrich Heine: Franzosen und Russen gehört das Land. Das Meer gehört den Briten … Wir aber besitzen im Luftreich des Traums – die Herrschaft unbestritten. Danke. ({9})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Johann Saathoff für die Fraktion der SPD. ({0})

Johann Saathoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004393, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich wollten die Antragsteller heute eine Debatte führen über eine Rezession, über einen Abschwung der deutschen Wirtschaft. Die Ausgangslage für die negative Stimmung war aufgrund der Nachrichtenlage der letzten Woche auch entsprechend, sodass dieser Antrag vorbereitet wurde. Es gab globale Handelsstreitigkeiten. Es gab eine geringere Wirtschaftsleistung Chinas. Es gab die Dieselkrise. ({0}) Fast keine Woche der letzten Monate verging ohne irgendeine Hiobsbotschaft oder irgendeine Gewinnwarnung. So war zu erwarten, dass die sogenannten Wirtschaftsweisen diese Woche einen Abschwung der deutschen Wirtschaft verkünden. Somit war auch der Arbeitstitel des FDP-Antrags klar. Der ursprüngliche Titel lautete: Zehn Punkte gegen den Abschwung. Jetzt wurde in dieser Woche ein Wirtschaftswachstum von 0,5 Prozent in diesem Jahr und – aufsteigend – 0,9 Prozent im nächsten Jahr prognostiziert. Dadurch ist natürlich nichts mehr mit Punkten gegen den Abschwung. Prompt hat sich der Titel geändert. Jetzt heißt der Antrag: Tempo für Deutschland. ({1}) Dieser Antrag, meine Damen und Herren, umfasst jetzt nicht mehr 10 Punkte, sondern 20 Punkte. Bei zwei Punkten stimmen wir von der Sozialdemokratie Ihnen zu. Planungsrecht vereinfachen: Da gibt es bereits ganz viele Bereiche, ({2}) wo wir sagen: Da wollen wir miteinander weiter vorangehen. Bei der Vereinfachung des Vergaberechts sind wir auf Ihrer Seite und sagen: Wir haben gute Erfahrungen mit dem Konjunkturpaket II gemacht, in dessen Rahmen wir Kommunen die Möglichkeit gegeben haben, einfacher ins Vergaberecht einzusteigen. Bei einem anderen Punkt – damit sind es sogar drei Punkte – würden wir vielleicht auch noch mitmachen, nämlich beim Bürokratieabbau. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, ich verstehe wirklich nicht, warum Sie beim Punkt Bürokratieabbau die Reduzierung der Aufbewahrungsfristen von zehn auf fünf Jahre ins Zentrum stellen ({3}) und behaupten, dass es dadurch weniger Bürokratie gibt. Das erschließt sich mir einfach nicht. Der Bundesfinanzminister hat kürzlich darauf hingewiesen: Deutschland ist gut gerüstet für die konjunkturellen Herausforderungen der nächsten Jahre. Was, liebe Kolleginnen und Kollegen, brauchen wir denn in Deutschland? Wir brauchen in Deutschland öffentliche Investitionen in Infrastruktur und in Innovationen; mein Kollege Bernd Westphal hat eindrücklich darauf hingewiesen, und er hat auch darauf hingewiesen, wo wir das schon überall machen. Wir brauchen in Deutschland eine Antwort auf den Fachkräftemangel. Interessanterweise wird das in keinem der beiden Anträge mit nur einem Wort erwähnt. Gut, dass wir im Sommer ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz beschlossen haben. Das kann man, finde ich, an dieser Stelle mal erwähnen. ({4}) Wir brauchen in Deutschland Investitionen in Bildung für Menschen, die in Arbeit sind, und für Menschen, die Arbeit suchen, aber auch für die jungen Menschen, die wir später mal in der Wirtschaft bitter brauchen werden. Gut, dass wir Vorsorge getroffen haben mit dem Gute-KiTa-Gesetz und mit dem DigitalPakt Schule, wo wir 5 Milliarden Euro – einmalig in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland – in die Schulen transferiert haben. ({5}) Wir brauchen in Deutschland Sicherheit im Alltag. Gut, dass die Grundrente kommt. Und wir brauchen in Deutschland eine Vorstellung von Industriepolitik der Zukunft. Dazu gibt es jetzt einen ersten Entwurf von Herrn Altmaier. Ich würde mal sagen, es ist ein erster Aufschlag; so wollen wir ihn mal bezeichnen. Er will einen starken Staat. Das sehen wir auch so. In diesen schwierigen Zeiten darf man nichts der Zukunft überlassen. Aber der Bundeswirtschaftsminister hat auch einige Schlüsseltechnologien genannt. Darüber freuen wir uns. Das finden wir gut. Zum Beispiel die Luft- und Raumfahrttechnik, zweifelsfrei eine Schlüsseltechnologie. Er hat aber auch einige wichtige Bereiche nicht genannt: den Schiffbau zum Beispiel; das ist nämlich eine genauso wichtige Schlüsseltechnologie. ({6}) Wir hätten uns als Sozialdemokraten auch gewünscht, dass die betriebliche Mitbestimmung, also die gelebte Sozialpartnerschaft, als Schlüssel für erfolgreiche Unternehmensentwicklung im Zentrum dieser Strategie steht und nicht irgendwo am Rande bzw. gar nicht erwähnt wird. Die FDP will den Solidaritätszuschlag komplett abschaffen. Die Abschaffung des Solis für die letzten 10 Prozent, also für die Reichen, kostet 11 Milliarden Euro. ({7}) Die Grundrente, für Hundertausende Menschen von existenzieller Bedeutung, kostet 3,8 Milliarden Euro, also deutlich weniger als die Hälfte. ({8}) Sie wollen den Reichen 10 Milliarden Euro schenken, ({9}) den Bedürftigen aber nicht mal die Hälfte davon gönnen. Wir wollen genau das Gegenteil. ({10}) Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, es ist gut, dass die Menschen jetzt wissen, wer welche Position hat, damit sie das entsprechend einordnen können. Die FDP will auf den Kohleausstieg verzichten. Wir wollen das nicht. Nicht mal die Industrie will das. Es ist ein breit aufgestellter Konsens, der da erfolgt ist, und dieser Konsens darf nicht infrage gestellt werden. ({11}) Nebenbei bemerkt gibt es viele junge Menschen, die wollen, dass die Kohleverstromung noch vor 2038 endet, ({12}) weil sie sich Sorgen um ihre Zukunft machen. ({13}) Das sind Menschen, denen der FDP-Vorsitzende die Qualifikation dazu abredet. Dementsprechend ist natürlich folgerichtig, dass die FDP auf den Kohleausstieg verzichten will. Die energiepolitischen Ziele der FDP waren ja schon immer, sage ich mal, einigermaßen überschaubar. Immerhin haben Sie heute mal auf die Renaissance der Atomkraft verzichtet. Dafür sind wir Ihnen dankbar. ({14}) Überhaupt frage ich mich angesichts der völlig unterschiedlichen Anträge von Grünen und FDP, wie wohl Ihre Halbzeitbilanz ausgesehen hätte, wenn Sie sich getraut hätten, mit der CDU zusammen zu regieren. ({15}) Meine Damen und Herren, der Antrag heißt „Tempo für Deutschland“. Manchmal habe ich mich bei der Lektüre gefragt, ob es nicht eher „Tempotaschentücher für die FDP“ heißen müsste. ({16}) Der Wirtschaft in Deutschland geht es trotz der vielen Unkenrufe nach wie vor gut. Es gibt keinen Abschwung. Wir müssen uns allerdings um die weitere Entwicklung bemühen. Wir müssen wach sein für die weitere Entwicklung. ({17}) Aber es gibt keinen Grund, die Wirtschaft in eine Krise zu reden, um sich selber zu profilieren. In Ostfriesland würde man dazu sagen: ({18}) Wenn’t Muus satt is, is Mehl bitter. Herzlichen Dank. ({19})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Bettina Stark-Watzinger für die Fraktion der FDP. ({0})

Bettina Stark-Watzinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004902, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe befürchtet, dass es so weitergeht wie in der Zwischenbilanz, bei der sich die GroKo selber ein exzellentes Zeugnis ausgestellt hat. Ich vertraue eher auf eine externe Begutachtung, und der Sachverständigenrat hat es Ihnen ins Gebetbuch geschrieben: ({0}) Der Aufschwung ist zu Ende. Wir haben weniger Unternehmensgründungen, und wir haben mehr Unternehmensschließungen. Die Menschen haben in vielen Regionen Deutschlands Sorge um ihren Arbeitsplatz. Sie erleben, dass sie im ländlichen Raum nicht an das digitale Nervensystem der Zukunft angeschlossen sind, und sie sehen, dass große Vorhaben in diesem Land keine Chance mehr haben, umgesetzt zu werden, oder bereits veraltet sind, wenn sie umgesetzt sind. In meinem Heimatland Hessen wurde die A 44 als Projekt der Wiedervereinigung beschlossen, ist aber auch nach 30 Jahren nicht fertiggestellt. Dann stellt sich diese Regierung hin und sagt, alles sei in Ordnung und nichts müsse passieren? Wenn Sie uns hier das Abhaken von Klein-klein-Boxen aus Ihrem Koalitionsvertrag präsentieren, dann ist das eigentlich Arbeitsverweigerung. ({1}) Was wir in diesem Land brauchen, sind wieder die großen Ziele, nicht Brandkessel alleine. Das mag sinnvoll sein, aber wir brauchen die großen Ziele, damit die Menschen auch persönlich wirtschaftliches Vorankommen erleben. Da geht es nicht darum, dass der eine dem anderen etwas wegnimmt. Geben Sie Ihr statisches Verständnis von Wirtschaft auf. Es geht darum, dass alle Zugang zu Wohlstand und Wachstum haben. ({2}) Ich möchte drei Punkte ansprechen: Punkt eins: Innovationsfähigkeit. Der Wohlstand in einer Volkswirtschaft hängt von ihrer Innovationsfähigkeit ab. Emmanuel Macron macht es uns vor, während wir hier noch debattieren. Er hat es sich zum Ziel gesetzt, bis 2025 25 Unicorns anzusiedeln. Was sagen die Zahlen? Im ersten Halbjahr 2019 gab es so viel Wagniskapital wie noch nie in Europa. Aber es fließt nicht nach Deutschland, sondern es fließt nach London, und es fließt nach Berlin. ({3}) Nutzen wir die Chance und bauen wir in der Zwischenzeit eine vitale Gründerszene in unserem Land auf. Dafür brauchen wir einen Zukunftsfonds für Wagniskapital, damit mehr Kapital das Wachstum von Start-ups finanziert. ({4}) Weil Innovation auch nicht von Ihnen geplant werden kann, sondern ständig funktioniert, brauchen wir Freiheitszonen, in denen neue Ideen wachsen können, frei von bürokratischer Belastung, die in unserem Land viel zu stark ausgeprägt ist. ({5}) Punkt zwei. Wir brauchen Tempo bei der Entlastung für Investitionen, bei der Abschaffung des Solidaritätszuschlags und bei der Unternehmensteuerreform. ({6}) Zehnmal versprochen und nie geschafft! Der Steuerstillstand bedroht unser Land. Wir brauchen die Abschaffung des Solis, und wir brauchen ein modernes Unternehmensteuerrecht mit einer maximalen Steuerbelastung von 25 Prozent, meine Damen und Herren. ({7}) Mein dritter und letzter Punkt: Tempo für solide Finanzen. Dieser Sozialstaat kennt im Augenblick nur die Gegenwart. Was ist eigentlich mit dem Respekt vor den zukünftigen Generationen? ({8}) Wie erklären Sie diesen Generationen, dass Sie heute eine Grundrente beschließen, ({9}) die Milliarden kostet, die sie belasten wird, ohne die Altersarmut richtig zu bekämpfen? Wir brauchen eine Schuldenbremse, die klarstellt, dass versicherungsfremde Leistungen sachgerecht über Steuern finanziert werden und dass Firmen nicht genutzt werden, um den Bundeshaushalt zu umgehen. ({10}) Deutschland ist ein starkes Land. Wir haben Chancen und Risiken. Wir haben kluge Menschen. Wir haben es in der Hand, zu bestimmen, was aus diesem Land wird. Wir sind jetzt verantwortlich für das, was in der Zukunft geschieht. Machen wir Tempo für Deutschland. ({11})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Dieter Janecek für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dieter Janecek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004312, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Das eine Signal in dieser Diskussion ist ja, dass der Wirtschaftsminister Altmaier seine Wertschätzung durch Nichtanwesenheit ausdrückt. Das andere Signal ist – das will ich Ihnen sagen –: Herr Theurer von der FDP hat diesen Antrag eingebracht, hat sich danach in die fünfte Reihe gesetzt und ist jetzt nicht mehr anwesend. Auch das ist keine Wertschätzung des Parlaments, des Deutschen Bundestages, wenn wir über Wirtschaftspolitik reden wollen. ({0}) Der Klimawandel ist das größte Marktversagen, das die Welt je gesehen hat. – Das hat der liberale Ökonom Sir Nicholas Stern 2006 gesagt, und nicht erst seit 2006 ist das die Marschroute für grüne Wirtschaftspolitik. Herr Heider, wenn Sie sagen, die CO2-Bepreisung von 10 Euro, die Sie da an die Wand gemalt haben, wäre etwas Progressives, dann sage ich Ihnen: Da stimmt Ihnen der Präsident des größten europäischen Industrieverbandes, des VDMA, Herr Welcker, nicht zu. Der hat von 100 Euro als angemessenen Preis gesprochen; den halten nicht mal wir Grüne für realistisch. Aber die Industrie denkt da deutlich progressiver als Sie. Sie geben ihr keinen ökologischen Rahmen, ({1}) und deswegen kommt es auch nicht zu Innovationen. ({2}) Um was geht es denn jetzt? Wir sind als ein Industrieland, in dem die Industrie – Automobilindustrie, Stahlindustrie, chemische Industrie, Zementwerke – 23 Prozent Anteil an der Gesamtwirtschaftsleistung hat, in der Pflicht, hier den Transformationsrahmen entschlossen so zu setzen, dass die deutsche Industrie sich wandeln kann. Dazu brauchen wir eine CO2-Bepreisung. Dazu brauchen wir aber auch Investitionen in CO2-freie Industrieprozesse. Dafür brauchen wir bessere Abschreibungsmöglichkeiten. Dafür brauchen wir Leuchtturmprojekte. Wir müssen jetzt durchstarten, damit all das, was Sie in Ihrem Antrag versprechen, das klimaneutrale Flugzeug, das wasserstoffbetriebene Stahlwerk, möglich werden kann. Aber wo sind da die Konzepte der FDP? ({3}) Was Ihnen da einfällt, ist das Flugtaxi. Das hat ja die Kollegin Doro Bär in die Diskussion eingeführt. Ich bin ein Freund von Flugtaxis. Das ist eine interessante Technologie. Aber, mit Verlaub, damit wird keine Verkehrs- und Mobilitätswende bewirkt. ({4}) Roland Berger sagt: Im Jahr 2030 gibt es auf der ganzen Welt 100 000 davon. – Wenn Sie das jetzt sozusagen als Innovationsmotor Nummer eins nennen, dann gute Nacht, Deutschland! ({5}) Sie schreiben dann in Ihrem Antrag, dass Sie den Kohleausstieg in Deutschland nicht wollen. ({6}) Die AfD hat vorhin gesagt: Die Lichter gehen aus, wenn man die Kraftwerke ausschaltet. – Die Lichter gehen an, wenn man die Kohlekraftwerke ausschaltet, weil die erneuerbaren Energien auf den Markt kommen. ({7}) Sie liefern da nicht. Vielleicht haben Sie es nicht gemerkt, dass erneuerbare Energien bereits heute einen Anteil von 40 Prozent an der Stromversorgung haben. ({8}) Digitalisierung, künstliche Intelligenz – wir sind ein Land, das in diesen Feldern maximal im unteren Mittelfeld der Bundesliga mitspielt. Wir brauchen hier entschlossene Investitionen; da stimme ich dem Antrag der FDP explizit zu. Da sind wir mit der FDP auf demselben Kurs. Wir brauchen aber auch einen Markt für Breitband, der endlich realisiert, dass der Ausbau in der Fläche ankommt. Auch das ist ein Problem, das nicht gelöst wird. Wenn die Infrastruktur nicht kommt, dann wird Deutschland auch nicht zukunftsfähig. ({9}) Ganz zum Schluss möchte ich zum Thema „Automobilindustrie und Elektromobilität“ etwas sagen. Ich finde, das ist eine leidige Diskussion. Der Weltmarkt setzt das Zeichen für Elektromobilität; es sind nicht die Grünen, es sind nicht Umweltverbände. Der Markt setzt das Zeichen. ({10}) Es geht dann nicht an, sich hinzustellen und zu sagen: Wir müssen jetzt als Deutschland das einzige Land der Welt sein, das einen anderen Weg geht. Wir müssen alles mit Wasserstoff machen oder den Diesel ins Grundgesetz schreiben. ({11}) Mit Verlaub, wenn die gesamte Strommenge für den Mobilitätssektor durch Wasserstoff erzeugt werden soll, dann brauchen Sie ein Vielfaches der Energie, die heute produziert wird. Wo soll die denn herkommen? Das ist auch keine zukunftsgerichtete Wirtschaftspolitik. Die finden Sie in unserem Antrag. Vielen Dank. ({12})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Klaus-Peter Willsch für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Klaus Peter Willsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003264, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Ich habe mir in Vorbereitung zu dieser Rede natürlich den Antrag der FDP durchgelesen: ({0}) So weit, so gut. Dann habe ich mich durch den Antrag der Grünen gekämpft, muss man sagen: So weit, so schlecht. Beide Anträge zeichnen aber ein zu düsteres Bild der Lage unseres Landes und unserer Wirtschaft. Es gibt immer viel zu tun – gar keine Frage. Aber ganz so schlimm, wie dargestellt, ist es nun auch nicht. Ich will kurz auf einige Punkte eingehen. Frau Stark-Watzinger, Sie haben vorhin die Absenkung des Körperschaftsteuersatzes von 15 auf höchstens 12,5 Prozent angesprochen, um international wieder wettbewerbsfähig zu werden. Das streben wir mit an. Ich freue mich, dass wir Sie jetzt schon auf unserer Seite zählen können, ({1}) wenn wir uns damit auch innerhalb der Koalition durchsetzen. Unsere AG Finanzen arbeitet gerade an einer Reform des Unternehmensteuerrechts. Wir haben hierzu am Dienstag als Fraktion ein Positionspapier beschlossen. Der Gesetzentwurf kommt nach der Einigung in der Koalition, lieber Frank Schäffler. Sie sollten aber zunächst unsere Position zur Kenntnis nehmen. Dort heißt es: Wenn wir die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft erhalten wollen, ist die Modernisierung des deutschen Unternehmensteuerrechts dafür eine der wesentlichen Grundlagen. Schließlich spielt die steuerliche Belastung eines Unternehmens eine wesentliche Rolle bei internationalen Standort- und Investitionsentscheidungen. Das ist das, was wir als CDU/CSU-Fraktion wollen. Wir haben natürlich im Vergleich zu anderen Ländern in Europa eine zu hohe Belastung der deutschen Unternehmen. Wenn Sie den Solidaritätszuschlag mit einrechnen und die Gewerbesteuer auch, sind wir bei 30 bis 35 Prozent für die Kapitalgesellschaften und bei Personengesellschaften bei 45 Prozent. Das ist zu viel. Von diesem Niveau müssen wir herunterkommen, wenn wir unserer Wirtschaft nicht unnötige Fesseln anlegen wollen. ({2}) Wir haben vor, die Steuerbelastung von Kapital- und Personengesellschaften für nicht ausgeschüttete Gewinne bei maximal 25 Prozent zu deckeln. Das ist ein Wort. Die Körperschaftsteuer würden wir gern auf 10 Prozent absenken und den Solidaritätszuschlag ganz abschaffen. Die Gewerbesteueranrechnung wollen wir weiterentwickeln. Das ist CDU/CSU pur. Das ist das, wofür wir stehen und wofür wir in der Koalition um Mehrheiten werben. Wir haben hohe Arbeitskosten und sehr hohe Energiekosten; da ist Deutschland an der Spitze, weil wir hier mit Mehrheit beschlossen haben, gleichzeitig aus der Kohle- und Atomenergie auszusteigen, und diesen industriepolitischen Feldversuch mit 80 Millionen Probanden nun mutig angehen. Wir haben neben diesen Belastungen trotzdem Möglichkeiten als Gesetzgeber, immer wieder die Qualität zu sichern und fortzuschreiben. Wir haben die Evaluation der Handwerksordnung genutzt, um zwölf Handwerksberufe wieder auf die Liste zu setzen. Hier wird wieder ordentlich gearbeitet; hier wird in Zukunft auch ausgebildet werden. Das ist ein Erfolg. Ob Fliesenleger, Raumausstatter, viele haben uns bedrängt und gesagt: Führt hier wieder die Meisterpflicht ein, damit wir Qualität sichern in der Ausbildung und für den Verbraucher, der die Leistung des Handwerkers nachfragt. ({3}) Ich will schließlich noch einen Punkt ansprechen, dem heute besondere Aktualität zukommt. Der Bundesrat wird heute das Bürokratieentlastungsgesetz verabschieden oder hat es vielleicht schon getan. Ich weiß nicht genau, wie weit sie sind mit ihrer Sitzung. Wir haben ein Entlastungsvolumen von 1,1 Milliarden Euro für die Wirtschaft auf den Weg gebracht. Wir haben dazu als Koalition in einem Entschließungsantrag deutlich gemacht, dass wir dort weiteren Bedarf sehen; denn es ist natürlich so, dass das eine Daueraufgabe bleibt. So heißt es dann auch dort: Bürokratieabbau bleibt eine Daueraufgabe. Daher wollen die Fraktionen der CDU/CSU und SPD in dieser Wahlperiode mögliche Inhalte für ein weiteres Bürokratieentlastungsgesetz ausloten. Die Bundesregierung soll hierzu entsprechende Konsultationen zwischen den Ressorts einleiten. Ein Schwerpunkt soll sein, die Bürokratie- und Regulierungslasten – aufgemerkt! - für Gründer in der Start- und Wachstumsphase auf ein Mindestmaß zu reduzieren und Genehmigungsverfahren für private Bau- und Infrastrukturmaßnahmen zu beschleunigen. Ich freue mich, dass Sie uns bereits heute Ihre Unterstützung dafür zusagen. Wir werden gerne darauf zurückkommen. Ich komme noch kurz auf die Digitalisierung zu sprechen; Kollege Heider hat dazu heute Morgen schon etwas gesagt. Wir haben hier im Parlament bereits in der letzten Legislaturperiode den entscheidenden Schritt gemacht und befinden uns in der Umsetzung: Ich meine das Onlinezugangsgesetz. Wir verpflichten mit dem Onlinezugangsgesetz auch die Länder und Kommunen, ihre Verwaltungsportale in einem Portalverbund miteinander zu verknüpfen – Stichwort „Once-Only-Prinzip“ – und die Zugangsmöglichkeit für die Bürger und die Unternehmen damit herzustellen. Das ist ein wirklicher Sprung. Das wird einen Schub für Wirtschaft, Verwaltung und Bürger mit sich bringen. Darauf freuen wir uns. Wir wissen, dass es in verschiedenen Bereichen schon läuft. Wir sind sehr zuversichtlich, dass unsere hervorragende Verwaltung das auf allen Ebenen hinbekommen wird. Gleichwohl ist es so, wie es immer ist: Bürokratie wächst von selbst. Es wurde viel getan; es bleibt aber noch viel zu tun. Wir freuen uns über jeden, der da an unserer Seite mitarbeitet. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.

Thomas Bareiß (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003734

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Der Deutschlandtourismus ist eine Erfolgsgeschichte, und zwar bereits im neunten Jahr. Die Zahlen des Jahres 2018 sind beeindruckend. Deutschland steht auch dieses Mal wieder auf Platz eins als Kulturreiseziel, auf Platz eins als Tagungs- und Kongressziel in Europa und weltweit auf Platz eins als Messeziel. Wir haben auch in der Kategorie Städteziele den ersten Platz erreicht. Wir stehen im Best Country Report 2018 auf dem dritten Platz und haben auch bei der Jugend eine sehr gute Positionierung – Platz eins – als bestes Reiseziel Europas. Wir sind bei der Nachfrage von 50 Nationen auf Platz eins gewählt worden. Sie sehen, dass der Tourismus in Deutschland sehr stark blüht und enormen Erfolg hat. Ich glaube, dass er mehr Wertschätzung auch durch Politik bekommen sollte. Die Tourismusbranche ist eine Branche, die sehr vielfältig und unterschiedlich geprägt ist, und deshalb bei uns in Berlin oft auch nicht so sichtbar ist. Dennoch ist sie eine wichtige Branche mit über 3 Millionen Beschäftigten, mehr als in allen anderen Branchen, die wir haben. Deshalb, glaube ich, sollte ein Dankeschön an all diejenigen gehen, die in dieser Branche so viel arbeiten, sich leidenschaftlich für unser Land einsetzen und damit eine Visitenkarte für unser Land sind. Danke schön an diejenigen, die diesen Erfolg ermöglicht haben. ({0}) Der Erfolg zeigt sich auch an der gestiegenen Zahl der Übernachtungen. Wir hatten im letzten Jahr 87,7 Millionen Übernachtungen von Gästen aus dem Ausland. Vor 15 Jahren waren es noch 40 Millionen Übernachtungen. Das ist eine enorme Steigerung. Für 2030 steuern wir das Ziel an, 125 Millionen Gäste aus dem Ausland bei uns zu beherbergen. Ich glaube, dass das Reisen in der heutigen Zeit wichtig ist. Gerade angesichts der morgigen Feierlichkeiten zum Jahrestag des Mauerfalls zeigt sich, dass Reisen heute ein Privileg ist, das jeder entsprechend nutzen kann. Reisen bedeutet Freiheit. Reisen muss für die Menschen möglich sein und bleiben. Reisen muss für jeden Geldbeutel machbar sein. Deshalb ist es unser großes Anliegen, das an alle Menschen in Deutschland zu adressieren. ({1}) Die Länder und Kommunen profitieren vom Tourismus. Die Wertschöpfung von über 105 Milliarden Euro, die in Deutschland erzielt wird, kommt nicht nur in den Städten, sondern auch auf dem Land an. Auch das ist eine ganz wichtige Botschaft. Mit der Förderung des Tourismus machen wir Strukturpolitik für alle Bereiche unseres Landes. Unser Land ist vielfältig, unser Land ist wunderschön und bietet viele sehr unterschiedliche Destinationen. Von Sylt, der Nordsee und der Ostsee im Norden bis Baden-Württemberg und Bayern im Süden unseres Landes gibt es so viele unterschiedliche Ausprägungen, die eine sehr gute Visitenkarte unseres Landes sind und Strahlkraft in die Wirtschaft hineintragen. Auch das hat der Tourismus in den letzten Jahren geschafft. In einem wirtschaftlichen Umfeld, das mittelständisch, von vielen kleinen und mittelständischen Unternehmen, die familiengeführt sind, geprägt ist, wird eine enorme Leistungsbereitschaft erzielt. Auch das muss die Politik, glaube ich, stärker honorieren. Deshalb wollen wir das in den nächsten Monaten ganz gezielt angehen und schauen, wo wir uns noch verbessern und unsere Wettbewerbsfähigkeit weiter stärken können. Deshalb wird die Tourismusstrategie ein ganz entscheidender Baustein dafür sein, dass der Tourismus in den nächsten Jahren und Jahrzehnten noch so erfolgreich ist. Die Strategie ist ein einmaliges Projekt. Wir haben so etwas im Bund noch nie gemacht. Bisher gab es in Deutschland nur regionale und landesspezifische Strategien. Das heißt, wir haben das Ganze immer sehr regional betrachtet. Aber ich glaube, dass es jetzt sehr wichtig ist, dass es sich diese Koalition zur Aufgabe gemacht hat, eine nationale Tourismusstrategie auf den Weg zu bringen und darin einerseits die Herausforderungen in den verschiedenen Bereichen zu beschreiben und andererseits zu sagen, was die Politik und die Branche gemeinsam tun können, damit wir in den nächsten Jahren weiterhin erfolgreich sind. Ich habe mich bewusst dafür entschieden, die Strategie in einem zweistufigen Verfahren zu entwickeln. Wir haben im April dieses Jahres ein Eckpunktepapier, das die großen Ziele der Tourismusstrategie enthielt, ins Kabinett eingebracht. Ich habe das extra eingefordert, weil ich alle Ressorts am Tisch haben wollte, damit sie diese großen Linien unterstützen. Aus diesem Eckpunktepapier folgen die Unterziele für die nächsten Monate. Danach wird es wieder eine Kabinettsbefassung geben. Ich glaube, dass dann noch einmal alle mitziehen müssen; denn das ist natürlich eine Querschnittsaufgabe, die viele Bereiche betrifft. ({2}) Es geht darum, dass wir die inländische Wertschöpfung in den nächsten Jahren steigern, dass wir die Lebensqualität der deutschen bzw. der inländischen Bevölkerung stetig ausbauen. Wir müssen den Tourismus als einen Teil der internationalen Sicherheit und Stabilität verstehen. Das zeichnet den Tourismus noch einmal in besonderer Weise aus. Mir ist wichtig, dass die Branche in den nächsten Jahren erfolgreich ist. Deshalb muss diese Strategie, diese Gesamtkonzeption, auch gemeinsam mit der Branche erarbeitet werden. Ein wichtiger Schwerpunkt muss deshalb in den nächsten Monaten darauf gelegt werden, die Branche einzubinden, die Länder und Regionen einzubinden und dann eine Gesamtstrategie zu finden, die alle entsprechend berücksichtigt und große Akzeptanz findet. Das werden wir in den nächsten Monaten sehr intensiv verfolgen. Die Tourismusstrategie wird dann im nächsten Sommer oder Herbst vorgelegt werden. Ich weiß, manche sind etwas forscher und wollen etwas schneller vorankommen. ({3}) Manchmal habe ich auch diesen Drang wie manche Kollegen hier im Haus, die das nachher wahrscheinlich noch sagen werden. Ich sage aber: Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit. Ich glaube, wir brauchen eine Strategie, die langfristig trägt. Wir haben große Themen vor uns, und wir entwerfen eine solche Strategie zum ersten Mal. Diese soll für die nächsten zehn Jahre gelten. Insofern fallen eineinhalb Jahre nicht so sehr ins Gewicht. ({4}) Ich freue mich auch, dass wir während der Entwicklung der Strategie bereits weitere Erfolge im Bereich des Tourismus erzielt haben. Auch die Bürokratieentlastung – darin sind Sie ja in den letzten Wochen auch eingebunden gewesen – ist ein richtig großer Erfolg für unsere Hoteliers. Wir haben es geschafft, dass am Empfang, beim Check-in, in einem Hotel die Meldescheine nicht mehr analog ausgefüllt werden müssen, sondern jetzt auch digital ausgefüllt werden können. Das ist ein Erfolg. ({5}) Wir reden von 150 Millionen Meldescheinen pro Jahr, die wegfallen können. ({6}) Das sind laut Branche 100 Millionen Euro, die die Branche einsparen kann. Ich glaube, das ist ein großartiger Erfolg, der zeigt, dass Bürokratie abgebaut werden kann. Das gibt einer Branche, die mit den Menschen arbeitet und mit Leidenschaft arbeitet und sich dabei nicht mit Bürokratie befassen will, etwas mehr Freiraum. Insofern war das ein ganz wichtiger Baustein. Ich freue mich darüber hinaus, dass wir jetzt in Bezug auf die gewerbesteuerliche Hinzurechnung ein Urteil haben. Auch das ist ein wichtiges Thema für die Branche, das der Branche in den Wochen, in denen wir noch große Themen vor uns haben, langfristige Sicherheit gibt. In diesem Sinne: Dem Tourismus geht es gut. Ich glaube, wir haben die Weichen richtig gestellt. Ich freue mich jetzt auf die Debatte und auch auf Ihre Vorschläge, die wir dann entsprechend einbinden können. Vielen Dank. ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Sebastian Münzenmaier für die Fraktion der AfD. ({0})

Sebastian Münzenmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004836, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Lieber Herr Bareiß! Sie haben völlig recht: Die Tourismusbranche hat mehr Wertschätzung verdient. Deswegen begrüße ich ausdrücklich, dass wir heute Vormittag so ausführlich über Tourismus in diesem Haus debattieren. Schade finde ich aber, dass wir die Zeit nicht dafür nutzen, über das zu reden, was die Menschen beim Thema Tourismus aktuell wirklich bewegt; denn Tausende von Menschen da draußen wollen aktuell wissen, wie sie ihr Geld nach der Thomas-Cook-Pleite zurückbekommen. Die Regierungskoalition stellt sich hin und sagt: Wir reden lieber über eine unfertige nationale Tourismusstrategie. – Also Möchtegernpläne statt Lösung von realen Sorgen. So, meine Damen und Herren von Union und SPD, kann man auch klarmachen, wie wenig die Regierenden die Probleme der ganz normalen Menschen in diesem Land ernst nehmen. ({0}) Sie bewegt stattdessen beispielsweise – so steht es in Ihrem Antrag –, dass ein vom Bundesamt für Naturschutz geförderter Praxisleitfaden für Nachhaltigkeit weiterentwickelt wird. Das ist Ihrer Meinung nach also dringlich. Wenn die Menschen aber ihren Urlaub verlieren und das gezahlte Geld noch dazu, dann wird das Thema nicht vorgezogen, sondern muss weiter in der Schublade schlafen. Diese Ignoranz, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, ist genau der Grund, warum Ihnen bei den Wahlen die Menschen weglaufen. Aber gut, Sie haben das Thema der heutigen Debatte festgesetzt. Sprechen wir also über die nationale Tourismusstrategie. Die nationale Tourismusstrategie – das wissen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Ausschuss, alle – ist eine unendliche Geschichte. Sie handelt von zwei Regierungsparteien, die seit Konstituierung des Bundestages circa fünf Monate gebraucht haben, bis die Idee der nationalen Tourismusstrategie im Koalitionsvertrag überhaupt geboren wurde. Danach benötigte man weitere 15 Monate, bis man gewisse Eckpunkte der nationalen Tourismusstrategie zusammengezimmert hatte. Diese Eckpunkte bestehen und bestanden leider aber nur aus Worthülsen mit vielen Handlungsfeldern, aber ohne jeden konkreten Inhalt. Wer jetzt fragt, was in den einzelnen Handlungsfeldern konkret geschehen soll, der hört dann, dass dies im Rahmen eines breit angelegten Dialogprozesses zwischen Bund, Ländern und der Tourismuswirtschaft geklärt werden muss. Dieser Dialogprozess soll jetzt aber nicht etwa in den nächsten Wochen abgeschlossen sein, sodass wir dann endlich weiterarbeiten können, sondern dieser Dialogprozess soll in den kommenden Monaten starten. Angesichts dieses Schneckentempos der Bundesregierung haben Union und SPD anscheinend die Geduld verloren und einen eigenen Antrag mit immerhin 46 Forderungen an die eigene Regierung formuliert. ({1}) 46 Weckrufe von den eigenen Leuten, Herr Burkert, das ist keine dezente Kritik, das ist eine schallende politische Ohrfeige für die Bundesregierung wegen Untätigkeit im Amt. ({2}) Aber, Herr Donth, ich verstehe ja den Versuch der Koalition. Ich verstehe, dass Sie Ihre eigene Regierung antreiben wollen. ({3}) Schauen wir uns deswegen doch mal genauer an, was Sie da genau fordern. Als Erstes stellt man fest: Die meisten Punkte, die Sie fordern, sind so vage wie möglich. Da soll irgendwas geprüft, irgendwas beigetragen, irgendwas berücksichtigt werden, man soll sich einsetzen usw. Konkret wird es leider meistens nicht. Und über das Wie schweigt sich Ihr Antrag auch weitestgehend aus. Aber ich will nicht übertreiben. Ich wende mich gerne den wenigen konkreten Maßnahmen zu, die Sie in Ihrem Antrag benennen. Die Koordinierung der Tourismuspolitik soll zwischen den Ministerien der Bundesregierung verstärkt werden. Dafür will man einen Staatssekretärsausschuss einrichten. Das ist eine gute Idee, beseitigt hoffentlich das Zuständigkeitsgewirr im Tourismus, das momentan zwischen Ihren verschiedenen Ministerien herrscht. Aber, meine Damen und Herren da draußen an den Bildschirmen, ich frage Sie einmal. Was denken Sie denn: Welchen Stellenwert ordnet die Regierungskoalition dieser rein internen Maßnahme der Bundesregierung zu? Ob Sie es glauben oder nicht: Das ist die erste Forderung der Koalition zur Ausgestaltung einer nationalen Tourismusstrategie. Die wichtigste Forderung der Regierungskoalition an die eigene Bundesregierung lautet also: Räum endlich deinen eigenen Laden auf. Meine Damen und Herren, das finde ich bemerkenswert. ({4}) Was will die Koalition sonst noch so im Tourismus? Die Regierungskoalition setzt sich für eine stärkere Nutzung der Potenziale der Digitalisierung in der Tourismuswirtschaft ein. Das klingt sehr gut. Aber wie sieht denn die Realität aus? Vor wenigen Monaten hat meine Fraktion einen abgewogenen Antrag zur Digitalisierung der Geltendmachung von Fahr- und Fluggastrechten im Deutschen Bundestag eingebracht. Für Sie da draußen an den Bildschirmen: Wir wollten Ihnen ermöglichen, dass Sie bei einem Zugausfall oder bei einer Flugverspätung schnell und unkompliziert direkt vor Ort Ihre Ansprüche geltend machen können. ({5}) App und Smartphone statt Papierkrieg pur. ({6}) Glauben Sie, meine Damen und Herren, die Digitalisierungsfreunde von Union und SPD haben diesen Antrag unterstützt? Natürlich nicht. So viel ist also das Bekenntnis zur Digitalisierung im Tourismus tatsächlich wert, meine Damen und Herren. Nächstes Thema. Die Regierungskoalition fordert Maßnahmen für eine intensivere Nutzung des Potenzials und der Infrastruktur von Heilbädern und Kurorten. Auch das begrüßen wir; finden wir völlig richtig. Schade ist hier nur, dass die Bundesregierung gerade auf eine Kleine Anfrage unserer Fraktion erklärt hat, dass sie keine Pläne hat, um die Zahl der Übernachtungen in Heilbädern und Kurorten oder die Länge der Aufenthaltsdauer dort zu fördern. Keine Pläne! Was soll ich daraus lernen? Politiker von Union und SPD fordern im Parlament also etwas Richtiges, während Politiker derselben Parteien in der Bundesregierung öffentlich bekennen, dass sie diesbezüglich völlig planlos sind. Aber das schafft Vertrauen in Sie alle, meine Damen und Herren, und ich möchte gerne noch mit einem weiteren Thema daran anknüpfen. Sie fordern, den Ausbau der Barrierefreiheit weiter zu fördern und die bundesweite Einführung und Weiterentwicklung des Zertifizierungssystems „Reisen für Alle“ zu unterstützen. So weit, so gut. Wie passt es jetzt aber dazu, dass auf eine Kleine Anfrage von mir die Bundesregierung bekannt hat, dass sie nichts zur Rettung der wichtigsten Selbsthilfeorganisation der Behindertenverbände auf diesem Gebiet, nämlich des Vereins „Tourismus für Alle“, unternommen hat. Laut Aussage der Bundesregierung war eine weitere projektbezogene Zusammenarbeit mit diesem Verein nicht möglich, weil die Gewähr für eine gewissenhafte Geschäftsführung nicht mehr gegeben war. Das muss mich schon verwundern, wenn ich überlege, dass man seit 2010 insgesamt 17 Projekte mit dem Verein „Tourismus für Alle“ durchgeführt hat und man diese Projekte mit rund 900 000 Euro aus Steuermitteln gefördert hat. Und jetzt ist es plötzlich nach Ansicht der Bundesregierung nicht mehr möglich, weil die Gewähr für eine gewissenhafte Geschäftsführung nicht mehr gegeben ist? ({7}) Da ist mehr Aufklärung vonnöten, und ich wundere mich sehr über diese Ansicht. ({8}) Der Allgemeine Behindertenverband in Deutschland, Herr Donth, hat gesagt, mit der Aufgabe des Vereins sei eine der wichtigsten Organisationen in diesem Bereich weggefallen, und er beschuldigt die Bundesregierung, hierfür die Mitverantwortung zu tragen. Das sind die Worte des Verbandes, nicht meine. Sie sehen, meine Damen und Herren: Mit den 46 Forderungen zur Ausgestaltung der nationalen Tourismusstrategie hat sich die Regierungskoalition ein kleines Fleißkärtchen verdient. ({9}) Inhaltlich taugen Ihre Forderungen aber nicht wirklich, um mit ihnen die Rahmenbedingungen für den deutschen Tourismus zu verbessern. Unabhängig davon stellt sich natürlich auch die Frage: Wenn Sie so viel gute Ideen haben, warum haben Sie die denn in den letzten sechs Jahren nicht einfach umgesetzt? Schließlich regieren Sie schon seit Dezember 2013, oder nicht? Aber wahrscheinlich darf man bei Ihnen, bei Ihrem Reformtempo sowieso nicht allzu viel erwarten. Ich lobe ausdrücklich die Realisierung des digitalen Meldescheins, Herr Bareiß. Aber man muss dazusagen: Seit den ersten Forderungen 1996 hat es immerhin über 20 Jahre gedauert, bis die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorgelegt hat. ({10}) Wenn es in dieser rasanten Geschwindigkeit weitergeht, dann, befürchte ich, werden wir für die Verbesserung von politischen Bedingungen im Deutschland-Tourismus noch eine Weile brauchen. Aber wissen Sie was, vielleicht werden in der Zukunft auch andere Menschen hier in diesem Haus Verantwortung tragen. ({11}) Und ich bin mir sicher: Viele Menschen da draußen würden das begrüßen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({12})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin in der Debatte ist für die Fraktion der SPD die Kollegin Gabi Hiller-Ohm. ({0})

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute ist ein richtig guter Tag für den Tourismus. ({0}) Denn mit unserem gemeinsamen Antrag von SPD und Union stellen wir heute Weichen für eine zukunftsweisende Tourismuspolitik in unserem Land. ({1}) Wir haben schon im Koalitionsvertrag eine nationale Tourismusstrategie für Deutschland vereinbart. Mit unserem vorliegenden Antrag zeigen wir auf, was wir von dieser Strategie erwarten. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist eine richtig große Sache; denn bisher gibt es auf Bundesebene überhaupt keine Strategie, wie sich der Tourismus in Deutschland entwickeln soll. Wir bringen sie erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik jetzt auf den Weg. Meine Damen und Herren, das hat bisher noch keine Koalition geschafft. ({2}) Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der AfD, blasen heute wieder einmal die Backen mächtig auf. Aber was, so frage ich Sie, haben Sie bisher Positives für den Tourismus geleistet? ({3}) Ich gebe Ihnen die Antwort: Das können Sie gar nicht; denn dafür stehen Sie sich selbst im Weg. ({4}) AfD und Tourismus ist ein Widerspruch in sich. ({5}) Mit Ihrem Fremdenhass, Ihrer Intoleranz und Ihrer Menschenverachtung und mit den unsäglichen Faschisten in Ihren Reihen sind Sie das größte Schreckgespenst für jede gute Tourismusentwicklung in unserem Land. ({6}) Denn, meine Damen und Herren, Tourismus lebt gerade von Weltoffenheit, Gastfreundschaft, Internationalität, Aufgeschlossenheit, Hinwendung und Toleranz. Aber das alles, meine Kolleginnen und Kollegen der AfD, passt nicht in Ihr politisches Konzept. Deshalb können Sie niemals Botschafter für eine gute Tourismuspolitik sein. ({7}) Meine Damen und Herren, wir werden heute festlegen, wie die Rahmenbedingungen für den Tourismus in Deutschland auf Bundesebene aussehen sollen. Ich freue mich, dass auch die Grünen einen Antrag mit ihren Forderungen an eine Tourismusstrategie eingebracht haben. Vieles läuft in die gleiche Richtung. Deshalb bin ich zuversichtlich, dass wir gemeinsam etwas Gutes für den Tourismus erreichen werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit der nationalen Tourismusstrategie würdigen wir nicht nur diese wichtige Branche. Wir geben dem Tourismus und insbesondere den Menschen, die im Tourismus arbeiten, die Aufmerksamkeit, die sie verdienen. In Deutschland sind fast 3 Millionen Beschäftigte in der Tourismusbranche tätig. Jeder fünfzehnte Arbeitsplatz ist im Tourismus angesiedelt. Die Branche ist vor allem von kleinen und mittelständischen Unternehmen geprägt. Ihnen wollen wir unter die Arme greifen bei zukünftigen Herausforderungen wie Digitalisierung und demografischem Wandel. Das Tolle ist ja: Tourismus schafft Arbeitsplätze vor Ort. Deshalb profitieren vom Tourismus besonders ländliche Regionen genauso wie kleinere Kommunen und Städte. Tourismus kann also ein richtig starker Wirtschaftsmotor sein. Das ist er ja auch bereits in vielen Regionen, und das soll so weitergehen. Gleichzeitig ist Tourismus ein Dienstleistungssektor und damit, wie kaum eine andere Branche, geprägt von den Menschen, die dort arbeiten: die Taxifahrerin, der Kellner, die Reinigungskraft – sie alle sorgen dafür, dass Urlaube erholsam und erlebnisreich sind. Sie leisten oft eine knochenschwere Arbeit, häufig auch am Wochenende und nach den üblichen Öffnungszeiten, leider oft auch unter schweren Arbeitsbedingungen und zu schlechten Löhnen. Deshalb verdient ihre Arbeit die nötige Anerkennung in Form von guter sozialer Absicherung, Einhaltung gesetzlicher Arbeitszeiten und vor allem mit angemessenen Löhnen. ({8}) Nach dem Mindestlohn machen wir jetzt mit der Mindestausbildungsvergütung einen weiteren wichtigen Schritt in die richtige Richtung. Bei der Einführung der flächendeckenden Tarifbindung im Gastgewerbe ist nun aber auch die Branche gefordert. Dem Fachkräftemangel müssen wir gemeinsam entgegenwirken. Deshalb haben wir in der nationalen Tourismusstrategie die Umsetzung des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes verankert. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, wir eröffnen dem Tourismus und den Menschen, die dort arbeiten, echte Zukunftsperspektiven. Menschen machen Tourismus. Für sie alle ist die nationale Tourismusstrategie. Wir, SPD und CDU/CSU, bringen sie auf den Weg. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist heute ein richtig guter Tag für den Tourismus. ({9})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist für die Fraktion der FDP Dr. Marcel Klinge. ({0})

Dr. Marcel Klinge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004782, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Kollegin Hiller-Ohm sprach gerade davon, dass Sie mit Ihrer Strategie den Unternehmen im Tourismus unter die Arme greifen würden. Wie wäre es, wenn Sie damit anfangen, ihnen nicht ständig neue Knüppel zwischen die Beine zu werfen? ({0}) Ich wollte heute mit einem Kompliment starten, einem Kompliment an Sie. ({1}) Es ist schon eine wahre Meisterleistung, wie es die Koalition in ihrem Antrag schafft, auf acht Seiten mit 46 Beschlusspunkten und mit 3 041 Wörtern dermaßen an den Bedürfnissen und Wünschen einer der wichtigsten Wirtschaftsbranchen Deutschlands vorbeizureden. Also, das muss Ihnen erst einmal einer nachmachen. ({2}) Ich war kürzlich mit Freunden bei mir daheim im Schwarzwald etwas trinken, selbstverständlich rein beruflich; denn bei dieser Gelegenheit bin ich mit der Wirtin ins Gespräch gekommen, die den Betrieb seit 16 Jahren führt. Ich habe sie gefragt, was sie von uns in Berlin erwartet. Die Antwort war relativ simpel: ({3}) Wir sollen nicht so viel schwätzen, sondern endlich einmal etwas für die kleinen und mittleren Betriebe auf den Weg bringen. – Ich glaube, das ist genau die richtige Erwartungshaltung an die nationale Tourismusstrategie, nämlich dass nach Jahren des Stillstands endlich etwas für die Branche getan wird. ({4}) Das hat sie auch verdient. Wir haben die besten Tourismusbetriebe der Welt, die einen grandiosen Job machen: 3 Millionen Beschäftigte, 300 Milliarden Euro Umsatz, eine überdurchschnittliche Ausbildungsquote und eine enorme Standorttreue. Daher ist es für uns Freie Demokraten eine Ehrensache, dass wir diese fleißigen Menschen in ihrer täglichen Arbeit bestmöglich unterstützen. ({5}) Diesen Anspruch verfehlt die Große Koalition in ihrem Antrag gänzlich. ({6}) Sie haben keine Idee, wohin Sie mit Ihrer Strategie überhaupt wollen, keine Leidenschaft, keine Kreativität, dafür unglaublich viele Allgemeinplätze. Würden unsere Mittelständler und Familienbetriebe, meine Damen und Herren, genauso plan- und ideenlos arbeiten wie CDU/CSU und SPD – manche sprechen auch vom Karliczek-Syndrom –, dann hätten sie ihren Laden schon längst dichtmachen müssen. ({7}) Unser Anspruch ist das nicht. ({8}) Wir Freie Demokraten wollen, dass diese nationale Tourismusstrategie für die Branche ein Erfolg wird. ({9}) – Ja, warten Sie einmal. – Dafür müssen wir drei grundlegende Dinge ändern. ({10}) Wir wollen erstens die Leistungsträger der Branche, nämlich die kleinen und mittleren Unternehmen, in den Mittelpunkt dieser Strategie stellen. Wir wollen zweitens endlich klare inhaltliche Schwerpunkte setzen. Wo sind die denn in Ihrem Antrag? ({11}) Kümmern wir uns doch endlich um die drängenden Themen der Branche. Das ist zuallererst der existenzbedrohende Fachkräftemangel. Ohne ausreichend gutes Personal können Sie im Tourismus nichts reißen. ({12}) Das ist die erdrückende Bürokratie, die unternehmerisches Engagement im Tourismus immer schwerer macht und die die Nachfolge in den Betrieben erschwert. Die Zahlen gehen immer weiter zurück. Und das ist die Digitalisierung, die gerade für die Kleinen eine riesige Chance, aber auch eine riesige Herausforderung zugleich ist. ({13}) Gerade einmal jedes fünfte Hotel in Deutschland kann man online buchen. Da liegt noch richtig viel Arbeit vor uns. Aber Voraussetzung für digitale Angebote ist ein funktionierendes Breitband- und Mobilfunknetz, und zwar an jeder Milchkanne. ({14}) Für uns sind Menschen, die im ländlichen Raum leben, wie in meinem Wahlkreis, keine Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse. Die touristisch schönsten Orte, meine Damen und Herren, sind nun einmal die abgelegensten Orte. Deswegen hören Sie auf, bei den Lizenzversteigerungen, wie jüngst bei 5G, immer und immer wieder den gleichen Fehler zu machen, ({15}) nämlich auf Kosten der Netzabdeckung den letzten Cent aus den Mobilfunkbetreibern herauszupressen. So jedenfalls kommen wir beim Mobilfunk niemals auf einen internationalen Spitzenplatz. ({16}) Eine gute Tourismusstrategie – das ist der dritte Punkt, an den wir grundlegend herangehen müssen – darf nicht für sich alleine stehen. Keine Strategie der Welt, mag sie noch so gut sein, kann ihre Wirkung entfalten, wenn sie ständig durch andere Maßnahmen torpediert wird. Doch genau das machen Sie am laufenden Band. Nehmen wir das Beispiel Luftverkehrsteuer. Diese wollen Sie nun um sage und schreibe 700 Millionen Euro auf fast 2 Milliarden Euro erhöhen. Wir stehen wohl vor der größten Steuererhöhung in der Geschichte der Reisebranche. ({17}) Das hat verheerende Folgen. ({18}) Der Sommerurlaub für Familien, aber auch Geschäftsreisen werden ab April 2020 spürbar teurer. ({19}) Sie treffen mit Ihrer Politik die fleißige Mitte unserer Gesellschaft. ({20}) Das Überleben vieler Regionalflughäfen steht ebenfalls auf der Kippe, weil die Airlines aus gestiegenem Kostendruck Flugverbindungen streichen werden. Auch der Umsatz von Reiseveranstaltern und Fluggesellschaften wird unter dieser massiven Steuererhöhung leiden. Sie selbst kennen doch die geringen Margen in der Branche. Wir als FDP-Fraktion lehnen die Erhöhung der Luftverkehrsteuer ab, weil sie niemandem hilft, im Übrigen auch nicht dem Klima. Ein Großteil unseres Flugverkehrs ist dem europäischen Emissionshandel unterworfen. Das, was wir jetzt teuer einseitig national sparen, kann an anderer Stelle europäisch mehr verflogen werden. Und ich habe bis heute nicht verstanden, warum die Koalition jüngst Condor einen Kredit von 380 Millionen Euro gewährt hat. Wir haben das als FDP-Fraktion unterstützt, weil wir an die Zukunft der Gesellschaft mit ihren 5 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern glauben. Aber ich verstehe nicht, warum Sie Condor einen Kredit von 380 Millionen Euro geben und im Gegenzug mit der Erhöhung der Luftverkehrsteuer das Marktumfeld dieser Airline, die Sie retten wollen, dermaßen verschlechtern. Das ist GroKo-Logik vom Feinsten. Das versteht draußen wirklich niemand mehr. ({21}) Bevor Sie sich hochtrabend mit Strategien beschäftigen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition, fordere ich Sie auf, beim Thema „gewerbesteuerliche Hinzurechnung für Reiseveranstalter“ endlich aktiv zu werden. Seit Jahren drücken Sie sich um eine politische Lösung und haben es den Gerichten zugeschoben. Jetzt haben wir seit Sommer ein Urteil für die Branche und seit gestern sogar eine Begründung. Deswegen handeln Sie bei diesem wichtigen Thema für die Branche und machen Sie etwas für die kleinen Reiseveranstalter! ({22}) Meine Damen und Herren, die nationale Tourismusstrategie, wie sie die Große Koalition anpackt, wird außer großen Papierbergen leider keine spürbaren Ergebnisse hervorbringen. Wir Freie Demokraten plädieren deswegen für einen kompletten Neustart: zurück auf Los, mit klaren inhaltlichen Schwerpunkten, dem Fokus auf dem Mittelstand und ordentlich Wumms bei der Umsetzung. Herzlichen Dank. ({23})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Linksfraktion die Kollegin Kerstin Kassner. ({0})

Kerstin Kassner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004324, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher! Wie stolz das klingt: nationale Tourismusstrategie. Ja, es klingt stolz, muss aber auch stolz umgesetzt werden. Dazu bedarf es eines riesigen Aufgebotes an Kraft, Energie und Kreativität. Tourismus ist tatsächlich eine Querschnittsaufgabe. Nicht nur der Bund beschäftigt sich damit, sondern hier sind alle gefordert: die Länder, die Kommunen. Es ist ganz wichtig, das immer im Auge zu haben; denn die Kommunen haben eine breite Infrastruktur für den Tourismus aufrechtzuerhalten. Oft wird sie nur sehr eingeschränkt genutzt. Trotzdem ist sie notwendig, damit gerade im ländlichen Raum kleine und mittelständische Unternehmen eine Existenzgrundlage haben. Es ist also eine sehr vielfältige Aufgabe. ({0}) Es ist aber auch eine Querschnittsaufgabe für unsere Bundesregierung. Ich will ganz deutlich sagen: Ich hätte mir hier mehr Anstrengungen gewünscht. Über dieses Thema wird seit Beginn der Legislatur diskutiert – wir als Abgeordnete durften nicht mitwirken –, aber das, was jetzt vorgelegt wurde, genügt offensichtlich nicht einmal den Regierungskoalitionen; denn sie mussten mit eigenen Vorschlägen nachlegen. Das Gleiche haben die Kollegen von den Grünen und auch wir getan, um das Augenmerk auf bestimmte Schwerpunkte zu legen. ({1}) Ich wünsche mir, dass man die Vorschläge auch aufnimmt und dass man diese Querschnittsaufgabe als solche wahrnimmt. Wahrscheinlich ist es nicht richtig, dass das Thema beim Wirtschaftsministerium angesiedelt ist; denn hier geht es nur um Kapitalverwertung, um höher, schneller, weiter. Das alleine wird nicht reichen, um die Branche nachhaltig am Markt halten zu können. ({2}) Deshalb sage ich ganz deutlich: Das Thema gehört zentral angesiedelt im Bundeskanzleramt beim Bundesminister für besondere Aufgaben; denn es sind viele Ministerien gefordert. Wir haben das Thema schon aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet: Arbeits- und Lebensbedingungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind ein ganz wichtiges Thema. Mit sachgrundlosen Befristungen der Beschäftigten und mit Minijobs wird man nichts dazu beitragen können, dass die Branche attraktiv ist und so ein Weg aus dem Fachkräftemangel gefunden wird. ({3}) Deshalb sagen wir ganz deutlich: Hier braucht es Veränderungen im Interesse der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Zum Thema Bürokratie. Ich will nur daran erinnern, wie lange wir uns über die Pauschalreiserichtlinie unterhalten haben. Man kam nicht zu den richtigen Ergebnissen, was zulasten der Reisenden geht. Klar ist: Hier müssen wir ran. Ich will der Bundesregierung mit auf den Weg geben: Schauen Sie sich die Besteuerung der Margen genau an. Auch hier ist ein vernünftiges Augenmaß gefragt, damit wir die Existenz der Reisebüros nicht noch zusätzlich gefährden. Sie haben es in der jetzigen Zeit ohnehin schon sehr schwer. ({4}) Ein wichtiges Feld ist auch die Mobilität. Hier nutzt es wenig, wenn wir Verbesserung bei der Deutschen Bahn erreichen – das wollen wir auch erst mal sehen –; vielmehr muss die Mobilität bis zum letzten Dorf aufrechterhalten werden. Sonst nutzt es uns nichts, und die Urlauberinnen und Urlauber werden bei der Mobilität weiter auf ihr eigenes Fahrzeug setzen. Was das bedeutet, liebe Kolleginnen und Kollegen, das kann ich Ihnen von meiner Insel erzählen: Trotz der Brücken und neuer Schnellstraßen geht nichts mehr, stehen die Menschen stundenlang im Stau und kommen nicht von A nach B. Also brauchen wir andere Lösungen, und das geht wieder nur gemeinsam zwischen Bund, Ländern und den Kommunen. ({5}) Ich wünschte mir, dass wir noch viel mehr Forschung und Entwicklung betreiben. Das wird uns helfen, nachhaltige Antworten zu finden und zu definieren: Was ist Qualitätstourismus? Dafür brauchen wir Geld. Aber es macht mich schon sehr betroffen, dass von den 4,4 Millionen Euro, die aus dem Forschungsministerium für Tourismusforschung zur Verfügung gestellt werden, kaum etwas in den Osten geht. Nicht 30 Prozent, nicht 20 Prozent, nicht 10 Prozent dieser Summe gehen in den Osten, sondern nur 2 Prozent. 2 Prozent gehen nach Wismar für ein Forschungsprojekt im Tourismus. Ich sage ganz deutlich: Das ist viel zu wenig. Das widerspricht allen Kriterien im 29. Jahr der deutschen Einheit. ({6}) Deshalb müssen wir uns verstärkt darum bemühen, in den neuen Bundesländern die Forschungslandschaft und auch den Tourismus – eine der wenigen Branchen, die in infrastrukturell schwächeren Bereichen boomt und in der Arbeitsplätze vorgehalten werden – zu unterstützen. Das wünsche ich mir. ({7}) Denken Sie einmal daran, wenn Sie morgen mit uns allen 30 Jahre Mauerfall feiern. Vielen Dank. ({8})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Markus Tressel für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Markus Tressel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004178, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Hiller-Ohm, ob das ein großer Tag für den Tourismusstandort Deutschland wird, wird sich am Ende herausstellen, wenn nämlich ausgezählt wird. Das hängt auch von der Energie ab, die die Bundesregierung in die Umsetzung der Maßnahmen, über die wir heute sprechen, investiert. Ich mache dahinter erstmal noch drei große Fragezeichen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Dennoch ist es ein wichtiges Projekt. Wir haben viele Regionen in Deutschland, und der Tourismus schafft die Möglichkeit, all diese Regionen in ihrer Vielfalt bezogen auf ihre Chancen und Herausforderungen zu vereinen, wenn man Tourismuspolitik richtig anfasst, wenn man es schafft, die Regionen zu stärken, die Wertschöpfung und Wirtschaftskreisläufe, das Handwerk, die Landwirtschaft und die Kultur zu fördern. Das ist unsere Idee von der Nationalen Tourismusstrategie. Tourismus ist im besten Sinne Regionalpolitik, Wirtschaftspolitik, aber auch Umweltpolitik, Klimapolitik, Sozialpolitik und vieles mehr. Wir erwarten deutlich mehr Nachdruck von dieser Bundesregierung, als sie bisher an den Tag gelegt hat. ({0}) Eine Nationale Tourismusstrategie bietet durchaus die Möglichkeit, dem Tourismus in Deutschland die Rahmenbedingungen zu verschaffen, die unsere regionale Vielfalt nicht nur erhalten, sondern auch stärken und voranbringen. Tourismus kann Brücken bauen, nicht nur zwischen Menschen und Kulturen – das ist ein ganz wichtiger Punkt –, sondern auch zwischen Stadt und Land, zwischen Reisenden und der Umwelt, die sie besuchen. Wir müssen diese Chance ergreifen, wenn wir einen zukunftsfähigen Tourismusstandort haben wollen. Das gilt auch für die Erschließung touristischer Regionen. Erst vorgestern stand in der „FAZ“, dass in den Alpen in Österreich zwei Skigebiete zusammengelegt werden sollen, und zwar unter massiven Eingriffen in die Natur. Drei neue Seilbahnen, ein Skitunnel, ein betoniertes Wasserreservoir und eine Gipfelstation für Tausende Gäste sollen dort errichtet werden. Ein Gipfel soll dafür tatsächlich gesprengt werden. Das sei entscheidend, so die „FAZ“, um eine möglichst große Anzahl an zusammenhängenden Pistenkilometern aufbieten zu können, dann kämen mehr Skifahrer. Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir wissen, dass die alpinen Gletscher schmelzen. Wir wissen, dass der Klimawandel in den Alpen mit einem viel höheren Tempo voranschreitet als woanders. Wir wissen, dass es jetzt schon zu erhöhten Risiken kommt; damit meine ich Lawinen, Steinschläge, Starkregen und Hochwasser. Wir wissen auch, dass sich die Bergwelt verändern wird. Deswegen ist das, was wir gerade bei unseren Nachbarn in Österreich sehen – das muss man so deutlich sagen –, genau die falsche Herangehensweise an die Frage, wie wir Tourismuspolitik in der Zukunft gestalten wollen. ({1}) Immer größer, höher, weiter, schneller – man darf Zweifel haben, dass die Reisenden dies derzeit und auch in den kommenden Jahren wollen und dass es am Ende – und das ist das Wichtigste – dem Standort nutzt. Deswegen brauchen wir auch in Deutschland eine Grundlage, auf der wir Pläne für die Zukunft machen können. Wir brauchen bessere Analysen, nicht nur in den Alpen, sondern überall. Wir benötigen Klimawandelanpassungsstrategien für die unterschiedlichen Regionen; denn schmelzende Gletscher können wir nicht einfach ignorieren, genauso wenig wie wir Starkregen in Berlin oder ausgetrocknete Flüsse im Rheinland ignorieren können. Hier brauchen wir mehr Ambitionen bei der Bundesregierung, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Wir wollen die Förderung sanfter Tourismusprojekte, die sich zentral an Umwelt- und Klimaschutz orientieren. Wir wollen dafür sorgen, dass sich die Bundesregierung dieser Verantwortung bei der Erarbeitung der Aktionspläne tatsächlich stellt. Sie können jetzt die Richtung vorgeben, in die der Tourismusstandort Deutschland gehen wird. Ich hoffe, dass das Thema Klimaschutz einen höheren Stellenwert hat als in Ihrem sonstigen Handeln. Wir haben die Aufgaben in der Digitalisierung zu bewerkstelligen und touristische Mobilität zu verbessern. Es ist Aufgabe der Politik – es ist angesprochen worden –, die kleinen und mittelständischen Betriebe zu unterstützen und zu fördern. Die Nationale Tourismusstrategie muss Angebote für alle Aspekte der touristischen Entwicklung machen. Wir brauchen konkrete Lösungen. Die Herausforderungen sind bekannt. Der Kollege Klinge hat das Thema Fachkräfte angesprochen. Wir haben eine hohe Ausbildungsquote, aber auch die höchste Quote aufgelöster Ausbildungsverhältnisse in dieser Branche. Das hat auch etwas mit Arbeitsbedingungen zu tun. Deswegen müssen wir auch dieses Thema adressieren. Das haben wir in unserem Antrag sehr deutlich gesagt. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Schwelle, an der die Touristik in Deutschland steht, ist ohne Grundlagenforschung – das ist zuletzt von der Kollegin Kassner gesagt worden – nicht vernünftig zu überqueren. Die Tourismusbranche hat über alle Bereiche hinweg 2018  8,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Deutschland erwirtschaftet. Wir haben mal abgefragt, wie hoch denn der Anteil der bezuschussten Forschungsvorhaben ist: 0,022 Prozent der Forschungsmittel in Deutschland gehen in den Tourismusbereich. Diese beiden Zahlen – 0,022 Prozent der Forschungsmittel und 8,6 Prozent am Bruttoinlandsprodukt – zeigen ein krasses Missverhältnis auf. Da müssen wir ran, wie in vielen anderen Bereichen auch, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Der Meldeschein ist angesprochen worden. Wir hätten uns gewünscht, dass der Meldeschein komplett abgeschafft wird. Der Bundeswirtschaftsminister hat im Ausschuss deutlich gesagt, dass das die nächste Stufe sein wird. Ich frage mich, warum Sie das nicht direkt gemacht haben. Kollege Lehrieder hat eben reingerufen: „100 Millionen Bürokratieersparnis!“ Sie hätten noch viel mehr Bürokratieersparnis haben können, wenn Sie dem Antrag der Grünen gefolgt wären und den Meldeschein komplett abgeschafft hätten, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition. ({5}) Ein Themenbereich, der uns dieser Tage ganz wichtig ist, ist der Verbraucherschutz. Wir haben gesehen, dass das kein Nebenaspekt ist. Wir haben gelernt, dass auch das in einer nationalen Tourismusstrategie eine große Rolle spielen muss. Jetzt geht es um die Frage: Wie können wir konkrete Projekte auf die Schiene setzen? Da erwarte ich mehr Nachdruck von dieser Bundesregierung. Wir haben einen Antrag vorgelegt, der viele konkrete Projekte auflistet. Ich bitte um Ihre Zustimmung für unseren Antrag. Herzlichen Dank. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Astrid Damerow für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Astrid Damerow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004699, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Tourismus – das ist hier schon gesagt worden – ist ein Wirtschaftszweig, der für ganz Deutschland, egal ob Ost oder West, Nord oder Süd, Stadt oder Land, gleichermaßen bedeutend ist. Die Konsumausgaben von Touristen aus dem In- und Ausland betragen jährlich 290 Milliarden Euro. Davon profitieren nicht nur Hotels, die Gastronomie oder Reiseverkehrsunternehmen, sondern auch andere Branchen wie das Handwerk, Einzelhändler oder auch die Gesundheitswirtschaft. Mit weiteren 76 Milliarden Euro Wertschöpfung werden so fast 1,3 Millionen weitere Arbeitsplätze gesichert. ({0}) Vor allem strukturschwache Regionen profitieren vom Tourismus. Deshalb ist es richtig, dass die Bundesregierung eine nationale Tourismusstrategie erarbeitet – das erste Mal; auch das ist heute hier schon erwähnt worden. ({1}) Im Tourismus wirbt jede Region mit ihren eigenen Besonderheiten. Zahlreiche Branchen beschäftigen sich direkt oder indirekt mit dem Tourismus. Es ist gut und richtig, dass die Bundesregierung mit allen Beteiligten einen intensiven Dialog über die Eckpunkte der Tourismusstrategie führt. Ich danke dem Staatssekretär Thomas Bareiß ausdrücklich, dass er sich die Zeit dafür nimmt. Denn erstens muss eine solche Strategie Akzeptanz finden, und zweitens muss sie gemeinsam mit den Akteuren erarbeitet werden. Das kann nicht von oben nach unten gehen. Solche Dinge, Herr Kollege Klinge, fordern eben ihre Zeit. ({2}) Meine Damen und Herren, die Bundesregierung bekennt sich zu den Nachhaltigkeitszielen der Agenda 2030 der Vereinten Nationen, und wir diskutieren die Umsetzung des Klimapakets der Bundesregierung. All dies findet seinen Niederschlag in unserem Antrag. Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass wir, wenn wir Touristen haben wollen, auch die Mobilität sicherstellen müssen. Und wir sichern die Attraktivität des Reiselandes Deutschland nicht dadurch, dass wir Reisen per Auto, Flugzeug oder Kreuzfahrtschiff negativ belegen. Vielmehr müssen Flugreisen und Kreuzfahrten auch in Zukunft dazugehören. Es muss darum gehen, Mobilität und Wirtschaftswachstum nachhaltig und umweltverträglich zusammenzuführen. ({3}) Wir müssen hier durch Forschung und Entwicklung sicherstellen, dass wir einen klimaneutralen und nachhaltigen Flugverkehr und Kreuzfahrttourismus ermöglichen. Im Übrigen wird an beidem bereits intensiv gearbeitet. Ich finde es wichtig, dass wir in unserer Diskussion nicht hinter der Wirklichkeit zurückbleiben. Wenn ich mir anschaue, was in den diversen Tourismusbereichen getan wird, dann stelle ich fest, dass man dort schon weiter ist. Der Bundesverband DEHOGA beispielsweise hat eine Energiekampagne gestartet, die von vielen Betrieben genutzt wird. Der Bundesverband der Deutschen Tourismuswirtschaft engagiert sich für klima- und umweltfreundlichen Tourismus, wie beim letzten Tourismusgipfel ganz deutlich geworden ist. Ich will hier einmal betonen, dass auch die Kreuzfahrtbranche – natürlich ist das alles nicht nur schön, Kreuzfahrten schaffen auch Probleme – bereits intensiv dabei ist, zu Verbesserungen zu kommen, um umweltverträglicher agieren zu können. ({4}) Auch regional hat sich bereits viel getan. In Sachsen arbeitet beispielsweise der Tourismusverband Sächsische Schweiz an einer Nachhaltigkeitsstrategie, um die Bedürfnisse der Gäste und der lokalen Bevölkerung mit dem Naturschutz zu vereinen. ({5}) In meinem Wahlkreis wird seit Jahren klimafreundliche Mobilität für die Touristen gefördert. Unsere Regionen arbeiten schon seit Langem an einem umweltverträglichen Tourismus in ihrem jeweiligen Umfeld. Auf allen diesen Beispielen sollten wir in Zukunft aufbauen. Verehrte Damen und Herren, ich wünsche mir ein gastfreundliches Deutschland, das ausländische Gäste gern empfängt. Deshalb fördern wir weiterhin die Deutsche Zentrale für Tourismus. Ich wünsche mir aber auch ein weltoffenes Deutschland, in dem Touristen sich sicher und willkommen fühlen. Das, meine Damen und Herren, ist nicht allein eine Frage von mehr Polizei oder gar von Abschottung. Das ist eine Frage von Haltung. Das geht uns alle an. ({6}) In diesem Sinne freue ich mich auf die weitere Diskussion im Ausschuss, bedanke mich nochmals bei der Bundesregierung, dass sie uns in diesen Prozess sehr stark einbindet. Ich bin mir sehr sicher, dass wir auch in Zukunft hier noch einiges beitragen können. Den Antrag der Grünen werden wir ablehnen, da sich weite Teile dessen bereits in unserem Antrag wiederfinden. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Gülistan Yüksel für die Fraktion der SPD. ({0})

Gülistan Yüksel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004448, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren auf den Tribünen und vor den Bildschirmen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie haben die Zahlen gehört. Immer mehr Menschen reisen. Sie erleben nicht nur neue Kulturen und Landschaften, sondern unterstützen auch die regionale Wirtschaft und Infrastruktur. So fördert Tourismus die Völkerverständigung und die ökonomische Entwicklung. Aber so viele positive Aspekte das Reisen auch hat, es trägt zur menschengemachten Klimaschädigung bei. Wir alle, die wir reisen, sei es beruflich oder privat, sind somit Teil des Problems. Mit einem ganz ähnlichen Eingeständnis begann der Klimaexperte Hans Joachim Schellnhuber seine Rede auf dem Tourismusgipfel des Bundesverbandes der Deutschen Tourismuswirtschaft. Der Gründer des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung war eingeladen, um der Branche ihre doppelte Herausforderung aufzuzeigen: Tourismus lebt von seinen Reisenden und ist angewiesen auf eine intakte Natur, zerstört aber als ein Treiber des Klimawandels ebendiese. Die nationale Tourismusstrategie wird diese doppelte und globale Herausforderung natürlich nicht alleine lösen können. Hier bedarf es auf nationaler und internationaler Ebene Anstrengungen von beiden Seiten, der Regierungen, aber auch der Branche und jedes Einzelnen; denn nur wenn alle an einem Strang ziehen, können wir unsere Erde für künftige Generationen erhalten. ({0}) Eine Herausforderung ist, mit neuen Technologien und Standards dem Klimawandel entgegenzuwirken. Mit dem Klimapaket leisten wir bereits jetzt einen wichtigen Beitrag. Förderung von umweltfreundlichen Initiativen, Entwicklung von CO2-armen Technologien sowie gesetzliche Anreize für Investitionen im Bereich Nachhaltigkeit werden uns in allen Lebensbereichen begleiten, selbstverständlich auch im Tourismus. Nur unter der Prämisse der umfassenden Nachhaltigkeit ist touristisches Wachstum überhaupt wünschenswert und zukunftsfähig. Genau deshalb wollen wir Tourismusförderung im Sinne der Agenda 2030 konsequent gestalten. Sehr geehrte Damen und Herren, nach Deutschland kommen viele Touristen auch wegen der einzigartigen Landschaft und Kultur, die wir gerade in ländlichen Regionen häufig finden. Sie erinnern sich vielleicht an meine Werbung für den Bayerischen Wald in der letzten Sitzungswoche. ({1}) Für uns bedeutet Nachhaltigkeit aber nicht nur Klimaschutz, sondern auch soziale und ökonomische Nachhaltigkeit. Darunter verstehen wir faire Löhne, gute Arbeits- und Ausbildungsbedingungen sowie eine gute soziale Absicherung; Frau Hiller-Ohm ist eben darauf eingegangen. Wir fordern in unserem Antrag unter anderem, den Bundeswettbewerb „Nachhaltige Tourismusdestinationen in Deutschland“ wieder aufzunehmen und den Praxisleitfaden für Nachhaltigkeit im Deutschlandtourismus weiterzuentwickeln. Neben der Förderung dieser Projekte verbessern wir zudem die Anbindung touristischer Ziele durch die Bahn; mein Kollege Martin Burkert wird nachher näher darauf eingehen. Wir fördern aber nicht nur Projekte in Deutschland, sondern auch in Entwicklungsländern. So ermöglichen wir, dass Tourismus mit guter Ausbildung, der Beteiligung der lokalen Bevölkerung sowie mit dem Schutz der natürlichen Ressourcen einhergeht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Tourismus ist nachhaltig, wenn er nicht auf Kosten der Umwelt und Natur stattfindet, wenn er zu lokalem Wohlstand und Gleichberechtigung beiträgt und wenn er kommende Generationen berücksichtigt. Die 46 Punkte in unserem Antrag tragen dazu bei. Wenn manch einer kritisiert, es seien zu viele, dann kann ich nur sagen: Schade, dass Sie von der AfD und Sie, Herr Kollege Klinge von der FDP, gar keine Ideen haben. ({2}) Wir haben in unserem Antrag 46 Projekte und Initiativen, die den Tourismus in Deutschland und der Welt nachhaltig weiterentwickeln und gestalten werden. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, sehr geehrte Damen und Herren, neben diesen wichtigen Einzelmaßnahmen ist es aber auch wichtig, die ursprüngliche Bedeutung des Tourismus wiederzubeleben: die Begegnung mit Menschen und Kulturen. Vielen Dank und ein schönes Wochenende. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Michael Donth. ({0})

Michael Donth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004262, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Gestern veröffentlichte der Bundesfinanzhof sein Urteil zu der gewerbesteuerlichen Hinzurechnung bei der Überlassung von Hotelzimmern an Reiseveranstalter, der sogenannten Bettensteuer. Im Gegensatz zur Auffassung von Bundesfinanzministerium und den Finanzverwaltungen aller Länder entschied der Bundesfinanzhof im Sinne der Reiseveranstalter und auch ganz im Sinne von uns Tourismuspolitikern ({0}) und lehnte eine Hinzurechnung der vermieteten Hotelzimmer bei der Gewerbesteuer ab. ({1}) Ich freue mich sehr über diesen Erfolg und die Klarheit für unsere Reisebranche. Über deren Haupt schwebte dieses Damoklesschwert seit über einem Jahrzehnt. ({2}) Es ist jetzt nötig, dass das Bundesfinanzministerium, Frau Staatssekretärin Hagedorn, dieses Urteil schnellstmöglich für allgemeingültig erklärt und im Bundessteuerblatt veröffentlicht. ({3}) Also, insgesamt eine gute Woche für die Reisebranche! ({4}) Aber jetzt zur Tourismusstrategie. Deutschland ist ein Industrieland. Deutschland ist aber auch ein Urlaubsland für Gäste aus dem Ausland, aber auch aus dem Inland. Gerade wir, die Reiseweltmeister, entdecken zunehmend wieder, dass auch unser eigenes Land eine Vielfalt bietet, die ihresgleichen sucht. Wir entdecken unser eigenes Land gerade neu. Wenn wir von Tourismus in Deutschland sprechen, sprechen wir von Qualitätstourismus. Wir wollen den Tourismus stärken – das bringt Lebensqualität für Einheimische und für Gäste –, einen Tourismus, der im Einklang mit der Natur und Kultur steht und nebenher auch das Deutschlandbild im Ausland positiv prägt. ({5}) An dieser Stelle ein herzliches Dankeschön auch von mir an den Tourismusbeauftragten der Bundesregierung, Thomas Bareiß, der sein wichtiges Amt mit großem Engagement ausfüllt. ({6}) Der Tourismus in Deutschland ist eine vielfach unterschätzte Größe in unserer Wirtschaft: 3 Millionen Arbeitsplätze, mehr als im Maschinenbau, und ein Umsatz von 290 Milliarden Euro. Die Tourismusbranche boomt in unseren hochattraktiven Städten. Das ist das eine. Der Tourismus bietet aber vor allem – das ist das andere – Chancen für den ländlichen Raum: Chancen für Arbeitsplätze, Chancen für Wertschöpfung, Chancen für Einrichtungen vor Ort, die nicht nur den Gästen, sondern auch den Einheimischen zur Verfügung stehen. Ich erinnere mich gerne an meine Zeit als Bürgermeister der Gemeinde Römerstein auf der Schwäbischen Alb zurück. Dort haben wir als Gemeinde die Zeichen der Zeit früh erkannt und das Biosphärengebiet Schwäbische Alb, auch aus touristischen Motiven, mitbegründet. Mancher Landgasthof überlebt nur deshalb, weil dort eben nicht nur die Einheimischen, lieber Marcel, zum Stammtisch einkehren, sondern weil auch noch Tagestouristen zum Mittagessen vorbeikommen. Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass die Gastronomen ihre Arbeit tun können. Dazu braucht es mehr Flexibilität, vor allem bei der Arbeitszeit. ({7}) Tourismus wird in Deutschland von den Städten, Gemeinden und Ländern, aber vor allem auch von privaten Akteuren vor Ort gemacht. Der Bund dagegen kümmert sich mit der DZT schwerpunktmäßig um die Werbung für Deutschland im Ausland, übrigens sehr erfolgreich. Ein herzliches Dankeschön an Frau Hedorfer und ihr Team. ({8}) Der Bund stellt sich mit dieser nationalen Tourismusstrategie, über die wir heute debattieren, seiner Verantwortung als wichtiger Partner für den Tourismus. Für diesen braucht es auch gute und verlässliche Verkehrsverbindungen sowie eine hervorragende Infrastruktur; darauf wird mein Kollege Martin Burkert gleich noch vertieft eingehen. Diese Infrastruktur kommt eben auch der einheimischen Bevölkerung zugute. Dabei achten wir auf die größtmögliche Schonung und Bewahrung von Natur und Umwelt, ein wichtiger Aspekt in unserem Deutschlandtourismus, und das nicht erst seit dem Klimaschutzpaket. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit allen Beteiligten an der nationalen Tourismusstrategie. Herzlichen Dank. ({9})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächster Redner ist der schon angekündigte Kollege Martin Burkert für die Fraktion der SPD. ({0})

Martin Burkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003744, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Ankündigung erhöht die Erwartungshaltung. Aber man muss in der Tat etwas zum Verkehr sagen, denn der nachhaltige Tourismus in Deutschland braucht eine leistungsfähige und zuverlässige Verkehrsinfrastruktur. Das gilt natürlich insbesondere für die Schiene. Gerade touristische Ziele – das haben wir heute schon gehört – in ländlichen Gebieten benötigen eine gute Anbindung mit der Bahn. Ich freue mich, dass die Bundesregierung die Bedeutung des Verkehrs jetzt auch in ihrem Eckpunktepapier anerkannt hat. Herr Bareiß, ich sage aber auch: Das reicht noch nicht aus. Ich hoffe, Sie und Ihr Haus lesen die 46 Punkte und auch die verkehrspolitischen Maßnahmen unseres gemeinsamen Antrags: Erstens: die Umsetzung des Deutschland-Taktes, ein Zielfahrplan für den Nah- und Fernverkehr in unserem Land. Jede Stunde zur selben Minute sollen Züge fahren und die Fahrpläne aller Verbindungen aufeinander abgestimmt werden. ({0}) Davon profitiert dann der Tourismus. ({1}) Im Übrigen soll darauf auch der daran angegliederte ÖPNV abgestimmt werden. Mit dem Deutschland-Takt entsteht auf dem Land eine Vielzahl neuer, vor allem besserer Reiseverbindungen als heute. Es wird kürzere Reisezeiten geben. Es wird bessere Umstiegsmöglichkeiten geben. Zu der von der FDP angesprochenen Kritik: Natürlich haben wir auch Regionen, die noch nicht an die Schiene angebunden sind. ({2}) Ein Blick in den Bundesverkehrswegeplan und in unseren Antrag zeigt, dass wir im Flächennetz etwas tun, dass wir mit dem Deutschland-Takt schnellere Fernregionallinien einrichten. Davon profitieren auch die ländlichen Regionen. ({3}) Ich will einen zweiten Punkt nennen; da geht es um die schnellere Umsetzung von verkehrspolitischen Planungsvorhaben. Wenn wir wollen, dass Deutschland als Tourismusstandort stärker wird, müssen wir künftig mehr Verkehrsvorhaben umsetzen, die für den Tourismus von Bedeutung sind. Dazu zählen auch die touristischen Radwege – über die noch niemand heute hier gesprochen hat – wie das Radnetz Deutschland. Mit 11 700 Kilometern Netzlänge und zwölf sogenannten Premium-Radrouten durch ganz Deutschland ist das neue Radnetz für Deutschland eine der wichtigsten touristischen Attraktionen unseres Landes. Auch der öffentliche Nahverkehr muss für den Tourismus besser werden. Deshalb fordern wir – darauf haben wir uns verständigt; da danke ich ausdrücklich auch der Union –, dass die Einführung eines bundesweiten Tourismustickets im öffentlichen Personennahverkehr und im Schienenpersonennahverkehr in Zusammenarbeit mit den Verkehrs- und Tourismusverbänden von Ihnen und Ihrem Ministerium, Herr Bareiß, geprüft wird. Wissen Sie, wie die Halbierung der Schienenmaut im Schienengüterverkehr zustande gekommen ist? In enger Zusammenarbeit an einem runden Tisch hat man am Ende beschlossen, dass der Güterverkehr auf der Schiene heute die Hälfte zahlen muss. Das ist richtig, damit der Lkw-Verkehr von der Straße auf die Schiene verlagert wird. Deswegen: Machen Sie das. Noch etwas zum Antrag der Grünen. Eigentlich hätten Sie ihn zurückziehen können. ({4}) – Ja. – Sie fordern die Senkung der Mehrwertsteuer auf Bahnfahrkarten: Das ist im Bundeskabinett bereits beschlossen. Es wird umgesetzt, ({5}) und auch andere Dinge sind von uns geplant. Zum Schluss will ich noch was sagen.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege, aber ein kurzer Schluss, weil Sie schon über Ihre Redezeit sind.

Martin Burkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003744, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin, ganz kurz. – Lieber Kollege Donth, wir brauchen nicht mehr Flexibilisierung im Tourismusgewerbe. Wir brauchen gute Arbeitsbedingungen und gute Löhne. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Martin Burkert. – Ihnen allen einen schönen Tag von mir! – Die letzte Rednerin in der Debatte: Kerstin Vieregge für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Kerstin Vieregge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004924, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Bundestagspräsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich mich ganz herzlich dafür bedanken, dass wir zu dieser schönen Uhrzeit debattieren; denn so bekommt die nationale Tourismusstrategie, die wirklich supergut ist, den Stellenwert, den sie auch verdient. ({0}) Bei der Ausgestaltung der Strategie war es mir besonders wichtig, dass das Kur- und Heilbäderwesen mit in die Strategie aufgenommen wurde. Die mehr als 350 Heilbäder und Kurorte in Deutschland sind wichtige Standorte für Gesundheitsdienstleistungen und spielen mit rund 25 Prozent der Gästeübernachtungen eine bedeutende Rolle für den Tourismus in Deutschland. Sie sind die Kompetenzzentren in allen Fragen rund um Gesundheit und Prävention und bieten auch für die einheimische Bevölkerung eine wichtige medizinische und wirtschaftliche Infrastruktur. Wir benötigen eine Bäderoffensive, in der wir Tourismus, Gesundheitsdienstleistungen und Infrastrukturprojekte bündeln, um insbesondere strukturschwachen Regionen, die reich an kostbarem Naturraum sind, dabei zu helfen, eine selbsttragende Wirtschaftsstruktur aufzubauen. Wir führen Gespräche, damit wir eine Datenbasis für Kur- und Heilbäder erhalten, damit das Angebot gerade im ländlichen Raum besser zugänglich ist. Meine Heimat Lippe in Nordrhein-Westfalen ist ein positives Beispiel dafür, wie die gesamte Region des Teutoburger Waldes durch die Heil- und Kurbäder sowie durch Tourismusmarketing profitiert. Als Mittelgebirgsregion im ländlichen Raum setzen wir mit Erfolg auf eine Kombination aus Qualitäts- und Aktivurlaub. Wandern und Radfahren in Abwechslung zu medizinischen Dienstleistungen und Wellnessangeboten in den Kur- und Heilbädern sowie ein interessantes kulturelles Angebot lassen den Urlaub auf dem Land zu einem besonderen Erlebnis werden. Die veränderten Werbe- und Buchungsmöglichkeiten im Zuge der Digitalisierung sind zugleich Chance und Risiko für die Tourismusbranche. Noch nie war es einfacher, als kleine Region oder Nischenanbieter Aufmerksamkeit zu erhalten. So ist beispielsweise die Nachfrage nach Urlaub auf dem Bauernhof auf dem Höchststand. Aber mit jeder Buchung oder mit jeder Werbung über die neuen, global agierenden Portale geht ein Teil der Wertschöpfung in der Region und oftmals auch in Deutschland verloren. Die Sharing Economy bietet viel Potenzial. Wir müssen aber Maßnahmen zum Abbau von Wettbewerbsverzerrungen gegenüber traditionellen Anbietern prüfen, damit wir keine Zweiklassengesellschaft in der Tourismusbranche erhalten; denn es darf nicht sein, dass der traditionelle, ordentliche Beherbergungsbetrieb bzw. Unterkunftssektor einen Nachteil erfährt, weil er sich an die Spielregeln hält – im Gegensatz zu vielen privaten Angeboten, die insbesondere in den Großstädten noch zusätzlich die Wohnraumproblematik verschärfen. ({1}) Zum Ende meiner Rede möchte ich den vielen ehrenamtlich tätigen Helferinnen und Helfern danken, ohne die unsere Gemeinden nicht so schön erblühen würden, unsere Wanderwege nicht so sicher zu begehen wären und unsere Tourismusstruktur so nicht möglich wäre. Dafür ein ganz, ganz großes Lob und Dankeschön! ({2}) Wir werden ihr Engagement weiter unterstützen und fördern. Sehr geehrte Damen und Herren, die nationale Tourismusstrategie hat die Herausforderungen der Branche präzise beschrieben, und sie hat teilweise bereits Lösungswege aufgezeigt. Lassen Sie uns den Rahmen setzen für eine nachhaltige Entwicklung des Tourismus in Deutschland – klimabewusst, digital kompetent, wirtschaftlich relevant und gesellschaftlich verantwortlich. Denn dann können wir im internationalen Wettbewerb bestehen und mit Vorbildfunktion einen modernen, barrierefreien Qualitätstourismus verbessern, der das größte Kapital unseres Landes in den Vordergrund stellt: unsere Landschaft, Tradition und Bewohner. Danke schön. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kerstin Vieregge. – Damit schließe ich die Aussprache.

Kordula Schulz-Asche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004405, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Menschen, die in unserem Land auf Pflege angewiesen sind, und ihre Familien brauchen dringend Hilfe. Wenn wir wollen, dass gute Pflege heute und in den nächsten Jahrzehnten möglich ist und möglich bleibt, dann müssen wir die Pflegeversicherung jetzt reformieren. ({0}) Wo sind die Probleme? Erstens. In Pflegeheimen erhalten die Menschen Pflegesachleistungen entsprechend ihrem Pflegegrad. Aber diese Leistungen decken nicht die gesamten Pflegekosten ab, sodass ein Pflegeeigenanteil zu zahlen ist. Dieser Eigenanteil steigt seit Jahren beständig an und liegt zurzeit bei rund 690 Euro im Monat, mit weiter steigender Tendenz. Die längst überfälligen Gehaltssteigerungen für die Pflegefachkräfte, für jede Qualitätsverbesserung in der Pflege: Alles geht zurzeit ausschließlich zulasten der pflegebedürftigen Menschen und ihrer Familien. Die Menschen, die die ständig steigenden Eigenanteile nicht mehr bezahlen können, fallen in die Sozialhilfe, in die Hilfe zur Pflege. Wir wollen mit der doppelten Pflegegarantie dafür sorgen, dass das Leben in einem Pflegeheim kein Armutsrisiko mehr ist. ({1}) Zweitens. Auch in der ambulanten Pflege haben wir dramatische Probleme. Denn hier hängt es oft vom Geldbeutel der Familien ab, welche Pflege überhaupt in Anspruch genommen werden kann. Wir müssen davon ausgehen, dass es in der häuslichen Pflege oft zu einer massiven Unterversorgung mit professioneller Pflege kommt. Wir dürfen die pflegebedürftigen Menschen und ihre Familien nicht länger alleinlassen. ({2}) Unsere Antwort darauf ist die doppelte Pflegegarantie. ({3}) Mit der doppelten Pflegegarantie garantieren wir erstens die Planbarkeit der Pflegeeigenanteile durch eine sofortige und deutliche Senkung und die dauerhafte Deckelung des Eigenanteils. Wir garantieren zweitens, dass die Pflegeversicherung alle Pflegeleistungen bezahlt, die der einzelne pflegebedürftige Mensch tatsächlich braucht. ({4}) Wie senken wir den Pflegeeigenanteil? Das muss man ja dazusagen. Wir wollen die versicherungsfremden Leistungen aus dem Bundeshaushalt finanzieren; denn da gehören sie auch hin und nicht in die Pflegeversicherung. Wir verlangen, die Kosten für die medizinische Behandlungspflege im Heim in die Krankenversicherung zu verlagern; denn da gehören diese Kosten hin und nicht in die Pflegeversicherung. ({5}) Wir haben mit der doppelten Pflegegarantie die pflegebedürftigen Menschen und ihre Familien, aber auch die Versichertengemeinschaft und die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler im Blick. Angesichts des demografischen Wandels lassen Sie uns gemeinsam dafür Sorge tragen, dass unsere Gesellschaft dem Anspruch einer guten und würdevollen Pflege auch in Zukunft gerecht wird und gerecht werden kann. Lassen Sie uns gemeinsam das Versprechen der Pflegeversicherung erfüllen und erneuern – verlässlich, solidarisch und generationengerecht. Meine Damen und Herren, die doppelte Pflegegarantie ist unser Angebot. Machen wir uns gemeinsam schnell auf den Weg! ({6}) Lassen Sie mich ganz zum Schluss noch einen Appell an dieses Haus richten. Ich glaube, dass wir in einer gesellschaftlichen Situation sind, in der wir alle gemeinsam versuchen müssen, die durch den demografischen Wandel auftretenden Probleme, die seit 30 Jahren und länger absehbar waren, zu lösen. Dafür muss dieses Haus, müssen die Demokratinnen und Demokraten in diesem Hause zusammenhalten. Ich weiß, dass es auch andere Fraktionen in diesem Hause gibt, die an einem ähnlichen Modell arbeiten. Ich weiß auch, dass unser Modell nicht von uns allein umgesetzt werden kann, sondern mehrere Fraktionen hier im Hause braucht, damit es tatsächlich auf den Weg gebracht werden kann. Diesen Appell möchte ich ausdrücklich an alle Demokratinnen und Demokraten hier im Hause senden. Wir sollten in den Ausschussberatungen sehen, dass wir diesen Weg ganz schnell gehen können. Die SPD hat sich auf den Weg gemacht; das weiß ich schon. Vielleicht werden wir schon heute in der Debatte etwas schlauer; vielleicht sind auch andere schon auf dem Weg. Wir können das nur gemeinsam schaffen, und wir müssen es gemeinsam schaffen. Die pflegebedürftigen Menschen in unserem Land und ihre Familien haben es verdient, dass wir dieses Armutsrisiko, das Problem der Unterversorgung in der häuslichen Pflege endlich lösen. Lassen Sie uns das gemeinsam anpacken. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kordula Schulz-Asche. – Nächster Redner: Erwin Rüddel für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Erwin Rüddel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004139, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich bin froh, dass ich bei diesem Antrag die Gelegenheit habe, auf die historische Leistungsausweitung hinzuweisen, die wir in der letzten Legislaturperiode in der Pflegeversicherung für die Pflegebedürftigen, gerade für die Demenzkranken und deren Familien, vorgenommen haben. Ich denke, das ist jetzt eine gute Gelegenheit, noch einmal darauf hinzuweisen, was wir im Rahmen der Diskussion um die Pflegeversicherung in der letzten Legislaturperiode umgesetzt und auf den Weg gebracht haben. Im Kern geht es bei diesem Antrag der Fraktion der Grünen um die Eigenanteile der Pflegebedürftigen. Wenn man sich die Welt in der Klinik ansieht, stellt man fest: Für die Pflege dort übernimmt die Krankenversicherung die vollen Kosten; bei der Pflege im Heim bleibt ein Festbetrag. Wir wollen insgesamt die Arbeitssituation für die Pflegekräfte verbessern, wir wollen mehr Pflegekräfte, und wir wollen diese Pflegekräfte besser bezahlen. Die Folge ist, dass die Eigenanteile der Pflegebedürftigen steigen, weil hier die Dynamik ansetzt. Es ist unerlässlich, dass wir die Eigenanteile in der stationären Pflege auf einen zumutbaren Betrag einbremsen. Ich denke, da schließen wir uns dem Appell von Frau Schulz-Asche an, gehen in dieselbe Richtung. Ich möchte dezidiert aber auch festhalten: Es geht nur um die Kosten der Pflege und nicht um die Kosten, die durch das Wohnen entstehen. Ich bin davon überzeugt, dass dieser Sockel-Spitze-Tausch die falschen Anreize setzt und nicht die optimale Lösung ist. Wir müssen hier nach kreativen und guten Lösungen suchen. Die Eigenanteile variieren in den Bundesländern nämlich sehr stark. Gerade dort, wo die Eigenanteile vergleichsweise niedrig sind, würde dieser Tausch nur geringe Hilfen bringen, und umgekehrt wären in wohlhabenderen Regionen die Entlastungen besonders groß. ({0}) Es kann sozialpolitisch aber nicht gerecht sein, dass wir die Stärkeren noch stärker entlasten. Dazu kommt der falsche Anreiz, teure Versorgungsformen und teure Anbieter zu wählen sowie möglichst viele Leistungen in Anspruch zu nehmen. Es gäbe keinerlei Eigeninteresse an kostengünstigen Lösungen mehr, da die Pflegeversicherung ohnehin alle die den Eigenanteil übersteigenden Kosten übernehmen würde. Das hätte auch Folgen für die Beitragssätze in der Pflege- und Krankenversicherung und würde nachfolgende Generationen unnötig belasten. Sie haben diese Herausforderungen auch erkannt – das habe ich in Ihrem Antrag gelesen –, weil Sie die Kostenrisiken durch ein Case-Management in den Griff bekommen wollen. Ich muss aber gestehen: Ich bin skeptisch, ob das gelingt. Meine Damen und Herren, ich denke, es ist wichtig, noch einmal herauszustellen, dass die Pflegeversicherung eine Teilkaskoversicherung und keine Vollkaskoversicherung ist. ({1}) Weil das so ist, bleibt auch künftig eine Eigenverantwortung übrig. Wir müssen nach Konzepten suchen, wie wir Menschen motivieren können, Vorsorge zu treffen, sowohl private wie auch betriebliche Vorsorge. Unabhängig davon brauchen wir intelligente Lösungen, um die Pflegebedürftigen in den stationären Einrichtungen zu entlasten und die Eigenanteile einzubremsen; hierzu hat sich der Minister schon geäußert. Eine Möglichkeit könnte ein einheitlicher Zuschuss sein, der über die Krankenversicherung finanziert wird. Denkbar ist auch, dass Steuermittel genutzt werden, weil auf der anderen Seite Sozialhilfe eingespart werden kann. Zu den kreativen Lösungen gehört aber auch der Abbau der Sektorengrenzen. Wir brauchen hier eventuell einen dritten Weg, der viele Möglichkeiten offenlässt, wie zum Beispiel dass hauswirtschaftliche Leistungen in stationären Einrichtungen von den Pflegebedürftigen selbst oder deren Familien erbracht werden, um insgesamt die Kosten im Heim und die Eigenanteile zu senken. Wir müssen auf diese Familienunterstützung setzen können. Kreativität ist also gefragt. Wir werden 2020 hierzu entsprechende Konzepte vorlegen, die dann diskutiert werden können. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Erwin Rüddel. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Jörg Schneider. ({0})

Jörg Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004880, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Zuschauer! Die Probleme in der Pflege haben sehr viel mit Demografie zu tun. Bis 2035 werden wir ungefähr 4 bis 6 Millionen Erwerbstätige weniger haben. Die Zahl der Menschen, die Pflegeleistungen bekommen, wird sogar noch steigen. Uns fehlen jetzt schon ungefähr 3,5 Milliarden Euro in der Pflegeversicherung, ({0}) und die Kosten werden natürlich weiter steigen: durch höhere Löhne – das gönnen wir den Menschen, die dort harte Arbeit leisten – und durch mehr Pflegekräfte – das gönnen wir den Menschen, die auf Pflege angewiesen sind. Aber: Die Kosten werden steigen. Die Grünen schlagen dazu vor, den Eigenanteil zu deckeln ({1}) und die darüber hinausgehenden Kosten durch die Pflegeversicherung zu übernehmen. Weil das eine Umkehrung des derzeitigen Systems ist, spricht man dabei eben vom Sockel-Spitze-Tausch. Dazu wollen Sie noch Geld aus Steuermitteln in die Pflegeversicherung übertragen. Außerdem sollen Leistungen, die im Moment noch aus der Pflegeversicherung gezahlt werden, zukünftig von der gesetzlichen Krankenversicherung finanziert werden. Ich sage das einmal in dieser Ausführlichkeit, damit Sie merken: Es wird teurer. Es wird teurer für die Steuerzahler, es wird teurer für die Beitragszahler, für die Unternehmen wird es teurer, und es wird vor allen Dingen für die jungen Menschen teurer. Wir sprechen hier in diesem Haus sehr häufig über das Thema Altersarmut, und das sicherlich auch berechtigterweise. Aber wir dürfen nicht außer Acht lassen: Der durchschnittliche 70-Jährige hat heute ein 30-mal so hohes Vermögen wie der durchschnittliche 25-Jährige. Ich denke, wir müssen den jungen Menschen auch einfach Luft lassen, um selber vorzusorgen, um Eigenvorsorge zu betreiben. ({2}) Sie möchten die private Pflegeversicherung ja nun ganz abschaffen, und an dieser Stelle gehen wir sicher nicht mit Ihnen mit. ({3}) Die Kosten werden steigen. Sie sagen ganz explizit, dass sie durch Ihr System nochmals deutlich steigen werden. Sie setzen dem ein Case-Management entgegen, mit dem Sie das in den Griff bekommen wollen. Ich glaube, Sie haben sich da an das niederländische System angelehnt. Jetzt spricht nichts dagegen, dass man ein System, das woanders gut funktioniert, auch hier in Deutschland anwendet. Aber ich glaube, zu den Niederlanden gibt es doch zwei wesentliche Unterschiede. Wir haben hier in Deutschland einen wesentlich höheren Anteil von Menschen, die in Pflegeeinrichtungen untergebracht sind, als in den Niederlanden. Dem tragen Sie Rechnung, indem Sie sagen, Sie trennen bürokratisch klar zwischen den Case-Managern, die festlegen, welche Pflege benötigt wird, und den Leistungserbringern. Das wird in den Niederlanden aber ganz anders gehandhabt. Da sind Case-Manager und Leistungserbringer tatsächlich in den gleichen Gruppen; teilweise sind es sogar die gleichen Personen, die das tun. Insofern weiß ich nicht, ob das in den Niederlanden erfolgreiche System wirklich so auf Deutschland übertragbar ist. Ich fasse zusammen: Sie möchten die jungen Menschen gerne stärker belasten – da gehen wir mit Ihnen nicht mit –, Sie lehnen private Vorsorge, eine private Pflegeversicherung ab – auch da gehen wir nicht mit –, und Sie möchten die Kosten in den Griff bekommen, indem Sie ein System, das in den Niederlanden gut funktioniert, auf Deutschland übertragen, wobei wir eben aufgrund ganz unterschiedlicher Voraussetzungen durchaus Schwierigkeiten sehen, was die Übertragbarkeit betrifft. Ich danke Ihnen. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Jörg Schneider. – Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Heike Baehrens. ({0})

Heike Baehrens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Seit 1995 bin ich eng verbunden mit der Pflegepolitik in unserem Land. Lange zählte das Thema Pflege nicht zu den Topthemen der Politik; aber diese Legislaturperiode scheint tatsächlich die Legislaturperiode der Pflege zu sein. Wir haben in der kurzen Zeit der Großen Koalition schon viel erreicht. Wir haben ein Sofortprogramm für die Pflege auf den Weg gebracht, das mehr Pflegepersonal in die Krankenhäuser und auch in die Pflegeheime bringt. Durch Tarifbezahlung werden wir die Entlohnung der Beschäftigten in der Pflege verbessern, und wir haben auch dafür gesorgt, dass Tarifbezahlung von den Kranken- und Pflegekassen tatsächlich refinanziert werden muss. ({0}) Wir haben eine umfassende Konzertierte Aktion Pflege auf den Weg gebracht, in der eine ganz, ganz große Zahl an konkreten Maßnahmen vereinbart wurde, die wir Schritt für Schritt umsetzen werden. Die Ausbildungsoffensive für die Pflegeausbildung ist gestartet worden. Ich finde die Plakataktion – man kann jetzt überall die großflächigen Plakate sehen – unter dem Motto „Das Ding hat Zukunft“ wunderbar. ({1}) Wir haben den Weg freigemacht für ordentliche Tarifverträge in der Pflege. Und gestern haben wir eine wichtige Entlastung der Angehörigen von Pflegebedürftigen beschlossen. Jetzt gilt es – da stimme ich den Antragstellern zu –, die Pflegeversicherung weiterzuentwickeln. Ich freue mich darüber, dass wir jetzt eine breite gesellschaftliche Debatte haben und nicht mehr nur den Katzenjammer vergangener Zeiten. Ich habe den Eindruck, es gibt eine Aufbruchstimmung und eine große Bereitschaft auch in der Bevölkerung, diese Reformen tatsächlich voranzubringen. ({2}) Natürlich kosten solche Verbesserungen, wie wir sie schon auf den Weg gebracht haben und auch noch vorhaben, Geld. Wir wollen nicht, dass die Pflegebedürftigen und ihre Familien einseitig belastet werden. ({3}) Wir wollen eine Gesellschaft, in der gute pflegerische Versorgung solidarisch gesichert und getragen wird; ({4}) dafür haben auch wir schon ganz konkrete Vorschläge auf den Tisch gelegt. Darum ist es richtig und wichtig, die Eigenanteile in der stationären Pflege zu deckeln. Es ist notwendig, dass die Hauptkosten der Pflegeleistungen tatsächlich durch die solidarische Pflegeversicherung getragen werden, dass die Behandlungspflege tatsächlich endlich von denen finanziert wird, die dafür die Verantwortung tragen, nämlich die Krankenversicherungen. Und es ist auch richtig, ernsthaft darüber zu reden, wie das Geld, das im Pflegevorsorgefonds liegt und für das Negativzinsen anfallen, für die Verbesserung der Pflege heute eingesetzt werden kann. Denn jetzt, wo wir vor Augen haben, was zu tun ist, gilt es, in die Pflege zu investieren, statt Negativzinsen zu zahlen. ({5}) Wir als SPD packen das ganz konkret an, sowohl in der Großen Koalition als auch darüber hinaus. Das sieht man zum Beispiel auch daran, dass die sozialdemokratische Gesundheitssenatorin in Hamburg eine Bundesratsinitiative auf den Weg gebracht hat, um die Begrenzung der Eigenanteile tatsächlich auch realisieren zu können. An der Stelle lade ich die anderen Bundesländer ein, sich mit uns gemeinsam auf diesen Weg zu machen. Ich möchte einen Denkanstoß geben: den Antragstellern, also den Grünen, die uns heute diesen Antrag vorgelegt haben, aber vielleicht auch uns allen zum Weiterdenken. Wenn wir die Eigenanteile begrenzen wollen, dann müssen wir auch darüber nachdenken, wie wir vor allem jene entlasten können, die ganz besondere Bedarfe haben, die durch besondere, langwierige Erkrankungen und Belastungen eben auch auf eine langfristige stationäre Versorgung angewiesen sind. Das sind diejenigen, die vor allem relativ schnell Unterstützung durch Hilfe zur Pflege benötigen, weil sich die Pflege eben über einen langen Zeitraum erstreckt. Da sind oftmals Angehörige eingebunden, die selber auch noch einen Haushalt führen müssen. Und wenn wir darüber nachdenken, wie wir eine Deckelung der Eigenanteile gestalten wollen, sollten wir auch diese Bedarfsgruppen ganz besonders im Blick haben; denn genau da ist die Solidarität der Gesellschaft gefragt. ({6}) Ich möchte auch an einer anderen Stelle einen Denkanstoß geben und noch einmal kritisch nachfragen, nämlich wenn es um die Begrenzung der Eigenanteile im ambulanten Bereich geht, die auch angesprochen worden sind. Da, denke ich, sind die Überlegungen noch nicht ausgegoren; denn wir haben schon heute die Situation, dass Hilfe zur Pflege vorrangig im stationären Bereich zu zahlen ist. 31 Prozent der Menschen, die in einem Pflegeheim leben, sind auf Unterstützung durch Hilfe zur Pflege angewiesen. Im ambulanten Bereich sind es lediglich 5 Prozent. Das hängt vor allem damit zusammen, dass im ambulanten Bereich sowohl die Leistungen der häuslichen Krankenpflege aus der Krankenversicherung als auch – zusätzlich – die Leistungen der Pflegeversicherung im Bereich der Grundpflege in Anspruch genommen werden können. ({7}) – Natürlich die gesamten Leistungen der Pflegeversicherung. – Dadurch ist die Belastung im ambulanten Bereich für die Betroffenen tatsächlich nicht genauso hoch wie im stationären Bereich. An der Stelle müssen wir daher weiterdenken, und das betrifft im Übrigen auch die Frage der Personalbemessung. Sie erinnern sich, dass die Gutachter immer sagen: Ja, im Bereich der ambulanten Pflege haben wir noch keinen Vorschlag, wie wir das mit der Personalbemessung machen können. – Aber das hängt genau mit dieser Doppelstruktur zusammen, dass wir in der ambulanten Pflege gar keine Personalvorgaben, sondern im Bereich der häuslichen Krankenpflege Einzelvergütungen haben. Und wir haben Modulpreise im Bereich der Pflegeversicherung. Und dies zusammen ergibt eben niemals Personalschlüssel. Hier geht es darum, dass wir endlich leistungsgerechte Vergütungen im Bereich der häuslichen Krankenpflege bekommen, dass wir leistungsgerechte Preise im Bereich der Pflegeversicherung bekommen. Das ist ein klarer Appell, der an die Kranken- und Pflegekassen und eben auch an die überörtlichen Sozialhilfeträger geht, die hier versuchen, die Preise niedrig zu halten. ({8}) Ich komme zum Schluss. Für uns als SPD ist Pflege ein wesentlicher Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge, und ein würdevolles Leben auch bei Pflegebedürftigkeit ist aus unserer Sicht ein sozialpolitisches Versprechen, auf das sich alle Menschen verlassen können müssen. Deshalb ist es notwendig, die Pflegeversicherung jetzt weiterzuentwickeln, und es ist wichtig, die finanzielle Belastung der Pflegebedürftigen zu begrenzen. Es ist unser sozialdemokratischer Anspruch, dass alle Menschen unabhängig von Herkunft, sozialem Status und Einkommen in jeder Lebensphase gut und würdevoll leben können. Dafür haben wir in der letzten Legislaturperiode das Fundament gelegt. Daran arbeiten wir mit großen Schritten in dieser Legislaturperiode weiter, und dafür bieten wir auch zukunftsfeste Antworten an. Vielen Dank. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Heike Baehrens. – Nächste Rednerin für die FDP-Fraktion: Nicole Westig. ({0})

Nicole Westig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004931, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktion der Grünen hat sich offenbar von der Regierung inspirieren lassen, was wohlklingende Namen angeht. Sie präsentiert hier die „doppelte Pflegegarantie“. Garantie klingt gut. Allerdings wird durch den Inhalt des Antrags nichts garantiert – weder einfach noch doppelt; denn dieses Konzept wird früher oder später an die Grenze der Finanzierbarkeit stoßen. ({0}) Der demografische Wandel sollte uns davor warnen, Garantien auszusprechen; er war damals der Grund, die Pflegeversicherung eben als Teilleistungsprinzip anzulegen. Nun, nach 25 Jahren, hat er sich immens verschärft. Deshalb sollten wir nicht ausgerechnet ihn zum Anlass nehmen, vom Prinzip der Teilleistung abzuweichen. Ihr Antrag sieht jedoch einen deutlichen Ausbau der Pflegeversicherung vor. Die Diakonie will einen ähnlichen Weg beschreiten, spricht aber ehrlicher über die Kosten. Sie geht davon aus, dass der Pflegebeitragssatz beim Sockel-Spitze-Tausch sofort um über 1,3 Prozentpunkte steigen müsste. Zur Erinnerung, liebe Kolleginnen und Kollegen: Die Sozialbeitragsquote liegt aktuell bereits bei 39,9 Prozent für Kinderlose. Der demografische Wandel und die Kosten für die dringend benötigten Verbesserungen in der Pflege werden den Beitrag künftig noch mehr in die Höhe schnellen lassen. Das ist nicht nachhaltig, und das ist auch nicht solidarisch. Wer übt eigentlich Solidarität mit den nachfolgenden Generationen? ({1}) Diese werden übermäßig belastet. Spätestens wenn die Babyboomer pflegebedürftig werden, ist Ihr Konzept nicht mehr finanzierbar. Dagegen hilft auch Ihre Pflegebürgerversicherung nicht. Das eigentliche Problem der Pflegeversicherung, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ignorieren Sie: die fehlende Kapitaldeckung. ({2}) Allein durch das Umlageverfahren ist die Finanzierung der Pflege nicht nachhaltig zu schaffen. ({3}) Wir brauchen deshalb mehr private Vorsorge von denen, die es sich leisten können, um diejenigen, die es sich nicht leisten können, zielgenau unterstützen zu können. ({4}) Ihr Antrag setzt jedoch Fehlanreize. Vermögende sehen dadurch keinen Anlass, über den festgeschriebenen Anteil hinaus vorzusorgen. Sie sind es, die auf Kosten aller Beitragszahler am meisten profitieren. ({5}) Pflegebedürftige mit geringem Einkommen bekommen bereits jetzt die Kosten über die Hilfe zur Pflege erstattet. ({6}) Allerdings: Die Sorge um die steigenden Eigenanteile für Pflegebedürftige teilen wir. Hier müssen wir Lösungen finden, und da bin ich bei einigen Ihrer Vorschläge dabei, etwa die medizinische Behandlungspflege für stationär Gepflegte nicht mehr über die Pflegeversicherung, sondern – wie in der ambulanten Pflege auch – über die Krankenversicherung zu finanzieren. Auch über die Dynamisierungsregeln für die SPV kann man diskutieren. Aber eine generelle Deckelung der Eigenanteile ist sozialpolitisch nicht zielgenau und nicht nachhaltig finanzierbar. ({7}) Der Gesundheitsminister hat es in der Ausschusssitzung neulich genau richtig formuliert. Er sagte: Wir brauchen mehr Kapitaldeckung in der Pflegefinanzierung, und wir müssen deswegen etwa über Reformen des Pflegevorsorgefonds nachdenken. ({8}) Frau Weiss, richten Sie es dem Minister aus: Sie können sich ganz sicher sein, dass Sie uns bei diesem Vorhaben an Ihrer Seite haben. ({9}) Wir warten nun gespannt, wann Ihr konkretes Konzept kommt.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Und ich warte gespannt auf das Ende Ihrer Rede. ({0})

Nicole Westig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004931, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich bin am Ende. – Wir Freie Demokraten haben in dieser Legislaturperiode bereits mehrere Vorschläge für eine generationengerechte Pflegefinanzierung eingebracht. Von daher freuen wir uns auf die weiteren Beratungen. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Nicole Westig. – Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Harald Weinberg. ({0})

Harald Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004186, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen, insbesondere liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen! Sie legen hier einen äußerst interessanten Antrag mit dem Titel „Doppelte Pflegegarantie“ vor. Über viele Seiten davon konnte ich immer wieder nur nicken und Ihnen zustimmen: Viele Menschen mit Pflegebedarf und ihre Angehörigen sind im Pflegefall überfordert, auch finanziell. Es kann nicht sein, dass Verbesserungen für Beschäftigte in der stationären Pflege oder dringend notwendige Lohnerhöhungen zulasten der Menschen mit Pflegebedarf gehen und die Eigenanteile entsprechend steigen. Der Gesetzgeber macht sich hier bisher einen schlanken Fuß, da er nicht für Abhilfe sorgt, sondern die Auseinandersetzung ans Pflegebett delegiert. Menschen mit Pflegebedarf und ihre Angehörigen sollten ohne finanzielle Zwänge diejenige Pflege auswählen können, die für sie passend, nötig und bedarfsgerecht ist. ({0}) Das ist im derzeitigen System nicht gegeben. Viele können nur einen Teil der Leistungen in Anspruch nehmen, die sie bräuchten. Dies führt zu Einsparungen im System, aber nicht zu guter Versorgung. Es gibt viel zu wenige Kurzzeitpflegeplätze. Das ist ein nicht hinnehmbarer Zustand. ({1}) Es ist oft schlicht unmöglich, kurzfristig einen Kurzzeitpflegeplatz zu bekommen. Mehr als einmal hatte ich es schon mit verzweifelten Menschen zu tun, die erst in einem Umkreis von mehr als 100 Kilometern fündig wurden – und auch das nur mit Glück. Dabei bräuchten gerade pflegende Angehörige so dringend Entlastung. ({2}) Auf Seite 2 Ihres Antrags schreiben Sie, es brauche – ich zitiere – „eine umfassende Reform der Pflegeversicherung, die dafür sorgt, dass alle pflegebedürftigen Menschen die Pflege erhalten, die sie benötigen …“ Und wieder kann ich Ihnen nur zustimmen und auf die vielfältigen parlamentarischen Initiativen meiner Fraktion verweisen: „Eigenanteile in Pflegeheimen senken – Menschen mit Pflegebedarf finanziell entlasten“ – Februar 2018 –, „Pflegelöhne auf Tarifniveau sofort refinanzieren“ – im Oktober 2018 vorgelegt –, „Zwei-Klassen-System in der Pflegeversicherung beenden“ – im Januar 2019 vorgelegt –, „Sofortprogramm gegen den Pflegenotstand in der Altenpflege“ – im November 2019 vorgelegt. ({3}) Wir stehen alle gemeinsam vor der Situation, dass es in der Pflegeversicherung eigentlich der umfassenden und grundsätzlichen Reform bedarf, von der im Antrag die Rede ist. Gleichzeitig treten immer wieder ganz akute Probleme auf wie zum Beispiel, dass sich die Höhe der Eigenanteile so entwickelt, dass sie durch die Decke gehen und die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen über Gebühr belasten. Die Politik neigt dann dazu, darauf mit Sofortmaßnahmen zu reagieren. In diesem Widerspruch bewegt sich auch der vorliegende Antrag. Der formulierte Anspruch einer „umfassenden Reform“ wird nur bedingt eingelöst durch die nachfolgenden Forderungen. Umfassendere Reformkonzeptionen liegen ja vor, unter anderem – darauf haben Sie auch Bezug genommen – im Gutachten von Professor Rothgang, unter anderem für die Hans-Böckler-Stiftung. Sie knüpfen in der Begründung Ihres Antrags auch daran an. Es heißt dort: Es gibt einige Stimmen, die einen Eigenanteil für die Pflegeleistungen von null Euro, die sogenannte Pflegevollversicherung, fordern. ({4}) Demgegenüber stehen Unterstützerinnen und Unterstützer des Sockel-Spitze-Modells mit gedeckelten Eigenanteilen oberhalb von null Euro. Und dann noch: Es ist an der Zeit, für die Pflegeversicherung realistische Reformperspektiven zu entwickeln, dafür langfristige Mehrheiten zu gewinnen und in einem partizipativen Prozess gemeinsam mit den an der Umsetzung Beteiligten die konkrete Ausgestaltung unter der Berücksichtigung der zu erwartenden Rahmenbedingungen ... vorzunehmen. Das ist ein etwas komplizierter Schachtelsatz. Das heißt aber im Wesentlichen – das finde ich wichtig, und so verstehe ich die Formulierung an dieser Stelle im Antrag –, dass es ein Einstiegsprojekt in eine umfassende Reform der Pflegeversicherung sein soll und folglich als ein Diskussionsbeitrag in der zunehmend an Fahrt aufnehmenden Debatte – darauf ist schon hingewiesen worden; wir haben eine gesellschaftliche Diskussion zu diesem Thema – zu verstehen ist unter denjenigen, die der Meinung sind, dass es in der Altenpflege nicht so bleiben darf, wie es ist. Es sind an dieser Debatte nicht alle beteiligt. Einige meinen, man könnte sozusagen weiterhin die alten Wege beschreiten – ich nenne als Beispiel die Kapitaldeckung –, man könnte die alten Diskussionen weiterführen, beispielsweise die zu den Nebenkosten. Aber es gibt inzwischen doch eine ganze Menge Menschen, die sich an dieser gesellschaftlichen Diskussion beteiligen. Denjenigen geht es in der Tat um eine Verbesserung, um eine grundlegende Reform der Pflegeversicherung. ({5}) Als solches nehmen wir das Diskussionsangebot gerne auf und werden unsererseits immer wieder daran erinnern, dass eine wirklich umfassende Reform der Altenpflege durchaus realisierbar, finanzierbar, möglich, sinnvoll und dringend geboten ist. Was wir brauchen, ist eine solidarische Pflegevollversicherung, erst dann können wir von einer wirklichen Pflegegarantie sprechen. Vielen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Harald Weinberg. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Erich Irlstorfer. ({0})

Erich Irlstorfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004311, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, dass heute ein Anfang gemacht wird bei der Diskussion einer Reform der Pflegeversicherung. Ich begrüße es sehr, was hier vorgelegt worden ist, weil man – das ist eben der Unterschied – nicht nur Schwierigkeiten und Probleme benennt, sondern auch Lösungen anbietet. Das geschieht hier. ({0}) Ich glaube, dass heute schon viele wichtige Punkte genannt worden sind. Auch unser Minister hat ganz klar gesagt, dass er das Thema der Reform der Pflegeversicherung als eines der wichtigen Themen ansieht. Somit werden wir das im neuen Jahr gemeinsam anpacken. Meine sehr geehrten Damen und Herren, für die Union kann ich Ihnen sagen, dass wir der Meinung sind, dass die Pflegeversicherung, die es seit 1995 gibt und die als Teilkaskomodell eingeführt worden ist, so generell richtig ist. Der Bereich der Eigenverantwortung gehört mit dazu. Welchen Anreiz würde es denn geben, wenn man sagen würde, dass derjenige, der Vorsorge trifft, der sich privat absichert, im Endeffekt keinen Vorteil hat, weil sowieso alles gleichgemacht wird und in einem Vollkaskomodell alles bezahlt wird? Das, glaube ich, wäre der falsche Weg und würde dem Ganzen nicht gerecht werden. Wir hören in jeder Sitzungswoche immer wieder Forderungen, was wir machen sollen. Ich glaube, dass wir diese Forderungen jetzt umfassend miteinander in Verbindung bringen müssen. Natürlich geht es um Eigenanteile. Es geht aber natürlich auch um Beitragsstabilität; das ist uns wichtig. Wir dürfen dies alles nicht gegeneinander ausspielen. Es darf nicht so sein, dass man sagt, man dürfe die Eigenanteile nicht angehen, weil man sonst keine ordentlichen Löhne mehr zahlen könne. Nein, meine sehr geehrten Damen und Herren, hier brauchen wir eine Diskussion über diesen gesamten Themenblock. Das ist erkannt und wird auch gemacht werden. Wir diskutieren hier über die Themen, die wir anpacken wollen. Das betrifft die ambulante Pflege, die stationäre Pflege, aber auch Themen wie die Qualität. Der wesentliche Punkt wird aber sein – davon bin ich überzeugt –, ob wir im Endeffekt genügend Menschen in der Pflege haben, die diesen Beruf gerne machen. Ich glaube, dass es das entscheidende Instrument ist, dass wir gut ausgebildete Pflegekräfte in einer ausreichenden Menge haben. Die stationären Einrichtungen benötigen aber auch täglich Hilfskräfte, die Tätigkeiten machen, die im Bereich des hauswirtschaftlichen Bereichs liegen, und die somit, was die Kosten betrifft, natürlich in einer anderen Liga spielen. Ich war gestern bei Verdi und habe an einer Podiumsdiskussion teilgenommen. Das möchte ich heute einmal klarstellen: Hier wird immer davon geredet, man müsse Druck auf die Politik ausüben. Ich kann an Verdi gerichtet nur sagen: Bei mir löst es keinen Druck aus, wenn man standardisierte Briefe mit einer Auflage von 4 000 oder 5 000 Stück an Abgeordnete schickt. Das beeindruckt mich auch nicht. Die Entscheidungen werden am Verhandlungstisch getroffen, nicht auf der Straße und nicht mit Parolen. ({1}) Natürlich benötigen wir – das will ich hier schon sagen – konkrete Vorschläge. Einer dieser Vorschläge, der von unserer Seite kommt, betrifft den Umstand, dass wir Menschen, die langjährig pflegebedürftig sind, natürlich anders bewertet werden müssen als Patienten, die eher kurzfristig eine Pflege benötigen. Ich glaube auch, dass es ein Grundsatz sein muss, dass sich aufgrund der Pflegebedürftigkeit der Eltern oder anderer Angehöriger nicht Biografien von Menschen der jüngeren Generation aus finanziellen Gründen verändern dürfen. ({2}) Das ist wichtig. Wir dürfen nichts verschieben. Die ältere Generation, die Demografie, das alles ist schon erwähnt worden, das hat alles seine Berechtigung und ist auch richtig. Aber ich glaube auch, dass wir hier sachgerecht und mit der nötigen Sensibilität vorgehen müssen, um die Generationengerechtigkeit auch weiterhin herzustellen. Ebenso ist es notwendig, dass wir eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe einrichten und auch die kommunale Ebene wieder in diesen Prozess mit einbinden. ({3}) Das Ganze wird nicht gelingen, meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn wir nur sagen, dass sich der Bund um die Finanzierung kümmern muss und die Länder für die Investitionen zuständig sind, die sie – das muss man auch einmal deutlich sagen – leider nicht erbringen. Hier stehen die Länder in der Verantwortung für das Zugesagte. Wir müssen dafür sorgen, dass auch die Kommunen, die vor Ort natürlich näher dran sind, die die Situation vielleicht besser beurteilen können, sowohl Verantwortung bei der Entscheidung als auch bei den Kosten tragen. Es gehört dazu, dass jeder kommunale Haushalt den Bereich der Pflege, der Medizin und der demografischen Entwicklung hier implementiert. Meine sehr geehrten Damen und Herren, zum Schluss: Ich glaube, es ist heute wirklich ein guter Auftakt, ein konstruktiver Auftakt. Wir werden diese Themen gemeinsam mit unserem Minister im neuen Jahr besprechen. Wir werden dann nicht nur Lösungen anbieten, sondern auch Lösungen umsetzen, damit es in Deutschland weiterhin eine gerechte, eine menschliche, eine gute Pflege gibt. Herzlichen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Erich Irlstorfer. – Nächster Redner für die AfD-Fraktion: Ulrich Oehme. ({0})

Ulrich Oehme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004843, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Ist eine Reform der Pflegeversicherung notwendig? Wenn man, wie ich persönlich, von der Pflege von Angehörigen betroffen ist oder in meinem Wahlkreis mit Betreibern von Einrichtungen spricht, spürt man immer wieder die Grenzen, die die aktuelle Gesetzeslage setzt. Wir brauchen eine Alternative. Leider ist der von Ihnen vorgelegte Antrag, liebe Kollegen der Grünen, keine Alternative. Der Antrag, der hier vorliegt, wird die Kosten in der Pflege weiter in die Höhe treiben. ({0}) – Richtig, wir sind die Alternative. Schauen wir uns einmal Ihre doppelte Pflegegarantie genauer an. Unter Punkt 1 a fordern Sie von der Bundesregierung, dass der Eigenpflegeanteil deutlich unter den durchschnittlich 690 Euro liegen soll. So weit, so gut. Unter Punkt 1 b fordern Sie, dass die Pflegeversicherung alle darüber hinausgehenden pflegerischen Kosten übernimmt. Sie reden nicht nur dem Modell eines Sockel-Spitze-Tausches das Wort, sondern Sie belassen die Kosten von Unterkunft und Verpflegung der vollstationären Pflege in der Eigenverantwortung des Versicherten; aber Sie sagen dies den Versicherten nicht. Keinerlei Aussage treffen Sie dazu, wie Unternehmer dazu animiert werden können, die bis 2040 fast 400 000 zusätzlich benötigten Pflegeplätze mit einem Investitionsvolumen von rund 109 Milliarden Euro zu schaffen. Spricht man mit Betreibern kleiner Heime, erfährt man, dass diese keinerlei Anreiz für die Fortführung ihres Geschäftes sehen, nicht weil sie sich nicht mehr um ihre Bewohner kümmern wollen, sondern weil sie keine Lust mehr haben, sich mit dem Wust und der Fülle an Vorschriften auseinanderzusetzen. ({1}) Das langsame Sterben von familiengeführten Unternehmen zugunsten großer Anbieter im Pflegesektor ist auf die überbordende Gesetzesflut, die ein geradezu feindliches Marktklima schafft, zurückzuführen – ohne dass dies für die Qualitätssicherung zwingend notwendig wäre. Als Beispiel dazu: die Heimmindestbauverordnung. Sie fordert dogmatisch die Errichtung eines technisch aufwendigen Pflegebades, und zwar für jeweils 20 Bewohner ein Bad. Dabei sind die bestehenden Pflegebäder in den Einrichtungen überhaupt nicht ausgelastet, weil die Bewohner lieber die Dusche im eigenen Zimmer nutzen. Statt diese Regelflut und Bürokratie abzubauen und so Kosten zu senken, gehen Sie in Ihrem Antrag sogar noch weiter und machen aus den frei wählbaren Leistungen eine sozialistische Plan- und Verteilungswirtschaft. ({2}) Ihr Case-Management vor Ort ist letztlich nichts weiter als ein Bedarfsfeststellungsverfahren für jeden Pflegebedürftigen. Das bedeutet schlichtweg Steuerung und Rationierung von Leistungen. ({3}) Leider steht in diesem Antrag nichts über die größte Gruppe des Pflegesektors. Von den circa 3,5 Millionen zu Pflegenden in Deutschland werden zwei Drittel, also knapp 2,5 Millionen, von Angehörigen entweder ganz oder mit ambulanter Unterstützung zu Hause gepflegt. Dieser größte Pflegedienst Deutschlands schuftet unabhängig vom Pflegegrad der zu Pflegenden bis zu zehn Stunden täglich. Überwiegend wird diese Tätigkeit von Frauen übernommen, die dadurch nicht in der Lage sind, einer eigenen Erwerbstätigkeit nachzugehen. Die Anrechnung, Anerkennung und Wertschätzung dieser Leistung fällt bisher leider viel zu gering aus. ({4}) Wir brauchen eine Alternative für die Situation in der Pflege. Diese liegt aber sicherlich nicht in sozialistischer Plan- und Versorgungswirtschaft gepaart mit zu viel staatlichem Eingriff. Vielmehr liegt sie in einer investitionsfreundlichen Wirtschaftskultur, in der besseren Nutzung der Ressource der Angehörigenpflege und dem Ziel, kommende Generationen finanziell nicht noch mehr zu belasten. ({5}) Die heutige Debatte hier zeigt, dass alle Parteien an einer Lösung des Problems interessiert sind. Auch die AfD wird sich in diese Debatte einbringen. Wir freuen uns schon auf die Diskussionen. Danke. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Ulrich Oehme. – Nächste Rednerin: Sabine Dittmar für die SPD-Fraktion. ({0})

Sabine Dittmar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004261, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Unsere vor 25 Jahren eingeführte soziale Pflegeversicherung ist eine echte soziale Errungenschaft. Das Pflegerisiko wurde erstmals finanziell abgesichert. Aber mit Blick auf den demografischen Wandel erkennen wir, dass der Bedarf an Pflegeleistungen natürlich enorm ist und vor allem weiter steigen wird. Aus diesem Grund haben wir nicht nur in dieser, sondern auch schon in der vergangenen Legislaturperiode vieles auf den Weg gebracht, um unseren Pflegesektor zukunftssicher zu machen. Ich kann Ihnen sagen: Wir werden in diesen Anstrengungen nicht nachlassen. Die Leistungen für Pflegebedürftige und pflegende Angehörige wurden deutlich ausgeweitet. Sie wurden auch auf kognitiv eingeschränkte Patientinnen und Patienten erweitert. Die Kurzzeit- und Verhinderungspflege wurde flexibilisiert, Versorgungslücken nach einem Krankenhausaufenthalt wurden gesetzgeberisch geschlossen, und die Personalausstattung wurde aufgestockt. Ich bin mir sicher, wenn das jetzt in Auftrag gegebene Gutachten zur Personalbemessung vorliegt und die Ergebnisse umgesetzt werden, wird das Personal weiter aufwachsen. Mir ist es wichtig, dass dieses Personal verbindliche Tarifverträge und eine gute Bezahlung erhält. ({0}) Diese Leistungsverbesserungen gibt es nicht umsonst. Gute Pflege hat ihren Preis, und zwar zu Recht. Es darf aber nicht sein, dass die zu erbringenden Eigenleistungen, Eigenanteile – wir erleben dies vor allem im stationären Bereich, wenn vollstationäre Leistungen lange in Anspruch genommen werden – aus dem Ruder laufen. Hier gilt es Schranken einzubauen. Im Positionspapier der SPD-Fraktion „Pflege solidarisch gestalten“ – Sie weisen dankenswerterweise in Ihrem Antrag darauf hin – haben wir deshalb noch einmal zusammengefasst, welche Schritte wir für notwendig erachten, um Pflege solidarisch abzusichern. Wir begreifen Pflege als gesamtgesellschaftliche Aufgabe und wollen die soziale Pflegeversicherung zu einer echten Pflegebürgerversicherung weiterentwickeln. ({1}) Ein erster Schritt ist, die jetzige Konzeption der Pflegeversicherung, die als Teilkostenversicherung konzipiert ist, hin zu einer echten Teilkaskoversicherung weiterzuentwickeln. Das heißt, wir wollen nicht mehr die Zuschüsse der Pflegeversicherung deckeln, vielmehr sollen die Eigenanteile der Pflegebedürftigen gedeckelt werden. ({2}) So wird die finanzielle Belastung durch Pflege überschaubar. ({3}) Wenn man sich aber die Investitionskosten, die zu Buche schlagen, je nach Einrichtung und Bundesland anschaut, dann hat man manchmal den Eindruck, dass man den Heimplatz dauerhaft erwirbt. Ich denke, im Bereich Investitionskosten – diese galoppieren wirklich davon – sind die Länder eindringlich gefordert, ihre Hausaufgaben zu machen. ({4}) Das betrifft im Übrigen auch die moderne Landespflegeplanung. Hier geht der Appell an die Grünen. Ich war ein bisschen überrascht, dass ausgerechnet Baden-Württemberg aus der Landespflegeplanung ausgestiegen ist. Sehr geehrte Damen und Herren, Planbarkeit und Verlässlichkeit sind zentrale Aspekte von guter Pflege. Mit dem gestern verabschiedeten Angehörigen-Entlastungsgesetz leisten wir auch da einen effizienten Beitrag. ({5}) Wenn Kinder oder Eltern Leistungen der Hilfe zur Pflege oder andere Leistungen der Sozialhilfe beziehen, müssen sie sich zukünftig keine Sorgen hinsichtlich einer finanziellen Überlastung machen. Die Einkommensgrenze liegt bei 100 000 Euro im Jahr. Ein wichtiges Anliegen ist mir auch ganz persönlich – ich sage das aus voller Überzeugung, weil ich erst vor Kurzem von heute auf morgen Pflege organisieren musste –, dass wir mehr Kurzzeitpflegeplätze zur Verfügung stellen und dass diese für den Träger auskömmlich finanziert sind. ({6}) Es ist genauso wichtig, dass wir endlich dafür sorgen, dass die Leistungen der Pflegeversicherung flexibler eingesetzt werden können, also endlich ein Entlastungsbudget eingeführt wird, wie wir es im Koalitionsvertrag vorgesehen haben. Ich denke, dass Minister Spahn zeitnah einen Entwurf vorlegen wird. Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Blick auf die häusliche Pflege werfen. Pflege in Deutschland wird nach wie vor zum größten Teil innerhalb der Familie geleistet und dort vor allem von Frauen. Die SPD möchte deshalb pflegende Angehörige und damit vor allem die rund 3 Millionen Frauen, die familiäre Pflege leisten, besser absichern. Dazu wollen wir einen Anspruch auf Pflegezeit mit Lohnersatzleistungen einführen analog zur Elternzeit mit Elterngeld. Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, es wurde viel getan. Wir haben noch viel vor uns. Aber ich erkenne hier im Plenum einen großen Konsens, konstruktiv an einer guten Lösung zu arbeiten. Ich freue mich deshalb auf die parlamentarische Debatte. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Sabine Dittmar. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Dr. Wieland Schinnenburg. ({0})

Dr. Wieland Schinnenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004874, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als ich diesen Antrag der Grünen gelesen habe, habe ich mich doch einigermaßen gewundert. Denn er widerspricht in vielem dem, was die Grünen uns sonst so erzählen. Erstens. Die Grünen reden gerne von Nachhaltigkeit und zünden hier einen Ausgabenturbo. Meine Damen und Herren, Mehrkosten im zweistelligen Milliardenbereich für künftige Generationen – das ist nicht nachhaltig, das ist schlicht und einfach falsch. ({0}) Zweitens. Die Grünen sagen doch ständig, das Klima sei das wichtigste Thema, und entwerfen apokalyptischste Szenarien. Wenn dem so ist, müssen wir doch jeden verfügbaren Euro dafür ausgeben, das Klima zu retten. Wir müssen Geld ausgeben für Klimaforschung und für klimafreundliche Infrastruktur. Ich sage Ihnen: Das Geld, das Sie hier ausgeben wollen, wird uns später beim Kampf gegen den Klimawandel fehlen. Das ist ein Fehler. ({1}) Drittens. Die Grünen wecken falsche Erwartungen. Sie suggerieren mit diesem Antrag, die Pflege würde billiger für die Menschen. Das ist falsch. Der Eigenanteil sinkt; das stimmt. Aber dadurch werden die Beiträge und die Steuern steigen. Das ist nicht billiger. Sie erwecken einen falschen Eindruck. ({2}) Viertens. Die Grünen reden gerne von Vielfalt. Hier wollen Sie auf einmal die Bürgerversicherung, also eine Einheitsversicherung, das genaue Gegenteil von Vielfalt und das Gegenteil von Wettbewerb und Alternativen. ({3}) Damit sind wir bei der sogenannten Bürgerversicherung, die in Wirklichkeit eine Einheitsversicherung ist. ({4}) Diese Bürgerversicherung hat mehr Fehler, als mancher Hund Flöhe hat. Lassen Sie uns einen Blick in diesen Flohzirkus werfen: ({5}) Erstens. Die Bürgerversicherung basiert auf dem Umlageprinzip. Das Umlageprinzip kann funktionieren, wenn die Jahrgänge etwa gleich sind. Das ist aber nicht der Fall. Wir haben schon sehr bald sehr viele Pflegebedürftige, aber nur wenige Beitragszahler, und da kann ein Umlagesystem nicht funktionieren. ({6}) Wir belasten damit Ältere. Das ist inakzeptabel. ({7}) Zweitens. Wir müssen, gerade weil das so ist, den Menschen Anreize geben, eigene Vorsorge zu betreiben. Wenn Sie aber einen relativ niedrigen Eigenanteil vorsehen und dafür die gesamten Leistungen anbieten, entfällt jeglicher Anreiz, eigene Vorsorge zu betreiben. Das, meine Damen und Herren, ist nichts anderes als kontraproduktiv. Darum lehnen wir das auch ab. Drittens. Wir müssen natürlich sehen – das hat mich wirklich überrascht –, dass Sie auf diese Weise die Arbeitgeber entlasten. Das mag man ja gut finden. Nur kann ich mich entsinnen, dass Grüne, Linke und auch die SPD immer von der Parität reden; die Arbeitgeber müssen einen paritätischen Beitrag leisten. Mit der Bürgerversicherung beseitigen Sie genau das. ({8}) Denn wenn Sie alle Einnahmen einbeziehen, sinkt der Anteil des Beitrages aus der abhängigen Beschäftigung, woran sich der Arbeitgeber beteiligt. Ergebnis: Grüne, Linke und SPD senken den Arbeitgeberanteil. Kann man gut finden, entspricht aber nicht dem, was Sie sonst immer erzählen. ({9}) Viertens. Wenn Sie alle Einnahmen berücksichtigen wollen, müssen Sie natürlich auch kontrollieren, ob sie auch wirklich gemeldet werden. Was brauchen Sie? Eine Pflegefahndung analog der Steuerfahndung. Liebe Grüne, haben Sie nicht irgendwann mal was von Datenschutz erzählt? Meine Damen und Herren, die Bürgerversicherung wird zu einer großen Schnüffelei führen. Das teilen wir als Freie Demokraten nicht. ({10}) Ergebnis: Die Einheitsversicherung ist nichts anderes als eine Einfaltsversicherung, und das lehnen wir Freie Demokraten ab. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({11})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Schinnenburg. – Nächster und letzter Redner in dieser Debatte: Dr. Roy Kühne für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Roy Kühne (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004334, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Pflegeversicherung ist ein Erfolgsmodell; das wurde heute bereits mehrfach gesagt. Aber sie ist auch ein Modell, das natürlich im Laufe der Zeit irgendwann renoviert und aktualisiert werden muss. In Anbetracht des demografischen Wandels, der absehbar steigenden Anzahl von Pflegebedürftigen und vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels ist klar, dass das System neuerdings vor großen Herausforderungen steht. Der vorliegende Antrag der Grünen beschäftigt sich daher vollkommen zu Recht mit der Frage, wie pflegerische Leistungen in Zukunft finanzierbar werden, für Angehörige und auch für die Pflegebedürftigen selber. Es ist sicherlich eine Frage, die uns als Gesundheitspolitiker momentan stark beschäftigen sollte; denn sie bewegt die Gesellschaft. Die Vorschläge, die derzeit aber im Raum stehen, könnten teilweise kaum unterschiedlicher sein. Deshalb lohnt es sich gerade jetzt, einen Blick auf die Details zu werfen und zu gucken, wo wir Ressourcen heben können und – das wurde bereits angesprochen – wie wir verschiedenste Verantwortungsebenen einbeziehen können; die Kommunen wurden genannt. Das bedeutet aber nicht, dass wir eine totale Abkehr von der bisherigen Systematik haben wollen. Wir haben – das wurde durch meinen Kollegen Herrn Rüddel schon angesprochen – in den vergangenen Wahlperioden mit den Pflegestärkungsgesetzen I bis III wesentliche Verbesserungen in der pflegerischen Versorgung auf den Weg gebracht. Diesen Weg setzen wir mit dem Pflegepersonal-Stärkungsgesetz und dem Pflegelöhneverbesserungsgesetz konsequent fort. Die Kosten in der Pflege steigen aber auch deshalb, weil wir genau das getan haben, wodurch Pflegekräfte – verdient – mehr Geld verdienen. Dadurch verbessern wir Arbeitsstrukturen und haben natürlich auch motiviertere Pflegekräfte. Das spüren Patientinnen und Patienten und Angehörige. Das sollten wir nicht verschweigen. Ebenfalls haben wir die Rückgriffsschwelle gerade gestern auf 100 000 Euro festgesetzt. Damit setzen wir weiter auf konkrete Verbesserungen. Ich glaube, mit diesen Aktionen sind weitere Grundpfeiler gesetzt, um zukünftig die Initiative, die auch durch die konzertierte Aktion begonnen wurde, weiter voranzubringen. Ich bin den beteiligten Ressorts sehr dankbar, dass wir diese Diskussion aktuell führen. Noch mal: Pflegepolitik ist etwas, was die Menschen draußen unmittelbar spüren, egal in welchem Bereich. Dies wurde auch schon mehrfach gesagt: Wir sind uns, glaube ich, alle darin einig, dass mit den Belastungen von Menschen, die zu pflegende Angehörige haben, irgendwo auch Schluss sein muss. Es ist für die Menschen nicht mehr nachvollziehbar, dass die berechtigten Veränderungen in der Pflegepolitik irgendwie nur auf die Menschen abgewälzt werden, die dann den Mehrkostenanteil zu tragen haben. Wir als Politik haben hier die Verantwortung, eine Lösung zu finden, sodass die Menschen draußen sagen: Jawoll, hier muss Geld investiert werden. Ich bin dabei. Aber du, Staat, hast ebenfalls deine Verantwortung. ({0}) Ganz konkret – ich möchte gar nicht weiter darauf eingehen; denn es wurde genug dazu gesagt –: Ich möchte mit Blick auf den vorliegenden Antrag klar sagen, dass ich den Kollegen von den Grünen sehr dankbar bin, dass das Thema aktualisiert wird. Es wurde, glaube ich, auch schon mehrfach parteiübergreifend – mit einer Ausnahme – gesagt, dass hier logischerweise investiert werden muss, und zwar in Zeit und Gespräche. Ich befürchte aber, dass wir, wenn wir die Sockel-Spitze-Umkehr machen – das wurde auch schon gesagt –, teilweise eine Wettbewerbsverschiebung bekommen, weil im Grunde genommen die Verhältnisse in den Ländern, was die Kosten angeht, verschoben werden. Wir müssen daher überlegen, wie wir gleichwertige Verhältnisse schaffen. Wir hatten heute Morgen die Debatte zum 30. Jahrestag des Mauerfalls. Es kam wieder der Spruch: Wir müssen für gleiche Lebens- und Arbeitsverhältnisse sorgen. – Das ist ein guter Einstieg, darüber nachzudenken, wie wir die gleichwertige Finanzierung der Löhne gleichmäßig auf die Bundesländer verteilen, sodass eine Pflegekraft fünf Kilometer weiter von einer anderen nicht das Gefühl hat, sie sei Pflegekraft zweiter Klasse. ({1}) Ich werfe mal einen Stein ins Wasser: Man muss vielleicht auch einmal über unpopuläre oder unorthodoxe Lösungen reden. Es stellt sich nämlich zum Beispiel die Frage nach der Finanzierung der medizinischen Behandlungspflege in stationären Einrichtungen durch die Krankenversicherung. Wenn an einem Tag etwas zu einem ganz bestimmten Satz bezahlt wird, am nächsten Tag aber derselbe Patient mit derselben Leistungsvorsorge, wahrscheinlich sogar mit denselben Mitteln, kommt, aber eine unterschiedliche Bezahlung stattfindet, dann müssen wir die Frage stellen: Ist das richtig? Ich denke, in dieser Frage kann man durchaus mit den Krankenkassen sprechen. ({2}) Um eine in meinen Augen ungünstige Formulierung zu wählen, die übrigens kein Unternehmen aus der Wirtschaft so benutzt: Mir wird oftmals zu sehr von „Kosten“ geredet. Keine Firma, die von Verbesserungen von Know-how, von Verbesserungen von Leistungen und von Verbesserungen von Effektivität redet, spricht von „Kosten“. Wir lesen in allen Zeitungen: Die und die Firma investiert in die Zukunft. – Ich glaube, wir sollten uns darin einig werden, diese Vokabel zu nutzen. Mit einer guten Pflegepolitik, mit einer Entlastung der Angehörigen investieren wir in die Zukunft. ({3}) Die Zukunft besteht darin, dass wir den Pflegebedürftigen eine wirklich menschengerechte, adäquate Pflege zukommen lassen und dass die Angehörigen keine Angst haben müssen, ob sie morgen die Pflege ihrer Angehörigen noch bezahlen können. Deshalb denke ich: Wenn wir über die Finanzierung der Pflege reden, geht es darum, wie wir diesen Menschen Sicherheit geben können. Gleichzeitig muss es natürlich auch eine Diskussion über die Situation der Pflegekräfte geben. Ich glaube, die Pflegekräfte haben wir ganz klar an unserer Seite, wenn wir ihnen Raum für Motivation lassen, wenn wir Raum für Arbeitsstrukturen lassen und wenn wir Raum für Gehalt lassen. Das sind Faktoren, die Menschen ihren Arbeitsprozess motiviert durchführen lassen. Das ist gerade in der Behandlung von Menschen immens wichtig. Es ist ein Unterschied, ob eine Stoßstange ausgetauscht oder ob ein Mensch gepflegt wird. Darüber sollten wir uns im Klaren sein. ({4}) Ich bin den Grünen, wie gesagt, sehr dankbar, dass wir hier genau hinterfragen, wie es zukünftig mit der Pflege weitergeht. Ich glaube, übergreifend sind wir uns alle einig, dass das passieren muss. Deshalb freue ich mich ebenfalls auf eine konstruktive, eine streitbare Diskussion – warum nicht? –, aber alle bitte mit dem gleichen Ziel. Danke schön. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Roy Kühne. – Manche von Ihnen erwarten jetzt, dass Emmi Zeulner redet. Aber sie redet nicht, weil sie leider erkrankt ist. Von hier aus gute Besserung! Die Redezeit wurde aber natürlich auf die Kollegen der CDU/CSU-Fraktion verteilt.

Klaus Mindrup (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004354, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich freue mich, dass wir heute beim Klimaschutz wieder einen Schritt vorankommen. Bevor ich aber zum Gesetzentwurf der Regierungskoalition komme, möchte ich erst mal etwas zum Antrag der FDP sagen. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum wiederholten Mal diskutieren wir jetzt hier über Ihren Vorschlag, den europäischen Emissionshandel sofort auszuweiten auf die Bereiche Verkehr und Gebäude. Wir haben in der Vergangenheit – ich denke, das sollten Sie auch tun – mit Praktikern geredet, ({1}) mit Unternehmerinnen und Unternehmern, mit Gewerkschaften und Betriebsräten. Auch die Wissenschaft sagt: Die Vermeidungskosten sind sehr unterschiedlich. – Was passiert, wenn wir Ihren Vorschlag umsetzen würden? Der Fahrer oder die Fahrerin eines großen Autos kann sich einfach freikaufen; aber die Industrie kann nicht schnell genug reagieren. Das, was Sie an dieser Stelle machen, ist nichts anderes als eine Gefährdung des Industriestandorts Deutschland, unserer Grundstoffindustrie, und das können wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten auf gar keinen Fall unterstützen. ({2}) Ich freue mich, dass auch unser Koalitionspartner diese Einsicht teilt und dass wir hier einen Gesetzentwurf für einen nationalen Emissionshandel für die Bereiche Verkehr und Gebäude einbringen. Die Kernbotschaft, die von diesem Gesetzentwurf ausgeht, ist: Fossiles CO2 bekommt jetzt überall einen Preis. Das ist ganz entscheidend. ({3}) – Herr Kollege, dazu komme ich gleich. – Wir wollen einen Wirtschaftskreislauf, der fossiles CO2 reduziert. Wir wollen eine Low Carbon Economy. Wir wollen eine zukunftsfähige Wirtschaft schaffen. ({4}) Und wir wollen der Industrie, dem Gewerbe und den Verbraucherinnen und Verbrauchern die notwendige Übergangszeit geben. Und das tun wir.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege Mindrup, erlauben Sie eine Zwischenfrage?

Klaus Mindrup (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004354, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, wir führen die Debatte ja noch im Ausschuss. Das mache ich jetzt nicht. Die Kolleginnen und Kollegen wollen ja irgendwann auch noch mal nach Hause. ({0}) Die Einnahmen, die wir aus dem Emissionshandel erzielen, fließen an die Bürgerinnen und Bürger zurück: in Investitionsprogramme, in die Senkung der EEG-Umlage, in das Wohngeld, in die Unterstützung bei den Fahrtkosten. Es ist ja gerade schon vom Kollegen Dr. Köhler angesprochen worden: Es wird hier behauptet, dieses Gesetz sei verfassungswidrig. Ich habe großen Respekt vor dem Bundesverfassungsgericht. Die Art und Weise, wie das Bundesverfassungsgericht hier instrumentalisiert wird, halte ich für überhaupt nicht tragfähig, meine Damen und Herren! ({1}) Das Gesetz soll mindestens bis 2050 wirken, und Sie nehmen die Einführungsphase heraus und schließen von der Einführungsphase auf die gesamte Laufzeit des Gesetzes. Nur diesen Zeitraum zu betrachten, ist ein fataler Fehler. Das ist absolut falsch. ({2}) Das wäre so wie beim Fußball. Der BVB hat 0 : 2 gegen Mailand zurückgelegen. Mein Bruder war im Stadion und hat gesagt, er geht nach Hause. Wäre er nach Hause gegangen, wäre es ein fataler Fehler gewesen. Das Spiel dauert 90 Minuten. Der Betrachtungszeitraum ist entscheidend. ({3}) – Das ist übrigens das Einzige, wo ich Schwarz-Gelb gut finde. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in der Anhörung herausgearbeitet: Der europäische Emissionshandel hat zwölf Jahre gebraucht, bis er ein wirksames Preissignal gesendet hat. Wir wollen das in sechs Jahren schaffen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen und werden in diesem Bereich erfolgreich sein. Wir bringen viele Dinge nach vorne. Wir stocken die Mittel für die Bahn auf – Rekordinvestitionen. Wir schaffen ein modernes Gebäudeenergierecht, damit wir vorankommen. Wir erhöhen die Zuschüsse in diesem Bereich. Wir stärken die steuerliche Förderung. Wir machen ein Gebäudeenergierecht, wo die Photovoltaik endlich als erneuerbare Energie angerechnet werden kann. ({4}) Das ist ganz entscheidend. Beim 52-Gigawatt-Deckel geht es voran. Und wir werden die Mittel für die Bürgerenergie aufstocken. Das machen wir alles parallel zur Einführung des Emissionshandels; denn der Emissionshandel allein wird es nicht schaffen. Der Emissionshandel muss flankiert werden von Innovation, von Forschung, von Anreizen und von Ordnungsrecht. Dann werden wir gemeinsam erfolgreich sein. Herzlichen Dank. ({5})

Karsten Hilse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004752, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Landsleute! Endlich ist die nächste Stufe der Ausplünderung eingeläutet: Klimaschutzgesetz, Brennstoffemissionshandelsgesetz. Die Einführung der gesetzlichen Grundlagen zur Besteuerung der Atemluft steht kurz bevor. ({0}) „Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegefeuer springt“ – ein beliebter Spruch im Mittelalter, um den Ablasshandel zu begleiten. Auch hier wurde eine Gefahr – die, im Fegefeuer zu verbrennen – frei erfunden, um die Menschen gnadenlos auszuplündern. Und auch heute macht man sich Gedanken, wie man die Ausplünderung forcieren, wie man sie perfektionieren kann und wie man die Menschen dazu bringt, dass sie sich freiwillig – freiwillig! – einen nicht unerheblichen Teil ihres hart erarbeiteten Geldes abpressen lassen. Bemerkenswerterweise ist es auch heute wieder das Fegefeuer, vor dem man den Menschen Angst macht, diesmal geht es aber nicht nur um die einzelne Seele, sondern um den Untergang der ganzen Welt, quasi um das finale Fegefeuer. Mit einem Priester auf der Kanzel ist es bei solchen Dimensionen natürlich nicht getan; da muss man schon größere Geschütze auffahren. So konnten wir in den letzten Jahren, vor allem im zurückliegenden Jahr, eine gut geplante, hoch emotionale und professionell durchgezogene Kampagne erleben, losgetreten von Neomarxisten, Neostalinisten, teilweise finanziert von Multimilliardären, begleitet von Leitmedien, vor allem von den Öffentlich-Rechtlichen. Diese hämmerten ihren Lesern und Zuschauern tagtäglich ein, dass sie für das nahende, finale Fegefeuer verantwortlich seien. Mit genügend finanziellen Mitteln ausgestattete Organisationen nahmen dann Kinder und Jugendliche ins Visier und missbrauchten diese für ihre Ziele. Als Vorbild galt die Kulturrevolution in China und die damaligen Kommunisten, die die Kinder gegen ihre Eltern aufhetzten. Damals war es der Große Sprung mit Millionen von Toten. Heute ist es die Große Transformation. ({1}) Unter der Anführerschaft von Greta Thunberg zogen hüpfend und schreiend Tausende Kinder und Jugendliche durch die Straßen und forderten, den Wohlstand, den ihre Eltern mit ihrer Hände Arbeit geschaffen hatten, für die Rettung der Welt zu vernichten und den bösen Kapitalismus doch endlich zu überwinden und endlich weltweit den Übergang zum Sozialismus einzuläuten. Ich bin im Sozialismus aufgewachsen. Ich habe Plan- und Mangelwirtschaft erlebt. Ich habe Meinungsdiktatur erlebt und die Einschränkung der persönlichen Freiheit. Ich möchte keinen Sozialismus, egal ob er im braunen, roten oder im grünen Gewand daherkommt. ({2}) Um Greta ist es in den letzten Wochen etwas ruhiger geworden. Das hat sicherlich damit zu tun, dass sich die Amis eher nicht um falsche Weltuntergangspropheten kümmern. Von hier aus: Herzlichen Glückwunsch, Herr Trump, zum Aussteigen aus dem Pariser Klimaübereinkommen. ({3}) Allerdings interessieren sich die deutschen Leitmedien dafür, wie Frau Thunberg jetzt CO2-neutral nach Madrid kommt. Wenn Frau Göring-Eckardt – sie ist heute nicht da, schade - ({4}) und der Berliner Bischof recht behalten, die sie mit einem Propheten und Jesus verglichen haben, wird sie wohl übers Meer gelaufen kommen. ({5}) Kommen wir zum Gesetz. Mit der Einführung eines nationalen Emissionshandelsgesetzes wird ein weiteres Bürokratiemonster geschaffen, das die Menschen weiter ausplündert. Die Kosten werden gewohnheitsgemäß von den Unternehmern direkt oder indirekt auf die Kunden umgelegt werden. Gleichzeitig schafft man die nächste Abteilung bzw. Behörde – oder wie auch immer man das nennen will –, in der die Grünen und Sozialisten ihre Studienabbrecher hochbezahlt unterbringen können. Die Plätze hier im Bundestag sind ja durchaus begrenzt. ({6}) Wahrscheinlich werden auch einige der externen Berater darunter sein, für die das Umweltministerium seit 2014 mal eben schlappe 614 Millionen Euro ausgegeben hat. ({7}) In § 10 werden die Preise für die Zertifikate festgelegt, allerdings mit der Maßgabe, sie jährlich verändern zu können. Der Startpreis von 10 Euro zeugt von der Angst der Bundesregierung vor Massenprotesten. Wegen dieser Angst heißt diese faktische – faktische! – CO2-Steuer auch nicht „Steuer“, sondern „Bepreisung“. Ich persönlich hoffe, dass die Verkaufszahlen von Gelbwesten nach der Verabschiedung dieser Gesetze nach oben schnellen werden. ({8}) Mehrere Juristen gehen übrigens davon aus, dass das Gesetz nicht verfassungskonform ist, vor allem deshalb, weil die Abgabe, die faktisch eine CO2-Steuer ist, aus Angst vor Gelbwestenprotesten nicht als solche benannt wird. ({9}) Das klang in der Anhörung im Ausschuss an. Alles in allem ist es ein weiteres Gesetz, das aufgrund einer absurden, nicht bewiesenen Hypothese erlassen wird, das dazu dient, erstens das Volk noch effektiver auszuplündern und zweitens die Gesellschaft in eine ökosozialistische Diktatur zu transformieren. ({10}) Damit, liebe Genossen, verlassen Sie den Boden ({11}) der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und werden dafür zur Verantwortung gezogen werden. Ich hoffe für Sie: nach Artikel 20 Absatz 2 und nicht nach Artikel 20 Absatz 4 Grundgesetz. Vielen Dank. ({12})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Können Sie bitte den Button mitnehmen? – Danke schön. Danke, Karsten Hilse. – Nächste Rednerin: Dr. Anja Weisgerber für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Anja Weisgerber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004440, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir erreichen die Klimaziele 2030 – sie sind sehr ehrgeizig – nur, wenn wir in allen Sektoren ansetzen und den CO2-Ausstoß überall senken. Deswegen haben wir ein umfassendes Klimapaket auf den Weg gebracht, das zum einen aus einer ganzen Reihe von Maßnahmen, über 70 Maßnahmen, besteht, die wir jetzt Stück für Stück in den Bundestag bringen, und das zum anderen einen Kontrollmechanismus vorsieht, der absolut wirksam ist und den wir im Klimaschutzgesetz verankern. ({0}) Zum Dritten enthält das Klimapaket eine CO2-Bepreisung. Ich bin richtig stolz, dass wir diese CO2-Bepreisung jetzt auch auf den Weg bringen. Ein Großteil der Stromerzeugung und der Industrie ist ja bereits im europäischen Emissionshandel erfasst. ({1}) Bislang nicht erfasst sind aber die Bereiche Wärme und Verkehr. Wir sind eines der ersten Länder in der Europäischen Union, das einen nationalen Emissionshandel für diese Bereiche auf den Weg bringt mit dem Ziel, auch die anderen EU-Mitgliedstaaten dazu zu bringen, dass der EU-Emissionshandel auch auf diese Bereiche ausgeweitet wird. Das hat Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ja bereits angekündigt. Wir machen neben der CO2-Bepreisung ein umfassendes Maßnahmenpaket, das Anreize beinhaltet, um den Bürgern den Umstieg auf klimafreundliche Technologien zu ermöglichen. ({2}) Das, meine Damen und Herren, ist in unseren Augen ein wirksames Gesamtpaket, um die Klimaziele zu erreichen. Gerade mit dem Kontrollmechanismus können wir nämlich immer wieder, Jahr für Jahr, überprüfen, ob wir auf Kurs sind. Ich würde mir sehr wünschen – aber wahrscheinlich ist und bleibt es eine Wunschvorstellung –, dass die Kolleginnen und Kollegen der Opposition, vor allem der Grünen, auch mal anerkennen, dass wir diesen großen Schritt jetzt gehen, und nicht damit drohen, dieses Paket im Bundesrat zu blockieren. So kommen wir unserem gemeinsamen Ziel, nämlich die Klimaschutzziele zu erreichen, keinen einzigen Millimeter näher. Das können auch Sie nicht wollen, meine Damen und Herren. ({3}) Wir gehen den Einstieg, den Schritt in den Emissionshandel zu Beginn bewusst behutsam. Der Einstiegspreis von 10 Euro pro Tonne CO2 hat uns Kritik eingebracht. Aber der Anfang ist doch nicht das Entscheidende, sondern der glaubwürdige Aufwuchspfad ({4}) und auch das Ende dieses Aufwuchspfades. Im Endeffekt sehen wir bei der Preisentwicklung einen Korridor vor. Bis 2025 wird der Preis verdreifacht. Dann, werter Herr Kollege Köhler, ({5}) bildet sich dieser Preis am Markt. ({6}) Es ist vorgesehen, dass sich der Preis nach dem Aufwuchs im Korridor von 35 bis 60 Euro vollkommen frei am Markt bilden und der Höchstpreis dann auch wegfallen kann. Meine Damen und Herren, dann sind wir bei den Preisen, die die Wissenschaft fordert. Aber wir wollen die Menschen dabei mitnehmen. Wir wollen die Unternehmen nicht so stark belasten. Wir wollen, dass sie sich auf diese CO2-Bepreisung einstellen. Wir wollen den Menschen jetzt sagen, dass sie umsteigen müssen, bevor die Preise dann ansteigen werden. Das ist unsere Politik, ({7}) und die ist auch durchaus vernünftiger als die der Opposition. ({8}) Uns ist bei dem Gesetz wichtig, dass wir die Unternehmen, die bereits im europäischen Emissionshandel aufgenommen sind, die da schon belastet sind, nicht doppelt belasten. ({9}) Unser Ziel ist, im Rahmen der Gesetzgebung Doppelbelastungen möglichst von Anfang an auszuschließen ({10}) und so den Liquiditätsentzug und die Bürokratie bei der Rückabwicklung zu vermeiden. Das ist durchaus möglich. Wir werden die Details diesbezüglich im Gesetzgebungsverfahren auch noch regeln. ({11}) – Wir sind mitten in dem Gesetzgebungsverfahren, das wir schneller abschließen werden, als Sie sich das jemals vorstellen können. ({12}) Wir werden trotzdem fundiert arbeiten, lieber Herr Köhler, im Unterschied zur Opposition und im Unterschied zur FDP, zu der auch ich nur sagen kann: Sie sind ja nicht mal auf das Spielfeld gegangen. Dann hätten wir das mit Ihnen jetzt verhandeln können. ({13}) Das möchte ich an der Stelle auch mal sagen. ({14}) Es gibt mittelständische Unternehmen, die nicht im europäischen Emissionshandel sind. Es ist unser Ziel, einen angemessenen Schutz für diese Unternehmen vorzusehen, die auch im internationalen und europäischen Wettbewerb stehen. Auch für diesen Carbon-Leakage-Schutz – das ist der Fachbegriff – werden wir uns starkmachen; denn wir spielen Ökologie und Ökonomie eben nicht gegeneinander aus, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({15}) Wir haben noch ein weiteres Kernanliegen, nämlich die Beteiligung des Bundestages am Vollzug des Gesetzes durch Verordnungen. Der Gesetzentwurf sieht an einigen Stellen vor, dass Verordnungen erlassen werden, um das Gesetz im Detail umzusetzen. Wir werden hier darauf drängen, dass die Beteiligung des Bundestages an den wichtigen Stellen der Ausgestaltung dieser entscheidenden Rechtsverordnungen auch garantiert ist; denn das sind wichtige Detailregelungen, wo wir an Bord sein müssen. Es ist auch für das Ministerium politisch wichtig, dass es die breite demokratische Basis des gesamten Bundestages hat. Das ist ein wichtiges Kernanliegen von uns. Für uns ist essenziell, dass man eine klare Differenzierung zwischen fossilen und nichtfossilen Brennstoffen bzw. Brennstoffanteilen vornimmt. Bei E 10 müssen wir zum Beispiel sicherstellen, dass nur für 90 Prozent, eben für den fossilen Anteil, eine Bepreisung vorgenommen wird und eben nicht für den 10-prozentigen Anteil der biogenen Beimischung. ({16}) Das ist deswegen wichtig, weil wir die Biokraftstoffe und perspektivisch auch die synthetischen Kraftstoffe voranbringen wollen; denn sie werden uns auch dabei helfen, die CO2-Ziele einzuhalten. ({17}) Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Ich werde nicht müde, zu betonen, dass wir ein umfassendes Paket auf den Weg bringen, das es so in der Form in Deutschland noch nie gegeben hat. Mir ist es wirklich wichtig, dass unsere Kinder und Enkel in einer gesunden und lebenswerten Welt leben können und wir dem Klimawandel entgegentreten. Ich appelliere an Sie: Lassen Sie uns mal endlich fraktionsübergreifend und parteiübergreifend an diesem Ziel arbeiten. Das sind wir auch unseren Kindern und Enkeln schuldig. ({18}) Ich zähle auf Ihre gute Zusammenarbeit im Bundesratsverfahren. Danke schön. ({19})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Anja Weisgerber. – Nächster Redner: Dr. Lukas Köhler für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Lukas Köhler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004786, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Klaus, Borussia Dortmund darf auch nicht bis zur Halbzeit mit 15 Spielern spielen. Es ist doch völlig absurd, zu sagen: Wir machen jetzt ein Gesetz, das verfassungswidrig ist, und hoffen dann darauf, dass es ab 2025 verfassungsgemäß ist; denn es ja nicht festgeschrieben, es ist ja vorher ein Revisionsverfahren geplant. ({0}) Es gibt sicherlich Kolleginnen und Kollegen, die Borussia Dortmund wünschen würden, dass sie mit 15 Spielern spielen; aber de facto hält man sich an Regeln. ({1}) Liebe Anja, liebe Frau Weisgerber, du hast dir was gewünscht. Der Bundestag ist kein Wunschkonzert. Aber ich wünsche mir auch was. Ich wünsche mir, dass die Union dieses absurde Gesetz stoppt, bevor es zu spät ist. ({2}) Es ist doch eine Farce, was hier gemacht wird. Ich kann verstehen, dass die SPD das Klimaschutzgesetz durchpeitscht. Das braucht man für den Parteitag. Das muss durchgesetzt werden. ({3}) Aus parteitaktischen Gründen Dinge schnell und schlecht zu machen, halte ich zwar für nicht gut, aber es ist okay, dass die SPD das möchte. Aber, liebe Union, Geschwindigkeit darf doch nicht vor Qualität gehen, ({4}) und das ist das, was mit diesem Brennstoffemissionshandelsgesetz hier gemacht wurde. ({5}) Mit diesem Gesetz wird Millionen von Bürgerinnen und Bürgern in die Tasche gegriffen, und es bringt fürs Klima noch nicht mal irgendwas. Das ist doch die Absurdität in Papierform. ({6}) Sie haben es geschafft, ein Gesetz zu schreiben, das die Mittelschicht über Gebühr belastet und das Geld so verteilt, dass nur die Reichsten und die Ärmsten entlastet werden. Das kann doch nicht das Ziel Ihrer Gesetzgebung sein. Dabei bringt es noch nicht mal was. Sie haben einen Preis gewählt, der ganz sicher keinen Klimaeffekt haben wird. ({7}) Alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dieses Landes sagen, dass das Nonsens ist. ({8}) Sie haben es geschafft, ein Gesetz zu schaffen, das nur so vor Bürokratie strotzt und das sogar verfassungswidrig ist. Liebe Union, ich kann verstehen, dass die SPD nicht viel für die Landwirte übrig hat. Aber Sie stellen sich Jahr für Jahr hierhin und sagen, dass Sie die Anwälte der Landwirte sind, und dann beschließen Sie ein absurdes Gesetz, das die Bürokratie erhöht. ({9}) Ich möchte Ihnen erklären, warum. Das Problem dieses Gesetzes ist, dass jeder Hersteller, jeder Landwirt, der Biomethan herstellt, die gleiche Bürokratie hat. ({10}) Natürlich ist Biomethan auf „null Emissionen“ gesetzt. Natürlich ist das richtig. Aber trotzdem muss er bürokratisch am Emissionshandel teilnehmen. Das ist eine Farce. Sie belasten die Landwirte dieses Landes über die Maßen, die ja nicht gerade unter Bürokratieentlastung leiden. ({11}) Sie hatten die Ex-post- und die Ex-ante-Belastung der Industrie angesprochen. Was heißt das? Die Industrie muss am bürokratischen Emissionshandel auch dann teilnehmen, wenn sie doppelt belastet wird. ({12}) Das ist im Moment das Problem. Man kann es ändern. Sie werden weiterhin bürokratisch belastet werden, nur jetzt ist der Fall, dass sie das Geld, das sie dringend für Investitionen benötigen, erst mal an den Staat überweisen und dann darauf hoffen müssen, dass sie es irgendwann zurücküberwiesen bekommen. ({13}) Auch das ist ein Problem, mit dem Sie umgehen müssen. ({14}) Und da hoffe ich darauf, dass Sie das ändern können. Man könnte es ändern, wenn das Gesetz nicht innerhalb einer Woche durch diesen Bundestag gepeitscht werden würde, ({15}) wenn Sie die Verbände eingebunden hätten, wenn Sie den Verbänden nicht nur einen halben Tag, und zwar am Sonntag, Zeit gegeben hätten. Aber, meine Damen und Herren, das Schlimmste an diesem Gesetz ist: Es ist verfassungswidrig. ({16}) Das ist ganz klar, und das haben die Experten im Ausschuss auch exakt so aufgezeigt. Warum ist das so? Weil es eben kein Emissionshandel ist! Es hat keine Mengenbegrenzung, die wirkt. Es hat gar keine Mengenbegrenzung. ({17}) Es hat noch nicht mal eine Handelbarkeit. Beides wäre notwendig gewesen, um dieses Gesetz nicht verfassungswidrig zu machen. Und was passiert dann? Am Ende wird das Gesetz für nichtig erklärt, und wenn es für nichtig erklärt wird, dann hat die SPD kein Problem mehr, ({18}) weil Sie dann im nächsten Jahr keinen Finanzminister mehr haben. ({19}) Aber Sie, liebe Union, die Sie immer an der Regierung sind, ({20}) haben dann das Problem, dass Sie das Geld zurückzahlen müssen, und zwar nicht an die Bürgerinnen und Bürger, sondern an die Unternehmen, die das längst weitergegeben haben. Sie belasten die Menschen. Sie machen keinen Klimaschutz. Sie setzen das Gesetz nicht sinnvoll um. Bitte ändern Sie das, und sorgen Sie dafür, dass man Klimaschutz sinnvoll macht! Wir haben dafür einen Weg vorgezeichnet. Den gilt es umzusetzen. Vielen lieben Dank. ({21})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Lukas Köhler. – Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Lorenz Gösta Beutin. ({0})

Lorenz Gösta Beutin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004672, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Der Staatssekretär im Wirtschaftsministerium Thomas Bareiß hat am Wochenende getwittert, die Umweltverbände in der Bundesrepublik Deutschland seien schuld, wenn in der Automobilindustrie Arbeitsplätze verloren gehen. Das heißt: Thomas Bareiß aus dem Wirtschaftsministerium versucht tatsächlich, das Versagen der Bundesregierung den Umweltverbänden anzulasten. Das ist ein Skandal. ({0}) Müsste es nicht eher um eine wirksame Industriestrategie dieser Bundesregierung gehen? Müsste es nicht um Ideen für die Zukunft gehen, wie wir die Wirtschaft umgestalten werden? Ist es nicht längst überfällig, dass diese Bundesregierung mit den Gewerkschaften gemeinsam eine Strategie entwickelt, wie wir gute Arbeitsplätze in Deutschland erreichen können, wie wir im Zuge des sozial-ökologischen Wandels gute Arbeit erhalten, wie wir Arbeitsplätze umbauen, wie wir eine Konversion von Arbeitsplätzen erreichen? Wir müssen gute Arbeit schaffen und gleichzeitig Klimaschutz machen. ({1}) Aber Ihr Emissionshandel bringt an dieser Stelle keine Fortschritte. Wir hatten am Mittwoch eine Anhörung im Umweltausschuss zum Emissionshandel. Beide juristischen Experten, die dort vertreten waren, haben noch einmal genau erläutert, warum dieses Gesetz verfassungswidrig ist: weil diese Art der CO2-Bepreisung über den Emissionshandel, wie Sie ihn gestalten, nicht funktioniert. Das bestätigen bis jetzt alle juristischen Gutachten, die auch Ihnen vorliegen. Wir sagen: Sie gefährden Klimaschutz, wenn Sie hier ein Gesetz vorlegen, das nicht nur unwirksam und sozial ungerecht, sondern auch noch verfassungswidrig ist; denn damit verzögern Sie wirksamen Klimaschutz noch weiter. ({2}) Deswegen sagen wir: Es ist nicht nur unwirksam – das bestätigen alle Wissenschaftlerinnen, das bestätigen die Umweltverbände –, es ist auch sozial ungerecht, und es kann im Verkehrsbereich sogar die gegenteilige Wirkung von dem, was Sie wollen, erreichen. Ich gebe Ihnen da gerne zwei Beispiele. Eine Familie mit zwei Kindern hat ein Einkommen von, sagen wir, 2 000 Euro monatlich. Sie hat ein kleines Auto, einen älteren Kleinwagen. Diese Familie wird unter dem Strich belastet; denn sie kann über die Pendlerpauschale nur einen geringen Anteil von ihrer Steuer absetzen, wird aber durch die steigenden Benzinpreise überproportional belastet. Einkommensschwache Haushalte, das ist das Problem. ({3}) Ein Single, Monatseinkommen, sagen wir, 25 000 Euro – das ist schon sehr viel –, fährt einen SUV. Der würde deutlich entlastet; denn die höheren Benzinpreise würde er auf der einen Seite kaum in seinem Portemonnaie spüren. Auf der anderen Seite wird er, da er den Höchststeuersatz zahlt, durch die Erhöhung der Pendlerpauschale deutlich entlastet. Das heißt: Mit dem Klimapaket, das Sie hier vorlegen, belasten Sie einkommensschwache Haushalte. Sie spitzen die soziale Spaltung zu, und Sie reizen reiche Haushalte tatsächlich dazu an, mehr mit dem Auto zu fahren und größere Autos zu fahren. Diese soziale Spaltung sollten gerade Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, zurückweisen. Sie sollten dieses Gesetz wieder kassieren. ({4}) Und es kommt letztlich noch absurder: Für Menschen, die mit der Bahn pendeln, gilt eine Höchstgrenze von 58 Kilometern bei der Pendlerpauschale. Diese Höchstgrenze, die für die Bahn gilt, gilt nicht für den Privat-Pkw. Das heißt, Menschen, die vielleicht überlegen, auf die Bahn umzusteigen, aber eine längere Strecke haben, die sie pendeln müssen, werden dazu ermutigt, einen privaten Pkw zu nutzen und nicht die Bahn. ({5}) – Das macht die Bahn billiger? Ich bitte Sie! ({6}) – Genau das wäre der richtige Weg. – Es ist der falsche Weg, eine Höchstgrenze für die Nutzung der Bahn festzulegen und Menschen anzureizen, den privaten Pkw zu nutzen. ({7}) Das heißt: Wagen Sie Regelungen, die für alle gelten, und weisen Sie dieses Emissionshandelsrecht zurück. Vielen Dank. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Lorenz Gösta Beutin. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Lisa Badum. ({0})

Lisa Badum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004659, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! In diesen düsteren Novembertagen des Klimapaketes habe ich mir vorgenommen, was für mein gutes Karma zu tun und in jeder Rede auch was Positives zu sagen. Deswegen: Was war das Gute in diesem Jahr? Wir haben hier über alle demokratischen Fraktionen hinweg ganz viel diskutiert – aus der Ecke wurde meistens das Thema verfehlt –: ({0}) darüber, wann wir die Kohlekraftwerke abschalten sollen, über den Ausbau erneuerbarer Energien und auch über den CO2-Preis, über den wir heute sprechen. Und wir haben auch in weiten Teilen der Bevölkerung eine Auseinandersetzung über den Klimaschutz, die andauert. Alle bringen sich mit ganz viel Engagement ein. Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen liefern uns Expertisen. Es sind Fridays-for-Future-Aktivisten, die ihre Zukunft in die Hand nehmen und auf die Straße gehen. Es sind Unternehmer, die sich überlegen: Wie können wir CO2-freien Stahl produzieren, oder wie kann das saubere Auto der Zukunft in Deutschland hergestellt werden? Alle diese Menschen tun ihre Arbeit. Daher frage ich mich: Woran merkt man eigentlich, woran merken wir eigentlich, dass die Bundesregierung ihre Arbeit macht und gut macht? Schauen wir uns das am Beispiel des heutigen Brennstoffemissionshandelsgesetzes an, im Volksmund auch CO2-Bepreisung genannt. Erst einmal wäre es gut, finde ich, handwerklich gesehen, wenn ein Gesetz verfassungskonform wäre. Wie wir gehört haben, gibt es da etliche Bedenken. Juristen sind der Meinung, dass ein Fixpreis für die Tonne CO2 nicht den Anforderungen des Verfassungsgerichts an ein Emissionshandelssystem genügt. Daher: Wenn Sie einen Emissionshandel aufsetzen wollen, dann lesen Sie doch die Urteile des Bundesverfassungsgerichts. Aber das machen Sie nicht. ({1}) Sie präsentieren stattdessen hier – du, Klaus, du, liebe Anja – ohne Scham ein absolut schludriges Gesetz, ein zusammengewürfeltes Zufallsprodukt aus dem hektischen Hin und Her dieser beiden Regierungsfraktionen. ({2}) Das ist wirklich schamlos, muss ich sagen. ({3}) Der zweite Punkt. Wir machen hier Politik, sozial gerecht, um alle mitzunehmen, um Verbraucher und Verbraucherinnen und Industrie beim Klimaschutz gleichermaßen mitzunehmen. Was schaffen Sie? Sie haben keines von beiden geschafft. Das ist gerade von Gösta Beutin ausgeführt worden. Der CO2-Preis belastet diejenigen, die weniger verdienen, mehr als die Spitzenverdiener ({4}) und gibt den Unternehmen keine Möglichkeit, zu planen. Das macht mich deswegen rasend, weil die soziale Gerechtigkeit bei euch zu einer Schutzbehauptung wird für euren Pillepalleismus, für eure klimapolitische Verzagtheit. In realitas macht ihr überhaupt nichts für soziale Gerechtigkeit. ({5}) Drittens sollte dieses Gesetz ein klares Zeichen dafür setzen, dass erneuerbare Energien wie Strom aus Wind und Sonne nicht länger schlechtergestellt sind gegenüber dreckigen Energien. Diese Idee hatte auch Frau Schulze. Sie sagt: Das Ziel ist, dass sich mehr Menschen beim nächsten Autokauf oder beim nächsten Heizungstausch für die klimafreundliche Variante entscheiden – weil sie sich auch für den Geldbeutel lohnt. Das ist ja ein schöner Traum, Frau Schulze, aber das ist einfach nicht die Realität. ({6}) Ein CO2-Preis von 10 Euro pro Tonne ist einfach nur lächerlich. ({7}) In unserer Anhörung zum CO2-Preis-Gesetz haben alle Experten gesagt, dass dieses Gesetz keinen relevanten Beitrag zur Erreichung der Klimaziele leisten kann. Für mich, für uns Grüne lautet das Fazit: Auch dieses Gesetz ist durch die schreckliche GroKo-Mühle gewandert, um bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt rauszukommen, völlig wirkungslos und stumpf. Dann denke ich mir: Es wäre doch eigentlich selbstverständlich, dass diese Regierung wie auch die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen wie die Unternehmer und Unternehmerinnen einfach mal ihre Arbeit macht. ({8}) Deswegen – ich habe versucht, positiver zu sein; ich komme darauf zurück – kann ich Ihnen nur das Gleiche raten: Machen Sie Ihre Arbeit! Geben Sie uns ein Gesetz, das den Namen „CO2-Preis-Gesetz“ verdient! Vielen Dank. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Lisa Badum. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Timon Gremmels. ({0})

Timon Gremmels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004732, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es geht in dieser Debatte nicht um das Karma von Frau Badum oder der Grünen, sondern es geht darum, dass wir endlich CO2 einen Preis geben. Und das ist gut so, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({0}) Herr Hilse, wir hatten am Mittwoch eine Anhörung im Umweltausschuss Sie haben einen Experten benannt. Ich zitiere mal, was er gesagt hat: Seit 1915 sind mehr als 2 Millionen Immigranten nach Deutschland gekommen, die … für 20 Millionen Tonnen CO2 stehen, die sonst Deutschland nicht emittieren würde. Ehrlich gesagt: Menschen ein CO2-Preisschild umzuhängen, erinnert mich an die schwärzeste, die braunste Zeit unserer Geschichte. Schämen Sie sich für solche Experten! Schämen Sie sich für solche Aussagen, meine sehr verehrten Damen und Herren! ({1}) Zurück zu den Grünen. Ich sage Ihnen eines ganz deutlich: Erinnern wir uns mal an die Jamaika-Sondierungsverhandlungen und an das, was Sie dort herausbekommen haben. ({2}) – Ja, jetzt winken Sie ab, Frau Badum. Das ist Quatsch. Sie haben damals überhaupt nichts geliefert. Sie sind in diesem Bereich blank gewesen. Sich jetzt hierhinzustellen und uns Vorwürfe zu machen, wir seien mal zu schnell, mal zu langsam, würden nicht genug tun, ist völlig falsch. Das geht völlig an der Sache vorbei, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({3}) Sie müssen mal sehen: Ja, auch diese Große Koalition hatte am Anfang beim Thema CO2-Bepreisung ihre Probleme. Im Koalitionsvertrag stand: Wir wollen das irgendwann mal auf G-20-Ebene regeln. ({4}) Aber nachdem gestern vor einem Jahr Svenja Schulze, unsere Umweltministerin, in der Humboldt-Universität zur Umweltpolitik der Bundesregierung das Thema CO2-Bepreisung erstmalig auf die Tagesordnung gesetzt hat, ({5}) liegt hier binnen eines Jahres ein Gesetzentwurf vor. Das zeigt: Wir sind handlungsfähig, und wir haben die richtigen Instrumente, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({6}) Deswegen sage ich: Vielen Dank, Svenja, für deine Beharrlichkeit. Ich sage auch: Wir als Sozialdemokratie werden darauf achten, dass dieser CO2-Preis sozialverträglich ist. ({7}) Wir machen Bahnfahren billiger. Wir schaffen eine Pendlerpauschale, Herr Beutin, die zeitlich befristet ist, bis 2026. ({8}) Wir sorgen für eine Mobilitätsprämie für diejenigen, die nicht pendeln. Wir schaffen einen Wohngeldzuschuss. Wir senken die EEG-Umlage. Wir haben Milliarden in die Bahn investiert. Das zeigt: Wir kümmern uns um eine sozialverträgliche Energiewende, um einen sozialverträglichen Klimaschutz und um einen sozialverträglichen CO2-Preis, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({9}) Der „unsanierte Pendler“, der, wie ich, aus dem ländlichen Raum kommt, wird mit der SPD nicht die Zeche zahlen. ({10}) Mit diesem CO2-Preis haben wir die Architektur für CO2-Bepreisung festgelegt. Natürlich muss auch nachgeschärft werden, ({11}) aber das Grundgerüst steht, und das ist ein großer Epochenwandel. Erstmals werden wir CO2 einen Preis geben. Das ist gut so, meine sehr verehrten Damen und Herren. Das haben wir gemacht. Sie haben dazu nichts beigetragen. ({12}) Ich sage aber auch – das haben wir von Anfang an gesagt; Svenja Schulze und alle, die daran mitgewirkt haben –: Eine CO2-Bepreisung ist kein Allheilmittel. Es ist nicht die eierlegende Wollmilchsau. Wir müssen deutlich mehr tun, auch im Bereich des Ausbaus der erneuerbaren Energien. Deswegen sage ich Ihnen: Wir haben hier geliefert. Unsere Umweltministerin hat geliefert. Jetzt muss auch der Bundeswirtschaftsminister liefern. ({13}) Ich sage Ihnen ganz klar: 1 000-Meter-Abstände, so wie es die Union definiert hat, wird es mit uns in der Art und Weise nicht geben. ({14}) Wir wollen auch den PV-Deckel abschaffen – das haben wir vereinbart –, aber ohne Vorbedingungen. ({15}) Und wir wollen noch in diesem Jahr, dass wir beim Mieterstrom vorankommen. Hier haben wir die Zusage von Herrn Altmaier. Da muss er liefern. In diesem Sinne freue ich mich auf die fachlichen Beratungen im Ausschuss. Es wird ein gutes Gesetz. Glück auf! Auf Wiedersehen! ({16})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Timon Gremmels. – Letzter Redner in dieser Debatte: Dr. Christoph Ploß, für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Christoph Ploß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004854, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute über das Brennstoffemissionshandelsgesetz. Zugegebenermaßen gibt es Wörter in der deutschen Sprache, die wahrscheinlich etwas mehr Sexappeal ausströmen als dieses Wort. Aber dieses Gesetz ist ein enorm wichtiges; denn es wird für die nächsten Jahre, möglicherweise für die nächsten Jahrzehnte, einer der zentralen Eckpfeiler unserer Klimaschutzpolitik sein. Es wird enorm wichtig sein, wenn wir die Klimaschutzziele Deutschlands, aber auch Europas oder am Ende der gesamten Welt erreichen wollen. Unser Ziel als CDU/CSU-Fraktion ist dabei klar. Wir wollen im Jahr 2050 klimaneutral werden. Aber anders als andere Fraktionen – vor allem die Grünen muss man da nennen – wollen wir das nicht über apokalyptische Horrorszenarien erreichen. Wir sind auch anders als die AfD, die den Klimawandel insgesamt leugnet ({0}) und sagt: Wir müssen gar nichts tun. – Wir sagen: Wir wollen Klima- und Umweltschutz aktiv vorantreiben, vor allem über Anreize und auch, indem wir die entsprechenden Technologien entwickeln.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung des Abgeordneten Hilse?

Dr. Christoph Ploß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004854, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Eigentlich haben wir uns darauf verständigt – –

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Wir haben uns über die Kurzinterventionen verständigt.

Dr. Christoph Ploß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004854, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön, dann gerne. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Aber schnell, Herr Hilse, bitte.

Karsten Hilse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004752, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Okay, alles klar. – Ich möchte es auch für Sie noch mal klarstellen – ich habe es in der letzten Woche schon gemacht –: Wir leugnen nicht den Klimawandel. ({0}) Wir stellen nur infrage, dass der Mensch mit seinen CO2-Emissionen an diesem Klimawandel maßgeblich beteiligt ist. ({1}) Ich bitte Sie, das endlich zur Kenntnis zu nehmen. Vielen herzlichen Dank. – Das war kurz, oder? ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Machen Sie in Ihrer Rede weiter.

Dr. Christoph Ploß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004854, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Man hört zu dem Bereich von der AfD eigentlich jeden Tag etwas anderes. Sie haben da solche und solche Meinungen. Aber man kann schon zur Kenntnis nehmen, dass Sie sich gegen 90 Prozent der wissenschaftlichen Erkenntnisse aussprechen. Das ist das Fatale. ({0}) Wir können nur die Daumen drücken und hoffen, dass Sie hier niemals Verantwortung bekommen; ({1}) denn das wäre für dieses wichtige Thema genau das Falsche. ({2}) Zurück, meine Damen und Herren, zum Thema. Wir sollten viel weniger über die AfD sprechen und mehr darüber, wie wir den Klimaschutz in Deutschland tatsächlich bewältigen und die Klimaschutzziele erreichen können. Wenn wir über Deutschland im Jahr 2040 oder 2050 sprechen, dann ist für uns klar: Wir wollen, wenn wir an der Nordsee stehen, aufs Wattenmeer schauen. Wenn wir auf der Zugspitze stehen, wollen wir die schneebedeckten Alpen sehen. ({3}) – Lieber Kollege, ich weiß, Sie haben Probleme mit demokratischen Prozessen und können andere Meinungen nur schwer akzeptieren, aber wir haben Ihnen zugehört, und es wäre freundlich, wenn Sie nun auch mir zuhören würden. ({4}) Es kann nicht schaden, wenn Sie andere Sichtweisen zumindest mal hören; ob Sie die dann aufnehmen, wage ich zu bezweifeln. – Wir wollen, dass im Jahr 2040 oder 2050 in unserer Wohnung oder in unserem Haus das Heizen nicht klimaschädlich ist. Das ist unser Ziel. Das muss das Deutschland im Jahr 2040, 2050 prägen. So wichtig es ist, dass wir in unserem Land klimaneutral werden: Wir werden die Klimaschutzziele am Ende nur erreichen, wenn wir das auch auf europäischer Ebene angehen, am besten sogar weltweit. In Deutschland sind wir nur für gut 2 Prozent der CO2-Emissionen verantwortlich, was aber wiederum nicht heißt, dass wir in Deutschland nichts tun müssten. ({5}) Wir müssen in Deutschland alle Anstrengungen unternehmen, aber gleichzeitig das Thema international immer wieder auf die Tagesordnung setzen. Das ist der Ansatz der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Es ist wichtig, dass wir in diesen Tagen im Deutschen Bundestag einen Paradigmenwechsel beschließen, nämlich dass wir CO2 einen Preis geben; denn dadurch schaffen wir marktwirtschaftliche Anreize, ({6}) sodass Mechanismen in Gang kommen, um in umweltfreundliche Technologien zu investieren. ({7}) So schaffen wir auch Anreize für die Menschen, sich umweltfreundlicher fortzubewegen, auf den öffentlichen Nahverkehr zu setzen. Diejenigen, die sich beim nächsten Mal ein umweltfreundliches wasserstoffbetriebenes Auto oder ein Elektroauto kaufen, werden belohnt, ({8}) während diejenigen, die sich klimaschädlich verhalten, nicht belohnt werden. Das ist der Grundgedanke dieses Gesetzes. Das wird sehr wichtig sein, wenn wir über die Klimaschutzziele reden. ({9}) – Frau Präsidentin, ich weiß nicht, ob Sie mal – –

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

So, Moment! Hier vorne wird gerade debattiert. – Gut. – Herr Ploß.

Dr. Christoph Ploß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004854, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Man merkt immer wieder: AfD und Grüne bilden die Extreme der Debatte ab. Wir als CDU/CSU gehen den Mittelweg und versuchen, die breiten Schichten der Bevölkerung mitzunehmen, ({0}) indem wir einen technologieoffenen Ansatz wählen. ({1}) Die einen versteifen sich auf rein batteriebetriebene Elektroautos – vor allem die Grünen. Sie von der AfD sagen: Es soll gar nichts passieren. – Wir sagen: Wir brauchen Elektromobilität, wir brauchen Wasserstoff, und wir brauchen synthetische Kraftstoffe wie E-Fuels. Wir brauchen mehrere Pfade, um die Klimaschutzziele zu erfüllen. ({2}) Wir als CDU/CSU wollen das Fliegen nicht verbieten, wie das hier einige wollen. ({3}) Wir wollen Fliegen klimaneutral machen. Das ist unser großes Ziel und unser Ansatz. ({4}) Mit Wind, Sonne und Wasser können wir es schaffen, Ökostrom zu erzeugen und damit den Antrieb für Flugzeuge, für Schiffe, für Lkw und Pkw bereitzustellen. Ich will in diesem Zusammenhang auch noch sagen: Der Gesetzentwurf wurde in der Tat schnell auf den Weg gebracht. ({5}) Auch das Gesetzgebungsverfahren verläuft schnell. Wir werden an ein, zwei Stellen in den Beratungen im Deutschen Bundestag sicherlich noch nachjustieren. Zum Beispiel sollten wir die Biogase von der CO2-Bepreisung ausnehmen. Das ist, glaube ich, ein wichtiger Punkt. Hierzu habe ich auch schon viel Zustimmung von den Regierungsfraktionen vernommen. Mit diesen Ansätzen, meine Damen und Herren, können wir aus Deutschland heraus sogar Vorbild für andere Staaten werden. Wir können zum Vorbild in der Welt werden, indem wir die Technologien, die wir hier entwickeln, für andere Länder bereitstellen. Die sagen dann: So wie die Deutschen machen wir es auch. ({6}) Das schaffen wir aber nicht über Verbote, und das schaffen wir auch nicht, indem man einfach sagt, man macht Benzin und alles sofort enorm teuer; denn am Ende – – ({7}) Frau Präsidentin, es ist wirklich schwierig.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Ja, aber Sie sind stark genug, dagegenzureden. ({0})

Dr. Christoph Ploß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004854, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, aber es wäre prima, wenn Sie bei den Grünen auch so konsequent einschreiten würden. ({0}) Ich glaube, Demokratie zeichnet sich nicht dadurch aus, dass man am meisten schreit, sondern dadurch, dass man den Argumenten der anderen zuhört. ({1}) Das, was für die AfD gilt, gilt auch für Sie, liebe Grüne. Ich will Ihnen zum Abschluss sagen: Klimaschutz wird nicht erfolgreich sein, wenn wir am Ende Gelbwestenproteste haben, wenn das Land sozial gespalten ist oder wenn Arbeitsplätze vernichtet werden. Klimaschutz wird vielmehr erfolgreich sein, wenn wir in Deutschland Exportschlager entwickeln, die wir in andere Länder exportieren können, ({2}) und wenn wir hier Arbeitsplätze damit schaffen. So verbinden wir eine kluge Wirtschaftspolitik mit einer klugen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik und mit einer klugen Umweltpolitik. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

So, Herr Dr. Ploß, jetzt sind wir am Ende.

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Das wird das Ziel der CDU/CSU-Fraktion sein. Herzlichen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Ploß. – Ich schließe die Debatte.

Johannes Huber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004764, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Bürger! ({0}) Öffentliche Petitionen sind aktuell auf Bundesebene der einzige Ansatz von direkter Demokratie. Sie sind die einzige Möglichkeit der Bürger, direkt Einfluss auf die Gesetzgebung zu nehmen. Die AfD will dieses große Demokratiedefizit beheben und idealerweise Volksabstimmungen auf Bundesebene einführen. ({1}) Solange das jedoch Ihretwegen hier keine politische Mehrheit im Bundestag findet, müssen wir als Volksvertreter sicherstellen, ({2}) dass zumindest das Petitionsrecht reibungslos funktioniert. Jedermann hat nach Artikel 17 Grundgesetz das Recht, Petitionen in den Bundestag einzugeben. ({3}) Öffentliche Petitionen, also Eingaben, die man mitzeichnen kann, werden aber derzeit nur in einer Richtlinie des Petitionsausschusses geregelt. Wir fordern, dass öffentliche Petitionen verbindlicher gestaltet werden, und schlagen dazu vor, öffentliche Petitionen in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages zu verankern. ({4}) Das würde öffentliche Petitionen stärker legitimieren, ihren Wert erhöhen und damit die Demokratie in Deutschland insgesamt ein gutes Stück stärken. Die originäre Aufgabe von Ihnen im Bundestag ist es – sollte man jedenfalls meinen –, die Regierung zu kontrollieren. In diesem Sinne dürfen bei der Frage, welches Bürgeranliegen zur Mitzeichnung veröffentlicht wird und welches nicht, nicht nur jene berücksichtigt werden, die der Regierung und ihrer parlamentarischen Mehrheit gefallen. ({5}) Das erweckt den Anschein willkürlicher Entscheidungen, und das nehmen wir als größte Oppositionsfraktion nicht länger hin. ({6}) Jeder Bürger hat das Recht auf ermessensfehlerfreie Entscheidungen. ({7}) Darin sind wir uns doch hoffentlich einig. Deshalb haben wir in unserem Antrag die schwammigen Ablehnungsgründe durch klar definierte ersetzt. Natürlich berücksichtigen wir weiterhin die Menschenwürde und die freiheitliche demokratische Grundordnung. Das Hickhack um die Veröffentlichung der Petition zum globalen Migrationspakt – Sie werden sich erinnern –, ({8}) hatte aber als Ursache unbestimmte Rechtsbegriffe in der aktuellen Richtlinie. Niemand kann neutral definieren, welche Petition einen interkulturellen Dialog belastet und welche nicht; ({9}) mal abgesehen davon, dass ein Dialog nur dort entstehen kann, wo Diskussionen und Meinungen auch zugelassen werden. Diese unbestimmten Rechtsbegriffe dürfen keine Rechtfertigung mehr sein für solch weitreichende Eingriffe in das Petitionsrecht der Bürger. ({10}) Daher, meine sehr verehrten Damen und Herren, nehmen wir sie aus den Ablehnungsgründen heraus und schaffen endlich Rechtssicherheit. ({11}) Die aktuelle Richtlinie spricht davon, dass der Ausschussdienst im Hinblick auf die Veröffentlichung einen strengen Bewertungsmaßstab anlegen muss. Ich kann Ihnen gerne sagen, was das in der Praxis bedeutet. Es bedeutet, dass auch eine Petition nicht veröffentlicht werden sollte, welche die Bundesrepublik Deutschland hinweist, diplomatische Beziehungen mit Taiwan aufzunehmen. Unabhängig davon, wie man inhaltlich zu der Frage steht, kann es doch nicht sein, dass die Bürger hierüber nicht auf der Plattform des Bundestages diskutieren dürfen. ({12}) Daher hat die AfD eine Veröffentlichung beantragt. Und siehe da: Diese wurde einstimmig beschlossen. ({13}) Weiter noch: Es wurde sogar das Quorum von 50 000 Mitzeichnern erfüllt – das wissen Sie, Herr Gremmels –, und wir werden im Dezember eine öffentliche Anhörung dazu haben. ({14}) Jetzt kommt es: Das Novum, dass ein Antrag der AfD angenommen wurde, kann uns zwar freuen – das ist einerlei –, aber dass eine Abstimmung darüber überhaupt notwendig war, zeigt das strukturelle Problem. ({15}) Lassen Sie uns als politische Entscheidungsträger mit verbindlichen Regelungen dem Ausschussdienst helfen, sichere und bürgerfreundliche Entscheidungen zu treffen. ({16}) Damit folgen wir auch dem Rat zweier Experten, die in der letzten Wahlperiode zu genau diesem Thema öffentlich angehört wurden. Diese Experten erinnerten uns an das britische System, nach dessen Vorbild unser öffentliches Petitionswesen errichtet wurde und das solche unspezifischen Zulassungskriterien eben nicht kennt. Schaffen Sie deshalb – das ist meine Einladung an Sie – mit uns gemeinsam heute ein Petitionsrecht, das die Meinungsfreiheit einerseits und den gegenseitigen Respekt andererseits berücksichtigt und klare, transparente Regeln schafft. Verankern wir diese in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages und stärken wir diese wertvolle Form der Bürgerbeteiligung. Ich bedanke mich. ({17})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Huber. – Als nächster Redner spricht für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Gero Storjohann, ({0}) Schleswig-Holstein. Der amtierende Wirtschaftsminister aus Schleswig-Holstein ist übrigens auch anwesend. ({1})

Gero Storjohann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003643, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Aufgaben eines Parlamentariers sind ziemlich einfach geregelt. Er hat Gesetze zu machen, er hat die Regierung zu kontrollieren, und er hat Wahlkreisarbeit zu machen, und nicht nur zu kritisieren. ({0}) Herr Kollege, herzlichen Dank für Ihren Antrag. Ich glaube schon, dass wir im Petitionsausschuss eine gute Arbeit machen. ({1}) Wir sind 27 Mitglieder, und wir haben an die 13 000 Petitionen zu bearbeiten. Das erfordert – das können Sie sich ausrechnen – einen hohen Abstimmungsbedarf. Wenn Sie hier Einzelfälle herausgreifen, werden Sie dem, was wir insgesamt zu tun haben, nicht gerecht. ({2}) Wir haben 36 Prozent Onlinepetitionen. Das heißt, viele Petitionen werden noch handschriftlich eingereicht. Ich bin seit 2002 Mitglied des Petitionsausschusses, insofern aktuell der Dienstälteste, und kann die Entwicklung des Petitionsausschusses daher ganz gut beschreiben. Wir haben uns gerne und auch oft gestritten – in der Sache. Und uns hat immer der Wille geeint, das beste Ergebnis für die Petenten und Petentinnen zu erreichen. In dieser Legislaturperiode haben wir einen Wandel der Diskussionskultur erlebt, Herr Huber. Die Rede- und Debattenkultur wandelte sich von einer Konsens- und Kümmererkultur ({3}) zu einem Kampfausschussformat. ({4}) Frau von Storch war noch nie im Petitionsausschuss, ({5}) aber kann sehr gut mitreden. Insofern herzlichen Dank! ({6}) Die Petitionen, die wir bearbeiten, sind sehr unterschiedlich, von einfach strukturiert bis sehr kompliziert. Deswegen haben wir uns Regeln gegeben, nach denen wir sie beurteilen. Der Ausschussdienst – das sind über 80 Mitarbeiter – macht uns Vorschläge, wie eine Petition zu behandeln ist, öffentlich oder nichtöffentlich. Da gibt es durchaus manchmal unterschiedliche Auffassungen. ({7}) Dann gibt es die Obleute, die das beurteilen. Bei der Taiwan-Petition – darauf haben Sie eben hingewiesen – war uns Obleuten sofort klar, dass wir sie öffentlich beraten. Es wird einen öffentlichen Beratungstermin geben. Das jetzt hier anzuführen, Herr Huber, das passt nun gar nicht. ({8}) Aber in Ihrem Antrag sprechen Sie ja auch etwas anderes an. Da geht es darum, inwieweit Petitionen, die öffentlich ins Netz eingestellt sind, bearbeitet werden, ob da etwas unterdrückt wird, ob der Server noch ausreichend ist. Wir haben mit den IT-Mitarbeitern und anderen Verwaltungsmitarbeitern sehr intensiv darüber sprechen können, was man ändern kann. Alle Fraktionen sind sich einig gewesen, dass wir die IT aufrüsten müssen: eine sechs- bis achtfache Verbesserung. Trotzdem kann es vorkommen, durch die Art des Systems, dass es blockiert wird. Es geht dabei nicht darum, dass die Leute sich nicht anmelden können, sondern darum, dass jedes System zusammenbricht, wenn Hunderttausende alle drei Minuten schauen, ob sich irgendetwas verändert hat. Das wissen Sie; das weiß die ganze Verwaltung. Wir haben ja Petitionen gehabt, die viel mehr Unterstützer gehabt haben als Ihre Petition gegen den UN-Migrationspakt. Die Petition zum Terminservice- und Versorgungsgesetz hat 50 000 Unterstützer mehr gehabt. Da ist das System nicht zusammengebrochen. Dieser Einzelfall macht es also nicht notwendig, dass wir exorbitant viel Geld in die Hand nehmen, um hier Verbesserungen zu erreichen. ({9}) Was machen wir zurzeit? Zurzeit sind wir parteiübergreifend dabei, zu überprüfen, was wir besser machen können, wie wir das Petitionswesen insgesamt besser darstellen können, auch gegenüber anderen Plattformen. Da arbeiten wir eigentlich hervorragend zusammen. Und plötzlich kommt dieser Antrag, ({10}) mit dem man sich eigentlich – der Zug ist abgefahren – hinter den abgefahrenen Zug wirft. Das kann man machen, bringt aber nichts. Wir sind uns einig, dass wir das Petitionswesen auf der Internetseite des Deutschen Bundestages besser und moderner darstellen wollen, damit man es gleich findet. ({11}) Das ist alles unstrittig. Das Onlinepetitionsportal ist der erfolgreichste Teil des Onlineauftritts des Deutschen Bundestages. Wir sind gerne diejenigen, die für Zug auf dieser Homepage sorgen. ({12}) In diesem laufenden Prozess möchten Sie jetzt gerne starre Regeln in der Geschäftsordnung festlegen. Wir haben Regeln, die wir auch immer anpassen können. ({13}) Wenn die immer durch den Bundestag geändert werden müssten, wäre das nicht hilfreich, eher kontraproduktiv. ({14}) Wir als Petitionsausschuss kümmern uns um viele kleine Dinge. Oft konnten wir helfen. Das berühmteste Beispiel – es ist witzig, es ist nicht verständlich – ist der Telekomschaltkasten vor einem Fenster: Oma guckt aus dem Fenster und sieht plötzlich einen neu gebauten Telefonschaltkasten davor, und keiner war bereit, das zu ändern. – Wir haben es geschafft, dass die Telekom sich bewegt hat. ({15}) Wir kümmern uns in ganz Deutschland um Lärmschutzfragen, Bahnlärm, Autolärm. Da wird nachgebessert. Das sind Dinge, die letzten Endes bewegen, die auch die Verwaltung bewegen. So werden Verwaltungsentscheidungen beschleunigt. Das ist das, worüber wir uns in erster Linie unterhalten wollen. Das ist auch das Leitbild der CDU/CSU-Fraktion. Wir möchten nicht den Petitionsausschuss umwandeln in ein Kampagneninstrument, sondern wir möchten uns um die kleinen Dinge kümmern und hier Lösungen erarbeiten. ({16}) Deswegen werden wir Ihren Antrag im Ausschuss beraten, aber wir werden ihn höchstwahrscheinlich ablehnen müssen. ({17})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Storjohann. – Nächster Redner ist für die FDP-Fraktion der Kollege Manfred Todtenhausen. ({0})

Manfred Todtenhausen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004222, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Artikel 17 des Grundgesetzes garantiert jedermann das Recht, sich mit Bitten und Beschwerden an den Deutschen Bundestag zu wenden. Das ist verankert. Dabei ist es völlig egal, wo man lebt, welche Nationalität man hat und ob man einen Brief schreibt oder eine Onlinepetition startet. Seit 2008 kann man auf der Webseite des Petitionsausschusses auch Onlinepetitionen von anderen unterschreiben lassen, also mitzeichnen lassen. Wenn eine Petition – wir haben es gerade schon gehört und werden es vielleicht noch öfter hören – mehr als 50 000 Unterstützerunterschriften bekommt, wird sie öffentlich beraten. Das haben wir dieses Jahr schon reichlich gemacht, und wir werden das so weitermachen. ({0}) Das Grundgesetz verlangt von uns, von Ihnen und von mir, dass wir jede Petition annehmen und uns mit jeder Petition beschäftigen, egal ob sie diese 50 000 oder mehr Unterschriften hat oder ob sie von einem einzigen gestartet wird. Genau das tun wir. ({1}) Viele Petitionen können allerdings nicht ins Internet gestellt werden. Das hat seinen Grund. Das ist auch nachvollziehbar. Die Persönlichkeitsrechte der Petenten müssen gewahrt werden. Wenn jemand ein persönliches Anliegen hat, können und wollen wir das nicht öffentlich machen. Genauso ist es, wenn Aufrufe zu Straftaten kommen. Die dürfen auch nicht veröffentlicht werden. ({2}) Das Bundesverfassungsgericht hat 2017 geurteilt, dass es keinen Anspruch auf Veröffentlichung einer Petition auf der Internetseite des Petitionsausschusses gibt. Natürlich wollen wir, die wir die Arbeit machen, so viele Petitionen wie möglich veröffentlichen. Dafür hat sich der Petitionsausschuss – das haben wir gerade schon gehört – verbindliche Richtlinien gegeben. Sie gelten, seit es Onlinepetitionen gibt. Jeder kann sie auf der Webseite des Bundestages nachlesen und sich informieren. In den Richtlinien steht, dass nichtöffentliche Petitionen ebenso behandelt werden müssen wie öffentliche Petitionen. Es kommt also jeder zu seinem Recht. Meine sehr geehrten Damen und Herren, die AfD fordert im Titel ihres Antrags, der Bundestag solle „Bürgerbegehren ernst nehmen“. Was machen wir denn? Natürlich nehmen wir Bürgerbegehren ernst. ({3}) Jeder von meinen Kollegen, egal von welcher Fraktion, ist mit Herzblut und Überzeugung dabei. Das sieht man an den Diskussionen, die wir in den Ausschüssen und in den Vorgesprächen haben. Dabei sind uns die Belange der Bürger extrem wichtig. Wir nehmen jede Petition ernst. In diesem Antrag geht es um eine Petition, die sogar veröffentlicht wurde, nur nicht so schnell, wie es der Petent gerne gehabt hätte und wie es die AfD gern gesehen hätte. Das hatte aber seinen Grund. Die Richtlinien verlangen von uns, streng zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine Veröffentlichung erfüllt sind. Dadurch soll zum Beispiel verhindert werden, dass Lügen, Hass, Falschinformationen im Internet verbreitet werden. Die AfD behauptet ferner, dem öffentlichen Petitionsverfahren fehle es an Rechtssicherheit. Das ist auch Unsinn. In Wirklichkeit wollen Sie den Teil der Richtlinie aufheben, der Ihnen nicht passt. ({4}) Im letzten Jahr musste ein Diskussionsforum auf der Webseite des Petitionsausschusses geschlossen werden, weil dort eine sachliche Debatte nicht mehr möglich war. Die AfD hatte damals zugestimmt, dass das Forum geschlossen wird. Heute tut sie so, als wenn sie selber der Hüter der Diskussionskultur im Internet wäre. Liebe Kollegen, das ist wirklich dreist. ({5}) Woran lag es denn, dass der Server des Petitionsausschusses damals kurzfristig überlastet war? Die Ursache war, dass die AfD eine Kampagne für eine Petition unterstützt und geführt hat, ({6}) die ein Mitarbeiter auf den Weg gebracht hat. Das nennen Sie „Bürgereingaben ernst nehmen“. Das kann ich Ihnen nicht glauben. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Manfred Todtenhausen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004222, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, leider muss ich zum Schluss kommen. – Das Petitionsrecht ist kostbar. Wir werden es nicht zulassen, dass mit politischen Kampagnen auf dem Grundrecht der Bürger herumgetrampelt wird. Wir lehnen diesen Antrag ab. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Da kann man noch dazulernen. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Matthias Bartke, SPD-Fraktion. ({1})

Dr. Matthias Bartke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004248, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Huber, im Titel Ihres Antrags heißt es: „Bürgereingaben ernst nehmen – Verbindliche Regelungen für öffentliche Petitionen“. ({0}) Um es gleich klar zu sagen: Die bestehenden Regeln sind durchdacht. Sie nehmen die Bürger ernst, und sie sind verbindlich. ({1}) Eines gewährleisten sie allerdings nicht, nämlich dass jede unsinnige völkische Initiative der AfD eine große Bühne bekommt. ({2}) Und das ist auch gut so. Nach § 110 der Geschäftsordnung des Bundestages stellt der Petitionsausschuss die sogenannten Grundsätze für die Behandlung von Petitionen auf. Das sind die Verfahrensgrundsätze, die mit einer Richtlinie für öffentliche Petitionen ergänzt werden. Die bisherige Praxis ist, dass der Petitionsausschuss die Verfahrensgrundsätze zu Beginn der Legislaturperiode übernimmt. Der Ausschuss kann sie aber jederzeit mit einer Mehrheitsentscheidung ändern. Nur so hat der Petitionsausschuss die nötige Freiheit, auf Veränderungen möglichst flexibel reagieren zu können. Gerade die Einführung der öffentlichen Petition hat doch gezeigt, wie wichtig das ist. Wenn wir ein neues System einführen, müssen wir in der Lage sein, Verfahrensregeln schnell anzupassen; der Kollege Storjohann hat das eben sehr beredt ausgeführt. Sie wollen aber gerade keine Flexibilität. Sie wollen in der Geschäftsordnung des Bundestages die Regeln starr festschreiben. ({3}) Nach den geltenden Regeln wird eine Petition in einer öffentlichen Ausschusssitzung behandelt, wenn sie das Quorum von 50 000 Unterzeichnern erreicht. Der Petitionsausschuss kann aber von einer öffentlichen Ausschusssitzung mit Zweidrittelmehrheit absehen. Sie wollen das Zweidrittelquorum abschaffen und durch eine 100-Prozent-Mehrheit ersetzen. Unsere Verfassung kann man mit einer Zweidrittelmehrheit ändern. Aber die Entscheidung über nichtöffentliche Sitzungen soll einer 100-Prozent-Mehrheit bedürfen? Ja gehtʼs denn noch? ({4}) Die parlamentarische Arbeit basiert auf Mehrheitsentscheidungen; das sollten Sie einfach einmal akzeptieren. Was Sie mit Ihrem 100-Prozent-Quorum erreichen wollen, ist, dass letztlich Sie entscheiden, ob eine Petition öffentlich behandelt wird. ({5}) Denn wenn Sie nicht zustimmen, werden die 100 Prozent ja nicht erreicht. Aber ich sage Ihnen: Einer solchen Lex AfD bedarf es nicht. Der Petitionsausschuss entscheidet sehr verantwortungsvoll darüber, welche Petitionen öffentlich behandelt werden und welche nicht; Herr Storjohann hat das eben klug ausgeführt. Selbst Ihre zutiefst demagogische Migrationspetition wurde öffentlich behandelt. Ihr Antrag sieht außerdem eine Frist für die Veröffentlichung von Petitionen vor. Die Frist soll das Ende der Sitzungswoche sein, die auf die Einreichung der Petition folgt. Danach soll der Petitionsausschuss verpflichtet sein, die Petition zu veröffentlichen. Aber, meine Damen und Herren, täglich erhält der Bundestag etwa 50 Petitionen, und jede ist anders. Der Ausschuss braucht schon etwas Zeit, um sich zu überlegen, wie man die jeweilige Petition behandelt. ({6}) Herr Kollege Todtenhausen hat es eben dargestellt: Es ist definitiv nicht sinnvoll, auf die Zulassungsprüfung zur Veröffentlichung zu verzichten, nur damit eine Petition möglichst schnell veröffentlicht wird. Nach Ziffer 4c der Richtlinie für die Behandlung von öffentlichen Petitionen kann der Ausschuss davon absehen, Petitionen zu veröffentlichen, nämlich dann, wenn sie geeignet erscheinen – Zitat –, „den sozialen Frieden, die internationalen Beziehungen oder den interkulturellen Dialog zu belasten“. ({7}) Ihr Vorschlag? Die Ermessensnorm muss abgeschafft werden, und alle Petitionen müssen veröffentlicht werden. Es ist natürlich klar, dass Sie nicht allzu viel von sozialem Frieden, den internationalen Beziehungen und dem interkulturellen Dialog halten. ({8}) Werte Kolleginnen und Kollegen von der AfD, der Petitionsausschuss ist dazu da, dass Bürger sich für ihre Anliegen im Bundestag Gehör verschaffen können. Was Sie machen wollen, ist, den Petitionsausschuss für Ihre eigenen Zwecke zu missbrauchen. ({9}) Sie wollen einen rechtlichen Rahmen schaffen, damit der Petitionsausschuss und damit auch der Bundestag mit noch mehr Hetze und noch mehr Hass überflutet werden. ({10}) Ich sage Ihnen ganz klar: Wehret den Anfängen! Mit uns nicht! ({11})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Bartke. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Friedrich Straetmanns, Fraktion Die Linke. ({0})

Friedrich Straetmanns (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004907, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wieder einmal machen die Vertreterinnen und Vertreter der AfD ein Problem auf, das keines ist. ({0}) Es geht Ihnen einmal mehr darum, sich in der Opferrolle zu sehen. Diesmal wird man gefühlt vom Petitionsausschuss schlecht behandelt, da einige Petitionen nicht veröffentlicht werden. Dafür hat sich aber der Petitionsausschuss klare Regeln gegeben. Ich darf aus den Richtlinien des Petitionsausschusses für die Behandlung von öffentlichen Petitionen einmal zitieren: Öffentliche Petitionen werden dann nicht zugelassen, wenn erstens eine Petition „gegen die Menschenwürde verstößt“, zweitens wenn sie „sich einer der Würde des Parlaments nicht angemessenen Sprache bedient“, drittens wenn sie geeignet ist – das ist eben zitiert worden – „den sozialen Frieden, die internationalen Beziehungen oder den interkulturellen Dialog zu belasten“. ({1}) Ich denke, die überwältigende Mehrheit des Hauses wird diesem Teil der Grundsätze zustimmen. Dass die Damen und Herren von der AfD genau den dritten erwähnten Punkt aufs Korn nehmen, überrascht nicht. Es geht Ihnen auch mit diesem Antrag darum, Ihre Hetzkampagnen, so wie im Streit um die Massenpetition zum „Global Compact for Migration“ geschehen, auch über den Petitionsausschuss führen zu können. Wozu das geführt hat, haben wir gesehen – bis hin zur Bedrohung einer Mitarbeiterin des Ausschussdienstes des Petitionsausschusses. ({2}) Initiiert war diese Kampagne – wir erinnern uns – von einem Mitarbeiter eines Abgeordneten der AfD. Das ist schändlich und der Bedeutung, die dem Petitionsausschuss zukommt, unwürdig. ({3}) Ich ergreife aber gern die Gelegenheit, die Kritik meiner Fraktion, Die Linke, am Petitionswesen sachlich deutlich zu machen. Anders als die AfD, die einmal mehr nach außen klappert, haben wir in den Petitionsausschuss in dieser Legislaturperiode acht Anträge zur Änderung der Verfahrensgrundsätze eingebracht, die dringend notwendig sind, um die Rechte der Petentinnen und Petenten zu stärken. ({4}) Wir haben Kritik am Umgang mit den öffentlichen Petitionen, die sich gegen ein viel zu hohes Quorum richtet, das zur Durchführung öffentlicher Beratungen notwendig ist. Petentinnen und Petenten können ja dann in öffentlichen Sitzungen des Petitionsausschusses ihr Anliegen direkt vortragen und müssen von der Regierung gehört werden. Wir fordern eine Senkung dieses Quorums von 50 000 Unterzeichnenden auf 25 000. ({5}) Wir plädieren darüber hinaus auch für die Teilnahme von Petentinnen und Petenten an den sogenannten Berichterstattergesprächen, sofern dies von den Antragstellerinnen und Antragstellern gewünscht wird. ({6}) Auch sollte der Zustand beendet werden, dass die Einreicherinnen und Einreicher einer Petition die bei der Regierung stets eingeholte Stellungnahme nicht einsehen dürfen. Da fragt man sich doch: Warum eigentlich nicht? Was soll hier verborgen werden? ({7}) Eine weitere Forderung ist mir aber ein wirkliches Herzensanliegen. Der Petitionsausschuss verfügt über keinerlei finanzielle Mittel, um in Härtefällen direkt helfen zu können. Wir fordern deshalb die Finanzierung eines Härtefonds aus dem Bundeshaushalt, ({8}) über den unter strenger Kontrolle der Abgeordneten in Einzelfällen direkte Hilfe an die Petentinnen oder Petenten geleistet werden könnte. ({9}) Im Plenum des Bundestages nehmen wir Petitionen aber leider kaum wahr. Das liegt unter anderem daran, dass lediglich in sogenannten Sammelübersichten abgestimmt wird. Hand aufs Herz: Wer von uns macht sich die Mühe, wirklich die Petitionen zu lesen, über die hier entschieden wird? Das haben Petentinnen und Petenten nicht verdient. Die hier im Hause abzustimmenden Beschlussempfehlungen müssen deshalb mit Begründungen versehen werden. Warum gehen wir nicht noch einen Schritt weiter? Warum scheuen wir uns, über Petitionen, deren Anliegen von einer großen Anzahl Menschen geteilt wird, eine Debatte im Plenum zu führen? ({10}) Lassen Sie uns daher gemeinsam im Petitionsausschuss unsere Regularien ändern, um zu einem transparenten Verfahren zu kommen, das sich auch hier im Plenum niederschlägt. Der hier vorliegende Antrag der AfD hilft nicht weiter. ({11})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächste Rednerin hat die Kollegin Corinna Rüffer, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. ({0})

Corinna Rüffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004390, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Demokratinnen und Demokraten! Wir haben in den letzten Jahren hier im Parlament und auch außerhalb des Parlamentes erlebt, dass die AfD wirklich keinen Zugang zu politischem Anstand und Respekt hat. Was die AfD mit ihrem Antrag heute macht, ist der Versuch, die Regeln des Anstands und Respekts aus den Regeln des Petitionsausschusses zu streichen, und das lassen wir ihr einfach nicht durchgehen. Das haben ja auch die Vorrednerinnen und Vorredner so gesehen. ({0}) Die Frage ist doch: Was will die AfD eigentlich erreichen? Der stellvertretende Chefredakteur der „Zeit“ – Bernd Ulrich ist sein Name – hat letzte Woche geschrieben: Der Zweck, den die AfD verfolgt, ist die Enthemmung. – Ich glaube, das ist die Erfahrung, die viele hier von uns mit der AfD in der Vergangenheit gemacht haben. Nun möchte die AfD auch den Petitionsausschuss missbrauchen, um diese gesellschaftliche Enthemmung voranzutreiben. Das ist der einzige Grund, warum wir heute überhaupt über die Veränderung von Regeln sprechen. Weil es so schön ist, möchte ich Artikel 17 unseres Grundgesetzes zitieren, nach dem wir arbeiten: J edermann – damit ist natürlich auch jede Frau gemeint - ({1}) – und alle Diversen - ({2}) hat das Recht, sich einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen schriftlich mit Bitten oder Beschwerden an die zuständigen Stellen und an die Volksvertretung zu wenden. Das ist, wie gesagt, ein wertvolles Grundrecht, und das ist der Kern dessen, womit wir es jede Woche im Petitionsausschuss zu tun haben. Im Grundgesetz steht eben nicht, dass jedermann oder auch jede Frau oder jede Diverse oder jeder Diverse das Recht hat, Hass und Hetze zu verbreiten, ({3}) unwahre Behauptungen in die Welt zu setzen, andere Meinungen zu beschimpfen und Menschen zu diskreditieren. ({4}) Das ist aber genau das, was die AfD beabsichtigt. Sie wollen Hass und Hetze verbreiten und das Vertrauen in die öffentliche Debatte, in demokratische Verfahren und auch in dieses Parlament, in dem wir hier arbeiten, untergraben. Das haben wir doch anhand der Petition zum UN-Migrationspakt erlebt; insofern ist das hier keine Spekulation. Darauf verweisen Sie dann auch in der Begründung dieses Antrags ganz ausdrücklich. Sie haben sich auch hierhingestellt und darauf verwiesen, worauf es Ihnen ankommt, nämlich darauf, diese hetzenden Petitionen in den Mittelpunkt unserer Arbeit zu stellen, anstatt den Bürgerinnen und Bürgern unter die Arme zu greifen. ({5}) Ich zitiere aus dem „Tagesspiegel“ vom 14. April 2019: Dieser Abgeordnete – gemeint ist Martin Hebner; ich weiß nicht, ob er heute da ist - ist Mitglied des Petitionsausschuss, und aus seinem Büro wurde erfolgreich eine Petition gegen den Migrationspakt lanciert und begleitet. Bewusst wurden im Zuge der Petitionskampagne Zweifel gesät und Debatten mit Falschnachrichten und inszenierter Stimmungsmache vergiftet. ({6}) Ausschussmitarbeiter – Mitarbeiter, nicht Abgeordnete – wurden hier öffentlich an den Pranger gestellt, der Ausschussvorsitzende wurde bedroht und beschimpft mit Wörtern, die man eigentlich nicht wiederholen möchte; aber ich tue das hier einmal, damit alle verstehen, worum es hier geht: „Migrationsfaschist“, „Merkel-Dreckstück“ usw. Das lassen wir uns als Parlament, als Vertretung der Bürgerinnen und Bürger in diesem Land, nicht länger gefallen! ({7}) Ich möchte sagen, wohin das führt; denn es bleibt eben nicht bei diesen Beschimpfungen und Beleidigungen und Verleumdungen. Der Artikel im „Tagesspiegel“ endet mit: Und es geht keineswegs nur um bloße Worte, denn diese können schnell zu Waffen werden. Als Mitte März ein Mann im neuseeländischen Christchurch 50 Muslime erschießt, steht auf seiner Maschinenpistole: „Hier ist euer Migrationspakt.“ Wir haben es mit Leuten zu tun, die tatsächliche Gewalt provozieren. Darüber reden wir heute, und deswegen lehnen wir alle, hoffentlich, diesen Antrag ab. Herzlichen Dank. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Ansgar Heveling, CDU/CSU-Fraktion.

Ansgar Heveling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004056, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei Anträgen der AfD-Fraktion können wir mittlerweile schon ein gewisses Muster feststellen: Erstens. Man nimmt ein Problem, das keins ist. Zweitens. Man versieht es mit Signalworten wie „Bürgereingaben ernst nehmen“. Das klingt bedeutungsschwer. Drittens. Man camoufliert, was man eigentlich erreichen will. Ob man eine Lösung für die Probleme der Menschen findet, ist der AfD gleichgültig. Es geht nur darum, für sich selbst ein öffentliches Forum zu schaffen. ({0}) Der jetzige Antrag entlarvt dies bereits im ersten Satz seiner Begründung: „Das Petitionsrecht ist ein traditionelles Rechtsinstitut des Parlamentarismus.“ Nein, das ist falsch. Das Petitionsrecht ist kein Rechtsinstitut für uns im Parlament; es ist ein Grundrecht – ein Grundrecht für die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land. ({1}) Darum geht es. Das kann man auch schon erkennen, wenn man in Artikel 17 des Grundgesetzes hineinschaut; denn da ist davon die Rede, dass man sich nicht nur an die Volksvertretungen wenden kann, sondern an alle zuständigen Stellen. ({2}) – Volksvertretungen. Bundestag: Volksvertretung! ({3}) Sie haben auch gesagt, das Petitionsrecht sei das einzige direktdemokratische Institut, das wir hätten. Auch da: Nein. Es ist ein Grundrecht. Es ist ein Recht, das jedem Einzelnen vermittelt ist. Es hat nichts mit Mehrheiten, mit demokratischen Entscheidungen zu tun, sondern jedem steht dieses Recht zu, sich mit Bitten und Beschwerden an die zuständigen Stellen zu wenden. Wenn Ihr direktdemokratisches Verständnis natürlich ist, dass Bitten und Beschwerden ausreichen, ist es vielleicht eher obrigkeitsstaatlich orientiert; aber es ist ein Grundrecht und kein direktdemokratisches Institut. ({4}) Die AfD versucht, das Petitionswesen von einem Grundrecht der Bürger zu einem Partei- und Fraktionsinstrument in der politischen Auseinandersetzung zu machen, und nichts anderes ist Hintergrund dieses Antrags. Dabei gibt der Bundestag den Menschen bereits seit 15 Jahren, seit September 2005, die Möglichkeit der öffentlichen Petitionen, die beispielsweise im Forum des Bundestages kommentiert und mitgezeichnet werden können. Das zusätzliche Angebot soll ein Forum zu einer sachlichen Diskussion wichtiger allgemeiner Anliegen schaffen. Der Petitionsausschuss selbst hat den Anspruch, dass ein breites Themenspektrum auf seiner Internetseite angeboten wird und dass möglichst viele Petenten ihre Anliegen vorstellen können. Es ist ein gutes Instrument geworden. Es existieren für die Frage der Veröffentlichung klare Regeln, und es führt in der Tat nicht jeder Antrag auf eine öffentliche Petition am Ende tatsächlich auch dazu, dass es eine öffentliche Petition wird. Wird eine Petition nicht veröffentlicht, behandelt der Ausschuss sie aber gleichwohl selbstverständlich als normale Petition ganz regulär weiter. Keinem Petenten entsteht ein Nachteil in seinem Grundrecht. Es gab im Übrigen auch schon zu diesen Fragen Auseinandersetzungen vor den Verwaltungsgerichten und vor dem Bundesverfassungsgericht, in denen die Regelungen des Bundestages und die Einzelfallentscheidungen zu öffentlichen Petitionen durchweg bestätigt wurden. Viele Regelungen, die in den Verfahrensgrundsätzen des Petitionsausschusses stehen, hat die AfD in ihrem Antrag einfach abgeschrieben. Allerdings garniert sie die mit der Einführung von neuen Rechten im öffentlichen Petitionsverfahren, aber nicht für die Bürger, sondern für die Fraktionen. Wohlgemerkt: Es geht darum, nicht neue Rechte für die Bürger zu schaffen, sondern für die Fraktionen. ({5}) Die AfD stellt den Antrag damit für sich selbst und nicht für die Menschen. ({6}) So fordern Sie, auf Antrag einer Fraktion müssten künftig Petitionen veröffentlicht werden, über die in der Wahlperiode bereits entschieden wurde und die überhaupt gar keine weiteren neuen Gesichtspunkte vortragen. Auch fordern Sie, dass der Petitionsausschuss absolut inhaltsgleiche Petitionen nicht mehr zusammenfassen könne, wenn eine Fraktion widerspricht. Es geht also in dem Antrag an keiner einzigen Stelle um eine echte Stärkung des Petitionsrechts, sondern es geht darum, dass die AfD neue Foren für sich selbst schafft. Alles, was die AfD in dem Antrag fordert, hätte sie im Übrigen auch im Petitionsausschuss vorbringen können. ({7}) All das hätte man mit einem Antrag auf Änderung der Verfahrensgrundsätze im Petitionsausschuss erreichen können. Allerdings hätte es dann zugegebenermaßen die Bühne im Plenum nicht gegeben, ({8}) keine Videos für YouTube und Co. Politik für die Bühne, das ist der einzige Grund für diesen Antrag. ({9}) Die Verfahrensgrundsätze sind bereits jetzt Geschäftsordnungsrecht, speziell zugeschnitten auf die Bedürfnisse des Petitionsausschusses. Sie haben eine verfassungsmäßige Grundlage, nämlich den vom Bundestag in Ausübung der Kompetenz aus Artikel 40 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes erteilten und in § 110 der Geschäftsordnung weitergeführten Auftrag an den Petitionsausschuss, sich selbst Grundsätze für die Behandlung von Bitten und Beschwerden aufzustellen und diese zum Ausgangspunkt seiner Entscheidung im Einzelfall zu machen. Wir halten daran fest, dass das Petitionswesen ein wichtiges Grundrecht der Menschen ist, um ihre Anliegen dem Parlament oder den zuständigen Stellen anzuvertrauen. Die Menschen haben einen Anspruch auf eine ernsthafte Beratung ihrer Anliegen, ohne dass diese von Fraktionen instrumentalisiert werden. Mit der öffentlichen Petition hat der Bundestag bereits eine Möglichkeit geschaffen, bestimmte Anliegen auch öffentlich zu beraten. Durch den Antrag der AfD erhält aber kein Bürger mehr Rechte. Wir werden ihn ablehnen. Vielen Dank. ({10})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Timon Gremmels, SPD-Fraktion. ({0})

Timon Gremmels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004732, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es gibt nicht viele Debatten im Deutschen Bundestag, bei denen ich jede einzelne Rede der anderen Fraktionen – bis auf die der AfD – einfach so unterschreiben könnte. Was wir hier gerade gehört haben, kann ich alles unterschreiben, auch die Punkte, mit denen man angeregt hat, wie wir unser Petitionswesen noch verbessern können. Da ist in der Tat eine große Übereinstimmung. Insofern ist die Debatte, wenn man die AfD abzieht, eine Werbestunde für den Petitionsausschuss. ({0}) Ich möchte, weil wir hier auch viele Schülerinnen und Schüler haben, deutlich sagen: Gucken Sie sich den Artikel 17 des Grundgesetzes – wenn Sie hier mit einer Besuchergruppe unterwegs sind, kriegen Sie bestimmt auch alle eine schöne Ausgabe des Grundgesetzes – genau an. Das ist nämlich ein wirklich tolles Recht, das Sie, auch wenn Sie noch nicht mal volljährig sind, nutzen können. Auch Sie können schon Petitionen schreiben. Sie müssen noch nicht mal deutscher Staatsbürger sein. ({1}) Insofern ist das wirklich eine tolle Sache, die wir im Grundgesetz, das dieses Jahr 70 Jahre alt wird, haben. Darauf können wir stolz sein. Meine sehr verehrten Damen und Herren, nutzen Sie Ihre Rechte! ({2}) Ich möchte auch sagen: Es gibt im Internet Campact, change.org oder andere Plattformen mit Angeboten, die sie auch als Petitionen bezeichnen. Nein, das sind keine Petitionen; das sind Kampagnenplattformen. Die haben sicherlich auch ihre Berechtigung; aber verwechseln Sie die nicht mit Artikel 17 Grundgesetz. ({3}) Mit dem Petitionsrecht hier kümmern sich die Abgeordneten und ihre Mitarbeiter – das muss man auch sagen; denn sie bereiten unsere Petitionen vor – nämlich wirklich intensiv um Ihre Rechte und Anliegen. Wir prüfen die ganz gewissenhaft. Deswegen: Das Schöne an dem Petitionsrecht ist, dass das ein Jedermannsrecht ist. Nutzen Sie es! Nehmen Sie diese Plattform! Nutzen Sie sie und werben Sie für Ihre Rechte! Kümmern Sie sich um Politik, meine sehr verehrten Damen und Herren! ({4}) So. Das war meine Grußbotschaft an die noch zahlreich anwesenden – wenn ich ihnen in die Augen gucke – Jugendlichen. Freut mich, dass man die Debatte dafür nutzen kann. Zur AfD ist eigentlich schon alles gesagt worden. Alles, was die Kollegen gesagt haben, ist richtig. ({5}) – Ich lasse es eben nicht, Herr Huber. Sie müssen das schon aushalten. Wenn Sie hier so eine Debatte vom Zaun brechen, müssen Sie sich auch anhören, was für einen Schmarrn Sie da verzapft haben. ({6}) Ich sage Ihnen: Wenn es Ihnen wirklich um die Stärkung von Petitionsrechten geht, warum haben Sie sich genau diesen Punkt ausgesucht? Nutzen Sie doch erst mal die Rechte, die Sie als Abgeordnete haben. Ich bin zwei Jahre im Petitionsausschuss. Ich frage mal: Wie viele Berichterstattergespräche hat denn Ihre Fraktion beantragt? Ich kann mich an keine erinnern. Wie viele Ortstermine haben Sie denn beantragt? Ich kann mich an keinen erinnern. Ja, eben, weil es nicht in Ihre Masche passt. Sie wollen das Petitionsrecht sozusagen umstrukturieren in eine Kampagnenplattform für AfD-Kampagnen. Darum geht es. ({7}) Es geht Ihnen nicht um die Rechte der Bürgerinnen und Bürger. Es geht Ihnen nicht darum, dass Sie hier die Bürgerinnen und Bürger stärker beteiligen wollen. Sie wollen eine Kampagnenplattform für die AfD bauen, und dann machen Sie das auch noch so plump und so dreist, dass das jeder merkt, meine sehr verehrten Damen und Herren. Dafür müssen Sie sich in der Tat schämen. Das ist keine Glanzleistung, die Sie hier präsentieren. Wir müssen natürlich – da sind sich alle Fraktionen hier im Hause einig – das Petitionsrecht moderner gestalten; wir müssen voranschreiten. Dazu gibt es auch intensive Gespräche. Erst vor zwei Wochen haben wir zusammengesessen. Da gab es Punkte, bei denen wir uns einig waren, bei denen wir aber, da sie ein bisschen mehr Geld kosten, noch das Bundestagspräsidium überzeugen müssen, und es gab Punkte, bei denen wir unterschiedliche Auffassungen hatten. Aber wir haben das ordentlich und fair in der Obleuterunde miteinander besprochen. Auch Die Linke hat in der Tat Anträge in den Petitionsausschuss eingebracht, um unsere Verfahrensgrundsätze zu ändern. Von der AfD habe ich da nie etwas gehört. ({8}) Es geht Ihnen nicht um die Sache. Es geht Ihnen nicht um die Inhalte. Es geht Ihnen nicht um die Bürgerinnen und Bürger. Es geht Ihnen schlicht und einfach darum, eine Kampagnenplattform für Ihre rechtspopulistischen Dinge auf den Weg zu bringen. Dafür steht – und das ist auch gut so – dieser Bundestag, dieses Haus nicht zur Verfügung. Dafür müssen Sie andere Mittel und Wege finden. ({9}) Ich bin froh, dass wir den Leuten, die uns heute noch gefolgt sind, das deutlich machen können. Alles Gute und Glück auf! ({10})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Herr Kollege Gremmels. Da Sie erneut, wie andere Redner auch, aufgefordert haben, das Grundgesetz zu lesen, was immer gut ist, will ich darauf hinweisen, dass Artikel 17 nicht lautet: „Jeder Mann hat das Recht“, sondern: „Jedermann hat das Recht“, was zu lesen ist wie „jeder Mensch“. ({0})

Dr. Peter Tauber (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11004174

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Wenn wir über die Invictus Games sprechen und die Frage, ob Deutschland diese Spiele 2022 ausrichten wird, dann sollten wir auch erinnern an die 111 in den Auslandseinsätzen gefallenen Soldaten. Wir sprechen über viele, die in diesen Auslandseinsätzen Schaden an Leib oder Seele genommen haben. Dieses Parlament beschreibt die Bundeswehr oft als Parlamentsarmee. Und, ja, wir schicken die Soldatinnen und Soldaten in die Einsätze; aber wir schaffen auch die gesetzlichen Grundlagen für die Fürsorge für Veteranen, für kriegs- und einsatzgeschädigte Soldaten. Wenn wir „Parlamentsarmee“ sagen, dann heißt das natürlich nicht, dass das allein die Armee des Parlaments ist. Es ist die Armee unseres Landes und damit die der Bürgerinnen und Bürger. Die Abgeordneten sind spiegelbildlich als Volksvertreter im besten Sinne des Wortes diejenigen, die das Bild unserer Streitkräfte im Parlament widerspiegeln. Wenn Sie die Deutschen fragen, wie sie zu unserer Armee stehen, dann hören Sie die unterschiedlichsten Meinungen. Da gibt es welche, die stehen den Streitkräften kritisch gegenüber. Dann gibt es welche, die sagen: Streitkräfte sind ein sicherheitspolitisches Instrument zur Durchsetzung und Wahrung deutscher Interessen in der Welt und auch, um unseren internationalen Verpflichtungen nachzukommen. – Und dann gibt es welche, die sagen: Soldaten sind Ausdruck der Verantwortung für Staat und Gesellschaft, im besten Sinne Staatsbürger in Uniform. – So vielfältig diese Meinungen sind, so sehr sind sich hoffentlich alle in einer Frage einig: dass die Männer und Frauen, die in Uniform für unser Land in die Einsätze gehen, unseren Respekt und unsere Unterstützung verdient haben, ({0}) und zwar unabhängig von der Frage, wie wir zu den einzelnen Einsätzen, in die sie gehen, jeweils stehen. Die Invictus Games sind Ausdruck des Respekts vor diesem Dienst. Die Initiative von Prinz Harry soll nun auch in Deutschland eine Heimat finden. Deutsche Soldatinnen und Soldaten haben schon in der Vergangenheit an den Invictus Games teilgenommen, und auch nächstes Jahr wird in Den Haag eine deutsche Mannschaft starten. Warum wollen wir nun, dass diese Spiele in Düsseldorf, in Deutschland stattfinden? Es gibt viele gute Gründe. Zum einen haben wir in der Rehabilitation unserer Soldatinnen und Soldaten, die mit einem Schaden aus dem Einsatz zurückkommen, einen eigenen Ansatz, auch bei diesen Spielen. Es geht nicht um sportliche Höchstleistung, sondern es geht um die Frage, ob diesen Menschen mit dem Sport wieder eine Perspektive, Mut zum Leben, Mut, sich neuen Herausforderungen zu stellen, vermittelt werden kann. Es geht zum anderen auch um Wertschätzung und Respekt für die Soldatinnen und Soldaten unserer Freunde und Verbündeten, mit denen unsere Soldatinnen und Soldaten gemeinsam in den Einsätzen sind. Auch sie werden nach Düsseldorf kommen, und auch sie verdienen unseren Respekt. Darüber hinaus geht es eben nicht nur um Sport. Es geht um ein Rahmenprogramm, um die Frage, wie wir in unserer Gesellschaft über diese Einsätze sprechen. Das kann durchaus auch kontrovers geschehen, aber eben bitte mit Respekt. Es geht auch um die Frage der ganz konkreten Unterstützung für die Athletinnen und Athleten, für die es darum geht, etwas zu überwinden, eigene Grenzen neu zu definieren, Vertrauen zurückzugewinnen in das eigene Können und das eigene Sein. Und es geht auch um die Unterstützung der beteiligten Familien und Freunde, die ebenfalls in großer Zahl an diesen Spielen teilnehmen. Die Spiele werden also einerseits fröhlich sein, aber sie haben andererseits natürlich einen sehr ernsten Hintergrund; denn es geht am Ende um die Soldatinnen und Soldaten, die bereit sind, für ihre jeweilige Heimat, für ihr Land, für ihre Gesellschaft das im Zweifel größte Opfer zu bringen: Verwundung und Tod hinzunehmen. Deswegen ist es wichtig, dass wir darüber reden, warum diese Spiele überhaupt notwendig sind. Es gibt einen weiteren, letzten Grund. Alle Soldatinnen und Soldaten sehen sich als festen Bestandteil dieser Gesellschaft. Was sie sich wünschen, ist Anerkennung und Wertschätzung. Diese Spiele nach Deutschland zu holen, wäre ein starkes Signal der Anerkennung und Wertschätzung. ({1}) Bei der Präsentation der deutschen Bewerbung in London bin ich begleitet worden von Hauptfeldwebel Stefan Huss und von Christiane Reppe. Christiane Reppe, eine junge Frau, ist amtierende Europameisterin im Paratriathlon. Sie hat am Ende unserer Präsentation Folgendes gesagt – ich möchte sie gerne zitieren –: Ich habe persönlich erfahren, was es bedeutet, mit einer harten Diagnose konfrontiert zu werden. Für mich wurde mein Sport der Schlüssel zur Überwindung meiner Behinderung. Vor Jahren, als ich selbst hart trainierte, um ein Spitzenathlet zu werden, hat Stefan Huss, der Teamchef der deutschen Invictus Games Mannschaft 2018 für unsere Werte in Afghanistan gegen den Terrorismus gekämpft. … Nach seinem zweiten Einsatz wurde er krank. Die Diagnose war Posttraumatisches Stress-Syndrom, seine Seele war im Krieg verletzt worden. Ich konnte nur trainieren, weil er für mich den Kopf hingehalten hat. Er und seine Kameraden haben es verdient, die Spiele nach Deutschland zu holen. Darum unterstütze ich die Bewerbung. Und darum sollten wir es auch tun. Unseren Soldaten in den Einsätzen wünsche ich allzeit Soldatenglück, und Sie bitte ich um herzliche Unterstützung. Danke. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Andreas Mrosek, AfD-Fraktion. ({0})

Andreas Mrosek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004827, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Hohes Haus! Die Invictus Games sind eine internationale Multisportveranstaltung, an der Verwundete, Verletzte und kranke Angehörige der Streitkräfte und deren Veteranen an neun Sportarten teilnehmen dürfen, zum Beispiel Rollstuhlbasketball, Sitzvolleyball, Rudern in der Halle usw., benannt nach „invictus“, lateinisch für „unbesiegt“. Ja, meine Damen und Herren, diese Helden sind in der Tat unbesiegt. Trotz erfahrenen Leids und dauerhafter gesundheitlicher Schäden geben diese Menschen nicht auf, und das verdient Lob und Anerkennung. ({0}) Aber hinter jedem dieser Einzelschicksale stehen Kriege, Gewalt und Zerstörungen. Gesunde Menschen wurden von Regierungen in den Krieg geschickt und kehrten als Kriegsversehrte zurück – sehr traurige Menschenschicksale. Auch jetzt werden wieder deutsche Soldaten als Bodentruppen in Syrien ins Spiel gebracht. Dabei leben in Europa und in Deutschland doch genug syrische Männer im besten wehrpflichtigen Alter, die eigentlich ihre eigene Heimat verteidigen müssten. ({1}) Dort sollten sich die jungen Syrer behaupten und Lorbeeren sammeln und nicht durch Straftaten in Deutschland glänzen. ({2}) Die Invictus Games nach Deutschland zu holen, war Inhalt eines guten Antrages der FDP vom 26. September 2018, der auch unsere Unterstützung fand. Beifall im Parlament, später Ablehnung im Sportausschuss. Diese Idee griff allerdings dann auch die Große Koalition auf und beantragte im März 2019 im Parlament – hört! hört! –, die Invictus Games nach Deutschland zu holen. Dieser Antrag wurde dann im Sportausschuss beschlossen, und auch die AfD stimmte dafür. Es ist ein typisches politisches Spielchen der Großen Koalition, gute Ideen abzukupfern und als eigene politische Errungenschaften zu feiern. Prinz Harry vom englischen Königshaus hat die Invictus Games ins Leben gerufen, und ihm gilt auch Dank und Anerkennung für diese geniale Idee, Menschen, die niemals aufgeben, zu ehren. Die AfD klagt aber dennoch mit dem ihr zur Verfügung stehenden parlamentarischen Schwert in der Hand die deutsche Regierung an – wenn man noch von einer Regierung sprechen kann. ({3}) Was suchen unsere Soldaten im Ausland? Was suchen unsere Soldaten in Afghanistan? Verteidigen sie dort unsere deutsche Heimat, unsere Werte, unsere Kultur? Viele kehren als Verwundete, als Kriegsversehrte in die Heimat zurück, viele werden getötet. Mit Sicherheit erfüllt die Truppe dort unter Führung ihrer Kommandeure ihre Kampfaufträge, ist tapfer, souverän und mutig. Besser wäre es, unsere deutschen Soldaten würden unsere deutschen Grenzen schützen. Das wäre eine sinnvolle Aufgabe, die zu erfüllen dringend notwendig ist. Aber sie werden in Kriege geschickt, die niemals zu gewinnen sind. Wo seit Jahrtausenden die Scharia herrscht, der Islam regiert, wird man auch mit deutschen Soldaten keine Demokratie einführen. ({4}) Es bleibt zu hoffen, dass unsere Soldaten gesund nach Hause kommen. Kriege sind schlimm, aber noch schlimmer ist es, Menschen in Kriege zu schicken, wo sie nichts zu suchen haben. Damit muss endlich Schluss sein! Noch ein Hinweis: In anderen Staaten werden Kriegsheimkehrer als Helden gefeiert, erst recht, wenn sie als Kriegsversehrte heimkommen. In Deutschland bleibt da noch viel zu wünschen übrig. Ein paar Worte zu mir. Auch in meiner sportlichen Laufbahn als Powerlifter gab es Athletinnen und Athleten mit Behinderung, deren Leistungen enorm und Weltklasse waren. Ich habe auch deren Trainingseinheiten und die damit verbundenen Schwierigkeiten beobachten können. Ich kann nur sagen: Hut ab vor solchen Leistungen! Ich sage Ihnen das als vierfacher Weltmeister, als vierfacher Europameister und ehemaliger Leiter der deutschen Nationalmannschaft im Kraftdreikampf. Man konnte richtig den physischen Willen spüren, körperliche Bestleistungen zu bringen, Kampfgeist strahlte aus den Augen. Schon allein beim Aufwärmen, vor dem eigentlichen Wettkampf, kam der Siegeswille so richtig zum Ausdruck. ({5}) Wir wünschen uns, dass die Invictus Games nach Deutschland kommen und die Teilnehmer unfallfrei Bestleistungen vollbringen. Wir fordern aber auch, dass unsere betroffenen deutschen Soldaten noch mehr Unterstützung von ihrer Heimat bekommen, von der Heimat, die sie in den Krieg geschickt hat, nämlich von Deutschland. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Andreas Rimkus, SPD-Fraktion. ({0})

Andreas Rimkus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004387, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren auf den Rängen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu den Aufgaben, die einem Mitglied des Deutschen Bundestages am meisten Demut, Verantwortungsbewusstsein, Reflexion und einen moralischen Kompass abverlangen, gehört sicherlich die Entscheidung, wann und unter welchen Umständen sowie zu welchen Bedingungen die Angehörigen der Bundeswehr als Parlamentsarmee in internationale Einsätze oder bewaffnete Konflikte und Kriege entsandt werden. Die Bereitschaft der Soldatinnen und Soldaten, diesen verantwortungsvollen Dienst zu leisten, verdient unsere ausdrückliche Anerkennung und unseren Respekt. Damit meine ich uns als Abgeordnete, aber auch die Öffentlichkeit und die Zivilgesellschaft. ({0}) Die Soldatinnen und Soldaten geraten bei der Erfüllung ihres Dienstes natürlich auch in Situationen, in denen sie einem sehr großen Risiko für ihre Unversehrtheit und ihr Leben ausgesetzt sind. Wir wissen, dass nicht alle Bundeswehrangehörigen, die von uns Parlamentarierinnen und Parlamentariern in den Einsatz geschickt werden, gesund und unverletzt zurückkommen. Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, die Invictus Games, die wir mit dem heutigen Antrag im Parlament in unser Land holen möchten, schaffen die Sichtbarkeit der Versehrten. Neben einem Maximum an Unterstützung bei ihrer gesundheitlichen und auch seelischen Rehabilitation für ein Leben in Alltagsnormalität verdienen die kriegsversehrten Soldatinnen und Soldaten auch öffentliche Anerkennung – Anerkennung nicht nur als Opfer einer Kriegsverletzung, sondern auch Anerkennung als Menschen, die für ihr Land unter großem Risiko Höchstleistungen erbracht haben. Die Invictus Games sind ein würdevoller sportlicher Wettbewerb und ein international geachtetes Großereignis, bei dem verwundete oder verletzte Soldatinnen und Soldaten durch die Kraft des Sports in rund zehn Disziplinen zu neuen Höchstleistungen kommen und über sich hinauswachsen können. Auch der gemeinsame Austausch mit verletzten Angehörigen anderer Streitkräfte macht die Invictus Games so wertvoll. Als Düsseldorfer Abgeordneter bin ich dem Bundesverteidigungsministerium und der Landesregierung von NRW dankbar, dass sie auf die Landeshauptstadt Düsseldorf zugekommen sind, um eine deutsche Bewerbung für die Invictus Games einzureichen. Mein Dank gilt dem Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Düsseldorf, Thomas Geisel, seiner Verwaltung und dem Düsseldorfer Stadtrat für die hervorragenden Vorarbeiten für die Bewerbung um die Invictus Games und für den entsprechenden Ratsbeschluss im Juli dieses Jahres. Düsseldorf im Herzen von NRW und als lebenswerte, attraktive und soziale Stadt in der Metropolregion Rheinland hat in den letzten Jahren mehrfach bewiesen, dass es ein würdevoller und herzlicher Gastgeber ist: mit dem Grand Départ, dem Start der Tour de France im Jahr 2017, der Tischtennis-WM im gleichen Jahr sowie – erst kürzlich – mit der Ausrichtung der internationalen Oberbürgermeisterkonferenz „Living Together“. Auch die Tatsache, dass Düsseldorf im Jahr 2024 Austragungsort der Fußballeuropameisterschaft im Gastgeberland Deutschland sein wird, zeigt die Expertise und die Qualität des Standorts für Ereignisse von Rang. Im Rahmen des Projekts „Rhein-Ruhr-City 2032“ wird zudem aktuell eine gemeinsame Olympiabewerbung mit den Nachbarstädten in der Region vorangetrieben. Es wäre mir eine große Ehre und Freude, wenn wir es schafften, die Invictus Games nach Düsseldorf und damit nach Deutschland zu holen. Wenn in wenigen Wochen die Entscheidung über die Vergabe fällt, sollten wir alle gemeinsam die Daumen drücken. Und wenn wir mit der Bewerbung Erfolg haben, sollten wir alles dafür tun, dass die Soldatinnen und Soldaten gut vorbereitet werden und die Öffentlichkeit an diesem wichtigen Ereignis teilnimmt und partizipiert. Neben dem sportlichen Wettbewerb und der Anerkennung der Soldatinnen und Soldaten können wir mit den Invictus Games auch das soziale Miteinander und die gegenseitige Wertschätzung in unserer Gesellschaft stärken. Ich danke für die Aufmerksamkeit und bitte Sie um Unterstützung für unser Anliegen. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Rimkus. – Als nächste Rednerin hat die geschätzte Kollegin Britta Dassler, FDP-Fraktion, das Wort. ({0})

Britta Katharina Dassler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004700, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Weg von verwundeten Soldatinnen und Soldaten zurück ins Leben, in einen geordneten Alltag kann lang und oftmals sehr steinig sein. Zur körperlichen Verwundung kommen oftmals seelische Schäden hinzu. Der Deutsche Bundestag hat in besonderem Maße eine Fürsorgepflicht gegenüber den Versehrten der Auslandseinsätze, da ja schließlich wir es sind, die über die Entsendung der Bundeswehrsoldaten entscheiden. Unsere Soldatinnen und Soldaten bestmöglich zu unterstützen, meine Damen und Herren, sollte deshalb nicht nur innere Verpflichtung sein, sondern vor allem von einem tiefen Verantwortungsbewusstsein aller Abgeordneten hier in diesem Parlament getragen werden. ({0}) Mit Unterstützung verbinde ich aber nicht nur die gesundheitliche Versorgung der Soldatinnen und Soldaten, ich meine damit vor allem, dass es Aufgabe der Politik ist, durch parlamentarische Initiativen dafür zu sorgen, dass unseren Soldatinnen und Soldaten Anerkennung und Wertschätzung entgegengebracht werden. Es sind doch gerade die Streitkräfte, meine Damen und Herren, die sich im wahrsten Sinne des Wortes für unsere Gesellschaft aufopfern, um unsere Freiheit und damit die freiheitlich-demokratischen Werte zu verteidigen. ({1}) Deshalb, meine Damen und Herren, haben wir Freie Demokraten durch meinen Kollegen Herrn Dr. Marcus Faber bereits im vergangenen Jahr einen entsprechenden Antrag eingebracht, der vorsah, die Invictus Games nach Deutschland zu holen. Im November 2018 allerdings wurde dieser Antrag mit den Stimmen der Union, der SPD und auch der Linken abgelehnt. Leider! ({2}) Doch nun plötzlich die Kehrtwendung der Großen Koalition! ({3}) Denn heute, meine Damen und Herren, liegt uns ein Antrag vor, der sich in Richtung und Ziel kaum vom damaligen Antrag der Freien Demokraten unterscheidet. ({4}) Ich kann mich deshalb auch nicht des Eindruckes erwehren, dass es sich hierbei um ein klares Bekenntnis der Großen Koalition zu Taktiererei und Profilierung handelt, und das, meine Damen und Herren, leider auf Kosten der Einsatzversehrten. ({5}) Da wir Freie Demokraten uns als konstruktive Opposition verstehen, leisten wir gerne unseren Beitrag, damit etwas vorankommt und Sie heute Ihre Fehlentscheidung von damals korrigieren können. Deshalb ist es auch gut, dass wir mit dieser Initiative den versehrten Soldatinnen und Soldaten den Rücken stärken; denn bei den Invictus Games geht es nicht nur um den sportlichen Wettstreit. Es geht doch um viel, viel mehr. Es geht um Wertschätzung, und es geht darum, Mut zu verbreiten, Kraft zu geben, Zuversicht zu schenken und auszustrahlen. Für all dies, meine Damen und Herren, ist der Sport genau das richtige Mittel: um Menschen zusammenzubringen und dabei die gesellschaftliche Solidarität mit unseren Soldatinnen und Soldaten zu stärken und sie aus dem Schattendasein herauszuholen. ({6}) Deshalb lassen Sie uns hier und heute gemeinsam an einem Strang ziehen! Lassen Sie uns gemeinsam Deutschland zum Gastgeberland der Invictus Games 2022 machen und damit einen weiteren Baustein der gesellschaftlichen Akzeptanz setzen, auf den sich unsere Soldatinnen und Soldaten auch verlassen können. Deshalb stimmen wir Freie Demokraten diesem Antrag aus vollem Herzen und mit Überzeugung zu. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Dassler. – Als nächster Redner hat der Kollege Dr.   André Hahn, Fraktion Die Linke, das Wort. ({0})

Dr. André Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004288, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundeswehr hat nicht nur wegen des Verdachts des Bestehens rechtsextremer Netzwerke ganz offenkundig ein Imageproblem. Anstatt im Falle einer Gefahr die Heimat hierzulande zu verteidigen, hat sich die Bundeswehr zu einer weltweit operierenden Armee entwickelt. ({0}) Vermeintlich deutsche Interessen werden immer noch am Hindukusch verteidigt, ({1}) und das führt zu Verletzten und Toten auch in den Reihen der Bundeswehr, zu sinkender Akzeptanz bei der Bevölkerung und einem Mangel an Nachwuchs für die Armee. Der Sport hat nicht zuletzt deshalb für die Bundeswehr in doppelter Hinsicht einen hohen Stellenwert. Zum einen braucht eine Armee sportliche, leistungsfähige Soldaten, und zum anderen gilt auch hier, dass Sport verbindet. Er bringt Menschen zueinander, schafft Sympathie. Dies muss man sich meines Erachtens immer wieder vergegenwärtigen, wenn man über die Sportförderung des Bundes und auch über den heute zur Abstimmung stehenden Antrag der Koalition diskutiert. Die Bundeswehr ist mit ihren Sportfördergruppen nicht nur der größte Förderer des Spitzensports in Deutschland, sondern auch in anderen Bereichen aktiv. Gerade erst gingen die 7. Militärweltspiele im chinesischen Wuhan zu Ende, an denen die Bundeswehr mit rund 370 Sportlern, Trainern und Betreuern teilnahm. Da muss man – gerade auch mit Blick auf die Invictus Games – schon die Frage stellen dürfen, ob es hier vor allem um die versehrten Menschen geht oder nicht doch eher um die Nutzung des Sports und der Sportler zur Rechtfertigung von Kriegen als Mittel der Politik. Letzteres wäre jedenfalls aus Sicht der Linken ein völlig falscher Weg. Selbstverständlich haben auch in Kriegseinsätzen versehrte Soldatinnen und Soldaten das Recht, aktiv Sport zu treiben – so sie es können – und an Wettkämpfen teilzunehmen. Hierfür gibt es in Deutschland in Tausenden Sportvereinen des Olympischen Sportbundes, des Behindertensportverbandes, bei den Special Olympics und dem Gehörlosen-Sportverband schon jetzt zahlreiche Möglichkeiten. Die Linke setzt sich dafür ein, dass es noch deutlich mehr Angebote für Menschen mit Behinderung gibt, gleichberechtigt Sport zu treiben; denn Sport ist gerade für sie ein gutes Mittel, gesellschaftliche Teilhabe und Anerkennung zu erfahren und etwas für das persönliche Wohlbefinden zu tun. ({2}) Nach Auffassung der Linken werden aber eher symbolische Handlungen, wie die Ausrichtung von Invictus Games, den Geschädigten und ihren Angehörigen nur wenig helfen, zumal der größte Teil dieser Personengruppe durch ein derartiges Event objektiv überhaupt nicht erreicht wird. Deshalb möchte ich noch einmal betonen: Das Verteidigungsministerium hätte diverse andere Möglichkeiten, um Betroffene wirksam zu unterstützen. Psychisch geschädigte und versehrte Soldaten benötigen dringend mehr Anlaufstellen und stationäre Behandlungsplätze. ({3}) Statt die Wiedereingliederung traumatisierter Soldatinnen und Soldaten an ehrenamtlich Engagierte outzusourcen, muss der Bund endlich deutlich mehr Mittel für psychosoziale und finanzielle Hilfen bereitstellen. ({4}) Leider wurden auch meine Fragen, die ich bereits in der ersten Lesung im März gestellt hatte, bis heute nicht beantwortet, zum Beispiel warum an den Invictus Games nur NATO-Armeen und ihre in Kriegseinsätzen Verbündeten teilnehmen oder warum diese Sportler nicht auch in die Paralympics intergiert werden können. Auch liegt noch immer kein Finanzplan für die geplanten Spiele vor. Der Bundestag erteilt also mit der Zustimmung zu diesem Antrag dem Verteidigungsministerium einen Blankoscheck, obwohl gerade dieses Ministerium dafür bekannt ist, sehr sorglos mit Steuergeldern umzugehen. ({5}) Mein Fazit: Das unbestreitbar existierende Imageproblem der Bundeswehr lässt sich nicht durch die Austragung von Invictus Games in Deutschland lösen. Versehrte Soldatinnen und Soldaten benötigen ganz andere Unterstützung. Die Linke lehnt den vorliegenden Antrag daher ab. Herzlichen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Tobias Lindner, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Tobias Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004217, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn Frauen und Männer für unser Land einen Dienst leisten, dann verdient das natürlich Respekt und Anerkennung. Wenn sie in der Ausübung dieses Dienstes an Körper oder Seele Schaden erleiden, dann erlegt uns das eine Verantwortung auf. Diese Verantwortung ist umso größer, wenn dieser Schaden an Körper oder Seele unter Umständen nicht mehr heilbar ist. An dieser Stelle – Herr Kollege Hahn, da würde ich Ihnen widersprechen – sind die Invictus Games kein Symbol, sondern ein Baustein, wie man dieser besonderen Verantwortung nachkommen kann. ({0}) Ich selbst bin als Mitglied des Verteidigungsausschusses im Jahr 2016 mit Ihrem Vorgänger, Herr Tauber, zu den Invictus Games in die Vereinigten Staaten gereist und habe dort unsere Soldatinnen und Soldaten, die teilgenommen haben, besucht. Dieser Besuch lässt bis heute bei mir bleibende Eindrücke zurück. Bei einem solchen Sportereignis geht es natürlich zum einen um Anerkennung. Aber es geht um viel mehr: Sport, sportlicher Wettkampf, wieder etwas leisten zu können, veränderte diese Frauen und Männer, die bei ihrem Dienst verletzt worden sind. – Deswegen wird meine Fraktion heute den vorliegenden Antrag der Koalition unterstützen. ({1}) Ich will noch eines hinzufügen: Es ist doch gut, dass wir jetzt eine Debatte darüber führen. Wenn ich an 2016 zurückdenke: Damals haben mich viele, als ich den Reiseantrag gestellt habe, ganz komisch angeguckt und gefragt: Invictus Games? Was ist das überhaupt? Geht es darum, Prinz Harry zu treffen? Frau Kollegin Dassler, es ist gut, dass wir heute hier eine Debatte darüber haben, wer der geistige Urheber dieses Antrages ist. Es ist gut, dass sich Staatssekretär Tauber mit so viel Verve dafür einsetzt. Wir haben an vielen Stellen Meinungsverschiedenheiten und Unterschiede, und ich kann Ihnen an zahlreichen Stellen widersprechen; aber an dieser Stelle ist es gut, mit welchem Herzblut Sie sich in die deutsche Bewerbung hineinknien und dafür sorgen, dass diese auf internationaler Ebene Unterstützung erfährt. Deswegen ist es zu begrüßen, dass vor einer Entscheidung über die Vergabe der Spiele heute hier im Deutschen Bundestag die zweite Beratung dieses Antrags stattfindet. Ich habe am Anfang gesagt, die Invictus Games seien kein Symbol, aber ein Baustein, und ich möchte natürlich hinzufügen: Wir dürfen das Ganze bei aller Anerkennung und Bewunderung auch nicht überhöhen. Sie sind ein Baustein, wenn es darum geht, Soldatinnen und Soldaten, die an Seele oder Körper verwundet worden sind, zu helfen. Wir müssen in diesem Parlament, glaube ich, viel häufiger darüber diskutieren, wie wir bei einer Parlamentsarmee unserer Verantwortung an dieser Stelle nachkommen können. ({2}) Dabei geht es natürlich immer auch um die Frage: Haben wir genug Mittel, wenn es zum Beispiel darum geht, posttraumatische Belastungsstörungen zu behandeln? Es geht aber natürlich auch um die Frage: Haben wir die richtigen Strukturen innerhalb und außerhalb der Bundeswehr, und haben wir auch die richtige Kultur innerhalb der Bundeswehr, wenn Soldatinnen und Soldaten nach einem Einsatz einen Schaden erlitten haben, insbesondere wenn der Schaden an der Seele aufgetreten ist? ({3}) Ich will abschließend hinzufügen, um doch ein bisschen Wasser in den Wein zu gießen: Es geht bei dieser Debatte natürlich auch darum, dass wir uns hier ehrlich machen und keine Scheindebatten führen. In den letzten Monaten habe ich mitbekommen, wie man versucht, die Veteranendebatte zu lösen. Dabei geht es um die Frage: Wann ist eine deutsche Soldatin oder ein deutscher Soldat eine Veteranin oder ein Veteran? Da gibt es einen ordentlichen Debattenbedarf – auch in den Verbänden. Die frühere Ministerin hat dann entschieden, dass jede Frau und jeder Mann, die bzw. der auch nur einen Tag in unseren Streitkräften gedient hat, jetzt Veteran ist. Ich will Ihnen ganz ehrlich sagen: Als jemand, der fünf Tage in unseren Streitkräften gedient hat, habe ich ein seltsames Bauchgefühl damit, mich als Veteran zu bezeichnen, so wie das Menschen tun, die in Afghanistan oder an anderer Stelle auf unserem Planeten für das Recht und die Freiheit eingetreten sind. Lassen Sie uns darüber noch einmal diskutieren. Herzlichen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Jens Lehmann, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Jens Lehmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir bewerben uns mit Düsseldorf um die Invictus Games 2022. Diese würden dann erstmalig in Deutschland stattfinden. Das Votum für Deutschland wäre eine hervorragende Nachricht für die deutschen Athletinnen und Athleten, welche an den Spielen teilnehmen, und für all jene, wie auch mich, die sich mit Leidenschaft dafür eingesetzt haben. In unserem Lande wird oft zu wenig gedankt und Leistung gewürdigt. Deshalb geht mein ausdrücklicher Dank an Staatssekretär Peter Tauber, an Düsseldorfs Oberbürgermeister Thomas Geisel und an ihre Delegation, die in London die Bewerbung der Landeshauptstadt zur Ausrichtung der Games erfolgreich präsentiert haben. Im Bundesministerium der Verteidigung danke ich Herrn General Laubenthal stellvertretend für die vielen, die sich im Hintergrund mit großem Engagement für die Invictus Games und die Förderung des Spitzensports einsetzen. Meine Damen und Herren, die Bundeswehr ist der größte Förderer des Spitzensports. In der Regel sind es Sportsoldatinnen und Sportsoldaten, die unser Land mit Höchstleistungen erfolgreich bei internationalen Wettkämpfen vertreten. Bei den Invictus Games geht es jedoch nicht nur um den sportlichen Wettkampf und um Erfolg, sondern buchstäblich auch um den Kampf zurück ins Leben. Die Entscheidung zur Ausrichtung der Spiele in Deutschland wäre ein großartiger Erfolg in doppelter Hinsicht: einerseits für die Bundesrepublik Deutschland als Sportnation und Austragungsort sportlicher Großereignisse. Düsseldorf hat dafür eine hervorragende Infrastruktur. Deutschland könnte seine Organisationsfähigkeiten erneut unter Beweis stellen und so Werbung für andere Sportgroßveranstaltungen machen. Andererseits – und dieser Punkt ist für mich genauso wichtig – würden die Spiele ein Gewinn für unsere Gesellschaft sein, indem sie eine Debatte über den Respekt gegenüber unseren Sicherheitsbehörden anstoßen. Dazu gehören die Streitkräfte, aber auch die Polizei, die Feuerwehr, das Technische Hilfswerk und alle Hilfs- und Blaulichtorganisationen. In unserer Gesellschaft leben glücklicherweise immer mehr Menschen, die selbst noch nie einen Krieg miterleben mussten, für die Frieden, Freiheit, Sicherheit und Wohlstand ganz selbstverständlich sind. Die Spiele werden das Schicksal der im Einsatz versehrten Soldaten ins Rampenlicht der öffentlichen Debatte rücken. Sie werden die Zuschauer hier in Deutschland daran erinnern, dass es die Angehörigen der Bundeswehr sind, die bei ihrem Dienst für unsere Freiheit und unseren Wohlstand ihre Gesundheit und ihr Leben riskieren. Seit der Aussetzung der Wehrpflicht hat ein Prozess begonnen, der die Streitkräfte leider immer weiter aus dem Blick unserer Gesellschaft drängt. Das ist ein Umstand, den Soldatinnen und Soldaten sehr wohl wahrnehmen, wie mir meine Truppenbesuche immer wieder zeigen. Heute ist es eher Zufall, wenn jemand jemanden kennt, dessen Nachbar nach Dienst in Uniform die Kinder von der Schule abholt oder wieder einmal mehrere Monate aufgrund eines Auslandeinsatzes nicht zu Hause war. Nachrichten über verletzte Soldaten oder immer mehr PTBS-Neuerkrankungen werden zur Kenntnis genommen. Ohne Bewusstsein der zentralen Bedeutung des Soldatenberufes in einer Demokratie gehen diese Meldungen über menschliche Schicksale, die sich ereignet haben, damit wir in Frieden in diesem Land leben können, jedoch in der Masse der Nachrichten unter. Wir tragen deshalb Verantwortung für diese Männer und Frauen, für die Veteranen der Bundeswehr. Die Bilder der zurückliegenden Invictus Games haben gezeigt: Jedes ausrichtende Land setzt ein starkes Zeichen, diese Verantwortung ernst zu nehmen und den Soldaten zuteilwerden zu lassen, was sie verdient haben: Beachtung, Wertschätzung und Anerkennung ihrer Leistung durch die Gesellschaft. ({0}) Diese Anerkennung ist im wahrsten Sinne des Wortes Medizin für die Teilnehmer der Invictus Games. Sie verleiht neue Energie und Lebensfreude. Gleichzeitig geben auch die persönliche Vorbereitung, das Ziel, die Anstrengung und die Freude, die man in dieser Zeit und im Wettkampf spürt, jedem Sportler ein Glücksgefühl. Ich habe mit vielen Teilnehmern der Invictus Games gesprochen. Alle erleben durch den Sport Zufriedenheit, Stolz, und sie ziehen Kraft daraus. Als ehemaliger Leistungssportler kann ich dieses Gefühl sehr gut nachvollziehen. Deshalb freue ich mich sehr über das ausgesprochen positive Votum im Verteidigungsausschuss zu unserem Antrag. Ich wünsche allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern viel Kraft und Erfolg bei ihren Vorbereitungen auf die Invictus Games im nächsten Jahr in Den Haag. Ich gehe fest davon aus, dass wir uns hoffentlich 2022 oder spätestens 2024 in Deutschland wiedersehen. Als Abgeordneter der Sportstadt Leipzig gestatten Sie mir, den Düsseldorfer Kollegen die Daumen zu drücken. Entscheidend ist, dass ganz Deutschland ein Zeichen der Verbundenheit mit den Sportlerinnen und Sportlern setzt und dass eine breite gesellschaftliche Debatte für mehr Respekt für ihren Dienst angestoßen wird. Deshalb bitte ich Sie, unserem Antrag mit großer Mehrheit zuzustimmen. Danke. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Herr Kollege Lehmann. – Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort der Kollege Dirk Vöpel, SPD-Fraktion. ({0})

Dirk Vöpel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004433, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit fast 30 Jahren entsenden wir deutsche Soldatinnen und Soldaten in Auslandseinsätze. Tagtäglich riskieren sie dort für unser Land und den internationalen Frieden ihr Leben. Dafür gebührt ihnen Respekt und Dank. ({0}) Zur Einsatzrealität gehört jedoch auch, dass dieser Dienst mit persönlichen Opfern verbunden ist und sogar Verletzung, Verwundung und Tod bedeuten kann. Viele, die an Körper oder Seele verletzt worden sind, leiden ein Leben lang an den Folgen. Wir, die Mitglieder des Deutschen Bundestages, sind uns des Risikos und der Verantwortung bei jeder Mandatierung eines Einsatzes bewusst. Diese Verantwortung endet nicht mit dem Einsatz. Deshalb ist es nur folgerichtig, denjenigen, die Hilfe benötigen, auf allen Ebenen die bestmögliche Hilfe zukommen zu lassen. In den letzten Jahren wurde im Bereich Hilfe und Versorgung von Einsatzgeschädigten und ihren Angehörigen schon viel erreicht. Als ein Beispiel ist das erst im Juni dieses Jahres verabschiedete Bundeswehr-Einsatzbereitschaftsstärkungsgesetz zu nennen. Eine Maßnahme dieses Gesetzes ermöglicht es, dass nun auch Familienangehörige in die therapeutische Behandlung Einsatzgeschädigter einbezogen werden. Gerade die Familie ist ein wichtiger Faktor für die Genesung. ({1}) Ein anderer Baustein, um das Leiden zu überwinden und zurück ins Leben zu finden, ist der Sport. Die Sportschule der Bundeswehr und das Zentrum für Sportmedizin in Warendorf leisten hier großartige Arbeit. Gerade um diese Bedeutung aufzuzeigen, wurden 2014 die Invictus Games ins Leben gerufen, ein Wettbewerb von und für Soldatinnen und Soldaten aus aller Welt, die im Einsatz verwundet oder verletzt worden sind. Von Beginn an sind bei allen Wettkämpfen auch deutsche Sportlerinnen und Sportler an den Start gegangen. An den letzten Invictus Games in Sydney nahmen mehr als 500 Soldatinnen und Soldaten aus 18 Staaten teil, darunter erneut 20 Frauen und Männer aus Deutschland, die mit ihren Familien und Freunden nach Australien gereist waren, um dort in sieben Disziplinen zu starten. In Großbritannien und den USA wird dieser Wettkampf mit großem öffentlichem Interesse verfolgt. Hier in Deutschland hat bis jetzt kaum jemand davon gehört. In der breiten Öffentlichkeit kommen die Diskussion und die Wertschätzung gegenüber unseren Soldatinnen und Soldaten, die ihren Dienst schließlich für uns alle leisten, oftmals zu kurz. Mit den Invictus Games in Deutschland rücken wir die Lebenssituation der Soldatinnen und Soldaten in den Fokus der Öffentlichkeit und machen sie sichtbar. Gleichzeitig zeigen wir, wie wichtig der Umgang mit den psychischen und körperlichen Belastungen von Auslandseinsätzen ist. Wir können erlittenes Leid nicht ungeschehen machen, müssen aber alles uns Mögliche zur Bewältigung beitragen. Vielen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Damit schließe ich die Aussprache.

Thomas Rachel (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002754

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Alle jungen Menschen verdienen bestmögliche Bildungschancen. Internationale Bildungsvergleichsstudien wie zum Beispiel PISA zeigen uns aber, dass es in Deutschland bisher noch nicht in ausreichendem Maße gelingt, auch die Potenziale von Schülerinnen und Schülern aus sozioökonomisch schwachen Familien ausreichend zu fördern. Das wollen wir gemeinsam ändern. Wir wollen die Lehrkräfte unterstützen, mit der Vielfalt der Herausforderungen und der zunehmenden Heterogenität der Schülerschaft zielgerichtet umzugehen. Aufbauend auf dem Koalitionsvertrag von Christdemokraten und Sozialdemokraten, hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung deshalb am 23. Oktober mit den Ländern die neue Initiative „Schule macht stark“ beschlossen. Denn gute Bildung muss es überall im Lande geben, auch an den Orten, wo es Familien nicht so gut geht. ({0}) Wir wollen dafür sorgen, dass auch Schulen in schwieriger sozialer Lage ihre Schülerinnen und Schüler entsprechend ihrer Potenziale fördern und ihnen damit gute Chancen auf einen erfolgreichen Bildungs- und Berufsweg geben. Für diese Initiative werden der Bund und die Länder gemeinsam über zehn Jahre 125 Millionen Euro investieren. Wie genau wird „Schule macht stark“ die Schulen unterstützen? Zunächst wird in der ersten Phase eine vom BMBF finanzierte Wissenschaftlergruppe vor Ort die Entwicklungspotenziale an den bundesweit 200 teilnehmenden Grund- und weiterführenden Schulen identifizieren. Diese interdisziplinäre Wissenschaftlergruppe wird gemeinsam mit den Schulen Strategien und pädagogische Konzepte entwickeln für besseren und aktivierenden Unterricht, der auf die besonderen Bedürfnisse gerade dieser Schüler eingeht. Hier werden vor allem der Erwerb von Lese- und Schreibkompetenzen, aber auch von Basiskompetenzen in Mathematik im Fokus stehen. Die Schulleitungen erhalten Hinweise, wie sie Schulen effektiver managen können. Lehrkräfte werden unterstützt, zur eigenen Entlastung schulübergreifend zu kooperieren. Gemeinsam werden wissenschaftlich fundierte Konzepte entwickelt, die die soziale Kompetenz und die Motivation in der Schule stärken. Durch diese gemeinsame Arbeit von Wissenschaft und Praxis entsteht quasi ein Werkzeugkasten mit ganz konkreten Instrumenten für die Schulpraxis. In der zweiten Phase werden diese Instrumente dann weiteren Schulen zur Verfügung gestellt, sodass in Zukunft noch viel mehr Schulen von diesem Wissen insgesamt profitieren können. Mit dieser Initiative werden wir den Zusammenhang zwischen Herkunft und Bildungserfolg weiter reduzieren und unser Bildungssystem insgesamt in den nächsten Jahren besser und gerechter gestalten. ({1}) Sehr geehrte Damen und Herren, ja, jedes Kind hat Potenziale. Auch in schwierigen sozialen Lagen wollen wir diese Potenziale entdecken, sie im Schulalltag heben und fördern. Das ist die Grundidee, die uns in der Koalition verbindet. Denn der einzelne Mensch steht im Mittelpunkt unserer Politik. Herzlichen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Götz Frömming, AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Götz Frömming (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004722, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Abgeordnete der Regierungsfraktionen von CDU/CSU und SPD, dieser vor uns liegende Antrag zeigt, wie wenig Ahnung Sie offenbar von der Realität haben. ({0}) Ich meine das gar nicht vorwurfsvoll; ich stelle das einfach nur fest. Wir haben es eben auch in dem Beitrag des Herrn Staatssekretärs gehört: Sie wollen der Misere an unseren Schulen nicht abhelfen, sondern Sie wollen sie vor allen Dingen erforschen, erforschen lassen und dann Pläne und Konzepte entwickeln, was zu tun ist. Mit Erlaubnis des Präsidenten zitiere ich kurz aus dem vorliegenden Antrag: Sie wollen also ein Konzept für die „Förderung von Schulen in benachteiligten sozialen Lagen und mit besonderen Aufgaben der Integration“ entwickeln lassen. Dazu ist dann geplant die „Förderung der begleitenden Forschung“ in Millionenhöhe und natürlich auch abschließend die „Evaluierung der Wirksamkeit der getroffenen Maßnahmen“. Dafür sind 5 Millionen Euro, später dann in der zweiten Phase noch einmal 7,5 Millionen Euro vorgesehen. Es besteht die Hoffnung, dass die Länder sich beteiligen. Auch das ist offenbar noch nicht vereinbart worden. Aus dem Digitalpakt wissen wir, wie schwer das sein kann. Meine Damen und Herren, das, was uns hier vorliegt, ist ein Placebokonzept. Das brauchen wir nicht. Wir brauchen endlich Taten statt Worte. Denn die Situation an unseren Schulen ist wirklich dramatisch. Wir haben überfüllte Klassen, marode Gebäude, Mobbing und Gewalt sind an der Tagesordnung, und zwar nicht nur an den Schulen hier in den Sozialen-Brennpunkt-Gebieten. Antisemitismus breitet sich aus. Der Autoritätsverlust der Lehrer ist zu beklagen und damit einhergehend ein massiver Leistungsverfall quer über die Schultypen hinweg. Meine Damen und Herren, diese Studie und auch das, was dann an wenigen ausgewählten Schulen – 300 sollen es sein, von 33 000 übrigens – gemacht werden soll, ist nichts weiter als ein Tropfen auf den heißen Stein. Allein wenn wir uns den Sanierungsbedarf einmal angucken, dann sehen wir – dies hat eine Studie der Kreditbank gezeigt –, dass allein dafür 47,7 nicht Millionen, sondern Milliarden Euro notwendig wären. Meine Damen und Herren, ich selbst habe viele Jahre an Schulen in benachteiligten sozialen Lagen, wie Sie es nennen, gearbeitet. Ich kann Ihnen sagen: Sie verschließen vor den eigentlichen Problemen das Auge. Wie sieht die Realität aus? An diesen Schulen haben wir praktisch keine deutschen Kinder mehr. Genauer oder, wenn Sie möchten, der politisch korrekte Ausdruck: Die Schüler mit NDH-Vermerk, also nichtdeutscher Herkunft, sind in der absoluten Mehrheit. Wenn Integration an diesen Schulen stattfindet, dann nur noch in der umgekehrten Richtung. Die wenigen verbliebenen Schüler mit sogenanntem biodeutschem Hintergrund werden in die Mehrheit der Schüler nichtdeutscher Herkunft integriert. ({1}) Wir als AfD-Fraktion haben deshalb den einzigen mutigen und mittel- und langfristig zielführenden Vorschlag gemacht, insbesondere bei der Migrationspolitik und bei der Gestaltung eines Einwanderungsgesetzes -

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Kommen Sie zum Schluss, bitte.

Dr. Götz Frömming (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004722, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

– die Bildungsfähigkeit der zu uns kommenden Menschen zu berücksichtigen und zum entscheidenden Kriterium zu machen. Ich danke Ihnen. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die SPD-Fraktion die Kollegin Marja-Liisa Völlers. ({0})

Marja Liisa Völlers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004942, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sprachdefizite, Fehlzeiten, Drohungen: An Schulen in sozial schwierigen Lagen ist dieses Bild durchaus trauriger Alltag. Die Konsequenz: überlastete, ratlose Lehrkräfte, Kinder und Jugendliche, die hinter ihren Potenzialen zurückbleiben. Diese Schulen stehen vor extremen Herausforderungen. Sie brauchen unsere Hilfe. Die SPD hat dafür gesorgt, dass wir sie verstärkt in den Fokus rücken. ({0}) Mit der neuen Initiative „Schule macht stark" unterstützen Bund und Länder diese Schulen in den nächsten zehn Jahren gemeinsam mit 125 Millionen Euro. Wir machen die Schulen stark, damit sie unsere Kinder und Jugendlichen stärken. Wir alle wissen um den akuten Handlungsdruck. Das sehen wir auch an der Fülle der vorliegenden Anträge. Deshalb haben wir in der SPD-Bundestagsfraktion nicht nur auf das Programm, sondern auch auf eine zeitnahe Umsetzung gedrängt. Mit dem gemeinsamen Koalitionsantrag und der Anschubfinanzierung haben wir die Initiative auf den Weg gebracht. Anders als der Kollege Frömming das gerade dargestellt hat, stehen seit drei Wochen die Unterschriften von Bund und Ländern unter der Vereinbarung. Die Länder haben sich hier also committed. ({1}) Der Startschuss zur konkreten Umsetzung ist gefallen. Zum Schuljahr 2021/22 wird die Initiative an den Schulen starten. Das Programm ist in zwei Phasen gegliedert: In den ersten fünf Jahren – Staatssekretär Rachel hat es ausgeführt – werden an bundesweit 20 ausgewählten Modellschulen die Konzepte entwickelt und erprobt. Auf sie folgen fünf Jahre, in denen die funktionierenden Maßnahmen, die man erprobt hat, sprichwörtlich an die Schulen gebracht werden, wo sie dann eben Schule machen. Der Bund sorgt für die wissenschaftliche Begleitforschung und unsere Länder für die Auswahl und Förderung der teilnehmenden Schulen. Eines möchte ich an dieser Stelle ganz deutlich sagen – das tue ich vor allem mit Blick auf die Beiträge der Oppositionsfraktionen –: Gemessen am Investitionsvolumen scheint das Programm vielleicht nicht das spektakulärste zu sein. Aber das Besondere – gut zuhören! – an dem Programm ist ja auch nicht, dass die Milliarden fließen, sondern dass die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Maßnahmen in den Schulen begleiten, sie evaluieren und dann aufbereiten, damit alle davon profitieren können. ({2}) Viele Länder haben sich übrigens schon mit eigenen Programmen erfolgreich auf denselben Weg gemacht. Aber fundierte Erkenntnisse, was unter welchen Bedingungen funktioniert und was nicht, fehlen noch in weiten Teilen. Viele Schulen warten noch auf eine Erfolgsgeschichte, auf ihre Erfolgsgeschichte. Deshalb wollen wir ihnen mit diesem Programm einen guten Baukasten bereitstellen, um tolle Maßnahmen zu haben, damit Schulleitungen, Lehrkräfte und pädagogische Mitarbeiter passgenau auf die schwierigen Herausforderungen reagieren und vor allem auch frühzeitig agieren können. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen in unserem Land kein Kind zurücklassen. Das sage ich nicht nur als Sozialdemokratin, sondern weil ich es für eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung und Aufgabe halte. Ich möchte, dass es jedes Kind packt. Vielen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Völlers. – Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, möchte ich darauf hinweisen, dass nach meiner Einschätzung die Präsenz der Regierung im Deutschen Bundestag ausbaufähig ist. ({0}) Als nächster Redner spricht zu uns der Kollege Peter Heidt, FDP-Fraktion, mit seiner, wie ich sagen muss, ersten Rede in diesem Hohen Haus. ({1})

Peter Heidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004948, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer! Wir Freien Demokraten unterstützen das Anliegen der Regierungskoalition, Schulen in sozialen Brennpunkten eine besondere Förderung zukommen zu lassen. Das ist richtig und wichtig, aber auch längst überfällig; das sagen Sie letztendlich selbst, Frau Kollegin Völlers. Wir Freien Demokraten, sehr geehrter Herr Staatssekretär Rachel, nehmen sehr interessiert zur Kenntnis, dass Ihre eigene Fraktion Ihnen auf den Füßen herumtreten musste, damit Sie endlich etwas liefern. ({0}) Allerdings müssen wir auch feststellen, liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD: Ideenlos und ohne Inspiration ist nicht nur Ihre Ministerin, sondern auch der zugrundeliegende Antrag. Aber immerhin: Sie haben erkannt, dass es einen dringenden Handlungsbedarf gibt, dass bei Brennpunktschulen endlich etwas geschehen muss. Wir haben nun eine Verwaltungsvereinbarung – immerhin. Leider fehlt es an einem Konzept. Konkret wurden Sie einzig bei den Summen, die für die Entwicklung einer Strategie und deren Umsetzung bereitgestellt werden sollen. Aber immerhin haben Sie erkannt, dass es ein Konzept benötigt. Die Entwicklung und die Umsetzung des Vorhabens kostet Geld. Meine Kolleginnen und Kollegen, wir unterstützen Sie gerne bei diesem in die richtige Richtung gehenden Vorhaben. Wir Freien Demokraten haben schon lange erkannt, dass es eine viel zu starke Abhängigkeit des Bildungserfolges vom Elternhaus gibt, dass Potenziale, Talente und Einsatzbereitschaft und der Leistungswille die entscheidenden Rollen für die Erfolge eines jeden Einzelnen spielen müssen. Sozialer Aufstieg in Deutschland muss aus eigener Kraft realisierbar sein, ({1}) unabhängig davon, wo jemand geboren ist und inwieweit er Unterstützung bekommt. Wir Freien Demokraten haben daher auch bereits Konzepte für Schulen in sozialen Brennpunkten entwickelt. Gerne dürfen Sie sich von uns inspirieren lassen. Diese Projekte gibt es bereits, sie sind erfolgreich: das sogenannte Sozialindex-Projekt in Hessen, das unsere damalige FDP-Kultusministerin auf den Weg gebracht hat, oder das nun von der FDP-Ministerin Yvonne Gebauer praktizierte Modell der Talentschulen in Nordrhein-Westfalen. ({2}) Chancengerechtigkeit, Leistungsfähigkeit des Bildungssystems – wollte man das tatsächlich voranbringen, hätte es des großen Wurfs bedurft. Es muss schon bei der frühkindlichen Bildung angesetzt werden; denn hier werden die Grundlagen für den späteren Erfolg oder eben Misserfolg gelegt. ({3}) Die Eigenverantwortung der Schulen muss gestärkt werden. Die Schulen vor Ort wissen am besten, was notwendig ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, lassen Sie mich zum Schluss anmerken: Wir Freien Demokraten reden uns in Sachen lebenslanges Lernen, Eigenverantwortung der Schulen seit Jahren den Mund fusselig. Wie wäre es, wenn wir gemeinsam der Ministerin Druck machen, dass hier etwas passiert? Handeln ist überfällig. Unsere Unterstützung wäre Ihnen sicher. Vielen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Heidt. – Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Dr. Birke Bull-Bischoff, Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Birke Bull-Bischoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004688, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Präsident! Ich war vor vier Wochen Gast in einer sogenannten Brennpunktschule. Sie wurde seit 30 Jahren nicht saniert, durch kein Förderprogramm. Im Speisesaal bröckelte der Putz von den Wänden. Beim Gehen erzählte mir dann der Schulleiter, dass in der kommenden Woche die Fassade gestrichen wird, aber nur zur Hälfte, weil das Geld nicht reicht. Das kann man sich nicht ausdenken, und das habe ich mir nicht ausgedacht. Nach seinen Worten ist das eine Schule, die eigentlich ein DDR-Museum war. Es war kein Gymnasium und keine Schule in irgendeiner Exzellenzinitiative. ({0}) Was macht eigentlich eine Schule zu einer Brennpunktschule? Dort lernen Schülerinnen, die zu wenig Geld haben, dort lernen Schüler, die zu wenig Wertschätzung erfahren haben in ihrer Bildungsbiografie, die zu wenig Erfolgserlebnisse hatten und die viel zu viele Probleme in ihrem Lebensgepäck haben. ({1}) Sie leben oft konzentriert in Stadtvierteln, in denen die Mieten so niedrig sind, weil eben die Wohnungen nicht oder nur sehr spärlich saniert sind. Auf diese Art und Weise werden Probleme konzentriert, und sie vervielfachen sich. So werden Brennpunktschulen geschaffen: durch Stadtentwicklung, die Menschen in Arm und Reich sortiert, durch Sozialpolitik, die Menschen letztlich in Armut zurücklässt und durch Bildungspolitik, die Kinder oft genug genau nach diesen Kriterien sortiert. Junge Leute werden auf diese Art und Weise ein weiteres Mal stigmatisiert: durch das Viertel, in dem sie leben, durch ihre Wohnadresse und auch durch die Schule, in der die Kinder und Jugendlichen lernen. Es sind Schulen, die wenig bis gar nicht saniert worden sind, in denen kaum Lehrkräfte arbeiten möchten und in die Familien mit halbwegs auskömmlichen Einkommen ihre Kinder am besten gar nicht schicken möchten und auch nicht schicken. Sogenannte Brennpunktkinder bleiben so unter sich. Genau das sind die Mechanismen, die den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg immer wieder in Gang halten. Was braucht man, um dem Phänomen Brennpunktschule entgegenzutreten? Man braucht eine Stadtentwicklung und eine Schulentwicklungsplanung, die auf soziale Mischung setzt ({2}) und nicht nach sozialen Kriterien sortiert. Man braucht eine Schule, in der Kinder und Jugendliche gemeinsam lernen, voneinander und miteinander. ({3}) Man braucht multiprofessionelle Teams, Schulsozialarbeiterinnen, pädagogische Mitarbeiter und überhaupt erst mal genügend Lehrkräfte. Wir brauchen eine Pädagogik, die sensibel ist, um auf Ausgrenzung und Stigmatisierung reagieren zu können. ({4}) Bei öffentlichen Mitteln brauchen wir einen sogenannten Sozialindex. Das Geld muss dorthin, wo es am meisten nötig ist, eben in diese sogenannten Brennpunktschulen. ({5}) Vor diesem Hintergrund, liebe Kolleginnen und Kollegen: Man kann sagen: Es ist ein Schritt in die richtige Richtung. Aber man muss auch sagen: Es ist nur ein winziger Schritt. Ein Tropfen auf den heißen Stein. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich der nächsten Rednerin das Wort erteile, nehme ich die Gelegenheit wahr, die Kollegin Domscheit-Berg unmittelbar anzusprechen. Frau Kollegin Domscheit-Berg, Sie haben getwittert, dass die Ausübung des Bundestagsmandates menschenfeindlich sei. Das ist Ihre Wertung; das mag in Ordnung sein. Aber Sie haben darauf hingewiesen, dass insbesondere im Plenarsaal des Deutschen Bundestages Wassermangel herrsche, was Sie erheblich bedauern. Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass 20 Meter von Ihnen entfernt ein Wasserspender steht, an dem Sie sich kostenlos bedienen dürfen. Hier muss niemand verdursten im Plenarsaal. ({0}) Es war mir wichtig, darauf hinzuweisen, weil ich und wir alle eine Vielzahl von Mails bekommen, warum wir als Präsidium sozusagen zur Dehydrierung der Abgeordneten beitragen würden. Ich möchte noch einmal sagen: Das machen wir nicht. ({1}) – Das können Sie gerne mal über Ihre Fraktion im Ältestenrat besprechen lassen. Wir möchten hier keine Flaschen auf den Tischen stehen haben: weder Wasserflaschen, noch Bierflaschen, noch Weinflaschen, noch Werbung für Coca-Cola. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Margit Stumpp, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, hat jetzt das Wort. ({3})

Margit Stumpp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004909, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! „Schule macht stark“, wieder mal eine plakative Überschrift im Reigen der Einfache-Sprache-Titel für Initiativen der GroKo, die allesamt denselben Impuls auslösen: Schön wär’s. Denn sämtliche Studien und Berichte der vergangenen Jahre – und davon gibt es viele – sagen: In Deutschland entscheidet noch immer die soziale, ethnische und regionale Herkunft oder eine Behinderung maßgeblich über die Zugangs- und damit die Zukunftschancen von Menschen. Oder einfacher: Gerade die Kinder, die Förderung am dringendsten brauchen, macht Schule eben nicht stark. Das ist kein Vorwurf an die Schulen. Im Gegenteil: Ich habe größten Respekt vor der Leistung vor allem der Lehrkräfte, die unter diesen Umständen wirklich Erstaunliches leisten. ({0}) Es ist eine Schande für unser Land, dass die Bildungsausgaben der Bundesrepublik immer noch unter dem Durchschnitt der OECD liegen, es sind knapp 5 Prozent. Das selbstgesteckte Ziel von 7 Prozent wird Jahr für Jahr gerissen. Unter diesen Umständen kann Schule nicht mehr leisten. Denn wer sich die Schulen anschaut, die beim Starkmachen die größten Herausforderungen zu bewältigen haben, sieht: Schulen in benachteiligten Stadtquartieren und Regionen sind oft nicht annähernd dafür gerüstet, ihren Anforderungen gerecht zu werden, weder was Räume noch was Ausstattung oder was Personalumfang angeht. ({1}) Es liegt auf der Hand, wie Abhilfe zu schaffen ist. Wenn Schule stark machen soll, müssen wir zuerst Schule stark machen. Umgehendes Handeln tut not. Doch was geschieht tatsächlich? Ministerin Karliczek braucht mehr als die halbe Wahlperiode, um sich der Schulen in benachteiligten sozialen Lagen überhaupt anzunehmen, und dann tut sie es nur zum Schein. Es gibt doch Studien zuhauf. Begleitforschungen und Evaluierungen alleine helfen den Schulen nicht. Wir haben kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsdefizit. ({2}) Noch einmal fünf Jahre Forschung sind wieder fünf Jahre verlorene Zeit für Schulen und Kinder. Der Bund muss endlich einen wirklichen Beitrag für beste Schulen und Chancengerechtigkeit leisten. Aber den Hauptteil, die Umsetzung, die finanziellen Brocken, überlassen Sie wieder vollständig den Ländern. ({3}) Wozu haben wir einem mühsam verhandelten Konsens – Stichwort Artikel 104c Grundgesetz – eigentlich zugestimmt? Nutzen Sie endlich die Möglichkeiten! Er ist nicht nur für den Digitalpakt da. ({4}) Wir haben Vorschläge gemacht. Bereits im letzten Haushaltsverfahren habe ich gemeinsam mit der Grünenbundestagsfraktion ein Sonderinvestitionsprogramm in Höhe von 500 Millionen Euro jährlich gefordert. Deswegen: Ministerin Karliczek, nutzen Sie endlich die Chancen, die Ihnen die Grundgesetzänderung bietet, und legen Sie ein echtes Programm für Schulen in benachteiligten Quartieren auf:

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss.

Margit Stumpp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004909, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Schulen stark machen, damit die kommenden fünf Jahre keine verlorenen Jahre sind! ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Frau Kollegin Stumpp. – Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Dr. Dietlind Tiemann, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Dietlind Tiemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004918, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Bull-Bischoff, liebe Frau Stumpp, ich muss an dieser Stelle etwas vorwegschicken: Wir leben den Föderalismus, und wir dürfen nicht immer versuchen, ihn auszuhebeln, wenn es uns vielleicht gerade passt. ({0}) In erster Linie sind die Länder für Bildung zuständig. ({1}) Die Länder sind auch dafür verantwortlich, dass die Kommunen entsprechend ausgestattet sind, damit sie ihre Aufgaben auch wahrnehmen können. ({2}) Darüber hinaus möchte ich Ihnen folgende Gedanken darlegen: Immer mehr Menschen in Deutschland sind leider für populistische Parolen empfänglich. Das kann man so im Raum stehen lassen; denn es ist natürlich nicht aus der Luft gegriffen. Vielmehr macht das die Shell-Jugendstudie deutlich. Die Erhebung, die seit 1953 durchgeführt wird, zeigt, auf welche Weise junge Menschen mit Herausforderungen umgehen, welche Verhaltensweisen, Einstellungen und Mentalitäten sie herausbilden. Wir haben hierbei eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung; das wird ganz deutlich. Ich zitiere aus den Kernergebnissen der Shell-Jugendstudie aus dem Jahr 2019: In der Shell-Jugendstudie wurden die Jugendlichen auch zu ihrer Position zu bestimmten populistischen Aussagen befragt. Wir alle hier merken, dass es wichtig ist, sich damit auseinanderzusetzen, dass 39 Prozent der Jugendlichen eher weltoffen orientiert sind, während 33 Prozent eher populistisch orientiert sind. 28 Prozent sind nicht eindeutig positioniert. Das macht zwar deutlich, wo die Sorgen und Probleme liegen, zeigt aber auch, dass sich der überwiegende Teil der Jugendlichen weltoffen orientiert. Nach wie vor besteht ein starker Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und sozialer Herkunft; auch das macht die Studie noch einmal deutlich. Genau dort setzen wir an: Wir wollen die politische und zivilgesellschaftliche Bildung in Elternhäusern, Schulen und im Ehrenamt stärken. Nur so ermöglichen wir es den Kindern und Jugendlichen, kritisches Denken und Hinterfragen von vermeintlichen Fakten zu erlernen. Nur so machen wir sie möglichst immun gegen Verschwörungstheorien. Das sollte unsere Aufgabe sein; darauf sollten wir unser Augenmerk richten. Soziale Herkunft und Lebensort haben allerdings noch immer einen zu großen Einfluss auf den Bildungserfolg. Das wird auch gar nicht geleugnet, aber es geht darum, die Verantwortung auch dort zu suchen, wo sie liegt. Wir machen mit dem, was wir heute zum Beschluss vorlegen, einmal mehr deutlich, dass es uns als Bund darum geht, den Föderalismus zu leben, aber an einigen Stellen auch Verantwortung zu übernehmen, indem wir sagen: Ja, wir gehen Hand in Hand gemeinsam mit den Ländern. Das, was wir Ihnen heute zum Beschluss vorlegen, soll sich an der Realität orientieren. Wir haben die Unterstützung für begabte Kinder und Jugendliche auf den Weg gebracht. Jetzt ist es unsere Aufgabe, den Kindern und Jugendlichen zu helfen, die insbesondere in den Schulen ihre Bildung erfahren, in denen wir Nachholbedarf sehen. Leider arbeiten dort an verschiedenen Stellen noch immer Quer- und Seiteneinsteiger, die nicht unbedingt die entsprechende Qualifikation haben. Auch darauf muss ein Augenmerk gelegt werden, aber bitte schön von den Ländern. Das föderale System mit seiner Initiative „Schule macht stark“ soll Abhilfe schaffen. Der Bund bringt sich über einen Zeitraum von zehn Jahren mit insgesamt 125 Millionen Euro ein, um dieses gemeinsame Aufgabengebiet zu bewältigen. Es ist ein nachhaltiges Programm; denn es ist doch ganz bemerkenswert, wie viel Geld hier über zehn Jahre in die Hand genommen wird, und zwar zugunsten der Bildung und zugunsten der Länder, um dort Unterstützung zu leisten. Das heißt aber auch, dass die Länder das Geld auch im Bewusstsein ihrer Verantwortung verwenden müssen. Wir schließen an vorhandene Programme an, die in den 16 Bundesländern bereits existieren. Wir wollen helfen, den manchmal hier und da vorhandenen Flickenteppich in der Bildungspolitik damit ein bisschen einheitlicher zu gestalten. Liebe Frau Völlers von der SPD, herzlichen Dank für unsere tolle Zusammenarbeit. Ich glaube, wir freuen uns alle über den baldigen Start und über die Auswahl der 200 Schulen für die Modellphase. Kein Kind und kein Jugendlicher darf aufgrund seiner oder ihrer Herkunft, des Wohnortes oder sozialer Rahmenbedingungen strukturell benachteiligt werden. Wir handeln und beschließen heute „Schule macht stark“. Herzlichen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Tiemann. – Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Oliver Kaczmarek, SPD-Fraktion. ({0})

Oliver Kaczmarek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004063, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nicht immer, aber manchmal ist es sehr hilfreich, sich außerhalb dieses Plenarsaals gute Informationen zu holen. So sind meine Kollegin Marja Völlers und ich nach Hamm gefahren, wo die Schule des Jahres, die Gebrüder-Grimm-Schule, ihren Sitz hat, die den Hauptpreis beim Deutschen Schulpreis gewonnen hat. Sie liegt in einem Stadtteil mit besonderen Herausforderungen, was die Armutsquote, den Migrantenanteil usw. betrifft. Was wir dort erlebt haben, ist nicht Wehklagen und auch kein Zerrbild, wie Herr Frömming von der AfD es gerade skizziert hat. Wir haben vielmehr Offenheit und Wertschätzung für Schülerinnen und Schüler, Experimentierfreude, Tatkraft und Anpacken, pädagogische Innovation und ganz viel Demokratielernen für Grundschülerinnen und Grundschüler erlebt. ({0}) Deswegen will ich sagen: Die Gebrüder-Grimm-Schule steht an dieser Stelle stellvertretend für alle Schulen mit tollen Schülerinnen und Schülern, die sich in einem herausfordernden Umfeld befinden, die sich jeden Tag für ihre Schülerinnen und Schüler starkmachen, weil es sonst keiner macht. Diese Schulen gehören zu den besten Schulen, die wir in diesem Land haben, meine Damen und Herren. ({1}) „Schule macht stark“ leistet einen Beitrag zur Unterstützung dieser Schulen. „Schule macht stark“ soll Mut machen, sich auch auf den Weg zu machen, und soll die Vernetzung mit dem sozialräumlichen Umfeld in den Blick nehmen. Das bedeutet, zu schauen, was im Umfeld der Schule dazu beitragen kann, die Schule besser zu machen. Ich möchte an dieser Stelle einmal dem Ministerium und der Kultusministerkonferenz dafür danken, dass es gelungen ist, die Ausschreibung innerhalb eines Jahres auf den Weg zu bringen und das Projekt jetzt schon zu starten. Das macht uns froh; denn das ist eine Vorgabe aus dem Koalitionsvertrag, die wir ausgehandelt haben. Dass das in einem Jahr gelungen ist, ist gut. ({2}) Ich will aber auch sagen: Natürlich gliedert sich „Schule macht stark“ in das ein, was die Länder machen. Herr Heidt, Sie haben recht mit dem Hinweis auf die Talentschulen in Nordrhein-Westfalen. Ich freue mich, dass sich die Landesregierung auf den Weg gemacht hat. 60 Schulen sind bei über 6 000 Schulen, die wir im Land haben, ein bescheidender Beitrag. Aber es ist immerhin besser als das, Frau Stumpp, was in Baden-Württemberg passiert. Da haben wir überhaupt kein Sozialindexmodell, ({3}) überhaupt noch keine Zuteilung zusätzlicher Ressourcen für besonders belastete Schulen. Schauen wir uns das sozialdemokratische Hamburg an. Da gibt es schon seit Jahren ein Sozialindexmodell, mit dem Schulen bei der Personal- und Mittelausstattung bis zu 30 Prozent bessergestellt werden, wenn sie belastet sind. In der Tat: Es gibt große Unterschiede zwischen den Bundesländern, und es ist gut, dass der Bund an dieser Stelle mithilft, einen Beitrag für diese Schulen zu leisten. ({4}) Deshalb, meine Damen und Herren: Wenn wir überwinden wollen, dass die soziale Herkunft, der Wohnort eines Kindes, der Stadtteil eines Kindes, der Geldbeutel der Eltern über den Lebensweg von Kindern und Jugendlichen entscheiden, dann müssen wir gerade dahin gehen, wo die größten Potenziale sind, wo noch nicht 70 Prozent eines Jahrgangs im Stadtteil Abitur gemacht haben, sondern weniger. Dort finden wir die größten Potenziale. Diese Schulen brauchen besondere Unterstützung. Dazu trägt „Schule macht stark“ bei. Herzlichen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Kaczmarek. – Damit schließe ich die Aussprache.

Dr. Achim Kessler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004776, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen! Sehr geehrte Herren! Liebe Gäste auf der Tribüne! Die ambulante Versorgung durch Haus- und Fachärzte ist akut gefährdet. Wenn wir nicht sofort entschlossen eingreifen, werden sogenannte Private Equity Fonds – das sind Kapitalgesellschaften mit vielen Milliarden Dollar im Rücken – die Arztpraxen aufkaufen, zu Ketten Medizinischer Versorgungszentren umbauen und schließlich weiterverkaufen. Medizinische Versorgungszentren wurden eingeführt, um unterversorgte Gebiete versorgen zu können. Das ist aber nicht das Ziel von Private-Equity-Gesellschaften. Ihr Ziel ist die Gewinnmaximierung durch Kostensenkung. Leidtragende werden vor allem die Patientinnen und Patienten sein, besonders in ländlichen und wirtschaftsschwachen Regionen. Das dürfen wir nicht zulassen, meine Damen und Herren. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Gesundheitsausschuss, wie Sie wissen, ist diese Entwicklung keineswegs ein Hirngespinst der Linken. Es ist die Befürchtung vieler, zuallererst der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte. Aber die Öffentlichkeit bekommt von diesem Prozess, seiner Brisanz und seiner rasanten Geschwindigkeit so gut wie nichts mit. Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, das zu ändern, meine Damen und Herren. ({1}) Auch die Bundesregierung hat kaum Informationen über die Folgen dieses Geschäftsmodells im Gesundheitsbereich. Das geht aus ihrer Antwort auf unsere Kleine Anfrage hervor. Sie kann fast keine Zahlen liefern, wie groß der Einfluss der Private Equity Fonds in der ambulanten Gesundheitsversorgung schon ist. Ich frage Sie: Weshalb unternimmt die Bundesregierung nichts, um hier Licht ins Dunkel zu bringen? ({2}) Private-Equity-Gesellschaften haben ihren Sitz häufig in Steueroasen, sind also Briefkastenfirmen auf Inseln, die wesentlich mehr Briefkästen als Einwohner haben. Meine Damen und Herren, es sind die Beiträge der Versicherten, die in diesen Briefkästen landen. Das ist nicht hinnehmbar. ({3}) Das Geschäftsmodell von Private Equity sieht vor, Unternehmen zu kaufen und nach spätestens fünf Jahren mit größtmöglichem Gewinn wieder zu verkaufen. Die durchschnittliche Rendite liegt bei 18 Prozent – pro Jahr wohlgemerkt. Diese Wertsteigerung erreichen sie durch Kündigung, durch Arbeitsverdichtung, Lohndumping, durch Zukäufe und durch die Spezialisierung auf teure Behandlungen. Geschäftszweck ist also nicht die Gesundheitsversorgung, sondern die Spekulation mit dem Unternehmen selbst. Konkret kaufen Private-Equity-Gesellschaften kleine Krankenhäuser auf, um damit dann Medizinische Versorgungszentren gründen zu können. Um diese dann zu vergrößern, kaufen sie einen Arztsitz nach dem anderen auf. Die ganze Dramatik wird aber erst deutlich, wenn wir uns bewusst machen, dass ein Drittel der Hausärztinnen und Hausärzte über 60 sind. Diese Praxen werden in den nächsten fünf Jahren frei und sind bei den Private-Equity-Heuschrecken heiß begehrt. Inhabergeführte Arztpraxen werden so zu Ketten Medizinischer Versorgungszentren, die von Heuschrecke zu Heuschrecke weiterverkauft werden. Wenn eine Kette von Medizinischen Versorgungszentren durch die Optimierungsprozesse mehrerer Private Equity Fonds hintereinander gegangen ist, bleibt von der ambulanten Versorgung so gut wie nichts übrig. Ich frage Sie: Wollen Sie dem wirklich tatenlos zusehen? ({4}) Wollen Sie eine Monopolisierung der ambulanten Gesundheitsversorgung? Ich kann Ihnen ganz klar sagen: Die Linke will das nicht. ({5}) Deshalb fordert Die Linke in einem ersten Schritt Transparenz durch die Einführung eines öffentlich zugänglichen Registers für Medizinische Versorgungszentren. Das ist ja nicht gerade die Revolution. Wir wollen wissen, was Sache ist. ({6}) Mit dieser Forderung nach der Offenlegung von privaten Eigentümerstrukturen sind wir übrigens nicht alleine. Dass Ärzte- und Zahnärzteverbände auf der einen Seite, auf der anderen Seite aber auch Gewerkschaften diese Entwicklung ebenfalls scharf kritisieren, sollte Ihnen allen eigentlich zu denken geben.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Achim Kessler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004776, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die ambulante Versorgung darf keine Sekunde länger dem Geschäftsinteresse von gewinnorientierten Private-Equity-Heuschrecken überlassen bleiben. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächster Redner hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Alexander Krauß. ({0})

Alexander Krauß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004793, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Linke beschreibt ein Problem, das es in der Realität nicht gibt. Es gibt nicht das Problem, dass Unternehmen im Gesundheitssektor erworben werden und dann ganz schnell, nach einem halben Jahr oder sonst wie, wieder verkauft werden. Sie konnten weder in Ihrem Antrag noch jetzt in Ihrer Rede auch nur ein einziges Beispiel nennen, wo das der Fall war. In der Tat haben wir im Gesundheitswesen private Geldgeber, die sich einbringen, die aber ein langfristiges Interesse haben und mithelfen, wie andere auch, wie Ärzte auch, dass die medizinische Versorgung bei uns im Land gesichert ist. Keine Frage: Im Gesundheitswesen wird auch Geld verdient. Jeden Tag wird in diesem System mehr als 1 Milliarde Euro ausgegeben. Niemand bringt Geld mit, wenn er auf Arbeit geht, alle verdienen. Ich finde das in Ordnung, solange eine Leistung dafür erbracht wird und solange die Qualität stimmt. Mich interessiert nicht, wem ein MVZ, ein Medizinisches Versorgungszentrum, gehört, sondern mich interessiert: Welche Leistung bringen Medizinische Versorgungszentren? Liefern sie hochwertige Medizin? Ich möchte sie gern an dem messen, was hinten rauskommt. ({0}) Dann kann man auch die Frage stellen: Ist die medizinische Versorgung schlechter oder nicht? Nein, sie ist auf keinen Fall schlechter durch Medizinische Versorgungszentren, wenn die einen privaten Geldgeber haben. Das ist ganz klar erwiesen und keine Frage. Sie sprechen noch ein anderes Problem an: dass es bei diesen Medizinischen Versorgungszentren Stellenstreichungen und Dumpinglöhne gäbe. ({1}) Entschuldigung, im medizinischen Bereich, wo wir 10 000 Ärzte suchen, wo wir 40 000 Pflegekräfte suchen, da gibt es doch keine Stellenstreichungen. Jeder Arzt oder jede Krankenschwester, die entlassen werden würden, bekämen an der nächsten Hausecke wieder ein Jobangebot, welches sie annehmen könnten. ({2}) Dann höre ich das Wort „Dumpinglöhne“. Entschuldigung, die Worte „Dumpinglohn“ und „Arzt“ passen für mich genauso wenig in einen Satz wie Bayern München und zweite Fußball-Bundesliga. Das gehört einfach nicht zusammen. ({3}) Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, damit es keine Missverständnisse gibt: Mir ist es lieber, wenn es niedergelassene, freiberuflich tätige Ärzte gibt, die bei uns im Land die medizinische Versorgung sichern. Das hat einen Grund: ({4}) Ein niedergelassener Arzt arbeitet 49 Stunden pro Woche. Er beutet sich in gewisser Weise selbst aus. Ein Arzt, der im MVZ arbeitet, arbeitet im Durchschnitt weniger als die Hälfte: 23 Stunden. ({5}) Deswegen ist es mir lieber, wenn es Ärzte gibt, die sagen: Ich mache mich selbstständig, ich arbeite in diesem Bereich. – Aber jedem ist es selbst überlassen, wie er arbeiten möchte. Wenn jemand angestellt arbeiten möchte, dann ist das sein gutes Recht. Wenn er sagt: „Ich möchte mehr Zeit für die Familie oder meine Hobbys haben“, dann ist das sein gutes Recht. Wir erleben derzeit in der gesamten Gesellschaft einen Wandel: von einer Work-Life-Balance hin zu einer Life-Work-Balance. Da verändert sich etwas. Das müssen wir akzeptieren. Insofern ist es mir lieber, es gibt ein Medizinisches Versorgungszentrum, auch im ländlichen Bereich, auch von einem privaten Geldgeber gegründet, als dass es dort überhaupt keinen Arzt gibt. Jetzt will ich einmal zu den Rahmenbedingungen kommen. Ein Arzt hat Therapiefreiheit, egal wo er arbeitet. Er entscheidet, was das Beste für den Patienten ist, nicht irgendjemand anders. Hier ist die Rechtslage ganz klar. Dagegen darf nicht verstoßen werden. Die meisten MVZ-Ärzte haben übrigens auch ein Festgehalt, was ich für richtig halte. Für ihn ist der Umsatz weniger wichtig als für jemanden, der selbstständig tätig ist. Den interessiert der Umsatz ein wenig mehr als den, der ein festes Gehalt bezieht. Insofern wird es nicht dazu kommen, dass er besonders darauf achtet, wie viel Umsatz er macht. Es gibt ein richtiges Argument, das wir auch beim Terminservice- und Versorgungsgesetz betrachtet haben. Es geht darum, dass es keine Monopole geben darf. Das gilt zum einen für die allgemeine Wirtschaft. Ich möchte, dass kein Autohaus ein Monopol in einer Region hat. Ich möchte zum anderen aber auch nicht, dass ein Medizinisches Versorgungszentrum ein Monopol in einer bestimmten Region hat oder dass ein Frauenarzt ein Monopol hat. Der Patient muss Wahlfreiheit haben. Deswegen haben wir die kluge Entscheidung getroffen, dass wir vorsorglich eine Regelung in das Terminservice- und Versorgungsgesetz aufgenommen haben, damit es zu keinen Konzentrationen kommt. Noch ist das aber nicht nötig; denn wir haben auch ein Kartellrecht, das gilt. Man kann auch nachvollziehen, in wie vielen Fällen das Kartellamt geprüft hat. Das Kartellamt – ich habe das vor einem Jahr gefragt – hat die Fälle aufgezählt und gesagt: Es gibt in all diesen Fällen für die Patienten genügend ambulante Ausweichalternativen im lokalen Umfeld. Deswegen ist ganz klar: Wir haben hier kein Problem. Deswegen können wir guten Herzens auf Ihren Antrag verzichten. Vielen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Detlev Spangenberg für die AfD-Fraktion. ({0})

Detlev Spangenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004898, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Antrag der Linken lautet: „Kapitalinteressen in der Gesundheitsversorgung offenlegen“. ({0}) – Ja. – Es ist ein interessanter Antrag, der einiges beinhaltet, was man beachten sollte. Die Medizinischen Versorgungszentren im Allgemeinen sind eine feine Einrichtung. Sie sind aus dem Osten unter dem Begriff „Poliklinik“ bekannt. Ich habe mich gefreut, dass Professor Hecken, Chef des G-BA, auch diesen Begriff verwendete und meinte: Sie alle nach der Wende plattzumachen, war auch nicht die beste Idee. – Die Krankenhausärzte verwenden den Begriff „Poliklinik“ auch schon. Er wird mittlerweile wieder bekannt. Was bedeutet MVZ? Es ist eine Chance für insolvente und bedrohte Krankenhäuser, die aus irgendwelchen Gründen nicht mehr existieren können, die keinen Einzugsbereich von Patienten mehr haben. Sie haben sich vielleicht auf eine Branche spezialisiert, die nicht nachgefragt ist, oder sie sind gebäudemäßig nicht mehr ausreichend aufgestellt. Dann gibt es natürlich die Möglichkeit, dass dies als Medizinisches Versorgungszentrum weiter bestehen kann. Das Problem dabei – insofern haben die Linken recht – ist, dass Privatinvestoren ohne fachlichen Bezug über den Aufkauf berechtigter Leistungserbringer diese MVZ gründen können. Das ist der Hintergrund. Meine Damen und Herren, ich möchte Sie an die Aktion – ich habe es mitgebracht - ({1}) „Rote Karte“ erinnern. Diese haben Sie sicher alle noch in Erinnerung. Die kam von den zahnärztlichen Vereinigungen. Die zahnärztlichen Vereinigungen haben sich in das Gesetzgebungsverfahren sehr aktiv eingebracht. Sie haben dabei auch Erfolg gehabt. Die sind ganz zufrieden. Wenn Sie sich das ansehen, stellen Sie fest, dass sie einige Sachen zu ihrem Schutz haben aufbauen können. Bei der Regierungsbefragung habe ich – Frau Staatssekretärin Weiss ist auch hier – gefragt, wie die Bundesregierung das sieht. Sie hat gesagt: Die Bundesregierung sieht das Problem, hat es im Griff. – So wie Herr Krauß das sagt, ist es scheinbar nicht. Die Bundesregierung sieht hier tatsächlich ein Problem. Sie hat es mir zumindest so in der Anhörung gesagt. Unser Vorschlag, meine Damen und Herren, ist, dass man überprüfen sollte, ob eine Verfahrensweise analog § 95 Absatz 1 SGB V, der für die zahnärztlichen Zentren gilt – Ergebnis der „Rote Karte“-Aktion, die ich eben nannte –, in Betracht kommt. Der Versorgungsgrad des jeweiligen Planungsbereiches sichert sowieso eine gewisse Steuerung. Das war auch das Ziel, das mit dieser Aktion erreicht werden sollte. Aber, meine Damen und Herren, wir als AfD sehen das Problem auf einem ganz anderen Gebiet, was natürlich dazu gehört: der Ärztemangel im ländlichen Raum. Ich habe schon 2015 im Sächsischen Landtag den Vorschlag eingebracht –aber wie immer: AfD-Vorschläge werden abgelehnt –, dass man erstens einmal den Numerus clausus überprüft und den Studenten, die ewig in der Warteschleife sind und auf jeden Fall Arzt werden wollen, einen Studienplatz anbietet über eine Vertragsgestaltung mit der Verpflichtung, nach Abschluss des Studiums eine Praxis im ländlichen Raum zu betreiben. Das hat den Vorteil, dass sie vielleicht jemanden kennenlernen und dortbleiben. Es könnte Ihnen sogar gefallen. Wir haben eine Versorgung, sie haben eine Perspektive und kommen schneller zum Studium. Zweiter Vorschlag. Investitionshilfen für diese Studenten. Die Ärzte finden das gar nicht schlecht. Ich habe es ihnen auch vorgetragen. Vielleicht sollte man auch Medizinische Versorgungszentren in kommunaler Trägerschaft ausbauen. Da haben wir die Sicherheit, deren Fehlen bei Private-Equity-Gesellschaften hier mit Recht kritisiert wird. Das geht aber nur, wenn die MVZ im Bedarfsplanungsbereich liegen. Das ist auch die ursprüngliche Forderung im TSVG gewesen, meine Damen und Herren. Als Letztes ein Satz zu den Forderungen der Linken. Der erste Satz der Begründung ist ein bisschen kurios. Sie sagen dort, ambulante Gesundheitsversorgung darf nicht denen überlassen werden, deren Geschäftszweck nicht im dauerhaften Betrieb der Einrichtungen besteht. Das ist natürlich richtig, aber sie werden es Ihnen kaum sagen. Ich denke mir, das ist ein Wunsch, aber es wird nicht funktionieren. Das Register, das Sie wollen, finde ich gut. Man kann es gebrauchen. Sie sehen hier den Unterschied: Wir können auch anderen Fraktionen zustimmen, wenn etwas Vernünftiges gesagt wird. Recht vielen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun Bettina Müller das Wort. ({0})

Bettina Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004358, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Steueroase, Kaimaninseln, Private Equity: Das alles in Verbindung mit Medizinischen Versorgungszentren? Das lässt aufhorchen und verfehlt seine Wirkung nicht. Für mich steht fest: Die medizinische Versorgung ist ein wichtiger Bereich der Daseinsvorsorge und natürlich kein Markt wie jeder andere. In diesem Punkt, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, sind wir uns völlig einig. ({0}) Grundsätzlich finde ich die Idee richtig, Licht ins Dunkel zu bringen, Transparenz zu schaffen. Aber warum sollen wir hier MVZ anders behandeln als Krankenhäuser oder Pflegeheime? Wer welche Einrichtung besitzt und Rendite abschöpft, ist nicht nur bei MVZ interessant. ({1}) Deswegen meine Bitte: Wenn schon, dann sollten wir hier ein bisschen mehr Sorgfalt walten lassen; denn hier stehen viele Mutmaßungen im Raum. Das Bundeskartellamt – das ist schon angeklungen – hat zum Beispiel in der Frage der Marktmacht 2017 den großen MVZ-Ketten noch Unbedenklichkeit attestiert. Generell können wir feststellen: Die weite Verbreitung der MVZ tut der ambulanten Versorgung gut. Sie sind eine sinnvolle und zeitgemäße Ergänzung bestehender Versorgungsmodelle, die momentan vielen Bedürfnissen entgegenkommt, ({2}) so zum Beispiel den Bedürfnissen von jungen Ärztinnen und Ärzten. Hier bieten MVZ optimale Bedingungen. Einstieg in den Beruf und Familienphase fallen oft zusammen. Hier haben die MVZ den Vorteil, dass sie eine Teilzeittätigkeit in Anstellung und garantierte Arbeitszeiten bieten können. Überstunden, lästige bürokratische Pflichten und wirtschaftliches Risiko fallen weg. Das ist sehr attraktiv für junge Ärztinnen und Ärzte. ({3}) Und natürlich sollte für uns Gesundheitspolitiker die Qualität der Versorgung im Vordergrund stehen. Auch hier können MVZ punkten. Die Möglichkeit, Fremdkapital heranzuziehen, erlaubt eine medizinische Versorgung auf dem neuesten Stand. Mittlerweile sind moderne Geräte in einigen Fachrichtungen so teuer, dass Berufseinsteiger sie kaum finanzieren können, zum Beispiel in der Radiologie. Die Nutzung der teuren Geräte durch mehrere Ärzte ist durchaus sinnvoll und sorgt für eine optimale Auslastung. ({4}) Aus Sicht der Patientinnen und Patienten, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind auch die langen Öffnungszeiten vieler MVZ hoch attraktiv. Wie die Situation mittwochmittags und freitagmittags in Einzelpraxen aussieht, das wissen wir ja alle. Ich möchte noch auf einen Punkt zu sprechen kommen: Auch ein Arzt mit eigener Praxis hat nicht nur einen Hut auf, er ist Arzt und Unternehmer. Ich gebe zu bedenken, dass auch hier nicht immer das wirtschaftlich Notwendige konfliktfrei mit dem ethisch Richtigen verbunden wird, oder kurz gesagt: Auch die Einzelpraxis verfolgt wirtschaftliche Interessen. ({5}) Hier wird zum Beispiel kräftig „ge-IGeLt“. Auf lukrative Kataraktoperationen spezialisieren sich nicht nur die großen Augen-MVZ, sondern durchaus auch Einzelpraxen. Ich möchte hier nicht falsch verstanden werden: Wir brauchen beides in einem vernünftigen Rahmen – MVZ und Einzelpraxis. ({6}) Dass es nicht um ein Entweder-oder geht, wird auch beim Blick in die moderne Arztbiografie deutlich. ({7}) Der ungebrochene Trend zur Anstellung bedeutet nicht, dass die Ärzte sich nicht niederlassen wollen. Vielmehr ist es oft so, dass der Nachwuchs wertvolle praktische Erfahrungen im MVZ sammelt, bevor er sich mit der eigenen Praxis niederlässt, und die Älteren – kurz vor der Rente – bereiten ihren Ausstieg vor und lassen sich in der eigenen Praxis als Arzt anstellen. Insofern sollten wir die Situation ganz genau analysieren, bevor wir die Medizinischen Versorgungszentren im Schnellschuss mit massiven Berichtspflichten, die vorgeschlagen wurden, die aber zum Teil nicht umsetzbar sind, überziehen. Dabei können wir auch gerne zusammenarbeiten. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun Christine Aschenberg-Dugnus das Wort. ({0})

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für uns als Fraktion der Freien Demokraten sind die ambulant tätigen Ärztinnen und Ärzte sowie Zahnärzte auch in Zukunft die erste Anlaufstelle für die beste Versorgung, für die qualitativ hochwertigste Versorgung vor Ort. Wir wollen die Freiberuflichkeit fördern, um die freie Arztwahl und die Therapiefreiheit im Sinne der Patientinnen und Patienten zu stärken. ({0}) Mit dem GKV-Versorgungsstrukturgesetz aus dem Jahr 2012 – das war die schwarz-gelbe Zeit – wurde die Gründungsberechtigung für Medizinische Versorgungszentren für diejenigen Leistungserbringer ausgeschlossen, die ohne fachlichen Bezug zur medizinischen Versorgung waren. Meine Damen und Herren, ich fand, das war ein guter Schritt. Ich möchte an dieser Stelle anmerken, meine Kolleginnen und Kollegen von den Linken: Sie haben damals dem Gesetz nicht zugestimmt. Ziel war es damals, im Patienteninteresse die Unabhängigkeit medizinischer Entscheidungen weiterhin zu gewährleisten. Investoren ohne fachlichen Bezug zur medizinischen Versorgung sollten von der Gründung eines MVZ ausgeschlossen werden. Ich kann Ihnen nur sagen: Was wir bei den MVZ benötigen, sind eindeutige Regelungen, die sicherstellen, dass die dort tätigen Ärzte und Zahnärzte in medizinischen Fragen völlig weisungsfrei handeln dürfen; denn das ist der Vorteil der Freiberuflichkeit. ({1}) Die Weisungsfreiheit – da gebe ich den Linken ein wenig recht – war im Bereich der zahnärztlichen MVZ tatsächlich fraglich, da Fremdinvestoren über den verschachtelten Kauf einer Klinik beliebig viele zahnärztliche MVZ eröffnen konnten. Aber wir müssen hier differenzieren, meine Damen und Herren; denn Medizinische Versorgungszentren sind ein wichtiger Teil der Versorgung. Sie können hier nicht alles über einen Kamm scheren. ({2}) Es wurde schon angesprochen: Durch die Quotenregelung im Terminservice- und Versorgungsgesetz wurde für die zahnärztlichen MVZ der ausufernde Aufkauf begrenzt. (Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Aber nur für die Zahnärzte! Ich sage Ihnen aber auch ganz klar: Das ging uns nicht weit genug. Eine fachliche und räumliche Begrenzung wäre für uns der bessere Weg gewesen. ({3}) In Ihrem Antrag differenzieren Sie aber überhaupt nicht zwischen zahnärztlichen MVZ und anderen MVZ. Ich habe nichts gegen Transparenz, ganz im Gegenteil, aber was Sie in Ihrem Antrag vorschlagen, das ist der reinste Bürokratiewahnsinn. Sie fordern erstens eine halbjährliche Meldefrist des MVZ-Betreibers gegenüber dem Ministerium, zweitens eine Meldung des Betreibers gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung, drittens soll das Bundesministerium für Gesundheit dann auch noch abgleichen, ob alle Meldungen ordnungsgemäß erfolgt sind; viertens fordern Sie die Bundesregierung auf, darüber auch noch halbjährlich zu berichten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie scheinen von Bürokratieaufwand in der Versorgung keine Ahnung zu haben. Im Zweifelsfall geht dieser Bürokratieaufwand nämlich zulasten der Versorgung der Patientinnen und Patienten, und das wollen wir doch wohl nicht haben. ({4}) Vor allen Dingen: Der hier vorgeschlagene Bürokratiewahnsinn würde genauso die hausärztlichen und internistischen Medizinischen Versorgungszentren treffen. Die laufen aber gar nicht Gefahr, von Private-Equity-Gesellschaften übernommen zu werden – das habe ich letztens auf einer Veranstaltung gehört –, was auch daran liegt, dass sie einfach viel zu wenig Umsatz und Gewinn machen. Apropos Gewinn. Sie kritisieren in Ihrem Antrag, dass Beitragsmittel für private Gewinne zweckentfremdet werden. Oh mein Gott! Ich erkläre es Ihnen: Gewinn ist nichts Schädliches. Ganz im Gegenteil: Ohne Gewinn würde keine Praxis in Deutschland existieren. Ihr Antrag löst eine Bürokratiewelle auch bei den vielen Medizinischen Versorgungszentren aus, die im Patienteninteresse unabhängige medizinische Entscheidungen treffen. Das ist die Mehrzahl der Medizinischen Versorgungszentren, und dass Sie das über einen Kamm scheren, ist nicht in Ordnung. Ich freue mich auf die Diskussion im Ausschuss. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Kirsten Kappert-Gonther für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Kirsten Kappert-Gonther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004773, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für viele Menschen ist, wie für die meisten von uns, Gesundheit ihr höchstes Gut. Der Zugang zu guter Gesundheitsversorgung muss selbstverständlich sein und darf nicht zum Spielball privater Kapitalgruppen werden. ({0}) Da ist schon was dran: Seit einiger Zeit beobachten wir, dass Akteure an Einfluss auf die ärztliche Versorgung gewinnen, die eher wirtschaftliche Interessen verfolgen als dem Wohl der Patientinnen und Patienten dienen wollen. Das ist tatsächlich ein Problem. Es ist sehr bedauerlich, dass Spahns selbst ernanntes Opus magnum, das TSVG, dieser Problematik kein wirksames Instrument entgegenstellen konnte – oder wollte. ({1}) Wir brauchen mehr Transparenz bei der Frage, wer welche Gesundheitseinrichtung besitzt und Rendite abschöpft. Dabei allerdings ausschließlich die Versorgungszentren in den Blick zu nehmen, greift unserer Meinung nach viel zu kurz. Ich glaube, dass das gegen den Gleichheitssatz verstößt und zu massiven Abgrenzungsproblemen führen würde. Ganz sicher braucht es einen Blick auf das große Ganze. Wir alle wissen: Ökonomische Fehlanreize stehen in unserem Gesundheitssystem leider auf der Tagesordnung. Wir haben an vielen Stellen Über-, Unter- und Fehlversorgung. Zum Beispiel bekommen Ältere häufig zu viele Medikamente mit gefährlichen Wechselwirkungen: ein Mittel gegen Bluthochdruck von der Hausärztin, ein anderes gegen Rückenbeschwerden vom Orthopäden. Bei nicht abgestimmter Medikation – das ist leider die traurige Wahrheit – landen Menschen schnell mal im Krankenhaus. Je besser sich die Behandelnden untereinander absprechen, desto besser ist es für die Patientinnen und Patienten, und da kommen wir zur Idee der Medizinischen Versorgungszentren. ({2}) Die Idee der MVZ ist an sich genau richtig: an einem Ort Hausärztinnen und ‑ärzte, Fachärzte und ‑ärztinnen, Physiotherapie und andere therapeutische Gesundheitsfachberufe unter einem Dach zu vereinen. Das bedeutet erstens kurze Wege für die Patientinnen und Patienten und zweitens zumindest die Möglichkeit der direkten Kommunikation zwischen den Behandelnden; sie müssen es zwar auch nutzen, aber immerhin besteht die Möglichkeit. Was aber sicherlich keinen Sinn macht – das ist auch schon angeklungen –, ist, viele, viele Zahnärztinnen und ‑ärzte unter einem Dach in einem Ballungsgebiet zu versammeln und dadurch die Versorgung im ländlichen Raum zu gefährden. Was sicherlich keinen Sinn macht, ist die Versorgung von Dialysepatientinnen und ‑patienten Private-Equity-Gesellschaften zu überlassen. Da gibt es ein substanzielles Problem. Aber das Kind MVZ mit dem Bade auszuschütten, das wäre ganz sicher falsch. Stattdessen müssen wir diese Zentren weiterentwickeln. ({3}) Wirksame Verbesserungen in der Versorgung erreichen wir nur, wenn wir Mauern im Gesundheitssystem einreißen. Die strikte Trennung von ambulanter und Krankenhausversorgung bringt uns eben nicht weiter. ({4}) Wir brauchen mehr Kooperation zwischen den Gesundheitsberufen. Es macht die Versorgung besser, wenn Ärztinnen und Ärzte, Pflegekräfte und all diejenigen, die in anderen Heilberufen tätig sind, Hand in Hand zusammenarbeiten. Stärkere Teamarbeit und familienfreundlichere Arbeitsbedingungen, wie wir sie in den MVZ an vielen Stellen finden, sorgen dafür, dass diese auch bei Ärztinnen und Ärzten und Pflegekräften hoch im Kurs stehen. Das ist eine gute Sache. ({5}) Medizinische Versorgungszentren sind also nicht das Problem, sondern Teil der Lösung. Lassen Sie uns diese kooperativen Strukturen im Sinne der Patientinnen und Patienten stärken und gleichzeitig überzogenen Renditeinteressen zulasten des Gesundheitssystems eine Absage erteilen. Dann kommen wir in der Sache weiter. ({6}) Ich freue mich auf die Beratung im Ausschuss. Vielen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Erwin Rüddel für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Erwin Rüddel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004139, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich freue mich, dass ich gerade jetzt, nach diesem engagierten Plädoyer für die MVZ, sprechen darf, weil auch ich der Meinung bin – da spreche ich für meine Fraktion –, dass die MVZ gerade im ambulanten Bereich eine wichtige Ergänzung unserer medizinischen Versorgung sind. Sie ermöglichen es Ärztinnen und Ärzten, im Angestelltenverhältnis zu arbeiten, und sie fördern die Interdisziplinarität. Das ist ganz wichtig. Das wurde von Frau Dr. Kappert-Gonther ja eben herausgestellt. ({0}) Gerade jenseits der Ballungsräume können MVZ ergänzend zur Struktur der niedergelassenen Ärzte einen wichtigen Beitrag zur besseren Versorgung leisten. Die MVZ haben sich teilweise als wichtiges Bindeglied bei der Verzahnung von ambulanter und stationärer Versorgung erwiesen. Mit dem GKV-Versorgungsstrukturgesetz und dem ‑Versorgungsstärkungsgesetz wurden damals die Möglichkeiten zur Gründung von MVZ bewusst erweitert. Ziel war neben der Stärkung und Förderung kooperativer Versorgungsformen unter anderem, für junge Ärzte flexible Arbeitsbedingungen und ‑möglichkeiten zu schaffen. Zuletzt wurden die Rahmenbedingungen für die Teilnahme von MVZ an der vertragsärztlichen Versorgung durch das Terminservice- und Versorgungsgesetz weiterentwickelt, um die Anbietervielfalt in der vertragszahnärztlichen Versorgung zu erhalten ({1}) und Übernahmeprozesse durch Beteiligungsgesellschaften ohne originäres Versorgungsinteresse zu begrenzen. Die Zahlen zeigen uns, dass die Entwicklung der MVZ zu immer größeren Einheiten unterbrochen wurde und seit einigen Jahren stagniert. Zudem bleibt der Anteil der Vertragsärzte in den Trägerschaften konstant. Grundsätzlich sagen die Eigentümerstrukturen nichts über die Qualität der Gesundheitsbehandlung des einzelnen Patienten aus. Eine gute Patientenversorgung ist in vielfältigen Trägerschaften möglich – öffentlich, privat oder genossenschaftlich. ({2}) Diese Vielfalt sollten wir bewahren. Ihre Forderung nach einer halbjährlichen Meldepflicht von Trägerschaften und darüber hinausgehenden Daten ist mit einem enormen bürokratischen Aufwand verbunden – das ist schon dargestellt worden – und verfehlt auch die angestrebte Wirkung. Die von Ihnen geforderten Informationen über die Trägerstrukturen bietet das Transparenzregister in Verbindung mit dem Handelsregister bereits heute. ({3}) Daher kann man nicht davon sprechen, dass die Transparenz nicht gegeben ist. Aber darum geht es Ihnen ja auch nicht in erster Linie. Alle im Gesundheitssystem tätigen Freiberufler erwirtschaften im Idealfall Gewinne, und das ist auch gut so. ({4}) Wenn man Gewinne im Gesundheitssystem grundsätzlich ablehnt, dann sollte man sich ehrlich machen und eine Verstaatlichung unseres Systems fordern. Die Länder, die ein staatliches Gesundheitssystem haben, sind unserem guten Gesundheitssystem gnadenlos unterlegen, restlos alle. ({5}) Insofern halte ich von diesem Gedanken nichts. ({6}) Wenn die Sorge besteht, dass unser Gesundheitssystem die gute Patientenversorgung in Gefahr bringt, dann sollten wir uns über Qualitätsstandards aussprechen. ({7}) Solange Versorgungssicherheit und Patientenzufriedenheit gegeben sind, sind mir die Eigentumsverhältnisse gleichgültig oder eher zweitrangig. Wichtig sind gute Versorgungssicherheit und Patientenschutz. Vielen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dirk Heidenblut für die SPD-Fraktion. ({0})

Dirk Heidenblut (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004295, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Zunächst einmal muss ich sagen: Ich habe den Eindruck, dass wir uns in einem Punkt alle einig sind, nämlich dass das MVZ-System ein wichtiges, richtiges und auch vernünftiges System im Rahmen der Gesundheitsversorgung ist. ({0}) Da ich mit Zwischenbemerkungen schon bombardiert wurde, möchte ich sagen, dass ich glaube, dass wir uns zumindest noch an einem weiteren Punkt alle einig sind: Wir wollen, dass weder MVZ noch andere Einrichtungen primär Kapitalinteressen dienen und im Zweifel Qualität und Versorgung in den Hintergrund geraten; wir wollen, dass sie primär der Sicherstellung der Qualität und der Versorgung der Patienten dienen. Und Kapitalinteressen sollen, wenn überhaupt, in den Hintergrund geraten, wobei auch ich der Auffassung bin, dass Gewinn als solcher nicht schädlich ist, sondern unser Gesundheitssystem triggert. Er darf aber nicht im Vordergrund stehen, und er darf das, was wir mit Qualität meinen, nicht überlagern. Insofern, Herr Kessler, geht Ihr Antrag sicherlich in die richtige Richtung – was die Frage betrifft, dass wir uns das Treiben von Private-Equity-Fonds mal anschauen müssen –, wobei Ihr Antrag auf vielen Vermutungen beruht und weniger eine konkrete Basis hat. ({1}) – Ja. Aber Sie schütten das Kind mit dem Bade aus, indem Sie die gesamte MVZ-Landschaft, und zwar ausschließlich die gesamte MVZ-Landschaft, mit einem hoch bürokratischen Modell überziehen wollen. Und das gefährdet aus unserer Sicht im Zweifel die wichtigen und vernünftigen MVZ-Entwicklungen, und das wollen wir eben nicht. ({2}) Wir müssen bei den MVZ – das will ich auch noch mal sehr deutlich sagen – allerdings zwischen den arztgruppengleichen, die ja erst eingeführt worden sind, und den arztgruppenübergreifenden, also denjenigen, bei denen viele Ärztinnen und Ärzte unterschiedlicher Fachrichtungen zusammensitzen, unterscheiden. Die Kollegin hat das vorhin sehr deutlich ausgeführt. Die arztgruppenübergreifenden MVZ bringen einen großen Nutzen für die Patientinnen und Patienten, weil sie Wege ersparen, weil sie das ständige Warten auf den nächsten Termin ersparen und weil sie den Ärztinnen und Ärzten die Möglichkeit geben, miteinander schnell in Austausch zu kommen. Auf die arztgruppengleichen MVZ müssen wir auch noch mal gucken; denn mit diesen arztgruppengleichen MVZ hatten wir eigentlich die Erwartung verbunden – deswegen haben wir übrigens den Kommunen die Möglichkeit gegeben, solche MVZ einzurichten –, dass wir die Versorgungsprobleme in den ländlichen Regionen – also in den Regionen, in denen wir Versorgungsprobleme haben, weil die Freiberuflichkeit nicht mehr zieht –, in den Griff bekommen. Deswegen haben wir auch arztgruppengleiche MVZ ermöglicht. ({3}) Ob das bei Zahnärztinnen und Zahnärzten überhaupt ein geschickter Schachzug ist, das lasse ich jetzt mal dahingestellt. ({4}) Daher haben wir das ja auch ein wenig eingegrenzt. Aus den Zahlen ergibt sich, dass genau dieses Ziel nicht erreicht wurde. Das heißt, wir haben eine deutliche Ballung der arztgruppengleichen MVZ in den Städten, und wir erreichen relativ wenig im ländlichen Bereich. Vor dem Hintergrund muss man meines Erachtens noch mal auf die Zielsetzung des Ganzen schauen. Wir müssen schauen, ob das, was wir erreichen wollten – damit meine ich ausdrücklich nicht die arztgruppenübergreifenden MVZ –, so wirklich zu erreichen ist oder ob das Ziel statt durch einen Umbau des Systems vielleicht mit einer Stärkung des vorhandenen Systems zu erreichen ist; denn das, was wir an freiberuflicher Leistung gerade im Bereich der Zahnärztinnen und Zahnärzte haben, ist ja Ausdruck eines starken und guten Systems. Ich finde aber, an der Stelle muss sich auch das System bewegen. Es gibt natürlich viele junge Ärztinnen und Ärzte, die gerne in einem Anstellungsverhältnis arbeiten wollen. Da sind KZBV und Zahnärztinnen und Zahnärzte gefragt, Angebote außerhalb von MVZ zu machen, damit gute und vernünftige Arbeitsbedingungen erreicht werden. Also, alles in allem ist das ein Antrag, der durchaus in eine vernünftige Richtung zeigt, aber er überzieht und nimmt nur die MVZ in den Blick. Ich glaube, es lohnt sich dennoch, darüber zu reden, vielleicht auch über das Gesamtsystem und unsere Zielsetzung. Ich bin gespannt auf die weitere Diskussion. Vielen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Erich Irlstorfer für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Erich Irlstorfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004311, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ihr Antrag hat in meinen Augen keine sachliche Begründung, und die Ausführungen, die Sie hier vorbringen, sind schon tendenziös. Ich möchte ganz klar feststellen: Medizinische Zentren sind nicht das Problem, sondern oftmals die Lösung. Es gibt vielleicht auch schwarze Schafe. Das mag sein, das möchten wir gar nicht kleinreden. Aber das ist nicht die Regel. Die Zentren sind wichtig für die Versorgung in unserem Land. ({0}) – Hören Sie doch mal bitte zu. – Ich möchte ganz klar feststellen, dass wir die Propagandameinung, die Sie hier vertreten, nicht verallgemeinern dürfen. Wir wissen doch auch, dass es in gewissen Fachrichtungen Bedenken gegen die MVZ gibt. Das ist so. Das nehmen wir auch ernst. Aber wenn man hier davon spricht, dass das alles unanständig sei, dann kann ich nur sagen: Geld verdienen ist weder unanständig noch anrüchig. ({1}) Politisch unhygienisch ist, wie Sie die Situation darstellen. Das ist der Punkt. Das passt nicht. ({2}) Die Linke versucht hier wieder ohne Grundlagen, Investoren zu vergraulen. Sie versucht hier auf diesem Weg auch, Investitionen auszuschließen. ({3}) Ich kann Ihnen nur sagen: Private Investitionen sind notwendig. Wir sind froh, wenn hier private Geldgeber Verantwortung übernehmen. Das ist begrüßenswert. ({4}) Hier zu kriminalisieren oder sonst irgendetwas in der Art zu machen: Das ist der falsche Weg. Hier liegen Sie falsch. ({5}) Deshalb kann ich nur sagen: Wir werden diesen Versorgungsmix weiterhin benötigen. Natürlich brauchen wir auch die niedergelassenen Ärzte. Aber es gibt genügend Regionen, in denen wir über medizinische Versorgungszentren froh sind. Dass das Ganze natürlich in einem ordentlichen Rahmen ablaufen muss, ist doch die Grundlage. Darum sind wir hier tätig. Aber das, was Sie hier darstellen, ist nicht redlich. Deshalb sind wir mit Ihrem Antrag nicht einverstanden und werden Sie hier auch nicht unterstützen. Herzlichen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Dr. Marco Buschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004023, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer! Der Fall Ibrahim Miri hat die deutsche Öffentlichkeit aufgewühlt, und das zu Recht, weil er geeignet ist, das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Durchsetzung des Rechtsstaates zu gefährden. Das hat sich auch nicht durch die heutige Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge erledigt, wie wir möglicherweise gleich hören werden. Um keinen Zweifel aufkommen zu lassen: Ich finde es gut, wie schnell hier entschieden wurde und dass auch in der Sache richtig entschieden wurde, weil immer wieder der Versuch gemacht wird, die Akzeptanz des Asylrechts zu unterspülen, indem es zu einem Schutzschild für Kriminelle erklärt wird. Das BAMF hat klargemacht: Wenn ein libanesischer Staatsbürger auf libanesischem Staatsgebiet von libanesischen Kriminellen bedroht wird, dann ist das Sache der libanesischen Sicherheitsbehörden und kein Freifahrtschein für Deutschland. ({0}) Aber das Thema dieser Aktuellen Stunde ist ja nicht Rechtserkenntnis – das wussten wir in Wahrheit schon vorher –, sondern es ist die Frage, wie wir dieses Recht dann auch durchsetzen. ({1}) Diese Frage taucht nicht erst heute auf. Sie taucht auch nicht erst im Fall Ibrahim Miri auf, nicht erst, seit er wieder in Deutschland ist. Der Fall Ibrahim Miri ist doch viel älter. Die erste Ausreiseverfügung gegen Ibrahim Miri wurde 1998 erlassen. 1998! Danach gab es wieder eine und immer wieder eine. Trotzdem wurde er geduldet. In der Zwischenzeit ({2}) wurde er zum Oberhaupt einer Organisation mit über 1 000 Menschen, die wegen diverser krimineller Machenschaften im Visier der Polizei stehen. ({3}) 2019 wurde er dann abgeschoben. Meine Damen und Herren, der erste Skandal im Zusammenhang mit Ibrahim Miri ist doch nicht der Wiedereintritt auf deutsches Staatsgebiet. Der erste Skandal im Fall Ibrahim Miri ist, dass angesichts dieser kriminellen Karriere zwischen der ersten Ausreiseverfügung und der Abschiebung ({4}) 21 Jahre vergangen sind. Das kann uns doch nicht kalt lassen. ({5}) Deshalb sollten wir hier endlich darüber sprechen, wie wir das Recht gesamtstaatlich schneller und effektiver bei Kriminellen durchsetzen. Meine Damen und Herren, Ibrahim Miri ist ja kein Idiot. Er wusste doch, wie die Rechtslage ist. Die Frage ist hier: Warum hat er sich trotzdem getraut, den Weg nach Deutschland zu gehen? Vermutlich weil er darüber informiert war, wie es hier um die Durchsetzung des Rechtsstaates bestellt ist. Lieber Herr Minister Seehofer, ich freue mich, dass Sie da sind. Ich habe bei der Halbzeitbilanz der Großen Koalition vermisst, dass Sie auf die Fakten hinweisen. Die Fakten lauten nämlich: Die Zahl der ausreisepflichtigen Personen in Deutschland ist um 5,2 Prozent auf 246 737 Personen gestiegen. Die Zahl der Abschiebungen – man könnte annehmen, sie müsste auch steigen – ist faktisch gesunken: von 12 266 auf 11 496 Fälle, also um 6,3 Prozent. Wenn die Zahl der ausreisepflichtigen Menschen steigt und die Zahl der Abschiebungen sinkt, dann stimmt etwas bei der Durchsetzung des Rechtsstaates nicht. Dafür tragen auch Sie die Verantwortung, Herr Minister Seehofer. ({6}) Jetzt kann man sagen: Das ist doch nur eine Problembeschreibung. Was schlägt denn die FDP vor? – Das ist eine berechtigte Frage. ({7}) Ich schlage Ihnen einfach vor: Tun Sie doch einfach endlich das, was Sie sagen. Stattdessen machen Sie ein PR-Knallhartprogramm, wie es in der „Bild“-Zeitung heißt. ({8}) Ich prognostiziere Ihnen, was passiert. Sie kennen die Zahl der Überstunden bei der Bundespolizei. Dieses Knallhartprogramm der Bundespolizei wird in drei bis vier Monaten sang- und klanglos, ganz still und heimlich auslaufen. ({9}) Wir werden nachfragen, ob das passiert, Herr Minister. Was wäre stattdessen erforderlich? Tun Sie doch einfach, was Sie sagen. Sie haben uns Rückführungsabkommen mit den Herkunftsstaaten versprochen. Es ist kaum etwas passiert, außer für diejenigen Personen, die über die iberische Halbinsel via Österreich nach Deutschland einreisen. Sonst ist nichts passiert. Sie haben uns versprochen, dass Sie die Länder, die nicht mit Deutschland kooperieren, beim Visazugang unter Druck setzen. Wo ist das passiert, Herr Minister? Sie haben den Bundesländern versprochen, dass Sie Verbesserungen bei der Abschiebung durch Charterflüge vornehmen. Wo sind diese Verbesserungen, die Sie uns versprochen haben? ({10}) Herr Minister, Sie haben den Bundesländern und den Kommunen versprochen, dass Sie Verbesserungen bei der Beschaffung von Passersatzpapieren vornehmen. ({11}) Im Fall Ibrahim Miri war die Abschiebung Zufall: Ein Spitzenbeamter aus Deutschland hatte zufälligerweise gute Kontakte in den Libanon, sodass wir überhaupt an die Passersatzpapiere gekommen sind, Herr Minister. Deshalb: Tun Sie etwas für die Durchsetzung des Rechtsstaates! Tun Sie etwas für das Vertrauen der Bevölkerung in die Durchsetzung des Rechtsstaates! Dafür müssen Sie nicht mal das Programm der FDP umsetzen. ({12}) Es würde einfach reichen, wenn Sie das tun, was Sie öffentlich ankündigen, statt nur PR zu machen. Herzlichen Dank. ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Bundesminister des Innern, für Bau und Heimat, Horst Seehofer. ({0})

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will mich jetzt an den Tatsachen orientieren und darf zuallererst feststellen, dass in kürzester Zeit das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge eine Entscheidung über den Asylantrag von Herrn Miri getroffen hat und den Antrag als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt hat, ({0}) eine richtige Entscheidung, eine schnelle Entscheidung, die die Handlungsfähigkeit des Rechtsstaates zeigt. ({1}) Der Betroffene hat die Möglichkeit, Rechtsmittel einzulegen ({2}) gegen die Entscheidung des BAMF und gegen den sofortigen Vollzug. Es zeichnet unseren Rechtsstaat aus, dass wir auch den Feinden des Rechtsstaats Gelegenheit geben, das rechtsstaatliche Handeln zu überprüfen. ({3}) Auch das ist ein Qualitätsmerkmal für diesen Rechtsstaat, ({4}) auch wenn sich die Feinde des Rechtsstaats nicht an unsere Regeln halten. Das trifft besonders im Falle Miri zu. Man muss es hier noch mal konzentriert vortragen: Herr Miri ist Oberhaupt eines kriminellen libanesischen Verbrecherclans. ({5}) Von 1989 bis 2014 wurde er insgesamt 19-mal rechtskräftig verurteilt, unter anderem wegen Raubes, schweren Diebstahls, Hehlerei, Unterschlagung und bandenmäßigen Drogenhandels. ({6}) Vor seiner Abschiebung verbüßte er eine sechsjährige Haftstrafe, aus der er im März 2019 vorzeitig entlassen wurde, ({7}) und am 10. Juli 2019 wurde er in den Libanon abgeschoben. Zuvor wurde er mit einer Wiedereinreisesperre belegt. Ein Ausländer, gegen den eine solche Wiedereinreisesperre verhängt wurde, darf, wie der Name schon sagt, nicht erneut einreisen. ({8}) Tut er es dennoch, ist dies ein Tatbestand, der mit bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe belangt werden kann. Am 30. Oktober 2019 tauchte Herr Miri wieder in unserem Lande auf, ({9}) stellte eine Selbstanzeige wegen unerlaubter Einreise und beantragte Asyl. Nach eigenen Angaben reiste er mithilfe von Schleppern aus der Türkei auf dem Landweg nach Deutschland ein. Zusammenfassend zu diesem Sachverhalt der Person Miri sage ich Ihnen: ({10}) Da versucht jemand, der über lange Strecken seines Lebens mit dem Rechtsstaat in keiner Weise im Einklang stand, ({11}) der immer wieder und nachhaltig die Regeln unseres demokratischen Rechtsstaats verletzt hat, und zwar schwerwiegend, vorsätzlich und missbräuchlich die Rechte, die für rechtstreue Bürger gedacht sind, zu missbrauchen. Das kann sich ein Rechtsstaat nicht gefallen lassen. ({12}) Ich bin sehr gespannt, Herr Buschmann, ({13}) wie sich die FDP dazu einlassen wird, wenn die Regierung weitere Dinge diesem Parlament vorlegt. ({14}) Wir haben schon eine gewisse Erfahrung mit dem Migrationspaket, das bei Ihnen ja auch nicht besonders beliebt war. ({15}) – Schön langsam. Jetzt sage ich Ihnen etwas zur Abschiebung. Da könnte uns der Herr Stamp – in Klammern: FDP –, NRW, massiv mehr unterstützen. ({16}) Wir stellen 2 000 Bundespolizisten zur Verfügung. ({17}) – Herr Buschmann, darf ich Sie mal aufklären über unsere föderalen Zuständigkeiten? Erstens. Für die Abschiebung sind die Bundesländer zuständig. ({18}) Wir bieten den Bundesländern 2 000 Polizeibeamte an, die die Länder bei der Abschiebung unterstützen. Zweitens. Bei der Bund-Länder-Institution „Passersatzbeschaffung“ hier in Berlin war ich zu Besuch. Diese Behörde arbeitet ganz hervorragend mit anderen zusammen. Aber weder die Unterstützung durch die Bundespolizei – im Grunde macht die Bundespolizei in der Flugbegleitung vieles ganz alleine – noch die Beschaffung von Passersatzpapieren kann wirksam sein, so wie wir uns das vorstellen, wenn die Bundesländer – dazu gehört auch NRW – uns die Abzuschiebenden nicht zuführen. ({19}) Das ist die Realität. ({20}) Herr Buschmann, ich werde dem Parlament in wenigen Wochen eine Liste vorlegen: „Abschiebung“, „ausreisepflichtig“, „nicht abgeschoben“ und „in welchen Bundesländern“. Dann können wir gerne eine Diskussion darüber führen. Was uns dieser Fall lehrt, sind zwei Dinge, die wir offen aussprechen müssen: ({21}) In Europa funktionieren die Grenzkontrollen nicht oder nicht ausreichend. ({22}) Alle sind für den Außenschutz der europäischen Grenzen; aber wir müssen deutlich sagen: Die Europäische Union ist mit dem Außenschutz noch weit von dem entfernt, was wir verantworten können, ({23}) nämlich von dem Versprechen, dass wir an den Außengrenzen Europas die Sicherheit unserer Bevölkerung gewährleisten. Deshalb wird es eine prioritäre Aufgabe der neuen Kommission sein, diesen Außenschutz für die Bevölkerung zu gewährleisten. ({24}) Nun ist es ja wunderschön, wenn mir bei der Binnengrenzkontrolle so leichte Kritik entgegengeschlagen ist. Es gibt niemanden, der in den letzten drei Jahren - ({25}) ich könnte auch sagen: fünf Jahre – so für die Binnengrenzkontrollen in Deutschland eingetreten ist wie der heutige Bundesinnenminister. ({26}) Niemand! Und da fanden ganz andere Diskussionen statt. ({27}) Deshalb habe ich die Bundespolizei angewiesen – ich bin dankbar, dass der Präsident der Bundespolizei anwesend ist und dieser Diskussion folgt; die Leute dort machen nämlich einen schweren Dienst –, ({28}) dass wir jetzt an allen deutschen Grenzen, nicht nur an der deutsch-österreichischen Grenze wie seit einigen Jahren, die Grenzkontrollen massiv verschärfen. ({29}) Jetzt sage ich Ihnen: Diese Maßnahme, die nicht einmal 24 Stunden in Kraft ist, zeigt bereits jetzt ihre Wirkung. ({30}) Wir haben bis jetzt mit gleicher Begründung – Wiedereinreisesperre – zehn Fälle. ({31}) Sechs Personen wurden zurückgeschickt, und vier Fälle werden noch bearbeitet – in nicht einmal einem Tag, meine Damen und Herren. ({32}) Das zeigt, wie notwendig das ist. Solange die Europäische Union nicht in der Lage ist, die Außengrenzen wirksam zu schützen, so lange müssen wir Binnengrenzkontrollen durchführen. ({33}) Das wird weder auf eine Woche noch, Herr Buschmann, auf vier Monate begrenzt. Das wird jetzt nachhaltig durchgeführt. ({34}) Das ist die eine Konsequenz, die wir ziehen müssen. Die zweite Konsequenz ist: Menschen mit einer Einreisesperre, die an der Grenze erscheinen, werden direkt an der Grenze zurückgewiesen. Wenn sie auf irgendeinem Wege doch in unser Land kommen und Asyl beantragen, bin ich explizit der Auffassung, dass wir Leute mit Wiedereinreisesperre, ({35}) die trotz aller Grenzkontrollen über irgendeine Grenze illegal kommen, im Inland sofort in Haft nehmen müssen und für die Zeit des Asylverfahrens in Haft behalten müssen. ({36}) Mir ist ziemlich egal, welche Bezeichnung ein solches Programm bekommt. Sie wissen, dass Zeitungsredaktionen sich das nicht diktieren lassen. ({37}) Aber eines dürfen Sie mir glauben: Nächste Woche werde ich einen entsprechenden Gesetzentwurf für die Haft bei Wiedereinreise trotz Wiedereinreisesperre – Haftandrohung drei Jahre – vorlegen. ({38}) Es geht darum, dass diese Menschen, wenn sie Asyl beantragen, in Haft kommen. Ich sage Ihnen, warum ich da ganz nachhaltig dranbleibe, hartnäckig und ohne jede Kompromissbereitschaft: Es gibt ja noch einige, die in meiner Zeit abgeschoben worden sind, zum Beispiel ein ehemaliger Leibwächter. ({39}) Wenn solche Leute wieder erscheinen – ich glaube, wir haben parteiübergreifend einen großen Konsens, dass Straftäter mit ausländischer Staatsangehörigkeit, die ein bestimmtes Strafmaß, nämlich sechs Monate, in der Verurteilung überschreiten, in unserem Lande nichts zu suchen haben –, ({40}) müssen sie ausgewiesen werden. ({41}) Wir müssen das mit allem Nachdruck machen, und zwar rechtsstaatlich einwandfrei und in einer seriösen Diskussion. Der Herr Miri ist von zwei hochqualifizierten Entscheidern des BAMF angehört worden – intensiv angehört worden –; die sind extra dorthin gefahren. Das heißt, wir achten sehr darauf, dass Recht und Gesetz eingehalten werden. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen in unserem Lande den Konsens haben, dass solche Personen außer Landes gebracht werden müssen, ({42}) weil wir sonst das Vertrauen der Bevölkerung in die Funktionsfähigkeit unseres Rechtsstaats zerstören. ({43}) Ich sage Ihnen noch eines hinzu: Wenn solche Fälle weiterhin passieren würden – es muss unser gemeinsames Interesse sein, sie zu verhindern –, dann wird, ob wir es wollen oder nicht – ich möchte es nicht –, früher oder später die Diskussion aufkommen, ob wir unser liberales Asylrecht so belassen können, wie wir es heute haben. ({44}) Das sehe ich als Gefahr. Deshalb müssen alle wahrhaftigen Demokraten zusammenstehen, um solche Fälle nicht im emotionalen Gegeneinander, sondern im demokratischen Miteinander zu lösen. Ich danke Ihnen. ({45})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Bernd Baumann für die AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Bernd Baumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004662, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor fünf Monaten sprach die AfD, sprach ich selber das Thema der kriminellen Großclans hier an. Bis dahin hatten alle Parteien das Problem hier im Bundestag totgeschwiegen, über Jahrzehnte. ({0}) Dabei ging es um Mahmoud Al-Zein, den Chef einer orientalischen schwerkriminellen Großfamilie mit über 15 000 Mitgliedern. Er hatte seinen ersten Abschiebebescheid erhalten vor – 31 Jahren. Kein Einzelfall: Schwerstverbrecher werden hier nicht abgeschoben. Mehr noch: Die Bundesregierung ließ bewusst zu, dass die mafiaartigen arabischen Großclans auf über 200 000 Mitglieder anschwellen konnten, durch offene Grenzen, Herr Seehofer, und Ihre Familienzusammenführung. Eine gigantische Zahl! Bedenken Sie nur einen Moment: Die gesamte deutsche Polizeimacht hat zusammen 270 000 Kräfte, wenn Sie alle zusammenzählen. Wir, die AfD, haben Sie eindringlich gewarnt, und zwar rechtzeitig, hier auf höchster Ebene der deutschen Politik und so, dass es das ganze Land hört. Kaum drei Wochen später raffte sich die Bundesregierung endlich auf. Mit großem medialem Getöse wurde erstmals ein Clanchef abgeschoben. Sie sehen, meine Damen und Herren: Die AfD ist die treibende Kraft hier im Land. ({1}) Wir decken Ihr Versagen auf, wie es Millionen Wähler wollen. Bei dem jetzt abgeschobenen Clanchef handelt es sich um Ibrahim Miri aus dem Miri-Familienclan aus dem tiefsten Orient. Allein in Bremen hat der 3 000 Mitglieder, davon ist über die Hälfte bereits straffällig geworden. Umsatz mit Drogen: 50 Millionen Euro, dazu Einnahmen aus Raub, Schutzgelderpressung, Zwangsprostitution, Waffenhandel, obendrein noch Mord, zusätzlich 7 Millionen Euro durch Plünderung deutscher Sozialkassen. Was für eine Verachtung für Deutschland und seine Gesetze! Und Sie alle haben jahrzehntelang zugeschaut. ({2}) Was für eine peinliche Kapitulation vor diesen internationalen Verbrecherbanden, meine Damen und Herren! ({3}) Wenige Wochen nach meiner Bundestagsrede wurde Clanchef Ibrahim Miri endlich in einer Nacht-und-Nebel-Aktion aus dem Land geworfen. ({4}) Zwölf Polizisten waren nötig, die ihn aus dem Land geworfen und nach Beirut ausgeflogen haben, im Privatjet. Das hat alleine 65 000 Euro gekostet. ({5}) Miri bekam obendrein eine strikte Wiedereinreisesperre, praktisch totales Deutschland-Verbot. Herr Innenminister Seehofer, Sie feierten sich vor Kameras als Held der Stunde und jubelten: Ein spektakulärer Erfolg. – Die „Bild“-Zeitung triumphierte: Deutschlands gefährlichster Clanchef verhaftet. – Und selbstgerecht sagten Sie noch, Herr Seehofer: Das ist der Rechtsstaat. ({6}) Und nur wenige Wochen später spaziert ein gut erholter Ibrahim Miri fröhlich zurück über Deutschlands Grenze. Mehr noch: Er meldet sich auch noch frech beim Amt, ({7}) klagt über Verfolgung, fordert Asyl und beschimpft die Polizei. Er verhöhnt unseren Staat, er verhöhnt unsere Gesetze, und er verhöhnt auch Sie, Herr Seehofer. Denn das ist Ihr Rechtsstaat: eine Farce, impotent und insgesamt wehrlos. ({8}) Der Fall Miri – das müssen wir uns klarmachen – ist doch nur die Spitze eines Eisbergs. Über ein Drittel – über ein Drittel! – aller mühsam Abgeschobenen kommt gleich wieder zurück. Wie wollen Sie die denn draußenhalten, die Verbrecher? Das Urübel der deutschen Migrationspolitik ist, wie auch jüngst der Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft sagte – wörtlich –, dass „wir die Kontrolle über unsere ... Grenzen nahezu vollständig aufgegeben haben“. Das ist das Problem. ({9}) Solange Sie, Herr Seehofer, die Grenzen nicht schützen, können Sie die Verbrecher nicht wirksam draußenhalten; die kommen immer wieder herein, und das Volk muss es ausbaden. Und da wundern Sie sich, wenn die Bürger Sie im Zorn mit Wutmails überkübeln, wundern sich, wenn die Emotionen im Netz hochkochen, wundern sich, wenn Polizisten und Soldaten die AfD wählen. Für Ihre Fehler müssen Bürger leiden und Sicherheitskräfte bluten. Sie alle fühlen sich verraten – zu Recht, Herr Seehofer! ({10}) Dabei haben die Deutschen eine Alternative, nämlich den Weg der AfD: Grenzen schützen, Gangster und Illegale ausweisen. Alle zivilisierten Staaten dieser Welt machen das so. Sie nennen das „rechtsradikal“; wir nennen das den einzig vernünftigen Weg zurück zu Frieden, Ordnung und Sicherheit in Deutschland. ({11}) Das letzte Wort haben Gott sei Dank die Wähler. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Eva Högl für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Eva Högl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003896, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, der Fall Miri ist Anlass für politischen, rechtlichen und auch gesetzgeberischen Handlungsbedarf. Denn wenn ein rechtskräftig verurteilter abgeschobener Straftäter mit Einreise- und Aufenthaltsverbot offensichtlich ohne größere Schwierigkeiten wieder nach Deutschland einreist, dann haben wir ein Problem; das muss man ganz klar so adressieren. ({0}) Aber Ihre Vorschläge sind weder eine Alternative noch ein Beitrag zur Lösung. Bevor ich zu den Herausforderungen komme, möchte ich drei Dinge positiv hervorheben. Ich möchte für die SPD-Bundestagsfraktion die Gelegenheit wahrnehmen, Ihnen, Herr Präsident Romann, und der gesamten Bundespolizei ganz herzlich für das unglaubliche und vorbildliche Engagement in dem gesamten Sachverhalt Miri, sowohl bei der Abschiebung als auch jetzt bei der weiteren Verhandlung, sowie dem Bundeskriminalamt und allen beteiligten Sicherheitsbehörden zu danken. ({1}) Auch wenn bei diesem Fall viel schiefgelaufen ist: An der Bundespolizei lag es jedenfalls nicht. ({2}) Und: Er ist in Haft, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das Amtsgericht Bremen hat einen ganz hervorragenden Beschluss gefasst. Der Mann ist in Haft auf der Basis unserer Grundlagen und im Rahmen unserer rechtsstaatlichen Möglichkeiten. Auch das BAMF hat entschieden, nämlich dass der Asylantrag offensichtlich unbegründet ist. Das zeigt: Unser Rechtsstaat funktioniert. ({3}) Natürlich haben wir noch Themen, an denen wir arbeiten müssen. Das große Thema ist das Thema Grenzen. Wir haben heute Morgen in der Vereinbarten Debatte erst über den Mauerfall diskutiert und über die Errungenschaft, in Europa offene Grenzen zu haben. ({4}) Das ist ein Zeichen des geeinten Europas; Freiheit und Freizügigkeit sind ein hohes Gut. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen alle, wie wertvoll und wichtig die offenen Grenzen sind; aber wir wissen auch, dass diese offenen Binnengrenzen nur zu bewahren und zu erhalten sind, wenn wir endlich sichere EU-Außengrenzen bekommen. ({5}) Darüber sprechen wir eigentlich schon viel zu lange. ({6}) Der Hauptauftrag für die neue EU-Kommission ist, diese Aufgabe jetzt endlich zu erledigen. Das ist eine gemeinsame Aufgabe und eine gemeinsame Kraftanstrengung für uns alle. Wenn wir die offenen Grenzen bewahren wollen, dann muss die EU-Außengrenze klar gesichert sein und kontrolliert werden. Wir als SPD-Bundestagsfraktion unterstützen den Bundesinnenminister auch darin, die deutschen Grenzen jetzt besser zu kontrollieren. Wir haben keine andere Alternative. Das ist eine konsequente Reaktion; das unterstützen wir. Ich sage aber auch direkt dazu: Wir müssen alles dafür tun, dass das nur eine vorübergehende Maßnahme ist. Daran haben wir alle gemeinsam ein Interesse, wenn wir die offenen Grenzen bewahren wollen. ({7}) Zu dem anderen Komplex „Asylrecht, Aufenthaltsrecht“ möchte ich zunächst betonen, dass das humanitäre Asylrecht, unser Rechtsstaat, die sorgfältige Prüfung der Behörden, die unabhängigen Entscheidungen der Gerichte, dass all das ein ganz hohes Gut ist. Das alles genießt zu Recht viel Vertrauen bei den Bürgerinnen und Bürgern. Aber genau deshalb dürfen wir es nicht zulassen – und Sie haben genau das Richtige gesagt –, dass uns eine Person wie Miri oder andere Straftäter auf der Nase herumtanzen. Genau das dürfen wir nicht zulassen. ({8}) Deswegen müssen wir hier gemeinsam auch die Lücken identifizieren, die wir gegebenenfalls im Aufenthaltsrecht, im Asylrecht, im Strafrecht und im Verfahrensrecht noch haben. Das werden wir sorgfältig prüfen, aber wir werden es auch zügig prüfen und hier gegebenenfalls Vorschläge machen und diese beraten. ({9}) Ich möchte hervorheben, dass das Amtsgericht Bremen bei seinem Beschluss über die Sicherungshaft bereits die neuen Rechtsgrundlagen angewandt hat, die wir hier im Juni gemeinsam beraten und beschlossen haben. Es hat nämlich als Haftgrund sowohl die Fluchtgefahr als auch die unerlaubte Wiedereinreise bejaht. Das sind die Grundlagen, die wir hier gelegt haben. In diesem Sinne müssen wir auch weiter daran arbeiten. Ein Punkt bleibt, Herr Seehofer – das ist ein politischer Punkt, über den wir auch sprechen müssen –: Wir müssen natürlich die Abschiebungen intensivieren – Bund und Länder sind da gemeinsam gefragt; wir müssen da noch besser werden –, und wir müssen auch Gespräche mit den Heimatländern führen über die Ausstellung von Pässen und Reisedokumenten. Auch das ist ganz oben auf unserer politischen Agenda. ({10}) Zum Schluss möchte ich für die SPD-Bundestagsfraktion betonen, dass uns eins ganz wichtig ist: Auch so ein gravierender Fall wie der Fall Miri – es gibt ja weitere Fälle – darf niemals ein Grund dafür sein, dass wir unsere Grundsätze über Bord werfen: weder offene Grenzen noch rechtsstaatliche Prinzipien. Aber das Vertrauen in den Rechtsstaat, in Behörden, in unabhängige Gerichte, auch in uns als Politikerinnen und Politiker, in die Politik, hängt natürlich davon ab, dass der Rechtsstaat handlungsfähig ist, und dazu wollen wir alles, was uns hier möglich ist, auch beitragen. Vielen Dank. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Friedrich Straetmanns für Die Linke. ({0})

Friedrich Straetmanns (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004907, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Rechtsstaatlichkeit bedeutet unter anderem, sich für ein rechtsstaatliches Verfahren unabhängig von der Person einzusetzen. Herr Miri gibt an, dass ihm im Libanon von schiitischen Milizen aufgrund einer Blutfehde Gefahr für Leib und Leben drohe. Deswegen habe er nach seiner Rückkehr einen Asylantrag in Deutschland gestellt. Was auch immer Herr Miri in der Vergangenheit getan hat: Er beruft sich hier auf ein Menschenrecht nach der Europäischen Menschenrechtskonvention. Und selbstverständlich müssen die ihm drohenden Gefahren in einem rechtsstaatlichen Verfahren sorgfältig geprüft werden – was denn sonst? ({0}) Es geht hier um die Unteilbarkeit der Menschenrechte. Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention verbietet jegliche Form der Folter oder der unmenschlichen Behandlung. Diese Norm gilt selbst in Notstands- und Kriegszeiten, und sie gilt auch für schwere Verbrecher. ({1}) Das ist ein Kern unserer europäischen Menschenrechtsordnung. Und wenn ein Herr Wendt von der Polizeigewerkschaft erklärt, es müsse mit solchen Rechten „auch mal gut sein“, dann positioniert er sich selbst außerhalb der Rechtsordnung, die er durch Herrn Miri bedroht sieht. Es spricht gerade für unseren Rechtsstaat, dass auch ein Herr Miri einen Asylantrag stellen kann ({2}) und dieser ebenso gewissenhaft geprüft werden muss wie der von jeder anderen Person auch. Wenn die FDP dies infrage stellt, dann trägt sie damit zur Delegitimierung und Unterminierung des Rechtsstaates bei. Dafür sollten Sie sich schämen! ({3}) Nach allem, was ich gehört habe, war Herr Miri in der Vergangenheit bestimmt kein Chorknabe. ({4}) Doch eine rechtlich fragwürdige Nacht-und-Nebel-Abschiebung eines Staatenlosen in den Libanon ist mit Sicherheit der falsche Umgang damit. Denn Herr Miri hat seine Strafe für frühere Verbrechen abgesessen. Wenn er weiterhin Straftaten begehen sollte, dann gehört er dafür selbstverständlich erneut zur Rechenschaft gezogen – aber bitte in Deutschland; denn hier lebt er seit seinem 13. Lebensjahr. Er ist in gewisser Weise auch ein Produkt unserer Gesellschaft. ({5}) Staatenlose Familien wie die von Herrn Miri kamen in den 70er- und 80er-Jahren als Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem Libanon nach Deutschland. ({6}) Doch viele bekamen wegen ihrer ungeklärten Staatsangehörigkeit nur eine Duldung. Das heißt, sie haben seit Jahrzehnten keine Aussicht auf einen gesicherten Aufenthaltsstatus, kein Recht auf Arbeit und Ausbildung. Wer aber Menschen jahrzehntelang in die Kettenduldung zwingt, muss sich nicht wundern, wenn einige aus Mangel an Perspektiven in die Kriminalität abgleiten. ({7}) Das sind Folgen des Versagens der bundesdeutschen Integrationspolitik seit den 70er-Jahren. Lassen Sie uns wenigstens heute nicht die gleichen Fehler wiederholen! ({8}) Dass Sie von der FDP mit dieser Aktuellen Stunde billige antidemokratische und antirechtsstaatliche Ressentiments befördern, ist kein Ausrutscher, das ist nur die schäbige Krönung Ihres aktuellen Kurses. ({9}) Ich erinnere nur an Ihre unheilige Allianz mit der AfD für einen Anti-Merkel-Untersuchungsausschuss zur Flüchtlingspolitik oder aktuell an den Vorwurf von Frau Teuteberg an Innenminister Seehofer, dieser ermutige „zur Wirtschaftsmigration“, weil er ein Viertel der aus Seenot geretteten Flüchtlinge übernehmen möchte. Wer hätte gedacht, dass sich Horst Seehofer einmal vor rechten Angriffen aus den Reihen der FDP von uns in Schutz nehmen lassen muss? ({10}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, im Rechtsausschuss halten Sie doch stets die Rechtsstaatlichkeit hoch, und das begrüße ich ausdrücklich. Diesen Maßstab sollten Sie jedoch dringend einmal dem Rest Ihrer Fraktion vermitteln. Auch wenn es im Einzelfall manchmal schwerfällt: Die Grundsätze des Rechtsstaates müssen unverrückbar sein. Was Sie hier veranstalten, ist einer Partei, die sich auf den Liberalismus beruft, zutiefst unwürdig. ({11}) Mit dieser Aktuellen Stunde zeigt die FDP nicht ihre Sorge um den Rechtsstaat, sondern – so sehe ich es – nur ihre Sorge um schwindende Zustimmung unter den Wählerinnen und Wählern. ({12}) Und deswegen fischt sie tief in der trüben Brühe des rechten Populismus. Was Sie hier finden werden, wird Sie auf Dauer aber nicht glücklich machen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Konstantin von Notz für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es gibt unendlich viele spannende Themen hier im Deutschen Bundestag, zum Beispiel das ernste Problem der Clankriminalität oder menschenverachtende Schlepperbanden. Um all das, Herr Kollege Buschmann, geht es Ihnen in der Aktuellen Stunde heute leider nicht; ({0}) das kann man schon am Titel ablesen. Dass Sie die Zeit Ihrer Regierungsverantwortung überspringen, indem Sie bei 1998 anfangen, spricht Bände, meine Damen und Herren. ({1}) Wir diskutieren hier einen singulären Fall, und der ist für die Legislative nie ein guter Ratgeber. Oft werden solche Debatten für den vermeintlich schnellen populistischen Punktgewinn geführt; aber es sind genau diese Symboldebatten, die unsere Gesellschaft spalten und uns alle keinen Deut voranbringen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Ihr durchsichtiges Ziel, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, war es, den Innenminister hier heute vorzuführen. ({3}) Doch Horst Seehofer nimmt Ihre Vorlage dankbar auf und setzt seine Dauererzählung von den notwendigen nationalen Grenzkontrollen im Schengenraum darauf. In ausdrücklich beide Richtungen sage ich im Namen meiner Fraktion: Dieser Fall eignet sich sowohl für populistische Grenzkontroll- als auch für populistische Asyldebatten überhaupt nicht, meine Damen und Herren. ({4}) In der Sache geht es nämlich um den Fall eines Mannes, der wegen Drogenhandels zu sechs Jahren Haft verurteilt worden ist und der vom Oberlandesgericht Bremen nach Verbüßung von zwei Dritteln seiner Haftstrafe auf Bewährung entlassen wurde. Bald nach dieser Entlassung wurde er abgeschoben und ist dann – leider genauso bald – wieder illegal nach Deutschland eingereist. Bei seinem Besuch des BAMF, wo er Asyl beantragt hat, wurde er festgenommen und sitzt derzeit in Abschiebehaft. ({5}) Es könnte übrigens auch Strafhaft sein; aber über diese Fragen entscheiden richtigerweise nicht wir, sondern die Justiz. ({6}) Diese Systematik nennt man Gewaltenteilung, und sie ist ein bewährtes rechtsstaatliches Prinzip, meine Damen und Herren. So weit die Fakten. Was lehrt uns das? Es lehrt uns erstens, dass Clankriminalität und Drogenhandel in unserem Rechtsstaat zu sehr empfindlichen Haftstrafen führen, zweitens, dass unser Rechtsstaat auch diesen zu langen Haftstrafen verurteilten Menschen die Chance zur Rehabilitierung und Bewährung bietet. Es lehrt uns drittens, dass Abschiebungen, auch im rot-rot-grünen Bremen, durchgeführt werden, und viertens, dass es aller Grenzkontrollen und Schleierfahndungen zum Trotz ({7}) einigen Menschen tatsächlich immer noch gelingt, ({8}) illegal in dieses Land einzureisen bzw. wieder einzureisen, Frau von Storch. Aber es lehrt uns eben auch, dass unser Rechtsstaat funktioniert. ({9}) Denn wer das Gesetz in dieser Weise überschreitet, kann festgenommen werden. Der Rechtsstaat funktioniert sogar so gut, dass Herr Miri auch noch einen Asylantrag stellen darf – der dann aber selbstverständlich auch zügig, sehr zügig, abgelehnt werden kann. ({10}) So funktioniert das im Rechtsstaat, liebe AfD – willkommen hier! ({11}) Man kann das alles abschaffen wollen. Aber ich sage Ihnen in aller Deutlichkeit: Ich bin dankbar für diesen Rechtsstaat, in dem wir heute nach all den Verwerfungen der deutschen Geschichte ({12}) leben, meine Damen und Herren. Der Minister hat es gesagt: Der Rechtsstaat gilt auch für seine Feinde. – Frau von Storch, weil Sie hier die ganze Zeit hereinrufen: Ich sage Ihnen: Sie sägen an dem Ast, auf dem Sie sitzen. ({13}) Ich sage Ihnen auch: Wir verteidigen den Rechtsstaat – auch für seine Feindinnen und Feinde. ({14}) Natürlich müssen wir wissen, wer in unser Land einreist und wer hier Asyl beantragt, und wir müssen die Einreiseverbote durchsetzen, und Verstöße müssen sanktioniert werden. Genau das ist hier geschehen. Wenn dieser Fall für Horst Seehofer ein Lackmustest für die wehrhafte Demokratie ist, dann kann man nur sagen: Der Test ist bestanden. ({15}) Aber dann, Herr Minister, ist es schlicht widersprüchlich, wenn man unseren Rechtsstaat ständig madig macht mit Begriffen wie „Herrschaft des Unrechts“ oder der Forderung nach einem Zurück zu innereuropäischen Grenzregimen, die den Schengenraum bis zur Unkenntlichkeit zerschneiden. Meine Damen und Herren, wer die Debatte so führt, agiert rechtspolitisch und europapolitisch unter seinem Niveau. ({16}) Wir sollten intensiv und konstruktiv – den Ball nehme ich gerne auf, Herr Seehofer – miteinander über die Bekämpfung der organisierten Kriminalität und Clankriminalität, über die Beschleunigung von Asylverfahren und über die entschiedene, effektive und rechtsstaatliche Verbesserung des Schutzes der europäischen Außengrenzen diskutieren. Aber überlassen wir doch bitte die Einzelfälle ({17}) unserer Justiz und unserem Rechtsstaat! Er ist dafür sehr, sehr gut gerüstet. Ganz herzlichen Dank und einen schönen Abend. ({18})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Thorsten Frei für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal: Ich bin dem Bundesinnenminister sehr dankbar, dass er den Fall Miri von Anfang an zur Chefsache gemacht hat. Ich kann für unsere Fraktion nur sagen: Alles das, was der Bundesminister – nicht nur heute, sondern auch in den vergangenen Tagen – angekündigt hat, findet unsere uneingeschränkte Zustimmung. Ich möchte an dieser Stelle sagen: Ich fand es sehr gut, dass insbesondere Sie, Frau Högl, in der Debatte einmal klargestellt haben, was es mit dem Grenzschutz eigentlich auf sich hat. Da muss man einfach die Dinge auch ein Stück weit geraderücken: Die Europäische Union ist angetreten mit dem Versprechen, die Außengrenzen gegen irreguläre Migration, gegen Kriminelle zu schützen. Das war die Geschäftsgrundlage dafür, dass stationäre Binnengrenzkontrollen abgeschafft wurden. ({0}) Damit ist doch klargestellt, dass diese beiden Dinge zusammenhängen. Wenn wir es nicht schaffen, einen effektiven, einen starken, einen effizienten Schutz der EU-Außengrenzen hinzubekommen, ({1}) dann brauchen wir den Schutz der Binnengrenzen, weil es um den Schutz unserer Bevölkerung geht, und dem werden wir gerecht werden, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({2}) Der zweite Punkt. Wenn man über die Frage des funktionierenden Rechtsstaats spricht, dann ist zu Recht darauf hingewiesen worden: Ja, der Rechtsstaat funktioniert. Das zeigt dieser Fall auch. Ich fand nur interessant, dass diese Aussage auch von Fraktionen gekommen ist, die im Juni dem Zweiten Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht hier nicht zugestimmt haben. ({3}) Mit diesem Gesetz haben wir in § 62 des Aufenthaltsgesetzes die Voraussetzungen geschaffen, dass jemand wie Herr Miri auch tatsächlich in Sicherungshaft genommen werden kann. Lieber Herr Bundesminister, wir schauen uns ganz genau an, ob wir weitere gesetzgeberische Schritte gehen müssen, damit wir für derartige Fälle auch in der Zukunft gerüstet sind. ({4}) Das ist die Botschaft, die vom heutigen Abend ausgehen soll. Ich will an dieser Stelle auf eines hinweisen: Ich glaube, eine Botschaft muss auch sein, dass wir alles dafür tun müssen, dass wir gar nicht erst an den Punkt kommen, an dem wir heute sind. ({5}) Figuren wie einem Ibrahim Miri darf es nicht erlaubt sein, in Deutschland über Jahre und Jahrzehnte hinweg mit seinem kriminellen Familienclan Strukturen aufzubauen und diese anzuführen, zu versuchen, unserem Rechtsstaat auf der Nase herumzutanzen. ({6}) Im Übrigen brauchen wir dafür nicht die AfD. ({7}) Nein, lieber Herr Baumann, wir brauchen Sie nicht dafür. Wir haben mehrfach Debatten auch hier im Deutschen Bundestag gehabt. Die CDU/CSU-Fraktion hat im September einen Zwölf-Punkte-Plan verabschiedet gegen Clankriminalität, ({8}) weil wir ganz genau wissen: Wir müssen im Familienrecht ansetzen, im Sozialrecht, im Aufenthaltsrecht, im Strafrecht. ({9}) Wir brauchen einen gesamthaften Ansatz. Und vor allen Dingen müssen wir da ansetzen, ({10}) wo es am effektivsten ist. ({11}) Wir müssen der Spur des Geldes folgen. Und da gibt es auch weitere Notwendigkeiten. Seit dem 1. Juli 2017 gilt das Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung. Da müssen wir nachschärfen, beispielsweise indem wir die Katalogstraftatbestände weiter ausweiten, indem wir die Regelungen für die Beweislastumkehr nachschärfen, ({12}) indem wir Richter und Staatsanwälte entsprechend schulen. ({13}) Das sind die Ansatzpunkte, um die wir uns kümmern müssen. Dann ist der Einzelfall auch eine Lehre für die Zukunft, dass wir daraus konstruktiv etwas weiterentwickeln können. Und genau das machen wir. ({14}) – Also, dieser Blödsinn, der da immer reingerufen wird, der regt mich wirklich auf. Wenn Sie sich mal an den Fakten orientieren, dann wissen Sie, dass wir im sichersten Deutschland aller Zeiten leben. ({15}) Orientieren Sie sich an den Fakten, bevor Sie so einen Blödsinn hier die ganze Zeit reinreden! Ich möchte mich wirklich nicht zu sehr mit Ihnen abgeben – es lohnt sich überhaupt nicht –, ich will mich lieber konstruktiv mit der Zukunft beschäftigen. Deswegen finde ich es gut, dass die FDP eine solche Debatte aufgesetzt hat. Ich würde einfach nur darum bitten, dass wir wirklich diese Gemeinsamkeit, die sich hier ja durchaus auch gezeigt hat, auch durchhalten, wenn es darum geht, der Bundespolizei und den Sicherheitsbehörden auch die Instrumente an die Hand zu geben, die sie brauchen, um solcher Kriminalität auch tatsächlich habhaft werden zu können. ({16}) Wir wissen doch, dass wir es gerade im Bereich der Clankriminalität mit einem Maß an Konspiration zu tun haben, das beispielsweise den Einsatz von V-Leuten nicht ermöglicht und vieles andere auch nicht, dass beispielsweise heute schon präzise Technologien, Verschlüsselungs-, Anonymisierungstechnologien, eingesetzt werden, die zu knacken den Behörden größte Mühe bereitet. Im Zeitalter neuer Mobilfunktechnologien – 5G-Standard und mehr – brauchen wir eine Neuaufstellung auch für die Sicherheitsbehörden. ({17}) Das ist nicht das Aufwärmen alter Platten, das ist eine Notwendigkeit in neuen Zeiten.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Frei.

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lassen Sie uns da auch gemeinsam voranschreiten, damit wir wirklich für die Zukunft etwas verbessern können. Herzlichen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Martin Hess für die AfD-Fraktion. ({0})

Martin Hess (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004749, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Frei, falls Sie es noch nicht mitbekommen haben: Sie stellen seit ewigen Zeiten den Innenminister und hätten all das, was Sie hier vorgebracht haben, schon lange umsetzen können. Handeln statt Reden ist das Gebot der Stunde! ({0}) Der Fall Miri belegt für jeden klar erkennbar, meine sehr verehrten Damen und Herren: Diese Bundesregierung ist nicht in der Lage, unsere Grenzen zu schützen. Sie erzählt den Bürgern unseres Landes die Unwahrheit, ({1}) wenn sie das Gegenteil behauptet. Ihre hochgelobte Schleierfahndung, Herr Innenminister, hält keinen einzigen Migranten auf. Denn wenn ein Illegaler bei dieser Fahndung angetroffen wird, in diese Kontrolle kommt, kann er überhaupt nicht mehr zurückgeschickt werden, weil er sich schon im Inland befindet. ({2}) Ihre bilateralen Abkommen bringen auch nahezu nichts. Seit Sommer 2018 wurden nur 34 Personen zurückgewiesen, aber fast 30 000 abgeschobene Migranten sind nach Deutschland zurückgekehrt und haben erneut einen Asylantrag gestellt. Diese Zahlen zeigen das volle Ausmaß Ihres Versagens beim Grenzschutz. Der Fall Miri ist dabei nur die oberste Spitze des Eisbergs. ({3}) Wenn sich jetzt hier alle Altparteien hinstellen und ernsthaft diesen Einzelfall beklagen, aber gleichzeitig weiter für eine Politik der offenen Grenzen eintreten, dann ist das an Scheinheiligkeit nicht mehr zu überbieten. ({4}) Unsere Grenzen – das ist die Realität – sind offen wie ein Scheunentor. Jeder Terrorist und jeder Gewaltverbrecher kommt mit dem Zauberwort „Asyl“ in unser Land, und Sie wissen das und lassen es weiter zu. Also hören Sie auf, der Bevölkerung nur Beruhigungspillen zu verabreichen ({5}) wie Ihre neuerliche Anordnung zur angeblichen Verschärfung des Grenzschutzes. Auch diese wird wieder mal nicht mehr Sicherheit bringen, weil die Grenzkontrollen viel zu lückenhaft sind und nicht von langer Dauer sein werden. Werden Sie endlich Ihrer Verantwortung für die Sicherheit und den Schutz unserer Bürger gerecht, und beenden Sie diesen Irrsinn! ({6}) Ihre Politik der offenen Grenzen befeuert die Clankriminalität. Innenminister Reul aus Nordrhein-Westfalen, immerhin ein Parteikollege, warnt vor neuen Clans, die von kriegserfahrenen Kämpfern gegründet werden könnten. Und das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen warnt vor Verteilungskämpfen zwischen Clans und Asylbewerbern. Aber statt auf diese massiven Gefahren für unsere Bürger zu reagieren, lassen Sie weiterhin massenhaft Personen ohne Identitätspapiere in unser Land. Schluss mit diesem sicherheitspolitischen Amoklauf! ({7}) Bei der Bekämpfung der Clankriminalität sind die Altparteien ohnehin schon – man muss das in dieser Deutlichkeit sagen – ein Totalausfall. Die Schwerverbrecher aus den berüchtigten Clans bedrohen Richter, Staatsanwälte, Polizisten und Zeugen. So machen sie ein rechtsstaatliches Verfahren unmöglich und erschüttern unseren Rechtsstaat in seinen Grundfesten. ({8}) Und unser Rechtsstaat, meine sehr verehrten Damen und Herren, erodiert nicht nur; er hat in Teilen schon aufgehört zu existieren. Schuld sind einzig und allein die Altparteien mit ihrer fatalen Zurückhaltung bei der Bekämpfung der Clankriminalität. ({9}) Sie haben das ganze Ausmaß der Gefahr für unseren Staat und unsere Gesellschaft offensichtlich immer noch nicht vollumfänglich erfasst. Wachen Sie endlich auf, bevor es zu spät ist! Sie bekämpfen Clankriminalität nicht, Sie verwalten sie, und das nicht erst seit gestern, sondern seit Jahrzehnten. Ihnen fehlt es an Entschlossenheit und Mut, angesichts der herausragenden Bedrohung robuste Maßnahmen zu ergreifen. ({10}) Sie reden zwar von Nulltoleranz, aber Sie machen genau das Gegenteil. In unserem Staat wird zum Beispiel nicht verhindert, dass Hochzeitskorsos unsere Autobahnen blockieren und Schüsse aus scharfen Waffen abgefeuert werden. Stattdessen werden Flugblätter verteilt und die Clanmitglieder zur Zurückhaltung aufgefordert. ({11}) Das hat nichts mit Nulltoleranz zu tun, das ist lächerlich. ({12}) Das müssen wir beenden, indem wir endlich effektive Maßnahmen ergreifen. Bei illegalen Hochzeitskorsos greift nur: Fahrerlaubnis entziehen, Fahrzeuge einziehen und Strafverfahren mit einem Hard-Time-Urteil folgen lassen. ({13}) Das ist die einzige Sprache, die diese Kriminellen verstehen. Wir brauchen auch keine Strategie der 1 000 Nadelstiche, wie in Nordrhein-Westfalen praktiziert. Denn diese beeindruckt die Rechtsstaatsverachter nicht. Wir brauchen eine Strategie des Vorschlaghammers. Wir müssen endlich mit der devoten Zurückhaltung gegenüber Schwerverbrechern aufhören, die das staatliche Gewaltmonopol und unsere Gesetze ablehnen, und unseren Rechtsstaat offensiv und entschlossen mit allen erforderlichen Mitteln verteidigen. ({14}) Dazu müssen wir ausländische Clankriminelle konsequent abschieben. Die Ausrede, es gebe Abschiebehindernisse, gilt hier nicht. Denn diese müssen wir unverzüglich beseitigen. Bundespolizeipräsident Romann hat vorgemacht, wie es geht, und ich bedanke mich explizit für Ihr außerordentliches Engagement. Unter widrigen politischen Rahmenbedingungen machen Sie das, was möglich ist. Für diese Leistungen herzlichen Dank! ({15}) Es muss der Grundsatz gelten: „Unser Land, unsere Regeln“. Wer sich nicht daran hält und unseren Rechtsstaat missachtet oder ihn sogar aktiv bekämpft, ({16}) der darf nicht länger Teil unserer Gesellschaft sein, der muss unser Land wieder verlassen. ({17})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Hess, achten Sie jetzt bitte auf die Zeit.

Martin Hess (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004749, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Illegales Clanvermögen muss stärker als bisher unverzüglich eingezogen werden. Der Fall Miri hat Ihr Totalversagen in der Sicherheitspolitik für jeden klar erkennbar bewiesen. Jetzt muss endlich gehandelt werden. Tun Sie, was Ihre originäre Aufgabe ist! Schützen Sie die Bevölkerung vor kriminellen Clans! ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Martin Hess (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004749, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Setzen Sie das staatliche Gewaltmonopol durch, und sorgen Sie endlich für einen effektiven Grenzschutz, der seinen Namen auch verdient! ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Ute Vogt für die SPD-Fraktion. ({0})

Ute Vogt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002823, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Hess, es blutet einem das Herz, wenn man bedenkt, dass jemand mit einem so verzerrten Weltbild, wie Sie es haben, und mit einer solchen Brutalität in der Sprache noch bis vor Kurzem in meinem Heimatland Baden-Württemberg Polizistinnen und Polizisten unterrichtet hat. Das haben diese Kolleginnen und Kollegen der Polizei wahrlich nicht verdient. ({0}) Aus meiner Sicht ist es eine der wichtigsten Herausforderungen der Innenpolitik, dass wir Sicherheit für die Bevölkerung gewährleisten, gleichzeitig aber auch Freiheit für die Bürgerinnen und Bürger bewahren. Ich finde, es ist Zeichen einer guten Innenpolitik, dass man diese Balance täglich neu ausrichtet, täglich überprüft und auch immer wieder diese beiden Ziele, Sicherheit auf der einen und Freiheit und freiheitliches Leben auf der anderen Seite, in Einklang bringt. Warum hier von manchen so verzweifelt argumentiert wird, dafür ist vielleicht auch der Grund, dass es jetzt der Bundesregierung gerade am Fall Miri gelungen ist, zu zeigen, dass wir genau diese Balance im Griff haben. ({1}) Es gibt die rechtsstaatlichen Wege, die wurden ihm auch offeriert, aber gleichzeitig gibt es den starken Staat, der zügig gehandelt hat. Herr Miri kam sofort in Haft, das Asylverfahren wurde zügig behandelt, ({2}) und der Asylfolgeantrag wurde abgelehnt. Damit kann auch die Abschiebung in Kürze vollzogen werden. Das ist ein Zeichen dafür, dass der Rechtsstaat funktioniert ({3}) und dass es gut ist, wie wir organisiert sind. ({4}) Die offenen Grenzen von Europa sind eine wichtige Errungenschaft, gerade wenn es darum geht, den Frieden in Europa zu erhalten. ({5}) Dass Menschen sich begegnen und frei reisen können, ist ein ganz, ganz hoher Wert, den wir nicht aufs Spiel setzen dürfen. ({6}) Trotzdem ist es richtig, wenn es gefährlich wird, wenn es Probleme gibt, wenn es keine Sicherheit an den EU-Außengrenzen gibt, dass wir dann eben, wie jetzt auch vom Herrn Innenminister angekündigt und vorgegeben, genauer hinschauen und besser kontrollieren, wenn die Sicherheit an den Außengrenzen so nicht funktioniert. Ziel muss es aber sein, diese offenen Grenzen auch weiter zu erhalten und zu bewahren. Denn kein vernünftig denkender Mensch, liebe Kolleginnen und Kollegen, will doch heute zurück in die Zeit der Nationalstaaten und der Abschottung, ({7}) in die Zeit, in der jeder für sich sein musste und die am Ende dazu geführt hat, dass Staaten gegeneinander Krieg führten und Völker aufeinandergehetzt wurden, ({8}) weil jeder nur geguckt hat, dass er selbst sich als Stärkster fühlt. Diese Zeiten wünschen sich die einen oder anderen vielleicht wieder zurück. Aber schauen Sie mal mit offenen Augen ehrlich auf unser Land! Dann sehen Sie ein Land, das davon lebt, dass wir offene Grenzen haben, dass die Wirtschaft weltweit floriert, dass wir weltweit organisiert sind ({9}) und dass wir exportieren und importieren. Das bedeutet natürlich auch, dass wir keine Mauern um unser Land bauen können, sondern, im Gegenteil, dass wir mit allen europäischen Staaten zusammen gefordert sind, unsere gemeinsame europäische Freiheit zu erhalten und entsprechend zu stärken. ({10}) Wenn wir davon sprechen – davon war heute vielfach die Rede –, dass wir diese Sicherheit und die Kontrolle an den Schengen-Außengrenzen entsprechend erhalten und stärken müssen – keine Frage –, dann bedeutet das sicher Gespräche und Vereinbarungen, aber ich glaube, noch wichtiger als das, was man mit anderen Ländern vereinbart, ist, dass wir uns auch bewusst sein müssen, dass es im Zweifel darauf ankommt, dass wir dem einen oder anderen Land praktisch helfen müssen, das an der Außengrenze seine Aufgabe vielleicht nicht alleine bewältigen kann. Denn wir sitzen da in Deutschland recht bequem, umgeben von Freunden und auch mit Grenzen innerhalb der EU. Insofern ist es, glaube ich, ein guter Plan, wenn wir jetzt mit der neuen EU-Kommission dieses Thema zügig angehen. Aber ich glaube, liebe FDP, wir hätten diese Zeit heute Abend auch anders füllen können. Denn diese Stunde war eine Stunde für den Innenminister und die Bundesregierung und nicht eine Stunde für die FDP. Insofern: Überlegen Sie nächstes Mal gut, ob Sie als Opposition wirklich solche Dinge beantragen müssen! ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Konstantin Kuhle für die FDP-Fraktion. ({0})

Konstantin Kuhle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004796, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ibrahim Miri ist im Juli 2019 aus Bremen abgeschoben worden, und gerade mal vier Monate später steht er in Bremen wieder auf der Matte. Angehörige des Miri-Clans sind strafrechtlich in Erscheinung getreten in den Bereichen Waffenhandel, Drogenhandel, in bestimmten Bereichen des Rotlichtmilieus und der Schutzgelderpressung. Wir müssen uns in diesem Haus darüber im Klaren sein, wie sehr ein solcher Fall geeignet ist, das Gefühl mit Blick auf die Sicherheit und mit Blick auf das Vertrauen in den Rechtsstaat der Bürgerinnen und Bürger und übrigens auch der Polizistinnen und Polizisten in diesem Land zu beeinträchtigen. ({0}) Das sollte hier klar sein, und das muss die Grundlage einer Auseinandersetzung mit dieser Frage sein. ({1}) Deswegen ist es gut, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge jetzt schnell entschieden hat, dass der Asylantrag offensichtlich unbegründet ist. Als Nächstes muss dann die erneute Abschiebung folgen. ({2}) Ich finde aber, wir müssen uns vor dieser erneuten Abschiebung schon noch mal genau angucken, wie die erste Abschiebung gelaufen ist. Die erste Abschiebung ist möglich gewesen, weil der Präsident der Bundespolizei und übrigens auch der Berliner Innensenator besondere Beziehungen zu den Behörden im Libanon aufgebaut haben. Das will ich auch ganz klar sagen: lieber eine Abschiebung, die durch persönliche Beziehungen zustande kommt, als gar keine Durchsetzung des Rechtes. Trotzdem darf es nicht vom Zufall abhängen, von persönlichen Beziehungen und Mauscheleien, ob eine Abschiebung zustande kommt, sondern es muss eine strukturelle Verbesserung der Durchsetzung der Ausreisepflicht geben. ({3}) Deswegen wäre der richtige Schritt, dass man darüber nachdenkt, wie man sich an dem orientieren kann, was andere Länder schon machen. Ich fand es bemerkenswert, lieber Herr Bundesinnenminister, dass Sie so auf den Kollegen Stamp eingedroschen haben. Ich habe mal nachgeguckt, was die Tageszeitung „Die Welt“ im vergangenen Jahr zum Asylkurs unserer gemeinsamen schwarz-gelben Landesregierung in Nordrhein-Westfalen geschrieben hat. Da hieß es: Laschets schwarz-gelbe Regierung verfolgt seit ihrem Antritt vor einem Jahr einen wesentlich härteren Asylkurs im bevölkerungsreichsten Bundesland ... Im Jahr 2017 wurden aus NRW 6 308 Personen abgeschoben – mehr als aus anderen Bundesländern, sogar mehr als aus Bayern, in dem Seehofers CSU regiert. ({4}) Meine Damen und Herren von der Union, vielleicht sollten Sie ein kleines bisschen stolzer darauf sein, was wir gemeinsam in Nordrhein-Westfalen erreichen. Vielleicht sollten Sie sich ein bisschen mehr an dem orientieren, was in Nordrhein-Westfalen gemacht wird, beispielsweise auch an dem, was im Bereich der Passersatzpapiere gefordert wird, was im Bereich der Rückübernahmeabkommen gefordert wird und was im Bereich der diplomatischen Zusicherung gefordert wird. Da könnte der Bundesinnenminister auch einfach mal auf die erfolgreiche schwarz-gelbe Landesregierung in Nordrhein-Westfalen hören. ({5}) Ich will eine zweite Bemerkung machen. Lieber Kollege Frei, Sie haben – das war richtig – angesprochen, dass wir hier eigentlich gar nicht über ein Asylthema sprechen, sondern über ein Kriminalitätsthema, nämlich über die Bekämpfung der Clankriminalität. ({6}) Ich will deutlich darauf hinweisen, dass es völlig weltfremd ist, davon auszugehen, dass das Bundesland Bremen allein in der Lage wäre, die Clankriminalität zu bekämpfen. Es ist wie im Bereich der Bekämpfung von Extremismus und Terrorismus auch: Der Föderalismus darf nicht zu einem Sicherheitsrisiko werden. Deswegen braucht es eine Föderalismusreform im Bereich der inneren Sicherheit. ({7}) Ich glaube, dass es auch einer gemeinsamen Strategie zur Bekämpfung der Clankriminalität bedarf. Sie, lieber Kollege Frei, haben das Thema Vermögensabschöpfung angesprochen. Ich stimme Ihnen da zu. Man muss die Clans beim Geld packen. Es ist obszön, wie sich teilweise damit gebrüstet wird, dass man gegen die Regeln des Rechtsstaats verstößt. Deswegen muss man sie beim Geld packen. Deswegen ist es auch richtig, dass es neue Regeln zur Vermögensabschöpfung gibt. Wir als Freie Demokraten haben vor einigen Monaten gefragt, welche Bundesländer eigentlich von den neuen Regeln zur Vermögensabschöpfung Gebrauch machen, also entweder eine Sicherstellung oder sogar eine Einziehung des Vermögens vornehmen. Ergebnis: Alle machen davon Gebrauch – mit einer Ausnahme, und das ist Bremen. ({8}) Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass es besserer föderaler Abstimmung bei der Bekämpfung der Clankriminalität bedarf, er wäre hiermit erbracht. Wir brauchen eine Reform des Föderalismus auch im Bereich der inneren Sicherheit und bei der Strategie zur Bekämpfung der Clankriminalität. ({9}) Ich will eine letzte Bemerkung machen, lieber Kollege Straetmanns, weil Sie hier das Thema der Entstehung von Clankriminalität angesprochen haben. Ich will ganz deutlich sagen: Egal welcher Religion man angehört, egal woher man eingereist ist, egal woher die Eltern eingewandert sind, mit Blick auf Kriminalität hat man immer eine Wahl. Deswegen darf es keinen Rabatt bei der Bestrafung von Clankriminalität geben, ({10}) auch trotz der Erkenntnis, dass es Versäumnisse der deutschen Integrationspolitik gegeben hat. Jetzt warten Sie einmal ab. Ich bin durchaus der Meinung, dass wir alle miteinander eine Verantwortung dafür haben, dass zukünftig keine neuen Clanstrukturen in Deutschland entstehen. ({11}) Das hat auch etwas zu tun mit aktiver Integrationspolitik, mit schnellen Verfahren, ({12}) mit der Abschaffung von Kettenduldungen, mit einem Zugang zum Arbeitsmarkt, mit einem Zugang zu Sprachkursen, mit einem Zugang zum Bildungssystem. Das ist die Vermeidung von Clankriminalität in der Zukunft. ({13}) Bei denen, die schon den Clans zugehörig sind, bringt das nichts mehr. Aber wir haben die gemeinsame Verantwortung, dass wir uns nicht die nächste Generation von Clankriminellen hier heranziehen. Vielen Dank. ({14})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Armin Schuster für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Armin Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mich gefragt, Herr Dr. Baumann oder Herr Hess, was Sie vor solch einer Rede eigentlich rauchen oder was Sie da nehmen. Aber ich habe es jetzt erfahren. Herr Hess hat ja von der Strategie des Vorschlaghammers gesprochen. Ich vermute, den wenden Sie innerhalb der Fraktion an. Nur so kann ich mir den Dachschaden, den Sie haben müssen, erklären. Sie glauben, erst wenn Sie hier reden, entwirft die Bundesregierung eine Strategie zur Bekämpfung der Clankriminalität. Diese fahren wir aber schon seit Monaten. ({0}) Sie glauben, nur weil Sie hier reden, würde sich der BKA-Chef mit den LKÄ-Chefs zusammensetzen und eine Offensive zur Bekämpfung der Clankriminalität fahren, ({1}) und nur weil Sie reden, haut Herr Reul in Nordrhein-Westfalen eine Offensive raus. Herr Kuhle, das ist der richtige Minister in NRW, den Sie nennen müssen. Herr Reul ist der Grund dafür, warum es diese Abschiebungen gibt; starker Mann, starker Politiker. ({2}) Bekämpfung der Clankriminalität ist ein Schwerpunkt der Bundesregierung, dieses Ministers in ganz Deutschland. ({3}) Ich nenne auch bewusst Innensenator Geisel in Berlin. Er gibt richtig Gas. Jetzt will ich mal den Fall Miri wenden. Wer jemals in seinem Leben beruflich mit OK, Mafia und Clans zu tun hatte, weiß: Das sind Machtproben, die bei denen an der Tagesordnung sind. Dem deutschen Staat aufs Dach zu steigen, gehört bei denen zum Tagesgeschäft. ({4}) Warum sage ich das? Miri ist kein unnormaler Fall. Die Frage ist, wie wir reagieren. Deswegen möchte ich von diesem Pult aus sagen und ein politisches Signal an die Behörden da draußen senden: Ein liberaler Staat muss bei diesen Typen stark sein. ({5}) Wir müssen ein starkes Signal senden, so wie es die Bundespolizei mit der Abschiebung gemacht hat, so wie es das BAMF mit dem Verfahren in Nürnberg jetzt im Fall Miri gemacht hat, ({6}) so wie es der Amtsrichter in Bremen gemacht hat, der das Kreuz hatte, sofort bis 2. Dezember eine Sicherungshaft anzuordnen. Ich hätte mir gewünscht, er hätte es wegen eines Bewährungsrücknahmeverfahrens gemacht; aber das ist eine andere Sache. Die Entscheidung des BAMF will ich gar nicht kommentieren; wir Politiker dürfen eine Entscheidung des BAMF nicht kommentieren. Aber dass sie es schnell gemacht haben und dass Herr Sommer das nach Nürnberg gezogen hat, das ist das starke Signal, worauf solche Kriminelle reagieren. ({7}) Wer dies mit falscher Humanität und Liberalität angeht, wird von solchen Typen als naiv empfunden. Deshalb, meine Damen und Herren, ist das Paket, das der Minister vorgestellt hat, ({8}) zielführend und maßvoll. Herr Dr. Buschmann, Pech gehabt! Der Zwischenruf war: Weiß die SPD eigentlich davon? Sie weiß davon. Die GroKo hat mit dem Minister zu einem sehr frühen Zeitpunkt alles besprochen. ({9}) Grenzkontrolle, Haftgrund „Verstoß gegen Wiedereinreisesperre“, Klarstellung, dass eine Wiedereinreisesperre auch eine Bewährungsauflage tangieren könnte – all das wurde in der GroKo besprochen. Deswegen gibt es da keinen Dissens. Da muss ich Sie leider enttäuschen. ({10}) Ich bin dankbar, dass wir in der bewährten Zusammenarbeit genau so reagieren. Wir haben in der Fraktion gerade noch überlegt, ob wir Sie den Gewinner der Woche nennen. Das mache ich nicht. Gewinner dieser Woche ist der Rechtsstaat. ({11}) Ich hätte es getan, wenn Sie bei der Frage „Wer fordert hier seit fünf Jahren Grenzkontrollen?“ gesagt hätten: Schuster und ich. ({12}) Das haben Sie aber nicht, Herr Minister. Das hat mich ein wenig enttäuscht. Das ist eine minimalinvasive, aber äußerst wirkungsvolle Methode: 6 000 Zurückweisungen an drei bayerischen Grenzübergängen, wenn Sie alle Fälle nehmen und nicht nur die 34 Spanier und Griechen. 6 000 Zurückweisungen! Jetzt können Sie sich das selber hochrechnen; Dr. Romann hat ja schon 10 in 24 Stunden geliefert. Das macht das valide. Wenn man 6 000 im Jahr an drei Grenzübergängen hat, dann können Sie sich vorstellen, was in den nächsten zwölf Monaten an allen deutschen Grenzen passiert. ({13}) Das ist richtig, meine Damen und Herren. ({14}) Herr Buschmann, das nehme ich persönlich. Unterschätzen Sie bitte nicht Einsatzbereitschaft und Einsatzwillen der Bundespolizei. ({15}) Sie sind vielleicht nicht gut im Training, aber die schon. ({16}) Bei der Schengen-Renaissance wird immer eins vergessen. Jetzt erzählen alle – das hat auch mein Kollege Thorsten Frei gemacht –, die Außengrenzen und die Binnengrenzenabbau-Aktion stünden in unmittelbarem Zusammenhang. ({17}) Ja. Es gibt einen dritten Aspekt; der wird nie genannt. Wir haben damals gesagt: Wenn alle 28 Schengen-Staaten für sichere Schengen-Außengrenzen und für Schengen-Schleierfahndung sorgen, haben wir ein derart großes Sicherheitsnetz, dass die Grenzen ohne Weiteres offen bleiben können. Schengen-Schleierfahndung heißt ja: offene Grenzen. Wenn das 27 tun – plus sichere Außengrenzen –, haben wir kein Problem. Wir haben aber nicht nur keine Außengrenzensicherheit; wir haben auch kaum noch Binnengrenzfahndung. Das ist die echte Problembeschreibung. So lange müssen wir das tun, was wir tun. ({18}) Schlusssatz: Herr Miri ist hier nicht willkommen, ({19}) nach wie vor nicht, und ich hoffe, dass eine ähnliche Abschiebung stattfindet, in bewährter Form, Herr Dr. Romann, wie wir es im Sommer hatten, nur nicht aus seiner Wohnung, sondern aus der JVA heraus. Danke schön. ({20})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun Helge Lindh das Wort. ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Momenten der Schwäche wünschte ich mir manchmal das Schuster’sche Selbstbewusstsein. ({0}) Also, davon kann man noch lernen. Das Selbstlob ist eine Kunst, in der auch ich mich künftig zu üben versuche. ({1}) Kommen wir zum gebotenen Ernst. Vor ein paar Minuten fuhr ich – gefühlt 100 Meter von hier – im Fahrstuhl mit einem Ehepaar, begleitet von einem wissenschaftlichen Mitarbeiter. Die Diskussion war ungefähr folgende: Was ist denn jetzt mit ihm? – Die Antwort war: Entscheid ist da, und er wird rausmüssen. – Die Bemerkung der Frau war: Dann ist das doch in Ordnung. – Das war sehr entschieden, aber auch mit einer gewissen Gelassenheit, und es bezog sich genau auf Miri. Ich glaube, der Ausdruck „Das ist doch in Ordnung“ ist passend. Denn das, was wir jetzt erlebt haben, ist Ausdruck dessen, dass Ordnung funktioniert und dass der Rechtsstaat handlungsfähig ist und funktioniert. ({2}) Ich deute diese Aktuelle Stunde mit dem Titel „Durchsetzung des Rechtsstaates im Fall Ibrahim Miri“ deshalb als eine der Regierungskoalition von der FDP gegebene Möglichkeit, ihre Handlungsfähigkeit überzeugend darzustellen. Vielen Dank dafür! ({3}) Darüber hinaus verneige ich mich vor Herrn Romann, den Bundespolizistinnen und Bundespolizisten, dem BAMF, der Justiz, vor all denjenigen, die diesen Rechtsstaat zur Realität machen. Denn wir schaffen nur die Bedingungen, aber sie setzen es um. Vielen Dank dafür! ({4}) Nachdem ich jetzt den Kräften der Ordnung gedankt habe, muss ich mich jetzt doch auch kurz den Kräften der Unordnung zuwenden. ({5}) – Herr Hess, Frau von Storch, bitte verzeihen Sie mir, dass ich das jetzt sage, aber ich bitte Sie: Lächeln Sie einfach mal, und Sie werden wieder glücklichere Menschen. Das wäre für uns alle angenehm. ({6}) Der zweite Punkt – angesichts Ihrer Zwischenrufe sage ich das in vollem Selbstbewusstsein, mit Schuster’schem Selbstbewusstsein, als Sozialdemokrat –: Wir hatten mal den sozialdemokratischen Innenminister Otto Schily; alle Bundespolizistinnen und Bundespolizisten bekommen da leuchtende Augen. Otto Schily, der machte Innenpolitik. Die AfD macht höchstens Geräusche. Insofern gibt es keinen Grund für Sie, sich hier so aufzuspielen. ({7}) Der dritte Punkt – ich lasse mal den Aspekt „Altparteien“ weg; da rege ich mich zu sehr auf –: Kommen wir zum Rechtsstaat. Wenn eine Partei so sinistere Parteifinanzierung pflegt, wenn sie dann in Thüringen mit so merkwürdigen Wahlkampforganen, bei denen keiner weiß, wer wirklich die Herausgeber sind und wie das finanziert ist, auftritt ({8}) und wenn sie dann im Parlament und in den Ausschüssen auch noch den Verfassungsschutz zur Disposition stellt, ({9}) dann sollte sie nicht vom Rechtsstaat sprechen, sondern sollte einfach schweigen. Einfach schweigen! ({10}) Der Rechtsstaat, von dem wir hier heute ganz entschieden, aber auch berechtigterweise unaufgeregt und souverän sprechen, hat nämlich etwas vom blinden Seher Teiresias und auch von der blinden Justitia. Denn er funktioniert ohne Ansehen der Person, ungeachtet der Herkunft. Es geht hier um Ahndung organisierter Kriminalität und um Verbrechen, die Opfer haben, egal woher der Täter oder die Täterin kommt; das ist das eine Entscheidende. Das andere Entscheidende ist – ich sprach von Teiresias –: Gute Innenpolitik und Rechtspolitik hat in ihren stärksten Momenten auch die Fähigkeit, sozusagen seherisch zu sein und vorauszuwirken. ({11}) Deshalb denke ich – bei uns in der Regierungskoalition gehört zum Glauben ja auch immer etwas Zweifel –, dass wir in vollem Selbstbewusstsein sagen können: Bei allen Anfeindungen, die wir angesichts des Migrationspaketes erlebten – die kann es ja geben; man kann zu Recht fragen, ob das zu harsch war, welche Konsequenzen das im Einzelfall hat –, müssen die Kritiker sich doch auch fragen: War das so falsch? ({12}) Denn die Punkte, die da diskutiert werden – Identitätsfeststellung, ungeklärte Identität, Fragen der Abschiebungshaft, Durchsetzung etwa von Wiedereinreisesperren und Verschärfungen –, sind doch genau die Punkte, die in diesem Fall eine Rolle spielen. ({13}) Insofern haben wir – seherisch sozusagen – vernünftig gehandelt und klug entschieden und können darauf stolz sein. Man kann sagen – ohne dass das eine Gewissheit wäre –: Hätte es vor längerer Zeit ein solches ausgewogenes Migrationspaket gegeben, womöglich gäbe es nicht solche Fälle wie den Fall Miri. Auch das gehört zur Wahrheit. ({14}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, es gibt einen Dreiklang im Bereich der inneren Sicherheit, im Bereich der Asylpolitik und auch im Bereich unseres Handelns: Das ist der Dreiklang aus Humanität, Pragmatismus und Konsequenz. Erstens: Humanität. Wir haben Opfer, die im Zentrum unserer Innenpolitik stehen müssen. Der Schutz vor Kriminalität ist primär Opferschutz und auch Herstellung von Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger. Das ist das eine; das ist Humanität. Zweitens: Pragmatismus.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Lindh, fassen Sie sich bitte kurz und kommen Sie zum Schluss.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir orientieren uns an der Realität und nicht an Wunschträumen; denn wir müssen die Bevölkerung für diese Politik gewinnen. Drittens – und damit schließe ich –: Konsequenz. Es gibt Regeln, die setzen wir durch, und das ist das Beste, was wir diesem Rechtsstaat antun können. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Michael Kuffer das Wort. ({0})

Michael Kuffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004795, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Über die Causa Miri können wir irgendwann aufhören zu sprechen. ({0}) Ich sehe auch – das sage ich Ihnen ganz ehrlich –, dass die Diskussion irgendwann ausgereizt ist. Ich will Ihnen eines ganz klar sagen: Leider wird es immer wieder Fälle geben, in denen Menschen unsere Hilfsbereitschaft und das Asylrecht schamlos zu missbrauchen versuchen. ({1}) Es wird immer zwielichtige Personen und Gestalten geben, die versuchen, sich bei uns aufzuhalten, um hier ihr Unwesen zu treiben. Das wird es immer geben – leider. Aber: Entscheidend ist, dass wir den Rechtsstaat so aufstellen, dass es beim Versuch bleibt, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Ich sage dazu letztlich: Es ist hier der Fall gewesen. Das BAMF hat auf diesen Fall, wie ich meine, hervorragend reagiert. Es hat den Betroffenen sofort in Sicherungshaft genommen – übrigens auf der Basis von Instrumenten, die wir noch im Sommer gemeinsam auf den Weg gebracht haben; Kollegin Högl hat es zu Recht gesagt –, entschlossen und konsequent, das vom Betroffenen missbräuchlich angestrengte Asylverfahren innerhalb einer Woche abgeschlossen und den Asylantrag abgelehnt. Ich danke in diesem Zusammenhang ganz besonders den Mitarbeitern des BAMF und im Speziellen auch seinem Präsidenten Dr. Sommer, der die Prüfung des Asylantrags zur Chefsache erklärt und damit ermöglicht hat, dass die Sache so gelaufen ist. Nun, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss und wird der nächste Schritt folgen, nämlich die Aufenthaltsbeendigung, die Abschiebung aus der Haft heraus in den Libanon oder die Türkei. Damit ist der Versuch gescheitert, ({3}) und die Botschaft ist klar: Wer bei uns Chaos und Unheil anrichten will, kann sich nicht darauf berufen, dass ihm im Herkunftsland Unheil droht. ({4}) Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist eine Selbstverständlichkeit. Das eigentlich Interessante an dem Fall ist doch, welche Konsequenzen wir darüber hinaus für die Zukunft ziehen müssen und ziehen. Denn natürlich – das sage ich Ihnen ganz offen – wäre es besser gewesen, wenn der Spuk nicht nach einer Woche, sondern nach ein paar Minuten vorbei gewesen wäre, indem solche Personen überhaupt nicht die Chance bekommen, unser Staatsgebiet noch einmal zu betreten. ({5}) Es ist und bleibt ein wesentlicher Beitrag zur Sicherheit, wenn wir die Möglichkeiten ausschöpfen, um jene Personen, die kriminell bzw. gefährlich sind, Personen, deren Identität wir nicht eindeutig feststellen können, und auch solche, die von vornherein keine Bleibeperspektive haben, bereits an der Grenze zurückzuweisen. Ausländerrecht – das sage ich auch in Ihre Richtung, Herr Kollege Straetmanns – ist auch Sicherheitsrecht. Rechtsstaat heißt nicht: Verzicht auf präventive Maßnahmen und reine Beschränkung auf repressive Maßnahmen, wie Sie sie postulieren. ({6}) Ich sage es noch mal: Ausländerrecht ist auch Sicherheitsrecht und ist auch Prävention. Und es ist richtig, dass wir die Möglichkeiten ausschöpfen, um unsere Bürgerinnen und Bürger dadurch zu schützen. ({7}) Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es unvermeidbar, dass wir beim Thema Binnengrenzkontrollen jetzt in konsequenter Fortschreibung der Beschlüsse der Koalition vom Sommer 2018 die nächsten Schritte gehen, so wie wir sie gemeinsam verabredet haben: nämlich die Ausweitung der Binnengrenzkontrollen auf alle Luft-, Land- und Seegrenzen, verbunden mit einem klaren Mandat für die Bundespolizei, die Möglichkeiten zur Zurückweisung auszuschöpfen. Ich bin dem Bundesinnenminister wirklich dankbar, dass er dafür in dieser Woche so konsequent die nötigen Weichen gestellt hat. Lieber Herr Präsident Romann, ich möchte mich an dieser Stelle an Sie und an Ihre Beamtinnen und Beamten der Bundespolizei wenden und sagen: Tun Sie, was nötig ist, und tun Sie, was möglich ist. Sie haben dafür unsere Rückendeckung. ({8}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich abschließend noch sagen: Das ist kein Widerspruch zu europäischen Maßnahmen. Wir als CSU stehen unverändert für die Umsetzung der Beschlüsse des Europäischen Rates im vergangenen Sommer. Wir wollen hier schnellstmöglich zu einer gesamteuropäischen Lösung kommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD, lieber Herr Kollege Hess, fuchteln Sie ruhig mit dem Vorschlaghammer in der Luft herum. Wir bedienen uns zeitgemäßer Methoden. ({9}) Wir statten unsere Polizei mit dem Modernsten zeitgemäß aus und bringen damit den Dampf auf den Kessel, der bei Ihnen lediglich als heiße Luft entweicht. Vielen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde ist der Kollege Alexander Throm für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Alexander Throm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004917, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, ich möchte zunächst die Gelegenheit nutzen und mich bei Ihnen für diese Aktuelle Stunde bedanken, die Sie für heute beantragt haben. ({0}) Das nämlich gibt mir die Gelegenheit, diesen Dank vor allem an diejenigen weiterzureichen, die ihn in dieser und in der letzten Woche wirklich verdient haben. Das ist in erster Linie unser Innenminister. Herr Seehofer, herzlichen Dank dafür, dass Sie diesen Fall zur Chefsache gemacht haben! Und herzlichen Dank – bitte leiten Sie das weiter an Herrn Sommer und seine Mitarbeiter im BAMF – für die schnelle und gute Entscheidung! Dank auch an die Bundespolizei, aber vor allem, Herr Romann, viel Glück und Erfolg bei dem, was Sie zukünftig in diesem Fall hoffentlich noch alles vorhaben! ({1}) Ja, der Fall Miri ist sicherlich ein Extremfall angesichts der Länge der Kettenduldungen, angesichts der Schwere der Strafen, angesichts der Prominenz als bekannter Clanchef und auch aufgrund der Impertinenz, innerhalb von drei, vier Monaten wieder in Deutschland aufzutauchen. ({2}) Aber er ist beileibe kein Einzelfall. Das heißt – das will ich auch sagen –, wir dürfen heute nicht nur über die Extremfälle sprechen, über diejenigen, die wirklich Schwerstverbrecher sind, ({3}) sondern wir müssen generell über das Problem sprechen, dass Menschen, die wir nach rechtskräftigen Verfahren abgeschoben haben, wieder ins Land einreisen. Insofern müsste man fast dankbar sein, dass dieser Fall gewissermaßen ein Scheinwerferlicht auf diese Problematik wirft. Deswegen noch mal herzlichen Dank, dass Sie die Grenzkontrollen verstärkt haben! Das hat schon entsprechende Erfolge gezeigt. Herzlichen Dank, dass Sie, was die Sicherheitshaft anbelangt, nochmals an das Gesetz herangehen wollen. Liebe Kollegen der FDP, nun haben Sie es in dieser Debatte auch darauf angelegt – man hat es bei Herrn Buschmann und beim Kollegen Kuhle gemerkt –, ein bisschen in der Wunde zu bohren und Kritik an der Regierung zu üben. ({4}) Das ist kräftig danebengegangen. ({5}) Also ich glaube, hier im Plenum sind sich alle – mit Ausnahme der Kollegen der FDP – relativ einig. ({6}) Ich war im Oktober mit dem Entwicklungshilfeausschuss in Marokko. Es gab viele Gespräche mit der marokkanischen Seite, aber auch mit Vertretern deutscher Organisationen und Behörden. Da wurde durchaus gesagt, dass in Marokko eine große Bereitschaft besteht, von Deutschland Rückführungen anzunehmen, Passpapiere auszustellen, die Menschen auch aus den entsprechenden Linienflügen anzunehmen. Es gibt nur eine Bitte: Man möchte Informationen über diese Personen haben. Jetzt gibt es vor allem, nicht ausschließlich, ein Bundesland – das ist das Bundesland, in dem die meisten Marokkaner leben –, das sich aus Datenschutzgründen weigert, diese Informationen herauszugeben. Andere Bundesländer tun das. Jetzt raten Sie mal, welches das ist! ({7}) Das ist das Bundesland, wo Ihr FDP-Minister für die Rückführungen Verantwortung trägt und aus Datenschutzgründen diese Daten dem Staat Marokko nicht zur Verfügung stellt. Ihr Minister Stamp ist der größte Verhinderungsminister – zumindest was Marokko anbelangt; bei anderen Ländern macht er das auch –, was Rückführungen betrifft, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP. ({8}) Wir haben das Geordnete-Rückkehr-Gesetz – es ist schon mehrfach angesprochen worden – in diesem Juni bei großer Kritik beschlossen. Wir haben dort auch einen neuen Tatbestand eingeführt bei der Sicherungshaft, § 62 Absatz 3a Nummer 4 Aufenthaltsgesetz, nämlich dass bei verbotener Wiedereinreise auch eine entsprechende Fluchtgefahr vermutet wird. ({9}) Genau aus diesem Umstand konnte das Amtsgericht Bremen – auch hier ein herzliches Dankeschön! – die Sicherungshaft erlassen. Wenn wir dieses im Juni nicht beschlossen hätten, würde Herr Miri heute gemütlich auf seiner Couch im Wohnzimmer sitzen und nicht in Haft. ({10}) Ich wäre schon bereit, von allen Kolleginnen und Kollegen, die diesem Gesetz nicht zugestimmt haben – Grüne, Linke; Sie von der FDP haben sich zielsicher und entschieden enthalten; ({11}) die AfD im Übrigen auch; auch Sie haben sich enthalten –, ein herzliches Dankeschön an uns, an die Regierungskoalition, entgegenzunehmen, dafür nämlich, dass wir dieses Gesetz verabschiedet haben. ({12}) Jetzt möchte ich noch einen Satz zu Herrn Straetmanns sagen. Ich schätze Sie sehr aus dem Geschäftsordnungsausschuss. Aber das, was Sie heute hier abgeliefert haben, Herrn Miri quasi als Opfer unserer Kettenduldungen darzustellen, ({13}) ist wirklich neben der Sache. Auch völlig unabhängig von Kettenduldungen: Man kann im Ausländerrecht nur dann in einen anderen Rechtsstatus kommen, wenn man rechtstreu ist. Und Herr Miri war das schon in jungen Jahren nicht. ({14}) Das heißt, nach keiner Vorstellung, die ich je hier im Parlament gehört habe, noch nicht einmal von den Linken, wäre ein solcher Fall geeignet, um Kettenduldungen zu vermeiden. Das war wirklich neben der Sache. Und ich weiß auch nicht, ob das wirklich im Interesse von Deutschland ist. Abschließend noch ein Satz. Ich muss dem Kollegen Schuster widersprechen. Lieber Armin, du hast davon gesprochen, dass wir in der Fraktion vorhin durchaus ernsthaft und nicht nur scherzhaft vom Gewinner der Woche gesprochen haben. Das war falsch. Wir haben vom Helden der Woche gesprochen. Herzlichen Dank und ein schönes Wochenende. ({15})