Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 11/7/2019

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Christian Lange (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003168

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Unser Rechtsstaat ist stark und die Justiz sein Aushängeschild. Dennoch sind unsere Staatsanwaltschaften und Gerichte vor allem in umfangreichen Verfahren mit einer Vielzahl von Beteiligten stark belastet. Aus der Justiz selbst kommen dazu ganz konkrete Forderungen, wie man sie entlasten kann. Und genau diese Forderungen erfüllen wir. Mit dem Pakt für den Rechtsstaat haben wir bereits den Grundstein für eine erhebliche personelle Entlastung der Justiz gelegt. Heute stellen wir uns dem nächsten wichtigen Thema: der Beschleunigung von Strafverfahren. Auch hier entsprechen wir Forderungen aus der Richterschaft. Eine kürzere Verfahrensdauer führt nicht nur zu einer Entlastung der Gerichte, sie ist auch eine Frage der Gerechtigkeit: Menschen müssen schnell zu ihrem Recht kommen. Deshalb wollen wir das Strafverfahren moderner und effizienter gestalten. Der vorliegende Gesetzentwurf enthält ein Paket aus zwölf Maßnahmen. Diese werden das Verfahren vereinfachen, ohne die Beteiligten daran zu hindern, ihre Rechte auszuüben. ({0}) So wollen wir, meine Damen und Herren, zum Beispiel die gesetzliche Möglichkeit schaffen, für mehrere Nebenkläger einen gemeinschaftlichen Rechtsanwalt zu bestellen. Hierzu möchte ich noch einmal betonen, dass es uns nicht darum geht, die Rechte der Nebenklägerinnen und Nebenkläger zu beschneiden. ({1}) Im Gegenteil: Die vorgesehene Regelung ist rechtlich kein Novum, sondern bildet die in der Rechtsprechung bereits anerkannten Möglichkeiten ab. Für mehrere Angehörige eines Getöteten einen gemeinschaftlichen Rechtsanwalt zu bestellen, war auch bislang möglich. Dies erleichtert Abstimmungsprozesse im Vorfeld eines Prozesses und führt im Prozess selbst zu einer Beschleunigung, die gerade auch im Interesse der Opfer liegt. Voraussetzung für die Bestellung eines gemeinschaftlichen Rechtsanwalts sind im Übrigen „gleichgelagerte Interessen“ der Nebenkläger. Sind die Interessen gegenläufig, scheidet freilich die Bestellung eines gemeinschaftlichen Beistandes nach wie vor aus. Weiterhin, meine Damen und Herren, verbessern wir das Befangenheits- und das Beweisantragsrecht, damit Angeklagte ihre Verfahrensrechte nicht dazu missbrauchen können, Verfahren künstlich in die Länge zu ziehen. Außerdem sollen unsere Strafermittlungsbehörden Straftaten schneller und präziser aufklären können. Dafür geben wir ihnen moderne Ermittlungsmethoden an die Hand: Eine DNA-Analyse darf sich in Zukunft auch auf das Alter sowie auf Haar-, Augen- und Hautfarbe einer Person beziehen. So können Spuren vom Tatort wertvolle Anhaltspunkte über das Erscheinungsbild einer Person liefern. Meine Damen und Herren, diese Maßnahmen sind notwendig, um die Prozesse zu beschleunigen und die Gerichte zu entlasten. Es kann nicht sein, dass man sogar für kleine Verfahren Jahre braucht, weil die Aktenberge immer größer werden. Es ist höchste Zeit für diese Modernisierung! Zugleich wollen wir aber auch den Opferschutz stärken. Insbesondere wollen wir den Opfern von Sexualstraftaten eine traumatisierende Mehrfachvernehmung ersparen. Zukünftig sollen regelmäßig Ermittlungsrichter das Opfer vernehmen. Eine Videoaufzeichnung hiervon kann später in der Hauptverhandlung verwendet werden. Der vorliegende Entwurf ist also ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem effizienteren Verfahren. Diese Maßnahmen sind indes nur ein Schritt zur Modernisierung des Strafverfahrens. Ein weiterer muss folgen, und dieser betrifft die Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung. Bislang gibt es in Strafverfahren keine Wortprotokolle. Was gesagt wird, müssen Richterinnen und Richter handschriftlich notieren. Ich meine: Das ist nicht mehr zeitgemäß. – Würde die Verhandlung aufgezeichnet, könnten sich Richterinnen und Richter besser auf das Zuhören konzentrieren. Auch ließen sich Zeugenaussagen leichter überprüfen und Rechtsfehler einfacher nachweisen. Im nächsten Schritt, meine Damen und Herren, wollen wir daher eine Expertengruppe einsetzen, und zwar noch in diesem Jahr. ({2}) Sie soll prüfen, ob, wie und in welchem Zeitrahmen sich eine Aufzeichnungspflicht umsetzen lässt. Aber heute geht es erst einmal um das Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens. Mit dem vorliegenden Entwurf wird unsere Justiz nicht nur entlastet, sie wird auch schneller und effizienter. In einem Wort: Sie wird moderner! Herzlichen Dank. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Thomas Seitz, AfD, ist der nächste Redner. ({0})

Thomas Seitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004891, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Vor kaum mehr als zwei Jahren hat der Bundestag das Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens verabschiedet. Von daher wundert es, dass jetzt schon wieder ein Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens nötig ist. Es fehlt leider einfach an Weit- und Durchsicht der Gesetzgebung, wenn gilt – Zitat –: Nach der Reform ist vor der Reform. Leider ist diese desolate Situation bezeichnend für eine Regierung im Sinkflug, die seit vier Jahren permanent die Verfassung bricht. Der Anspruch im Titel des Gesetzentwurfs, das Strafverfahren zu modernisieren, ist ein großer und die Fallhöhe entsprechend. Und wie zu erwarten, wird der Entwurf diesem Anspruch nicht gerecht. Die Ziele des Gesetzentwurfs sind dabei nicht einmal alle falsch, manches ist zu begrüßen, aber es bleibt eben Stückwerk und ist vieles – nur kein großer Wurf. ({0}) Denn in Wahrheit geht es nur darum, der seit Jahren unter permanenter Überlastung leidenden Strafjustiz durch punktuelle Eingriffe wieder etwas mehr Luft zu verschaffen, damit sich Fälle wie heuer beim Landgericht Frankenthal möglichst nicht wiederholen, wo ein des Mordes und weiterer Verbrechen dringend verdächtigter Angeklagter aus der Untersuchungshaft entlassen werden musste. Lassen Sie mich auf drei Punkte näher eingehen: Erstens. Uneingeschränkt zu begrüßen ist die Änderung von § 81e StPO, damit künftig bei Spurenmaterial auch eine DNA-Untersuchung zur Feststellung der Augen-, Haar- und Hautfarbe zulässig wird. Es geht dabei lediglich um die Feststellung der biogeografischen Herkunft, wodurch die Wahrscheinlichkeit der Ermittlung eines Täters erheblich steigt und gleichzeitig der Kreis der potenziell Verdächtigen eingegrenzt werden kann. Dies hat absolut nichts mit Diskriminierung zu tun, sondern kann Unschuldige davor bewahren, zumindest zeitweilig in Verdacht zu geraten. ({1}) Wer hier von Racial Profiling spricht, sollte überlegen, ob er nicht eher die hohe Delinquenz einer bestimmten Klientel verschleiern will. Zweitens. Lassen Sie die Ideologie aus der StPO! Ihr Ziel, Mütter möglichst schnell wieder in den Arbeitsmarkt zu pressen und Väter generell zur Inanspruchnahme von Elternzeit zu drängen, hat dort nichts zu suchen. Wenn zukünftig eine Unterbrechung der Hauptverhandlung bis zur Dauer von 102 Tagen möglich sein soll, ist dies für den Fall der Erkrankung, der bisher eine Unterbrechung von maximal 83 Tagen ermöglichte, noch vertretbar. Im Hinblick auf den Mutterschutz gilt das normativ ebenfalls. Faktisch aber wird das jede Richterin, die während eines langwierigen Verfahrens schwanger wird, einem massiven informellen Druck aussetzen, sofort nach Ablauf der zwingenden Schutzfrist nach der Geburt wieder ihren Dienst aufzunehmen, ganz egal, ob sie das persönlich will oder nicht. Wir als AfD haben auch nichts dagegen, dass Väter, die Richter sind, Elternzeit in Anspruch nehmen. Unmöglich kann diese persönliche Entscheidung es jedoch rechtfertigen, dass sich die Untersuchungshaft eines Angeklagten dadurch auch nur um einen Tag verlängert. Drittens. Wenn Sie die Justiz wirklich entlasten wollen, dann müssen Sie echten Mut zur Veränderung mitbringen und dürfen nicht nur Verteidigungsrechte beschneiden. ({2}) Schaffen Sie das rechtsstaatlich nicht zwingende Verschlechterungsverbot komplett ab! Denn wer eine richterliche Entscheidung angreift, hat kein schutzwürdiges Vertrauen in den Bestand dieser Entscheidung. Unzählige Berufungsverfahren gegen angemessene oder gar milde Urteile würden damit entfallen, und es würde sich die Frage einer Revision erübrigen. Schaffen Sie das System der Gesamtstrafe ab und ersetzen Sie es durch eine Vollstreckungslösung! Oder lassen Sie die Zäsurwirkung zumindest durch das erste Urteil eintreten; dann entfiele gerade für Intensivtäter der Anreiz, gegen jedes noch so milde Urteil Berufung einzulegen und die kleinen Strafkammern lahmzulegen. Und schließlich: Schützen Sie endlich unsere Grenzen! Wer zu Hunderttausenden oder zu Millionen junge Männer mit einer archaischen Sozialisierung ins Land lässt ({3}) und noch nicht einmal bei Straffälligkeit sofort abschiebt, ({4}) der darf sich nicht wundern, wenn die Justiz kollabiert. Danke. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Thorsten Frei, CDU/CSU. ({0})

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bereits im Koalitionsvertrag haben Union und SPD festgehalten, dass wir den Rechtsstaat stärken möchten, indem wir den Strafprozess modernisieren und die Strafverfahren beschleunigen. Und der Staatssekretär hat darauf hingewiesen: Im Grunde genommen ist das, was wir heute einleiten, nur eine weitere Säule des Pakts für den Rechtsstaat; denn wir setzen eben auf viele verschiedene Instrumente. Zu Jahresbeginn haben wir mit den Ländern dafür gesorgt, dass in den nächsten Jahren mindestens 2 000 zusätzliche Stellen für Richter und Staatsanwälte entstehen. Wir stärken die Prävention. Wir werden die technologische Ausstattung bei den Behörden stärken. Dazu gehört für uns als Bundesgesetzgeber eben auch, dass wir einerseits die gesetzlichen Rahmenbedingungen so setzen, dass Strafverfahren zügig durchgeführt werden können ohne Abstriche bei Qualität und Beschuldigtenrechten und andererseits den Ermittlungsbehörden – auch das ist ein wichtiger Aspekt – die notwendigen Instrumente an die Hand gegeben werden. Genau das passiert. Im Mittelpunkt steht der Strafprozess. Aber vor dem Strafprozess gibt es das Ermittlungsverfahren. Da schaffen wir beispielsweise mit der Ausweitung der DNA-Analyse ein ganz wichtiges zusätzliches Instrumentarium für die Ermittlungsbehörden, um den Täterkreis schneller eingrenzen zu können. Ich halte es für richtig, dass wir das zur Verfügung stehende Datenmaterial bei der DNA-Analyse nicht nur für die Bestimmung von Abstammung und Geschlecht nutzen, sondern eben auch dafür, dass man das Alter bestimmt, dafür, dass man die Haut-, die Augen- und die Haarfarbe bestimmt, um Täter schneller habhaft werden zu können. Dem liegt im Übrigen nicht die Illusion zugrunde, dass man allein mit der Ausweitung der DNA-Analyse Verbrechen abschließend klären kann. Aber es ist – da setzt Ihre Kritik an der falschen Stelle an – ein wichtiges Instrumentarium, um schneller zu guten Ergebnissen zu kommen. Deshalb ist es aus meiner Sicht unverständlich, warum man den Ermittlungsbehörden dieses wichtige Instrumentarium versagen will. Wir schaffen es, und das ist auch richtig so. ({0}) Ein zweiter Punkt, den ich für das Ermittlungsverfahren benennen möchte, ist im Grunde genommen ein altbewährtes Ermittlungsinstrumentarium, nämlich die Überwachung der Telekommunikation. Dass wir das jetzt auch beim Wohnungseinbruchdiebstahl ermöglichen, ist ein wichtiges Hilfsmittel für die Polizei und die Ermittlungsbehörden. Das darf man, glaube ich, überhaupt nicht unterschätzen. Für das betroffene Opfer macht es doch überhaupt keinen Unterschied, ob eine international tätige Bande diese Tat begeht oder ob es regional tätige Einzeltäter sind. Dies macht doch überhaupt keinen Unterschied, wenn es um die Sachbeschädigung geht, wenn es um den Verlust der Wertgegenstände geht, vor allen Dingen wenn es um den Einbruch in die Privatsphäre der Verbrechensopfer geht. Da müssen wir ansetzen und die notwendigen Instrumentarien zur Verfügung stellen. Im Grunde genommen ist es die Fortsetzung dessen, was wir in der letzten Legislaturperiode gemacht haben, als wir den Wohnungseinbruchdiebstahl zu einem Verbrechenstatbestand gemacht haben. Das hatte im Übrigen auch Erfolg, wenn man sich vor Augen führt, dass seit 2015 die Zahl der Wohnungseinbrüche in Deutschland von 170 000 auf etwa 98 000 zurückgegangen ist. Das ist immerhin der niedrigste Wert in den vergangenen 20 Jahren. Auch das ist ein Erfolg unserer Rechtspolitik. Diesen Weg setzen wir jetzt hier fort. ({1}) Ich komme jetzt auf die Beschleunigung der Strafverfahren als solcher zu sprechen. Der Staatssekretär hat die Punkte benannt. Da geht es nicht darum, dass man Beschuldigtenrechte eingrenzt. Wir kennen viele praktische Beispiele. Ich bin davon überzeugt, dass auch die Anhörung im Ausschuss am nächsten Montag weitere Beispiele aufzeigen wird, wenn dort Praktiker von ihrer Arbeit berichten werden. Ich denke zum Beispiel an ausschließlich aus Verschleppungsabsicht vorgebrachte missbräuchliche Besetzungsrügen, an Befangenheitsanträge, an Beweisanträge, die völlig abwegig sind. Wir schaffen die Voraussetzungen, um damit im Strafprozess vernünftig umgehen zu können und die Verfahren zu beschleunigen sowie den Rechtsstaat zu stärken. Das ist nämlich ein ganz wichtiger Punkt, um deutlich machen zu können, dass der Strafprozess nicht nur die Rechtsdurchsetzung des Staates und den Anspruch daran stärken möchte, sondern dass es durchaus auch im Interesse der Täter, aber vor allen Dingen der Opfer ist, dass man zu einem zügigen Abschluss des Verfahrens kommt. Es ist angesprochen worden: Es ist nicht akzeptabel, dass Verschleppungsabsicht genutzt wird, um anschließend einen Strafrabatt zu bekommen. Gerade bei den Wirtschaftsstrafsachen sehen wir, dass im Durchschnitt etwa vier Monate Strafrabatt gewährt werden muss, weil vom eigentlichen Verbrechen bis zu Verurteilung viel zu viel Zeit vergeht. Deshalb ist es ein wichtiger Schritt zur Stärkung des Rechtsstaates. Es zeigt auch, dass wir gerade in rechtspolitischer Hinsicht in der Lage sind, die Dinge gut nach vorne zu bringen. Das ist auch ein Erfolgsausweis für diese Regierung. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Stephan Thomae, FDP. ({0})

Stephan Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004175, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen! Verehrte Kollegen! Meine Damen und Herren! „Justice delayed is justice denied.“ Das Wort wird William Gladstone zugeschrieben. Also: Gerechtigkeit, die zu spät kommt, ist verweigerte Gerechtigkeit. Man könnte auf Deutsch auch sagen: Gutes Recht ist schnelles Recht. Ja, auch deswegen wollen wir Liberale den Strafprozess effizienter machen, moderner, praxistauglicher, auch schneller. ({0}) Aber Sie übersetzen – jedenfalls in manchen Punkten – diesen Satz von William Gladstone wie folgt: Kurzer Prozess ist guter Prozess. ({1}) Diesen Weg würden wir nicht mitgehen. In einigen Punkten stimmen wir Ihrem Vorschlag zu. Ja, wir halten es für richtig, Opferrechte zu stärken, vor allem bei Sexualdelikten. Ja, es ist gut, die Nebenkläger in Gruppen zu bündeln, wenn deren Interessen gleichlaufend oder zumindest nicht widersprechend sind. Aber es gibt ein paar Punkte in Ihrem Gesetzentwurf, die wir sehr bemängeln. Es ist richtig: Es schadet der Akzeptanz des Rechtes, wenn Recht zu lange auf sich warten lässt. Aber Effizienz und Schnelligkeit sind nicht die einzigen Kriterien des Strafprozesses. Die Wahrheitsfindung muss oberstes Gebot und oberstes Prinzip bleiben, meine Damen und Herren. ({2}) Es kommt nicht darauf an, möglichst schnell und möglichst hart zu strafen, sondern darauf, möglichst effizient und praxisnah die Wahrheit zu finden. Ein faires Verfahren ist eine hohe zivilisatorische Errungenschaft. ({3}) Deswegen sehen wir beispielsweise die Kürzung von Möglichkeiten, Befangenheitsanträge zu stellen – Sie haben das als Verbesserung bezeichnet, Herr Staatssekretär –, sehr, sehr kritisch. Die Unbefangenheit des Richters ist doch der Kern seiner Legitimation. Es kann doch nicht sein, dass ein Richter, bei dem der Verdacht der Befangenheit im Raume steht, welche nicht durch eine Entscheidung ausgeräumt worden ist, die Verhandlung weiterführen kann, und sei es auch nur für zwei Wochen. Ein Richter, bei dem der Verdacht der Befangenheit im Raume steht, kann doch nicht weiter Zeugen befragen und Beweise erheben. Deswegen sehen wir beim Recht der Befangenheitsanträge keinen Änderungsbedarf, meine Damen und Herren. ({4}) Ein zweites Thema ist die Eingrenzung der Möglichkeit, Beweisanträge zu stellen. Die Beweisanträge sind eine der ganz wenigen Möglichkeiten der Verteidigung, auf den Gang des Verfahrens Einfluss zu nehmen. Es kann auch mal passieren, dass ein Beweisantrag ins Blaue hinein gestellt wird. Das ist kein Missbrauch. Es ist Ausdruck des fairen Verfahrens. Deswegen sollten wir auch hier in diesem Punkt keine Änderungen vornehmen. ({5}) Einen dritten Punkt Ihres Entwurfs bitte ich zu bedenken, Herr Staatssekretär: Sie wollen die Unterbrechung der Hauptverhandlung für zwei Monate ermöglichen, wenn etwa eine Richterin schwanger wird oder wenn Richter in Elternzeit gehen. Das klingt modern und fortschrittlich. Was Sie aber damit erreichen, ist, dass der Druck auf eine Mutter, die sich im Mutterschutz oder in Elternzeit befindet, oder auf einen Vater, der sich in Elternzeit befindet, erhöht wird, wieder schneller auf den Richterstuhl zurückzukehren. Das ist ein Problem, das Sie noch einmal überdenken sollten. Das ist nämlich das Gegenteil von Familienfreundlichkeit. ({6}) Wir wollen den Strafprozess ebenfalls effizienter und moderner machen und meinen damit, dass er kommunikativer und digitaler werden muss. Ich höre mit Freude, dass Sie sich in einer Expertenkommission dem Thema der audiovisuellen Aufzeichnung der Hauptverhandlung stellen wollen. Ja, das ist ein wichtiger Punkt, sozusagen ein Digitalpakt für die Justiz. Manche Richter empfinden das als Vertreibung aus dem Paradies. Das ist es aber nicht. Der Richter ist heute ein Mensch, der vieles gleichzeitig bewältigen muss: dem Zeugen zuhören, den Angeklagten beobachten, in der Akte blättern, sich die nächsten Fragen überlegen, nonverbale Signale aus der Verhandlung mitnehmen und zugleich all das noch vollständig und leserlich notieren, sodass man es nach Wochen oder gar Monaten noch lesen kann. Ich glaube, dass mancher Richter, der heute dem Thema der audiovisuellen Aufzeichnung noch kritisch gegenübersteht, froh um diese Erleichterung wäre. Deswegen – und damit komme ich zum Schluss – bieten wir Ihnen an, dass wir gemeinsam in den weiteren Beratungen diskutieren, wie wir den Strafprozess aus der Kaiserzeit ins 21. Jahrhundert überführen können, ohne an den Grundsätzen des fairen Verfahrens zu rütteln. Vielen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Friedrich Straetmanns, Die Linke, hat jetzt das Wort. ({0})

Friedrich Straetmanns (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004907, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Gerade erst vor etwas mehr als zwei Jahren hat die Große Koalition das Strafverfahren neu gestaltet mit der Zielsetzung, es effektiver und praxistauglicher zu machen. Jetzt wollen Sie es – in Ihren Worten – „modernisieren“. Ein ehrlicherer Titel für diese immer wiederkehrenden Vorhaben wäre aus meiner Sicht: Gesetz zur Beschneidung von Beschuldigten- und Angeklagtenrechten und Reduzierung der Zahl der Fälle, in denen diese verteidigt sind. ({0}) Bevor ich zu den einzelnen Regelungen komme, möchte ich anmerken, dass eine Evaluation der letzten Maßnahmen von vor zwei Jahren von Ihrer Seite nicht erfolgt ist. Als Richter finde ich das sehr bedenklich. Das ist auch ein schwerwiegender Mangel dieser Vorlage. Im Bereich des Strafverfahrens und im Übrigen auch im Gefahrenabwehrrecht halten Sie es insgesamt nicht mehr für nötig, Ihre Reformen im Nachhinein daraufhin zu überprüfen, ob sie auch geeignet sind. Denn Sie handeln nach dem Motto: Schärfer geht immer. Ich komme nun zu einigen kritischen Anmerkungen zu einzelnen Regelungen: Die in § 29 Strafprozessordnung, StPO, geplante Änderung bei Ablehnung eines Richters ist gerade von meinem Vorredner angesprochen worden. Wir finden es extrem bedenklich, dass ein unter der Besorgnis der Befangenheit stehender Richter zwei Wochen weiterverhandeln und wichtige Beweise erheben kann. Dass dies so möglich ist, ist ein Einschnitt in die Angeklagten- und Beschuldigtenrechte. Folgendes sollte uns interessieren, nämlich: Welche Zahl von missbräuchlich gestellten Befangenheitsanträgen findet sich überhaupt in Strafverfahren? Liefern Sie diese, damit wir darüber fair und vernünftig debattieren können. ({1}) Argumentiert wird hier auch von Ihnen, von der GroKo, mit dem öffentlichen Interesse an einer beschleunigten Verfahrensdurchführung. Ich denke, dass wir gerade vor der historischen Verantwortung und den Erkenntnissen, die wir daraus gezogen haben, sehr großes Interesse an einem fairen Verfahren mit einer objektiven Beweiserhebung haben müssen. ({2}) Sie wollen mit Ihrem Gesetzentwurf Beschuldigtenrechte einschränken, alles unter dem Vorwand, es sei zum Besten des Angeklagten. Ihr Entwurf enthält aber auch eine relativ kuriose Regelung, nämlich das Verbot der Gesichtsverhüllung im neugefassten § 68 StPO. Es handelt sich hierbei um ein reines Politikspektakel und nicht um die Abhilfe eines echten Problems. Machen wir es uns doch einfach mal an den Zahlen bewusst, dass lediglich 200 bis 300 Frauen in Deutschland einen sogenannten Nikab tragen. Außerdem ist nach § 176 GVG jeder Richter, jede Richterin befugt, das Entfernen dieser Gesichtsverhüllung während der Verhandlung anzuordnen, gerade aus dem Aspekt heraus, dass man natürlich die Mimik beobachten und daraus seine Schlussfolgerungen ziehen kann. Brandgefährlich finden meine Fraktion und ich natürlich Ihre Idee zum genetischen Phantombild in § 81e StPO. Dieses genetische Phantombild wird von der Wissenschaft als ungenau und gefährlich kritisiert. Es besteht absehbar die Gefahr, dass dieses Instrument zur Identifizierung von Minderheitenmarkern wie dunkler Hautfarbe angewendet wird. Das ist Racial Profiling unter Laborbedingungen und gehört nicht in die Strafprozessordnung. ({3}) Zudem führt dieser Punkt dazu, dass die politische Rechte hier die Möglichkeit erhält, ihre rassistische Erzählung von Migration und Kriminalität als zwei Seiten einer Medaille zu etablieren. Dazu greifen wir in einen Bereich ein, der dem Kernbereich der Persönlichkeit angehört. Die Aufschlüsselung der DNA mit den Erbinformationen wird hier für die forensische Forschung geöffnet. Wir halten das bereits aus verfassungsrechtlichen Gründen für nicht akzeptabel und für verfassungswidrig, um das auch klar zu sagen. ({4}) Mit der angesprochenen Aufnahme des Wohnungseinbruchdiebstahls als schwere Straftat, die eine Telefonüberwachung nach § 100a StPO rechtfertigen soll, wird die Schwelle dessen, was eine schwere Straftat darstellt, weiter abgesenkt. Es wird auch gar nicht begründet – wissenschaftlich und fachlich –, warum und ob Telefonüberwachung ein probates Mittel zur Aufklärung eines Wohnungseinbruchdiebstahls darstellt. Auch hier sind verfassungsrechtliche Bedenken offensichtlich. Sinnvoll wäre es stattdessen, über die Einführung eines Zeugnisverweigerungsrechtes für bestimmte Bereiche zu reden, und zwar für Bereiche der sozialen Arbeit. Im Kontext der Beratung und Unterstützung von Opfern von Gewalt würde eine solche Regelung den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sicherlich ihre Beratungsarbeit, die wertvoll und die Arbeit an den Opfern ist, erleichtern. Hier finden wir eben nichts im Gesetz. Das ist eine Leerstelle; eine entsprechende Passage vermissen wir schmerzlich. ({5}) Angesprochen ist es: Eine wirkliche Modernisierung wäre die audiovisuelle Aufzeichnung der Hauptverhandlung. Wobei – ich muss es ganz offen sagen – die Latte in diesem Bereich so extrem niedrig liegt, dass es uns schon reichen würde, wenn wir endlich ein Wortlautprotokoll der Hauptverhandlung bekämen; und das wäre auch ein angemessenes Kriterium für ein faires Verfahren. ({6}) Ich will eins sagen: Die wenigen von mir angesprochenen und kritisierten Veränderungen Ihres Entwurfes zeigen, dass es Ihnen im Grunde nicht darum geht, die Kommunikation der Beteiligten vor Gericht zu verbessern. Es geht Ihnen auch nicht darum, die Dokumentation des Ermittlungsverfahrens und der Hauptverhandlung auf ein Niveau zu bringen, das der weithin digitalisierten Wirklichkeit gerecht wird. Es geht vorwiegend darum, den Verfahrensgang zu beschleunigen. Um es mit den Worten des Deutschen Anwaltvereins zu sagen: Ihr Gesetzentwurf zeugt von einem „reaktionären Prozessverständnis“. – Diesem Urteil kann ich mich nur anschließen. Wir werden an dem Gesetzentwurf mitarbeiten. Aber unsere Kritikpunkte liegen auf dem Tisch. Vielen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Canan Bayram, Bündnis 90/Die Grünen, hat jetzt das Wort. ({0})

Canan Bayram (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004665, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gesetzgebung muss auf Grundlage von gesicherten und empirischen Erkenntnissen erfolgen, wenn sie rechtsstaatlichen Anforderungen genügen will. Dies gilt insbesondere für einen so sensiblen Bereich wie das Strafrecht und das Strafverfahrensrecht. Das von den Koalitionsfraktionen vorgelegte Gesetzesvorhaben zur Modernisierung des Strafverfahrens genügt diesen Anforderungen nicht. ({0}) Nachdem die Bundesregierung die sogenannte Modernisierung des Strafverfahrens gestern als Teil der Koalitionshalbjahresbilanz schon abgefeiert hat, darf sich der Bundestag heute, am 7. November, in erster Lesung damit befassen. Am Montag, dem 11. November, ist die öffentliche Anhörung im Rechtsausschuss, und dann, in der gleichen Woche, soll der Gesetzentwurf im Plenum beschlossen werden. Eine Begründung für diese Eilbedürftigkeit und dieses schnelle Verfahren haben Sie bis heute nicht geliefert. ({1}) Womit haben wir es bei dieser sogenannten Modernisierung des Strafverfahrens in Wahrheit zu tun? Vor allem mit einem in der Verkürzung von Beschuldigten- und Verteidigerrechten zum Ausdruck kommenden Generalverdacht der Prozesssabotage, der Prozessverschleppung und Konfliktverteidigung gegenüber den Strafverteidigern. Rechtstatsachen, die solchen Generalverdacht belegen, gibt es genauso wenig wie eine Untersuchung der Wirkung der Strafprozessrechtsänderungen von 2017, etwa der grundrechtsgefährdenden und verfassungswidrigen Quellenkommunikationsüberwachung und Onlinedurchsuchung mit Ihren Staatstrojanern. Die Überprüfung bleibt bewusst dem Bundesverfassungsgericht überlassen. Ob und was die 2017 intendierte bessere Praxistauglichkeit und Effektivität des Strafverfahrens wirklich gebracht haben, weiß kein Mensch. ({2}) Und wir haben es bei dieser sogenannten Modernisierung des Strafverfahrens mit einem gravierenden Tabubruch zu tun, nämlich der Ausweitung der forensischen DNA-Analyse. Die Bundesregierung argumentiert da gerne in leichtfertiger verfassungsrechtlicher Oberflächlichkeit, es handele sich ja bei Hautfarbe, Augenfarbe, Haarfarbe und Alter nur um äußerlich erkennbare Merkmale, die auch aufgrund von Zeugenaussagen für Ermittlungen gegen den unbekannten Straftatspurenleger verwendet werden dürfen. Im Unterschied zu Zeugenaussagen geht es hier aber um die Gewinnung von Hinweisen auf äußerlich erkennbare Merkmale des Menschen durch einen Eingriff in den Kernbereich seines Persönlichkeitsrechts, ({3}) nämlich durch die Ausforschung seines Genoms. Es gibt bei der Bundesregierung und in der Begründung des Gesetzentwurfs zugleich eine bemerkenswerte und leichtfertige Oberflächlichkeit: Allein bei der ungefähren Bestimmung des biologischen Alters ist die Gefahr rassistischer Diskriminierung ausgeschlossen. – An die Gefahr der rassistischen Gruppendiskriminierung scheint diese Bundesregierung überhaupt nicht gedacht zu haben; denn diese Merkmale, die ich vorhin ausgeführt habe, sind dazu geeignet, Gruppen rassistisch zu diskriminieren. Und dagegen wenden wir uns eindeutig. ({4}) Der Gang der Hauptverhandlung in erstinstanzlichen strafgerichtlichen Verfahren vor den Land- und Oberlandesgerichten wird im Wesentlichen unverändert seit Inkrafttreten der Reichsstrafprozessordnung im Jahr 1879 lediglich in einem Formalprotokoll festgehalten. Eine zwischenzeitliche Erweiterung in den Jahren 1964 bis 1974 zu einem Inhaltsprotokoll wurde wegen des Mehrbedarfs an Protokollführern wieder und wieder infrage gestellt und besteht aktuell nur bei Verständigung zwischen Gericht und Verfahrensbeteiligten und im strafrechtlichen Verfahren vor den Amtsgerichten. Die Verfahrensbeteiligten sind auf ihre Mitschriften angewiesen; das wurde hier von verschiedenen Vertretern schon ausgeführt. Auch wir begrüßen ausdrücklich diese Expertenkommission und bieten an, unsere Expertise dort einzubringen. ({5}) Wir sind der Ansicht, dass wir das Thema „Dokumentation in den mündlichen Verhandlungen in Strafprozessen“ in der Anhörung ausführlich diskutieren sollten. Aber wir hätten uns gewünscht, dass wir das anhand einer Vorlage besprechen können, die Sie nämlich hätten in diese Strafrechtsreform mit einarbeiten können. Das vermissen wir. Deswegen werden wir unseren Antrag dazustellen, in dem wir eine wirkliche Modernisierung des Strafverfahrens auf den Weg bringen wollen. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Eva Högl, SPD. ({0})

Dr. Eva Högl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003896, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Einen schönen guten Morgen! Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich sagen, dass ich es gut finde, dass wir über die Reform des Strafprozesses heute hier in der Kernzeit diskutieren; denn das ist nicht nur was für Spezialistinnen und Spezialisten oder für Jurafreaks. Vielmehr ist das Strafverfahren ein ganz wesentlicher Baustein eines handlungsfähigen Staates und einer freien Gesellschaft ({0}) und ein wichtiger Beitrag zur Stärkung unseres Rechtsstaats. Deswegen möchte ich auch betonen, dass sich die Koalition vorgenommen hat – ich hoffe, das trifft auch auf große Zustimmung hier im Haus –, unseren Rechtsstaat zu stärken. Bund und Länder haben einen Pakt für den Rechtsstaat geschlossen, der auf drei Säulen beruht. Erstens: mehr Personal für die Sicherheitsbehörden und für die Justiz. Zweitens: bessere Ausstattung, Digitalisierung, gute Gebäude, gute Rahmenbedingungen. Dafür sind schwerpunktmäßig die Länder zuständig. Und über die dritte Säule sprechen wir hier heute Morgen, nämlich effektive und moderne Verfahren in allen Bereichen. Unsere Ziele sind, das Vertrauen in den Rechtsstaat zu stärken, die Rechte der Opfer zu stärken – darum geht es hier heute auch –, in einer guten und richtigen Abwägung mit einer Verkürzung der Verfahren, damit wir eine bessere und schnellere Rechtsdurchsetzung bekommen und die Strafverfahren beschleunigen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, insbesondere der Opposition, damit machen wir weder kurzen Prozess, noch ist das ein reaktionäres Verständnis, sondern das ist eine moderne Weiterentwicklung unserer Strafprozessordnung. ({1}) Die zwölf Punkte, die wir vorlegen, reichen von Verhüllungsverbot über bessere Rahmenbedingungen für Dolmetscherinnen und Dolmetscher bis zu Wohnungseinbrüchen. Ich möchte einen Punkt hervorheben, der bislang in der Debatte noch nicht erwähnt worden ist: Wir wollen die Opfer von Sexualdelikten stärken und besser schützen. Das ist ein wichtiger Punkt in dieser Reform. Wir schaffen für erwachsene Opfer von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung die Möglichkeit, dass ihre richterliche Vernehmung auch in Bild und Ton aufgezeichnet werden darf. Das ist ein wichtiger Beitrag, sie zu schützen und ihnen bessere Rahmenbedingungen zu geben. ({2}) Damit das von den Gerichten auch gemacht wird, gestalten wir es als eine Mussvorschrift aus und nicht als eine Sollvorschrift. Außerdem möchte ich Stellung nehmen zu unserem Ansinnen, die Nebenklage zu bündeln. Wir wollen damit die Verfahren vereinfachen; aber wir wollen trotzdem die Rechte von Nebenklägerinnen und Nebenklägern nicht beeinträchtigen. Wir wissen alle miteinander, wie wichtig die Nebenklage ist; wir haben es nicht zuletzt beim NSU-Prozess gesehen, der auch Ausgangspunkt für unsere Reformüberlegung war. Dort gab es 95 Nebenklägerinnen und Nebenkläger und 60 Anwältinnen und Anwälte. Sie alle nehmen ihre Rechte wahr – sie sind ganz wichtig in diesem Prozess –, und trotzdem ist es richtig, dass wir dem Gericht jetzt die Möglichkeit geben wollen, mehrere Nebenklagen zu bündeln, wenn sie gleichgelagerte Interessen betreffen. Das ist eine moderate Verschlankung, eine moderate Beschleunigung, und das ist, wie gesagt, eine Kannvorschrift. Das werden die Gerichte auch sehr sensibel prüfen. Wir schaffen bessere Regelungen bei Anträgen zur Befangenheit, bei Beweisanträgen, bei Besetzungsrügen. Das ist eine wirklich sehr moderate Weiterentwicklung. Herr Thomae, Sie haben das kritisiert; aber wir haben das in der Abwägung zwischen Beschleunigung und Rechten moderat weiterentwickelt. Ich glaube, wir haben gute Regelungen gefunden und einen guten Kompromiss zwischen den Rechten, die dort verankert sind, und dem Ansinnen nach Beschleunigung erreicht. Denn Sie selbst haben gesagt: Schnellere Rechtsdurchsetzung ist auch bessere Rechtsdurchsetzung. – Diesem Gedanken folgt diese Reform. ({3}) Deswegen freue ich mich, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn es hier viel Zustimmung gibt. Wir haben eine zügige Beratung, ja; aber, liebe Frau Bayram, wir haben über diese Sachen schon lange diskutiert. Die Reform liegt schon lange auf dem Tisch. Es gab Eckpunkte, die wir lange diskutiert haben, sodass ich glaube, dass wir jetzt auch schnell beraten und beschließen können. Vielen Dank. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Roman Reusch, AfD. ({0})

Roman Johannes Reusch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004863, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei der Lektüre des Gesetzentwurfs habe ich mich bei der Rubrik Alternativen gefragt, warum da „Keine“ steht. Angesichts der Frage, ob wir die Antragsrechte der Beschuldigten ein weiteres Mal einschränken müssen, müsste man darüber nachdenken, ob es noch andere Möglichkeiten gibt. Ist das denn nötig? Schauen wir doch mal auf die Situation in der Justiz. Fangen wir bei den Amtsgerichten an. Besetzungsrügen, Befangenheitsanträge sind selten. Beweisanträge werden hin und wieder gestellt; das ist völlig unproblematisch. Sonstige Anträge, mit denen man Amtsrichter quälen kann, zum Beispiel Aussetzungs- oder Unterbrechungsanträge usw., sind extrem selten. Insgesamt kann man sagen: Für die Amtsgerichte, die die Masse aller Verfahren bewältigen, stellt das geltende Recht – das galt auch schon vor den letzten Änderungen – überhaupt kein Problem dar. Ganz anders ist das bei den Landgerichten. Da haben wir Fälle, bei denen wir nach Wochen des Verhandelns immerhin schon dazu kommen, endlich die Anklage verlesen zu können. Und so geht es weiter. Die Verteidigung nutzt alle Möglichkeiten, die das Recht bietet, um das Gericht in der Hoffnung, dass es irgendwann die weiße Fahne schwenkt und sich auf einen pflaumenweichen Deal einlässt, unter Druck zu setzen. Man versucht, das Gericht durch Stapel von Beweisanträgen, die alle Schrott sind, aber ein oder zwei kleine Tretminen enthalten, zu Verfahrensfehlern zu verleiten. Schon platzt das ganze Ding beim BGH. Das ist die Hoffnung; das ist die Strategie. ({0}) Das ist nicht Rechtsstaat. Da wird der Rechtsstaat wie ein Tanzbär am Nasenring durch die Manege geführt. Dagegen muss man etwas tun. Die Frage ist, was. Weshalb ist denn die Situation beim Landgericht im Vergleich zum Amtsgericht so dramatisch unterschiedlich? Beim Amtsgericht haben wir im Regelfall die Berufung, eine weitere Tatsacheninstanz, als Rechtsmittel. Das heißt, es bringt den Anwälten nichts, auf Verzögerung zu setzen. Jeder Verfahrensfehler kann völlig problemlos repariert werden. Das Ergebnis ist eine ordentliche Antragspraxis der Anwälte. Ganz anders ist die Situation beim Landgericht. Dort haben wir die Revision. Das heißt im Regelfall: Aufhebung und Zurückverweisung. Alles muss noch einmal von vorne gemacht werden. Das will jeder verantwortungsbewusste Richter unter allen Umständen vermeiden. Deswegen haben die Anwälte so viele Möglichkeiten, so viel Macht, auf den Gang des Verfahrens einzuwirken und ein für sie gewünschtes oder tolerables Ergebnis zu erzielen. Würde man nun auch beim Landgericht in erster Instanz die Berufung als Rechtsmittel einführen, dann hätten wir dieselbe Situation wie bei den Amtsgerichten. Die Probleme, die wir hier wälzen, würden sich geradezu in Wohlgefallen auflösen. Die Verhandlungen vor dem Landgericht, erstinstanzlich, würden dramatisch kürzer werden. Die Urteile würden dramatisch kürzer werden: Man würde dann nämlich einfach nur Tatbestand und Entscheidungsgründe hineinschreiben. Wir haben deshalb schon im letzten Jahr hier einen entsprechenden Antrag eingebracht. Ich weiß, er kommt von der AfD; aber denken Sie trotzdem einmal darüber nach, ob die Revision nicht doch verzichtbar ist, ob sie nicht ein aus der Zeit gefallenes Rechtsmittel ist, aus Zeiten, als ein dickbäuchiger Gendarm mit Pickelhaube und umgeschnalltem Säbel reichte, um in seinem Revier Ruhe und Ordnung zu garantieren, und als die Justiz jede Woche mal eine neue Akte bekam. Die Zeiten sind vorbei. Wir können uns das alles nicht mehr leisten. Wir brauchen eine schlagkräftige Strafjustiz. Deswegen lautet mein Appell an Sie: Versuchen Sie mal, im stillen Kämmerlein darüber nachzudenken, ob das nicht vielleicht doch ein gangbarer Weg wäre. In diesem Sinne: Wir sehen uns im Ausschuss. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Elisabeth Winkelmeier-Becker, CDU/CSU. ({0})

Elisabeth Winkelmeier-Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003865, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Gesetzentwurf, den wir heute beraten, greifen wir ein wichtiges Anliegen der Union aus dem Koalitionsvertrag auf. Es ist ein Element des Paktes für den Rechtsstaat; denn dafür brauchen wir nicht nur mehr Personal und eine bessere Ausstattung, sondern eben auch effiziente Verfahren. Wir machen es jetzt – vieles hätte man auch schon früher machen können –, weil es jetzt den politischen Konsens dazu gibt. Zu Beginn möchte ich noch mal daran erinnern, was der Sinn des Strafprozesses ist. Der Gesetzentwurf setzt diese Frage ja auch an den Anfang. Es geht um die Aufklärung von Straftaten, um die Ermittlung des Täters, um die Ermittlung seiner Schuld, es geht um seine Bestrafung, und natürlich geht es auch um die Entlastung und den Freispruch des Unschuldigen. Es ist die Aufgabe von Staatsanwaltschaft und Gericht, der materiellen Wahrheit in Bezug auf belastende und entlastende Fakten möglichst nahezukommen. Das folgt aus dem eigenen staatlichen Anspruch, die Strafverfolgung durchzuführen. Der Staat ist das aber auch den Opfern schuldig, weil er das Gewaltmonopol für sich in Anspruch nimmt. Die Wahrheit wird nicht um jeden Preis ermittelt, sondern es gibt Grenzen. Der Angeklagte, der Beschuldigte, darf niemals nur Objekt des Verfahrens sein. Dem entspricht, dass er sehr umfangreiche Verfahrensrechte hat, dass er sich nicht selbst belasten muss, dass der Grundsatz „In dubio pro reo“ für ihn streitet. Gleichzeitig haben wir aber das Problem, dass Prozesse unnötig lange dauern, dass die Ressourcen bei den Ermittlern und bei den Gerichten knapp sind. Das hat unliebsame Folgen: Menschen müssen aus der Untersuchungshaft entlassen werden. Verfahren dauern zu lange. Es muss Strafrabatte zum Ausgleich der langen Verfahrensdauer geben. Deshalb ist mehr Effizienz nötig, und zwar nicht als Selbstzweck, sondern weil Zeit- und Ressourcenverschwendung an der einen Stelle immer dazu führen, dass man in einem anderen Fall dem Täter eben nicht mehr auf die Spur kommen kann, dass ein Täter nicht überführt werden kann oder ein Prozess platzt. Natürlich ist Effizienz im höchsten Maße auch im Sinne der Opfer; denn ein Opfer kann häufig mit der Tat, mit dem Schaden, dem Verlust, den es erlitten hat, erst dann abschließen, wenn auch das Verfahren zum Endpunkt gekommen ist. Und nicht zuletzt: Auch für die Unschuldigen ist jeder zusätzliche Tag unzumutbar. Wie sinnvoll und nötig Maßnahmen zur Straffung des Verfahrens sind, zeigt ein Beispiel aus Koblenz. Dort musste ein Prozess gegen ein Neonazi-Netzwerk nach fast fünf Jahren abgebrochen werden, weil der Vorsitzende Richter in Pension ging. Es waren über 240 Beweisanträge, mehr als 400 Verfahrensanträge, mehr als 500 erfolglose Befangenheitsanträge gestellt worden. Damit hatte man es geschafft, den Prozess platzen zu lassen. Da ist wirklich ein Punkt erreicht, wo sich der Rechtsstaat nicht in dieser Art und Weise vorführen lassen darf. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Kollegin Winkelmeier-Becker, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seitz?

Elisabeth Winkelmeier-Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003865, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Seitz, bitte.

Thomas Seitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004891, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Frau Kollegin, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Meine Frage zielt dahin: Ist Ihnen bekannt, dass die Landesregierung in Bezug auf das von Ihnen angesprochene Verfahren rechtzeitig auf diese Problematik hingewiesen wurde und es versäumt hat, das Landesrichtergesetz dahingehend abzuändern, dass, wie es in anderen Bundesländern der Fall ist, die Verlängerung des Dienstes über das normale Eintrittsalter in den Ruhestand hinaus möglich wird? Damit hätte nämlich das Platzen dieses Verfahrens verhindert werden können.

Elisabeth Winkelmeier-Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003865, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja. Das ist aber ausschließlich Sache der Landesregierung Rheinland-Pfalz und von daher hier überhaupt nicht Gegenstand unserer Erörterungen. Jeder muss an seiner Stelle dazu beitragen, dass die Effizienz im Verfahren gewahrt bleibt. An der Stelle sage ich Ihnen: Wenden Sie sich bitte nach Mainz. ({0}) Jeder muss an seiner Stelle etwas beitragen. Unser Gesetzentwurf schlägt jedenfalls eine ganze Reihe von guten Maßnahmen vor, die mehr Effizienz ermöglichen, ohne die Rechte des Angeklagten in der Substanz anzutasten. Sie ermöglichen eine bessere Planung, vermeiden hier und da taktische Schachzüge von Verteidigern, die für den Aspekt der Wahrheitsfindung keinen Mehrwert haben. Wir sorgen jetzt dafür, dass Besetzungsrügen und Befangenheitsanträge nicht mehr so leicht zum Platzen von Terminen führen können. Das bringt die Terminpläne aller Beteiligten letztendlich nämlich durcheinander. Gerade bei Befangenheitsanträgen ist die Erfolgsquote extrem gering, aber der Störfaktor ist sehr groß. Deshalb korrigieren wir das an dieser Stelle, sodass man auch nach einem Befangenheitsantrag weiter verhandeln kann; denn nicht der Befangenheitsantrag macht befangen, sondern ein Befangenheitsgrund, und dieser stellt sich in aller Regel als nicht vorhanden heraus. Wo das Risiko eingegangen wird und sich Befangenheit hinterher herausstellt, muss der Part dieses Prozesses natürlich wiederholt werden. Wir setzen zugleich Anreize, Beweisanträge frühzeitiger zu stellen, damit sie nicht als Verschleppungsabsicht dargestellt und zurückgewiesen werden können. Es wird weiter Beigeordnete, das heißt staatlich vorfinanzierte Prozessvertreter, für Nebenkläger geben, aber eben nicht mehr für jeden einen einzelnen, der seine Anträge stellt, sondern bei gleich gerichteten Interessen eben auch einen gemeinsamen. Mit der Unterbrechungsfrist bei Mutterschutz und Elternzeit sorgen wir dafür, dass eine Schwangerschaft nicht mehr unausweichlich dazu führt, dass der Prozess platzt. Das ist doch der Haupteffekt, dass sich dann alle darauf einstellen können, dass an der Stelle der Prozess unterbrochen wird, aber hinterher dort auch wieder aufgegriffen wird. Das ist der Haupteffekt, und auch das wird zur Beschleunigung des Verfahrens führen. Es gibt Maßnahmen zur besseren Aufklärung von Straftaten. Das wichtigste Beispiel ist sicherlich die Ausweitung der DNA-Analyse. Sie ist ein wichtiger Beitrag zur weiteren Aufklärung. Natürlich wird sie alleine nicht reichen, um einen Täter zu überführen, aber sie ist eben ein objektives Mittel und ein guter Ansatz. Das sind wichtige Maßnahmen, auf die die Praxis längst wartet. Insofern freue ich mich auf zügige und konstruktive Beratungen in der nächsten Woche. Vielen Dank. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dr. Jürgen Martens, FDP, ist der nächste Redner. ({0})

Dr. Jürgen Martens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004816, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Entgegen der Bekundung der Koalitionäre sehen wir in diesem Entwurf nicht den großen Wurf, mit dem das Strafverfahren modernisiert und beschleunigt werden könnte. ({0}) Nein, dieser Entwurf verfängt sich viel zu sehr in alten Denkmustern. ({1}) Zunächst: Wenn es darum geht, ein Verfahren zu beschleunigen, geschieht dies wie üblich durch die Reduzierung von Rechten der Angeklagten und schwächt deren Position. Dass hier keine Rechte von Angeklagten eingeschränkt werden sollen, ist unzutreffend. Die Befangenheitsablehnung wird erschwert, und es wird dem Angeklagten zugemutet, bis zu zwei Wochen mit einem Richter zu verhandeln, den er für befangen hält. Anders als Frau Winkelmeier-Becker gesagt hat, kommt es dabei nicht auf das Vorliegen von Befangenheitsgründen an, sondern nur auf die nachvollziehbare Besorgnis der Befangenheit aufseiten des Angeklagten. Das ist ein feiner, aber sehr wesentlicher Unterschied, auf den es hier ankommt, meine Damen und Herren. ({2}) Beweisanträge erfordern zukünftig einen anderen Begründungsaufwand, und ihre Zurückweisung mit dem Diktum, sie wären in Verschleppungsabsicht gestellt worden, berührt den Kernbereich des Strafrechts, die Verteidigung. Anders als es hier gesagt worden ist, können nicht nur Verteidiger von diesem Instrument der Zurückweisung missbräuchlich Gebrauch machen, sondern auch Gerichte. Denn wer sagt, dass nur Verteidiger missbräuchlich handeln könnten? Es könnten auch Gerichte sein. Dann das Rechtsmittel zu versagen und zu sagen: „Ihr könnt keine Revision hiergegen einlegen“, das ist schon ein starkes Stück, meine Damen und Herren, und nicht bloß eine einfache Verbesserung des Strafverfahrens. ({3}) Sie loben sich für mutige Schritte, meine Damen und Herren, bei der StPO-Reform; aber die wirklichen Chancen haben Sie nicht gesehen und ergreifen sie nicht, etwa bei der Frage der Digitalisierung. Sie sagen: „Ja, wir wollen eine Videoaufzeichnung von Zeugenvernehmungen“, und richten jetzt eine Expertenkommission ein, die prüfen soll, ob wir vielleicht auch Hauptverhandlungen mit Videografie aufzeichnen können. Welchen Erkenntnisbedarf haben Sie denn hier noch, um festzustellen, ob eine Videoaufzeichnung die Hauptverhandlung festhalten kann oder nicht? ({4}) Das wird in anderen Ländern längst gemacht. Wenn Sie eine Expertengruppe wollten, warum haben Sie die nicht längst eingesetzt? Etwas anderes ist die Einführung der elektronischen Akte. Seit über zehn Jahren – das weiß ich auch aus eigener Erfahrung – verhandeln Bund und Länder über die Schaffung und Einführung einer elektronischen Akte. Sie ist bis heute nicht auf den Weg gebracht worden, und Sie bringen sie auch hier wieder nicht auf den Weg. ({5}) Die elektronische Akte ist so etwas wie der BER der deutschen Justiz, meine Damen und Herren. Zum Schluss: Sie hätten sich durchaus noch etwas Mutigeres vornehmen können, etwa die Sicherung der Unabhängigkeit der Strafverfolgungsorgane bei den Staatsanwaltschaften, indem Sie, wie von uns gefordert, die Weisungsrechte der Justizministerien gegenüber den Staatsanwaltschaften abschaffen. ({6}) Das wäre mal ein mutiger Schritt. Aber wie gesagt: Wir haben unseren Gesetzentwurf hier eingebracht. Es liegt nun an Ihnen, unserem mutigen Entwurf zuzustimmen. Ihrem Entwurf können wir nicht zustimmen. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Axel Müller, CDU/CSU, ist der nächste Redner. ({0})

Axel Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Fünf Punkte in fünf Minuten. Erstens. Vorwegschicken möchte ich, dass ich mehr als 15 Jahre Mitglied von Strafkammern war, und ich glaube, dass ich als Augen- und Zeitzeuge durchaus weiß, wovon ich hier rede. Wie war das denn Anfang der 2000er-Jahre? Die Kammer bestand in der Regel aus drei Mitgliedern. Oftmals nutzten wir den Spielraum des Gesetzes, verhandelten zu zweit. Ein Mitglied pausierte während dieser Zeit, schrieb das Urteil, schaffte uns Freiräume. Verteidiger waren im Interesse ihrer Mandanten ganz überwiegend sehr kooperativ. Konfliktverteidigung kannten wir aus juristischen Fachzeitschriften oder juristischen Seminaren. Die Sitzungen dauerten in der Regel zwei bis drei Tage. Urteile wurden häufig rechtskräftig, da alles akzeptiert wurde, weil es konsensual geregelt wurde. Entsprechend wenig schriftlicher Begründungsaufwand war erforderlich. Zweitens. Wie entwickelte sich das Ganze? Da greife ich jetzt tatsächlich auf die Empirie zurück, Herr Kollege Straetmanns, und zwar auf den Anfang 2018 erschienenen „Strafkammerbericht“ des OLG Celle, dem die Erfahrungen von Landgerichten aus sechs Bundesländern zugrunde liegen und für den über 11 000 Strafverfahren ausgewertet wurden. Die Zahl der Hauptverhandlungstage erhöhte sich auf durchschnittlich mehr als fünf, was wegen der begrenzten Sitzungstermine und der beengten Terminkalender der Verteidiger häufig zu mehrwöchigen oder gar monatelangen Verhandlungen führt. Die obergerichtliche Rechtsprechung reduzierte die Zweierbesetzungsmöglichkeit auf ein Minimum. Im Schnitt sind über elf Zeugen zu vernehmen. Der Anteil der Haftsachen, die beschleunigt und vorrangig zu behandeln sind, beträgt mittlerweile fast 40 Prozent. Entsprechend länger bleiben Nichthaftsachen – das wurde bereits vom Kollegen Seitz angesprochen – liegen. Auch der Kollege Frei hat darauf bereits Bezug genommen. Die Verfahrensdauer hat sich auf nahezu 300 Tage erhöht und damit verdoppelt. Wirtschaftsstrafsachen liegen manchmal jahrelang herum. Zum Teil droht sogar die Verjährung. Gerade in Haftsachen wird ganz bewusst verzögert. In über 10 Prozent der Verfahren werden Befangenheitsanträge und Beweisanträge missbräuchlich gestellt oder Besetzungsrügen erhoben, die gleich zu Beginn eines Prozesses zu einer vollständigen Blockade der Strafkammer führen und den Fahrplan des Gerichts völlig zum Erliegen bringen. Berichte, dass Straftäter die Untersuchungshaft verlassen durften oder mussten, weil die erforderliche Beschleunigung nicht mehr gewährleistet war, häufen sich.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Müller, der Kollege Dr. Martens würde gerne eine Zwischenfrage stellen.

Axel Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte schön.

Dr. Jürgen Martens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004816, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Kollege. – Sie sprachen eben davon, dass 10 Prozent der Befangenheitsanträge in Landgerichtsverfahren missbräuchlich gestellt würden. Wo haben Sie diese Zahl her?

Axel Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aus dem „Strafkammerbericht“ des OLG Celle.

Dr. Jürgen Martens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004816, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Und das erstreckt sich auf alle Landgerichte und auf welchen Zeitraum?

Axel Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es wurden in sechs Bundesländern insgesamt 11 000 Strafkammerverfahren ausgewertet.

Dr. Jürgen Martens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004816, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. ({0})

Axel Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Angesichts dieser Entwicklung sage ich, dass die Beschleunigung nicht mehr gewährleistet ist. Drittens. Was folgt jetzt daraus? Der Strafprozess und mit ihm ein gutes Stück Rechtsstaat drohen doch zu scheitern. In Berlin wurde 2019 ein Rockerprozess erst nach fünf Jahren beendet. 2017 platzte in Koblenz ein Mammutprozess gegen 26 Rechtsextreme – wir haben es bereits gehört – nach vier Jahren und Millionen von Kosten, weil der vorsitzende Richter die Pensionsgrenze erreicht hatte. Wenn die Frist verlängert worden wäre, prognostiziere ich, hätte man diesen Prozess auch weitertreiben können, so lange, bis auch die Verlängerung zu Ende gegangen wäre. Das ist mir selber kurz vor dem Wechsel in dieses Haus so geschehen, als man einen Prozess so lange in die Länge getrieben hat, dass monatelange Verhandlungen vergeblich waren. An dieser Stelle sei noch kurz auf zwei Oppositionsanträge eingegangen, auf den der FDP und den der Grünen. Videoaufzeichnungen in der Hauptverhandlung – der Herr Staatssekretär hat es angesprochen; ich sehe es kritisch –, die Digitalisierung des Strafprozesses bieten keine wirklichen Lösungen. Der Grund dafür, dass Verfahrensbeteiligte nicht ausgetauscht werden können, ist doch, dass wir einen Unmittelbarkeitsgrundsatz haben, der insbesondere für den Angeklagten sicherstellt, dass die urteilenden Personen von Anfang an bis zum Ende die gleichen sind. Sie sollen auch live dabei sein. Es steht doch die berechtigte Furcht im Raum, dass zugleich die Grundlage geschaffen wird für eine weitere Tatsacheninstanz in der Revision – da bin ich anderer Ansicht als der Kollege Reusch –, obwohl sie ausschließlich darüber wachen soll, dass das Recht eingehalten worden ist und nicht die Schuldfrage klären soll. Viertens. Meine sehr verehrten Damen und Herren, 75 Prozent der Richter und Staatsanwälte sind der Meinung, dass die Verfahren zu lange dauern, häufig verursacht durch Hunderte von Beweisanträgen, die gar nicht selten ins Blaue hinein gestellt werden. Mit dieser Ansicht steht diese Personengruppe nicht allein. 88 Prozent der Bevölkerung teilt die Ansicht. Der NSU-Prozess hat über fünf Jahre gedauert. Die Kollegin Högl hat bereits gesagt, zu welchem Problem es aufgrund der Nebenklagen gekommen ist. Ich sage nur: Was bisher geschehen ist, reicht nicht. Wo dient die Möglichkeit, Schadensersatzgrundlagen zu schaffen, oder gar die Möglichkeit, Strafabschläge zu machen, den Opfern? Was folgt – fünftes und letztens – daraus? Die gesetzlichen Rahmenbedingungen für den Strafprozess müssen so verändert werden, wie es der Gesetzentwurf vorsieht. Nicht zuletzt muss eine Möglichkeit bestehen, dass man Straftätern, die als nomadisierende Einbrecherbanden durchs Land ziehen, auf die Schliche kommt. Das zum Thema DNA-Untersuchung, Frau Kollegin Bayram. Mein Fazit: Der Gesetzentwurf ist eine richtig gute Grundlage für die weiteren Beratungen zu einer Reform, die wirklich notwendig ist. Vielen Dank. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dr. Johannes Fechner, SPD, ist der nächste Redner. ({0})

Dr. Johannes Fechner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004270, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tribünen! Deutschland ist eines der sichersten Länder. Das ist auch gut so. Dafür hat die SPD schon in der letzten Wahlperiode sehr viel getan. Das wollen wir mit dem Koalitionspartner auch in dieser Wahlperiode tun, und zwar ohne Beschuldigtenrechte unangemessen einzuschränken, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Zur Bekämpfung der Kriminalität ist für uns eines der wichtigsten Mittel, mehr Personal bei der Polizei und in der Justiz zu schaffen. Die besten Gesetze, die schärfsten Gesetze bringen nichts, wenn wir auf den Polizeirevieren oder in den Gerichten kein Personal haben, das diese Gesetze anwendet. Deshalb sind jetzt die Länder gefragt, die 220 Millionen Euro, die wir als Bund für dieses Personal zur Verfügung stellen, auch abzurufen. Hier sind die Länder wirklich in der Pflicht, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Zu einem modernen und starken Rechtsstaat gehört eine effektive Justiz. Um dies zu erreichen, werden wir mit diesem Gesetz eine Fülle von Maßnahmen beschließen. Wir wollen verhindern, dass Strafprozesse erheblich verzögert werden oder im schlimmsten Fall platzen, und zwar wollen wir den Missbrauch von Beschuldigtenrechten einschränken. Deswegen ist es gut, dass trotz eines Befangenheitsantrags die Hauptverhandlung weitergehen kann. Kollege Thomae, zwei Wochen kann man ohne größere Probleme nachholen. Gerade bei den größeren Strafverfahren mit einer Vielzahl von Nebenklägern – ich denke hier beispielsweise an den Love-Parade-Fall in Duisburg – besteht die Gefahr, dass ein solch großer Prozess dadurch verzögert oder enorm in die Länge gezogen wird, dass es eine Fülle von Nebenklägern mit anwaltlicher Vertretung gibt. Deswegen sage ich: Es ist gerade im Interesse der Opfer, im Interesse eines schnellen Verfahrensabschlusses für alle Beteiligten, dass ein solcher Prozess zügig vorangebracht werden kann. Deswegen wollen wir bei gleichgelagerten Interessen eine Möglichkeit für das Gericht schaffen – wohlgemerkt: eine Möglichkeit bei gleichgelagerten Interessen –, eine anwaltliche Vertretung mehreren Nebenklägern zuzuordnen. Das ist eine sinnvolle Maßnahme, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Ja, wir wollen der Polizei die Möglichkeit geben, auf die Informationen, die man aus DNA-Spuren über Haut, Haarfarbe, Augenfarbe und Alter gewinnen kann, zuzugreifen. Dann nämlich kann die Polizei ihre Ermittlungen konzentrieren und sie hat so viel bessere Möglichkeiten, den Täter zu überführen. Die Wissenschaft ist so weit, dass sie mit prozentgenauer Wahrscheinlichkeit sagen kann, ob ein solches Merkmal vorliegt oder nicht. Das ist der entscheidende Vorteil dieses genetischen Phantombilds im Vergleich zum gezeichneten Phantombild, das oft auf nicht immer zuverlässigen Zeugenaussagen beruht. Deswegen hat das nichts mit Rassismus oder Racial Profiling zu tun, sondern hier stützen wir die Wahrheitsfindung. Die Wahrheitsfindung geht hier für uns vor. Deswegen ist das eine wichtige Maßnahme, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Und schließlich werden wir bei Sexualstraftaten die Verurteilung der Täter vereinfachen; denn heute ist es oft so, dass ein Opfer einer Sexualstraftat – in der Regel eine Frau – die Strafanzeige stellt, danach leider allzu oft vom Täter unter Druck gesetzt wird und im Strafprozess keine Aussage mehr macht. Hier sorgen wir dafür, dass mit Zustimmung des Opfers zum Zeitpunkt der Strafanzeige eine Videoaufnahme zwingend erstellt werden muss und dass diese dann bei Zustimmung des Opfers in der Hauptverhandlung die Zeugenaussage ersetzen kann. Das wird dazu führen – das bekommen wir als Rückmeldung aus Wissenschaft und Praxis –, dass Sexualstraftäter häufiger verurteilt werden können. Es schützt auch das Opfer vor der schlimmen Situation, über diese schlimme Tat nochmals im Prozess aussagen zu müssen. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, dieser Gesetzentwurf enthält viele wichtige Ziele. Ein Punkt fehlt uns: das ist die audiovisuelle Aufnahme der Hauptverhandlung. Es gibt viele gute Gründe, dass wir diese aufnehmen. Wir werden die Gesetzesberatungen nutzen, um dieses Thema weiter voranzutreiben. Vielen Dank. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit diesem Gesetzentwurf lösen wir ein zentrales Versprechen ein, Strafverfahren effizienter zu gestalten und zu beschleunigen, aber gleichzeitig weiterhin die Aufklärung von Straftaten zu ermöglichen und zur Wahrheitsfindung beizutragen, um damit das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in den Rechtsstaat zu festigen. Dieser Gesetzentwurf ist Teil unseres Pakts für den Rechtsstaat. Wir sagen, dass wir auf der einen Seite durch eine Mehrung von Stellen bei Polizei, Justiz und Staatsanwaltschaften die Möglichkeit schaffen, dass die Justiz besser und beschleunigter arbeitet. Auf der anderen Seite brauchen wir dazu auch eine notwendige Reform bei den Verfahren. Ich möchte anfangen mit der Reform der Telekommunikationsüberwachung. Wir haben vor zwei Jahren gesagt, dass der Einbruch in ein Privathaus nicht irgendeine Bagatelle ist, sondern es ist ein Verbrechen, weil es die Menschen in ihrem Kernbereich, in ihrer Würde und in ihrem Schutzanspruch berührt. Aber deswegen müssen wir auch den Strafverfolgungsbehörden die entsprechenden Befugnisse geben. Dazu gehört auch, Telekommunikationsüberwachung durchzuführen. Das führen wir jetzt ein. Das führt zu einer weiteren verstärkten Aufklärung und zu einem Rückgang von Wohnungseinbruchsdelikten, meine Damen und Herren. ({0}) Wir werden auch die Möglichkeit der DNA-Analyse auf die Merkmale Augenfarbe, Haarfarbe und Alter erweitern. Bislang war sie nur für das Merkmal des Geschlechts möglich. Ich glaube, dass all die Vorwürfe, die hier kamen, im Ergebnis nicht durchdringen können. Alle Merkmale, die wir jetzt aufnehmen, sind auch die Merkmale, die gegebenenfalls ein Zeuge durch den Augenschein der Polizei mitteilen könnte, nämlich die Frage: Handelt es sich um einen Mann oder eine Frau? Wie alt ist der Täter ungefähr? Welche Augenfarbe, welche Haarfarbe, welche Hautfarbe hat er? Da geht es nicht um irgendwelche Diskriminierungen, sondern es geht um die Eingrenzung des möglichen Täterkreises. Damit ist das eine Handhabe für Polizei und Staatsanwaltschaften und ein Beitrag zur Wahrheitsfindung und zur Beschleunigung der Aufklärung eines Verbrechens. Meine Damen und Herren, dagegen kann man nichts haben. Das ist wichtig und notwendig. ({1}) Dann möchte ich über die Frage der Beweisanträge sprechen. Wir schaffen mit dem § 244 StPO in der Strafprozessordnung zum ersten Mal eine Legaldefinition von Beweisanträgen. Bislang gab es dazu nur die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. Wer sich diesen Entwurf genau ansieht, stellt fest, dass das Beweisantragsrecht nicht eingeschränkt wird. Es geht nur darum, dass wir verhindern wollen, dass das Beweisantragsrecht missbraucht wird. Konfliktverteidigung ist wichtig. Es ist auch ein Teil der Strategie von Strafverteidigern. Aber die Grenze muss doch da liegen, wo es nicht mehr um die Wahrheitsfindung geht, sondern darum, den Prozess insgesamt zu verunmöglichen. Es gibt doch einen Anspruch des Staates, den Strafprozess zur Wahrheitsfindung, zur Verurteilung oder zum Freispruch in einer angemessenen Zeit durchzuführen. Das ist der Sinn und Zweck dieser Vorschrift. Das hat mit der Einschränkung von Verteidigungsrechten nichts zu tun. ({2}) Genauso ist es auch mit den Vorschriften zur Befangenheit und zur Besetzungsrüge. Wenn die Besetzungsrüge vor Eintritt in die Hauptverhandlung erfolgt, dann herrscht Klarheit. Das ist besser, als wenn man den Prozess beginnt und gleich wieder unterbrechen muss. Das kostet nämlich wertvolle Ressourcen. Das ist auch der Grund, warum wir das machen. Es geht hier vor allen Dingen darum, dass wir die großen Verfahren strukturierter abhandeln wollen; denn die großen Verfahren binden viel Personal, welches dann oftmals für die Verfahren wegen kleinerer Delikte fehlt, wo es darum geht, innerhalb von wenigen Tagen und Wochen zu einem Urteil zu kommen. Man muss das in der Gesamtschau sehen. Es geht um die kleinen Verfahren und um die großen Verfahren. Wir brauchen insgesamt mehr Ressourcen, damit wir bessere und schnellere Strafverfahren bekommen und das Vertrauen in den Rechtsstaat weiter stärken können. Ein letzter Punkt, der uns sehr wichtig ist, ist der Opferschutz. Wir müssen auch an die Menschen denken, die Opfer eines Verbrechens werden. Gerade im Bereich der Sexualdelikte wollen wir zwei Neuerungen auf den Weg bringen, die den Opfern wirklich helfen. Zum einen gibt es bei jeder Art eines Sexualdelikts die Möglichkeit, eine Nebenklage zu erheben, einen Opferanwalt zu haben. Das ist wichtig für die Stärkung der Rechte im Strafverfahren. Zum anderen schaffen wir durch die Aufzeichnung der Aussage die Möglichkeit, dass sich das Opfer nicht immer wieder mit der Tat konfrontiert sehen muss. Das ist wichtig. Damit machen wir deutlich: Der Opferschutz ist uns wichtig. Lassen Sie uns über alle diese Punkte konstruktiv reden und daraus ein gutes Gesetz machen. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit schließe ich die Aussprache.

Stefan Keuter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004778, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Anfang des Jahres ist ein Arbeitspapier des IWF, des Internationalen Währungsfonds, aufgetaucht, ({0}) abgefasst in deutscher Sprache: Abschaffung des Bargelds, Eindämmung der Bargeldnutzung mit dem Ziel, - ({1}) – Herr Hauer, hören Sie mir erst mal zu; Sie dürfen gleich reden. – ({2}) – Bargeld einzuschränken, um Negativzinsen an die Endverbraucher weiterzugeben. ({3}) Unsere Große Anfrage wurde von der Bundesregierung beantwortet, und ich kann sagen: Die Antwort war dünner als Motorenöl in der Formel 1. ({4}) Man wiegelte ab. Man sagte: Och, alles nicht so schlimm, wir halten am Bargeld fest, Bargeld ist gesetzliches Zahlungsmittel. ({5}) Die Fakten sind aber: Deutschland ist viertgrößter Anteilseigner im IWF und hat ein Stimmrecht von über 5 Prozent bei 189 Mitgliedern, also ein Schwergewicht. Ich halte das für Lippenbekenntnisse. Schauen wir uns die Lage in Deutschland an: 500-Euro-Scheine werden nicht mehr ausgegeben. ({6}) Wir arbeiten im Finanzausschuss derzeit an der Umsetzung einer EU-Richtlinie für nächstes Jahr, nach der anonyme Edelmetallkäufe über 2 000 Euro verboten sein sollen, ({7}) ebenso die anonyme Zahlung mit Bargeld über 5 000 Euro. Außerdem werden Kunst- und Antiquitätenhändler und Auktionatoren verpflichtet, weitreichende Aufzeichnungen über ihre Kunden zu machen, die Bargeld nutzen. ({8}) Bargeld ist nach wie vor gesetzliches Zahlungsmittel, und wir hoffen, dass das so bleibt. Aber versuchen Sie einmal, Ihre GEZ-Gebühren oder Ihre Steuerschulden mit Bargeld zu bezahlen. ({9}) Ich sage Ihnen: Sie werden das Geld nicht los. ({10}) Unter dem Vorwand der Geldwäschebekämpfung und der Bekämpfung der Terrorfinanzierung wird der deutsche Bürger unter Generalverdacht gestellt. Das ist mit uns nicht zu machen. ({11}) Was sind die Ziele und Gefahren der Bargeldabschaffung? ({12}) Erstens. Gelebte Freiheit und Datenschutz müssen erhalten bleiben. Wenn Sie heute im Internet einkaufen, folgen Ihnen die Werbeanzeigen über Wochen. ({13}) Der Staat muss nicht alles wissen. Stellen Sie sich einmal vor, Sie zahlen bargeldlos. Dann hat der Staat die Möglichkeit, auf Ihrer Zahlkarte ein Sperrmerkmal zu setzen. ({14}) Die Grünen fordern einen Freitag ohne Fleisch, ({15}) aber stellen Sie sich vor, Sie sind aufgrund der bargeldlosen Bezahlung gar nicht in der Lage, Ihre Fleischkäufe am Freitag durchzuführen. Was technisch möglich ist, wird auch irgendwann gemacht. Es gibt ein hässliches Denkspiel. Stellen Sie sich einmal vor, im Dritten Reich hätte es kein Bargeld gegeben: Welche Personengruppen wären von der sozialen Teilhabe ausgeschlossen gewesen, weil ihnen die Käufe bestimmter Produkte nicht ermöglicht worden wären? ({16}) Das sind Fantasien, die sind schlimmer als George Orwells „1984“. ({17}) Der zweite Punkt. Geldpolitische Maßnahmen sind nicht mehr durchzusetzen, wenn der Bürger Bargeld hat. Die Weitergabe von Negativzinsen an die Endverbraucher ist nicht möglich, Kapitalschnitte und Enteignungen auch nicht. Von daher sagen wir: Bargeld ist gelebte Freiheit. ({18}) Wir haben mit der Bargelddebatte ein sehr heißes Thema in Deutschland angestoßen. ({19}) Seit der Pressekonferenz der AfD Anfang der Woche haben viele Mainstreammedien darüber berichtet. Selbst „Die Welt“ hat gestern einen Artikel gebracht, in dem darüber diskutiert wurde, wie es wäre, 10 000-Euro-Scheine auszugeben, um den deutschen Sparer vor Zwangsenteignungen und Negativzinsen zu schützen. ({20}) Ich denke, wir sind auf einem richtigen Weg. Mit der AfD ist ein Überwachungsstaat nicht zu machen. Liebe Bürger, ich möchte Sie ermuntern: Nutzen Sie weitestgehend Bargeld! – Ich freue mich auf eine schöne Debatte mit Ihnen. Vielen Dank. ({21})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Matthias Hauer, CDU/CSU, ist der nächste Redner. ({0})

Matthias Hauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004292, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir als CDU/CSU stehen zum Bargeld. Menschen sollen selbst entscheiden können, ob sie bar oder bargeldlos bezahlen. Die Freiheit des Bargeldverkehrs ist für uns unantastbar. Hier sind die Positionen ganz klar, ob im Regierungsprogramm der Union oder im Koalitionsvertrag mit der SPD. Auch die Bundesregierung bekennt sich klar zum Bargeld, andere Regierungen tun das auch. Die Bundesbank ist fest überzeugt: Bargeld wird auch in Zukunft seine Gültigkeit behalten. Fazit: Niemand will das Bargeld abschaffen. ({0}) Ich sehe hier nur Finanzpolitiker – es sind jetzt alle hier –, also gehe ich auf Nummer sicher und frage mal: Ist jemand anwesend, der das Bargeld abschaffen möchte? ({1}) – Fehlanzeige! Niemand meldet sich, keiner will das, und jetzt kommt die AfD mit ihrem Gesetzentwurf und will das Bargeld retten. ({2}) Ich frage Sie: Vor wem wollen Sie das Bargeld retten? ({3}) Sie von der AfD führen einen Kampf gegen eingebildete Gefahren. Sie zündeln, Sie machen Menschen Angst, Sie reden ihnen Gefahren ein, um sich dann selbst als Retter darzustellen. ({4}) Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Jeder wird auch künftig mit Bargeld bezahlen können, und das hat überhaupt nichts mit der AfD zu tun. Bargeld ist Datenschutz, Bargeld ist Privatsphäre, Bargeld ist Freiheit – dazu stehen wir fraktionsübergreifend. ({5}) Bereits jetzt ist Bargeld durch unsere Verfassung und durch die Grundrechte geschützt: durch die Eigentumsfreiheit, durch die Vertragsfreiheit, durch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Ihr Gesetzentwurf ist daher schlicht überflüssig. Schlicht ist er auch. ({6}) Wie begründen Sie Ihren Entwurf? Sie befürchten eine Aufweichung der Datenschutz-Grundverordnung zulasten des Datenschutzes. Ernsthaft? Die AfD als Kämpfer für die Datenschutz-Grundverordnung? ({7}) Da haben Sie vor einem Jahr noch ganz anders geredet: Bürokratiemonster, Angriff auf die Meinungsfreiheit, Sie wollten das aussetzen. Heute argumentieren Sie anders als damals, wie es Ihnen argumentativ gerade in den Kram passt. ({8}) Herr Keuter, Sie haben gerade gesagt, der Überwachungsstaat nahe. Gleichzeitig werben Sie als AfD als einzige Fraktion für die Digitalwährung Libra von Facebook. ({9}) Sie rühmen sich, Sie seien sehr aufgeschlossen, gar wohlwollend. Sie wollen damit ausländischen Großkonzernen in diesem Konsortium blind vertrauen. Vor zwei Wochen waren Vertreter von Libra im Digitalausschuss zu Gast. Nicht eine Frage der AfD zum Thema Finanzstabilität. ({10}) Geldwertstabilität, Datenschutz, Verbraucherschutz? Das mussten die anderen Fraktionen hinterfragen. Was hat die AfD gefragt? Ob man künftig seine Steuern in Libra zahlen kann. ({11}) Wie glaubwürdig sind Sie? Sie spielen Retter des Bargelds, um dann – ja – unkritisch eine Digitalwährung herbeizureden, von privaten Akteuren herausgegeben. Das passt alles nicht zusammen. ({12}) Ich komme zum Ende. ({13})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Liebe Kollegen, ich unterbreche die Sitzung.

Katrin Staffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004901, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, es ist nicht ganz einfach, jetzt direkt wieder zur Tagesordnung überzugehen. Wir schicken auf alle Fälle unserem lieben Kollegen die besten Genesungswünsche und Gedanken. Ich versuche, jetzt wieder in die Debatte zu gehen. Wir knüpfen mit der heutigen Debatte nahtlos an die Diskussion an, die wir in der vergangenen Sitzungswoche zum Berufsbildungsmodernisierungsgesetz hatten. Wir haben bei der Verabschiedung des Gesetzes, wie ich finde, sehr wichtige Weichen zur Stärkung der beruflichen Bildung gestellt. Wir wissen natürlich auch, dass die erzielten Erfolge allein nicht ausreichen werden, um die berufliche Bildung wieder attraktiver zu machen. Deswegen möchte ich mit meiner Rede genau da anknüpfen, wo ich mit meiner letzten Rede aufgehört habe, nämlich bei dem Idealbild der Zukunft der beruflichen Bildung und wie ich es sehe. Ich wünsche mir, dass jeder einzelne junge Mensch, der eine Ausbildung aufnimmt, am Ende seiner Ausbildung ganz ehrlich sagen kann: Ja, ich habe für mich persönlich die richtige Entscheidung getroffen. Die Frage, wie jeder Einzelne für sich zu diesem positiven Ja kommen kann, hängt von vielen unterschiedlichen Faktoren ab. Was aber in jedem Fall zutrifft, ist, dass durch die immer stärker digitalisierten Arbeitsprozesse und die Zunahme von Kooperationen zwischen Mensch auf der einen und Maschine auf der anderen Seite ein Faktor von immer entscheidender Bedeutung sein wird, nämlich die Fragen, wie gut es uns gelingt, die berufliche Bildung in der Zukunft auch digital zu gestalten, und wie wir die berufliche Bildung an die Herausforderungen der Digitalisierung anpassen können. In der Enquete-Kommission „Berufliche Bildung in der digitalen Arbeitswelt“ stellen wir uns seit ziemlich genau einem Jahr genau diese Frage, nämlich: Wie gestalten wir die berufliche Ausbildung als ersten wichtigen Schritt auf einer Bildungsreise durch das gesamte Leben? Viele Bereiche der beruflichen Tätigkeiten werden nach und nach digitalisiert. Das erleben wir alle. Dadurch entstehen neue Tätigkeitsfelder, und neue Aufgabenbereiche werden für die Arbeitnehmer immer wichtiger. Deswegen muss es unser Ziel sein, dass wir aus diesen Trends die richtigen Schlüsse ziehen. Insbesondere gilt das für die weitere Gestaltung der beruflichen Ausbildung. Wir müssen anfangen, den Erwerb von digitalen Kompetenzen als ganz natürlichen Teil des Lernens zu verstehen, und die Bildungsangebote an die veränderten Bildungskompetenzanforderungen, die wir in den Betrieben bemerken, anpassen. Nur so können wir erstens in Zukunft junge Menschen davon überzeugen, dass die berufliche Bildung für sie genau das ist, was sie zufrieden und erfolgreich ihren persönlichen Lebensentwurf leben lässt. Zweitens muss man natürlich auch die Betriebe davon überzeugen, dass es für sie ein Gewinn auf allen Ebenen sein kann, wenn sie selbst eine Ausbildung anbieten und ihre zukünftigen Mitarbeiter selbst ausbilden. Insbesondere in drei Bereichen können wir diese Rahmenbedingungen, von denen ich gesprochen habe, verbessern. Der erste Bereich ist die Wissensvermittlung. Der zweite Bereich ist die Organisation der beruflichen Bildung, und natürlich müssen wir drittens auch auf die Lernorte schauen. Ich komme zum ersten Punkt: zur Wissensvermittlung. Wir müssen digitalen Kompetenzen und vor allem dem Umgang mit digitalen Medien ein größeres Gewicht geben. Denn neben den Auszubildenden müssen natürlich auch das Berufsschulpersonal und die betrieblichen Ausbilder fit gemacht werden für die Nutzung von digitalen Werkzeugen, von digitalen Anwendungen und Lehrmitteln. Bei der Organisation der beruflichen Bildung liegt aus meiner Sicht sehr großes Potenzial darin, dass man sehr viel stärker auf die Vielfalt und auf die Chancen beruflicher Karrierewege hinweist. So muss zum Beispiel eines unserer Ziele sein, die vielfältigen Angebote, die man im Bereich der Berufsorientierung hat, also bei der Ausbildungsanbahnung und beim Erfahrungsaustausch, über digitale Plattformen sehr viel stärker und enger miteinander zu verzahnen. In der Ausbildung selbst können wir durch technische Möglichkeiten das ortsunabhängige Lernen verbessern und die Lernorte Betrieb auf der einen Seite und Berufsschule auf der anderen Seite über Ausbildungsinhalte und Projekte besser miteinander vernetzen. Davon profitieren im Umkehrschluss Klein- und Kleinstbetriebe, insbesondere im ländlichen Raum. Was neue Konzepte mit Blick auf die digitale Transformation bewegen können, haben wir, wie ich finde, diese Woche sehr eindrucksvoll sehen können, als die Auszeichnungen für die Digiscouts vergeben worden sind. Das ist ein Programm, wo Auszubildende Digitalisierungspotenzial in ihren eigenen Ausbildungsbetrieben aufdecken und in Eigenregie entsprechende Projekte umsetzen. Man nennt dies Reverse Mentoring. Dadurch wird ermöglicht, dass die Kompetenzen von allen Beschäftigten in den Betrieben eingebunden werden. Ich finde, das ist ein gutes Beispiel dafür, welche Chancen die Digitalisierung für Betriebe, aber insbesondere natürlich auch für die Auszubildenden mit sich bringt. Die Digitalisierung gibt uns viele Werkzeuge an die Hand, damit wir Vorteile für Schüler, für junge Erwachsene und natürlich auch für die Ausbildungsunternehmen schaffen. Das führt mich zu meinem letzten Gedanken und zugleich wieder zurück zum Ausgangspunkt. Mit digitalen Angeboten verbessern wir die Passgenauigkeit zwischen der beruflichen Bildung und den Wünschen, die die Auszubildenden mitbringen. Gleichzeitig werden sie massiv dazu beitragen, dass wir dem seit Jahren verfolgten Ziel hin zu einer Weiterbildungskultur in Deutschland näher kommen und dass alle Menschen an dieser Weiterbildungskultur teilhaben können. Ich persönlich bin davon überzeugt, dass wir es genau so schaffen werden, dass die eingangs beschriebene Vision von einer Zukunft der beruflichen Bildung wahr werden kann, in der die Entscheidung für eine Ausbildung sich für jeden Einzelnen Tag für Tag auszahlt. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Staffler. – Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Nicole Höchst, AfD-Fraktion. ({0})

Nicole Höchst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004753, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Werter Herr Präsident! Werte Kollegen! Auch von unserer Seite gute Genesung an den Kollegen. ({0}) Es ist schwierig, zum „business as usual“ überzugehen, aber wir wollen es trotzdem versuchen. Am Anfang der Enquete-Kommission stand die parteiübergreifende gemeinsame tiefe Überzeugung, dass wir als Gesellschaft mit der Digitalisierung auf einen Umbruch zusteuern, der ebenso gravierend wie einschneidend ist und historisch vergleichbar mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Er ist für die Weiterentwicklung der Wissensgesellschaft ebenso maßgebend und bahnbrechend wie der Buchdruck. Uns als Enquete-Kommission beflügelt die Aussicht, konkrete Handlungsempfehlungen zur Weiterentwicklung der beruflichen Bildung erarbeiten zu können, die den Menschen und der Gesellschaft und damit auch der Wirtschaft helfen, den Umbruch nicht zu erleiden, sondern aktiv zu gestalten. Wenn man die Diskussion über die Digitalisierung angstfrei und ohne Schaum vor dem Mund führen möchte, ist die begriffliche Klärung unumgänglich. Die eine Definition von Digitalisierung, die rein auf die maschinelle Sicht der künstlichen Intelligenz als Gegenpart zum Menschen, also Automatisierung, abstellt, erzeugt verständlicherweise arbeitsmarktlich Abneigung und Angst. Die andere Betrachtungsweise, nämlich die Digitalisierung im Sinne einer erweiterten Intelligenz als Unterstützung jeder Zeit zu beherrschen, eröffnet Gestaltungsräume. Experten kommen zu dem Schluss, dass wir in Deutschland die bisherigen Entwicklungen auf diesem Gebiet weitestgehend verschlafen haben. Der Netzausbau und unser Platz im Ranking der Digitalisierer rechtfertigen beinahe die Bezeichnung Deutschlands als digitales Schwellenland. Was bedeutet Digitalisierung für die berufliche Bildung? Die AfD fühlt sich dem humanistischen Menschenbild verpflichtet ({1}) und sieht weiterhin den Menschen im Mittelpunkt der Wertschöpfung der digitalen Zukunft. Der Zugriff auf Datenräume und Datensammlungen eröffnet dem Menschen neue Möglichkeiten, sich in der Welt zu entfalten. Im privaten Bereich erfolgt dieser Zugriff doch schon, und zwar auf die eigene externe Gehirnfestplatte, auf die Schwarmintelligenz von sozialen Netzwerken und auf das Schwarmgedächtnis von Suchmaschinen, oft virtuos, intuitiv und weitgehend vorurteils- und angstfrei. Hier passiert schon, was Herr Professor Dr. Boes, der Direktor des Bayerischen Forschungsinstituts für Digitale Transformation, in seinen Thesen hoffnungsvoll formulierte. Er sagte: Maschinen verarbeiten Daten, und Menschen machen aus diesen Daten nützliche Informationen und Innovationen. – Er verortet dort die Kernkompetenzen der Zukunft. Es braucht also Domainkompetenz und kommunikative Fachlichkeit, nicht zuletzt um erfolgreich zu vernetzen. Es muss also die berufliche Identität der Menschen neu gedacht und eben auch neu beschrieben werden. Entlang dieser neuen Erfordernisse und Tätigkeitsbeschreibungen in der realen wie in der virtuellen Welt muss die berufliche Bildung innoviert werden. Auch in der beruflichen Bildung darf nicht die Technik den Menschen und das Lernen beherrschen, sondern die Digitalisierung bleibt Mittel zum Zweck und elementares Hilfsmittel. Um es mit den Worten des Bildungsforschers Hattie zu sagen, der diese Erkenntnis bereits 2012 in seiner Metastudie „Visible Learning" formulierte: Auf den Lehrer kommt es an. – Daher betonen wir: Versierte Lehrer und Ausbilder müssen auch zukünftig im Mittelpunkt des Lernprozesses stehen und dürfen nicht grundsätzlich zu Moderatoren von Lernprozessen verkommen. ({2}) Meine Damen und Herren, das Vertrauen in die Politik und in die Gesellschaft muss wieder gestärkt und gefestigt werden. Dass wir die Zukunft gemeinsam gestalten werden, dass wir gemeinsam niemanden zurücklassen wollen, dieses Versprechen an die junge Generation müssen wir leisten. Dabei wollen wir den jungen Menschen aber auch früh vermitteln, dass sie die Kraft, alle Möglichkeiten, aber auch die Pflicht und die Verantwortung für ihre eigenständige Zukunft in sich tragen. Die junge Generation ist der Nukleus der Gesellschaft und gleichzeitig der Keim der Zukunft. Dieser Keim braucht von uns als Gesellschaft und Politik den Platz, den Boden, das Licht und die Luft, um sich zu entwickeln. Ja, und Dünger braucht es auch, aber den passenden. Während führende Digitalisierungsstaaten ihre künftigen Generationen für die Zukunft fitmachen, indem sie sie zu Spitzenreitern gerade auch in den MINT-Fächern machen, geben wir uns in Deutschland alle Mühe, ihnen die richtige politisch-ideologische Haltung zu vermitteln. Meine Damen und Herren, freie demokratische Geister schaffen Innovationen und Fortschritt zum Wohle aller. Ideologisch gefesselte Geister in der Haltungsbox replizieren Stillstand im Schuldkult. ({3}) Dabei ist das Signal ganz klar: Wenn ein Mitarbeiter ganz Elementares – zum Beispiel Rechnen – nicht beherrscht, kann auch ein Betrieb nicht mit ihm als Mitarbeiter rechnen. Die technikoffene Formulierung vieler Ausbildungsformen ist zu begrüßen. Es werden wohl auch vermehrt weitere hybride Ausbildungsformen entstehen. Vergleichbarkeit ist uns wichtig. Überbürokratisierung und Überregulierung sind Hemmnisse, die keiner braucht und Deutschland weiter im internationalen Vergleich zurückfallen lassen. Stichwort „Klein- und Kleinstbetriebe“: Sie sind feste Ankergrößen, die junge Leute an ländliche Regionen binden und ihnen Heimat bieten und erhalten. Vergessen wir nicht: Hier wird ein Großteil der Menschen in unserem Land ausgebildet. Diese Betriebe benötigen gezielt Hilfestellung wie steuerliche Anreize, Bildungsberatung etc. pp. Vieles ist bereits in gutem Gange und hilft, den Wandel erfolgreich zu gestalten. Stichwort „Lehrer, Ausbilder und Berater“: Diesen muss berufliche Fort- und Weiterbildung zur persönlichen Professionalisierung zugänglich sein. Veränderungen müssen schneller als bisher vorangetrieben werden. Berufliche Neuinhalte müssen dort, wo nötig, in schnelleren Neuordnungsverfahren implementiert werden. Ein Monitoring ist von elementarer Bedeutung. Ein beschleunigtes Verfahren könnte zum Beispiel die Implementierung der sogenannten Domainkompetenz in Bezug auf Daten und Informationen analog zu der im Zuge der Kompetenzorientierung eingeführten interkulturellen Kompetenz sein. Letztere hat im Idealfall Eingang in die Lehrpläne und Curricula aller Fächer gefunden und wird von den Lehrkräften fachspezifisch umgesetzt. Dabei hat der Bund die Möglichkeit, in Berufen, in denen er selbst die Rahmenlehrpläne verantwortet, Veränderungen zeitnah und auch fast kostenneutral voranzubringen. Auch hierfür gab es von uns bereits konkrete Vorschläge in der Kommission. ({4}) Der Bund kann zum Leuchtturm für die digitale Bildung werden. Teilnahmsloser Nachtwächter war er lange genug. ({5}) Die AfD plädiert bei aller Digitalisierungseuphorie dafür, die Menschen nicht aus dem Blick zu verlieren. Bei einer Überbetonung der digitalen Lernumgebung kann auch in der Persönlichkeitsentwicklung und neuronalen Vernetzung nach Meinung etlicher Experten einiges schieflaufen. Daher ist es uns wichtig, ein gesundes Mittelmaß zu finden und pädagogisch, methodisch maßvoll vorzugehen. Später lassen sich Fehlentwicklungen nur mühsam korrigieren. Unsere Kinder und unsere Jugendlichen sind keine Versuchskaninchen. Stichwort „Passung“: Jährlich bleibt eine große Anzahl Jugendlicher ohne Ausbildungsplatz, während gleichzeitig eine steigende Anzahl von Ausbildungsplätzen unbesetzt bleibt. Diese Probleme lassen sich sicher nicht durch eine hektische Überbetonung der Digitalisierung als Allheilmittel lösen. Rechtzeitige Berufsberatung und ‑orientierung muss noch besser werden, Attraktivität und Wertschätzung von Arbeit in Ausbildungsberufen müssen deutlich größer werden und erstrebenswerter sein als die Aussicht auf eine Hartz-IV-Karriere. Wir, die AfD, finden mit unseren Vorschlägen, Fragestellungen usw. gutes Gehör in der Kommission ({6}) und sind so bereits massiv an der Gestaltung der Zukunft Deutschlands beteiligt. In diesem Sinne, meine Damen und Herren: Streiten wir über Differenzen, aber arbeiten wir zusammen zum Wohle Deutschlands! Vielen Dank. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Höchst. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Yasmin Fahimi, SPD-Fraktion. ({0})

Yasmin Fahimi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004713, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich darf auch im Namen der SPD-Fraktion die besten Genesungswünsche an den Kollegen Hauer übermitteln. Wir freuen uns, dass er wieder in einem stabilen Zustand zu sein scheint. ({0}) Nirgendwo auf der Welt ist die berufliche Bildung besser aufgestellt als in Deutschland. Es gibt wenige andere Länder, die durchaus vergleichbare, gute Systeme haben; aber nirgendwo ist sie besser aufgestellt. Warum also brauchen wir eine Enquete-Kommission? Die simple Antwort ist: Nichts ist so gut, als dass man es nicht besser machen könnte. Die wirklich relevante Antwort ist: Die Digitalisierung, der Wandel der Arbeitswelt ist für sich genommen noch kein Zukunftsversprechen. Im Gegenteil, Sie macht den Menschen auch Angst: Was ist meine Ausbildung morgen noch wert? Wird es meinen Arbeitsplatz morgen überhaupt noch geben? Wie bewältige ich den verdichteten und entgrenzten Alltag auf Dauer? Das sind Sorgen der Menschen, die wir nicht durch eine Betrachtung theoretischer Substitutionspotenziale mindern. Es sind Sorgen, auf die wir keine technische Antwort geben müssen, sondern die klarmachen, dass die Digitalisierung zuallererst ein sozialer Gestaltungsprozess ist. Ich darf für die Bildungspartei SPD in Anspruch nehmen: Keine Partei in diesem Haus ist für die Beantwortung dieser Frage besser geeignet als die SPD. ({1}) Realisieren wir zunächst einmal: Die berufliche Bildung ist eben nicht nur eine Bereitstellung von Fachkräften. Es geht nicht um die Verwertbarkeit auf dem Arbeitsmarkt. Berufsbildung ist Bildung, und damit geht es natürlich um Kompetenzen und Fertigkeiten; ja, auch um digitale Kompetenzen. Es geht aber vor allem auch darum, Persönlichkeiten zu formen, Eigenständigkeiten zu schaffen, zur Identität beizutragen; es geht um soziale Anerkennung und Öffnung von Perspektiven. Das sind die wahren Ziele der Berufsbildung. Deswegen muss es uns darum gehen, wie wir mehr Sicherheiten schaffen können, gerade auch in Zeiten der Verunsicherung. Das Erfolgsmodell der beruflichen Bildung basiert aus meiner Sicht auf genau drei wesentlichen Essentials, die wir zu erhalten haben: Erstens. Die berufliche Bildung schafft einen Fachkräftemarkt, der unser Produktionsmodell in Deutschland stabil und erfolgreich gemacht hat. Zweitens. Die berufliche Bildung hat vor allem eine soziale Inklusion geschaffen, in der es jedem möglich ist, durch entsprechende Teilhabe und eine Berufsperspektive und vor allem auch durch gute Bezahlung auf Grundlage einer guten Berufsbildung tatsächlich eine Existenzsicherung und eine Perspektive zu schaffen. Damit hat man Anteil am Wohlstand dieses Landes. Drittens. Wir haben einen Ausgleich der Interessen zwischen der öffentlichen Hand und den Sozialpartnern geschaffen, sodass wir auch auf Dauer die Qualität der beruflichen Bildung sichergestellt haben. Manche Debatten – das will ich hier ansprechen – gehen in eine ganz andere Richtung. Da wird über starre Systeme, veraltete Berufsbilder gesprochen. Mich beschleicht das Gefühl, dass einige – ich will es hier so offen ansprechen – durchaus in großer Harmonie zwischen FDP und AfD über die Deregulierung der Berufsbildung reden, natürlich unter dem Mäntelchen der Flexibilisierung. Ich möchte gern einmal wissen, wo weniger Regeln und weniger Vereinbarungen jemals dazu beigetragen haben, Qualität zu sichern. ({2}) Es geht Ihnen in Wahrheit darum, Willkür in Inhalten und Zielen der Berufsbildung sicherzustellen. Sie können sich zwar als Lippenbekenntnis auf die Sozialpartnerschaft beziehen, aber am Ende ist sie Ihnen ein Dorn im Auge. Sie wollen die Sozialpartnerschaft aushebeln. Man will ein Zweiklassensystem in der Berufsbildung einführen ({3}) durch die Verbreitung von zweijährigen Berufsausbildungen und Modularisierung. Damit entwerten Sie am Ende die Ausbildung. ({4}) Aus jungen Erwachsenen, die Anfangsschwierigkeiten haben, Lernbehinderte zu machen, für die wir das Niveau absenken müssen, ist die falsche Antwort. Wir müssen mit ihnen intensiver arbeiten. ({5}) Ich kann, ehrlich gesagt, auch das Gerede über zu viele Abiturienten nicht mehr hören. ({6}) Das ist nicht unser Problem. Statt das als sozialen Erfolg zu feiern, wird so getan, als ob das Abitur heute nichts mehr wert wäre und jedem hinterhergeschmissen würde. ({7}) Nein, unsere junge Generation ist leistungsfähig und leistungsbereit. Mit Ihrem Geschwätz über zu viele Abiturienten, die den Abschluss nicht verdient hätten, unnützen Studienabbrechern, die aus Ihrer Sicht zu doof sind für ein Studium, und Bildungsversagern, die die normale Ausbildung nicht schaffen, schlagen Sie einer ganzen Generation ins Gesicht. ({8}) Die Qualität der Berufsausbildung hängt vor allem von der Frage ab: Schaffen wir genügend Chancen für alle jungen Menschen? Sichern wir Inhalte und gute Rahmenbedingungen und Berufsperspektiven für eine junge Generation? Haben alle eine Chance, ihre Talente zu entdecken und tolle Persönlichkeiten zu werden? Deswegen brauchen wir zusätzliche Anstrengungen und Investitionen und nicht Deregulierung und Entwertung. Wir brauchen also zusätzlich Folgendes: moderne Berufsschulen, ja, aber nicht nur moderne Berufsschulen, die über digitale Techniken verfügen, sondern die insgesamt eine technische Ausstattung haben, um interdisziplinär zu arbeiten, um neue Lernkonzepte auszuprobieren, einen Campus, auf dem man nicht nur Blockunterricht, sondern auch Weiterbildungsbausteine besser verankern kann. Wir brauchen gut ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer und müssen deswegen über die Ausbildung von Berufsschullehrern reden, darüber, wie man einfacher und schneller Berufsschullehrer werden kann, aber mit einer praxisintegrierten Ausbildung, interdisziplinären Lehr- und Lernkulturen. Denn diese Lernkonzepte und die Digitalisierung bieten die Chance, breite Gruppen in ihren unterschiedlichen Talenten und Fähigkeiten anzusprechen. Wir wollen aber auch einen freieren Zugang zu Fort- und Weiterbildung. Wir müssen für mehr Durchlässigkeit sorgen. Deswegen glaube ich, dass wir gut beraten wären, darüber zu sprechen, ob wir nicht ein Gesetz zu einem deutschen Qualifizierungsrahmen brauchen, Credit Points, die von der beruflichen Bildung und der universitären Ausbildung gegenseitig anerkannt werden. Und wir brauchen ein individuelles Bildungs- und Weiterbildungsbudget, damit die Fortbildung tatsächlich zu einem individuellen Gewinn wird, zu der Möglichkeit, seine Berufsperspektive zu gestalten, und nicht allein von der Bereitschaft der Arbeitgeber oder des individuellen Geldbeutels abhängt. ({9}) Wir wollen die Fortbildungsbausteine stärker systematisieren und formalisieren. Der Wert der Berufe ist durch die Herausforderung permanenter Lernschleifen bedroht. Wir müssen den Wert der Bildung erhalten. Jeder muss wissen, was er mit seiner Bildung hat, dass sie eine Perspektive bietet. Deswegen, glaube ich, müssen wir über die Novellierung des Berufsbildungsgesetzes hinaus über ein modernes Ausbildungsgesetz reden, inklusive aller Berufsfachschulen, Fortbildungsfragen und dualer Studiengänge. Zuletzt will ich auch erwähnen: Für diejenigen, die Anfangsschwierigkeiten haben, brauchen wir sozial begleitete duale Berufsvorbereitungen. Wir müssen die Übergangssysteme systematisieren und mit diesen jungen Menschen mehr arbeiten, damit sie einen Einstieg in eine echte Qualifizierung und in eine Berufsperspektive bekommen. Sehr geehrte Damen und Herren, die Berufsbildung wird nicht besser, wenn wir sie in Module kleinhacken; sie wird nicht attraktiver, wenn wir sie als Notnagel für Studienabbrecher anpreisen, und sie wird nicht zukunftsfähiger, wenn wir die Rolle der Sozialpartner zurückdrängen. Die Berufsbildung muss ein eigenständiger und erfolgreicher Bildungsweg bleiben. Sie ist keine Konkurrenz zum Studium. Sie ist nur ein anderer Weg in die Berufswelt. Deswegen ist unsere Aufgabe, mehr zu investieren, für mehr Durchlässigkeit und für mehr Transparenz zu sorgen. Vielen Dank. ({10})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Fahimi. – Nächster Redner ist für die FDP-Fraktion der Kollege Dr. Jens Brandenburg. ({0})

Dr. Jens Brandenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch im Namen meiner Fraktion darf ich dem Kollegen Matthias Hauer die besten Genesungswünsche ausrichten. ({0}) Der Urlaub, der Klempner und das Abendessen sind schnell per Smartphone gebucht. In großen Fabrikhallen erstellen und warten viele Menschen automatisierte, vernetzte Produktionsstraßen. Künstliche Intelligenz berät bei der Kleidungswahl, in Rechtsfragen, bei Finanzanlagen und auch bei ärztlichen Diagnosen. Digitalisierung ist also bereits heute gelebte Realität, und, ja, das verändert auch unsere Arbeitswelt: „Ausgelernt“ gibt es nicht mehr. Schon heute arbeitet jeder zweite junge Mensch bereits bald nach der Ausbildung in einem völlig anderen Beruf. Und, ja, Digitalisierung ist auch eine große Chance auf Fortschritt und Wohlstand. Damit jeder Einzelne diese Chance ergreifen kann, brauchen wir ein Update der beruflichen Bildung. ({1}) Wir werden heute Nachmittag noch über Weiterbildung sprechen; aber drei Punkte möchte ich in dieser Debatte hervorheben. Erstens. Stärken wir endlich die Lehrkräfte und die Berufsschulen. Nur ein Drittel der Berufsschüler glaubt, dass ihre Unterrichtsinhalte gut zu dem passen, was sie in der betrieblichen Praxis erleben. Damit können wir uns doch nicht zufriedengeben. Motivierte und gut ausgebildete Lehrkräfte sind der Schlüssel zum Bildungserfolg. Werben wir also um die Besten für den Schuldienst. ({2}) Bremsen wir sie nicht länger aus. Unterstützen wir sie mit einem Digitalpakt 2.0, mit einer modernen Medienausstattung, mit IT-Kräften an der Schule, die sich um die technische Wartung kümmern, mit pädagogischer Freiheit und praxisnahen Tipps zum Umgang mit dem Datenschutz. Investieren wir in ihre Weiterbildung, erleichtern wir auch Quereinstiege. 20 000 Lehrkräfte an den berufsbildenden Schulen fehlen uns allein in den kommenden zehn Jahren, vor allem in den Metall- und Elektroberufen. Stellen wir uns dieser Herausforderung, und nutzen wir die Gelegenheit, sie bereits in ihrer Ausbildung auf die digitale Lehre vorzubereiten. ({3}) Machen wir berufsbildende Schulen nicht zu Anwendern, sondern zu Innovationslaboren der Digitalisierung. Zweitens. Kümmern wir uns besser um die mehr als 2 Millionen Menschen meiner Generation ohne Berufsabschluss. Ich sage hier offen: Ich mache mir weniger Sorgen um die vielen kreativen IT-Freelancer, die auch ohne formalen Abschluss ihren Weg gehen. Sorgen mache ich mir insbesondere um diejenigen, die ohne anerkannte Qualifikation in einer Krise die Ersten sind, die auf der Straße stehen. Mangelnde Bildungschancen sind doch das wahre Armutsproblem in Deutschland. Ändern wir das! Ermöglichen wir längere Ausbildungszeiten wie in Österreich. Vereinfachen wir auch die Anerkennung informell erworbener Kompetenzen wie in der Schweiz. Fördern wir sie direkt im betrieblichen Kontext, da, wo die Fachkräfte gesucht werden. Erhöhen wir ihre Mobilität durch Azubitickets und auch Wohnheime am passenden Ausbildungsplatz. ({4}) Ermöglichen wir ihnen Teilqualifikationen, auch als kleine Schritte zum Erfolg. Machen wir die individuelle Förderung dieser Menschen endlich zum Schwerpunktthema dieses Hauses. ({5}) Drittens. Die berufliche Bildung braucht viel mehr Mut zur Innovation. Die Herausforderungen von morgen werden wir nicht mit den Denkschablonen von gestern bewältigen können. Interaktive Lernfabriken sind ein Beispiel moderner Lernformen. Aber das ist nicht unbedingt die Zukunft. Das ist Industrie 3.0, Automatisierung. Das müsste seit Jahren längst flächendeckend in jeder gewerblich-technischen Berufsschule zur Standardausstattung gehören. Die Herausforderung der Gegenwart ist doch vielmehr die digitale Kommunikation dieser Anlagen mit der Außenwelt, also Industrie 4.0. Das gehört heute in die Schulen. ({6}) Frau Karliczek bzw. vertretungsweise Herr Meister, schaffen Sie mehr Freiraum für Macher und neues Denken in der beruflichen Bildung! Bauen Sie InnoVET zu einer echten Exzellenzinitiative für berufliche Bildung aus, zu einem großen Wettbewerb um die besten Ideen, mit einem großen öffentlichen Interesse ({7}) und – jetzt kommt der Unterschied – mit einer finanziellen Ausstattung, liebe CDU, jenseits der Portokasse. ({8}) Haben Sie endlich den Mut zu mehr Innovation und zu einem Update der beruflichen Bildung. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Brandenburg. – Als nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke die Kollegin Dr. Birke Bull-Bischoff. ({0})

Dr. Birke Bull-Bischoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004688, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Damen und Herren! Ich bin Pädagogin und Bildungspolitikerin. Deswegen ist für mich die Frage, was junge Leute brauchen, um in der digitalisierten Welt und eben nicht nur in der Arbeitswelt selbstbestimmt leben und arbeiten zu können, was sie brauchen, damit sie zu kritischen Geistern und mündigen Bürgern werden, immer ganz zentral. Drei Dinge sind uns wichtig. Zum Ersten. Es ist von sozialer Kompetenz die Rede. Das bedeutet, in der Lage zu sein, Konflikte gewaltfrei zu lösen, Empathie gegenüber anderen Kulturen, anderen Religionen und sozialen Prägungen zu entwickeln. Der Arbeitsmarkt wird international, und dafür braucht man interkulturelle Kompetenz. Das bedeutet, in der Lage zu sein, in Kooperationen statt in Konkurrenz zu arbeiten, Wissen zu teilen, um es zu vermehren. ({0}) Letztlich bedeutet das auch, in der Lage zu sein, mit Widersprüchlichkeit umzugehen und halbwegs immun gegenüber gar zu simplen Antworten zu werden. ({1}) Zum Zweiten. Ein wichtiger Eckpfeiler ist für uns die digitale Mündigkeit. Berufliche Bildung darf nicht darauf reduziert werden, dass man Software, die in Unternehmen gebraucht wird, bedienen kann, sondern es geht darum, hinter digitale Kulissen zu schauen und zu wissen, was mit den Daten – auch mit den eigenen – passiert. Es geht auch um einen kritischen Umgang mit Technik, ja. Es geht darum, zu wissen, was sie mit uns macht, wie sie die Gesellschaft verändert. Der Mensch muss die Regie über die Technik haben – nicht umgekehrt. ({2}) Damit bin ich bei einem dritten Punkt. Wir finden, junge Leute sollten in der Lage sein, das Arbeiten und Wirtschaften der Zukunft im wahrsten Sinne des Wortes nachhaltig zu verändern. Wenn man davon ausgeht, dass berufliche Bildung ein Schlüssel dafür ist, dann heißt das, beispielsweise dafür zu sorgen, dass man mit digitalen Mitteln den Energieverbrauch drosselt, dass Ressourcen geschont werden. Man muss diese Dinge kritisch im Blick behalten oder zumindest aufmerksam dafür sein. Man muss sich fragen: Woher kommen die Produkte oder die Rohstoffe? Wie sind die Arbeitsverhältnisse dort? Oder: Wie kann man Anreize schaffen, um ebendiese Arbeit zu verbessern? Wie kann man mit digitalen Produktionsmitteln beispielsweise den Lebenszyklus von Produkten verlängern, statt Anreize für ständigen und wiederkehrenden Neukauf zu setzen oder Reparatur zu verunmöglichen? ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Botschaft ist: Berufliche Bildung hat für uns nicht oder wenigstens nicht nur den Zweck, für den Arbeitsmarkt nützlich zu werden. Es geht immer noch um Bildung. Da bin ich sehr nahe bei Yasmin Fahimi. Es geht darum, kritische Geister und mündige Bürger auszubilden, die Arbeit und Wirtschaft von heute verändern können. ({4}) Ich finde, wir haben da einiges zuwege gebracht. Wir werden uns auf dem nächsten Stück des Weges engagieren, um Rahmenbedingungen bzw. Vorschläge zu diskutieren, um jenen Menschen, die ansonsten sehr viele Misserfolge in ihrer Bildungsbiografie hatten, ein Stück weiterzuhelfen und ihnen eine anerkannte Berufsausbildung zu sichern. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Beate Walter-Rosenheimer, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Beate Walter-Rosenheimer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004221, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke, Herr Präsident. – Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Auch vonseiten der Grünenbundestagsfraktion natürlich von Herzen gute Besserung an unseren Kollegen Matthias Hauer. Wir haben das jetzt oft gehört; wir möchten das aber auch aussprechen, weil wir nicht einfach so im Tagesablauf weitermachen wollen. ({0}) Lassen Sie mich kurz zurückschauen. Im September 2018 wurde unsere Enquete „Berufliche Bildung in der digitalen Arbeitswelt“ eingesetzt. Wir Grüne sehen die absolute Notwendigkeit, uns mit diesem Thema intensiv und fachlich hochwertig zu beschäftigen. Digitalisierung verändert die Welt, die Gesellschaft sowie Arbeit und Ausbildung. Ganz viele Herausforderungen kommen auf uns zu – auch auf uns in der Politik. Wir finden es dringend und zwingend notwendig, diese Herausforderungen nicht nur zu betrachten, Probleme zu erkennen und Chancen zu benennen, sondern Antworten darauf auch zügig in politisches Handeln umzusetzen. Ich glaube, da sind wir uns alle einig. ({1}) Wir laufen sonst am Ende nämlich Gefahr, dass die Gesellschaft und die Digitalisierung uns überholen. Wir wollen also diese Auseinandersetzungen mit den Anforderungen einer neuen, digitalisierten Welt sehr gern aufnehmen. Uns Grünen sind Öffentlichkeit und Beteiligung dabei besonders wichtig. Wir Grüne haben an eine Enquete, die sich so zukunftsweisenden und gesellschaftlich relevanten Themen widmet, die Erwartung, dass sie in öffentlichen Sitzungen tagt und alle Interessierten daran teilhaben können. Für uns kann dieser Prozess noch sehr viel offener sein. Wir möchten eine breite Beteiligung von Azubis, Berufsschullehrerinnen und ‑lehrern, Ausbilderinnen und Ausbildern, von den Menschen, die in der Praxis stehen und ganz viel zu diesem Thema zu sagen haben. ({2}) Diese Menschen wollen wir mit ins Boot holen; denn sie wissen, was sie brauchen. Sie sind Expertinnen und Experten auf ihren Gebieten. ({3}) Wir würden uns in einem Themenfeld, bei dem es genau darum geht, Beteiligung zu ermöglichen, ja eine riesige Chance verbauen, wenn wir da zu zögerlich wären. Zum Thema Inklusion. Das ist für uns das nächste große Thema, das wir in dieser Enquete behandeln wollen. Inklusion bedeutet auch eine große Chance. Dieses Thema wollen wir in der Enquete-Kommission stark machen. Inklusion ist für uns ein breitgefächerter Begriff, der weit in die Gesellschaft hineinreicht. Es geht um Menschen mit Einschränkungen, ja, um kranke Menschen, es geht um Menschen mit Migrationshintergrund, um Menschen, die sich mit dem Lernen schwertun, es geht um alle, die aus irgendwelchen Gründen mehr Unterstützung und Augenmerk brauchen als andere. Diese Menschen wollen wir in den Mittelpunkt stellen. ({4}) Betroffen sind also sehr viele Menschen. Wir wollen es nicht dem Zufall überlassen, ob sie von der Digitalisierung profitieren oder nicht. Digitalisierung kann hier viel Nutzen bringen, aber sie kann auch schaden. Wir wollen und müssen die Gelegenheit beim Schopf packen und wirklich substanzielle Verbesserungen in der Ausbildungs- und Weiterbildungswelt erreichen. ({5}) Nächstes Thema: Geschlechtergerechtigkeit. Dabei geht es uns um die Frage, ob Männer und Frauen, Jungen und Mädchen gleichermaßen von den Möglichkeiten der Digitalisierung profitieren. Wenn sie das nicht tun, stellt sich die Frage, wie wir gegensteuern können. All diese Themen haben wir Grüne vorrangig auf dem Schirm, weil es Schlüsselthemen bei der Ausgestaltung der Digitalisierung sind. Wenn am Ende, Herr Vorsitzender Kaufmann, nichts Modernes, Zukunftsweisendes herauskäme, läge der Fehler ja quasi schon im Anfang und im System, weil wir Relevantes übersehen, nicht eingespeist oder einfach weggelassen hätten. Wir wollen ja keinen Kuchen ohne Mehl backen. Die gute Nachricht ist deswegen: Wir haben noch zwei Jahre Zeit, auch das Thema Inklusion so richtig in den Mittelpunkt zu stellen. ({6}) Wir haben noch viel vor. Im zweiten Teil der Enquete steht Weiterbildung ganz oben auf der Agenda, und das ist gut so. Ich freue mich sehr auf die Beratungen. Lebenslanges Lernen, Herr Kaufmann, ist das Thema unserer Zeit. Wir wissen es ja alle: Kaum ein Auszubildender, der heute in einem Job anfängt, wird in 30 Jahren noch am selben Ort dasselbe tun. Er unterscheidet sich darin stark von den vorangegangenen Generationen. Für die Herausforderungen der neuen, digitalisierten Arbeitswelt ist die berufliche Weiterbildung ein Muss. Sie hat heute noch lange nicht den Stellenwert, den sie braucht. Für die Gesellschaft als Ganzes muss Weiterbildung genauso wichtig werden wie Schulbildung, Ausbildung oder Studium. ({7}) Aber noch zu wenige Menschen machen eine berufliche Weiterbildung. Wir wollen viel mehr Menschen dafür begeistern. Wir Grüne wollen, dass auch auf diesem Gebiet mehr Gerechtigkeit entsteht; denn heute bildet sich nur jeder dritte Berufstätige weiter, und das sind oft diejenigen, die ohnehin gut qualifiziert sind oder gut verdienen. Zu viele Menschen sind immer noch ausgeschlossen: die einen, weil sie Weiterbildung noch nicht als Investition in ihre berufliche Zukunft sehen. Sie brauchen mehr Information und mehr Unterstützung, um die Chancen, die sich ihnen auftun, zu erkennen. Die anderen sind ausgeschlossen, weil sie es sich schlicht und einfach nicht leisten können. Die Teilhabe an Weiterbildung ist definitiv auch eine soziale Frage, liebe Kollegen und Kolleginnen. ({8}) Darauf müssen und wollen wir in der verbleibenden Zeit Antworten finden. Ich bin mir sicher: Wir werden diese Zeit gut nutzen. Ich freue mich auf die weitere gemeinsame Zusammenarbeit auch mit den anderen Obleuten, Frau Staffler. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lieber Herr Vorsitzender, ich finde, wir haben eine gute, wertschätzende Zusammenarbeit; auch das möchte ich an dieser Stelle sagen. Und ich möchte noch großen Dank an unsere Sachverständigen aussprechen, die uns immer mit ganz viel Wissen, Rat und Tat zur Seite stehen. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Der gerade mehrfach angesprochene Kollege Dr. Stefan Kaufmann, CDU/CSU-Fraktion, hat nun das Wort. ({0})

Dr. Stefan Kaufmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004065, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die fortschreitende digitale Transformation bringt neue Geschäftsfelder, neue Wertschöpfungsprozesse, neue Produkte, Produktionsabläufe und natürlich auch neue Berufsfelder hervor. Damit verändern sich auch die Anforderungen an die Qualifikationen und Kompetenzen in fast allen Berufen mit den entsprechenden Auswirkungen auf die Aus- und Weiterbildung; davon haben wir schon hinreichend gehört. Mit der Enquete-Kommission, über die wir heute sprechen und die wir im Koalitionsvertrag vereinbart hatten, wollen wir die genannten Veränderungen verstehen, und wir wollen Handlungsempfehlungen erarbeiten. Wir wollen konkrete Vorschläge machen, damit wir fit sind für eine sich immer schneller verändernde Arbeitswelt. Seit Sommer letzten Jahres arbeiten wir intensiv daran, im Plenum, mit Expertenanhörungen, mit Unternehmensbesuchen und in Projektgruppen. Welche Stärken des Systems können weiter ausgebaut werden, und welche Zugangshürden müssen abgebaut werden? Was muss an unseren beruflichen Schulen passieren, was in der Lehrerausbildung? Wie muss Berufsorientierung aussehen? Wie gehen wir mit nonformalen Kompetenzen um, wie mit jungen Menschen ohne Abschluss? Auch das ist angesprochen worden, und das sind nur einige der Fragen, deren Beantwortung wir uns vorgenommen haben und deren Beantwortung uns aufgetragen ist. Die Handlungsempfehlungen richten sich dann am Ende nicht nur an die Politik, an alle politischen Ebenen, sondern vor allem auch an die Stakeholder der beruflichen Bildung, also an die Kammern und Gewerkschaften oder an die Betriebe und Weiterbildungsträger. Frau Kollegin Walter-Rosenheimer, als Vorsitzender der Enquete-Kommission freue ich mich, dass es uns in den zurückliegenden eineinhalb Jahren gelungen ist, in dieser Kommission eine Arbeitsatmosphäre herzustellen, die durch gute Zusammenarbeit und konstruktive Sacharbeit geprägt ist. Das gilt für die Kolleginnen und Kollegen hier im Hause und für unsere Sachverständigen gleichermaßen. Meine Damen und Herren, das ist eine ganz wichtige Voraussetzung dafür, dass wir am Ende zu guten Ergebnissen kommen, die von möglichst vielen dann auch mitgetragen werden. Deshalb an dieser Stelle meinen ganz herzlichen Dank an alle Mitglieder der Enquete-Kommission! ({0}) Die Arbeit der Kommission in den letzten Monaten zeigt uns: Wir müssen noch größere Anstrengungen unternehmen, um die Herausforderungen einer digitalen Arbeitswelt zu meistern und um die im Einsetzungsbeschluss geforderte Gleichwertigkeit der beruflichen Bildung sowie die Steigerung der Attraktivität zu erreichen. Ein Meilenstein hierbei ist sicherlich – Frau Kollegin Staffler hat es angesprochen – das Berufsbildungsmodernisierungsgesetz, das wir in der letzten Sitzungswoche verabschiedet haben. Auch das Aufstiegs-BAföG, das wir noch in diesem Jahr beschließen wollen, und unser Vorschlag für ein InnoVET-Programm sind ganz wichtige Signale zur Stärkung der Berufsbildung in Deutschland. Die vorgesehenen Leistungsverbesserungen machen berufliche Aufstiegsfortbildungen für unsere Fach- und Führungskräfte von morgen so attraktiv wie nie zuvor. Für diese Verbesserungen wollen wir von Bundesseite 350 Millionen Euro zusätzlich noch in dieser Legislaturperiode einplanen. Damit investieren wir so viel Geld in die höher qualifizierende Berufsausbildung wie noch nie, und das ist auch gut so, meine Damen und Herren. ({1}) Doch andere Herausforderungen für die berufliche Bildung bleiben. Die Situation in Deutschland ist nach wie vor durch Passungsprobleme am Lehrstellenmarkt gekennzeichnet. Die Betriebe haben zunehmend mit Besetzungsproblemen zu kämpfen. Die Quote der Ausbildungsbetriebe ist rückläufig. Sie lag lange bei 23 Prozent, ist jetzt aber spürbar unter die 20-Prozent-Marke gesunken. Diese Rückgänge sind vor allem auf Verluste im kleinstbetrieblichen Bereich zurückzuführen. Insgesamt – auch davon haben wir schon gehört – blutet unser duales System an vielen Stellen aus. Außerdem haben wir Erkenntnisse sammeln können, dass das duale Ausbildungssystem in der VUCA-Welt nur noch bedingt zu funktionieren scheint. Trotz aller Bestrebungen der Sozialpartner, die Ausbildungsordnungen an den rasanten Wandel anzupassen: Seit 2009 sind insgesamt 132 Ausbildungsberufe neu geordnet oder modernisiert worden. Allein 2018 sind 25 neue oder modernisierte Ausbildungsberufe in Kraft gesetzt worden, die natürlich auch die Digitalisierung der Arbeitswelt in den Blick nehmen. Doch bei den WorldSkills, der Weltmeisterschaft der Berufe in Kasan dieses Jahr, gab es zwei durch digitale Skills geprägte Kompetenzfelder in der offiziellen Wertung, in denen Deutschland nicht einmal angetreten war, und bei den sogenannten Future Skills waren wir in 23 von 25 Kategorien gar nicht erst vertreten. Das, meine liebe Kolleginnen und Kollegen, sollte uns schon zu denken geben. Was also ist zu tun? Wie gehen wir mit disruptiven Entwicklungen, wie gehen wir mit neuen Arbeitswelten um? Passen unsere herkömmlichen Berufsbilder noch? Das sind die Fragen, die uns beschäftigen. Oder brauchen wir ganz neue Ausbildungskonzepte, zum Beispiel an fachlich spezialisierten überregionalen Ausbildungszentren? Denn können zukünftig an jeder Berufsschule und für jedes Kompetenzfeld die nötigen Fachlehrerinnen und Fachlehrer überhaupt noch vorgehalten werden? Unser Ziel muss ja sein, möglichst vielen jungen Menschen aus möglichst vielen Betrieben hochwertige Qualifikationsangebote zu machen, und das flächendeckend. Deshalb prüfen wir auch das Ausrollen neuer sogenannter hybrider Qualifizierungswege, also eine Verzahnung beruflicher und akademischer Qualifikationen, wie die studienintegrierende Ausbildung oder auch das triale Studium im Handwerk, also ein Gesellenabschluss in einem anerkannten Ausbildungsberuf parallel zu einem Bachelorabschluss an einer Hochschule. Der Unterschied zum dualem Studium: Wer trial studiert, erwirbt zusätzlich noch einen Meisterabschluss. Doch ungeachtet dieser hybriden oder integrierenden Ausbildungen an der Schnittstelle von Lehre und Studium gilt natürlich auch zukünftig: Eine exzellente und solide Ausbildung im dualen System ist ein wesentlicher Garant dafür, dass Fachkräfte auch in Zukunft mit der digitalen Transformation Schritt halten können. Meine Damen und Herren, wir haben uns viel vorgenommen in der Kommission: Empfehlungen zur Neugestaltung der Aus- und der Weiterbildung in Schulen, in Betrieben und in außerbetrieblichen Bildungsstätten, in allen Bereichen unserer Arbeitswelt, vom Handwerk über die Industrie bis hin zu den Sozialberufen. Nichts weniger ist der Auftrag dieser Enquete-Kommission. Wir haben diesen Auftrag engagiert angenommen. Wir arbeiten an guten Lösungen und Vorschlägen. Wünschen Sie uns viel Erfolg dabei. Herzlichen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Kaufmann. – Nächster Redner für die FDP-Fraktion ist der Kollege Dr. Thomas Sattelberger. ({0})

Dr. h. c. Thomas Sattelberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004869, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese Enquete-Kommission muss sich natürlich immer wieder auch mit Reparaturarbeit auseinandersetzen. Dabei heißt unsere Aufgabe „Zukunftskonzepte beruflicher Bildung“ und nicht „Flickarbeit“, damit zukunftsfeste Arbeit in Bremerhaven, in Halle und in Saarlouis entsteht, statt nur in Singapur, Peking oder Boston. ({0}) Gerade die Linksgeneigten – Frau Fahimi, heute meine ich nicht alleine Sie – bemühen immer wieder die Angst, um ihre Schutzideologie zu rechtfertigen. Würden Sie die Panik vor Arbeitsplatzverlust nicht schüren, wir hätten mehr Innovationsfreude in diesem Lande, ein positives Framing, und wir könnten auch in der Enquete den Blick nach vorne richten, und zwar auf die wirklichen Knackpunkte beruflicher Bildung. ({1}) Wir haben elf Thesen vorgelegt. Darin steht unter anderem, dass die Spezialisierung der Ausbildungsberufe deutlich später einsetzen muss und dass wir gerade für die Millionen An- und Ungelernten die verteufelte modularisierte Ausbildung benötigen. Ich nenne Ihnen noch drei weitere wichtige Punkte für diese Enquete. Erstens. Eine große strategische Herausforderung: 2018 haben 10 Prozent mehr junge Männer einen Ausbildungsplatz gesucht als 2014, umgekehrt bei den Frauen 10 Prozent weniger. Dafür steigt die Zahl der weiblichen Studierenden. Welche Diversity-Strategien können sich Berufsschulen bei Hochschulen abschauen, und was können kleinere von größeren Unternehmen dabei lernen? Zweitens. Im Bayerischen Wald übersteigt das Ausbildungsplatzangebot die Nachfrage um 10 Prozent. In Nordrhein-Westfalen dagegen gibt es Gegenden, die bei der Ausbildung nicht einmal 80 Prozent der Nachfrage abdecken. Deswegen fordern wir Freie Demokraten maßgeschneiderte Regionalstrategien für die Berufsbildung, ({2}) zum Beispiel Lernfabriken 4.0 als regionale Verbundprojekte anstelle zentraler Zwangsbeglückung à la Bachelor Professional. Nur wo Zukunftsbetriebe entstehen, meine Damen und Herren, wachsen Zukunftsausbildungsplätze und umgekehrt. Drittens. Wir brauchen eine Digitalisierungskomponente für jeden Beruf, schnell neue Berufsbilder: Kauffrau E-Insurance, Bürokaufmann 4.0, Smart-Grid-Installateur, vielleicht auch den E-Konditor. Ja, Future Skills, lieber Stefan Kaufmann, da fehlt es uns. Wenn der Tanker zu schwerfällig ist, müssen Berufsschulen und Betriebe sich erwärmen, und zwar schnell, für skalierende Lernplattformen von Start-ups. Denn wir müssen uns sputen, liebe Linksgeneigte und liebe behäbige Konservative. ({3}) Alle Schutzwälle gegen Disruption nützen am Ende nichts, wenn uns ein Wettbewerber nach dem anderen überholt. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Sattelberger. – Als nächste Rednerin spricht die Kollegin Marja-Liisa Völlers, SPD-Fraktion. ({0})

Marja Liisa Völlers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004942, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mein Mitarbeiter hat neulich seinen Urlaub auf einem Bauernhof in Schweden verbracht. Er wollte etwas mit den Händen machen, mit anpacken, tatkräftig unterstützen und handwerkliche Fähigkeiten erwerben. Von vielen seiner Freunde hier in Deutschland hat er dafür nur Kopfschütteln geerntet. Die Hände in einem Urlaub auf dem Bauernhof schmutzig machen? Wozu eigentlich handwerkliche Fähigkeiten? Diese Haltung zeigt teilweise, welches falsche Verständnis manche von klassischen Berufen haben. ({0}) Zudem hat mir eine Gymnasiallehrkraft Folgendes berichtet: An einer Oberstufe mussten alle Schülerinnen und Schüler einen Tag lang in einem Betrieb hospitieren, um den Berufsalltag kennenzulernen. Eine gute Sache; denn wir brauchen mehr junge Menschen in Ausbildungsberufen, vor allem in Zeiten des Fachkräftemangels. ({1}) Das hört sich gut an, aber dann passierte Folgendes: Die Eltern eines Schülers beschwerten sich. Was sollte ihr Kind denn bei einem Maler, er würde doch zur Universität gehen? Alles andere käme nicht infrage. Das Tagespraktikum sei völlige Zeitverschwendung und einfach nur Quatsch. – Diese Einstellung zeigt aber das Grundproblem, vor dem wir als Gesellschaft stehen: die mangelnde Anerkennung der beruflichen Bildung, das mangelnde Verständnis davon, dass eine Ausbildung den Weg zu einer erfolgreichen Karriere ebnet, die mangelnde Einsicht, dass unsere Volkswirtschaft nicht nur auf die nächste Betriebswirtin oder den nächsten Sozialwissenschaftler wartet, sondern auch auf die nächste anständig ausgebildete Fachkraft, ({2}) den nächsten topqualifizierten Pfleger oder die nächste innovative und engagierte Mechatronikerin. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen beides: Akademiker und gut ausgebildete Fachkräfte. Noch einmal zur Erinnerung: Laut Prognos-Forschungsinstitut fehlen uns bis 2030 3 Millionen Fachkräfte. Die Zahl der Studierenden stieg in den letzten zehn Jahren um knapp 1 Million. Die Trends laufen also auseinander. Wir müssen uns fragen: Warum ist das so? Über diese und andere Fragen diskutieren wir in meiner Projektgruppe der Enquete-Kommission, die sich mit den Anforderungen der digitalen Arbeitswelt an berufsbildenden Schulen beschäftigt. Mein großer Dank geht an dieser Stelle noch einmal an die Kolleginnen und Kollegen meiner Projektgruppe aus den anderen Fraktionen und ganz besonders an den Kollegen Jens Brandenburg für seine großartige Sitzungsleitung. Vielen Dank dafür, Jens. ({3}) Zurück zum Inhalt. Ein Aspekt aus unseren Diskussionen ist mir an dieser Stelle besonders wichtig. Er hängt mit beiden Geschichten zu Beginn meiner Rede zusammen. Ich frage mich: Wie kommen wir zu einer Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Ausbildung in der Wahrnehmung unserer Bevölkerung? Hier besteht in erster Linie Handlungsbedarf bei der gesellschaftlichen Anerkennung von beruflicher Bildung, insbesondere bei den Eltern. Sie müssen eine Berufsausbildung als das anerkennen, was sie ist: der Motor unserer Wirtschaft, ein weltweiter Exportschlager und eine enorme Sicherheit für individuelle Zukunftsplanung. Stichwort: Wir wollen glückliche, wir wollen zufriedene, wir wollen selbstbestimmte Menschen. So liegt übrigens die Arbeitslosenquote bei Personen mit abgeschlossener Berufsausbildung bei 3,4 Prozent, bei Personen ohne eine abgeschlossene Berufsausbildung ist sie gut fünfmal so hoch. Wir haben daher viele Handlungsempfehlungen in unserem Zwischenbericht festgehalten. Von denen möchte ich drei exemplarisch hervorheben: Erstens. An allgemeinbildenden Schulen müssen wir mehr Berufselemente integrieren, wie zum Beispiel das Tagespraktikum in einem Betrieb. Zweitens. Wir müssen alle Länder dazu bringen, dass berufsbildende Schulen und alle weiterführenden allgemeinbildenden Schulen stärker miteinander kooperieren. Drittens. Wir brauchen eine noch bessere Einbeziehung der Bundesagentur für Arbeit und der Jugendberufsagenturen. In einigen Bundesländern ist das bereits der Fall. Andere sollten hier schleunigst nachziehen. Wenn das alles gelingt, dann beschweren sich Eltern zukünftig vielleicht nicht mehr, wenn ihr Kind einen Betrieb kennenlernen darf. Dann fordern sie vielmehr ein, dass es nicht nur einen Betrieb kennenlernt, sondern vielleicht mehrere. Dann drängt es unsere Schülerinnen und Schüler nach dem Abitur vielleicht nicht nur vermehrt an die Universitäten, sondern auch wieder stärker in eine gute Ausbildung oder in beides. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist also einiges zu tun. Ich bin froh, dass wir bereits viele Punkte im Zwischenbericht untergebracht haben. Ich freue mich auf die weiteren Beratungen und die weitere gemeinsame Arbeit mit den Kolleginnen und Kollegen in der Enquete-Kommission „Berufliche Bildung in der digitalen Arbeitswelt“. Herzlichen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Völlers. – Als nächste Rednerin erhält das Wort die Kollegin Jutta Krellmann, Fraktion Die Linke. ({0})

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich möchte im Namen meiner Fraktion Herrn Hauer von hier aus gute Besserung wünschen, damit er nächste Woche wieder hier sein kann. ({0}) Unsere Arbeitswelt ändert sich täglich. Digitalisierung, Energiewende und Transformation sind die Stichworte. Als Gewerkschafterin weiß ich, dass viele Kolleginnen und Kollegen Angst haben, ihre Qualifikation in diesem Zusammenhang zu verlieren. Die Antwort kann nur eine kluge Beschäftigungspolitik sein. Denn ehrlich gesagt: Was nützt mir eine gute Qualifikation, wenn mein Arbeitsplatz weg ist? Ja, berufliche Bildung ist heute wichtiger denn je. Deswegen wollen wir in Verbindung damit ein Recht auf Ausbildung und Arbeit für alle. ({1}) Beides nimmt den Menschen die Angst vor dem Wandel. Wir Linke bringen genau das in die Arbeit der Enquete-Kommission ein. Doch leider drücken sich viele Arbeitgeber vor ihrer Verantwortung. Deshalb fordern wir Linke eine Ausbildungsumlage. Wer nicht ausbildet, muss zahlen. ({2}) Wichtig ist auch, dass Beschäftigte mitentscheiden können, ob sie eine Weiterbildung bekommen. Das darf kein Privileg der Arbeitgeber sein. Denn Fakt ist: Führungskräfte bekommen häufiger eine Weiterbildung als Ungelernte, Erwerbstätige häufiger als Erwerbslose und Jüngere häufiger als Ältere. So darf es nicht weitergehen. ({3}) Die Linke sagt: Bei betrieblicher Weiterbildung haben die Arbeitgeber die Kosten zu tragen, und sie haben die Beschäftigten freizustellen. Doch das allein reicht nicht, um auf den Wandel der Arbeitswelt zu reagieren. Wenn Unternehmen umstrukturieren müssen, dürfen Arbeitnehmer nicht auf der Strecke bleiben. Deswegen unterstützen wir die Forderung nach einem Transferkurzarbeitergeld. Es ermöglicht Beschäftigten, sich zu qualifizieren, sich neuen Bedingungen anzupassen ({4}) und dabei auch beschäftigt zu bleiben. So schaffen wir Schutz und Chancen für die Beschäftigten. Klar ist auch: Die Transformation kann nur gelingen, wenn die Beschäftigten einbezogen werden. Deshalb muss die betriebliche Mitbestimmung gestärkt werden. Betriebsräte müssen viel stärker mitentscheiden können, wenn es darum geht, wie Arbeit organisiert wird, wo neue Techniken eingesetzt werden, wie viel Personal gebraucht wird und welche Qualifikation notwendig ist. Packen wir es an, auch in der Enquete-Kommission. Vielen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Krellmann. – Nächste Rednerin ist für die CDU/CSU-Fraktion die Kollegin Antje Lezius. ({0})

Antje Lezius (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004341, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Unser duales Ausbildungssystem sorgt dafür, dass Deutschlands Wirtschaft zur Weltspitze gehört. Wenn wir es schaffen, die digitale Transformation gemeinsam gut zu gestalten, dann bleiben wir auch weiterhin Weltspitze. In der Projektgruppe 2 unserer Enquete-Kommission haben wir uns mit den Anforderungen der Digitalisierung an die berufliche Ausbildung im Betrieb beschäftigt. Für die gute Zusammenarbeit bisher möchte ich mich ganz herzlich bedanken. Ich greife einige wichtige Punkte aus unserer bisherigen Arbeit heraus: Die Digitalisierung verändert und bereichert unsere Arbeitswelt. Die Betriebe sind davon, je nach Branche, Größe, Standort, unterschiedlich stark betroffen. Während einige Unternehmen Vorreiter in Sachen Digitalisierung sind, stehen andere noch fast am Anfang; das sehen wir bei den vielen Betriebsbesichtigungen vor Ort. Das bedeutet für uns als politisch Gestaltende: Die Rahmenbedingungen müssen so gefasst sein, dass wir den kleinen Ausbildungsbetrieb im Blick haben genauso wie den Großkonzern, der Digitalisierung bereits selbst vorantreibt. ({0}) Die Ausbildungsberufe sind gleichfalls nahezu alle von der Digitalisierung berührt, aber auch hier variiert das Maß der Betroffenheit stark. Derzeit erweisen sich die Ausbildungsordnungen als ausreichend flexibel und anpassungsfähig. Mit der Modernisierung der Berufsbilder sichern wir die Attraktivität und die Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland. Insgesamt verändern sich aber die Anforderungen an die Fachkräfte: Digitale Technik- und Medienkompetenz und ein Verständnis für digitale Zusammenhänge sind immer stärker gefragt und sollten in jeder Ausbildung vermittelt werden. Auch veraltet das einmal erworbene Wissen in der digitalen Arbeitswelt sehr viel schneller als bisher. Dadurch gewinnen die Weiterbildung und das lebensbegleitende Lernen im Betrieb eine neue Qualität. Wir können darum festhalten: Der Weiterbildungsbedarf nimmt mit der digitalen Transformation stark zu. Es wird eine neue Lern- und Weiterbildungskultur in der gesamten Gesellschaft nötig sein. Aber, meine sehr geehrten Damen und Herren, keine Angst, im Rückblick sehen wir: Es gab ständig Veränderungsprozesse, und wir haben sie alle gut gemeistert. Die neue Weiterbildungskultur wird in vielen Betrieben schon vorweggenommen. Dabei zeigt sich: Je höher der Digitalisierungsgrad eines Betriebes, desto eher nehmen die Beschäftigten an Weiterbildungen teil. Damit erweist sich die Digitalisierung als Weiterbildungstreiber im Betrieb. In der digitalen Arbeitswelt fällt der Qualifizierung von Ausbildern eine besondere Rolle zu, gerade für kleinere Unternehmen ist dies aber schwer zu bewältigen. Hier wurden in den vergangenen Jahren zahlreiche gute Qualifizierungsinitiativen auf den Weg gebracht. Besonders überbetriebliche Berufsbildungszentren können hier gerade kleinen Betrieben von Nutzen sein. Die digitalen Technologien schaffen auch viele Chancen und erleichtern die Kooperation der Lernorte gerade in ländlichen Regionen. Selbstverständlich ist die Voraussetzung für all diese Maßnahmen eine zeitgemäße digitale Infrastruktur. Dafür haben wir bereits 3,5 Milliarden Euro bereitgestellt. Die Beteiligung und Kooperation von Forschern, Experten, Praktikern und Politikern in unserer Enquete-Kommission stellt sicher, dass wir zu guten Ergebnissen und Handlungsempfehlungen kommen werden – davon bin ich überzeugt –; ({1}) denn wir wollen, dass die berufliche Bildung ein Erfolgsmodell im digitalen Zeitalter bleibt. Vielen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Lezius. – Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt spricht der Kollege Stephan Albani, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Stephan Albani (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004241, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ein chinesisches Sprichwort sagt: „Wenn der Wind der Veränderung weht, bauen die einen Mauern und die anderen Windmühlen.“ Digitalisierung in der Arbeitswelt ist mit Sicherheit ein solcher Wind, manche sagen: Es ist sogar ein Sturm. Wenn eine Innovation stattfindet, fallen die Menschen in ganz unterschiedliche Gruppen auseinander. Wir haben in der Regel so 2 bis 3 Prozent, die als Innovatoren vorneweg rennen. Dann haben wir so 13 bis 14 Prozent, die sich als Early Adopters der Sachen schnell annehmen. Dann kommen jeweils 34 Prozent frühe und späte Mehrheiten und am Ende 16 Prozent Nachzügler. Das ist normal. Wenn man als Beispiel den Arbeitsplatz Deutscher Bundestag nimmt, dann sieht man genau diese Vielfalt: Man sieht kiloschwere analoge Akten, man sieht Leute, die direkt vorne dabei sein wollen und voll durchdigitalisiert sind, und man sieht die Mischform, wo jemand ein Tablet als einen sehr dekorativen Befüllungszustand einer ansonsten analogen Postmappe sieht. ({0}) Insgesamt bedeutet das, dass wir als Politik an dieser Stelle versuchen müssen, die Rahmenbedingungen für die Digitalisierung in der Arbeitswelt zu gestalten; genau das ist es, was wir in der Enquete-Kommission machen wollen. Gleichzeitig geht es darum, den Freiraum für subsidiäre Innovation zu schaffen. Wir stellen auch Positives fest. Wir haben festgestellt, dass die Modernisierung – Stefan Kaufmann hat es schon angesprochen – vieler Berufe bei den Sozialpartnern gut aufgehoben ist und es dort aufgrund technologiefreier Definition zu Verbesserung und Modernisierung kommt. Vielleicht könnte es hier und da etwas schneller gehen – Stichwort „agile Verfahren“ –, aber insgesamt ist es vor allen Dingen entscheidend, wie man sich dem Thema nähert. Wir haben in dieser Woche von Professor Boes vom Bayerischen Forschungsinstitut für Digitale Transformation zwei Zugänge präsentiert bekommen. Der eine ist: Wenn wir die Digitalisierung in der Arbeitswelt aus der Maschinensicht betrachten, dann reden wir über die Vernetzung programmierter Systeme, dann reden wir auf einmal über die Ersetzung und Substituierung von Tätigkeiten und von Menschen. Wir reden über künstliche Intelligenz und Automatisierung. Das bereitet dem einen oder anderen natürlich Sorge. Gehen wir aber umgekehrt die Digitalisierung in der Arbeitswelt aus der Werkzeugsicht an, dann reden wir über die Steigerung geistiger Fähigkeiten. Wir reden auf einmal über erweiterte Intelligenz, Augmented Intelligence, über Information und schlussendlich über die Emanzipation des Einzelnen in der Arbeitswelt und seine entsprechende Weiterentwicklung. Das finden wir gut. Das müssen wir unterstützen. ({1}) Die strategische Herausforderung ist insofern formuliert als die Reformulierung der Beruflichkeit hin zu einer Informationsökonomie. Wir haben festgestellt, dass es in der Ausbildung gut funktioniert, dass wir aber darauf achten müssen, dass die Zusammenarbeit der Partner innerhalb der Ausbildung gestärkt wird. Hier möchte ich noch einmal betonen, dass wir eine Stärkung der Berufsschulen, aber auch eine Stärkung der überbetrieblichen Ausbildungsstätten in den Fokus nehmen müssen. Eine weitere Sache ist das Zusammenspiel zwischen Hochschulen und Berufsschulen. Ich möchte an dieser Stelle das Projekt „Frühstarter“ aus meinem Wahlkreis erwähnen, wo Hochschuldozenten in die Berufsschulen hineingehen und Abschlussklassen bereits entsprechende Fortbildungen machen, sodass ECTS-Credit-Points erarbeitet werden können. Ich glaube, das ist ein richtiger Weg, die Grenzen zu überschreiten. Damit sind wir bei einem wichtigen letzten Punkt. Diejenigen, die in die Berufe reingehen, gehen hoffentlich mit offenem Herzen und großer Freude, aber die, die drin sind, brauchen unsere Unterstützung in Sachen Weiterbildung, damit sie nicht die Sorge haben: Da findet eine Welt statt, an der sie nicht teilnehmen. Deswegen möchte ich, dass bei Weiterbildung nicht von einem Muss gesprochen wird, sondern von einem Will, von einem Möchte. Auf diese Art und Weise sollten wir dafür sorgen, dass zukünftig diejenigen, die Mauern bauen, diese eingerissen bekommen und wir daraus Windmühlen bauen. Herzlichen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Albani. – Damit ist die Aussprache beendet.

Katja Kipping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003786, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Werte Zuschauende! Am 1. Januar 2020 sind die Hartz-IV-Gesetze 15 Jahre in Kraft. Das ist für Die Linke ein Anlass für eine kritische Bilanz. Um es vorab zu sagen: Hartz IV – das bedeutet soziale Spaltung der Gesellschaft, und deswegen werden wir niemals unseren Frieden damit machen. ({0}) Im Folgenden möchte ich unsere Kritik mit einigen offiziellen Zahlen untermauern. Die Armutslücke, also die Differenz zwischen der durchschnittlichen Hartz-IV-Leistung eines Alleinstehenden und der Armutsrisikogrenze, ist in den letzten 15 Jahren gewachsen. Sie beträgt jetzt 390 Euro im Monat. Das heißt, ein Alleinstehender in Hartz IV, der kein zusätzliches Einkommen hat, lebt 390 Euro unter der Armutsgrenze. Das heißt: Hartz IV ist Armut per Gesetz. ({1}) Jeder Dritte, der sanktioniert wird, lebt mit Kindern zusammen. Das heißt, Hartz-IV-Sanktionen gefährden Kindeswohl. Jede dritte Arbeitsaufnahme aus Hartz IV heraus ist kürzer als sechs Monate. Das heißt, Hartz IV bedeutet Arbeitsvermittlung mit Drehtüreffekt: Kaum ist man raus, ist man schon wieder drin. Und im Zuge von Hartz IV hat die Bereitschaft zugenommen, schlechte Löhne und schlechte Arbeitsstandards zu akzeptieren. Hartz IV ist also auch ein Angriff auf das Lohngefüge und auf die Arbeitsstandards. ({2}) Umso absurder ist es, wenn die Hartz-IV-Fraktionen hier im Bundestag den Eindruck erwecken, niedrige Regelsätze wären im Interesse der hart arbeitenden Menschen. Wir als Linke meinen: Beschäftigte, Pflegekräfte, Busfahrer, Verkäuferinnen, sie alle verdienen mehr. Und deswegen unterstützen wir sie in ihren Tarifkämpfen um höhere Löhne. ({3}) Ich frage Sie von der CDU: Was hat die Pflegekraft davon, wenn es der Alleinstehenden in Hartz IV weiterhin schlecht geht? Die Pflegekraft kann davon ihren Kindern nicht ein Paar neue Schuhe mehr kaufen. Liebe hart arbeitende Menschen in diesem Land, wenn die Hartz-IV-Fraktionen Sie in den Debatten hier ansprechen, dann tun sie das nicht, weil sie wollen, dass Sie am Ende des Monats mit mehr Geld nach Hause gehen. Sie tun das nur, weil sie wollen, dass es den Erwerbslosen weiterhin schlecht geht. Gehen Sie denen nicht auf den Leim! ({4}) Wir als Linke haben einen anderen Ansatz. Wir wollen, dass es Erwerbslosen und Beschäftigten besser geht. ({5}) Das ist sogar finanzierbar, wenn wir endlich Millionengewinne besser besteuern. ({6}) Nicht genug, dass Sie Menschen in diesem Land ein Leben in Armut zumuten. Nein, Sie bedienen auch noch negative Klischees wie das des faulen Arbeitslosen. ({7}) Vor rund fünf Monaten sagte der CDU-Redner Matthias Zimmer in einer Hartz-IV-Debatte – ich zitiere –: Hier werden „diejenigen, die fleißig sind und wenig Geld haben von denen … noch ausgebeutet, die anstrengungslos von der Umverteilung leben“. ({8}) „Anstrengungslos von der Umverteilung leben“, so denkt die Union über Hartz-IV-Betroffene. Sie von der Union haben offensichtlich keine Ahnung davon, wie sehr das Gefühl, von Hartz IV bedroht zu sein, die Menschen belastet. Gehen Sie mal zum Jobcenter, schauen Sie den Menschen in die Augen, hören Sie sich ihre Schicksale an, und überlegen Sie dann, ob Sie das noch mal wiederholen würden. ({9}) Ein Wort an den zuständigen Minister Hubertus Heil, der heute durch Abwesenheit glänzt: Herr Heil sagt oft in Hartz-IV-Debatten, er wolle Menschen in Arbeit bringen, statt ihnen Almosen zu geben. Ja, ich bin dafür, dass Erwerbslose besser unterstützt werden bei ihrer Suche nach Arbeit. ({10}) Ich frage aber den Minister: Warum stellt Ihre Regierung für die Arbeitsvermittlung von Hartz-IV-Betroffenen pro Kopf nur ein Fünftel des Geldes zur Verfügung, das Menschen in der Arbeitslosenversicherung zur Verfügung steht? Nur ein Fünftel! Warum ist dem Sozialminister Hubertus Heil die Arbeitsvermittlung von Hartz-IV-Betroffenen so wenig wert? ({11}) – Das alles ergibt sich aus offiziellen Zahlen, die wir durch Anfragen ermittelt haben, aus Zahlen der Bundesregierung. ({12}) – Wissen Sie was, Sie können einfach eine Zwischenfrage stellen; aber fallen Sie mir nicht ständig ins Wort. ({13}) Ich finde, es gibt durchaus Bereiche, in denen Herr Heil aktiv ist. Aber ich habe den Eindruck: Immer wenn es um Hartz IV geht, wechselt er in den Stand-by. Wenn es um Hartz IV geht, haben wir einen Sozialminister im Stand-by. Das muss sich ändern, und das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist ein guter Anlass dafür. ({14}) 15 Jahre Hartz IV, das ist für Die Linke auch ein Anlass, um nach vorne zu schauen. Wohin soll die Reise gehen? ({15}) Ich meine, es ist höchste Zeit, mit dem Hartz-IV-System zu brechen, es zu überwinden: durch gute Arbeit, die zum Leben passt, durch eine eigenständige Kindergrundsicherung und durch eine sanktionsfreie Mindestsicherung. Freiheit von Armut für alle ist möglich. ({16}) Mehr als 15 Jahre Kampf gegen Hartz IV, das sind auch Jahre des Kampfes der Betroffenen, der Gewerkschaften, der Sozialverbände. An dieser Stelle möchte ich sagen: Mein ganzer Respekt gilt den vielen Initiativen und Betroffenen, die weiter beharrlich gegen Hartz IV kämpfen, die unabhängige Beratung leisten, die deutlich machen: Keiner muss allein zum Amt. Ihr leistet praktische Solidarität. Euer Einsatz ist eine wahre Leistung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Lasst uns gemeinsam weiterkämpfen, und zwar so lange, bis wir Hartz IV und Armut in die Geschichtsbücher verbannt haben, für eine Zukunft ohne Hartz IV, für eine Zukunft frei von Armut. Vielen Dank. ({17})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Professor Dr. Matthias Zimmer, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Matthias Zimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004192, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke sehr. – Herr Präsident! Frau Kipping, ich glaube, der Tag, an dem Sie sich mit Hartz IV abfinden, ist der Tag, an dem wir wissen, dass wir was falsch gemacht haben. Meine Damen und Herren! Die heutige Debatte behandelt eine Reihe von Anträgen. Doch natürlich ist das zentrale Thema die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Dazu einige grundsätzliche Anmerkungen, weil sie auch zur Beurteilung der vorliegenden Anträge hilfreich sind: Erstens. Das Gericht hat Sanktionen grundsätzlich als verfassungskonform eingestuft. Die Begründung dafür ist: Der Gesetzgeber hat einen Gestaltungsspielraum, auch bei der Durchsetzung des Nachranggrundsatzes. Dieser bedeutet, Leistungen werden nur bei wirklicher Bedürftigkeit gewährt. Mit anderen Worten: Die Argumentation, die wir hier häufig gehört haben, Sanktionen verstießen grundsätzlich gegen die Würde des Menschen, weil in das Recht auf ein Existenzminimum eingegriffen werde, diese Argumentation teilt das Gericht ausdrücklich nicht. Zweitens. Das Gericht verbietet zum jetzigen Zeitpunkt Sanktionen von 60 Prozent und Vollsanktionen. Das tut es, ausdrücklich nicht, weil sie gegen Artikel 1 des Grundgesetzes verstießen, sondern mit Blick auf die Verhältnismäßigkeit: Die Sanktionen müssen in einem rechten Verhältnis zum Ziel stehen, sie müssen geeignet, erforderlich und zumutbar sein. Und das Ziel ist, den Nachranggrundsatz durchzusetzen und die Mitwirkungspflichten zu erfüllen. Drittens. Mehrfach betont das Gericht, dass bestimmte Sanktionen nach derzeitigem Erkenntnisstand nicht verhältnismäßig seien. Es könne aber nicht ausgeschlossen werden, dass eine Minderung um 60 Prozent des Regelbedarfs in Ausnahmefällen geeignet und angemessen sein könne. Der vollständige Wegfall der Hilfen jedenfalls – auf Grundlage der derzeitigen Erkenntnisse – sei nicht verfassungsgemäß. Das Gericht hat also – mit anderen Worten – die Verfassungsgemäßheit der Sanktionen danach beurteilt, ob sie das Ziel erreichen, die Mitwirkungspflichten zu erfüllen. Die Wirksamkeit einer Maßnahme wird hier zum Maßstab der Verfassungsgemäßheit. Das ist ungewöhnlich. Im Umkehrschluss bedeutet dies nämlich: Wenn die Wirksamkeit durch neue Erkenntnisse zweifelsfrei nachgewiesen wird, stellt sich die Frage weiter gehender Sanktionen neu. Gleichzeitig – und das scheint mir doch eher in die Kategorie eines besonderen Humors der Verfassungsrichter zu fallen – kann vermutlich ein empirischer Nachweis der Wirksamkeit der Sanktionen allein deshalb nicht mehr erbracht werden, weil sie ja verboten sind. Festzuhalten ist aber: Mit Blick auf die Sanktionen hat das Gericht nicht aus grundsätzlichen Erwägungen zur Würde des Menschen heraus argumentiert, sondern eher sozialwissenschaftlich. Interessant finde ich einen Hinweis des Gerichts, nach dem die Mitwirkungspflichten nicht darauf abzielen, die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit zu fördern. Ein solcher Paternalismus sei dem Grundgesetz fremd; es gehe um den Respekt vor der autonomen Selbstbestimmung des Einzelnen. Hier hätte sich durchaus eine andere Argumentation anschließen können: dass es auch zur autonomen Selbstbestimmung des Einzelnen gehören kann, Leistungen nicht in Anspruch zu nehmen. Das hätte den Boden bereitet für eine Verzichtstheorie: Wer im Wissen um die Sanktionen sein Verhalten nicht ändert, verzichtet implizit auf Leistungen. Das ist allerdings nicht weiter ausgeführt worden. Was folgt daraus? Erstens. Der Gesetzgeber hat bei der Ausgestaltung des Nachranggrundsatzes einen Gestaltungsspielraum, im Übrigen auch bei der Berechnung des soziokulturellen Existenzminimums. Dieser Gestaltungsspielraum ist einerseits begrenzt, andererseits gestärkt worden. Zweitens. Das Prinzip des Förderns und Forderns ist legitim. Solidarität gilt nicht unbedingt, sondern kann an die Erfüllung von Mitwirkungspflichten gebunden werden. ({0}) – Muss aber nicht, ja, kann, natürlich; völlig in Ordnung. Das entspricht ja auch der Freiheit und Autonomie desjenigen, der das entscheidet. Drittens. Viele der Debatten, Hartz IV verletze die Würde des Menschen, werden nach dieser Entscheidung vermutlich gegenstandslos. Ich bin nicht so optimistisch, zu glauben, dass sie in Zukunft nicht mehr stattfinden. Zumindest auf die Verfassung und ihre Auslegung durch das Verfassungsgericht können sie sich allerdings nicht mehr stützen. Herzlichen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Herr Kollege Zimmer. – Als nächster Redner hat der Kollege Jörg Schneider von der AfD-Fraktion das Wort. ({0})

Jörg Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004880, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Zuschauer! Die Linke sagt, die Grundsicherung für Arbeitsuchende sei gescheitert. Sie möchte Hartz IV überwinden. Sie macht dazu eine Reihe von Vorschlägen. Jetzt haben wir doch alle das Ziel: Wir wollen Arbeitsplätze schaffen, wir wollen diese erhalten. Wir haben ein Bild vom Menschen, der selbstbestimmt lebt, der verantwortungsvoll handelt. Da möchte ich doch mal prüfen, wie dazu Ihre Anträge passen. Sie schlagen unter anderem vor, bei Arbeitslosen, die ihren Job kündigen, ohne einen neuen Job zu haben, also in die Arbeitslosigkeit gehen, die Sperrfrist abzuschaffen. Darüber könnte man vielleicht reden, wenn wir über Menschen sprechen, die noch in der Probezeit sind. Die Probezeit ist eine Zeit des gegenseitigen Kennenlernens. ({0}) Da sollte vielleicht eine Trennung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer möglich sein. Allerdings: Ein Arbeitnehmer, der seinen Job kündigt, obwohl er noch keinen neuen Job hat: Soll er denn nun wirklich mit einem Menschen gleichgestellt werden, der auf der Straße steht, weil sein Betrieb geschlossen wurde? Der Arbeitnehmer, der seinen Job kündigt, ohne einen neuen Job zu haben, und der dann sagt: „Die Folgen meines Handelns soll jetzt bitte schön die Gemeinschaft tragen“, der handelt nicht verantwortungsvoll. ({1}) Ich denke mir, es ist vollkommen richtig, dass wir hier gesetzliche Grenzen eingeführt haben. Dann kommt von Ihnen natürlich wieder der Dauerbrenner: 12 Euro Mindestlohn; auch die SPD begeistert sich dafür. Vielleicht zeige ich von dieser Stelle einfach nur mögliche Konsequenzen des Ganzen auf: Sicherlich, Krankenhäuser und Büros müssen weiterhin geputzt werden. ({2}) In diesem Bereich würde eine Mindestlohnerhöhung sicherlich keine Jobs kosten. Aber wie sieht es denn in der Industrie aus? Ich habe als Lehrer an einer Berufsschule Beschichter unterrichtet. Diese tauchen Stahlteile in Flüssigzink. Dadurch wird Korrosionsschutz geschaffen. Das ist harte Arbeit, schmutzige Arbeit. Der Tariflohn liegt bei ungefähr 10 Euro. Wenn Sie hier eine Erhöhung auf 12 Euro durchsetzen, dann sind diese Arbeitsplätze weg, dann sind sie im Ausland, und zwar schneller, als Sie das Wort „Mindestlohnerhöhung“ aussprechen können. Ihre Forderung wird Arbeitsplätze kosten. ({3}) Wir sind uns vielleicht in einem Punkt einig: Wer im Niedriglohnbereich arbeitet, der hat tatsächlich ein Einkommen, das zu gering ist. Aber der Grund dafür sind doch nicht zu niedrige Bruttolöhne. Der Grund dafür sind zu hohe Sozialversicherungsbeiträge. Daran müssen wir etwas ändern. ({4}) Was kommt dazu von Ihnen? Es gibt einen Ausnahmetatbestand: die 450-Euro-Jobs. Und diese wollen Sie jetzt auch noch abschaffen. Haben Sie mal mit Betroffenen gesprochen, mit jemandem, der 450 Euro im Monat mit Zeitungsaustragen verdient? Dem wollen Sie auch noch 100 Euro wegnehmen? Das ist doch absurd. ({5}) Noch mal: Unser gemeinsames Ziel muss sein, Arbeitsplätze zu schaffen, Arbeitsplätze zu erhalten. ({6}) Das Leitbild ist der Mensch, der eigenverantwortlich, selbstbestimmt, verantwortungsvoll arbeitet. Ihre Anträge gehen daran regelmäßig weit vorbei. Deswegen werden wir auch diese Anträge ablehnen. Ich danke Ihnen. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Dagmar Schmidt, SPD-Fraktion. ({0})

Dagmar Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004401, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Zeitpunkt, für den die Agenda 2010 die Zukunft beschrieben hat, ist jetzt auch schon fast zehn Jahre her. Seitdem ist vieles passiert: Viele Menschen haben Zugang zu Förderleistungen, die vorher ausgeschlossen waren. Die Betreuungsquote für unter Dreijährige ist gestiegen – genauso wie die Frauenerwerbsarbeit. Die Arbeitslosigkeit ist stark gesunken. Gute Entwicklungen! Aber es gab auch schlechte: Die Leiharbeit ist gestiegen. Die Tarifbindung hat abgenommen, und die Löhne haben sich auseinanderentwickelt. Genau deswegen haben wir auch reagiert. Wir haben den Mindestlohn eingeführt. Wir haben Missbrauch von Leiharbeit und Werkverträgen bekämpft. Wir haben die Situation für Kinder von Eltern mit geringem oder gar keinem Einkommen verbessert. Wir haben geringe und mittlere Einkommen gestärkt und den sozialen Arbeitsmarkt geschaffen. ({0}) Alles das weist schon den Weg für eine Sozialstaatsreform, die aber noch grundsätzlicher sein muss. Dazu hat die SPD Anfang des Jahres ein Sozialstaatspapier beschlossen. Was wir brauchen, ist ein Sozialstaat, der sich auf schnelle Veränderungen und neue Anforderungen einstellt, der die Angst vor der Zukunft nimmt und Hoffnung und Perspektive gibt, der als Partner agiert. Wir müssen unterscheiden. Es gibt diejenigen, die eben an ihrer sozialen Situation selber nichts ändern können, kranke, alte Menschen und Kinder. Ja, sie brauchen genug Geld. Aber auch da nutzen die 10 Euro mehr nichts, wenn man nicht mobil sein kann, wenn man sich nicht treffen, nicht Hobbys nachgehen kann, wenn man nicht mit anderen Menschen zusammenkommen kann. Deswegen brauchen wir nicht nur eine Geldleistung. Nein, wir brauchen einen handlungsfähigen Staat, vor allem starke und handlungsfähige Kommunen, die vor Ort die Teilhabe für alle gewährleisten. ({1}) Für diejenigen, die etwas an ihrer Lage ändern können, wollen wir das Recht auf Arbeit. Alle, die arbeiten möchten, müssen ein adäquates Arbeits- oder Weiterbildungsangebot erhalten. Wir erwarten von den Menschen, dass sie für ihren Lebensunterhalt arbeiten gehen, aber dann muss die entsprechende Arbeit auch zur Verfügung stehen. Arbeitslosigkeit ist selten ein individuelles Verschulden, in den wenigsten Fällen ein selbstgewähltes Schicksal. Deswegen tragen wir die Verantwortung für gute Arbeit für alle. ({2}) Wir wollen gesellschaftlich sinnvolle Arbeit schaffen und bezahlen lieber diese als die Arbeitslosigkeit. ({3}) Das SGB II ist für uns deshalb eben mehr als eine Existenzsicherung. Nicht nur die Höhe einer Leistung hat etwas mit Würde zu tun. Dazu kommt ein respektvoller Umgang. Dazu gehört es, dass Menschen im Sozialstaat nicht als Bittsteller, sondern als Bürgerinnen und Bürger mit Rechten, aber eben auch mit Pflichten behandelt werden. ({4}) Keine Erwartungen an Menschen zu haben, ihnen nichts zuzutrauen, ist für mich kein Ausdruck von Respekt und kein Ausdruck von einem würdevollen Umgang miteinander. ({5}) Wir fühlen uns durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts daher bestätigt. So, wie es jetzt ist, darf es nicht bleiben. Im jetzigen System sind Sanktionen so wie bisher nicht mehr zulässig. Sie sind zu hart. Vor allem: Sie müssen Sinn machen. Man muss die persönliche konkrete Lage des Einzelnen betrachten. Sanktionen müssen dazu führen, dass die Arbeitslosen besser in Arbeit kommen, und das muss nachgewiesen werden. Sanktionen müssen zudem flexibel sein, Härtefälle berücksichtigen, und man muss sie zurücknehmen können. Das Urteil weist aber genau auf den Punkt hin, der für uns in der Diskussion um die Zukunft des Sozialstaats der wesentliche ist: Wir müssen jeden Menschen in seiner konkreten Lage einzeln betrachten, und unser Sozialstaat muss sich darauf ausrichten. ({6}) Dazu wollen wir die Eingliederungsvereinbarung zu einer Teilhabevereinbarung weiterentwickeln, um gemeinsam mit den Arbeitslosen herauszufinden, was ein guter Weg ist. Oftmals brauchen Menschen nicht viel Unterstützung, vielleicht eine gute Beratung. Oftmals organisieren sie sich weitgehend selbst, suchen selbstständig nach Arbeit und finden diese auch. Aber viele Menschen brauchen mehr. Das müssen wir individuell entscheiden. Manchmal müssen wir auch hingehen, statt einladen. Bei manchen brauchen wir einen langen Atem, eine zweite und eine dritte Chance. Wir wollen ein Recht auf Weiterbildung und Qualifizierung, auch wenn es länger dauert. Wir brauchen Coaching, Vorbereitung und Nachsorge. Das alles wollen wir tun und haben uns mit dem sozialen Arbeitsmarkt genau so auch schon auf den Weg gemacht. Wir führen auch diejenigen wieder an den Arbeitsmarkt heran, die viel Unterstützung durch die Allgemeinheit brauchen. Wenn der Sozialstaat so arbeitet, an den Vorstellungen und Bedarfen der Arbeitslosen orientiert, individuell, ganzheitlich, mit viel Kraft und Geld, mit Geduld und langem Atem, dann darf auch Mitwirkung erwartet und fehlende Mitwirkung sanktioniert werden. Wir wollen kein „Pay and forget“ mit dem bedingungslosen Grundeinkommen. Wir wollen niemanden links liegen lassen. Wir wollen uns als Gesellschaft mit jedem Einzelnen Mühe machen. ({7}) Denn wie Wilhelm von Humboldt sagte, Matthias: Nie ist das menschliche Gemüt heiterer gestimmt, als wenn es seine richtige Arbeit gefunden hat. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner ist für die FDP-Fraktion der Kollege Pascal Kober. ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei all der berechtigten Diskussion, die das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom vergangenen Dienstag über die Rechtmäßigkeit von Sanktionen ausgelöst hat, sollten wir eins nicht vergessen: Von Sanktionen betroffen sind weniger als 10 Prozent. Das heißt im Umkehrschluss: 90 Prozent der Bezieherinnen und Bezieher von Hartz IV haben mit diesem System des Förderns und Forderns kein Problem. Wir wissen hier im Hause, dass es nicht leicht ist, in Hartz IV zu sein. Aber wir sollten an dieser Stelle auch einmal anerkennen, dass die meisten Menschen, über 90 Prozent, mit diesem System des Förderns und Forderns zurechtkommen. ({0}) Diese dürfen wir in der Debatte nicht vergessen. Wir sollten die Chance, dass uns ein Gesetzgebungsverfahren jetzt aufgetragen ist, um die Sanktionsregeln zu reformieren, auch nutzen, um genau für diese 90 Prozent etwas zu erreichen. Das bedeutet, etwas zu erreichen, was den Einstieg in den Arbeitsmarkt und das den Aufstieg im Arbeitsmarkt verbessert. Das wäre jetzt an der Tagesordnung. Das sollten wir nicht vergessen. ({1}) Denn, liebe Kolleginnen und Kollegen, Hartz IV krankt ja nicht an den verbindlichen Mitwirkungspflichten. Wir sind froh, dass das Bundesverfassungsgericht das jetzt auch einmal festgestellt hat. ({2}) Wir haben diese Ansicht schon immer hier im Hause vertreten. Das – die Mitwirkungspflichten – ist nicht das Problem, sondern das Problem bei Hartz IV ist, dass an vielen, vielen Stellen die Menschen nicht das Gefühl bekommen, dass sie durch ihre eigene Anstrengung an ihrer Situation auch wirklich etwas verändern können. An der Stelle müssen wir ansetzen. Das zweite Problem des Hartz-IV-Systems ist, dass es überlastet ist durch eine ausufernde Bürokratie, die den Menschen in den Jobcentern zu wenig Zeit lässt, sich um die Menschen im Hartz-IV-System ausreichend zu kümmern. ({3}) Beides, das fehlende Gefühl der Selbstwirksamkeit und die zu große Bürokratie, die zu viel Zeit auffrisst, schafft Frust, beides schafft Enttäuschungen, beides schafft Missverständnisse, und beides birgt Konfliktpotenzial, das am Ende auch in Sanktionen münden kann. Deshalb nutzen wir doch diesen Zeitpunkt, den das Bundesverfassungsgericht uns jetzt gesetzt hat, um eine Reform der Sanktionsregelungen herbeizuführen, für weitergehende Änderungen am Hartz-IV-System, die Hartz IV fairer und aufstiegsorientierter machen! ({4}) Es ist doch nachvollziehbar, dass es für den Einzelnen frustrierend ist, wenn er arbeitet und von jedem Euro 80 Cent abgeben muss. An der Stelle müssen wir ansetzen, das System fairer, aufstiegsorientierter und motivierender machen. Wir müssen dringend die Zuverdienstgrenzen verbessern, damit den Menschen in Zukunft mehr von ihrem verdienten Euro bleibt. ({5}) Das System ist heute so irrwitzig, dass Menschen sogar in Situationen kommen, wo es sich für sie überhaupt nicht lohnt, mehr zu arbeiten; sie haben am Ende netto sogar weniger, wenn sie mehr arbeiten, weil die Sozialleistungen zu stark abgeschmolzen sind. Deshalb müssen wir dieses Hartz-IV-System in Zukunft auf neue Füße stellen, indem wir nämlich die Hartz-IV-Leistungen mit dem Wohngeld und dem Kinderzuschlag zu einer gemeinsamen Sozialleistung zusammenführen, sodass die Zuverdienstgrenzen für alle entsprechend mehr Netto vom Arbeitsentgelt bedeuten. Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, richten Sie Ihrem Parteifreund Kevin Kühnert einen schönen Gruß aus! Sozialpolitik bedeutet nicht, Sanktionen abzuschaffen. Sozialpolitik bedeutet, Menschen in Arbeit zu bringen, ({6}) und nicht, durch die Provokation frühzeitiger Neuwahlen Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeitslos zu machen. ({7}) Sozial ist nicht die Abschaffung von Sanktionen. Sozialstaat bedeutet, an den individuellen Fähigkeiten des Menschen anknüpfen zu können. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, brauchen wir mehr Zeit in den Jobcentern. ({8}) Deshalb haben wir Anträge vorgelegt, bei deren Umsetzung diese Zeit zur Verfügung gestellt wird, wenn wir nämlich Bürokratie abbauen. Das bedeutet zunächst einmal, dass wir vor allen Dingen eine Bagatellgrenze einführen. Wir fordern eine Bagatellgrenze für die Rückforderung von zu viel gezahlten Beträgen von 25 Euro. Warum? Die Rückforderung dieser 25-Euro-Beträge – sie können auch geringer sein – bringt dem Sozialstaat 4,6 Millionen Euro , bedeutet aber, dass wir dadurch 46 Millionen Euro an Bürokratiekosten verursachen. Das kostet Zeit. Das kostet Geld. Das ist nicht sinnvoll. Das sollten wir ändern. ({9}) Darüber hinaus sollten wir uns noch mal die Regelungen bei den Wohnkosten anschauen. Auch sie gehören dringend entbürokratisiert. Im Moment hängen 30 000 Bestandsklagen gegen Wohnkostenbescheide bei den Gerichten an, weil die Wohnkosten so kompliziert berechnet werden müssen, dass einfach nur Rechtsunsicherheit besteht. Hier müssen wir als Gesetzgeber diese Berechnung der Wohnkosten reformieren. Das wäre ein wichtiger Schritt, um in Zukunft den Menschen in den Jobcentern mehr Zeit für die Beratung zu verschaffen. Wohnkosten müssen wir stärker pauschalieren. Wir müssen klare Vorgaben machen, wie die Pauschalen berechnet werden. Vor allen Dingen müssen wir unbestimmte Rechtsbegriffe wie „angemessene Wohnkosten“ eindeutiger als bisher gesetzlich definieren. Durch konsequenteren Bürokratieabbau würden wir Freiräume schaffen für mehr und bessere und qualifiziertere Beratung. Jetzt noch mal einen Blick auf die Sanktionen. Auch wir sehen Veränderungsbedarf. Ein ganz wichtiger Punkt, den das Bundesverfassungsgericht nicht behandelt hat, der aber auch in den Blick zu nehmen ist, sind die Sanktionen für die unter 25-Jährigen. Es gibt Menschen, die wollen auch diese Sanktionen gänzlich abschaffen. Wir sagen: Nein, auch unter 25-Jährige haben Mitwirkungspflichten. Auch unter 25-Jährige sind natürlich zur Eigenverantwortung fähig. Aber wir sehen auch, dass immer wieder junge Menschen gerade durch Sanktionen dem Hilfesystem, das ihnen eigentlich zur Verfügung steht, verloren gehen. Deshalb sagen wir: In Zukunft muss eine Sanktion für unter 25-Jährige zwingend mit einem Angebot der Jugendhilfe verbunden sein. Warum? Die jungen Menschen, die von einer Sanktion betroffen sind, müssen gleich ein Angebot haben, das ihnen erklärt, wie die Zukunft aussehen kann, wie sie aus ihrer Situation herauskommen können und wie sie in Zukunft ihren Weg gehen können. Deshalb ist es wichtig, dass wir mehr Zeit für die Menschen in den Jobcentern schaffen. Das bedeutet Bürokratieabbau, und das bedeutet unter anderem auch, dass wir zum Beispiel die Zuständigkeit für die Aufstocker, die jetzt im Jobcenter arbeitsmarktpolitisch beraten werden, an die Bundesagentur für Arbeit übertragen; dann wird der Personalschlüssel für die Hartz-IV-Empfängerinnen und Hartz-IV-Empfänger viel, viel besser, und dann sind wir wieder bei dem Thema „mehr Zeit für die Menschen“. Das baut Sanktionen ab. Das schafft Chancen, und das ist einstiegs- und aufstiegsorientierte Politik für den Arbeitsmarkt. Vielen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Sven Lehmann für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Sven Lehmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004801, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Verfassungsgericht hat in dieser Woche in der Tat ein wegweisendes Urteil gesprochen. Es hat erklärt, dass die jetzigen Sanktionsregeln bei Hartz IV in Teilen verfassungswidrig sind. Es hat erklärt, dass die komplette Kürzung der Grundsicherung der Würde des Menschen widerspricht, und es hat selbst für eine noch so kleine Kürzung sehr hohe Hürden geschaffen. Es ist bedauerlich, dass unser oberstes Gericht das tun muss, wozu die Mehrheit in diesem Hause seit Jahren nicht bereit ist. ({0}) Umso mehr begrüßen wir dieses Urteil; denn es ist ein wichtiger Etappensieg für die sozialen Grundrechte aller Bürgerinnen und Bürger in diesem Land. ({1}) Und ja, das Gericht hält Mitwirkungspflichten für legitim; aber es sagt auch klar und deutlich: Man kann Bedingungen in der Grundsicherung aussprechen; man muss es aber nicht. – Es ist und bleibt eine politische Entscheidung, ob es Sanktionen auf das Existenzminimum geben sollte. Wir finden: Nein, diese Sanktionen sollte es nicht geben. ({2}) Einer der Kernsätze des Urteils lautet – ich zitiere –: … die Menschenwürde ist ohne Rücksicht auf Eigenschaften und sozialen Status wie auch ohne Rücksicht auf Leistungen garantiert …; sie muss nicht erarbeitet werden, sondern steht jedem Menschen aus sich heraus zu. Ein Satz für die Ewigkeit, liebe Kolleginnen und Kollegen! ({3}) Was ist aber seit Jahren die politische Debatte, die insbesondere von der Union immer wieder geführt wird? Da werden diejenigen, die auf Hilfe angewiesen sind, gegen die ausgespielt, die wenig Einkommen haben. Da wird von der sozialen Hängematte schwadroniert, als ob ein Leben am Rand der Gesellschaft tatsächlich irgendwie lustig wäre. Da wird so getan, als sei Erwerbslosigkeit persönliches Versagen und nicht etwa ein politisches Problem. Sie handeln also rein ideologisch, wenn Sie weiter an Sanktionen festhalten, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union. ({4}) 15 Jahre nach Hartz IV müssen wir feststellen: Dieses Gesetz hat viele Ängste bis weit in die Mitte der Gesellschaft ausgelöst. Gerade angesichts der großen Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt – Digitalisierung, Transformation – fragen sich immer mehr Menschen, ob der Staat sie dabei tatsächlich schützt und unterstützt. Man muss sich aber nur mal eine Eingliederungsvereinbarung anschauen. Da liest man dann: „Antragspflicht“, „Auskunftspflicht“, „Pflicht zum Erscheinen bei Terminen“, „Pflicht zur Erreichbarkeit“, „Pflicht zur Annahme einer Arbeitsgelegenheit“, „Pflicht zur Minderung der Kosten der Unterkunft“ usw. – Pflichten, Pflichten, Pflichten, ({5}) und dann kommen noch einige wenige Rechte. Das ist nicht Augenhöhe. Das ist das Gegenteil von Augenhöhe. Das ist Misstrauen des Staates seinen Bürgerinnen und Bürgern gegenüber, und zwar denjenigen gegenüber, die am meisten auf Hilfe angewiesen sind, liebe Kolleginnen und Kollegen! ({6}) „Fördern und Fordern“ ist schon längst in einer Schieflage. Wir sollten also weg davon und hin zum Schützen und Unterstützen: zum Schützen vor Armut und zum Unterstützen, damit jeder Mensch an der Gesellschaft teilhaben und sein Leben selber bestimmen kann. Die Grundsicherung muss sanktionsfrei sein, und sie muss höher sein als heute. Auch das Konzept der Bedarfsgemeinschaft hat in der Praxis negative Auswirkungen. Ich selber habe in meinem Wahlkreis vor Kurzem einen jungen Menschen getroffen, der nach sehr viel Mühe und mit sehr viel Unterstützung eines Sozialarbeiters eine Ausbildungsstelle angenommen hat. Er wohnt aber noch zu Hause, weil er sich eine eigene Wohnung nicht leisten kann. Weil seine Eltern in Hartz IV leben, ist er Teil einer Bedarfsgemeinschaft, und das heißt konkret, dass er von seinem Ausbildungsgehalt gerade mal einen Bruchteil behalten durfte. Nach wenigen Monaten schmeißt er frustriert das Handtuch und bezieht seitdem wieder ALG II. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn gerade junge Menschen so in Mithaftung für ihre Eltern genommen werden, dann ist das nicht nur unwürdig; es ist auch zutiefst schädlich für den Arbeitsmarkt, der so dringend Auszubildende braucht. ({7}) Apropos Arbeitsmarkt: In den 15 Jahren Hartz IV ist einer der größten Niedriglohnsektoren in Europa entstanden. Die Zahl von Befristungen sowie Leih- und Zeitarbeit sind anhaltend hoch; 4,6 Millionen Menschen sind dauerhaft in Minijobs beschäftigt. Wir müssen endlich den Wert der Arbeit wieder stärken, ({8}) und das fängt mit dem Mindestlohn an. Es war ein Meilenstein, dass er eingeführt wurde. Aber er ist heute deutlich zu niedrig, und er ist nicht armutsfest. Der Mindestlohn müsste bei rund 12 Euro pro Stunde liegen, damit Vollzeiterwerbstätige von ihrer Arbeit auch leben können. ({9}) Hier sagen aber einige: Weil die Löhne niedrig sind, muss die Grundsicherung noch niedriger sein. – Das ist fatal. Was wir stattdessen brauchen, sind höhere Löhne und eine bessere Grundsicherung, damit alle Menschen mit wenig Einkommen bessergestellt werden, liebe Kolleginnen und Kollegen. Beides gehört zusammen. ({10}) Zum Schützen und Unterstützen gehört auch eine bessere Förderpolitik in den Jobcentern. Wir müssen das Wunsch- und Wahlrecht von Arbeitsuchenden stärken. Jeder Mensch hat ein Recht auf Mitsprache. Keine Maßnahmen von der Stange, nicht das dritte oder vierte Bewerbungstraining, nicht die Hilfstätigkeit, die gar nichts mit den Berufswünschen der Menschen zu tun hat! Das passt nicht zu einem Arbeitsmarkt, der Fachkräfte in so vielen Branchen so dringend braucht. ({11}) Wir brauchen ein Recht auf Qualifizierung, ein Recht auf individuelle Weiterbildung. Denn wir dürfen kein Talent vergeuden; wir müssen jedes Talent heben, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({12}) Ich komme zum Schluss. Ein moderner Sozialstaat im 21. Jahrhundert setzt auf Vertrauen, er setzt auf Augenhöhe, und er setzt auf gute Arbeitsangebote. Hartz IV leistet das nicht, und deswegen müssen wir Hartz IV überwinden. ({13}) Wir müssen nach und nach eine soziale Sicherung aufbauen, die Armut und Erwerbslosigkeit nicht zu einem persönlichen Versagen erklärt, sondern die Gesellschaft muss die Garantie aussprechen, dass jeder Mensch vor Abstieg geschützt wird und unterstützt wird, teilzuhaben. Das wäre eine wirkungsvolle und eine würdevolle Sozialpolitik. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({14})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Kai Whittaker das Wort. ({0})

Kai Whittaker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004443, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Herr Kollege Lehmann, wenn man Sie so reden hört, könnte man fast meinen, die Grünen hätten mit Hartz IV gar nichts zu tun. Dabei waren Sie es ja, die es eingeführt haben. ({0}) Ich habe das Gefühl, dass Sie Karlsruhe als persönlichen Beichtstuhl missbrauchen; aber das ist Ihre Sache. Ich bin etwas überrascht. Wir diskutieren heute jede Menge Anträge von den Linken und von der FDP zu Hartz IV. Ich weiß nicht, ob das noch die alten Kämpfe des 19. Jahrhunderts zwischen Kommunismus und Kapitalismus oder ob das schon erste zarte Versöhnungsanzeichen sind; das lässt hier und da Raum für Spekulationen auf mögliche Zusammenarbeit. ({1}) Ich persönlich habe schon immer vermutet, dass in der Anhängerschaft der FDP am ehesten die Wähler zu finden sind, die sich den Kommunismus auch tatsächlich leisten können. Insofern würde die Zusammenarbeit da passen. ({2}) Ich bin aber etwas enttäuscht darüber, dass Sie bei den Anträgen, die Sie vor einiger Zeit eingebracht haben und die wir heute abschließend beraten, keinen Deut dazugelernt haben. Sie von den Linken fordern zum Beispiel, die Wohnkostenlücke zu schließen, und sagen, der Staat solle de facto alles bezahlen, was an Wohnkosten anfällt. Sie ignorieren aber völlig den Faktor, dass das Hauptthema der soziale Wohnungsbau ist, bei dem wir in Deutschland ein massives Defizit haben. ({3}) Diese Bundesregierung investiert Milliarden, um verlorenes Vertrauen wiederzugewinnen. Sie tun in den Ländern, in denen Sie regieren, nichts. ({4}) In Thüringen: Fehlanzeige! Und in Berlin diskutieren Sie einen Mietendeckel, statt über sozialen Wohnungsbau zu diskutieren. ({5}) Sie möchten Hartz IV sofort auf 582 Euro erhöhen. ({6}) Ich habe damals, als Sie den Antrag eingebracht haben, über einen Max berichtet, der in der „Berliner Zeitung“ porträtiert worden ist. Er ist Hartz-IV-Empfänger und hat seine Ausbildung zweimal angefangen und jedes Mal abgebrochen, nicht weil er zu wenig Geld gehabt hätte, sondern weil er zu wenig Betreuung und zu wenig Zeit von den Jobcentern bekommen hat, um diese Ausbildungen tatsächlich abzuschließen. Dem hilft Ihr Antrag nicht.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Whittaker, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Lay?

Kai Whittaker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004443, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich würde gerne weitermachen. ({0}) – Frau Kipping, Sie hatten vorhin schon Ihre Stunde. Auch Ihre Vorschläge zur Bagatellgrenze sind schlecht gemacht. Sie wollen das in die Bundeshaushaltsordnung schreiben, wo das überhaupt nichts zu suchen hat. Das ist schlechte Gesetzgebung. ({1}) Das haben wir Ihnen alles schon mehrfach im Ausschuss vorgekaut; Sie haben nichts dazugelernt. Auch von der FDP, muss ich sagen, hätte ich mir etwas mehr erwartet. Sie haben vor einiger Zeit die AfD zu Recht dafür kritisiert, dass sie viele Begründungen und wenige Forderungen in ihren Anträgen hat. Aber wenn man so eine Steilvorlage liefert, dann sollte man bei seinen eigenen Anträgen auch etwas sattelfester sein. Ihre Forderung zur Bagatellgrenze besteht aus nur einem Satz: ({2}) „Die Einführung einer Bagatellgrenze von 25 Euro für Aufhebungs- und Erstattungsverfahren von Jobcentern“, ohne zu sagen, wo und mit welchen Kriterien das verankert werden soll. ({3}) Das ist, ehrlich gesagt, schlechte Textarbeit. Bei den KdU machen Sie es genauso. Sie sagen: Wir wollen eine stärkere Durchsetzung von Pauschalierungen; wir wollen mehr Rechtssicherheit und konkrete Vorgaben zum Berechnungsverfahren. – Wir brauchen nicht zu wissen, was Sie wollen; das wissen wir alle gemeinsam. Wir wollen gerne wissen, wie Sie das machen wollen. Das haben Sie nicht geklärt. ({4}) Da kann ich der FDP nur sagen: Besser keine Anträge schreiben als banale Anträge schreiben. ({5}) Zuletzt ein paar wichtige Punkte, bei denen uns, glaube ich, das Urteil vom Dienstag einiges aufzeigt. ({6}) Wir diskutieren viel darüber, wie wir das Leben der Menschen mit Hartz IV besser ausgestalten können. Ich finde, wir sollten darüber diskutieren, wie wir die Menschen aus Hartz IV in Arbeit bringen können; darum muss es gehen. ({7}) Frau Staatssekretärin Kramme, ich erwarte von Ihnen und von Bundesminister Heil ein bisschen mehr Tempo. Wir brauchen einfachere Berechnungsregeln, damit wir mehr Mitarbeiter frei haben, die mehr Zeit für die Arbeitslosen aufwenden können. Wir brauchen einen besseren Anreizmechanismus, damit es sich lohnt, in Arbeit zu gehen. ({8}) Gerade gestern hat der Sachverständigenrat der Bundesregierung das Jahresgutachten vorgestellt, in dem genau der Punkt drinsteht, dass wir die Anreizregelungen reformieren müssen. Wir brauchen ganz klar mehr Weiterbildung und vor allem mehr Ausbildung. Wenn ich sehe, dass erwachsene Menschen Kinderbilder ausmalen oder Grundrechenaufgaben in Weiterbildungskursen lösen müssen, muss ich sagen: Das wird diesen Menschen nicht gerecht. ({9}) Frau Staatssekretärin, ich erwarte vom Ministerium in diesem Punkt etwas mehr Fachaufsicht. Ich glaube, das sind die Dinge, die wir jetzt gemeinsam diskutieren müssen, wenn wir dieses Urteil umsetzen. Danke schön. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Caren Lay das Wort.

Caren Lay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004088, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herzlichen Dank für die Möglichkeit einer Kurzintervention. – Herr Kollege, Sie haben hier vorne behauptet, dass Die Linke beim Thema „sozialer Wohnungsbau“ versagt habe und insbesondere dort versagen würde, wo sie mitregiert. Ich möchte hier Folgendes feststellen: Ohne uns, ohne Die Linke, hätte es die Grundgesetzänderung zum sozialen Wohnungsbau nie gegeben. ({0}) Wir waren die Fraktion, die sie erstmalig im Deutschen Bundestag beantragt hat. Damals sind wir von Ihren Leuten noch ausgelacht worden. Trotzdem ist es unser gemeinsamer Erfolg, dass wir sie jetzt beschlossen haben – alle demokratischen Fraktionen, ohne die AfD. ({1}) Es gibt außerdem bundesweit pro Jahr einen Rückgang von 43 000 Sozialwohnungen. Das einzige Bundesland, das diesen Rückgang bei den Sozialwohnungen gestoppt hat, ist das Land Berlin. Sind Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen? Letzter Punkt. Wenn wir uns im Übrigen die Zahlen in Berlin ansehen, dann stellen wir fest: Diejenigen Bezirke, wo am meisten gebaut wird, sind die, wo Die Linke regiert. Dort, wo Ihre Leute regieren, wird am wenigsten gebaut. ({2}) Das sind die Fakten. Was Sie hier vorgetragen haben, das ist reine Polemik. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben die Möglichkeit zur Erwiderung.

Kai Whittaker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004443, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, ich bin erstens bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass es Ihr ehemaliger Fraktionsvorsitzender Gregor Gysi war, der damals in Berlin mit seinen Linken die Privatisierung von Sozialwohnungen vorgenommen ({0}) und damit den Berliner Haushalt saniert hat. Sie haben in der Bundeshauptstadt den sozialen Wohnungsbau ausverkauft, und damit müssen Sie leben. ({1}) Jetzt versuchen Sie, zu reparieren, was Sie an Schaden angerichtet haben. Zweitens bin ich bereit, anzuerkennen, dass wir als Bundesregierung und Bundestag mehr Geld zur Verfügung gestellt haben, um für mehr sozialen Wohnungsbau sorgen zu können. Das sind in dieser Legislaturperiode 2 Milliarden Euro zusätzlich. Es liegt aber an den Landesregierungen, ob sie es tatsächlich machen. ({2}) Ich vernehme zurzeit nicht, dass Sie in Berlin eine große Sozialwohnungsbauoffensive machen. Ihre Senatorin befasst sich damit, wie sie einen Mietendeckel umsetzt, ({3}) und stellt mehrere Hundert Leute in der Verwaltung ein, um so einen bürokratischen Schwachsinn zu administrieren. Das schafft keinen Quadratmeter mehr Wohnraum, sondern nur juristische Probleme. ({4}) Wenn das die Zukunftspolitik der Linken ist, dann: Gute Nacht! ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Martin Sichert für die AfD-Fraktion. ({0})

Martin Sichert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004892, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Meine Damen und Herren! Auf 582 Euro monatlich soll nicht nur Hartz IV, sondern sollen auch die Asylbewerberleistungen ({0}) gemäß gleich mehreren hier vorliegenden Anträgen der Linken angehoben werden. Ein solcher Beschluss wäre der Sargnagel für den deutschen Sozialstaat. ({1}) Wie verantwortungslos muss man eigentlich sein, um solcherart massiv die Anreize für weitere Armutszuwanderung zu erhöhen? ({2}) Im größten Land Afrikas, im Kongo, müssen Sie für 582 Euro mehr als eineinhalb Jahre körperlich hart arbeiten. In Afghanistan, woher ja bereits jetzt viele Armutszuwanderer kommen, sind es immerhin 15 Monate. ({3}) Der durchschnittliche Inder muss für 582 Euro über vier Monate arbeiten. Wenn, angelockt durch Ihre Versprechungen, sich nur jeder hundertste Inder auf den Weg macht, dann ist Deutschland pleite; denn das wären 13 Millionen arme Menschen. ({4}) Und auch innerhalb von Europa erzeugen 582 Euro einen massiven Sogeffekt. ({5}) Das ist nämlich mehr als das Dreifache des Einkommens in der Ukraine und weit höher als die Einkommen in Albanien, Serbien oder Bosnien. Wir haben gesehen, dass bereits in den vergangenen Jahren die Verheißungen des Sozialstaats Millionen Arme und Perspektivlose aus aller Welt nach Deutschland gelockt haben. ({6}) Und die Tausenden, die aufgrund Ihrer Politik jedes Jahr im Mittelmeer ertrinken, nutzen Sie dann auch noch für Ihre widerliche Propaganda. ({7}) Dafür sollten Sie sich schämen! ({8}) Wenn Sie heute einem Ausländer gegenüberstehen, ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Hartz IV bezieht, mehr als dreimal so hoch wie bei einem Deutschen. Obwohl nur 13 Prozent der Bevölkerung Ausländer sind, sind 37 Prozent der Hartz-IV-Bezieher Ausländer, Tendenz stark steigend. Rechnet man noch die über 400 000 Bezieher von Asylbewerberleistungen dazu, die Sie ja auch besserstellen wollen, ({9}) wird klar, dass Ihre Anträge reine Klientelpolitik für eine einzige Personengruppe sind, nämlich die schlecht oder gar nicht integrierten Ausländer, die hierzulande vom Sozialstaat leben. ({10}) Das ist mit uns nicht zu machen; denn wir von der AfD sind die Partei der gut integrierten Ausländer und der Deutschen. ({11}) Die Hartz-IV- und Asylgesetzgebung ist zutiefst ausländerfeindlich. Sie legt den Nährboden für Ausländerfeindlichkeit; denn natürlich sind die über 5 Millionen Deutschen, deren Rente weniger als 500 Euro beträgt, stinksauer, wenn der frisch Zugereiste nebenan deutlich mehr bekommt. ({12}) Die Hauptleidtragenden Ihrer Politik sind all die gut integrierten Ausländer, die deswegen auch die stärkste Wählergruppe der AfD stellen. ({13}) Statt dass Sie die Probleme angehen, befeuern Sie sie mit Ihrer Politik immer weiter. Unions- und SPD-Politiker im Bundesverfassungsgericht sorgen dafür, dass jene, die sich auf die faule Haut legen, nur minimale Einbußen haben, und Die Linke will regelmäßig das Geld für frisch Zugewanderte erhöhen. ({14}) Die Deutschen hingegen werden nur als Melkkuh gesehen. ({15}) Der erste persönlich adressierte Brief im Leben deutscher Kinder kommt vom Bundeszentralamt für Steuern und enthält die Steuernummer. Mehr muss man eigentlich gar nicht wissen, um zu erkennen, wie dieser Staat über die eigenen Bürger inzwischen denkt. ({16}) Sie von der Linken wollen ja sogar noch weiter gehen. Sie streben eine sanktionsfreie Mindestsicherung von 1 050 Euro an. Wer soll das denn alles bezahlen? Wir geben jetzt schon circa 50 Milliarden Euro im Jahr für Armutszuwanderer aus. Das Geld wird dringend gebraucht zur Entlastung deutscher Steuerzahler und bei der Rente. ({17}) Aber mit Rentenerhöhungen und der Grundrente, da hält man es hier wie mit dem Berliner Flughafen: Man redet ständig darüber, aber es passiert leider nichts. ({18}) Rentenerhöhungen statt Erhöhung von Leistungen für nicht integrierte Ausländer – das wäre verantwortungsvolle Politik. Aber für die steht in diesem Haus leider nur die AfD. ({19})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Martin Rosemann für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Martin Rosemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004389, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Von Fake News über Migration, Hass und Hetze gegen Ausländerinnen und Ausländer, die friedlich hier mit uns leben und sich an die Regeln halten, zurück zum Thema Arbeitsmarkt! ({0}) Meine Damen und Herren, der Arbeitsmarkt ist in guter Verfassung. Zuletzt war der Fachkräftemangel die größte Wachstumsbremse. Gleichzeitig stehen wir vor großen Herausforderungen: Digitalisierung, Energiewende, neue Antriebstechniken, neue Mobilitätskonzepte. All das wird die Arbeitswelt grundlegend verändern und ist schon dabei, die Arbeitswelt grundlegend zu verändern. Ganz aktuell sind einzelne Branchen in der Krise: der Maschinen- und Anlagenbau und auch die Automobilzulieferer. Wir sehen das daran, dass viele Betriebe Kurzarbeit angemeldet haben, sich über Kurzarbeit beraten lassen und dass auch Stellenabbau in einigen Bereichen angekündigt wurde. Meine Damen und Herren, da ist jetzt Politik gefragt, eine gute Wirtschaftspolitik und eine vorausschauende, aktive Arbeitsmarktpolitik; denn wir müssen dafür sorgen, dass wir nicht gleichzeitig Fachkräftemangel und Arbeitslosigkeit haben. ({1}) Wir brauchen eine Arbeitsmarktpolitik, die Schutz und Chancen im Wandel bietet. Wir nennen das „Recht auf Arbeit“ – Dagmar Schmidt hat darauf hingewiesen –, und wir meinen damit insbesondere, dass wir die Beschäftigten bereits im Arbeitsleben individuell unterstützen, damit Arbeitslosigkeit erst gar nicht entsteht. ({2}) Weiterbildung ist der Schlüssel dafür, dass die Beschäftigten von heute die Arbeit von morgen machen können. Wir haben mit dem Qualifizierungschancengesetz damit begonnen, die Beschäftigten im Bereich der Weiterbildung präventiv zu unterstützen. Diesen Weg müssen wir weitergehen. Insbesondere müssen wir jetzt Brücken bauen, wenn Unternehmen und Branchen in die Krise kommen. Wir müssen Instrumente wie Kurzarbeit und Transfergesellschaften dafür nutzen, jetzt für die notwendige Weiterbildung zu sorgen. Ich will an dieser Stelle Hubertus Heil, der sich übrigens, Frau Kipping, wegen der Teilnahme an einer Betriebsrätekonferenz entschuldigen lassen musste, ({3}) ausdrücklich dafür danken, dass er das Arbeit-von-morgen-Gesetz angekündigt hat und genau diesen Weg jetzt gehen will. ({4}) Meine Damen und Herren, dabei geht es nicht nur um einzelne Instrumente, sondern es geht um einen Kulturwandel in dreierlei Hinsicht: Erstens. Wir müssen präventiv handeln, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist. Deshalb setzen wir auf einen Rechtsanspruch auf Weiterbildung. Wir wollen die Agentur für Arbeit zu einer Agentur für Arbeit und Qualifizierung weiterentwickeln und die Arbeitslosenversicherung zur Arbeitsversicherung. ({5}) Zweitens. Wir müssen die individuellen Bedarfe in den Mittelpunkt stellen, die einzelne Person unterstützen, den Sozialstaat zum Partner machen. Das gilt für die Agentur für Arbeit genauso wie für die Jobcenter. Gerade in den Jobcentern müssen wir umfassend fördern und unterstützen: mit Blick auf Arbeit und Qualifizierung, aber auch mit Blick auf andere Probleme wie Schulden, Probleme gesundheitlicher Art usw. Dafür müssen wir die Rahmenbedingungen weiter verbessern und die Beschäftigten entlasten. Dazu gehört für uns auch eine Bagatellgrenze für Rückforderungen von Kleinstbeträgen. Aber das müssen wir dann auch richtig machen, meine Damen und Herren. Vor allem aber wollen wir das Fördern stärken, das Fördern des oder der Einzelnen, und zwar auf Augenhöhe. Da geht es in erster Linie darum, möglichst vielen eine Perspektive auf dem ersten Arbeitsmarkt zu geben und, wenn das nicht geht, dann wenigstens Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Deswegen haben wir den sozialen Arbeitsmarkt geschaffen, und da machen wir weiter. ({6}) Schließlich drittens. Menschen, die Unterstützung vom Sozialstaat brauchen, sind keine Bittsteller, sondern Bürgerinnen und Bürger mit eigenen Rechten. Deshalb darf es nicht sein, dass sie von Ämtern zu Ämtern hin und her geschickt werden, dass sich keiner zuständig fühlt, sondern wir brauchen Hilfe und Unterstützung wie aus einer Hand, meine Damen und Herren. ({7}) Deshalb ist unsere Erwartung, dass wir das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Sanktionen in dieser Woche dafür nutzen, das SGB II umfassend zu reformieren und nach vorne zu bringen, ({8}) damit jeder und jede die Unterstützung bekommt, die er oder sie braucht. Herzlichen Dank. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Frank Heinrich für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Frank Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004054, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gab am Dienstag schon ein bemerkenswertes und von vielen von uns sehnlich erwartetes Urteil, und es gab auch viele, die sich mit Vorfreude damit beschäftigt hatten. Die Freude ist unterschiedlich verteilt. Auch wir freuen uns – ich freue mich – über das Urteil, weil es einerseits Klärung verschafft und andererseits das Prinzip des Forderns und Förderns bestätigt. ({0}) Mir ist – das war einer meiner Beweggründe, aus denen ich in die CDU eingetreten bin – wichtig, dass der Gedanke der Verantwortung, den jeder einzelne Mensch hat, tatsächlich im Vordergrund steht, die Subsidiarität, die Eigenverantwortung; dieses Wort fiel hier an verschiedensten Stellen. Jeder darf auch kämpfen müssen an verschiedenen Stellen, weil auch das zum Menschsein gehört. Fördern gerne – aber Fordern ebenfalls. Mir wäre sogar lieber: Erst Fordern, dann Fördern. In den ersten Papieren der Kollegen von der SPD stand es auch so herum. Ich bin Anhänger des Prinzips, herauszukitzeln, was der Einzelne an Gaben, Möglichkeiten und Kräften zur Verfügung hat. Das ist mein Menschenbild, Fordern als Anstacheln zu verstehen, als Aktivieren, wo wir als Staat dann auch assistieren dürfen. Konsequenzen sind dann für manche – ich weiß das von meiner Persönlichkeit; ich bin, was nicht so viele wissen, Phlegmatiker – auch ein Weckruf, um sich hin und wieder aufzurappeln, erwerbstätig zu sein und mit dem selbst verdienten Geld selbstbestimmt zu leben. Ich zitiere einmal die Gründerväter von Hartz IV: Beispielsweise muss das Sozialsystem so konzipiert sein, dass es die Wiederaufnahme von Erwerbsarbeit und die Eigeninitiative optimal vorbereitet und unterstützt. ({1}) Eine neue Balance von individuellen Rechten und Pflichten, die Forderung, der verwaltende, Recht setzende und Daseinsvorsorge betreibende Staat müsse seinen Bürgern wieder mehr zutrauen und zumuten... Die beiden Kernelemente sind Eigeninitiative – meine Kollegin hat es vorhin gesagt – und Zutrauen, Zumuten. Das ist der eine Gedanke. Der zweite ist für mich: Es geht auch um die Fairness innerhalb des gesamten Sozialstaates. Dass da weiterhin Kooperation und Eigenverantwortung eingefordert werden, ist nur fair denen gegenüber, die die Steuern für Hartz IV am Schluss aufbringen müssen. Es gehört sich so, dass jeder zu den gleichen Bedingungen in unserem Staat gefordert wird. Jeder nach seinen Möglichkeiten! Wenn die Möglichkeiten begrenzt sind, darf man gern Solidarität, soweit dies nötig ist, einfordern. Es geht dabei nicht um extreme Forderungen; das hat das Bundesverfassungsgerichtsurteil auch deutlich gemacht und zu Recht das Existenzminimum geschützt. Das Urteil schützt die Existenz – nicht aber einen bestimmten Lebensstandard. Die Richter haben ausdrücklich betont, dass es verfassungsrechtlich zulässig ist, wenn Empfänger von Arbeitslosengeld II – die einen sagen: gezwungen sind; die anderen sagen, es sei ihnen zuzumuten – aufgefordert werden, einen schlechter qualifizierten und möglicherweise schlechter bezahlten Job anzunehmen als den, den sie einst erlernt haben. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ändert aber auch nichts am Prinzip des Arbeitslosengeldes II. Die Leistungsbezieher sollen versuchen, sich aus diesem Transfersystem zu befreien und den Weg zurück in den Arbeitsmarkt zu finden. Das liegt im Interesse der Gesellschaft und damit in unserem Interesse als Politiker und Rahmensetzer. Den Lebenswert, der darin dann für die Einzelnen liegt, habe ich tatsächlich – Frau Kipping, Sie haben von den Augen gesprochen, in die wir schauen sollen – bei vielen Menschen, mit denen ich als Sozialarbeiter unterwegs war, gesehen, wenn sie in Arbeit gekommen sind. Es gibt nichts, was einen glücklicher machen kann, als selbst mit anpacken zu können. ({2}) Zu der großen Zahl derer, die Sanktionen bekommen werden, die immer wieder beschworen wird: Das sind 3,2 Prozent der Empfänger von Arbeitslosengeld II, (Sven Lehmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber es betrifft alle! von denen die meisten gar nicht zu dem Personenkreis gehören, der durch das Urteil vom Dienstag betroffen ist. Was Leistungsempfänger betrifft, die wiederholt zum Beispiel Termine versäumen oder Jobangebote nicht annehmen und daraufhin mit Kürzungen bestraft werden, ist es nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit gegenüber den Steuerzahlern, sondern auch gegenüber denen, die sich in diesem System tatsächlich nach Kräften anstrengen. Ich glaube, in zwei Bereichen braucht es Reformen. Der erste Bereich ist die große Gruppe der Langzeitarbeitslosen. Dafür müssen wir mehr Geld in die Hand nehmen und eine viel engere Betreuung – Kollegen haben das hier gesagt – gewährleisten. Die zweite Gruppe sind für mich die Aufstocker, wo sehr oft – lange nicht verallgemeinerbar – falsche Anreize gesetzt wurden, weil der höhere Verdienst auf die Regelleistung angerechnet wird. Da müssen wir tatsächlich Reformen anstreben. Ein kurzes Zitat aus der „Süddeutschen Zeitung“ zum Abschluss: Die vornehmste Rolle der Politik ist deshalb nicht die des barmherzigen Versorgers, sondern die des entschlossenen Möglichmachers. Genau das ist unser Vorsatz. Daran arbeiten wir. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Angelika Glöckner für die SPD-Fraktion. ({0})

Angelika Glöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, wir reden über den Antrag der Linken. Sie wollen die Regelleistungen anheben. Ich muss ehrlich sagen: Ich bin froh, dass wir aufgrund dieses Antrags Gelegenheit haben, auch einmal über das Existenzminimum zu sprechen. Da dies für uns als SPD ein wichtiges Thema ist, begrüßen wir das immer, denn es geht hier um ein würdevolles Leben. Nur muss man ganz klar sagen: Allein mit Erhöhung der Regelleistungen ist es nicht getan, das greift zu kurz. ({0}) Das reicht nicht. Es geht um mehr. ({1}) Das oberste Ziel ist es, aus dem System der Sozialhilfeleistungen herauszukommen – das hat auch das Gerichtsurteil des Bundesverfassungsgerichts diese Woche deutlich unterstrichen –, und zwar geht es im Wesentlichen darum, dass wir als Gesetzgeber den Rahmen schaffen, um die Menschen zu befähigen, sich aus eigener Kraft wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren. ({2}) Es geht darum, dass wir Kräfte in ihnen fördern und die Menschen auch fordern. Im Übrigen beginnt das Prinzip des Förderns und des Forderns für jedes Kind im Kindergarten. Ich kann nicht verstehen, warum Sie Menschen, die mit beiden Beinen im Leben stehen sollen und das auch wollen, hier herausnehmen wollen. Ich halte das für den komplett falschen Weg. ({3}) Die Politik muss die Instrumente und den Rahmen schaffen, um die entsprechenden Anreize zu setzen. Wir haben ja vieles getan – meine Kollegen haben schon darauf hingewiesen –, und ich nenne es gern noch einmal: beispielsweise das Teilhabechancengesetz, das, wie mir aus meinem Wahlkreis immer wieder gemeldet wird, sehr gut wirkt und greift, ({4}) und eben auch das Qualifizierungschancengesetz, mit dem wir darauf hinwirken wollen, dass Menschen gar nicht erst arbeitslos werden. Das genau ist doch das, was wir bisher bewirkt haben, und das ist gut so. Ich denke auch an das Budget für Arbeit oder an das Budget für Ausbildung, das wir heute noch beschließen werden, das Menschen in schwierigen Lebenslagen wichtige Instrumente an die Hand gibt, um in den Arbeitsmarkt integriert zu werden, um an der Gesellschaft teilzuhaben. Da sind wir auf einem guten Weg, und da wollen wir auch ansetzen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({5}) Ich möchte auch das Thema Grundrente erwähnen. Wir diskutieren hier über das Thema Grundrente, ja, und wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sagen: auch ohne Bedürftigkeitsprüfung! Wir wollen nicht, dass sich Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet haben, nackig machen müssen. ({6}) Im Übrigen: Das entbürokratisiert auch in einem ganz erheblichen Maße. Ich würde mir sehr wünschen, dass wir da mit großen Schritten in hohem Tempo vorankommen. Ich möchte als Fazit sagen: Der Antrag greift ein wichtiges Thema auf, aber er geht einfach nicht weit genug. Wenn ich noch einmal auf das Fördern und Fordern und das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu sprechen kommen darf: Ich glaube, die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte. Was das Bundesverfassungsgericht gesagt hat, war doch nichts anderes als: Sanktionen sind möglich – aber anders. – Ich kann mich gut daran erinnern, dass gerade wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten es waren, die auf genau diesen Weg immer wieder hingewiesen haben. ({7}) Deswegen, glaube ich, ist es auch ganz wichtig, dass wir jetzt die Chance nutzen, die uns das Bundesverfassungsgericht mit auf den Weg gegeben hat, auf einen Sozialstaat mit einem umfassenden Sozialstaatskonzept hinzuarbeiten, der die Menschen auf Augenhöhe mitnimmt, der mit ihnen Eingliederungsvereinbarungen schließt, der sie aber auch als verantwortliche Wesen erkennt und sie nicht hindert, indem er ihnen jegliche Verantwortung abnehmen will, so wie Sie es vorhaben. Ich halte das für komplett falsch. Ich bin der Meinung, man muss auch über Sanktionen in einem angemessenen Verhältnis nachdenken, denn alles andere würde bedeuten, dass Sie die Menschen abhängen und ihnen dann niemand mehr helfen kann. Ich glaube, wir haben einen guten Weg eingeschlagen. Ihn wollen wir fortsetzen. Ich freue mich auf die künftige Arbeit. Vielen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Stephan Stracke für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Stephan Stracke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004169, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Linken wollen das Hartz-IV-System abschaffen. Dazu besteht keinerlei Anlass. Unsere Haltung ist klar: Mit uns wird es keine Totalrevision des Hartz-IV-Systems geben. Eine solche vorzunehmen, hat uns das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil auch nicht ins Stammbuch geschrieben. Genau das Gegenteil ist richtig: Das Bundesverfassungsgericht hat den Grundsatz bestätigt, dass der Gesetzgeber die Hilfe an Bedingungen und zumutbare Mitwirkungspflichten knüpfen kann und für den Fall der Verletzung Sanktionen festlegen darf. Diese Sanktionen dürfen allerdings nicht zu überzogenen Belastungen führen; das ist das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Hier besteht Korrekturbedarf. Hier werden wir auch Änderungen vornehmen. Diese klaren Aussagen des Verfassungsgerichts sind nichts anderes als eine Bestätigung des bestehenden Hartz-IV-Systems durch das höchste Gericht. Nach diesem Urteil gibt es also keinerlei Grund für eine Revision von Hartz IV, weder rechtlich noch politisch. Hartz IV ist eine Erfolgsgeschichte. ({0}) Dieses System hat wesentlich dazu beigetragen, dass sich die Arbeitslosigkeit seit dem Jahr 2000 halbiert hat. Die Menschen können sich in unserem Land darauf verlassen, dass ihnen der Staat in Notlagen zur Seite steht. Wer Hilfe benötigt, erhält diese auch. Unser Ziel ist es, zu erreichen, dass möglichst wenige Menschen auf Hilfe angewiesen bleiben. Die Menschen sollen ein selbstbestimmtes und erfülltes Leben führen, indem sie auf eigenen Beinen stehen und sich nicht an der Hand des Sozialstaates befinden. ({1}) Wir stehen für einen aktivierenden Sozialstaat. Wir wollen Menschen aus der Abhängigkeit des Staates herausholen und sie wieder in Arbeit bringen, und zwar – das ist keine Frage – natürlich in gute und sichere Arbeit. ({2}) Einen Fürsorgestaat aber, der die Menschen einfach nur in Ruhe lässt und ihre Arbeitslosigkeit finanziert, lehnen wir ab. Ein solcher würde den Menschen auch nicht gerecht und würde den Sozialstaat überdehnen. ({3}) Wer Sozialleistungen bezieht, muss zumutbare Gegenleistungen erbringen. Das ist eine Frage der Gerechtigkeit gegenüber der Gemeinschaft, die Arbeitsuchende in einer schweren Zeit unterstützt. Solidarität ist für uns keine Einbahnstraße. Deshalb bleibt es bei dem zentralen Grundsatz der Grundsicherung, nämlich dem Grundsatz des Förderns und des Forderns. Dieses zentrale Prinzip hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vor zwei Tagen ausdrücklich bestätigt. Das ist tatsächlich das Wichtigste. Wir setzen auf maximale Unterstützung für diejenigen, die sich anstrengen. Dazu haben wir im Herbst letzten Jahres das Teilhabechancengesetz beschlossen. Wir setzen dafür insgesamt 4 Milliarden Euro ein. Bis jetzt sind über 33 500 zuvor arbeitslose Menschen wieder in Arbeit gekommen. Das ist bereits jetzt ein guter Erfolg. Wir arbeiten daran, dass es noch mehr werden. ({4}) Umgekehrt halten wir am Instrument der Sanktionen für diejenigen, die sich Arbeitsperspektiven verweigern, fest. Für uns gilt: Solidarität und Eigenverantwortung sind zwei Seiten einer Medaille. Daran halten wir fest. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Stephan Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004678, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Frau Präsidentin, vielen Dank, meine Damen und Herren, dass ich die Gelegenheit bekomme, kurz für die AfD-Fraktion zum Vorschlag des Vermittlungsausschusses, der gestern getagt hat, Stellung zu nehmen. Es geht um das Volkszählungsgesetz „Zensusgesetz 2021“, das hier im Bundestag mit breiter Mehrheit verabschiedet wurde. Die AfD-Fraktion hat es aufgrund inhaltlicher Mängel gerügt; ich nehme Bezug auf die Redner in der Debatte, die Kollegen Wirth und Seitz. Im Vermittlungsverfahren, das auf Betreiben des Bundesrates zustande kam, tat sich dann zunächst erst mal nichts. Gerüchte über das Vermittlungsverfahren kursierten seit September. Dann wurde relativ kurzfristig der Vermittlungsausschuss für den gestrigen 6. November einberufen, nachdem zuvor unter dem 31. Oktober 2019 ein Schriftstück versandt worden war, das überschrieben war mit: Formulierungsvorschlag als Ergebnis der Sondierungsgespräche. Erläutert wurde dies damit, dass Sondierungsgespräche unter Teilnahme von Vertretern aus Bund und Ländern stattgefunden hätten. Uns als AfD jedenfalls war völlig unbekannt, wer da mit wem was warum und auf welcher Rechtsgrundlage in welchem Umfang sondiert hat. Deshalb waren wir da von Anfang an skeptisch. Ein Formulierungsvorschlag war beigefügt, der sich bezog auf § 20 Absatz 3, § 23 Absatz 1, § 29 Absatz 1 und neu angefügt § 36 des Zensusgesetzes. Das war wohl einhellig bei diesen Sondierungsgesprächen so verhandelt worden. Zu § 34 des Zensusgesetzes gab es dann angeblich mündlich eine weitere Sondierung; keiner wusste das so genau. Gestern Abend wurde dann mehr oder weniger eine Neuformulierung des § 34 Zensusgesetz aus dem Hut gezaubert, wo zwei Sätze angefügt waren. Es gab dann ein ziemliches Hin und Her, und keiner wusste so genau, was mit diesen beiden Sätzen gemeint ist. Die beiden Sätze wurden dann wieder rausgenommen. ({0}) Es war die Rede davon, dass Protokollerklärungen abgegeben werden sollten. Das war gestern Abend im Vermittlungsausschuss alles schwer durchschaubar und aus unserer Sicht mit extrem heißer Nadel gestrickt. ({1}) – Das ist alles andere als einen Applaus wert; aber so wurde uns das gestern präsentiert. Die beiden AfD-Vertreter im Vermittlungsausschuss, also der Kollege Frömming und ich, haben deshalb gestern Abend gegen das Zustandekommen eines solchen Vorschlages des Vermittlungsausschusses gestimmt. Jetzt hatten wir heute Nacht Zeit, uns inhaltlich damit auseinanderzusetzen, ({2}) was in diesen rätselhaften Sondierungsgesprächen zwischen wem auch immer vermittelt worden ist. Wir sind zu der Auffassung gelangt, dass das Ergebnis als solches, dass das Gesetz als solches für die AfD-Fraktion durchaus zustimmungsfähig ist. Deshalb kündige ich für die AfD-Fraktion an, dass wir dem Gesetz, so wie es vermittelt worden ist, zustimmen, so wie es ja auch in den Lesungen hier im Bundestag von den Rednern bereits gesagt worden ist. ({3}) Gleichwohl müssen wir noch einmal darauf hinweisen, dass das, was sich gestern im Vermittlungsausschuss abgespielt hat, aus unserer Sicht ziemlich peinlich war. ({4}) Es war eine extrem schlechte Vorbereitung unter Ausgrenzung der Opposition. ({5}) Vielen Dank für Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Mir liegt eine Wortmeldung nach § 31 der Geschäftsordnung des Abgeordneten Carsten Schneider vor. Er hat damit das Wort. ({0})

Carsten Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003218, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Berichterstatter des Vermittlungsausschusses für den Bundestag will ich Ihnen kurz sagen, dass das Ergebnis des Vermittlungsausschusses aus unserer Sicht zustimmungsfähig ist. Der Kollege Brandner – ich wusste nicht ganz, wo er mit seiner Rede endet – hat das jetzt im Endeffekt auch für die AfD-Fraktion erklärt. Nach Anrufung des Vermittlungsausschusses durch den Bundesrat am 28. Juni 2019 – das ist also schon eine ganze Weile her – fand gestern, am 6. November, eine Sitzung statt; eingeladen dazu wurde ordnungsgemäß bei einer Frist von fünf Tagen am 30. Oktober, also sogar noch ein bisschen früher. Zu diesem Zeitpunkt lag den Kolleginnen und Kollegen aus Bund und Ländern auch der Einigungsvorschlag vor. Sie hatten also sechs, sieben Tage Zeit, ihn zu prüfen; dazu hätte es nicht die letzte Nacht gebraucht. Dieser Vorschlag, und nur dieser Vorschlag, den wir eingebracht haben, ist gestern auch beschlossen worden. Ich weise darüber hinaus zum einen hin auf eine Protokollerklärung der Bundesregierung hinsichtlich der Nutzung dieser Daten, die das jeweilige Bundesland betreffen, die ich zu Protokoll gegeben habe und die die Bundesregierung im Bundesrat noch abgeben wird. Zum Zweiten weise ich darauf hin, dass dieses Gesetz durch die finanziellen Veränderungen, die den Bund betreffen – der Bund wird zweimal 150 Millionen Euro den Ländern zur Verfügung stellen für die ihnen entstandenen Kosten des Zensus –, zustimmungspflichtig wird. Ich bitte Sie von daher, dem nachher auch zuzustimmen. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kurz zur Erklärung für alle, die jetzt erst den Saal betreten haben bzw. uns hier bei unserem Tun zuschauen: Wir sind im Moment bei der Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses zu dem Gesetz zur Durchführung des Zensus im Jahr 2021 auf Drucksache 19/14700. Dazu gibt es keine Aussprache; aber die Geschäftsordnung sieht vor, dass nach unterschiedlichen Regelungen Erklärungen abgegeben werden können. Und deshalb gebe ich jetzt nach § 31 unserer Geschäftsordnung der Kollegin Britta Haßelmann das Wort. ({0})

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Präsidentin! In der Regel beschließen wir hier ja Vorlagen des Vermittlungsausschusses ohne Aussprache; da sich jetzt aber zwei Fraktionen zu ihrem Abstimmungsverhalten erklärt haben, möchte ich für meine Fraktion, Bündnis 90/Die Grünen, als Vertreterin im Vermittlungsausschuss kurz erklären: Wir haben diesem Kompromiss im Vermittlungsausschuss nicht unsere Zustimmung geben können. Wir haben den Vorschlag des Vermittlungsausschusses zum Zensusgesetz abgelehnt. Meine Damen und Herren, ich habe noch nie einen so schlecht vorbereiteten Vermittlungsausschuss erlebt: weder vonseiten der informell eingesetzten Arbeitsgruppe noch vonseiten der Bundesregierung. ({0}) Denn aus meiner Sicht war bis zuletzt keine abgestimmte Rechtsauffassung der Bundesregierung im Vermittlungsausschuss vorgetragen worden, sondern allenfalls Einschätzungen einzelner Ministerien. Das halte ich für sehr problematisch. ({1}) Es hat sich ausschließlich das Bundesministerium des Innern zu datenschutzrechtlichen Fragen, die dieses Zensusgesetz betreffen, geäußert, und auf meine Rückfrage, ob es denn eine Stellungnahme des Datenschutzbeauftragten gebe oder etwa des Bundesministeriums für Justiz, war die Antwort ein Schweigen bzw. auf Nachfrage dann eine Verneinung. Ich halte das für wirklich unangemessen, ({2}) wenn sie in einer so gravierenden Frage, die datenschutzrechtliche Fragen berührt, so mit ihrer Verantwortung umgehen. Ich hätte mir gewünscht, dass eine Einschätzung des Datenschutzbeauftragten und eine abgestimmte Auffassung der Bundesregierung, also vonseiten des Bundesinnenministeriums und des Bundesjustizministeriums, vorgelegen hätten, bevor ich für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen über eine so gravierende datenschutzrechtliche Frage, nämlich die, wer die Zensusdaten, und zwar die gesamte Datenbank, nutzen darf, abstimme. Deshalb habe ich für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit Nein gestimmt und bin diesem Kompromiss im Vermittlungsausschuss nicht gefolgt. Vielen Dank. ({3})

Fabian Jacobi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004767, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Wird dieser Wahlvorschlag zugelassen, brauche ich das Wort nicht. Wenn er nicht zugelassen wird, dann erbitte ich das Wort zur Geschäftsordnung.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Dann haben Sie jetzt das Wort zur Geschäftsordnung; ({0}) denn Sie müssen dem Haus erst einmal erklären, was Sie wünschen. ({1})

Fabian Jacobi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004767, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zur Geschäftsordnung: Wir befinden uns im Tagesordnungspunkt „Wahl eines Stellvertreters des Präsidenten“. Das Grundgesetz sieht vor, dass der Präsident des Bundestages und seine Stellvertreter vom Bundestag gewählt werden. Als Mitglied des Bundestages nehme ich das Recht in Anspruch, zu dieser Wahl einen Wahlvorschlag zu machen. Dass die Mitglieder der Versammlung, welche eine Wahl vorzunehmen hat, auch Wahlvorschläge machen können, ist Kernbestand demokratischer Verfahren. Ich habe gerade vernommen, dass mein Wahlvorschlag nicht zugelassen wird. Das Präsidium vertritt, soweit mir bekannt, die Auffassung, unsere Geschäftsordnung verwehre den Abgeordneten, und damit auch mir, das Vorschlagsrecht. Nur eine Fraktion könne danach einen Wahlvorschlag machen. Nun wäre es eine interessante Frage, ob den Mitgliedern des Bundestages ein so elementares Mitwirkungsrecht durch eine bloße Geschäftsordnungsregelung entzogen werden könnte. Ich sage: Es „wäre … eine interessante Frage“; denn tatsächlich stellt sich diese Frage nicht, weil unsere Geschäftsordnung das gar nicht tut. ({0}) Schauen wir in § 4 der Geschäftsordnung. Er regelt die Wahl des Bundeskanzlers. Hier in der Tat finden wir eine Regelung, wonach Wahlvorschläge nur von einem Viertel des Hauses oder einer Fraktion dieser Größe gemacht werden können. Blicken wir zum Vergleich in § 2 der Geschäftsordnung. Er regelt die Wahl des Bundestagspräsidenten und seiner Stellvertreter. Hier findet sich eine solche Regelung nicht. Eine Einschränkung des Wahlvorschlagsrechts ist an dieser Stelle also gerade nicht vorgesehen. ({1}) Eine solche Einschränkung ergibt sich auch nicht, wie das Referat PD 2 meint, aus den §§ 75 und 76 der Geschäftsordnung. Dort ist lediglich geregelt, welche Vorlagen als selbstständige Punkte auf die Tagesordnung gesetzt werden können. Darum geht es hier aber nicht. Es geht nicht um die Aufnahme eines neuen Tagesordnungspunktes, sondern um einen Wahlvorschlag zu dem bestehenden Tagesordnungspunkt mit dem Verhandlungsgegenstand „Wahl eines Stellvertreters“. Ebenso wenig überzeugen kann die These, daraus, dass jede Fraktion im Präsidium vertreten sein soll, könne man ableiten, dass es immer nur einen Wahlvorschlag geben dürfe. Das ist bereits logisch unhaltbar; denn eine Fraktion kann ohne Weiteres mehreren Abgeordneten die Zustimmung geben, sie im Falle ihrer Wahl durch das Plenum im Präsidium zu vertreten, was meine Fraktion im Hinblick auf meinen Wahlvorschlag auch getan hat. Unabhängig davon geht diese Interpretation auch sprachlich fehl; denn die fragliche Formulierung „vertreten sein“ bedeutet nicht mehr, als dass mindestens ein Abgeordneter aus jeder Fraktion dem Präsidium angehören soll. Daraus ableiten zu wollen, die Mitglieder des Bundestages hätten kein Wahlvorschlagsrecht, ist reichlich kühn. Gegen die Auffassung des Referats PD 2 steht weiterhin die einschlägige juristische Literatur. Es gibt einen wissenschaftlichen Kommentar zur Geschäftsordnung des Bundestages. Schlägt man dort nach, findet man folgende Erläuterung: Vorschlagsberechtigt ist jedes Mitglied des BT … Jedes Mitglied kann daher unabhängig von dem Vorschlag seiner eigenen oder einer anderen Fraktion einen eigenen Wahlvorschlag unterbreiten. Greift man dann zu gängigen Kommentaren zum Grundgesetz, dem Maunz/Dürig etwa, entnimmt man der Kommentierung zu Artikel 40 des Grundgesetzes genau dasselbe: Jedes Mitglied des Bundestages ist vorschlagsberechtigt. Einen letzten Umstand möchte ich erwähnen – dann komme ich zum Schluss –, der mir beim Studium der Protokolle früherer Bundestagssitzungen aufgefallen ist: Über viele Jahrzehnte war es ständige Übung, dass vor einem Wahlgang zur Wahl eines Präsidenten oder eines Stellvertreters von dem jeweiligen Sitzungsleiter ausdrücklich gefragt wurde, ob es weitere Wahlvorschläge aus der Mitte der Versammlung gebe. Diese bis zur letzten Wahlperiode jahrzehntelange, ständig praktizierte Verfahrensweise ist in der laufenden Wahlperiode aufgegeben worden, ohne eine Änderung der Rechtslage oder sonstigen erkennbaren Grund. ({2}) Zum Schelm wird wohl, wer darauf sich einen Reim macht. ({3}) Nach alledem halte ich dafür, dass es mir zu Unrecht verwehrt wird, einen Wahlvorschlag zu machen. Ich bitte daher das Präsidium ebenso höflich wie eindringlich, seine Haltung zu überdenken und zu ändern. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Wünscht noch jemand das Wort zur Geschäftsordnung? – Das ist offensichtlich nicht der Fall.

Dr. Günter Krings (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003574

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Hassrede und Hasskriminalität einerseits und die offene und freiheitliche Gesellschaft andererseits stehen in einem krassen Gegensatz. Wo der Hass gedeiht, wird es eine offene Gesellschaft nicht geben, wird sie nicht gelebt; aber wo Offenheit und Freiheit herrschen, findet Hass keinen Nährboden. Leider ist die Verrohung von Sprache und Umgangsformen schon seit Längerem deutlich wahrnehmbar, insbesondere in den Medien und den sozialen Netzwerken. Ich will an dieser Stelle etwas zu einem ganz aktuellen Vorgang sagen: Als heute Morgen hier im Bundestag der Kollege Matthias Hauer einen Schwächeanfall erlitten hat, gab es in Netzforen zwar auch pflichtschuldige Gute-Besserungs-Wünsche, aber auch Bezeichnungen wie die, er habe in ekelhafter Arroganz gesprochen, oder die Frage, ob dieser Vorfall vielleicht Karma sei. ({0}) Ich erinnere auch an die Kommentare, die es in der letzten Woche im Netz gab, als Peter Altmaier auf dem Digital-Gipfel in Dortmund stürzte. Auch das waren unbeschreibliche Kommentare, die ich hier nicht wiederholen möchte. ({1}) Ich gehe zwar davon aus, dass wir es nach wie vor nur mit einer Minderheit von Fanatikern zu tun haben, diese ist aber sehr laut, und sie bekommt sehr viel, viel zu viel Aufmerksamkeit. Die zahlreichen schlimmen Äußerungen und zum Teil brutalen Gewaltfantasien lassen sich allerdings nicht einfach ignorieren. Dafür sind die Auswirkungen auf unsere Umgangsformen, auf unser Zusammenleben viel zu gefährlich. Wir sprechen hier auch nicht von Kavaliersdelikten, sondern von Straftaten wie Beleidigung, Verleumdung und Billigung schlimmster Straftaten. Manchen Personen wird öffentlich gedroht oder regelmäßig der Tod gewünscht. Besonders erschreckend ist das auch in den Fällen, in denen es Kolleginnen und Kollegen aus diesem Hohen Haus getroffen hat. ({2}) Wir denken, dass der Schritt zum tätlichen Angriff klein sein kann. Das hat etwa der Fall Walter Lübcke gezeigt. Dies alles darf keine gewöhnliche Begleiterscheinung für Menschen werden, die sich öffentlich engagieren. ({3}) Daher bin ich froh, dass wir in der vergangenen Woche im Kabinett ein ganzes Paket an Maßnahmen beschlossen haben, um den Rechtsextremismus und den Antisemitismus effektiv zu bekämpfen. Es soll gerade die Hasskriminalität dort eindämmen, wo Hetze, aggressive Beleidigungen und üble Schmähungen ermöglicht werden: eben in der vermeintlichen Anonymität des Internets. Wir hatten diese Maßnahmen übrigens schon vor dem schlimmen Anschlag in Halle vorbereitet. Drei Punkte aus dem Maßnahmenpaket möchte ich an dieser Stelle herausgreifen: Erstens führen wir eine Meldepflicht für soziale Netzwerke ein, die nach dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz zur Löschung von rechtswidrigen Inhalten verpflichtet sind. Rechtswidrige Inhalte müssen zusammen mit der IP-Adresse an das Bundeskriminalamt gemeldet werden. Im BKA-Gesetz und in der Strafprozessordnung wollen wir weitergehende Auskunftspflichten schaffen, damit auch eine effektive Strafverfolgung stattfinden kann. Das ist das Prinzip „Löschung und Strafverfolgung“. Für die Bearbeitung der Meldungen von Providern richten wir beim Bundeskriminalamt eine neue Zentralstelle ein. Dafür sind neue Stellen erforderlich, die wir in die Haushaltsverhandlungen eingebracht haben. Zweitens wird der Strafrahmen für Beleidigungen im Netz erhöht. Strafschärfend soll sich zukünftig auswirken, dass Beleidigungen hier eine besondere Reichweite haben. Ich empfinde es als zutiefst abstoßend, wenn, wie im Fall Lübcke, ein Mordopfer über Wochen hinweg, auch noch Wochen nach der Tat auf schlimmste Weise verhöhnt und ein brutaler Täter gefeiert wird. Das lässt mich einfach nicht los. Das können und werden wir nicht akzeptieren, meine Damen und Herren. ({4}) Drittens verstärken wir den Schutz von Kommunalpolitikern. Diese machen sich in besonderer Weise um ihre Region, um unser Gemeinwesen und damit auch um unsere Republik als Ganzes verdient. Doch gerade gegen sie richten sich besonders oft Hass, Hetze, Drohungen und sogar tätliche Angriffe. Die Beispiele von Henriette Reker in Köln oder Andreas Hollstein in Altena sind abschreckend genug. Wenn wir das oft ehrenamtliche Engagement nicht besser unterstützen, wird es bald immer weniger Menschen geben, die noch Verantwortung auf kommunaler Ebene übernehmen wollen. Diese Personen, diese Menschen haben unsere Unterstützung, die Unterstützung von uns hier in diesem Hause verdient. ({5}) Wir werden daher Kommunalpolitiker und Ehrenamtliche unter den besonderen Schutz von § 188 Strafgesetzbuch stellen. Dahinter verbirgt sich der Straftatbestand „Üble Nachrede und Verleumdung gegen Personen des politischen Lebens“. „Personen des politischen Lebens“ – das muss klargestellt werden – sind natürlich auch Lokalpolitiker. Sie arbeiten am Fundament unserer Demokratie. ({6}) Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Zeiten, in denen man im Internet keine Angst vor Strafverfolgung haben musste, sind vorbei. Das zeigen auch die Aktionstage gegen Hasspostings. An ihnen geht die Polizei in einer koordinierten Aktion gegen Hasskriminalität vor. Die Aktionen werden regelmäßig vom Bundeskriminalamt koordiniert. Gerade gestern fand der fünfte bundesweite Aktionstag statt. Beamte in neun Bundesländern waren im Einsatz und haben insgesamt mehr als 31 Maßnahmen durchgeführt. Es wurden Beweis- und Tatmittel wie Computer, Datenträger, Mobilfunkgeräte sichergestellt, die nun bei der Aufklärung der Straftaten helfen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, drei Bitten habe ich abschließend noch an Sie: Erstens. Wir müssen uns davor hüten, das Werturteil „Hass“ zu missbrauchen, indem wir den anderen im politischen Kampf der Meinungen damit in unberechtigten Fällen zu diskreditieren versuchen. Natürlich ist nicht alles, was der eigenen Meinung widerspricht, Hass. Die Meinungsfreiheit ist für die freiheitliche Demokratie schlechthin konstituierend. Wir wollen deshalb der Versuchung widerstehen, jede abweichende Meinung Hass zu nennen. Zweitens. Wir sollten uns darüber hinaus davor hüten, gute Absichten mit Hass zu verbinden. Ich las kürzlich etwa den Satz: „Wir müssen wieder hassen lernen – und zwar richtig.“ Das genau ist falsch. ({7}) Es gibt keine moralisch haltbare Unterscheidung zwischen gutem und bösem Hass. Hass ist generell zu verurteilen. Schließlich drittens: Wir Politiker sollten Vorbild sein. Wie sich einige jedoch auf Twitter, Facebook oder in Talkshowrunden verhalten, ist teilweise schon unerträglich. ({8}) Ich möchte daher in diesem Hohen Haus an alle Kolleginnen und Kollegen appellieren, zivilisierte Umgangsformen zu pflegen. Lassen Sie uns eine Debattenkultur erhalten, in der ein respektvoller Austausch von Argumenten im Vordergrund steht, nicht die Diffamierung des politischen Gegners. Ich würde mich freuen, wenn wir damit direkt hier, heute und jetzt beginnen würden. Ich danke Ihnen. ({9})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächster spricht der Kollege Dr. Marc Jongen für die Fraktion der AfD. ({0})

Dr. Marc Jongen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004768, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Schlechte Regierungspolitik bekämpft Symptome, anstatt die Ursachen eines Missstandes zu beheben. Ganz schlechte Regierungspolitik ist es, wenn der Missstand durch die Symptombekämpfung sogar noch verschärft wird. Genau das tun Sie mit Ihrer Bekämpfung sogenannter Hassrede, werte Regierungsparteien, Sie schüren erst richtig den Hass und heizen den Zorn an, für den Sie und Ihre Politik verantwortlich sind. ({0}) Damit wir uns klar verstehen: Ich spreche nicht von Beleidigungen, Verleumdungen, üblicher Nachrede oder Volksverhetzung, ({1}) die nach unserem Strafgesetzbuch schon längst strafbar sind. Ich spreche noch weniger von dem Anschlag in Halle oder dem Mordfall Lübcke, die Sie als „Hassverbrechen“ bezeichnen; abscheuliche Verbrechen, die verfolgt und hart bestraft werden müssen. In Ihren Initiativen gegen Hassrede und Hasskriminalität geht es aber um etwas ganz anderes. Sie instrumentalisieren und missbrauchen diese Fälle, um ein System der Unterdrückung der freien Rede, ({2}) der Zensur und der Angst in diesem Land zu installieren, um politisch Andersdenkende mundtot zu machen. ({3}) Interessanterweise spricht man ja immer nur von „rechter Hasskriminalität“ und rüstet zum „Kampf gegen rechts“, wenn es um dieses Thema geht. ({4}) Die wenigen schweren Straftaten halbirrer Extremisten greift man begierig auf, um die Gefahr des Rechtsextremismus maßlos aufzubauschen und in beispielloser Weise vor allem gegen unsere Rechtsstaatspartei, die AfD, zu hetzen. ({5}) Wenn kriminelle Linksextremisten regelmäßig Autos unbescholtener Bürger abfackeln oder sie in Hamburg und Leipzig ganze Straßenzüge verwüsten und Hunderte Polizisten verletzen, dann spricht man nicht von Hasskriminalität, sondern verharmlosend von „linken Chaoten“ oder „Aktivisten“. ({6}) Wenn Zugewanderte aus archaischen Kulturen ({7}) junge Frauen vergewaltigen und bestialisch morden, dann ist auch das kein Hass, ({8}) sondern dann sind das Beziehungstaten für die hinteren Seiten der Lokalblätter, da angeblich nicht von nationaler Relevanz. Minister Seehofer hat denn auch einen Neunpunkteplan zur Bekämpfung des Rechtsextremismus angekündigt; Herr Krings hat ihn heute vorgestellt. Neben einigen sinnvollen Punkten wie dem Schutz von Lokalpolitikern sollen künftig Anbieter von Internetseiten auch die IP-Adressen der Absender sogenannter Hassreden an das Bundeskriminalamt melden, ({9}) eine Hotline des Verfassungsschutzes zur Denunziation der eigenen Nachbarn als Rechtsextreme steht auch schon bereit. Herr Seehofer sagte, das sei erst der erste Schritt. Meine Damen und Herren, wenn Bespitzelung, Denunziation und Überwachung erst ein erster Schritt sind, dann frage ich mich, was der letzte sein wird: Internierung, Umerziehung, Entzug von Grundrechten? ({10}) Worum geht es denn hier eigentlich? ({11}) Wenn Kanzlerin Merkel in Indien 1 Milliarde Euro Entwicklungshilfe für Klimaschutz verspricht, während deutsche Rentnerinnen und Rentner am Monatsende ({12}) oft nicht genug zu essen haben, dann macht das die Menschen wütend. Wenn das Vermögen der Sparer durch Nullzins- und Negativpolitik der EZB kalt enteignet wird, ({13}) dann macht das die Menschen wütend. Wenn Milliarden und Abermilliarden an Steuergeldern für illegal Eingewanderte bereitgestellt werden, Einheimische für diese ihre städtischen Wohnungen verlassen müssen, dann erwacht ein Gefühl der Ohnmacht und des Zorns im Land. ({14}) Dieses Gefühl wollen Sie pathologisieren und kriminalisieren. Das Volk soll lämmerhaft erdulden, was immer Sie ihm antun – bis zur endgültigen Abschaffung Deutschlands. ({15}) Wenn Sie glauben, ich übertreibe, dann zitiere ich Ihnen hier aus der Broschüre der Amadeu-Antonio-Stiftung ein Beispiel für Hate Speech. ({16}) Hören Sie mal gut zu. Zitat: Gegenüberstellung von Wir- und Ihr-Gruppe und das Konstruieren eines Handlungszwangs: Wenn wir uns von denen weiter auf der Nase herumtanzen lassen, werden wir alle sterben. Mit anderen Worten: Wer das Wir-Gefühl für das Bestehen einer Nation für wichtig hält und im Übrigen auch der Demokratie – und das ist essenziell wichtig, meine Damen und Herren –, der ist bereits auf dem Weg zur Hasskriminalität und muss bekämpft werden. Ausdrücklich kein Hate Speech ist demnach die Herabsetzung Deutscher nach dieser Broschüre durch Bezeichnungen wie „Kartoffel“ oder, gerichtlich bestätigt, „Köterrasse“, weil sie angeblich keine gesellschaftliche Relevanz besitzen. Anetta Kahane, Präsidentin der Amadeu-Antonio-Stiftung und schon zu DDR-Zeiten als Stasispitzel aktiv, ({17}) schreibt im Vorwort – Zitat: Menschen also, in denen ein tiefer Hass brennt ... sind am Ende ... eher animalisch als human. Das ist auch so, wenn sich dieser Hass politisch ausdrückt. Meine Damen und Herren, hier wird dem politischen Gegner das Menschsein abgesprochen. ({18}) Das ist Totalitarismus in Reinkultur. ({19}) Die Wahrheit ist doch, dass diejenigen, die von der größten Besessenheit gegen sogenannte Hassrede ergriffen sind, selbst von tiefem Hass zerfressen sind, nämlich von kulturellem Selbsthass, meine Damen und Herren. ({20}) – Bitte hören Sie zu. – Nicht die AfD sät Hass in Deutschland, wie Sie behaupten. Wir geben dem gerechten Zorn im Land einen zivilen, einen parlamentarischen Ausdruck. ({21}) Hören Sie deshalb auf, die Symptome zu bekämpfen. Stellen Sie die Ursachen für diesen gerechten Zorn ab! Machen Sie Politik für das Volk und nicht gegen das Volk! Dann brauchen Sie auch keine Programme gegen Hassrede mehr. Dann haben Sie uns auf Ihrer Seite. Vielen Dank. ({22})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Als Nächster spricht für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Christian Lange. ({0})

Christian Lange (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003168

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will Ihnen sagen, was mich wütend macht. Mich macht wütend, wenn ein Abgeordneter im Deutschen Bundestag unterstellt, dass die Bundesregierung an der Abschaffung der Bundesrepublik Deutschland arbeiten würde. ({0}) Das ist das Ideengut der Identitären Bewegung. Das macht mich wütend. ({1}) Meine Damen und Herren, ich beginne mit einem Zitat: „Und dann werden wir Dir Deine Wampe aufschneiden.“ – Diese Zeilen, die ich soeben zitiert habe, stammen aus einer Mail, die unser Kollege Michael Roth vor einigen Tagen bekommen hat. ({2}) Zum Glück waren es nur Worte. Oft bleibt es aber nicht bei Worten. Rechtsextremistische Gewalttaten, wie der Terroranschlag von Halle und der Mord an Walter Lübcke, sind keine Einzelfälle. Sie sind die Spitze des Eisbergs rechtsterroristischer Hasskriminalität. ({3}) Allein dieses Jahr hat die Polizei 12 500 Delikte mit politisch rechtsmotiviertem Hintergrund registriert. Die Zahl rechter Gewaltdelikte liegt bei durchschnittlich zwei pro Tag. Nach Recherchen von „Zeit“ und „Tagesspiegel“ haben Rechtsextremisten seit der Wiedervereinigung 169 Menschen getötet. Das geschieht, liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht aus dem Nichts. Ein Mensch kommt nicht von heute auf morgen auf die Idee, einen anderen Menschen zu ermorden, allein weil diese Person eine andere Meinung vertritt. Die Morddrohung und die Ausführung derselben sind das Ende eines Prozesses, der verhältnismäßig harmlos beginnen kann. In Debatten werden Gruppen von Menschen abgewertet. Mit einem „Das wird man ja wohl mal sagen dürfen!“ wird der Diskurs nach rechts verschoben. Rassistische Sprüche bleiben unwidersprochen. Sie verfestigen sich als rassistische Meinungen. Den Sprüchen folgen oft offene Beleidigungen, Hass und Gewaltphantasien. Diese münden in handfeste Drohungen. Und das gipfelt schließlich in Gewalt, in Mord. Meine Damen und Herren, rechte Hasskriminalität ist aktuell eine der größten Bedrohungen unserer Sicherheit, und zwar unser aller Sicherheit. Ich befürchte, das ist vielen Menschen überhaupt nicht klar, vielleicht weil sie bislang nie zum Ziel von Rechtsradikalen geworden sind und glauben, es nie zu werden. Das Denken nach dem Motto „Mich trifft es ja nicht“ ist, finde ich, erstens zynisch, aber zweitens auch trügerisch. Ich erlaube mir, noch einmal aus der vorhin erwähnten Mail zu zitieren: Auch Deine Angestellten im Abgeordnetenbüro und im Außenministerium stehen auf unserer Liste. Wir wissen, wer Ihr seid. Wir wissen, wo Ihr seid. Und wir werden Euch kriegen, jeden Einzelnen. Meine Damen und Herren, wir müssen dieser Bedrohung Einhalt gebieten. ({4}) Wollen wir den sich immer weiter auftürmenden Hass stoppen und braune Echokammern durchbrechen und aufbrechen, müssen wir uns einem zentralen Problem stellen: dem Hass und der Hetze im Netz. Rechtsextremisten missbrauchen digitale Plattformen, um die Stimmung gezielt anzuheizen und Andersdenkende einzuschüchtern. Der grassierende Hass stachelt andere auf, und, schlimmer noch, empfängliche Personen fühlen sich ermutigt, den Worten der anderen Taten folgen zu lassen. Der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke ist ein grausames Beispiel dafür. Am Anfang stand nicht mehr als ein YouTube-Video, in dem sich Lübcke zur Fluchtdebatte geäußert hat. Hieran entzündete sich die Hetze, deren Opfer er schließlich wurde. Um zu verhindern, dass Rechtsextremisten ihre menschenverachtenden Botschaften im Netz verbreiten können, müssen wir also entschlossen handeln, und wir müssen dafür sorgen, dass Hasskriminalität konsequent strafrechtlich verfolgt wird. ({5}) Meine Damen und Herren, die Meinungsfreiheit endet dort, wo das Strafrecht beginnt. Das muss der Rechtsstaat durchsetzen, auch im Netz. ({6}) Hier wollen wir durch eine Reform des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes ansetzen. Die sozialen Netzwerke müssen dem Bundeskriminalamt zukünftig Fälle schwerer Hasskriminalität melden, wenn sie durch Nutzerbeschwerden hiervon erfahren. Damit konsequent gegen diesen Hass vorgegangen werden kann, schlagen wir dem Bundestag vor, gut 400 neue Stellen beim BKA zu schaffen. Aber das Ermitteln der Täter reicht nicht. Wir müssen es den Gerichten ermöglichen, härter gegen strafbaren Hass durchzugreifen. ({7}) Konkret sollen Beleidigungen, die im Internet begangen werden, zukünftig schärfer bestraft werden können. Solche Beleidigungen erreichen nicht nur ein größeres Publikum; sie sind wegen der gefühlten Anonymität im Netz meist auch deutlich aggressiver, und deshalb gehören sie auch schwerer bestraft. Eines ist mir ganz besonders wichtig, meine Damen und Herren: Wir müssen die Opfer von rechtsextremer Hasskriminalität besser schützen. ({8}) Deshalb werden wir das Melderecht ändern. Es kann nicht sein, dass Adressen von gesellschaftlich und politisch engagierten Menschen als Drohkulisse im Netz kursieren. ({9}) Ganz besonders schützen müssen wir all diejenigen, die sich in vorderster Reihe für unseren Rechtsstaat oder für unsere Sicherheit und unser Gemeinwesen einsetzen. ({10}) Dies gilt zuallererst – das hat der Kollege Krings zu Recht gesagt – für die Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker. ({11}) Ihnen, meine Damen und Herren, müssen wir den gleichen strafrechtlichen Schutz vor Verleumdung und übler Nachrede zuteilwerden lassen, wie wir ihn auf Bundesebene und wie ihn die Kolleginnen und Kollegen auf Landesebene bereits genießen. Schließlich sind sie vor Ort deutlich stärker betroffen. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen, das mir dabei einfällt, nämlich Markus Nierth. Anfang 2015 engagierte er sich als ehrenamtlicher Bürgermeister von Tröglitz für Flüchtlinge. Er legte dann sein Amt nieder, als eine rechtsextreme Demonstration an seinem Wohnhaus vorbeiführen sollte und er die Sicherheit seiner Familie nicht mehr gewährleistet sah. Meine Damen und Herren, diese ehrenamtlich tätigen Menschen brauchen unsere Hilfe und Unterstützung, und das werden wir jetzt auf den Weg bringen. ({12}) Deshalb werden wir § 188 Strafgesetzbuch erweitern. Wir werden diesen ungezügelten Hass nicht hinnehmen. Hass gehört nicht in eine zivilisierte Gesellschaft. ({13}) Wenn einige Menschen meinen, solche barbarischen Gefühle ausleben zu müssen, so ist es unser Rechtsstaat, der sie daran erinnern muss, dass wir in einer Zivilisation leben, in der es Regeln gibt, und diese Regeln sind nicht verhandelbar. ({14}) Das sind wir nicht nur den Eltern des Grundgesetzes schuldig; das sind wir der freiheitlich-demokratischen Grundordnung schuldig. Herzlichen Dank. ({15})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Mir liegt inzwischen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der Wahl eines Stellvertreters des Präsidenten des Bundestages, zweiter Wahlgang, vor. Von den 709 Mitgliedern des Hauses haben 638 ihre Stimme abgegeben; keine war ungültig. Mit Ja haben gestimmt 189, mit Nein haben gestimmt 430, 19 Enthaltungen. Damit hat der Abgeordnete Paul Viktor Podolay die erforderliche Mehrheit von 355 Stimmen verfehlt und ist nicht zum Stellvertreter des Präsidenten gewählt worden. Wir fahren fort in der Debatte. Nächster Redner ist der Kollege Manuel Höferlin für die Fraktion der FDP. ({0})

Manuel Höferlin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004057, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Staatssekretär Krings, wir werden heute nicht detailliert auf die Vorschläge eingehen. Ich glaube, viele Dinge, die Sie vorschlagen, haben ihre Berechtigung; andere lehnen wir ab. Wir glauben im Kern – das möchte ich vorweg sagen –, dass wir vorwiegend ein Problem der Durchsetzung des Rechts im Internet haben und dass wir nicht unbedingt neue Gesetze brauchen, um uns dort durchzusetzen. Wenn wir aber heute über Hassrede und Hasskriminalität sprechen, dann, finde ich, müssen wir vor allen Dingen darüber sprechen, wo denn beide ihren Ursprung haben. Wir müssen uns darüber unterhalten, ob nicht das wichtigste Werkzeug in unserer Gesellschaft, um die Zukunft zu gestalten, verloren gegangen ist, nämlich die Fähigkeit, Konflikte mit Worten auszutragen, die Fähigkeit, eine andere Meinung auch als Bereicherung zu empfinden, als Teil des demokratischen Diskurses, und die Fähigkeit, mit Sachargumenten anstatt mit Totschlagargumenten zu arbeiten. Niemand hier wird wahrscheinlich widersprechen, wenn ich behaupte, dass wir vor allen Dingen mehr über die Art und Weise, wie wir miteinander diskutieren, sprechen müssen, und darüber, dass es gleichzeitig eine Zunahme enthemmter, emotionalisierter, verrohter Sprache gibt – an vielen Stellen, nicht nur im Netz, sondern in der Breite der Gesellschaft – und dass der gegenseitige Respekt für die andere Meinung verloren geht. Das Schlimme daran ist, dass aus den Gedanken, die dem vorangehen, Worte werden, dass den Worten dann Taten folgen. Die Worte sind der Dünger für die Entstehung der Gewalt, die danach folgt. Wenn wir hier als Parlamentarier darüber reden, wie Hass in der Gesellschaft zu bekämpfen ist, dann müssen wir aber auch darüber reden, wie wir uns hier verhalten: Halten wir die Grundregeln des Umgangs miteinander ein? Sie haben es vorhin gesagt, Herr Lange – auch einer der Staatssekretäre hat es heute Morgen gesagt –: Die Art, wie mit dem Kollegen, der hier am Rednerpult im Plenum Probleme hatte, umgegangen wurde, ist ekelhaft, und das zeugt von null Respekt vor der Menschlichkeit; eine Art der Auseinandersetzung, die auch hier im Parlament existiert. ({0}) Wenn wir uns hier mit Gegenargumenten auseinandersetzen – deswegen sind wir hier; wir sind nicht hier, um uns gegenseitig damit zu beweihräuchern, dass wir alle die gleiche Meinung haben –, dann gehört dazu aber auch der Respekt vor dem Gegenargument. Dass der nicht praktiziert wird, erlebe ich hier oft in Form einer vehementen Brüllwand, die zu hören ist. Diese Brüllwand kenne ich so aus meiner vorherigen Zeit hier nicht. So schlimm war sie noch nie. ({1}) Es ist aber auch die Art und Weise, in welche Worte etwas gefasst wird. Wenn jemand Worte wählt wie, man werde Kollegen „jagen“ oder Personen „entsorgen“, dann sollte man sich klarmachen: Wir sind ein Vorbild für diejenigen, die aus der gleichen Partei auf kommunalpolitischer Ebene dies fortspinnen. Liebe Kollegen der AfD, ein kommunalpolitisch tätiger Kollege von Ihnen sagte, man solle den politischen Gegner an die Wand stellen. ({2}) Das ist die Fortführung dessen, was Sie hier vorleben. Auch auf der anderen Seite gibt es Worte, die gewählt werden, zum Beispiel, dass man politische Gegner auffordert, zu schottern. Das ist ein paar Jahre her. Trotzdem sind das Worte, die zu realer Gewalt führen, die deshalb gewählt werden, weil politische Auseinandersetzung offensichtlich nicht mehr ausreicht und durch Taten fortgeführt werden soll. ({3}) – Es ist aber die Verwandlung von Worten in Taten und in Gewalt, Frau Kollegin Künast. – Genau das ist es, worüber wir hier sprechen, und die Einsicht liegt bei null, rechts wie links, und dazwischen bewegen sich wahnsinnig viele Menschen, die einfach nur möchten, dass wir uns hier mit Worten in der Sache auseinandersetzen, und das geht total verloren. ({4}) Wir sollten uns also mehr mit dem Sachargument beschäftigen. Wir sollten mehr einen respektvollen Umgang miteinander pflegen. Wir sollten der Gegenmeinung nicht damit begegnen, dass wir sagen: Der ist politisch völlig anderer Meinung, ich komme nicht mehr weiter, und jetzt fange ich an, mit roher Sprache dagegen zu argumentieren. – Der nächste Schritt ist, dass die Sprache zum Straftatbestand wird, und dem folgt nachher die Gewalt. Viele der Kollegen aus allen Fraktionen haben in den letzten Wochen Auseinandersetzungen, Gewalttaten – zum Glück meistens nicht gegen Leib und Leben – gegen ihre Wahlkreisbüros erlebt. Warum? Weil die Worte des politischen Diskurses nicht mehr ausreichen und man anfängt, Scheiben einzuschlagen. Das ist der Beginn einer Verrohung, der wir hier auch ein Stück weit vorbeugen müssen. Wenn wir hier das Herz der Demokratie in Deutschland sind, vielleicht auch eines der Herzen in Europa, dann müssen wir mit gutem Vorbild vorangehen. Dafür braucht es keine neuen Gesetze. Dafür braucht es vor allen Dingen die Durchsetzung des Rechtsstaats und Vorbilder, die wir hier sein müssen. Denn wer, wenn schon wir hier nicht ordentlich miteinander diskutieren, soll denn draußen in der Gesellschaft, im Alltag, in der Kommunalpolitik, im Verein und im Ehrenamt miteinander ordentlich debattieren? In dem Sinne fasse ich diese Aktuelle Stunde auch ein Stück weit als Gelegenheit zur Selbstreflexion auf, damit wir hier mit mehr Vorbildcharakter agieren. Herzlichen Dank. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke ist die Kollegin Petra Pau. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktion Die Linke lehnt Hass und Gewalt als Mittel der Auseinandersetzung, auch der politischen, strikt ab. ({0}) Hass und Gewalt sind demokratiefeindlich und unmenschlich. Gleichwohl nehmen Hass und Gewalt dramatisch zu, im Internet und im wahren Leben. Sie betreffen nicht nur namhafte Persönlichkeiten, sondern ebenso Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker, Fußballschiedsrichter, Journalisten, Migranten, Menschen mit Behinderungen, Obdachlose – und ich könnte die Liste fortsetzen. Das ist besorgniserregend und nicht hinzunehmen. Aber wir müssen auch ehrlich sein, liebe Kolleginnen und Kollegen: Das kommt nicht überraschend; es war vorhersehbar. Ich war dabei, als Professor Heitmeyer und sein Wissenschaftlerteam am 11. November 2011, also lange bevor zahlreiche Flüchtlinge zu uns kamen, die Ergebnisse einer Langzeitstudie über „Deutsche Zustände“ vorstellten. Das Fazit der Wissenschaftler in Kurzfassung: Die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit nimmt zu, ebenso die Akzeptanz von Gewalt als Politikersatz. Zu den Ursachen sprachen sie ebenso kurz: Das Soziale wird ökonomisiert, die Demokratie entleert. Auf Politikdeutsch nennt man das „neoliberal“. Die Linke lehnt das bekanntlich konsequent ab. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, Hass und Gewalt wüten nicht nur irgendwo da draußen. Seit dem Einzug der AfD in den Bundestag werden sie auch hier an diesem Pult gepredigt. Herr Jongen, drei Zitate: ... wir werden Frau Merkel oder wen auch immer jagen ... – Herr Gauland. ... Kopftuchmädchen, alimentierte Messermänner und sonstige Taugenichtse werden unseren Wohlstand ... nicht sichern. – Frau Weidel. Wir haben ... mit ... Sozialleistungen Menschen nach Marxloh gelockt, die ... dafür gesorgt haben, dass es dort nun Kakerlaken- und Rattenplagen gibt. – Herr Sichert. Deshalb wiederhole ich: Die AfD ist demokratisch gewählt, völlig klar. Aber deshalb sind Sie noch lange keine demokratische Partei. ({1}) Wer so etwas hier in den Raum stellt, ruft zu Hass auf. Nun ist diese Aktuelle Stunde zum Thema „Hass und Gewalt“ sicher richtig, entscheidend ist aber, dass Hass und Gewalt im Alltag erkannt und auch geahndet werden. Ich nannte gerade den 11. November 2011. An diesem Tag geschah noch etwas anderes, das sich mir tief eingeprägt hat. Im Bundesamt für Verfassungsschutz wurden massenhaft Akten vernichtet und somit den parlamentarischen Untersuchungen zum NSU-Nazi-Mord-Komplex entzogen. Zur Verantwortung gezogen wurden die dafür Zuständigen nie. Drei Monate später versprach die Bundeskanzlerin Angela Merkel den Angehörigen und Überlebenden des NSU-Terrors die bedingungslose Aufklärung. Davon kann bis heute keine Rede sein. ({2}) Die Zuständigen haben die Kanzlerin hier in den Meineid getrieben. Staatliches Versagen dieser Art ist kein Einzelfall, Stichwort „Neukölln“, wo Nazis – Faschisten, sage ich – seit Jahren wüten, Anschläge verüben – gefasst und belangt wurden sie bis heute nicht. Das ist ein Skandal. ({3}) Damit zum Schluss. Die Lösung zu alledem liegt nicht in immer noch mehr Personal und immer neuen Befugnissen für die Sicherheitsbehörden. Ich denke, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen besser ausgebildet, mehr sensibilisiert und auch konsequent geführt werden. Wir müssen uns eingestehen: Wir haben hier ein gesellschaftliches Problem – und nicht erst dann, wenn etwas passiert ist. Es ist eine Alltagsaufgabe, dass wir uns um die Demokratie nicht nur kümmern, sondern für sie kämpfen. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Irene Mihalic für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Irene Mihalic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004353, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Leider erleben wir schon lange, was es heißt, wenn die Saat des Hasses aufgeht, und zwar nicht erst seit dem Mord an Walter Lübcke, dem antisemitischen Anschlag in Halle oder den aktuellen Morddrohungen gegen Mitglieder dieses Hauses. Schon seit Jahren breitet sich der Hass vor allem im Virtuellen, aber auch außerhalb unverblümt aus. Menschen, die sich ehrenamtlich für unser Gemeinwesen engagieren, leiden darunter, auch weil sie oft schutzlos sind. Deshalb haben sie all unsere Unterstützung und uneingeschränkte Solidarität verdient. ({0}) Schlimm ist, dass sich schon viele an diesen Hass gewöhnt haben und ihn inzwischen als etwas völlig Normales empfinden. Das Perfide ist aber, dass diejenigen, die den Hass kübelweise über andere Menschen auskippen, permanent behaupten, in Deutschland dürfe man ja nichts mehr sagen. Aber Hass ist keine Meinung. ({1}) Immerhin: Nach den jüngsten Anschlagsereignissen wird immer mehr Menschen das volle Ausmaß des Hasses bewusst, der über Jahre hinweg kommuniziert, organisiert, vernetzt und mobilisiert wurde. Es ist wirklich höchste Zeit, diesem Hass entschlossen zu begegnen, und zwar mit allem, was unseren demokratischen Rechtsstaat ausmacht. ({2}) Genau dieses Signal senden wir heute, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich bin den Koalitionsfraktionen sehr dankbar, dass sie diese Aktuelle Stunde unter genau diesem Titel aufgesetzt haben. Denn genau darum geht es: entschlossen für die zentralen Wesensmerkmale einer offenen und freien Gesellschaft einzutreten und diese Wesensmerkmale nicht angstvoll und verschämt zu verschweigen oder sogar preiszugeben. Diese Klarheit – das muss ich hier leider auch in Erinnerung rufen – war nicht immer da. Nach den Angriffen auf Migrantinnen und Migranten in den frühen 90er-Jahren gab es in der Politik einen ganz anderen Reflex. Anstatt gegenüber der sich neuformierenden Naziszene – wir reden hier über die Generation Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe – wirklich kompromisslos klare Kante zu zeigen, hat man genau das Gegenteil gemacht und das Problem bei den Opfern gesucht. Das Grundrecht auf Asyl wurde damals de facto abgeschafft, und damit wurde sogar dem Kalkül der Täter entsprochen. ({3}) Genau wie nach den Anschlägen auf Geflüchtete nach 2015: Wieder blieben Täterstrukturen, Vernetzungen und Strategien nahezu unbehelligt. Die Anschläge wurden sogar mit Worten wie „Resonanzstraftaten“ semantisch heruntergespielt. Am Ende wurde das Asylrecht wieder verschärft, nach dem Motto: Man muss doch die Wut der sogenannten Asylkritiker – was ist das überhaupt für ein Wort? – verstehen. – Nein, muss man nicht. ({4}) Anschläge gegen Menschen, gegen Geflüchtete, gegen Politiker, gegen Besucher von Moscheen und Synagogen sind verabscheuungswürdig, und es muss alles getan werden, um sie zu verhindern. Punkt! ({5}) Es ist gut, dass alle Demokratinnen und Demokraten diese Verantwortung mittlerweile wirklich glasklar benennen und Handlungswillen zeigen. Das ist die richtige Reaktion. Über das Wie werden wir im parlamentarischen Diskurs selbstverständlich zu diskutieren haben, und genau das unterscheidet hier im Haus fünf Fraktionen von der sechsten. Die Fraktionen des Verfassungsbogens von der Linken bis hin zur CDU/CSU sind zweifellos politische Gegner mit völlig unterschiedlichen politischen Konzepten. Aber es ist ein Kernelement der parlamentarischen Demokratie in Deutschland nach allen historischen Erfahrungen, dass wir politische Konkurrenten sind, aber eben keine Feinde. Die AfD denkt nur in Kategorien der Feindschaft. ({6}) Das spiegelt sich in Ihrem ganzen Auftreten wider. Ihnen geht es um pure Destruktivität. Es gibt von Ihnen keinen einzigen positiven Debattenbeitrag, ({7}) und den wird es auch nie geben. Ihr natürlicher Bündnispartner ist der Hass. ({8}) Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, bin ich Ihrem Generalsekretär Paul Ziemiak – ich sage das nicht oft – für seine klaren Worte sehr dankbar und rate Ihnen dazu: Bleiben Sie entschlossen! Kooperieren Sie nicht mit den Bündnispartnern des Hasses, ({9}) nicht in Thüringen und nicht anderswo! Wir wissen aus unserer Geschichte, dass Einrahmungsstrategien und Bündnisse mit Faschisten in die größte Katastrophe der Menschheit geführt haben. Das ist eine historische Lehre, die wir niemals vergessen sollten. ({10}) Ich will es ohne Umschweife sagen: Es ist bedrückend, dass der parteipolitisch organisierte Hass in einigen Bundesländern ein Viertel der Wählerstimmen auf sich vereinigen kann. ({11}) Aber darauf kann man nicht mit der Preisgabe wesentlicher demokratischer Prinzipien reagieren oder sich sogar vom Hass die politische Agenda diktieren lassen. Ganz im Gegenteil: Wir müssen die Menschen für die Demokratie gewinnen, indem wir die Stärken des Parlamentarismus wieder neu leben und kontroverse Diskussionen zur Sache führen, sodass wieder jede und jeder im Land bei ganz zentralen Fragen mitdiskutieren kann. Nicht in der Einschränkung von Rechtsstaat und Parlamentarismus liegt die Antwort, sondern darin, diese zentralen Bestandteile unseres Zusammenlebens viel stärker und uneingeschränkt zu betonen. Das ist die Lehre in Zeiten, in denen Hass und Feindschaft uns alle herausfordern. Ganz herzlichen Dank. ({12})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächste Rednerin ist die Kollegin Elisabeth Winkelmeier-Becker für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Elisabeth Winkelmeier-Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003865, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke schön. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörer auf den Tribünen! Wir hatten schon in der letzten Sitzungswoche Anlass, über die Demokratie zu sprechen, über die Bedeutung des freien Wortes, des Austausches, über dieses wichtige Merkmal unseres Staates: die Meinungsfreiheit, die für diese Demokratie auch existenzielle Bedeutung hat. Ich denke, es ist klar, dass die Meinungsfreiheit gegenüber dem Staat uneingeschränkt wirkt und Gültigkeit hat. Aber wir sehen immer mehr das Problem, dass aus anderer Richtung Grenzen für die Meinungsfreiheit und Bedrohungen erwachsen. Shitstorms und Mobbing, Beleidigung, massive Drohungen, Hass und Hetze in den Social Media – wer will da eigentlich noch von Social Media reden? Diese Einschränkungen und Bedrohungen gehen von anderen Nutzern aus. Das sind diejenigen, um die wir uns heute kümmern müssen. Wir müssen Hass und Hetze brandmarken, weil wir sie als Gefahr für unsere Demokratie sehen. Sie zielen darauf, andere einzuschüchtern, und missbrauchen damit die eigene Meinungsfreiheit. Immer weiter werden die Grenzen des Sagbaren verschoben. Kann man jetzt wieder sagen: „Ich glaube nicht an den Holocaust“? Kann man Politikerinnen aufs Übelste sexistisch beleidigen? Darf man missliebige Menschen „entsorgen“? Darf man den Wahlzettel bei der Kanzlerinnenwahl mit zur Toilette nehmen und ein Foto davon öffentlich posten? Darf man so das Amt der Bundeskanzlerin beschädigen? ({0}) Ein Bürgerlicher, ein Konservativer würde das nicht tun. Darf man den Hashtag „#Judaslohn“ platzieren und damit antisemitische Klischees bedienen? ({1}) Bei Letzterem frage ich mich übrigens: Welche Art von Posts sollten eigentlich unter diesem Hashtag zusammenkommen? Bestimmt nicht Artikel, die das Lebenswerk von Udo Lindenberg würdigen. ({2}) Ich muss sagen: Wer im Netz als Mr. Hyde unterwegs ist, der kann sich nicht an anderer Stelle darauf berufen, als Dr. Jekyll zu agieren. Vielmehr handelt es sich um eine einzige Person, die sich an ihrem Handeln in dem einen Fall auch in der anderen Funktion messen lassen muss. ({3}) Die Entwicklung mag verschiedene Ursachen haben. Der Soziologe Kai Unzicker von der Bertelsmann-Stiftung, also nichts Rechts- oder Linksradikales, jedenfalls führt es konkret auch auf die Rolle der AfD zurück, dass nahezu alles sagbar erscheint, egal wie rassistisch, menschenverachtend oder geschichtsvergessen es auch ist. Ich empfehle, sich hierzu mal die Facebook-Seite „Wir werden sie jagen“ anzusehen, wo Zitate von AfD-Politikern zusammengestellt und dokumentiert werden. Was hier vielleicht noch unter die nun wirklich zu Recht und gerade im politischen Raum sehr weiten rechtlichen Grenzen der Meinungsfreiheit einzuordnen ist, hat jedenfalls schon längst jeden Anstand verlassen. ({4}) Und das wirkt. Der Diskurs wird vergiftet. Indirekt wird die Meinungsfreiheit anderer eingeschränkt, aber auch die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen und ihre Handlungsfreiheit. Im Extremfall gefährdet es sogar Leib und Leben. Hier verschiebt sich auch unsere Rolle als Staat und als Gesetzgeber. Aus dem Recht auf Meinungsfreiheit folgt nicht nur mehr das Abwehrrecht gegen den Staat, sondern es ruft uns auch auf, zu handeln und Regeln zu setzen und durchzusetzen, die die Meinungsfreiheit wieder sichern. Dazu braucht es ein gezieltes Vorgehen gegen solche Hass- und Hetzrede. Deshalb ist es gut, dass wir mit dem Paket, das die Innen- und Rechtspolitiker vorgelegt haben, jetzt einsteigen und weitere Schritte gehen. Aus dem Blickwinkel der Rechtspolitik ist es besonders wichtig, dass die Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden verbessert wird; denn da, wo die zuständige Staatsanwaltschaft einen Post für strafrechtlich relevant hält, muss sie schnell alle möglichen Angaben bekommen, um den Täter zu identifizieren und gegen ihn vorzugehen. Bisher ist im NetzDG nur geregelt, dass man praktisch einen Briefkasten hat und eine Antwort bekommt; aber es gibt keinen materiellen Anspruch auf die Daten, die dann gebraucht werden. Diesen müssen wir jetzt schaffen. Ich bin auch sehr froh, dass wir endlich unsere jahrelange Forderung nach einer Erhöhung des Strafrahmens bei Beleidigung im Netz aufgreifen; denn es ist wirklich etwas anderes, ob eine Beleidigung auf einem Marktplatz, in der Gaststätte oder eben im Netz passiert, das nichts vergisst. ({5}) Das müssen wir jetzt schnell umsetzen, und auch danach dürfen wir nicht zur Tagesordnung übergehen; denn es steht viel auf dem Spiel. Vielen Dank. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der AfD der Kollege Martin Hebner. ({0})

Martin Hebner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004740, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Völlig klar ist: Bestehende Gesetze sind konsequent anzuwenden und der Rechtsstaat mit Nachdruck zu verteidigen. Dafür steht die AfD. ({0}) Nur linke Hetzplattformen wie Indymedia bleiben heute unangetastet. Und zum Entsetzen vieler Bürger draußen versagt der Staat auch bei der Bekämpfung von kriminellen Ausländern, ({1}) zum Beispiel bei Ibrahim Miri, wo der Staat bei der Ausweisung völlig versagt. Oder: der Unwillen des Staates, seine Grenzen zu schützen. Währenddessen haben hier etliche der Redner im wahrsten Sinne des Wortes Hate Speech auf ihren Lippen. Am meisten aber erstaunt die Ruhe, mit der einschneidende rechtliche Änderungen von der Gesellschaft, von Medien und Politik quittiert werden. Dabei ist die Erosion unserer freiheitlichen Demokratie nicht zu übersehen. Mit Worten beginnt es: Etliche Städte haben hierzulande den „Klimanotstand“ erklärt. In der letzten Woche erfolgte in Dresden der Ausruf des „Nazinotstands“. Nun könnte man meinen, dass gerade mit dem Wort „Notstand“ ein sensibler Umgang angebracht wäre. Notstandsgesetze führten nach Weimar direkt in die Nazidiktatur; das berüchtigste war das Ermächtigungsgesetz vom März 1933. Danach wurde das Parlament für die Mitwirkung an Gesetzen obsolet. Notstand spaltet die Gesellschaft. ({2}) Nach Ihrer Definition ist das gerade Hate Speech. Warum tun Sie nichts gegen diese Hassrede? Na klar, Sie nutzen sie, von der Mitte bis ganz links. ({3}) In demokratischen Ländern bedeutet Notstand in der Regel die Verkürzung des Rechtsschutzes gegen staatliche Maßnahmen. Wir ahnen, was hier vorbereitet wird: Verbote, die die Einschränkung der bürgerlichen Gegenwehr bedeuten. Diese umfassen die Nutzung von privaten Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor, das Bewohnen von mehr als einer noch festzulegenden Anzahl von Quadratmetern Wohnraum, das Heizen mit fossilen Energieträgern, die Erhebung von annähernd kostendeckenden oder gar renditeorientierten Mieten, die Ermöglichung des Einspruchs gegen Windparks vor dem eigenen Haus, die Inanspruchnahme von Meinungsfreiheit und Bürgerrechten. All das und noch viel mehr kann unter Umständen wegfallen, natürlich alles nur im Sinne einer guten Sache, die – ebenso natürlich – von links definiert wird. Wer dagegenspricht, spricht Hassrede. ({4}) Bislang landete er dann auf der Meldeplattform eines Herrn Böhmermann. ({5}) Doch jetzt hat Herr Haldenwang den TV-Clown Böhmermann abgelöst. Durch den Bundesverfassungsschutz wurde eine staatliche Melde- und Denunziationshotline eingerichtet. Dort erfolgt wie zu finstersten Zeiten die Bürgerbespitzelung. ({6}) Das kommt davon, wenn man einen Mann mit Rückgrat wie Herrn Maaßen durch einen willfährigen Bürokraten ablöst. ({7}) Der Tatbestand „Hassrede“ ist bewusst unbestimmt gehalten, weil man erkannt hat, dass mit dem Vorwurf der Verleumdung, übler Nachrede, Beleidigung oder gar Volksverhetzung dem freien Denken und Argumentieren der Bürger nicht beizukommen ist. ({8}) Wenn sich aber Nachbarn nun gegenseitig anzeigen können – sogar anonym und damit für den Denunzianten folgenlos –, haben viele der „Roten Socken“, der überlebenden Nazispitzel und weitere viel erreicht. Und weil diese Inquisition links ist, ist aus Ihrer Sicht alles Hassreden als rechts zu sehen. ({9}) Und genau das ist Ihr Denkfehler; denn Professor Nadine Strossen, die ehemalige Vorsitzende der American Civil Liberties Union argumentierte, die Reaktion auf Hate Speech in der EU sei vollkommen falsch. Ich zitiere: ({10}) Egal wie gut gemeint: In der Praxis ist das Verbot von „Hate Speech“ bestenfalls wirkungslos und im schlimmsten Fall kontraproduktiv. Frau Strossen erklärt: Hass ist eine Emotion. Es gibt kein allgemeingültiges Konzept der „Hate Speech“. ({11}) – Und weiter: In der westlichen Welt scheinen wir den grundlegenden Zusammenhang zwischen Meinungsfreiheit und allen anderen Freiheiten in der Gesellschaft vergessen zu haben. „Weg mit der Redefreiheit“ bedeutet „Weg mit der freien Gesellschaft“. Das ist definitiv nicht im Sinne der Bürger, und dagegen wenden wir uns als AfD. ({12}) Im Übrigen kann ich nur sagen: Die Herren Lindner und de Maizière haben ja bereits Erfahrungen damit, was passiert, wenn man die Büchse der Pandora der Linken überlässt. Hate Speech ist im Übrigen ein politischer Begriff und kein juristischer. Dementsprechend ist die Definition politisch beliebig. ({13}) Es geht Ihnen hier um ein Machtmittel, um nicht mehr; denn ansonsten würden Sie gegen – und ich zitiere wiederum – Hate Speech wie „Faschist“, „Pack“, „Ratten“, ({14}) „Nazidrecksau“ oder auch – was einer Kollegin von den Grünen passiert ist –„Drecksfotze“ anders einschreiten. ({15}) Hier der deutliche Hinweis: Hate Speech ist ganz klar etwas anderes als ein Eingriff in die Persönlichkeitsrechte. ({16}) Hier geht es um eine politische Kampagne, und wir stehen für die Freiheit der Bürger und gegen politische Kampagnen, in diesem Falle gegen diese von Ihnen inszenierte Hetzjagd und das Abwürgen von konservativen Meinungen im gesellschaftlichen Kontext. ({17}) Wir brauchen kein Wahrheitsministerium. Vielen Dank. ({18})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Uli Grötsch für die Fraktion der SPD.

Uli Grötsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004282, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, sehr geehrter Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erlauben Sie mir zu Beginn meiner Rede zwei Klarstellungen, zum einen zu dem Thema Notstand – was Sie eben angesprochen haben, Herr Hebner: Ich glaube eher, dass man im Falle eines Notstands sofort konsequent handeln muss, und das, glaube ich, war das, was der Stadtrat von Dresden mit dem Begriff „Nazinotstand“ zum Ausdruck bringen wollte. ({0}) Und weil beide Redner ihrer Fraktion den Vorschlag eines „Hinweistelefons Rechtsextremismus“ beim Bundesamt für Verfassungsschutz kritisiert haben: Sie wissen wahrscheinlich nicht, dass es eine Forderung Ihrer Fraktion war, ein „Hinweistelefon Linksextremismus“ einzurichten – also ein typischer Reflex, den wir hier alle kennen. Also reden Sie nicht über Denunziantentum, sondern informieren Sie sich erst, wo Ihre eigenen Forderungen liegen. ({1}) „Wir werden dir mit einem Messer ein Kreuz in dein Gesicht ritzen, so wie ein Hakenkreuz!“, „Tötet Uli Grötsch – Genickschuss wie bei Lübcke!“, „Die Phase bevorstehender Säuberungen wurde mit Herrn Lübcke und dem Herrn Hollstein eingeleitet. Es werden ihm noch viele weitere folgen, unter anderem Sie!“ – Diese Angriffe gegen mich, gegen Claudia Roth, gegen Cem Özdemir, gegen Michael Roth und viele, viele andere fallen nicht vom Himmel, liebe Kolleginnen und Kollegen. Morddrohungen, Hassreden und Hasskriminalität mehren sich in diesem Land, seit Rechtsextremisten in den Parlamenten und überall in Deutschland und Europa wieder ihr Gift versprühen. ({2}) Die allermeisten Straftaten gegen Politikerinnen und Politiker seit 2016 sind rechts motiviert. ({3}) 2016 waren es mehr als 800. Das sind Angriffe auf alle Demokratinnen und Demokraten in diesem Land, und deshalb müssen wir uns alle wehren. ({4}) Vielleicht fragen Sie sich einmal, ob es Zufall sein kann oder Sie es nicht doch so wollen, dass die Hasskriminalität in diesem Land kontinuierlich steigt, seit Sie auf die politische Bühne gestiegen sind. Von 2014 auf 2015 hat sich die politisch motivierte Kriminalität von rechts fast verdoppelt, und zwar von 5 000 auf 9 500 Delikte. 2016 verzeichneten wir einen weiteren Anstieg, nämlich 9 700 politisch motivierte Straftaten von rechts. ({5}) Und weil Sie den Vergleich mit links so lieben: Von links gab es im Jahre 2016 75 politisch motivierte Straftaten. ({6}) Auch das sind 75 zu viel, um das ganz klar zu sagen. ({7}) Aber es sind 75 im Vergleich zu 9 700! Merken Sie was? ({8}) Und jetzt die erschreckendste Zahl: Kevin Schwarze – jetzt sind wir beim Terroranschlag von Halle – war das 199. Opfer des Rechtsextremismus seit 1990 nach der Zählung der Amadeu-Antonio-Stiftung. ({9}) Und ich bezweifle, dass Kevin das letzte Opfer bleibt. In Deutschland befinden sich legale Waffen in den Händen von fast 800 Rechtsextremisten. Legale Waffen in den Händen von beinahe 800 Rechtsextremisten, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die vollständige Entwaffnung der deutschen Neonaziszene ist deshalb eine zentrale Herausforderung für die Sicherheitsbehörden. ({10}) Ich sage es noch einmal: Hasskriminalität kommt eindeutig von rechts, und die AfD bereitet nicht nur den Nährboden – Hass ist ihr Geschäftsmodell. ({11}) Und deshalb ist es gut, dass sie samt ihrem Geschäftsmodell beim Verfassungsschutz auf dem Prüfstand steht. Ja, es brechen schlechte Zeiten für Sie an. ({12}) Wir werden unser Maßnahmenpaket gegen Rechtsextremismus sehr zügig in Gesetzesform gießen; das wurde eben schon gesagt. Hass und Hetze in den sozialen Netzwerken werden wir konsequent strafrechtlich verfolgen, ({13}) und unsere Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker werden wir strafrechtlich besser vor Hetze schützen. ({14}) Ich bin vor allem Christine Lambrecht, unserer Bundesjustizministerin, sehr dankbar, dass sie mit ihrer Null-Toleranz-Haltung gegen rechts ganz klar zeigt, wo ihr und unser Schwerpunkt liegt. Gerade wir Sozialdemokraten, die Hunderte Opfer des Nazifaschismus zu beklagen haben, wissen, was in unserer Gegenwart auf dem Spiel steht. Den Bürgerinnen und Bürgern auf den Tribünen oder vor dem Bildschirm möchte ich zum Schluss noch sagen: Mit Gesetzen und Strafverfolgung allein ist es nicht getan. Die Verteidigung unserer Demokratie ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Wer ein weltoffenes, freiheitliches Deutschland will, der muss jeden Tag mit anpacken, zum Beispiel in der Schule. ({15}) Und deshalb fordere ich auch weniger Plusquamperfekt und mehr Demokratieunterricht in deutschen Schulen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({16}) Aber auch im Verein, am Arbeitsplatz und in der Familie sind wir alle gefragt: gegen Spaltung, gegen Hetze; denn zuerst kommt immer das Wort. Die SPD haben Sie an Ihrer Seite. Wir sind mehr, liebe Kolleginnen und Kollegen von den demokratischen Fraktionen! ({17}) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({18})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Alexander Throm für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Alexander Throm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004917, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mit einem Beispiel aus der realen Welt beginnen. Sie erinnern sich sicherlich alle noch an die Pegida-Galgen, die Angela Merkel und Sigmar Gabriel galten und die man später sogar noch als Miniaturausgabe über das Internet erwerben konnte. Cem Özdemir – gerade war er noch da – hat damals gesagt: Der Galgen grenzt an „Aufruf zu Mord“. Und er brachte, glaube ich, damit das Grundgefühl aller Demokraten zum Ausdruck: Das kann doch nicht legal sein, das kann doch nicht in Ordnung sein! – Zwei Staatsanwaltschaften haben den Fall geprüft. Beide Ermittlungsverfahren sind eingestellt worden, weil kein Straftatbestand verwirklicht war. Alle Kritik im öffentlichen Bereich, im politischen Bereich, von Frau Künast bzw. auch von Ministerpräsident Kretschmann hat da nicht gewirkt. Es ist die heute geltende Rechtslage. So etwas passiert nicht nur in Versammlungen; im Internet geht es erst richtig ab. Da sollen Menschen, die einem nicht passen oder die scheinbar falsche Meinung haben, verprügelt, aufgeknüpft und an die Wand gestellt werden. Das ist Alltag – und beileibe nicht nur bei Politikern. Ich möchte aus dem Internet ein weiteres Beispiel anführen: Ein Politpost, den man auch erwerben kann, der massenhaft verteilt wird, zeigt ein Foto von Graf Stauffenberg, auf dem es heißt: „Merkel länger an der Macht als Hitler. … Und kein Stauffenberg in Sicht.“ Ich finde es besonders perfide, dies in einen Zusammenhang zu bringen. Ich verstehe das als einen Aufruf zum Mord, finde es strafwürdig und habe es deshalb auch zur Anzeige gebracht. ({0}) Die Staatsanwaltschaft in Heilbronn ebenso wie eine zweite haben auch hier entschieden: kein strafbarer Hintergrund; ({1}) weder Volksverhetzung noch eine öffentliche Aufforderung zu Straftaten, für die es eine besonders hohe Strafandrohung gibt. Das heißt aber: Wir haben hier eine Strafbarkeitslücke, Herr Kollege Höferlin. ({2}) Genau diese Situation machen sich diejenigen zunutze: Sie segeln unter dieser Strafbarkeitsebene und bringen ihren Hass in die Welt, ohne dass sich der Staat hier wehren kann. Und ja: Aus diesem Hass – Sie haben es gesagt –, aus Worten können Taten werden. Wir haben es im Fall von Walter Lübcke bitter erleben müssen; auch da waren die meisten Posts, die meisten Äußerungen in der Hetzkampagne nicht strafbar. Den Zusammenhang zwischen Hetze im Netz und Straftaten haben wir eigentlich alle erkannt. Ich möchte ein paar Aussagen zitieren. Bundespräsident Steinmeier: „Wo die Sprache verroht, ist die Straftat nicht weit.“. Angela Merkel: „Sprache kann zu Hetze, Hetze zu Taten werden.“. Herr Habeck von den Grünen: „Wir wissen inzwischen, dass aus gewaltbereiter Sprache wirkliche Gewalt wird, … aus dem Appell, zu jagen, wirkliche Jagd auf Menschen.“. Und auch die Kollegin Strack-Zimmermann von der FDP: Wenn das respektvolle, kultivierte Miteinander in der Sprache „nicht mehr juristisch geschützt wird, dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis den Worten Gewalt folgt“. Wir haben einen parteiübergreifenden Konsens. Deswegen, glaube ich, ist es an der Zeit, dass wir unseren Worten jetzt endlich Taten folgen lassen. Wir als Gesetzgeber müssen dafür sorgen, dass das, was wir alle für strafwürdig halten, tatsächlich auch strafbar ist. ({3}) Deshalb habe ich mit verschiedenen Kollegen meiner Fraktion bereits Mitte Oktober eine Initiative gestartet, um das Befürworten von schweren Straftaten unter Strafe zu stellen. Den Versuch hat es Ende der 80er-Jahre schon einmal gegeben. Anlehnend an die Volksverhetzung wollte man einen § 130b StGB einführen, hat es dann aber wegen damals geringer kriminalpolitischer Bedeutung unterlassen. Damals ging es um Flugblätter, heute geht es um Posts, die durch einen Klick hunderttausendfach die Menschen erreichen. Es muss strafbar werden, dass man die Begehung einer Straftat so befürwortet, dass es andere zur Tat verleiten könnte. Genauso wie bei der Volksverhetzung ist das Schutzgut die Wahrung des öffentlichen Friedens. Bei einem Straftatbestand geht es nicht nur darum, möglichst viele Verurteilungen zu erwirken, sondern er wirkt vor allem präventiv. Jeder Hass-Post, der aus diesem Grund gar nicht erst geschrieben wird, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Deswegen müssen wir dieses Thema angehen. Ich würde mich freuen, wenn wir den Konsens, den wir sicherlich haben, gemeinsam umsetzen und diese Strafbarkeitslücke schließen. Herzlichen Dank. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der SPD der Kollege Helge Lindh. ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine Zeit lang hing an der Wand in meinem Wahlkreisbüro als Leihgabe ein explodierend rotes Gemälde mit der Aufschrift „No“. Warum „No“? Wenn sie dann in lauten Tönen saufend ihrer Dummheit frönen, denn am Deutschen hinterm Tresen, muss nun mal die Welt genesen, dann steh auf und misch dich ein: Sage nein! ({0}) Das stammt aus einem wunderbaren Lied von Konstantin Wecker, und dieses eigentlich alte Lied ist in diesem Moment aktueller denn je. Warum müssen wir angesichts von Hasskriminalität und Hassrede Nein sagen? Warum sind wir alle gefordert? Weil wir uns einer Form der Bewaffnung entgegensehen. Diese Bewaffnung fordert dringend Entwaffnung. Sie fordert dies in Form von ganz konkreten Maßnahmen – einige wurden schon benannt –, zum Beispiel dadurch, dass die Feinde der Verfassung eben buchstäblich keine Zugänge zu Waffen bekommen, dass wir so etwas wie eine Regelanfrage einführen, dass diejenigen, die als Mitglieder verfassungsfeindlicher Vereinigungen bekannt sind, nicht mehr die Möglichkeit dazu erhalten, dass es auch eine Nachberichtspflicht gibt. All das sind einige unter vielen Instrumenten dieser Entwaffnung. Aber die Entwaffnung meint auch eine Entwaffnung der Sprache und des Digitalen. Denn was ist Hassrede anderes als eine Waffe in Bild und Wort, gerichtet gegen die Schwächeren und Schwächsten in diesem Land? Diese Entwaffnung ist dringend notwendig; aber auch das reicht nicht. Die „lauten Töne“, von denen ich eben mit Konstantin Wecker sprach, der Suff des Völkischen und der „Deutsche hinterm Tresen“ sind mit der AfD in dieses Parlament eingezogen. Der Hass ist in dieses Parlament und in viele andere eingezogen, und damit die Waffe der Hassrede und der Begünstigung von Hasskriminalität . ({1}) Meinungsfreiheit ist eben nicht die Freiheit, alles einfach sagen zu dürfen. Meinungsfreiheit ist nicht Regelfreiheit. Ein Parlament ist auch nicht die Karikatur eines Stammtisches, was Sie heute hier wieder vorgeführt haben. Nein, das ist es alles nicht. Das ist hier ein öffentlicher Ort, der Respekt und Würde erfordert. Wenn Sie es wagen, ihn zum Stammtisch zu machen, und hier „die Deutschen hinterm Tresen“ Weckers markieren, dann bekommen Sie von uns allen eine deutliche Antwort darauf. ({2}) Aber warum machen wir das alles? Ich glaube, es reicht nicht, über Maßnahmen zu sprechen. Wir brauchen vielmehr die erzählten Geschichten dahinter, und das sind die Geschichten der Opfer. Ich selbst habe reichlich Erfahrung mit Bedrohungen, Beschimpfungen, Morddrohungen. ({3}) Ich habe eine Gewohnheit, dass man mich tituliert als schwuchteliger Clown oder als Ausgeburt von Inzucht. Aber ich bin privilegiert. Was ist mit den geflüchteten Familien, die ich begleitet habe, die von Sympathisanten der Identitären Bewegung angerufen werden? Wie fühlen die sich? Wie fühlten sich die Jüdinnen und Juden in Halle, die um einen Wimpernschlag dem Mord entgangen sind? Wie fühlten sich Musliminnen und Muslime nach Christchurch während des Freitagsgebets? Wie fühlen sich all die angesichts von Hasskriminalität und Hassrede? Ihretwegen – nur ihretwegen – müssen wir Hassrede und Hasskriminalität den Kampf ansagen. Ihretwegen sind wir hier, und allein ihretwegen müssen wir handeln. ({4}) Es reicht aber nicht, denke ich, einfach nur dagegen zu sein. Wofür sind wir dann? Wofür stehen wir? Wenn hier nämlich der – ich zitiere Herrn Jongen von eben – „gerechte Zorn“ einzieht, ({5}) wenn also der Hass in seiner eben vorgeführten nackten Hässlichkeit auftritt, dann müssen wir dem antworten. ({6}) Wir müssen dem antworten mit der Schönheit der Vielfalt und dem Pluralismus, den wir alle darstellen. Wir müssen dem antworten mit der Anmut der Debatte und des Streits der Argumente von links bis konservativ. Wir müssen dem antworten mit der Würde der Mehrheiten und der Minderheiten. Wir müssen dem antworten mit der Anerkennung derer, die sich nicht wehren und schützen können. Das ist unsere Aufgabe und nichts anderes. ({7}) Deshalb sage ich, wenn wir versammelt sind: Wenn diejenigen, die sozial abgehängt sind, darum bitten, dass wir ihnen eine Stimme verleihen, wenn der leider zusammengebrochene Kollege Hauer erfahren muss, wie kurz darauf widerliche Hasskommentare im Netz erscheinen, wenn Kollegin Högl von vermeintlichen Lebensschützern angegriffen wird, wenn Cem Özdemir, Michael Roth, Claudia Roth unsere Unterstützung an ihrer Seite brauchen, dann sage ich zu euch allen: Hört zu! Lauft hin! Und seid da! Sage Ja! ({8})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Christoph Bernstiel. ({0})

Christoph Bernstiel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Was an Hass, Hetze, Mobbing und Diskriminierung in unseren sogenannten sozialen Netzwerken unterwegs ist, das sprengt längst die Grenzen des Ertragbaren. Viel zu lange haben wir geglaubt, dass sich die Community selbst regulieren wird, dass wir mit Meldepflichten der Sache Einhalt gebieten können und dass am Ende der gesunde Menschenverstand und vor allen Dingen der Anstand siegen werden. Wir haben 2006 eine Antidiskriminierungsstelle eingerichtet, und wir haben mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz zum ersten Mal versucht, diesem Hass Einhalt zu gebieten. Doch die Wahrheit ist: Das alles reicht nicht aus. Der Fall Walter Lübcke und auch der furchtbare Anschlag in meiner Heimatstadt Halle zeigen, dass es nach wie vor Schutzzonen für diejenigen gibt, die Hass, Gewalt und Hetze im Internet verbreiten. Ich sage an dieser Stelle auch: Dieses Phänomen haben wir nicht erst, seit es die AfD gibt. Leider gibt es noch viel mehr verwirrte Geister, die sich im Internet herumtreiben und bewusst die Schlupflöcher des Rechtsstaates nutzen. Ich nenne die Beispiele Twitch und Steam. Diese beiden Plattformen fallen nämlich nicht unter das Netzwerkdurchsetzungsgesetz, da sie im weitesten Sinne keine Onlinecommunities sind. Diese rechtsfreien Räume müssen wir schließen. Wenn Horst Seehofer sagt, dass wir mit der Gaming-Szene sprechen müssen, dann meint er natürlich nicht, dass wir die ganze Gaming-Szene unter Verdacht stellen. Was er meint, ist, dass sich sehr wohl – das weiß ich aus eigener Erfahrung – auf vielen Onlineplattformen Gruppen von Rechtsextremisten, Islamisten und teilweise auch Linksextremisten herumtreiben und zusammenziehen, die sich unter ganz eindeutigen Namensbezeichnungen austauschen und ihr radikales Gedankengut im Internet verbreiten. Diese rechtsfreien Räume müssen geschlossen werden, und wir müssen dort hinschauen. Im Übrigen: Wir sagen, wir brauchen mehr Gesetze oder rechtliche Regelungen – ich habe eben ein Beispiel genannt, wo das tatsächlich angebracht ist –, aber was wir vor allem brauchen, ist etwas mehr Sensibilisierung, und zwar bei unseren Gerichten und auch bei unseren Sicherheitsbehörden. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sich bei fast allen Kollegen hier Beispiele für akute Hetze und Aufrufe zur Gewalt finden, die bei der jeweiligen Polizeidienststelle angezeigt wurden, und der zuständige Polizeibeamte oder die Polizeibeamtin waren erst mal überfordert. Wenn man Glück hatte, dann ging das Verfahren bis zur Staatsanwaltschaft oder sogar zu einem Richter, und dann kam viel zu häufig – ich habe es selber so erlebt – eine Antwort nach dem Motto „Das ist nur ein Bagatelldelikt, und das ist jetzt nicht weiter verfolgungswürdig“. Dann müssen wir diese Rechtspraxis angehen. Der aktuelle Fall von Renate Künast – Entschuldigung, dass Sie immer wieder genannt werden – zeigt ja eindeutig, dass es dort an einer Sensibilisierung fehlt. Dazu brauchen wir nicht mehr Gesetze, sondern vor allen Dingen mehr Bewusstsein und mehr Schulung bei unserem juristischen Personal, meine Damen und Herren. ({0}) Wenn wir über Sensibilisierung reden, dann möchte ich ein Thema ansprechen, das auch in den Bereich der Hasskriminalität, der Diskriminierung und des Mobbings fällt. Es ist ein sehr unschönes Thema. Jeden zweiten Tag stirbt in unserem Land ein Jugendlicher aufgrund von Mobbing: durch Mobbing in den Selbstmord getrieben. Das ist ein Phänomen, das wir leider nicht so offen behandeln, wie es notwendig wäre. Es gibt einen sehr erfolgreichen Menschen in diesem Land, der sich den Kampf gegen Mobbing auf die Fahne geschrieben hat. Das ist Carsten Stahl. Er hat bisher über 52 000 Jugendliche gecoacht. Er tut das in seiner sehr unorthodoxen Art und Weise, nämlich in der Sprache der Jugendlichen. Das stößt bei vielen auf Verwirrung oder Verwunderung. Aber er ist erfolgreich in dem, was er tut. An ihm können wir alle uns ein Beispiel nehmen. Denn er schaut hin, und er spricht die Probleme an. Eine aktuelle Studie des LKA Niedersachsen zeigt leider, dass 43 Prozent derjenigen, die Hasskriminalität, Diskriminierung und Mobbing im Internet wahrnehmen, schweigen. Lassen Sie uns dieses Schweigen durchbrechen. Lassen Sie uns gegen Hasskriminalität vorgehen. Werden auch wir alle laut. Nutzen wir die Möglichkeiten, die der Rechtsstaat bietet. Zeigen wir an. Sagen wir aktiv „Nein, das ist Unsinn, was hier erzählt wird“. Fühlen wir uns genötigt, auf einen dämlichen Kommentar zu antworten und denjenigen zur Rede zu stellen, der so etwas bringt. Was auch hilft, ist eine Aktion, wie sie kürzlich von der Polizei bundesweit durchgeführt wurde. In 13 Bundesländern wurden 30 Hasshetzer aus dem Internet völlig überraschend in ihren Wohnungen aufgesucht und zur Rede gestellt. Zeigen wir diesen Menschen, dass das Internet kein rechtsfreier Raum ist und dass sie sich dort nicht verstecken können. Dafür werden wir kämpfen. Mit dem hier angestoßenen Neun-Punkte-Maßnahmenplan, der der Anlass für diese Aktuelle Stunde war, tun wir einen Schritt in die richtige Richtung. Herzlichen Dank. ({1})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächste spricht für die Fraktion der SPD die Kollegin Susann Rüthrich. ({0})

Susann Rüthrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004391, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Amerikanischen Cherokees wird folgende Geschichte zugeschrieben: Ein Großvater sitzt mit seinem Enkel am Lagerfeuer und erzählt ihm von zwei Wölfen, die in jedem Menschen wohnen und dort einen Kampf führen. Einer der beiden Wölfe ist böse. Er ist der Zorn, der Neid, das Vorurteil, der falsche Stolz. Der andere ist gut. Er ist die Freude, die Hoffnung, die Demut, das Mitgefühl. „Welcher der beiden Wölfe gewinnt?“, fragt der Enkel. – „Der, den du fütterst.“ Liebe Kolleginnen und Kollegen, Hass ist ein starkes Gefühl. Liebe auch. Der Großvater in der Geschichte erinnert uns daran, dass wir alle die angenehmen wie die unangenehmen Gefühle in uns tragen. Es ist die Verantwortung eines und einer jeden von uns, welche unserer Gefühle wir starkmachen. ({0}) Was bei der einzelnen Person die Liebe ist, das ist für die Gesellschaft vielleicht der Frieden. Das Mitgefühl und die Empathie des Individuums sind in der Gesellschaft vielleicht die Solidarität und der soziale Zusammenhalt. Die Freundschaft der Einzelnen wird unter vielen vielleicht zu Nachbarschaftlichkeit und Kollegialität. Auf uns alle als Gesellschaft und Politik übertragen heißt das also, dass auch wir gemeinsam dafür verantwortlich sind, welchen Wolf wir füttern: den des Nationalismus, des Rassismus, des Kampfes untereinander oder den des Gemeinsinns, der Nächstenliebe oder auch der Schwesterlichkeit und Brüderlichkeit? Liebe Kolleginnen und Kollegen, meinen Hass bekommen die Hassenden nicht – und noch nicht einmal meine heutige Redezeit. Die widme ich nämlich all denen, die Tag für Tag Gutes tun. Ich danke denen, die in Zwickau Bäume pflanzen, um der Opfer des NSU zu gedenken. ({1}) Sie pflanzen die Bäume zur Not auch ein zweites Mal, und sie werden dann einzeln angestrahlt. Ich danke denen, die den Opfern von Nazis und anderen Menschenfeinden beistehen, ob bei der Anzeige, vor Gericht oder im Alltag, sei es in der Straßenbahn oder auf dem Sportplatz. Ich danke denen, die diese Zivilcourage in Projekttagen an Schulen durch Rollenspiele und Theaterstücke erproben, denen, die die Opfer und Übergriffe zu zählen versuchen, und denen, die die Schulleiterin oder die Bürgermeisterin beraten, wenn es einen menschenverachtenden Angriff gab, wenn eine rechtsextreme Gruppe Terror verbreitet, wenn Nazis marschieren und wenn sie selbst oder ihre Stadt- und Gemeinderäte bedroht werden. Ich denke auch an die, die in Gefängnissen mit zu Tätern gewordenen Menschen reden, damit sie nicht radikaler aus dem Gefängnis herauskommen, als sie hineingegangen sind. Ich denke an die Patinnen und Paten, die für Menschen, die neu zu uns gekommen sind, da sind. Von wem sonst sollen diese Menschen unsere Werte lernen, wenn nicht von anderen Menschen, die sich ehrlich für sie interessieren? Ich danke denen, die mit Stolpersteinen in ihrer Stadt an diejenigen erinnern, deren Enkel heute unsere Nachbarn wären, wenn ihre Verwandten nicht aus Hass und vollkommener ideologischer Verwahrlosung in die Flucht getrieben oder ermordet worden wären. Ich danke denen, die in ihrer Community durch Empowerment einen festen Anker in unsere Mitte legen, damit alle bei uns gehört und beteiligt werden, denen, die in Verbänden und Vereinen lernen, wie man so diskutiert, dass nicht der Stärkere, sondern das stärkere Argument sich durchsetzt, die sich in Freiwilligendiensten engagieren, die forschen – zu menschenverachtenden Einstellungen beispielsweise –, die als Journalistinnen und Journalisten berichten, und denen, die Menschen vor dem Ertrinken retten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich könnte meinen Dank noch lange fortsetzen. Einzelne dieser Aktiven zu benennen, ist gar nicht nötig; denn es gibt sie überall im Land. Erinnern wir uns an den Großvater. Es ist unsere Entscheidung, wen wir unterstützen. Viele dieser Aktiven unterstützen wir bereits mit dem Programm „Demokratie leben!“. Das reicht künftig im Bereich der Zivilgesellschaft für mal zwei, mal sechs Modellprojekte im Land. Es gibt aber viel zu viele, die nicht zu den geförderten Projekten gehören. Viel zu viele haben ab 2020 keine Perspektive mehr für ihre Unterstützung, weil das Geld dem Bedarf der Zivilgesellschaft hinterherhinkt und weil ohne ein Demokratiefördergesetz alle paar Jahre wieder alles neu erfunden werden muss, was ein Modell sein will. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen doch, was wir brauchen: für eine Daueraufgabe eine dauerhafte Finanzierung. Der Enkel am Lagerfeuer fragt auch uns, welches Gefühl gewinnt: das böse oder das gute? – Das, um das du dich am meisten kümmerst! Vielen Dank. ({2})

Carsten Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003815, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meinungsfreiheit ist das Fundament einer offenen und freiheitlichen Gesellschaft. Meinungsfreiheit erscheint uns heute oftmals als selbstverständlich. Dabei ist sie hart erkämpft worden. Wenn wir heute diese Debatte führen, dann sollten wir auch daran denken, dass buchstäblich nur ganz wenige Meter östlich von hier bis vor rund 30 Jahren Meinungsfreiheit eben nicht galt. Das macht sie heute für uns alle eben umso wertvoller. Meinungsfreiheit gilt nicht unbegrenzt; es ist nicht alles mit ihr zu rechtfertigen. Wir können nicht zulassen, dass beleidigt wird, verunglimpft wird, die Würde von Menschen herabgesetzt wird, die Verbrechen der Nazizeit geleugnet oder bagatellisiert werden. Wenn wir das nicht zulassen, dann schränkt das die Meinungsfreiheit nicht ein, sondern dann wird sie dadurch im Kern gestärkt. Wir haben in den letzten Wochen und Monaten ganz bedauerlicherweise traurige Ereignisse in diesem Land erleben müssen, und wir haben festgestellt, dass die zunehmende Hassrede Hemmschwellen absenkt und den Nährboden für physische Hasskriminalität schafft. Die Koalition hat das bereits im Jahr 2017 zum Anlass genommen, das Netzwerkdurchsetzungsgesetz auf den Weg zu bringen. Damals hat sie durchaus ganz erheblichen Gegenwind gespürt und entsprechende Bedenken entgegengehalten bekommen. Heute diskutieren wir in einer deutlich sachlicheren Atmosphäre. Es haben sich zwischenzeitlich verschiedene Dinge ereignet. Das Urteil, das die Kollegin Künast betraf, ist heute mehrfach angesprochen worden, und ich bin, ehrlich gesagt, ein Stück weit froh darüber, dass wir heute diese sachliche Diskussionsatmosphäre haben. Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz, das ganz wesentlich Hate Speech bzw. Hassrede entgegenwirken soll, hat sich bewährt. Es wirkt, und wir haben uns bereits seinerzeit – vor etwas über zwei Jahren – zum Ziel gesetzt, dass wir dieses Gesetz ganz genau im Auge behalten und evaluieren. Warum haben wir das gemacht? Weil das weltweit gesehen ein Prototyp war. Bis dato hatte es noch nie einen Ansatz gegeben, mit einer nationalen Gesetzgebung international operierende soziale Netzwerke zu regulieren und zum Maßhalten anzuhalten. Es gab seinerzeit, wie gesagt, viel Kritik, und ich will durchaus in Richtung von Bündnis 90/Die Grünen schauen und den Kollegen von Notz aus dem Januar 2018 zitieren, der damals behauptete, das Netzwerkdurchsetzungsgesetz richte einen massiven Schaden an und die Meinungsfreiheit werde beschnitten. Wir haben, ehrlich gesagt, das Gegenteil erlebt, und ich bin zufrieden, dass selbst Bündnis 90/Die Grünen bei der Anhörung des Rechtsausschusses im Mai dieses Jahres einräumen musste – auch die Sachverständigen, die von Ihnen benannt worden sind, haben das gesagt –: Ja, im Kern hat es sich bewährt. Wir wollen dieses Gesetz nachschärfen, weil wir damit auf einem guten Wege sind. Die CDU/CSU-Fraktion hat die dringende Erwartung, dass wir das Netzwerkdurchsetzungsgesetz noch im ersten Quartal des nächsten Jahres umfangreich, intensiv diskutieren und novellieren. Worum geht es uns dabei? Es geht uns dabei darum, die Wirksamkeit des Gesetzes dadurch zu verbessern, dass wir unter anderem die Strafverfolgungsbehörden stärken, sie also personell und sachlich besser ausrüsten – auch das gehört zum Projekt Rechtsstaat –, und wir wollen die Ermittlungen effizienter gestalten. Netzwerke müssen verpflichtet werden, Daten herauszugeben. Dabei geht es nicht nur um eine formale Verpflichtung, sondern sie müssen auch materielle Ansätze dafür liefern, dass Straftäter verfolgt werden können. Wir wollen darüber hinaus – das ist uns ganz wichtig – eine staatsferne Selbstregulierung etablieren und glauben, dass wir damit eine weitere qualitative Entwicklung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes bewirken können. Wir schauen dabei nicht nur in die eine Richtung, sondern das Thema ist Meinungsfreiheit. Deswegen haben wir uns auch vorgenommen, ganz klar geregelte Verfahren zur Wiedereinstellung von unrechtmäßig gelöschten Inhalten zu etablieren und diese einfach zugänglich zu machen. Das ist eben auch eine Ausprägung von Meinungsfreiheit. Wir wollen vergleichbare Transparenzberichte sehen – sie sollen gut verständlich sein –, und wir wollen ein sichtbares und verständliches Meldesystem auf diesen sozialen Plattformen haben. Hinzu kommen weitere Maßnahmen, die von den Vorrednern und Vorrednerinnen verschiedener Fraktionen zum Teil schon angesprochen worden sind. Ich will hier auf den Kollegen Bernstiel abheben, der die Gaming-Szene erwähnte. Er selber kommt aus Halle, und wir haben im Zusammenhang mit der traurigen Tat dort recht intensiv über die Gaming-Szene diskutiert. Uns als Union ist auch wichtig, zu betonen: Wir stellen mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz und seiner Novellierung niemanden unter Generalverdacht. Wir wollen da sehr genau und sorgfältig hinschauen, aber nicht über das Ziel hinausschießen. Eines ist klar – das gehört eben auch zum Rechtsstaat –: Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz steht immer vor den Gemeinschaftsregeln. Niemand und nichts steht über dem Gesetz. ({0}) Ich darf Sie bitten, an diesem kurz bevorstehenden Vorhaben mitzuwirken. Meinungsfreiheit ist ein ganz zentrales Grundrecht – das wichtigste in den Augen vieler Bundesbürger. Lassen Sie uns gemeinsam an einer Stärkung der Meinungsfreiheit – auch im Netz – arbeiten. Herzlichen Dank. ({1})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Die Aktuelle Stunde ist beendet.

Dr. Roy Kühne (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004334, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz schaffen wir nun endlich die Grundlage für den Anschluss unseres Gesundheitssystems an die Digitalstruktur in Deutschland. Drei Dinge haben dabei für mich oberste Priorität: Erstens. Digitale Anwendungen und Apps müssen verantwortungsvoll in den Versorgungsalltag eingebunden werden. Zweitens. Innovative Formen der Zusammenarbeit einzelner Leistungsanbieter können und müssen die Arbeit am Patienten und mit dem Patienten deutlich verbessern. Drittens. Durch digitale Anwendungen – das ist, glaube ich, eines der primären Gebote, die wir mit diesem Gesetz verfolgen sollten – müssen wir ganz klar bürokratische Hürden abbauen. Uns muss klar sein, dass jede unnötige – ich betone bewusst: unnötige – Bürokratiezeit schlichtweg Zeit ist, die dem Patienten fehlt, und das können wir uns heute nicht mehr leisten. Die Verbesserungspotenziale der Digitalisierung sind aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Unsere Kinder leben damit, werden damit groß und haben dadurch Vorteile. Wir haben in den vergangenen Jahren oftmals wahrscheinlich zu zögerlich, zu zaghaft auf Argumente von einzelnen Gruppen reagiert und haben uns dadurch in den Rückstand bringen lassen. Wir sehen, was international möglich ist. Wir sehen, welche Vorteile dadurch generiert werden, und wir haben es bisher nicht geschafft, solche Vorteile in Deutschland zu nutzen, obwohl wir sie in anderen Ländern immer bestaunen, bewundern und sagen: Das muss doch bei uns auch möglich sein. Ich bin deshalb unserem Minister sehr dankbar, dass er endlich die Digitalisierung des Gesundheitswesens zur Priorität gemacht hat. Er hat eine eigene Digitalabteilung aufgebaut. ({0}) Und er hat endlich – wartet; das ist mir auch wichtig – dafür gesorgt, dass 51 Prozent der Anteile jetzt beim Bund liegen. Damit können wir agieren, und dieses Hin und Her hört endlich auf. Das kann man draußen nämlich keinem mehr erklären. – Jetzt klatschen. ({1}) Mir ist auch wichtig, dass wir durch die Digitalisierung eine gewisse Interprofessionalität herstellen. Es kann nicht sein, dass Wissen irgendwo vorhanden ist, aber andere Menschen, die ebenfalls am Patienten arbeiten, im Bereich Pflege, Heilmittel, Hilfsmittel, gar nicht mitbekommen, was da eigentlich los ist. Diese Interprofessionalität ist Voraussetzung für erfolgreiches Arbeiten, morgen und übermorgen. Ich nehme einfach mal das Beispiel „frühkindliche Skoliose“, wo verschiedenste Leistungserbringer beteiligt sind. Bisher war es so, dass per Papier übermittelt wurde: Was ist der Cobb-Winkel? Wie oft? Was soll passieren? – Das muss der Vergangenheit angehören. Die Berufe müssen so nah zusammenrücken, dass der Patient spürt: Ah, die reden miteinander, und es ist auch gewollt, dass sie miteinander reden. Meine Erwartung ist ganz klar: Wir brauchen Transparenz. Wir müssen mit diesem Gesetz den Bürokratieirrsinn abbauen. Wir müssen dafür sorgen, dass die Patienten wissen, wer welche Informationen hat, und dass sie den Schlüssel dafür auch in der Hand halten, dass sie entscheiden können, wer welche Informationen bekommen soll. Es geht auch darum, wie wir damit weiterhin nachhaltig Datenschutz betreiben können. Datenschutz ist für mich immens wichtig, darf aber nicht im Wege stehen. Deshalb müssen wir beobachten – da sind wir gerade dabei –, wie dieses Gesetz nachher umgesetzt wird. Wir wissen alle: Einige der im GKV-VSG vorgesehenen Maßnahmen – ich erinnere zum Beispiel an die Software der Kollegen aus der Ärzteschaft – sind bis heute immer noch nicht zu hundert Prozent umgesetzt. Wir müssen immer noch nachfragen, was passiert. Also, wenn wir dieses Gesetz, mit dem wir Leistungserbringer verpflichten, digital miteinander zu kommunizieren, umsetzen wollen, müssen wir auch dafür sorgen, dass es an der Basis durchgesetzt wird. Deshalb bin ich unserem Minister – ich sage es noch mal – sehr dankbar, dass wir es hier heute diskutieren. Ich freue mich, dass wir dieses Gesetz hoffentlich dann auch erfolgreich nach vorne bringen. Danke für die Aufmerksamkeit. ({2})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Uwe Witt für die Fraktion der AfD. ({0})

Uwe Witt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004937, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste des Hohen Hauses! Herr Minister Spahn! Wie wir bereits wissen, hat die Bundesregierung das Thema Digitalisierung in den letzten Jahren im Dämmerschlaf an sich vorbeiziehen lassen. Nun legt Gesundheitsminister Spahn einen Gesetzentwurf vor, der sich ganz in den Stil der anderen Konzepte der Bundesregierung wie zum Beispiel des Klimaprogramms 2030 einreiht. ({0}) Statt eines Gesamtkonzeptes zur allgemeinen Verbesserung der digitalen Versorgung gibt es eine Flickschusterei von vielen Einzelmaßnahmen, die zwar gut gemeint, aber schlecht gemacht sind. Grundsätzlich begrüßen wir von der AfD den Plan, die digitale Vorsorge voranzutreiben, sehen aber große handwerkliche Fehler, die dem hektischen Aktionismus des Gesundheitsministers zuzuschreiben sind. Als größtes Manko sehen wir die ungeklärte Datenschutzlage des Gesetzentwurfs. Selbst der Bundesbeauftragte für den Datenschutz bemängelt in seiner Stellungnahme, die Datenschutzanforderungen seien unzureichend geregelt. ({1}) Wer eine zentrale Datensammlung von Gesundheitsdaten der Bürger und Bürgerinnen anlegen will, der muss sich auch im Klaren sein, dass diese extrem anfällig für Missbrauch und Sicherheitslücken ist. ({2}) Wer garantiert, dass keine Weitergabe an Dritte erfolgt? Skandale in dieser Art gab es in der Vergangenheit doch zur Genüge. Nicht zuletzt deshalb muss jedwede Speicherung von Gesundheitsdaten für alle Versicherten freiwillig bleiben. Es darf keine Gesundheitsdatenspeicherung durch die Hintertür geben, wie sie in den letzten Spahn’schen Gesetzen leider üblich war. Ich erinnere hierbei an das Implantationsregister ({3}) oder das Gesetz für schnellere Termine und bessere Versorgung. Gesundheitsminister Spahn agiert getreu George Orwells „1984“: Big Jens is watching you. ({4}) Wenn man sich jetzt noch weitere Punkte wie die geplanten Videosprechstunden genauer anschaut, fällt selbst dem Laien auf, dass da was nicht zu Ende gedacht ist. Sicherlich wird es nicht das Problem sein, Arztpraxen mit entsprechender Hard- und Software zu versorgen sowie Weiterbildung für medizinisches Personal zu ermöglichen. Doch wie sieht es mit den Patienten aus? Gedacht ist das Konzept der Videosprechstunde für strukturschwache ländliche Gegenden in Deutschland wie zum Beispiel in Schleswig-Holstein. Aber genau diese Gegenden weisen neben einer geringen Ärzteversorgung auch eine mangelnde digitale Infrastruktur auf. Ich frage Sie, Herr Spahn: Wie soll die Videosprechstunde technisch funktionieren, wenn der Arzt über Breitbandinternet verfügt und der Patient nur über einen ISDN-Anschluss? Der zweite Punkt ist mindestens genauso fragwürdig. Gerade die vom Ärztemangel betroffenen älteren Patienten sind häufig nicht mit dem notwendigen technischen Equipment ausgestattet, um eine Videosprechstunde nutzen zu können. Des Weiteren verfügen sie teilweise nicht über das dazu nötige Know-how zur Anwendung. Sie wollen uns doch nicht glauben machen, dass die Digitalisierungsversäumnisse der Vergangenheit jetzt mit Siebenmeilenstiefeln nachzuholen sind. Gleiches gilt für die Einführung digitaler Gesundheits-Apps. In einem Land, das im Jahr 2019 immer noch weiße Flecken auf der Karte für schnelles mobiles Internet aufweist, wollen Sie, Herr Spahn, uns das Blaue vom Himmel versprechen: dass sich die gesundheitliche Vorsorge durch Apps, die nur suboptimal nutzbar sind, tatsächlich verbessert. Und auch hier gilt: Viele Mitbürger sind oftmals nicht in der Lage, diese Wunderwerke des technischen Fortschritts zu bedienen. Wollen Sie Millionen von Bürgern IT-mäßig fortbilden, um so eine verfehlte Arbeitsmarktpolitik zu verschleiern? Gerade bei der Ausbildung von Ärzten, insbesondere von Fachärzten, hapert es in Deutschland. Ist es da nicht sinnvoller, in die Ausbildung von Ärzten und medizinischem Personal zu investieren, statt Millionen, wenn nicht gar Milliarden in ein unausgegorenes Projekt wie Videosprechstunden und Gesundheits-Apps zu stecken? Zumal man auch in diesem Gesetzentwurf eine Gegenfinanzierung vergebens sucht. Stattdessen zahlen die Krankenkassen im ersten Jahr der Einführung die Preise, die von den IT-Dienstleistern verlangt werden. Erst ab dem zweiten Jahr erfolgt eine Wirtschaftlichkeitsprüfung. Das erinnert mich doch sehr an Arbeitsminister Heils Pflegelöhne-Verbesserungsgesetz, das 5 Milliarden Euro kosten wird, und das SPD-geführte Ressort weiß leider nicht, woher das Geld genommen werden soll. Herr Spahn, machen Sie Ihre Hausaufgaben, entlasten Sie das medizinische Personal, gleich ob Kranken- oder Altenpflege, durch Digitalisierung. Wenn Sie nicht wissen, wie das funktioniert, werfen Sie einen Blick zu unseren Nachbarn in den Alpen. Die Schweiz und Österreich machen sehr gut vor, wie durch Digitalisierung zum Beispiel bei Vitaldatenüberprüfung eine enorme Entlastung von Mensch und Geldbeutel erreicht werden kann. Die AfD befürwortet die Digitalisierung in der Vorsorge und in der medizinischen Versorgung, aber bitte nicht im Rahmen von Klein-Klein-Projekten, sondern im großen, längst überfälligen Stil, der den Schutz der persönlichen Daten unserer Bürgerinnen und Bürger gewährleistet. Dies sehen wir in dem Gesetzentwurf nicht. Daher wird die AfD-Fraktion mit Enthaltung votieren. Danke schön. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der SPD der Kollege Dirk Heidenblut. ({0})

Dirk Heidenblut (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004295, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Nach der Rede wundert mich allerdings nicht, dass bei der AfD kein einziger Gesundheitspolitiker anwesend ist. ({0}) Als Fachpolitiker wäre es mir auch unangenehm, so etwas zu hören. Lassen Sie uns jetzt wieder über das Gesetz reden; es macht ja viel Sinn. Nicht nur über Digitalisierung im Gesundheitswesen reden und die Möglichkeiten anpreisen, sondern handeln und möglich machen – dazu müssen neue Wege beschritten und neue Verfahren beschleunigt werden. Genau das macht die Koalition mit dem vorliegenden Gesetz. Das hat sie übrigens bei bisherigen Gesetzen an ganz vielen Punkten auch schon gemacht; denn wir haben mit nahezu jedem Gesetz, ob es die elektronische Patientenakte ist, die Veränderung der Struktur der gematik oder die Einführung der Videosprechstunde, entsprechende Entwicklungen auf den Weg gebracht. Mit dem DVG, das wir heute verabschieden wollen, gehen wir jetzt konsequent die nächsten Schritte. Es geht also engagiert weiter beim Aufbau der Digitalisierung im Gesundheitswesen. Das ist wichtig und richtig. Für Patientinnen und Patienten liegen enorme Chancen in der Digitalisierung des Gesundheitswesens. Und genau das wollen wir jetzt auch mal richtig spürbar machen. Längst haben Apps in vielfältiger Form Einzug in das Gesundheitswesen gehalten, im Bereich der Prävention, aber auch zur Behandlungsunterstützung, natürlich zur Vitalkontrolle und an vielen anderen Punkten. Es gibt, glaube ich, ganz viele, die allein durch den Schrittzähler gefordert worden sind, sich endlich mal wieder mehr zu bewegen. Zumindest gilt das für meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Seit sie den haben, komme ich kaum noch hinterher. Das ist ein eindeutig gesundheitsförderndes Programm. ({1}) Da gibt es vieles, aber die Palette ist bunt und unübersichtlich. Vor diesem Hintergrund ist es völlig richtig, dass wir mit einer Listung beim BfArM jetzt dafür sorgen, dass diejenigen, die einen Nachweis auf Funktionstüchtigkeit, Datenschutz und technische Sicherheit und – anders, als häufig ausgeführt – im Regelfall auch den Nachweis auf Patienten- bzw. Versorgungsnutzen haben, dann in dieser Liste aufgeführt werden und dass aus dieser Liste dann künftig auch Apps verordnet werden können. Das heißt, aus dieser Liste es gibt dann Apps auf Rezept oder – besser – auf Verordnung. Das ist genau der richtige Weg. Eine hilfreiche App kann, vergleichbar einem Medikament, das verordnet wird, durchaus dazu führen, dass eine Behandlung besser funktioniert oder überhaupt funktionieren kann. Nehmen wir mal denjenigen, der viele Medikamente nehmen muss. Er ist durch eine App durchaus gut dabei zu unterstützen, dass er oder sie den Zeitplan einhalten kann, er oder sie die Übersicht behalten kann. Das führt dazu, dass die Gesamtbehandlung mit den Medikamenten am Ende deutlich fruchtbarer wird. Künftig kann der Arzt neben dem Medikament auch die App verordnen, die dabei hilft, dass die Medikamente wirksam eingesetzt werden. Das Gleiche gilt für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten; denn gerade im Bereich der Psychotherapie – viele Kassen probieren da auch schon was aus; über Satzungsleistungen geht so etwas ja durchaus – haben wir viele hilfreiche unterstützende Maßnahmen durch Apps. Diese können in Zukunft ebenfalls verordnet werden. Wir sorgen dafür, dass die Patientinnen und Patienten ganz unmittelbar spüren können, wie die Digitalisierung wirkt, und dass sie eine echte Verbesserung durch die digitalen Produkte bei der Genesung und bei der Weiterentwicklung haben. ({2}) Außerdem wollen wir, dass die Kommunikation, dass das Miteinander verbessert wird, indem wir jetzt neben dem E-Rezept auch die E-Verordnung einführen. Warum sollte das, was beim Rezept geht, nicht auch bei der Verordnung von therapeutischen Leistungen, von häuslicher Pflege oder von Heil- und Hilfsmitteln funktionieren? Vor diesem Hintergrund macht es Sinn, das zu erweitern. Um das alles aber möglich zu machen – Kollege Roy Kühne hat das vorhin schon ausgeführt –, müssen mehr Leute im Netz – ich habe nicht alles verstanden - ({3}) miteinander kommunizieren können. Wenn nämlich beim Cobb-Winkel – von dem ich nicht weiß, was das ist – der eine versucht, mit dem Fax, der andere, mit dem Telefon, und der Letzte, mit der Datenübertragung weiterzukommen, werden wir sie nicht zusammenkriegen, fürchte ich. Deswegen ist es wichtig, dass wir, erstens, beschleunigt regeln, wie die Leistungserbringer an unsere Telematik-Infrastruktur kommen. Das regeln wir für Krankenhäuser und für Apothekerinnen und Apotheker. Es ist aber auch wichtig, dass wir andere Berufsgruppen wie Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten, aber auch den Bereich der Pflege ans Netz bringen. Genau das regelt unser Gesetzentwurf. ({4}) Es gäbe noch eine Menge mehr dazu zu sagen. Dafür reicht meine Zeit allerdings nicht. Wir verbessern Videosprechstunden. Wir binden auch den Bereich der Zahnärztinnen und Zahnärzte ein. Auch das ist durchaus eine sinnvolle Entwicklung. Zur Forschung und zur Frage des Datenschutzes wird meine Kollegin noch ausführlich etwas sagen. Eines sage ich aber schon mal an dieser Stelle: Dieses Gesetz ist keineswegs ein gigantischer Verstoß gegen den Datenschutz. Vielmehr haben wir den Datenschutz hier sehr genau und sehr penibel beachtet. Es ist ein gutes Gesetz. Ich hoffe, dass Sie mit mir gemeinsam dieses gute und vernünftige Gesetz verabschieden werden. Vielen Dank. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion der FDP die Kollegin Christine Aschenberg-Dugnus. ({0})

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren auf den Besucherrängen! Und natürlich auch: Lieber Herr Minister Spahn! Wir als FDP-Bundestagsfraktion sehen die Digitalisierung als Chance für alle Patientinnen und Patienten für eine bessere Gesundheitsversorgung; das müssen wir erst mal feststellen. Positiv sehen wir, dass zum Beispiel Apps nun den Weg in die Versorgung gefunden haben. Ich muss allerdings sagen: Das wurde auch Zeit; denn der Versorgungsalltag der Menschen sieht schon ganz anders aus. Da laufen Dinge, wo Sie hier mit Ihrem Gesetz hinterherhinken. ({0}) Des Weiteren ist auch positiv, dass Innovationen durch eine Fast Lane schneller in die Versorgung gebracht werden sollen. Das haben wir immer gefordert. Wunderbar, dass das jetzt auch endlich geregelt wurde. Aber ich muss auch sagen: Digitalisierung, meine Damen und Herren, ist kein Selbstzweck. Der konkrete Nutzen für alle Beteiligten, also Telemedizin im ländlichen Raum, schnelle und sichere Übermittlung von Daten, individuelle Therapien – das müssen wir in den Vordergrund stellen, und wir tun das auch. ({1}) Aber es gibt auch Verbesserungsbedarf, und unsere sieben Änderungsanträge scheinen die GroKo überzeugt und auch inspiriert zu haben. Zum Beispiel ist unsere Forderung, die IT-Richtlinie immer an den aktuellen Stand der Wissenschaft anzupassen, jetzt im Gesetz verankert. Wunderbar! Gut so! ({2}) Ebenso war es aus datenschutzrechtlichen Gründen wichtig, dass die Krankenkassen die Abrechnungsdaten ohne Krankenversicherungsnummer übermitteln müssen. Auch das haben Sie übernommen. Herzlichen Glückwunsch! ({3}) Vor unseren Änderungsanträgen – das müssen wir hier auch mal klar sagen – spielte der Datenschutz in Ihrem Gesetzentwurf allerdings eine ziemlich untergeordnete Rolle. ({4}) Da können Sie mal sehen, was Serviceopposition datenschutzrechtlich alles erreichen kann. ({5}) Aber leider sind Sie den letzten Schritt nicht mit uns gegangen. Was wir hier konkret kritisieren, ist der Datenschutz bei der Datenübermittlung der Abrechnungsdaten. Hier bedarf es erheblicher Nachbesserungen; denn, meine Damen und Herren, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und der Schutz der Versichertendaten müssen in jedem Fall gewährleistet sein. Das müssen wir den Menschen draußen versprechen. ({6}) Ich möchte noch mal klarstellen: Ja, wir wollen Versorgungsforschung für die Patientinnen und Patienten, aber ohne einen hohen Datenschutz und hohe Datensicherheitsstandards wird weder Versorgungsforschung noch Digitalisierung gelingen, meine Damen und Herren. ({7}) Herr Minister, Sie gefährden Ihr gesamtes Projekt mit der hier vorgeschlagenen Datenübermittlung, indem Sie den Datenschutz eben nicht hinreichend berücksichtigen. Was wir benötigen, sind Akzeptanz und Vertrauen der Menschen. Sie müssen sicher sein, dass Daten eben nicht rückverfolgbar sind und nicht reidentifizierbar sind. ({8}) Deshalb haben wir ja im Gegensatz zu allen anderen Oppositionsfraktionen mehrere Änderungsanträge zum Datenschutz in den Gesundheitsausschuss eingebracht. Herr Kollege Heidenblut, auch wir handeln, nicht nur die Regierung. ({9}) Leider haben Sie unseren Antrag zur zusätzlichen Verschlüsselung nicht berücksichtigt. Dabei hat doch die öffentliche Anhörung gezeigt, dass Verschlüsselung der hochsensiblen Daten unabdingbar ist. Eine bloße Pseudonymisierung reicht eben nicht aus; das wurde von allen Seiten bestätigt. ({10}) Und noch ein Punkt. Wäre das eigentlich datenschutzrechtlich verantwortlich im Sinne der Datenschutz-Grundverordnung? Das weiß hier niemand. Das ist nicht geregelt. Jetzt komme ich noch mal zu meinen Freunden von den Grünen, die ja in der Öffentlichkeit immer den mangelnden Datenschutz anprangern, aber komischerweise hier keinen einzigen Änderungsantrag vorgelegt haben. ({11}) Sorry, aber wo sind denn eure konkreten Vorschläge zum Datenschutz? Irgendwelche öffentlichen Erklärungen abgeben, aber hier nichts unterbreiten – das können wir hier jetzt wirklich nicht richtig ernst nehmen. ({12}) Meine Damen und Herren, ganz zum Schluss möchte ich noch auf die elektronische Patientenakte und das DVG II kommen. Herr Minister, wir werden Ihnen ganz genau beim Datenschutz auf die Finger schauen und genau beobachten, was Sie beim DVG II mit der elektronischen Patientenakte machen. Sie können aber auch gerne unsere Vorschläge übernehmen. ({13}) Hauptsache, es nützt dem Datenschutz. Wir sind und bleiben eben Serviceopposition. Wir werden uns bei der Abstimmung über den Gesetzentwurf enthalten. Danke schön. ({14})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Dr. Achim Kessler für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Achim Kessler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004776, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Gäste auf der Tribüne! Das Digitale-Versorgung-Gesetz wird fatale Folgen haben, mit denen wir uns noch lange beschäftigen werden. Ich fordere Sie deshalb auf: Verabschieden Sie dieses Gesetz nicht! Denn am Ende werden die Versicherten mit ihren Daten, mit ihren Krankenversicherungsbeiträgen und letztendlich auch mit ihrer Gesundheit teuer dafür bezahlen. Die Gesundheitsdaten aller Versicherten sollen künftig beim Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherungen gesammelt und dann einem neuen Forschungsdatenzentrum übergeben werden. Datensätze einzelner Versicherter sollen ohne Anonymisierung zur Forschung weitergegeben werden – und das ohne Zustimmung des jeweiligen Patienten. Wir sind sehr für die Verbesserung der Bedingungen in der Gesundheitsforschung, aber das, meine Damen und Herren, geht wirklich gar nicht. Deshalb bitte ich Sie: Stimmen Sie diesem Verstoß gegen die Datenschutz-Grundverordnung nicht zu. ({0}) Es ist nicht ausgeschlossen, dass diese Daten auch privaten, wirtschaftsnahen Forschungseinrichtungen zur Verfügung gestellt werden ({1}) und dann grenzüberschreitend an Dritte weitergereicht werden. Sie fließen dann also auch an IT-Unternehmen im Ausland. ({2}) Herr Minister, ich bin mir sicher, dass die IT-Konzerne nicht nur in Deutschland bereits den Champagner kalt gestellt haben. Im Sinne der Patientinnen und Patienten ist das jedenfalls nicht. Digitale Gesundheitsanwendungen wie Gesundheits-Apps werden künftig ohne wissenschaftliche Prüfung zwölf Monate lang von den Kassen erstattet. Das Risiko liegt also vollständig bei den Patientinnen und Patienten. Das, meine Damen und Herren, ist wirklich verantwortungslos. ({3}) Alle Behandlungsmethoden werden in unserem System von der gemeinsamen Selbstverwaltung nach Kriterien des medizinischen Nutzens geprüft. Warum weichen Sie bei den digitalen Anwendungen davon ab und übertragen die Prüfung an eine Bundesbehörde, die direkt dem Ministerium unterstellt ist? Diese Schwächung der gemeinsamen Selbstverwaltung auf Kosten der Patientensicherheit lehnen wir entschieden ab. ({4}) Gesetzliche Krankenkassen sollen künftig unter Einsatz von 2 Prozent ihrer Rücklagen in digitale Gesundheitsanwendungen investieren können und zu Anteilseignern von IT-Unternehmen werden. ({5}) Sie werden selbst mittelbar zu Leistungserbringern, die ihre eigenen Leistungen ganz bequem und ohne Widerspruch auch gleich selbst erstatten können. ({6}) Noch dazu erhalten die Krankenkassen das passende Marketing- und Vertriebsinstrument direkt an die Hand. Sie können nämlich den Versicherten künftig individuelle Angebote unterbreiten. Es ist doch ganz klar, dass die Krankenkassen vor allem digitale Anwendungen empfehlen werden, in die sie selbst investiert haben. Es muss aber nur eine Anwendung floppen, und die Versichertengelder sind komplett futsch. Diese Zweckentfremdung von Beiträgen der Versicherten als Spekulationskapital lehnen wir ab. ({7}) Das gilt übrigens auch für dieselbe Forderung der Grünen in ihrem Antrag. ({8}) Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund ist da ganz unserer Meinung und kritisiert das als eine – ich zitiere – nicht vertretbare Mehrbelastung der gesetzlichen Krankenversicherung. Die hart erarbeiteten Beiträge der Versicherten für Spekulationen freizugeben, ist der sozialpolitische Offenbarungseid der Regierungsfraktionen. ({9}) Das Ganze erweist sich so als ein riesiges Förderprogramm für die IT-Wirtschaft mit äußerst fragwürdigem Nutzen für die Patientinnen und Patienten. Damit treiben Sie, Herr Spahn, mit Unterstützung der SPD und der CDU/CSU die Kommerzialisierung der Gesundheitsversorgung unter dem Deckmantel von Digitalisierung, die eigentlich ja positiv ist, und Innovation unerbittlich voran. Mit Gesundheitspolitik hat das allerdings nichts mehr zu tun. Das ist Wirtschaftsförderung. Für uns sind die Patientinnen und Patienten der Maßstab und nicht die Interessen der IT-Konzerne. Deshalb lehnen wir das Gesetz ab. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Maria Klein-Schmeink für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Minister! Im Grunde zeigt der Verlauf der jetzigen Debatte schon, dass wir es mit einem Interessenkonflikt zu tun haben und dass dieser Interessenkonflikt derzeit nicht besonders gut aufgelöst wird, und zwar weil der Minister so wenig sorgfältig mit dem Datenschutz umgegangen ist. Wir reden und müssen reden über Datenschutz und die Wahrung der Selbstbestimmungsrechte der Patientinnen und Patienten und der Versicherten, weil eben in der jüngsten Zeit gleich zweimal Gesetzesinitiativen ergriffen worden sind, wo genau dieser Aspekt nicht gewahrt war. ({0}) Gerade deshalb sind wir alle und die Öffentlichkeit so sensibel in dieser Frage, weil wir alle wissen: Es handelt sich um sensible Daten, mit denen wir sensibel umgehen müssen, verantwortlich umgehen müssen und umsichtig umgehen müssen. Das, Herr Minister, haben Sie leider nicht getan, und das führt auch dazu, dass wir diese Debatte in dieser Weise führen müssen. ({1}) Und es zeigt sich ja auch: Es ist immens wichtig, dass die Versicherten darauf vertrauen können, dass sorgsam mit ihren Daten umgegangen wird. Es ist eben gerade so, dass die Wahrung der Selbstbestimmungsrechte nicht Hindernis, sondern Voraussetzung für Akzeptanz und Vertrauen ist, und so müssen wir vorgehen. ({2}) Wir lehnen dieses Gesetz ab, und zwar nicht, weil wir Bedenkenträger wären. Im Gegenteil: Wir haben gesehen, dass Bedenkenträger aus früheren Wahlperioden – Frau Aschenberg-Dugnus, Herr Jens Spahn – jetzt unter Druck sind und das Kind mit dem Bade ausschütten müssen, weil so lange nicht gehandelt worden ist, weil wir einen Innovationsstau haben und es eben deshalb nicht schaffen, die Potenziale und Chancen der Digitalisierung wirklich nutzbar zu machen. ({3}) Wir lehnen dieses Gesetz auch deshalb ab, weil wie in der letzten Wahlperiode eine klare Strategie fehlt. Gemeinsam mit den Patientinnen und Nutzerinnen, mit deren Verbänden müssen wir die gesundheitspolitischen Ziele festlegen, müssen wir alle Akteure an den Tisch bringen und schauen, wie wir daraus vernünftige Strategien herleiten. Genau das ist nicht passiert. Ihr Health Innovation Hub kann genau das nicht leisten. Er bringt eben nicht die wesentlichen Gruppen an den Tisch und sorgt nicht dafür, dass wir in allen Nutzungsbereichen tatsächlich eine Strategie haben. ({4}) Meine Damen und Herren, Digitalisierung ist kein Selbstzweck. Sie braucht eine Richtung. Sie muss eine gesellschaftliche Normierung haben. Auch da fehlt es. Der Nutzen für die Patienten muss im Vordergrund stehen. Sie haben uns jetzt ein Gesetz vorgelegt, wo man in wesentlichen Teilen von Wirtschaftsförderung zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung sprechen muss. Ich habe nichts gegen Wirtschaftsförderung für Start-ups, aber das, bitte schön, ist Aufgabe des Steuerzahlers. ({5}) Nun, digitale Gesundheits-Apps können den Menschen nutzen. Aber sie müssen sich wie alle anderen Anwendungen im Gesundheitsbereich auch daran messen lassen, ({6}) ob sie diesen Nutzen auch wirklich erbringen. Es kann nicht sein, dass wir Verfahren schon vorab zulassen und in die Versorgung bringen, für die dieser Nutzen noch nicht erwiesen wurde. Das kritisieren wir an diesem Fast-and-quick-Verfahren, was Sie da vorgelegt haben, was im Übrigen ja nur für solche Apps gilt, die keine wirkliche Behandlungsrelevanz haben; denn genau für diese, die wirklich wichtig wären, haben Sie gar kein besonderes Zulassungsverfahren. Auch das ist eine Kritik, etwas, was wir Ihnen ankreiden. ({7}) So wird es dazu kommen, dass die Kassen 400 Millionen Euro – 2 Prozent – aus der Finanzreserve ausgeben für Wirtschaftsförderung statt gezielt für die Verbesserung der Versorgung mithilfe von digitalen Ansätzen. Das wäre der Weg gewesen, den wir hätten gehen müssen. Wir haben mit unserem Antrag gezeigt, dass das geht. Ich hoffe, Sie nehmen unsere Anregungen an und werden sie aufnehmen im DVG II, das ja schon angekündigt worden ist. In diesem Sinne freue ich mich auf die weiteren Debatten und finde schade, dass wir mit diesem Gesetz nicht wirklich weitergekommen sind. ({8})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Alle in der Debatte aufgelaufenen Fragen kann jetzt der nächste Redner beantworten. Das Wort hat der Bundesminister Jens Spahn. ({0})

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit Jahren heißt es, dass wir bei der Digitalisierung in Deutschland zu langsam sind. Ich habe hier schon manche Rede gehört, insbesondere von denen, denen es jetzt zu schnell geht. Die haben mir gesagt: Es muss doch endlich auch in der Digitalisierung in Deutschland ein Stück Tempo rein. – Das galt auch für Gesundheit, ja. Es gab auch, Frau Klein-Schmeink, immer viel Klein-Klein in den Debatten; das stimmt. Das haben wir auch heute wieder bei Ihrem Beitrag gesehen. ({0}) Es gibt immer Schwarzmalerei, es gibt Bedenken und ein Verheddern in Einzelfragen, aber nicht den Blick für das, worum es eigentlich geht. Wir wollen jetzt Geschwindigkeit machen, Geschwindigkeit, um unser Gesundheitswesen fit zu machen für die digitale Zukunft. ({1}) Ich kann Ihnen sagen, wenn Sie nach einer Strategie, nach einem Leitmotiv fragen: Dafür braucht man keine hundert Seiten, auch keine fünf Jahre. Das Leitmotiv ist ganz einfach. Die digitale Gesundheit ist tatsächlich kein Selbstzweck. Es geht darum, dass wir die Versorgung von Patientinnen und Patienten in Deutschland konkret im Alltag durch bessere Information, bessere Kommunikation besser machen. Das ist das Leitmotiv: Bessere Versorgung für die Patienten in Deutschland. ({2}) Das können wir auch konkret machen. Wir beschließen heute hier eine Weltneuheit. Da ist Deutschland ganz vorne. Wir werden das erste Land auf der Welt sein, das nicht das Klein-Klein, das Wildwest, das Klein-Klein-Wildwest –, ({3}) das das Wildwest bei den Apps von heute beendet. Die Wahrheit ist doch, dass es heute überhaupt keine Orientierung gibt. Die Apps sind alle da, die kann jeder downloaden, die kann sich jeder herunterladen. Keiner sortiert mal: Welche App im Gesundheitswesen hat tatsächlich einen Mehrwert? Wo ist nicht nur schönes Marketing, nicht nur Gimmick, sondern wo ist ein tatsächlicher Nutzen für den Patienten in der Versorgung? Das führen wir zuerst ein. Der zweite Schritt: Wir werden das erste Land auf der Welt sein, in dem die gesetzlichen Kassen das Ganze finanzieren, wenn es einen Mehrwert gibt. Wir zeigen damit für viele, viele andere, wie man es machen kann. Und, ja, das ist auch ein Stück Neuland. Ja, wir werden zum ersten Mal Maßstäbe festlegen müssen, wie man einen solchen Mehrwert, einen Zusatznutzen von digitalen Gesundheitsanwendungen misst. ({4}) Und, ja, es wird beim ersten Mal auch nicht alles perfekt sein – das sage ich Ihnen jetzt schon: Sie können Ihre Rede in sechs Monaten noch mal halten, weil irgendetwas schiefgegangen sein wird –, aber vielleicht sollten wir endlich mal anfangen, auch digitale Innovationen möglich zu machen. Wenn wir nur Bedenken haben, aber nie was möglich machen, dann passiert nichts. Wir machen jetzt hier mal was möglich. ({5}) Und, ja, es geht auch um eine bessere Versorgung durch bessere Forschung mit besseren Daten.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Frau Klein-Schmeink?

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Gerne.

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Minister, Sie sprechen davon, dass diese Apps weltweit erstmalig in die Versorgung kommen. Aber wir wissen aus anderen Ländern, dass es durchaus Qualitätsmaßstäbe gibt, dass es auch dort Verfahren gibt – gerade in England, in Großbritannien gibt es das bereits –, in denen Kriterien gebildet worden sind. Wir – daran möchte ich Sie erinnern – haben Sie bereits 2015 aufgefordert, genau diese Kriterien zu entwickeln. Damals hat Ihre Fraktion genau dieses abgelehnt, genauso wie sie abgelehnt hat, eine Strategie zu entwickeln und zu definieren, welche patientenbezogenen Projekte nach vorne gebracht werden können. Damals war die Situation, dass wir außer dem Stammdatenmanagement überhaupt nichts definiert hatten. Das haben Sie im Dezember 2015, vor vier Jahren, hier an dieser Stelle abgelehnt.

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Ja, mag ja sein.

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Frage ist, wie Sie jetzt mit dem Konzept umgehen. Bisher sehen wir davon jedenfalls nichts.

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Frau Kollegin Klein-Schmeink, zum ersten Teil Ihrer Frage. Ja, es gibt schon Länder, die versucht haben, Kriterien zu entwickeln. Aber wir werden das erste Land auf der Welt sein, ({0}) in dem das gesetzliche System auf Rezept, sozusagen auf Verordnung, zahlt und dem Patienten diese Versorgung verfügbar macht. Das ist Weltneuheit. Ich verstehe Ihre Logik nicht ganz. Sie sagen, Sie hätten das, was wir heute machen, schon 2015 gewünscht, aber wir hätten es abgelehnt. Jetzt legen wir nicht nur einen Antrag, sondern ein Gesetz vor, sodass es ab dem 1. Januar passiert, und nun lehnen Sie das ab. Das finde ich, ehrlicherweise, überschaubar logisch. Da müssten Sie doch voller Begeisterung zustimmen. Oder nicht? ({1}) Das ist für mich nicht besonders eingänglich hergeleitet, aber es ist wahrscheinlich grüne Logik. ({2}) Das zweite große Thema, das angesprochen wurde, ist wichtig, weil es sensibel ist. Gesundheitsdaten sind die sensibelsten Daten, die es gibt. Deswegen braucht es Datenschutz und Datensicherheit auf höchstem Niveau. Es braucht auch deswegen ein Stück Tempo, weil wir sehen, dass wir nicht allein sind auf der Welt. Wir haben das chinesische Modell eines Überwachungsstaates, das für den Staat auch die Gesundheitsdaten, die Krankheitsdaten aller Bürgerinnen und Bürger genau wissen und auswerten will. Wir haben das US-amerikanische Modell eines Überwachungskapitalismus, in dem Großkonzerne die Daten sammeln und Profit machen. Jetzt geht es um die Frage, ob wir in der Lage sind und sein wollen, hier in Deutschland, in Europa, mit unserer Vorstellung von Patientensouveränität, mit unserer Vorstellung von Datenschutz und Datensicherheit tatsächlich unser Modell zu entwickeln, um selbst die Dinge zu gestalten. Wenn wir noch zwei, drei Jahre länger warten und nur wissen, was alles nicht geht, dann werden wir nur noch erleiden, was entweder aus China oder den USA kommt, aber sicher nicht mehr selbst gestalten. Unser Anspruch ist, selber zu gestalten. Deswegen machen wir dieses Gesetz. ({3}) Was mich am meisten wundert, ist: Das Verfahren, das wir jetzt hier haben, ist das Verfahren, das es schon seit 15 Jahren gibt. Das hat übrigens Rot-Grün beschlossen. Genau das Verfahren, um das es hier geht, hat Rot-Grün 2004 eingeführt. ({4}) – Nein, nein, jetzt hören Sie mal genau zu! Ja, ja, ich weiß, den Skandal kann man schnell mit einer Überschrift machen, aber wenn es um die Fakten geht, wird es schnell schwierig, nicht? ({5}) Es wurde vor 15 Jahren eingeführt, dass wir Abrechnungsdaten – es geht nicht um Behandlungsdaten –, die sowieso genutzt werden, um abzurechnen oder um den Risikostrukturausgleich, die Finanzverteilung der Kassen zu regeln, auf dem Weg, den wir heute wählen, über eine Pseudonymisierung und gegenüber denen, die damit forschen, immer anonymisiert und nur auf Antrag zur Verfügung stellen, nutzen – schneller, ja, und in besserer Verfassung, ja –, ({6}) damit Forschung besser werden kann, damit man Diabetikern, Menschen mit Bluthochdruck, Krebspatienten tatsächlich sagen kann: Diese Art der Therapie ist besser als die andere. – Dafür erheben wir die Daten, dafür machen wir die Forschung. Das wird seit 15 Jahren auf diesem Weg gemacht. Dass Ihnen vor drei Tagen eingefallen ist, dass das ein Problem ist, finde ich nicht besonders glaubhaft, liebe Frau Klein-Schmeink. ({7}) Herr Präsident, wenn Sie gestatten, ein Letztes dazu: Wenn Google in diesen Tagen Fitbit kauft, dann höre ich von Ihnen nichts. Nichts! Amerikanische Großkonzerne kaufen nach und nach die Gesundheitsdaten der Bürgerinnen und Bürger. Ich tippe, sogar einige Kolleginnen und Kollegen haben das Armband dazu. Es wird alles schön zusammengeführt: wo Sie suchen, Ihre Mobilitätsdaten, Ihre Gesundheitsdaten. ({8}) Nichts! Aber wenn wir das staatlich in einem sicheren Rahmen von Datenschutz und Datensicherheit machen – nicht damit Konzerne Profit machen, sondern damit wir für Patientinnen und Patienten Forschung betreiben, damit wir für Patientinnen und Patienten mit der Auswertung der Daten das Leben besser machen können –, skandalisieren Sie. Wenn es um Großkonzerne geht, die Geld machen, dann höre ich von Ihnen nichts. ({9}) Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, passt echt nicht zusammen, was Sie hier an dieser Stelle sagen. ({10}) Wir wollen – darum geht es – das Gesundheitswesen für die digitale Zukunft fit machen: zum Mehrwert der Patienten, für eine bessere Versorgung. Wir wollen das vor allem so machen, dass dabei die hohen Standards unseres Datenschutzes, unserer Datensicherheit für die Patientinnen und Patienten hier in Deutschland gelten. Wir wollen in Deutschland und in Europa aus eigener Kraft ein digitales Gesundheitswesen entwickeln und nicht darauf warten, dass es von woanders unter ganz anderen Maßstäben zu uns kommt. Es geht ein Stück weit um die Selbstbehauptung des Digitalen im deutschen Gesundheitswesen. Dafür ist dieses Gesetz so wichtig. ({11})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Minister Spahn. – Vielleicht darf ich darauf hinweisen, dass ich Sie von Rechts wegen nicht daran hindern kann, hier so lange zu reden, wie Sie wollen. Der einzige Leidtragende ist der letzte Redner der Union, dessen Redezeit sich auf zwei Minuten verkürzt hat. ({0}) Als nächste Rednerin spricht für die SPD-Fraktion die Kollegin Sabine Dittmar. ({1})

Sabine Dittmar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004261, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den vergangenen Tagen hat es viel Aufregung um das DVG und die Frage des Schutzes sensibler Gesundheitsdaten gegeben. In dieser Debatte ist vieles vermischt und vermengt worden; teilweise fehlte der sachliche Blick auf das, was im Gesetz tatsächlich geregelt werden soll, und darauf, welche Regelungen es bereits heute gibt. Ich möchte an dieser Stelle als Erstes betonen: Als Ärztin weiß ich, wie immens wichtig der effektive Schutz der persönlichen Gesundheitsdaten ist. Datensicherheit und Datenschutz sind ein sehr hohes Gut. Als Ärztin weiß ich aber auch um die Lücken und Defizite in der derzeitigen Versorgungsforschung. Aber eine gute Datenlage zur Versorgungsrealität nützt jedem Einzelnen von uns. ({0}) Schließlich ist es für uns von hoher Bedeutung, wie sich zum Beispiel die Häufigkeit von bestimmten Erkrankungen in einer Region entwickelt hat. Gibt es in einer Region oder Bevölkerungspopulation mehr Herz-Kreislauf-Erkrankungen, mehr Tumorerkrankungen als in einer anderen? Warum werden bei mir zu Hause, im Landkreis Schweinfurt, die Gaumenmandeln achtmal so häufig entfernt wie im 120 Kilometer entfernten Sonneberg? Dies ist das Ergebnis einer Studie aus dem Jahr 2013, die auf Daten aus den Jahren 2007 bis 2010 basiert. Solche Erkenntnisse, Kolleginnen und Kollegen, brauchen wir nicht um Jahre zeitversetzt. Das muss sehr viel schneller gehen; denn nur wenn wir die reale Versorgungssituation kennen, können wir politische, medizinische und gesellschaftliche Konsequenzen daraus ziehen und danach handeln. ({1}) Ich bin froh, dass mit dem vorgelegten Gesetzentwurf die schon existente Versorgungsforschung endlich deutlich effizienter wird. Wir müssen dabei nur an wenigen Stellschrauben drehen im Vergleich zum Status quo, der schon seit 2004 gesetzliche Grundlage ist. Was verändern wir? Wir erfassen zukünftig neben den Leistungsdaten der niedergelassenen Ärzte, der Apotheken und der Krankenhäuser auch die Leistungsdaten der Hebammen und sonstiger Gesundheitsberufe. Das ist sehr sinnvoll. ({2}) Ich betone: Es geht um Leistungsdaten, Abrechnungsdaten, die sogenannten Routinedaten, und nicht um individuelle Patientendaten wie Röntgenbilder, EKGs oder Laborbefunde, wie leider fälschlicherweise mancher Berichterstattung zu entnehmen war. Diese Daten gehen kassenartenübergreifend pseudonymisiert an den GKV-Spitzenverband – hier haben wir im parlamentarischen Verfahren zugunsten des Datenschutzes noch einmal nachgeschärft –, und von dort gehen sie über eine Vertrauensstelle nochmals pseudonymisiert an das staatliche Forschungsdatenzentrum. Wer kann die Nutzung dieser Daten beantragen? Es gibt schon jetzt strenge gesetzliche Vorgaben zum Nutzerkreis. Das sind beispielsweise öffentliche Forschungseinrichtungen. Sie müssen klar formulierte Forschungsaufträge vorlegen und erhalten dann die relevanten Daten. Und es gibt klare Vorgaben, wie diese Daten weitergeleitet werden: aggregiert und anonymisiert.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss bitte.

Sabine Dittmar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004261, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz erweitern wir diesen bereits lange etablierten Kreis noch, nämlich um die Universitätskliniken – das ist sehr sinnvoll –, und wir verhindern – ich weiß, dass es manche Begehrlichkeiten gibt –, dass auch die Industrie auf diese Daten zugreifen kann. ({0}) Ich denke, mit diesen wenigen Änderungen -

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie jetzt bitte zum Schluss!

Sabine Dittmar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004261, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

– verbessern wir die Grundlagen der Versorgungsforschung enorm und helfen, wichtige wissenschaftliche Fragen zu klären – unter Beibehaltung unseres hohen Datenschutzstandards. Ich bitte daher um Zustimmung und danke für die Aufmerksamkeit. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Bevor der letzte Redner das Wort zu seinem Zwei-Minuten-Beitrag erhält, möchte ich auf Folgendes hinweisen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Nach der bisherigen Geschwindigkeit bei der Tagung werden wir um 5.15 Uhr fertig sein, wenn nicht verkürzende Maßnahmen ergriffen werden. Ich bitte die Geschäftsführer, vielleicht schon jetzt mit entsprechenden Überlegungen zu beginnen. ({0}) – Ich wollte nur darauf hinweisen; 5.15 Uhr wäre wirklich – – ({1}) – Ja, dann müssen wir den Saal kurz verlassen, damit hier saubergemacht werden kann. Um es klar zu sagen: Ich werde beim nächsten Tagesordnungspunkt sehr sorgfältig darauf achten, dass die Redezeiten eingehalten werden, und bitte, zu bedenken, dass ich nur einmal darum bitte, zum Schluss zu kommen, und ansonsten nach weiteren zehn Sekunden das Wort entziehen werde. Herr Kollege Tino Sorge, CDU/CSU Fraktion, Sie haben das Wort. ({2})

Tino Sorge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004409, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wollte in meiner Rede eigentlich dem Minister ganz herzlich danken, aber aufgrund dessen, dass er so lange geredet hat und ich dadurch in meiner Redezeit wesentlich limitierter bin, ({0}) spare ich mir das jetzt. ({1}) Trotzdem danke an die Kolleginnen und Kollegen im Bundesgesundheitsministerium, die in den letzten Tagen und Wochen eine Menge Sonder- und Nachtschichten gemacht haben, damit wir heute über das Gesetz beraten können. Ich will mich auf einen Punkt konzentrieren, und zwar auf das Forschungsdatenzentrum. Ich weiß, wir haben in den letzten Wochen und Monaten viel über das Forschungsdatenzentrum gesprochen, aber auch über die Frage, ob wir über das Gesetz länger hätten diskutieren müssen; das ist angeklungen. Gerade von den Grünen kam immer wieder der Vorwurf: Das geht alles zu schnell. Wir machen das im Schweinsgalopp. Darüber ist nicht ausreichend diskutiert worden. ({2}) – Wir saßen die letzten Monate in diversen Runden, liebe Kollegin Klein-Schmeink, in Podien und Foren, wir haben Anhörungen dazu gehabt, und alle haben uns gesagt: Wir müssen schneller, wir müssen besser werden. – Und das machen wir jetzt mit diesem Gesetz; aber das ist dann auch nicht richtig. Das Forschungsdatenzentrum – ich sehe, ich habe noch 58 Sekunden – ist etwas richtig Gutes. Wir sammeln nämlich die Daten, die sowieso schon an den entsprechenden Stellen anfallen, und führen sie zusammen. Es geht um pseudonymisierte Daten, es geht um anonymisierte Daten. Wir stellen sicher, dass diese Daten nicht verloren gehen, für die Patientenversorgung und zur Verbesserung von Behandlungsansätzen genutzt werden können. Ich gebe ganz offen zu: Ich hätte mir durchaus gewünscht, dass wir im Verfahren – wir haben ja festgelegt, wer, sehr eng limitiert, als Berechtigter auf diese Daten überhaupt zugreifen darf – und auch bei der Frage, zu welchen Zwecken die Daten erhoben werden dürfen – das haben wir auch sehr genau konkretisiert –, auch diejenigen, die die Innovation im System letztendlich erzeugen, also die Unternehmen der Gesundheitswirtschaft, stärker einbezogen hätten. Die sind nämlich bisher explizit nicht genannt. Insofern, glaube ich, haben wir noch viel Diskussionsbedarf. Das Gesetz können wir noch verbessern. Nach dem DVG ist vor dem DVG. Ich freue mich auf das DVG II und auf die weiteren Beratungen. Ich danke für die Aufmerksamkeit und wünsche uns gute Beratungen. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Sorge. Sie haben vorbildlich die Zeit eingehalten. – Damit ist die Aussprache beendet.

Dr. Jens Brandenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Digitalisierung verändert unsere Arbeits- und Lebenswelt fundamental. Heute noch sicher geglaubtes Wissen kann schon morgen überholt sein. Es wird nicht unbedingt weniger Arbeit geben, aber umso größere Umwälzungen in jedem Beruf. Somit wird Weiterbildung immer mehr zum Schlüssel für ein selbstbestimmtes Leben. Das gilt für die Altenpflegerin, die mit Mitte 40 ein Studium des Gesundheitsmanagements aufnehmen will ganz genauso wie für den Dachdeckermeister, der online seine Vertriebskenntnisse auffrischt, ebenso wie für die Rentnerin, die einen Computerkurs belegt, zur gesellschaftlichen Teilhabe und um ihren eigenen persönlichen Horizont zu erweitern. All diese Menschen wollen wir zu Piloten ihres eigenen Lebens machen mit dem Versprechen, dass sie ein Leben lang am digitalen Wandel teilhaben können. Wir ermöglichen ihnen Bildung und einen Neuanfang in jeder Lebenslage und garantieren ihnen so die Hoheit über den eigenen Lebenslauf. ({0}) Das erfordert nicht weniger als eine Revolution der Weiterbildung, ein zweites Bildungssystem für das ganze Leben. Liebe Koalition, Sie haben diese große Herausforderung leider völlig verschlafen. Ihre halbgare Nationale Weiterbildungsstrategie ist nur alter Wein in neuen Schläuchen. Keine einzige neue innovative Idee! Sie verengen den Bildungsbegriff wieder einmal auf die reine berufliche Verwertbarkeit; ein Fehler, den übrigens auch Finanzminister Olaf Scholz mit seiner ursprünglichen Forderung nach einer Umsatzsteuer auf allgemeine Weiterbildung begangen hat – ein völliger Schuss in den Ofen. Das mag für uns im Parlament endlich vom Tisch sein, vorläufig, aber in der Stellungnahme des Finanzministers macht er deutlich, dass die eben zitierten Computerkurse für Senioren dann doch weiterhin der Umsatzsteuer unterliegen sollen. Der Zugang zu Weiterbildung muss nicht teurer werden, sondern einfacher. ({1}) Wie das gelingen kann, dafür haben wir Ihnen heute ein konkretes Konzept vorgelegt. Zwei Bausteine davon möchte ich Ihnen kurz vorstellen. Erstens. Weiterbildung muss man sich leisten können, unabhängig vom eigenen Geldbeutel. Deshalb fordern wir ein persönliches Freiraumkonto, auf dem alle Bürger jeweils unbürokratisch eigenes Einkommen, Boni oder Überstunden einzahlen können und das so angesammelte Bildungsguthaben mit entsprechenden Steuervorteilen für Bildungskurse, für Prüfungen, für Bildungsberatung und auch für entsprechende Bildungsauszeiten nutzen können. Vom E-Learning-Kurs in der Straßenbahn bis zum mehrmonatigen Vollzeitstudium ist somit alles möglich. Vor allem Geringqualifizierte schrecken vor Weiterbildung bisher leider allzu oft zurück, meist aus finanziellen Gründen, und das wollen wir ändern. Deshalb schlagen wir ein Midlife-BAföG vor, über das für Geringverdiener bis zu 1 000 Euro im Jahr als Bildungsguthaben auf dieses Bildungskonto eingezahlt werden. Das BAföG hat seinerzeit, in den 70er-Jahren, ganzen Generationen die Türen in die Hochschulen geöffnet und so neue Aufstiegschancen geschaffen. Genau das wollen wir nun, im 21. Jahrhundert, für die Weiterbildung wiederholen. ({2}) Zweitens schaffen wir mehr Transparenz im Weiterbildungsdschungel. Die Suche nach dem passenden Bildungsangebot muss so einfach sein wie das Bestellen im Onlineshop. Deshalb schlagen wir eine Digitale Bildungsarena als erste Anlaufstelle vor: mit einer guten Übersicht über sämtliche Bildungsangebote, online wie offline, mit passgenauen, individuellen Empfehlungen für die nächsten Bildungsschritte, einer automatischen Verrechnung mit dem persönlichen Freiraumkonto und einer direkten Zertifizierung bereits erworbener Kompetenzen. Ein Wort zur Union: Ihre MILLA-Idee war anfangs sehr bürokratisch, ging aber zumindest im Kern in die richtige Richtung. Das haben Sie diese Woche leider völlig zusammengeschrumpft auf eine reine E-Learning-Plattform, wie sie tausendfach auf dem Markt existiert. Dafür braucht es nun wahrlich keine staatliche Lösung. Und wenn nun sogar Frau von der Leyen zum Thema „Innovative und agile Verwaltung“ unterrichten soll, hoffe ich nur, dass niemand an diesem Kurs teilnehmen wird. Ein konkreter Entwurf für ein zweites Bildungssystem liegt Ihnen nun vor. Meine Redezeit ist begrenzt. Ich bekomme vermutlich gleich Druck von hinten. Deshalb als letzter Appell: Lernen Sie bitte nicht aus, bleiben Sie neugierig, und lassen Sie uns gemeinsam neue Bildungschancen für jedes Lebensalter schaffen! Herzlichen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Jens Brandenburg. Wenn Sie sich umgedreht hätten, hätten Sie Wind von vorn bekommen; aber Druck von hinten ist auch gut. Als nächste Rednerin spricht zu uns die Kollegin Dr. Astrid Mannes, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Astrid Mannes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004814, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die FDP bezeichnet sich ja immer sehr gerne als Serviceopposition. Den Antrag für heute haben wir gestern Abend vorgelegt bekommen. Mit Service hat das recht wenig zu tun. Davon kann also keine Rede sein. ({0}) Der Antrag hingegen ist durchaus besser gelungen; denn Sie erkennen die Herausforderungen unserer Zeit. Die allerdings haben auch die Regierungsparteien längst ausgemacht, und die Regierung hat mit ihrer großen Nationalen Weiterbildungsstrategie auch längst reagiert. Sie hat diese erarbeitet, zusammen mit den Ländern, mit der Wirtschaft, den Gewerkschaften, der Bundesanstalt für Arbeit und unter Einbeziehung weiterer Partner aus Wissenschaft und betrieblicher Praxis. Ein gemeinsames Marschieren mit aufeinander abgestimmten Prozessen, darin liegt die Stärke. Die Nationale Weiterbildungsstrategie ist auch als permanenter Prozess der Weiterentwicklung gedacht. Im Koalitionsvertrag haben wir als Ziele definiert, breiten Bevölkerungsteilen den beruflichen Aufstieg zu erleichtern, die Beschäftigungsfähigkeit in einer sich wandelnden Arbeitswelt nachhaltig zu fördern und alle Weiterbildungsprogramme des Bundes und der Länder zu bündeln, sie entlang der Bedarfe der Beschäftigten und der Unternehmen auszurichten und eine neue Weiterbildungskultur zu etablieren. Wir brauchen eine Kultur der Weiterbildung als breite, nationale Bewegung, die alle Alters- und Bevölkerungsgruppen umfasst. ({1}) Die Welt verändert sich immer schneller, und die Anforderungen am Arbeitsplatz auch. Automatisierung, Digitalisierung, technische Entwicklung, künstliche Intelligenz – das macht den Menschen aber auch Angst. Wir wollen Freude an Weiterbildung vermitteln, und wir möchten, dass die Menschen Vorteile sehen: für ihre persönliche Entwicklung und für die beruflichen Chancen. Uns als Serviceregierung ({2}) ist es wichtig, hier Antworten zu geben und den Menschen Ängste zu nehmen. Wir schaffen die Voraussetzungen dafür, dass sie gut gerüstet sind – durch regelmäßige Weiterbildungen – für den Arbeitsmarkt der Zukunft. ({3}) Die Nationale Weiterbildungsstrategie ist eine zentrale Säule der Fachkräftestrategie der Bundesregierung. ({4}) Zudem nimmt sie Qualifizierungsstrategien und Aktivitäten der Europäischen Union und auch der OECD mit in den Blick. Sie zielt darauf ab, dass die Übersichtlichkeit der Weiterbildungs- und Beratungsangebote sowie die Fördermöglichkeiten in Bund und Ländern so verbessert werden, dass alle Menschen ihren persönlichen Lern- und Entwicklungsprozess passgenau gestalten können. Bestehende Beratungsangebote von Bund, Ländern, Kammern, Verbänden, aber auch Bildungswerken sollen zu einer flächendeckenden hochwertigen und vernetzten Beratungsstruktur ausgebaut werden. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat mit MILLA – Sie haben es angesprochen – schon ein Modell für ein umfassendes, übersichtliches Onlineportal für Weiterbildungsangebote entwickelt, damit die Menschen bei der Vielzahl der Bildungsangebote, die es auf dem Markt schon gibt, noch durchsteigen und sich leichter orientieren können. Eine Verlängerung der bis Ende 2020 befristeten Regelung zu Weiterbildungsprämien bei erfolgreichen Zwischen- und Abschlussprüfungen im Rahmen der Umschulungen soll geprüft werden. Auch soll informelles berufliches Lernen sichtbar und verwertbar gemacht werden. Mit dem Qualifizierungschancengesetz und der Stärkung der Weiterbildungs- und Qualifizierungsberatung ist schon ein wichtiger Schritt gemacht, ebenso mit der Novelle des Aufstiegs-BAföGs, mit der finanzielle Hürden für die Weiterqualifizierung abgebaut werden. Sie fordern ein Midlife-BAföG. Über Finanzierung und Details werden wir uns im Ausschuss unterhalten. Ihre anderen Überlegungen gehen weitgehend in der Weiterbildungsstrategie der Bundesregierung auf. Wir freuen uns auf die weiteren Beratungen. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Götz Frömming, AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Götz Frömming (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004722, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Es gibt ja einen interessanten Unterschied zwischen Bildungspolitikern, zumindest den meisten, und denjenigen, die in der Praxis, also sozusagen an der Front, all das ausbaden müssen, was sich zuvor Theoretiker ausgedacht und Politiker beschlossen haben. All die hübschen Wörter, mit denen die Theoretiker und die Politik in den letzten Jahren Schulen und Universitäten umgekrempelt haben – mit einer Reform nach der anderen haben sie sie traktiert –, diese hübschen Wörter, meine Damen und Herren, lösen bei vielen Lehrern an Schulen und Hochschulen ein zunehmendes Unbehagen aus. ({0}) Ich nenne Ihnen ein paar dieser Wörter: Kompetenzorientierung, Humankapital, Output-Steuerung, ({1}) Bildungsstandards und eben auch lebenslanges Lernen. Darum geht es der FDP im vorliegenden Antrag, auch wenn Sie so klug sind, das Wort „lebenslanges Lernen“ zu ersetzen durch „lebensbegleitendes Lernen“, wie Sie es nennen. Es läuft aber auf dasselbe hinaus. Ein zweites Bildungssystem für das ganze Leben schlagen Sie uns vor, betrieben vor allem durch private Weiterbildungsfirmen und privatisierte Angebote des öffentlichen Bildungssektors. Finanziert werden soll das Ganze über virtuelle Konten, sogenannte Freiraumkonten, auf die ein Teil des Lohnes umgeleitet und für Weiterbildungen eingefroren wird. Hinzu kommt ein sogenanntes Midlife-BAföG; es ist eben schon erwähnt worden. Meine Damen und Herren, eine gewisse Kreativität bei der Wortneuschöpfung können wir der FDP nicht absprechen; ({2}) aber das macht den Inhalt noch nicht besser. ({3}) Das gilt auch für die sogenannte Digitale Bildungsarena. Was das sein soll, kann man zwischen den Zeilen lesen. In der Digitalen Bildungsarena finden die Anbieter von Bildungsprodukten ihre Käufer. Sozusagen wie in einem Onlineshop werden dort Weiterbildungsangebote angepriesen, verkauft und anschließend bewertet. Wer viel kauft, wird am Ende belohnt und bekommt – vielleicht – einen Job, falls nicht jemand auftaucht, der mehr Weiterbildungsangebote in seinem Warenkorb vorweisen kann. Meine Damen und Herren, wir von der AfD-Fraktion wollen das nicht. Wir wollen bei uns keine amerikanischen Verhältnisse mit einem verrotteten staatlichen Bildungssystem. ({4}) Auf den Verfall der klassischen Bildung im Sinne Humboldts antworten Sie mit einer Ökonomisierung der Bildung. Der Gipfel ist dann noch, dass bei fleißiger Einzahlung und Nutzung des „Freiraumkontos“ Steuer- und Sozialversicherungsbeiträge entfallen sollen. Das ist abenteuerlich, meine Damen und Herren, und das ist komplett unsolidarisch. ({5}) Dazu sagen wir Nein, Nein und nochmals Nein. Die FDP nennt das Ganze übrigens „Bildungssparen“. Ich sage Ihnen, lieber Herr Brandenburg: Bitte ersparen Sie uns künftig solche unausgegorenen Anträge! Sie hatten beim letzten Mal einen viel besseren. Aber dieser hier geht wirklich gar nicht. ({6}) Damit ich an dieser Stelle nicht missverstanden werde: Leistungsorientierung, Noten, Erfolge und Niederlagen sind selbstverständlich Bestandteil eines guten Bildungs- und Ausbildungssystems. Aber erreichte Bildungsabschlüsse müssen dann auch anerkannt und von uns respektiert werden. Die Menschen lebenslang durch die „Bildungsarena“, wie Sie das nennen, zu jagen, gegeneinander aufzuhetzen und auszuspielen, ein solches Wolfsgesetz der Bildung, meine Damen und Herren, lehnen wir ab. Wir wissen schon seit Jahren, dass mindestens die Hälfte der Weiterbildungsmaßnahmen die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen und diese deshalb oft zu Verunsicherung, Enttäuschung und Demotivation bei den Teilnehmern führen. Bevor wir da etwas Neues draufsatteln, so wie die FDP es will, sollten wir doch erst einmal überlegen, woran das liegt. Beständig zu lernen, ist übrigens nicht erst ein Gebot des Internetzeitalters. Das war schon immer so. Schon der chinesische Philosoph Laotse sagte: Lernen ist wie Rudern gegen den Strom. Sobald man damit aufhört, treibt man zurück. – Aber, meine Damen und Herren, dafür brauchen wir keine digitale Bildungsarena, dafür brauchen wir auch nicht das Geschäftsmodell der FDP, und dafür brauchen wir auch keinen ausufernden privatisierten Weiterbildungsmarkt. Wir, die AfD-Fraktion, denken vom Menschen aus. ({7}) – Hören Sie einmal zu! Da können Sie was lernen. Das müsste eigentlich Ihre Kritik, also der Linken, sein. – Die FDP denkt vom Markt aus. Aus Sicht des Marktes begreift sie den Menschen als etwas Defizitäres, etwas, das den Ansprüchen nie ganz gerecht wird. Deshalb übertiteln Sie Ihren Antrag auch mit den Worten: „Niemals ausgelernt“. Meine Damen und Herren, liebe Kollegen von der FDP, merken Sie denn nicht, dass solche Formulierungen den Menschen draußen Angst machen? Bitte kehren Sie zurück auf den Pfad der Tugend!

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Kommen Sie zum Schluss, Herr Kollege.

Dr. Götz Frömming (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004722, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Halten Sie sich an unser bewährtes Bildungssystem, und ersparen Sie uns diese Luftschlösser! Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Ulrike Bahr, SPD-Fraktion. ({0})

Ulrike Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004246, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Erst neulich habe ich in der Zeitung gelesen, dass schon heute ein Roboter die Arbeit von 1,6 Menschen ersetzen kann. Das kann beunruhigen, muss es aber nicht; denn auch wenn sich die Arbeitswelt verändert, so wird uns die Arbeit mit Sicherheit nicht ausgehen. Allerdings werden andere Qualifikationen und Berufe benötigt. Deshalb ist die SPD-Fraktion der Meinung, dass der beruflichen und allgemeinen Weiterbildung enorme Relevanz zugeschrieben werden muss. ({0}) Wer sich weiterbildet, der hat Chancen auf dem Arbeitsmarkt von morgen. Wir brauchen daher eine gute Weiterbildungskultur in Deutschland, die alle mitnimmt und keinen zurücklässt. Doch wie stellt man so etwas an? Unser Vorschlag war die Entwicklung einer Nationalen Weiterbildungsstrategie, wie genannt, die wir im Koalitionsvertrag festgeschrieben haben. Die Regierung hat dieses Vorhaben gemeinsam mit den Sozialpartnern in Angriff genommen und ihre Ergebnisse im Sommer veröffentlicht. Darin sind in zehn Themenfeldern Problemskizzen und Maßnahmen aufgezeigt, wie eine gute Weiterbildungspolitik aussehen kann. Das hat nun auch die FDP-Fraktion erkannt und eigene Vorschläge entwickelt. Viel Neues konnte ich dort jedoch nicht lesen. Dennoch hege ich Sympathien für die eine oder andere Idee, nicht, weil es welche der FDP wären, sondern deshalb, weil Sie Vorhaben der SPD aufgreifen, wie beispielsweise den Vorschlag der „Freiraumkonten“. Diese hießen bei uns 2017 „Chancenkonten“ und zielten in die gleiche Richtung. In unserem Papier für einen neuen Sozialstaat haben wir diese Konten in diesem Jahr „Zeitkonten“ genannt, dabei aber auch die Idee weiterentwickelt. Uns schwebt bei Freiräumen nicht nur die reine Teilnahmemöglichkeit bei Weiterbildungsangeboten vor, was zweifelsohne wichtig ist. Vielmehr sollen unsere Zeitkonten auch mehr Raum für Familien ermöglichen, beispielsweise für die Pflege von Angehörigen oder die Kindererziehung. ({1}) Besonders wichtig ist, dass die angesparte Zeit auch bei einem Jobwechsel übertragbar wäre. Hier finde ich im vorliegenden Antrag nichts. ({2}) Die Nationale Weiterbildungsstrategie liefert aber auch sonst Antworten und Vorschläge auf die Forderungen Ihres Antrags und macht diesen damit obsolet. Was mir auch fehlt, ist die Verknüpfung von Erstausbildung und Weiterbildung. Schon Ihr Titel suggeriert, dass hier getrennt werden muss. Das finde ich nicht. So möchte ich hervorheben, dass der Rechtsanspruch auf das Nachholen eines Berufsabschlusses in der Nationalen Weiterbildungsstrategie von zentraler Bedeutung ist. Er bietet die Grundlage für die Teilnahme an Weiterbildungsangeboten. Wir halten fest: Noch immer hängt der Bildungsgrad mit der Bereitschaft zur Teilnahme an einer Weiterbildungsmaßnahme zusammen. ({3}) Die Umsetzung der Ergebnisse der Weiterbildungsstrategie werden wir begleiten; das hat auch die Zustimmung der Sozialpartner. Es wird halbjährlich evaluiert. Dann sollten wir, falls nötig, nachjustieren. Das ist der richtige Weg. Das heißt jedoch nicht, dass wir bis dahin nichts für bessere Rahmenbedingungen in der Weiterbildungslandschaft tun. Das Gegenteil ist der Fall. Mit dem Qualifizierungschancengesetz und dem von Hubertus Heil angekündigten Arbeit-von-morgen-Gesetz sind wir bereits aktiv in die Weiterbildungsförderung eingestiegen und wollen diese in Zukunft sogar noch ausbauen. Nach der Novelle des Berufsbildungsgesetzes kommt nun die Reform des Aufstiegs-BaföG, mit der wir die Kosten für die Teilnehmenden an einer individuellen Aufstiegsfortbildung erheblich senken werden. Damit motivieren wir, in die eigene Weiterbildung zu investieren. ({4}) Alleine dafür nimmt der Bund im kommenden Jahr rund 392 Millionen Euro in die Hand. Das sind fast 50 Prozent mehr als noch in diesem Jahr. Und nebenbei: Auch wenn von der politischen Seite oft die berufsbezogene Weiterbildungsförderung im Vordergrund steht, ist für uns klar, dass auch an die individuellen allgemeinbildenden Angebote gedacht werden muss, wie sie zum Beispiel unsere Volkshochschulen anbieten. Diese Angebote sind enorm wichtig für unsere Gesellschaft, denn sie bieten einen niedrigschwelligen Zugang zu Bildungsleistungen und machen damit lebensbegleitendes Lernen erst möglich.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Ulrike Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004246, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das unterstützen wir auch weiterhin. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Danke, Frau Kollegin Bahr. – Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Dr. Petra Sitte, Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will mich auf drei Punkte konzentrieren, von denen ich meine, dass sie im Kontext dieses FDP-Antrages auf keinen Fall vergessen werden sollten. Erstens. Nicht nur Bildung, sondern eben auch Weiterbildung sind in Deutschland immer noch Spiegelbild sozialer Ungerechtigkeit und Ungleichheit. Hierzulande profitiert von einer Qualifizierung vor allem, wer erwerbstätig ist und gut verdient, wer einen guten Realschulabschluss und einen höheren beruflichen Abschluss hat. Erwerbslose, geringqualifiziert Arbeitende oder eben auch Menschen mit Hauptschulabschluss finden hingegen viel schlechter Zugang zu guter Weiterbildung. Ähnlich ergeht es auch den 2 Millionen Menschen ohne Schulabschluss und vor allem den 6 Millionen Menschen, die als funktionale Analphabeten gelten. Der Matthäus-Effekt verstärkt auch hier die Ungleichheiten: Wer sozial und gesellschaftlich ohnehin benachteiligt ist, erlangt deutlich weniger Ressourcen für Bildung und damit gleichermaßen auch für Weiterbildung. Das zieht sich sozusagen wie ein schwarzer Faden durch die gesamte Bildungslandschaft. Das muss endlich ein Ende haben. ({0}) Mithin lehnt Die Linke auch ab, Wissen für Menschen einseitig nach wirtschaftlicher Verwertbarkeit zu öffnen. Lebenslanges Lernen soll für alle Lernen fürs Leben sein. Zweitens. Lernen und Lehren brauchen Qualität. Weiterbildungen nach den Sozialgesetzbüchern, beispielsweise mit einer direkten Förderung durch die Bundessagentur für Arbeit, haben viel eher etwas mit einer Beschäftigungstherapie als mit Qualität zu tun. Das Prinzip, je billiger, desto besser, kommt aber am Ende alle viel teurer zu stehen, weil diese Weiterbildung weniger nutzt und vor allem weil die Betroffenen dadurch unglaublich demotiviert werden. Das ist absurd. ({1}) Die Folge sind prekäre Beschäftigungsverhältnisse bei den Lehrenden, insbesondere bei Honorarkräften und bei Selbstständigen. Sie werden oft nicht tarifgebunden und demzufolge auch deutlich niedriger bezahlt. Sie werden befristet eingestellt und hocken meistens unfreiwillig in Honorarverträgen. So ist weder eine armutsfeste Altersabsicherung möglich, und, was noch viel entscheidender ist, jene, die Fort- und Weiterbildung anbieten sollen, haben selber gar keine Chance auf Fort- und Weiterbildung. Das ist ja sozusagen auch schon der Untergang eines solchen Systems, wenn man diese Basis nicht stärkt. Das heißt also, gute Weiterbildung und gute Arbeit sind zwei Seiten einer Medaille. ({2}) Drittens. Bildung braucht Zeit. Sie braucht Finanzierung. Der gesamte Prozess muss auch vertrauensvoll gestaltet sein. Anders als im FDP-Antrag ist für uns Weiterbildung mehr als Lernen für beruflichen Aufstieg oder berufliche Umorientierung. Weiterbildung umfasst auch persönliche Bildungsansprüche. Gerade in Zeiten von Fake News und Demokratiestärkung, von der wir hier immer wieder reden, vertreten wir ein Bildungsverständnis, das statt persönlicher Abhängigkeit mehr Selbstständigkeit, mehr Selbstbestimmung und mehr Gleichstellung ermöglicht. ({3}) Dazu bedarf es in der Tat eines umfassenden Netzes an Weiterbildungsangeboten. Die Träger sind verlässlich zu unterstützen, um dann auch ihre eigene Bezahlung und damit auch die Beschäftigungsverhältnisse angemessen zu vergüten. Zwingend notwendig ist, sich mit den Konzepten der Gewerkschaften wie Weiterbildungsmentorinnen und ‑mentoren in Betrieben zu öffnen oder sich das Bildungsfreistellungsgesetz des DGB Sachsen oder die von der GEW geforderten Weiterbildungsfonds anzuschauen. Abschließend will ich sagen: Auch in Zeiten von Digitalisierung und künstlicher Intelligenz ist Qualifizierung nicht das Allheilmittel zur Lösung von Struktur- und Beschäftigungsproblemen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin Sitte, kommen Sie zum Schluss bitte.

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Das bleibt eine sozialpartnerschaftliche Aufgabe von Betrieben, Gewerkschaften und der Politik. Danke. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Beate Walter-Rosenheimer, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Beate Walter-Rosenheimer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004221, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörer und Zuhörerinnen! „Niemals ausgelernt, immer neugierig“, was für ein schöner Titel, lieber Herr Brandenburg, ganz in meinem Sinne und ein schönes Lebensmotto. Digitalisierung und ein eklatanter Fachkräftemangel in unserem Land machen „lebensbegleitendes Lernen“, wie Sie es nennen, notwendiger denn je und zu einer der zukunftsweisenden Fragen unserer Arbeitswelt. ({0}) Schön, dass wir mit Ihrem Antrag heute die Gelegenheit bekommen, hier Weiterbildung zu diskutieren; denn es ist noch lange nicht alles dazu gesagt. Zu einigem, was Sie in Ihrem Antrag schreiben, können wir Grüne Zustimmung geben, und zwar: Ja, lebensbegleitendes Lernen ist wichtig und braucht mehr Aufmerksamkeit. Gerade Geringqualifizierte brauchen mehr finanzielle Unterstützung, da bei ihnen fehlende Weiterbildung oft am leeren Geldbeutel scheitert. Und, ja, wir brauchen mehr Geld; denn Weiterbildung kostet, gerade wenn wir ein qualitativ hochwertiges, inklusives und gerechtes lebenslanges Lernen für alle wollen. Und, ja, wir brauchen eine geeignete Bewertungsmöglichkeit für nonformales Lernen, das dann in formale Abschlüsse der Aus- und Weiterbildung implementiert werden kann. Und, ja, wir wollen auch die Hochschulen und andere Einrichtungen besser nutzen für Weiterbildungsangebote. ({1}) – Ja, ziemlich viel „gut“. Ja, Sie haben recht: Der derzeitige Weiterbildungsmarkt ist unübersichtlich. Viele Menschen verlieren sich in diesem Maßnahmendschungel, und da müssen wir raus. ({2}) Ich finde gut, dass wir Sie an unserer Seite mit unserer Forderung nach einer bundes- oder europaweiten digitalen Weiterbildungsplattform wissen. So, lieber Herr Brandenburg, das war jetzt ein schöner Strauß Blumen, nicht wahr? Doch leider scheiden sich unsere Geister da, wo es an die Umsetzung geht. ({3}) Ich will, weil ich nicht so viel Zeit habe, nur einige Punkte noch nennen. Sie wollen die schon bestehenden Langzeitkonten nach dem sogenannten Flexi-II-Gesetz zu einem sogenannten Freiraumkonto umbauen; das haben wir schon gehört. Als einen Grund nennen Sie, dass das jetzige Zeitwertkonto so wenig beansprucht wird. Da möchte ich Sie einmal auffordern, zu überlegen, warum das kein Erfolgsmodell ist. Warum zum Beispiel möchten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Urlaub wirklich lieber freihaben, als Urlaubstage für Weiterbildung anzusparen? Ich sage einmal: Die Urlaubstage sind zur Erholung da, und nicht, um sie auf irgendeinem Konto zu sparen. ({4}) Da möchte ich ganz nachdrücklich an die Errungenschaften bei den Arbeitnehmerrechten erinnern. ({5}) Dann zum nächsten Thema. Sie fordern einen Rechtsanspruch auf ein „Midlife-BAföG“. Das klingt ein bisschen nach Krise in der Lebensmitte. Aber jetzt einmal im Ernst: Um was handelt es sich? Sie wollen Menschen unter 65 und mit geringem Einkommen einen staatlichen Zuschuss gewähren, der dann auch diesem Freiraumkonto zugeschrieben wird. ({6}) Wenn ich mir aber die Höhe anschaue – bei voller Förderung maximal 1 000 Euro pro Jahr –, dann muss ich leider sagen: Das ist Augenwischerei oder allenfalls ein Tropfen auf den heißen Stein. ({7}) Das macht Weiterbildung wieder am Geldbeutel der Menschen fest, und das wollen wir Grünen nicht. Unabhängig vom Einkommen fordern wir eine Weiterbildungsunterstützung, die allen zugutekommt. Wir wollen die gesetzliche Verankerung des Rechts auf Weiterbildung. ({8}) So muss kein neues Bürokratiemonster beim Finanzamt aufgebaut werden, und es ist datenschutzrechtlich weit weniger bedenklich als Ihre Ideen. Noch zu Ihrem Vorschlag einer Digitalen Bildungsarena. Das halten wir aus datenschutzrechtlichen Gründen für keine gute Idee. Denn wie können Millionen von Freiraumkonten mit dieser Bildungsarena vernetzt werden, und wie kann man dann aus diesen abrechnen? Außerdem fragen wir uns, wie es klappen soll, dass passgenaue Lösungen für eine anfragende Person gegeben werden, wenn es überhaupt keine persönliche Beratung mehr gibt, also kein Gegenüber mehr für Fragen, Unterstützung oder Beratung. Hier kommt mir Ihr Antrag, Herr Kollege Brandenburg, dann doch ein bisschen unausgereift vor. Mir fehlt insgesamt mehr Auseinandersetzung mit kritischen Punkten wie Datenschutz oder Bürokratie. Ihr Ansatz ist uns da zu viel FDP im Sinne von Einzelkämpfertum und „Jeder ist seines Glückes Schmied“. Wir wollen da mehr soziale Verantwortung und mehr Weitblick. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner ist der Kollege Stephan Albani, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Stephan Albani (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004241, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir verhandeln hier einen Antrag der FDP, der, als ich ihn gestern bekam und durchlesen konnte, für mich wieder so ein bisschen das Bild eines bildungspolitischen Schrotschusses ergab. ({0}) Das heißt, man lädt die Flinte mit putzigen Kugeln, die da heißen „Midlife-BaföG“, „Freiraumkonten“, „Digitale Bildungsarena“ und Ähnliches, und dann schießt man einmal einfach so in eine Richtung und hofft, dass irgendwas umfällt. ({1}) Im Grunde ist das aus meiner Sicht eher ein stochastischer Prozess als eine gezielte Planung. ({2}) Insofern würde ich Sie gerne darauf hinweisen, dass dieser Vorschlag nicht unbedingt im freien Raum stattfindet und schon gar nicht – das sei mir als altem Trekkie erlaubt – „To boldly go where no man has gone before!“; da sind schon ein paar. ({3}) Es sei hier darauf verwiesen, dass wir im Herbst letzten Jahres das Qualifizierungschancengesetz verabschiedet haben. In diesem haben wir Fördermöglichkeiten zur beruflichen Weiterbildung für Berufe, die von einem Strukturwandel betroffen sind, geschaffen. Gestaffelt nach Größe der Unternehmen, können hier entsprechende Zuschüsse gezahlt werden. In Ihrem Antrag kritisieren Sie die Unübersichtlichkeit der gesamten Weiterbildungssituation. Nachdem Sie heute Morgen endlich – nach einem Jahr – auch den InnovED-Wettbewerb als einen Wettbewerb für exzellente berufliche Bildung anerkannt haben, bin ich mir hundertprozentig sicher: Sie werden die Gattungsbegriffe des neuen Berufsbildungsgesetzes irgendwann als Ordnung begreifen. ({4}) Als nächstes Gesetz kommt das Aufstiegs-BaföG, das wir jetzt auf dem Berufsbildungsmodernisierungsgesetz aufsetzen können. Hier geht es darum, die Unterhaltsförderung auf den Weiterbildungsstufen, auf dem DQR 5, 6 und 7, voll zu fördern; „voll“ heißt, man bezieht nicht nur eine Stufe ein, sondern alle Stufen. Es geht darum, an dieser Stelle den Menschen zu ermöglichen, dass sie, wenn sie diese Stufen genommen haben und sich selbstständig machen, von den Belastungen, die durch den Bezug von Aufstiegs-BAföG entstanden sind, freikommen. Wir nehmen 350 Millionen Euro in die Hand, um dieses zu machen. Ich glaube, das ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. ({5}) Auch die Nationale Weiterbildungsstrategie hat nichts mit Ihrem Schrotschuss zu tun. Es ist ein strukturiertes Programm, das wir jetzt locker abarbeiten werden. Die Vorschläge, die wir gerne im Ausschuss diskutieren können, werden noch aufgegriffen. Beim Midlife-BAföG bleiben Sie die Antwort auf die Frage völlig schuldig, wie das Ganze finanziert werden soll. Sie machen dafür keine Vorschläge. Wenn Sie an dieser Stelle zum Beispiel das AFBG anfassen wollen, dann wird das Midlife-BaföG, das kann ich Ihnen garantieren, schnell zur Midlife-Krise. Insofern kann ich Ihnen als Wissenschaftler zusichern – ich bin von Berufs wegen neugierig –: Ich bin gespannt, wie Sie diesen Schrotschuss letzten Endes zielsicher ins Ziel bringen. Danke. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Albani. – Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Dr. Manja Schüle, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Manja Schüle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004885, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer auf der Tribüne! Das Spiel scheint bekannt: Die Opposition stellt einen Antrag. Die regierungstragenden Fraktionen sagen: Machen wir schon, machen wir besser, sind wir in Planung, lehnen wir ab. – So einfach will ich es mir aber nicht machen. So einfach hat es sich auch meine Kollegin Bahr nicht gemacht. Wenn die FDP mit uns über das Bildungssystem diskutieren will, dann lohnt sich der Blick auf die Autobiografie eines liberalen Bildungspolitikers und Philosophen. Mit Ihrer Zustimmung darf ich zitieren: Die ... Ökonomisierung der gesamten Gesellschaft und damit auch der Bildung ist ... aus meiner Sicht eine der schlimmsten Entwicklungen unserer Zeit. ({0}) Herr Sattelberger, wie recht haben Sie, wenn Sie das in Ihrem Buch aus dem Jahre 2015 schreiben ({1}) und deutlich Wege in der beruflichen Bildung beschreiben, die sich nicht beschränken lassen auf die Idee des permanenten ökonomischen Fortschritts. Wir teilen ja Ihre Gedanken zum lebenslangen Lernen, aber bitte ohne Vorbedingungen. ({2}) Herr Sattelberger, freuen Sie sich jetzt, dass ich Sie als „Philosoph“ tituliert habe? ({3}) Die Erwartungen an Arbeit, Arbeitszeiten und Weiterbildungsphasen und auch die Vereinbarkeit mit individuellen Lebensentwürfen verändern sich. Die Digitalisierung und der demografische Wandel beschleunigen diese Veränderungen. Wir alle spüren doch den Druck; auch wir als Politiker spüren den steigenden Qualifikationsbedarf. Unser SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil hat darauf mit dem Qualifizierungschancengesetz reagiert. Dort bauen wir Sozialdemokraten die Weiterbildungsförderung für Beschäftigte aus; die Kollegin Bahr hat es ausgeführt. Wir benötigen aus meiner Sicht aber einen viel umfassenderen Ansatz, einen Ansatz, wie er sich im Sozialstaatskonzept der SPD wiederfindet. Als wir ihn damals vorgestellt haben, haben wir sehr deutlich die Anforderungen formuliert, die wir bei der Weiterbildungskultur in Deutschland sehen. Es ist unverzichtbare Aufgabe des Staates, die neue Arbeitswelt auf neue Chancen vorzubereiten, aber bitte auch mit einem Schutz für die Menschen. ({4}) Im Titel Ihres Antrags taucht das schöne Wort „neugierig“ auf. Die Neugier drückt das Verlangen aus, etwas Neues zu erfahren. Ich habe das Problem, dass Ihr Antrag in Teilen etwas im Ungefähren und bei Schlagwörtern verbleibt. Das möchte ich Ihnen an ein paar Beispielen verdeutlichen. Erstens. Im Zusammenhang mit dem Freiraumkonto fordern Sie die Bundesregierung auf, einen Gesetzentwurf vorzulegen, in dem „geltende landesgesetzliche Regelungen zu Bildungsurlaub unberührt bleiben“. Wieso eigentlich? In Sachsen und in Bayern gibt es überhaupt keinen gesetzlichen Anspruch auf Bildungsurlaub; in anderen Ländern aber schon. Warum wollen Sie denn an dieser Praxis festhalten? ({5}) Ihr Sozialpolitiker Vogel hat in einem Interview im „Handelsblatt“ gesagt: Der Wettbewerb findet nicht zwischen Niedersachsen und Bremen statt, sondern zwischen uns, den USA und China. – Doch, der Wettbewerb, den Sie mit Ihrem Antrag manifestieren wollen, findet auch zwischen den Bundesländern statt. ({6}) Zweitens. Sie fordern KI-gesteuerte Peer-Review-Verfahren. Bevor Sie also Menschen weiterbilden, um Aufgaben besser zu erledigen, rationalisieren Sie sie einfach weg. Drittens. Sie fordern ein Bildungsguthaben in Gestalt eines Midlife-BAföG von 18 bis 65 Jahren. Also ganz ehrlich, Herr Brandenburg, Sie scheinen ein unfassbares Vertrauen in die Medizin zu haben, wenn Sie Midlife, also die Lebensmitte, bis 65 Jahre sehen, oder Sie hatten den Druck, einfach wieder ein neues Schlagwort zu erfinden: ein hippes Wort für einen hippen Antrag. ({7}) Viertens. Das angesparte Guthaben im Freiraumkonto, also Überstunden, Boni, ungenutzte Urlaubstage etc., sollen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer für Freistellungen nutzen; aber einen Rechtsanspruch auf Freistellung gegenüber dem Arbeitgeber wollen Sie diesen Menschen nicht einräumen. Sie warfen uns vorhin vor, wir seien ausschließlich für ökonomische Verwertbarkeit; aber in keiner Silbe Ihres Antrags findet sich etwas zur Verantwortung der Arbeitgeber für die Qualifizierung ihrer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Ist das wirklich Ihr Ernst, Herr Brandenburg? ({8}) Unterm Strich ist das nicht die neue FDP; das ist die alte FDP. Aber: Wo Schatten ist, ist auch Licht.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Manja Schüle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004885, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

So begrüßen Sie in Ihrem Antrag den auch von uns forcierten und geforderten flächendeckenden Ausbau einer lebensbegleitenden Berufsberatung durch die Bundesagentur. Die Grundlage ist ein Anspruch auf Nachholen des Berufsabschlusses, auf den wir uns verpflichtet haben.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Liebe Frau Schüle, kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Manja Schüle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004885, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe FDP, Sie haben recht, wir brauchen eine neue Weiterbildungskultur, aber eben auch mit Chancengleichheit. Nicht immer nur die Sporen anziehen und dann nicht vom Hof reiten; das würde ich mir von der FDP wünschen. Herzlichen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Das war ganz dünnes Eis. Ich wollte Sie nur darauf hinweisen, dass die von Herrn Dr. Brandenburg ins Auge gefasste Altersgruppe meine ist. ({0}) Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort die Kollegin Dr. Dietlind Tiemann. ({1})

Dr. Dietlind Tiemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004918, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das alte Sprichwort „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“ hat sicherlich seine Bedeutung. Ich denke, es hat sich in der heutigen Zeit überholt, weil lebenslanges Lernen etwas ist, worüber wir nicht nur irgendwie philosophieren, sondern etwas, was für uns schon gelebte Praxis ist. Daher bin ich der FDP-Fraktion, lieber Jens Brandenburg, dankbar, dass wir hier alle die Chance hatten, unsere Auffassungen kundzutun und deutlich zu machen, wie wichtig uns Bildung ist. Dass das Thema auf der Tagesordnung steht, heißt für uns, noch einmal deutlich zu machen: Stetiges Lernen ist der Schlüssel zum Erlangen von Bildung und damit zur Gestaltung individueller Lebens- und Arbeitschancen. Das muss uns einfach klar sein. Lebenslanges Lernen ist mittlerweile in aller Munde und gilt schon ein Stück weit als Selbstverständlichkeit. Ich glaube, da sollte man, Herr Präsident, die Altersgruppen nicht noch irgendwie unterscheiden wollen. Wir sind doch alle gleich. ({0}) Wie sieht die Realität aus? Wenn man auf dem Arbeitsmarkt mithalten will, ist der Schulabschluss manchmal nachzuholen oder gar ein neuer, ein weiterer Beruf zu erlernen. In Zeiten, in denen wir einen so hohen Grad der Beschäftigung haben, stellt es eine große Herausforderung dar, Zeit für Weiterbildung zu haben; aber genau darum geht es uns. Voraussetzungen für gutes Lernen zu schaffen, ist für uns in der Bundesrepublik eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Das individuelle Lernen über die Erwerbsbiografie hinaus ist entscheidend für die Perspektive des Einzelnen, den Erfolg der Wirtschaft und die Zukunft unserer Gesellschaft. Also: Das, was wir als besonders wichtig empfinden, das lebenslange Lernen, bedeutet, Deutschlands wichtigste Ressource Bildung stärker für persönliche und gesamtgesellschaftliche Aufstiegschancen zu erschließen. Hier sind wir uns sicherlich einig. Globalisierung, Digitalisierung und die dynamische Wissensgesellschaft stellen uns dabei vor große Herausforderungen; auch das ist, glaube ich, hinlänglich von meinen Vorrednern erklärt worden. Wissenserwerb und die Fähigkeit, das erworbene Wissen anzuwenden, müssen durch stetige persönliche Bereitschaft zum Lernen angepasst und erweitert werden. Ich glaube, das ist ein wichtiger Gesichtspunkt, den ich hier noch einmal hervorheben will; denn nur so können wir persönliche Orientierung, gesellschaftliche Teilhabe und Beschäftigungsfähigkeit erhalten und verbessern. Dazu muss man kritisch anmerken, dass in unserer Bundesrepublik nur 38 Prozent der Beschäftigten regelmäßig Zeit in Weiterbildungen investieren; weltweit liegt die Zahl bei 65 Prozent. Wir müssen uns sicherlich vor Augen führen, dass es da Nachholbedarf gibt; aber wir müssen nicht immerzu die Systeme ändern. Der eigentliche Wert des Lernens ist unbedingt zu erhöhen. In unserer Gesellschaft wird über vieles gesprochen und referiert. Aber an welchen Stellen werden Bildung, Qualifikation und lebenslanges Lernen wirklich in den Vordergrund gehoben? Um die Weiterbildungsbeteiligung zu erhöhen, müssen die Möglichkeiten für das Lernen erweitert werden – auch da sind wir auf dem Weg; die Kollegin Mannes hat dazu hervorragend ausgeführt –, etwa indem neue Anreize geschaffen und bestehende Hindernisse – das soll man ruhig kritisch einschätzen – überwunden werden. Frühkindliche Bildungsangebote müssen ausgebaut werden. Wir müssen mehr Chancen für Spätstarter schaffen und für leistungsfähige Schülerinnen und Schüler in gleicher Art und Weise. Es muss aber auch die Möglichkeit geschaffen werden, dass Arbeitsprozesse auf jeden Fall noch lernintensiver gestaltet werden können. Es fehlt an bezahlbaren und bedarfsgerechten Angeboten; auch darauf muss man kritisch hinweisen. Da ich, lieber Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren, mit einem Zitat begonnen habe, ende ich auch mit einem Zitat, aber diesmal von Gerhart Hauptmann, weil ich denke, dass das ganz hervorragend passt. Es heißt: Sobald jemand in einer Sache Meister geworden ist, sollte er in einer neuen Sache Schüler werden. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Tiemann. – Mit diesen bedenkenswerten Worten schließe ich die Aussprache.

Dr. Wiebke Esdar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004710, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir verabschieden heute das Jahressteuergesetz 2019, das die amtliche Bezeichnung „Gesetz zur weiteren steuerlichen Förderung der Elektromobilität und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften“ trägt. Das ist ein langer Name, das ist auch ein zutreffender Name. Darin steckt aber noch viel mehr; darum ist es auch ein unvollständiger Name. 242 Seiten stark sind Gesetzentwurf, Begründung und Erläuterungen. Insgesamt werden durch die Maßnahmen 19 Gesetze angepasst. Zusammenfassend können wir sagen, dass das Jahressteuergesetz 2019 erstens gut fürs Klima ist, zweitens sich für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer lohnt, und drittens tritt es bestehender Diskriminierung entgegen. Erstens. Warum ist es gut fürs Klima? Weil wir umweltfreundliche Mobilität zukünftig weiter und noch stärker fördern werden. Dazu gehören Sonderabschreibungen bei Lieferfahrzeugen mit Elektroantrieb und steuerfreies Aufladen von Elektrofahrzeugen beim Arbeitgeber. Wer seinen Elektrodienstwagen privat nutzen möchte, wird steuerlich weiter entlastet. Bei Elektrofahrrädern wird er oder sie ganz von der Steuer befreit. Jobtickets werden zukünftig pauschal besteuert. ({0}) Zweitens. Warum lohnt sich das Jahressteuergesetz für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer? Wegen mehr Geld für unterwegs – wir heben die Verpflegungspauschalen an –, wegen günstigen Wohnens durch einen neuen Bewertungsabschlag bei Mitarbeiterwohnungen und weil Weiterbildungsmaßnahmen des Arbeitgebers ebenfalls steuerfrei gestellt werden. Meine Damen und Herren, Peter Struck hat einmal hier im Bundestag den Ausspruch geprägt: Kein Gesetz verlässt den Bundestag so, wie es eingebracht wurde. – Das trifft selbstverständlich auch auf das Jahressteuergesetz in diesem Jahr zu. Ich will dazu zwei Beispiele nennen: Erstes Beispiel. Anders als zunächst im ersten Entwurf vorgesehen, verzichten wir heute Abend auf die Neuregelung der Umsatzsteuerbefreiung bei Bildungsleistungen, weil wir uns angesichts der Komplexität des Themas und der Vielzahl der unterschiedlichen Betroffenen noch mehr Zeit nehmen wollen, um da eine angemessene Lösung zu finden und das auch entsprechend kommunizieren zu können. Es ist aber klar: Es bleibt für uns der Arbeitsauftrag, dass wir das europarechtskonform ausgestalten. Für uns als SPD-Fraktion bleibt auch klar: Die Bildungsleistungen, die heute von der Umsatzsteuer befreit sind, wollen wir auch zukünftig von der Umsatzsteuer befreit lassen. Wir haben dazu einen Vorschlag gemacht, für den wir auch weiter werben werden. ({1}) Das eine haben wir gestrichen, wir haben aber – das ist das zweite Beispiel – auch etwas neu hinzugefügt, und zwar die Senkung der Umsatzsteuer von 19 auf 17 Prozent ({2}) für Monatshygieneartikel, also auf Tampons, Binden, Einlagen und Menstruationstassen, die sogenannte Pink Tax. Damit beenden wir drittens die fiskalische Diskriminierung von Frauen in diesem Bereich, weil Monatshygieneartikel eben keine Luxusgüter sind. ({3}) Wir erwarten jetzt, dass die Steuersenkung auch bei den Frauen ankommt. Darum mein Appell, dass wir gemeinsam mit den Initiatorinnen der Petition, Nanna-Josephine Roloff und Yasemin Kotra, und den Jusos, die lange dafür gearbeitet haben, jetzt den Druck auf die Unternehmen erhöhen, dass wir auch sichtbar machen, ob und wie sie das hoffentlich weitergeben. Heute ist der erste wichtige Schritt, den wir dafür tun, dass wir die gesetzliche Grundlage schaffen. Lassen Sie uns gemeinsam den zweiten Schritt gehen. Meine Damen und Herren, das heute vorgelegte Jahressteuergesetz enthält viele Verbesserungen im Sinne der Umwelt, es enthält eine Besserstellung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, und es leistet einen positiven Beitrag für mehr Geschlechtergerechtigkeit. Darum freue ich mich über die Zustimmung ganz vieler hier in diesem Haus zu dem Gesetz. Danke schön. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als nächster Redner hat der Kollege Kay Gottschalk, AfD-Fraktion, das Wort. ({0})

Kay Gottschalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004731, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen! Verehrte Gäste! Frau Esdar, Sie haben ja schon vorgetragen, wo die Schwerpunkte Ihrer Politik liegen. Heute diskutieren wir also das Gesetz zur Förderung der Elektromobilität und sonstige steuerliche Anpassungen, kurz: Jahressteuergesetz 2019. Ich nenne es – Entschuldigung, Herr Kollege Lindh – das Ökoermächtigungsgesetz oder die totale Kapitulation der Ratio. ({0}) Es knüpft nahtlos an das blumige Jahressteuergesetz 2018 an. Ebenfalls ein Placebo: das Familienentlastungsgesetz. Herr Steiniger, Unwahrheiten werden nicht dadurch wahrer, dass Sie sie pausenlos wiederholen. Sie haben nicht entlastet, sondern Sie haben damals Familien davor bewahrt, weiter belastet zu werden. Sie haben den Status erhalten und sich damit mal wieder einer kleinen Lüge, des Überführens wert, schuldig gemacht. ({1}) In Wahrheit ist es aber ein Klassenkampf, der von der CDU übernommen wird ({2}) und durch die nun linksdrehenden Politfraktionen der neuen Blockparteien hier im Hause mit dem neuen Fetisch Klimawahn abgelöst wird. Nichts anderes betreiben Sie hier. ({3}) Dafür instrumentalisieren Sie nun auch noch kaltblütig die deutsche Steuerpolitik. Jede Rationalität wird über Bord geworfen, nur um es den Ökopopulisten, die hier sitzen – Herr Hofreiter, Sie sind ja deren Anführer –, recht zu machen und der kreischenden Greta und ihrer Entourage sozusagen anbiedernd entgegenzukriechen. ({4}) Beispiel aus diesem Steuergesetz gefällig? § 6 Absatz 1 Nummer 4: Hybridfahrzeuge mit einer Reichweite von 60 Kilometern werden weiterhin bis zum 31. Dezember 2024 mit der halben Bemessungsgrundlage gefördert, ab 1. Januar 2025 bis Ende 2030 sogar, wenn sie üppige 80 Kilometer fahren. Jeder, sogar der Bayerische Rundfunk, weiß inzwischen, dass ein Ökofahrzeug – hier können Sie es nachlesen –, ({5}) ein Elektrofahrzeug oder ein Hybrid, mehr Feinstaub bei der Herstellung produziert als jeder Diesel. ({6}) Und wenn Sie dann noch die 150 000 Kilometer zugrunde legen, die hier genannt werden – Sie sind aufgefordert, das zu lesen –, dann ist auch in dieser Hinsicht der Diesel, den Sie gerade kaputtmachen wollen, das bessere Fahrzeug, meine Damen und Herren. ({7}) Auf der anderen Seite – da tritt insbesondere die Heuchelei der SPD zutage –: die Pendlerpauschale. Die fleißigen Menschen werden bestraft. Seit 2004 – und ich werde nicht müde, es Ihnen hier zu sagen –, wird diese Pendlerpauschale nicht angepasst. Jeden Tag pendeln fleißige Menschen, die übrigens –, das sei hier auch mal erwähnt –, den Mietdruck aus den Metropolen heraushalten, den Sie mit Ihrer vermurksten Politik ermöglichen. Diese Pendler werden seit 2004 systematisch bestraft; denn die Pendlerpauschale liegt weiterhin bei 30 Cent pro gefahrenem Kilometer. Darum fordern wir als AfD in unserem Entschließungsantrag eine Anpassung auf 40 Cent pro gefahrenem Kilometer, und das ist auch nur gerecht so, meine Damen und Herren. ({8}) Anders als die Serviceopposition haben wir diese Zahlen im Ausschuss – ich habe sie mir nicht ausgedacht, sondern aus den Statistiken abgeleitet –, angeführt: Im Jahre 2003 lag der Preis für den Liter Superbenzin bei 1,09 Euro. Prägen Sie sich das ein: 1,09 Euro! Heute liegt er durchschnittlich, mit steigender Tendenz, bei 1,43 Euro, meine Damen und Herren. Das ist ein über 30-prozentiger Anstieg. Wer hier noch kopfrechnen kann – bei der Linken weiß ich das jetzt nicht –: ({9}) Das sind ungefähr 40 Cent. Und weil wir bei Ihrer Motivation wahrscheinlich wieder 15 Jahre auf die nächste Erhöhung warten, ist das völlig korrekt, was wir hier beantragen, meine Damen und Herren. Schauen wir uns mal an – auch das ist heuchlerisch –, wie sich die Steuerbelastung jetzt schon zusammensetzt. Da haben wir die Energiesteuer, die Mehrwertsteuer, die Ökosteuer und noch vieles mehr, was der Autofahrer jetzt schon bezahlt. Und nach den Berechnungen des AvDs gehen bei einem Preis von 1,55 Euro pro Liter sogar 90,7 Cent an diesen gierigen Staat; Sie erinnern sich noch, wie ich GroKo definiert habe. ({10}) Meine Damen und Herren, Sie wollen mir also sagen, bei diesem Steueranteil können Sie die Pendlerpauschale nicht erhöhen? Schämen Sie sich was, meine Damen und Herren! ({11}) Und vielleicht auch noch etwas zum Hinter-die-Ohren-schreiben; vielleicht verstehen Sie es, wenn Sie es sich aufschreiben: Meine Damen und Herren, der Anteil der Beschäftigten, die in einem anderen Kreis pendeln, macht 39 Prozent der arbeitenden Bevölkerung aus. Das sind 12,8 Millionen Menschen, die Sie seit 2004 systematisch benachteiligen. Da schlägt Ihr großes Herz, liebe SPD! Und deshalb erodieren Sie weiter, und ich hoffe, irgendwann scheitern Sie dann endgültig an der 5-Prozent-Klausel. ({12}) Lassen Sie mich an dieser Stelle also zusammenfassen: Atomausstieg – wir haben die höchsten Stromkosten in Deutschland. Braunkohleausstieg – die Lausitz und NRW werden wieder benachteiligt. ({13}) Steinkohleausstieg. Und jetzt – das bereiten Sie mit Ihrer Planwirtschaft wahrscheinlich vor; das wird die Grünen freuen –, auch noch Ausstieg aus der Automobilwirtschaft. Meine Damen und Herren – und das ist nicht zum Lachen –, Sie scheinen Spaß daran zu haben, ein ganzes Land unter dem Ökojoch zu versklaven und seiner wirtschaftlichen Existenz zu berauben. Sie machen schon lange keine Politik mehr für das deutsche Volk, sondern führen unter dem ökologischen Vorwand einen Wirtschaftskrieg – ja, und dazu stehe ich – gegen die eigene aktive, produktive Bevölkerung. ({14})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Kay Gottschalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004731, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Strompreise, Gaspreise, Wasser, Müll, Miete seien da nur genannt. Sie sollten sich alle schämen! ({0}) Deshalb wird meine AfD-Fraktion diesem Jahressteuergesetz nicht zustimmen. Ich bedanke mich. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächste Rednerin hat für die CDU-Fraktion die Kollegin Antje Tillmann das Wort. ({0})

Antje Tillmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003646, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Gäste! Wie man bei einem Gesetz, mit dem wir ausschließlich Entlastungen für Bürgerinnen und Bürger beschließen, ({0}) hier mit so viel geballter schlechter Laune stehen kann, ist mir wirklich schleierhaft. ({1}) Ich kann das gar nicht nachvollziehen. In ganz erheblichem Umfang entlasten wir Bürgerinnen und Bürger. Und, Herr Kollege Gottschalk, Sie wissen auch, dass wir die Pendlerpauschale in der nächsten Woche erhöhen. ({2}) Also all das, was Sie kritisiert haben, ist längst in der Beratung. Im Finanzausschuss hätten Sie sich daran beteiligen können. Selbst in dem Punkt haben Sie unrecht. Die Kollegin Esdar hat ja schon dargestellt, was alles an Entlastungen kommt. Das Gesetz hat seinen Namen von den Verbesserungen bei der E-Mobilität, und da gibt es eine ganze Reihe von Entlastungen: bei der privaten Nutzung von Betriebsfahrzeugen, Steuervorteile beim Aufladen von Elektro- und Hybridfahrzeugen, Dienstfahrräder werden steuerfrei gestellt, und das Jobticket wird begünstigt besteuert. Nicht eine einzige Belastung der Bürger, die Sie hier erkennen wollen, kann ich auch erkennen. Das sind alles Entlastungen. Das geht nahtlos weiter mit der Erhöhung der Pauschale bei Verpflegungsmehraufwendungen. Diejenigen, die zum Erreichen ihres Arbeitsorts Fernfahrkarten finanzieren müssen, werden von uns bessergestellt, indem wir die steuerliche Anerkennung einer 24-stündigen Abwesenheit von 24 Euro auf 28 Euro pro Tag erhöhen. Wir haben Anpassungen an moderne Technik vorgenommen, indem wir E-Books ermäßigt besteuern. Auf sie wird künftig auch der Mehrwertsteuersatz von 7 Prozent angewendet, also ebenfalls eine Entlastung. Noch deutlicher werden die Entlastungen und deren Volumen, wenn wir das Thema Wohnen betrachten. Wir haben die Wohnungsbauprämie in allen drei Kriterien verbessert: Sowohl die Einkommensgrenze als auch der Prämiensatz und die Förderhöchstgrenze sind angepasst worden, und damit stehen wir in einer Reihe mit allen anderen Wohnungsbaufördermaßnahmen, die wir in den letzten Jahren schon beschlossen haben. ({3}) Neben dem Baukindergeld, neben der Förderung der energetischen Gebäudesanierung, die wir noch verabschieden werden, und neben der Sonderabschreibung für Mietwohnungsbau also jetzt auch die Wohnungsbauprämie, damit sich junge Familien dauerhaft Wohneigentum leisten können. Auch das ist eine erhebliche Verbesserung für die Bürgerinnen und Bürger. ({4}) Wir werden Arbeitgeber unterstützen, wenn sie ihren Mitarbeitern vergünstigten Wohnraum zur Verfügung stellen. Wir möchten soziale Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, und diejenigen, die sich da zugunsten ihrer Mitarbeiter auf den Weg machen, bekommen steuerliche Vorteile, sodass sich ihre Mitarbeiter in teuren Metropolen Wohnungen leisten können. Also auch im gesamten Wohnumfeld gibt es weitere Verbesserungen in Fortsetzung dessen, was wir mit den letzten Gesetzen schon getan haben. Liebe Frau Kollegin Esdar, wir werden den Steuersatz auf Monatshygieneprodukte nicht auf 17 Prozent – da haben Sie sich versprochen –, sondern sogar auf 7 Prozent reduzieren. 85 000 Frauen und Männer in Deutschland haben sich dafür eingesetzt, dass wir die Mehrwertsteuer auf Monatshygieneprodukte reduzieren. Frauen haben sich engagiert, weil sie es richtig finden, dass für den täglichen Bedarf zwingend notwendige Produkte zum ermäßigten Satz besteuert werden. Auch das tun wir im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens. In beachtlicher Größenordnung werden Frauen hier künftig bessergestellt als bisher. ({5}) – Parteiübergreifender Beifall der Damen: Das freut mich sehr. Auch Arbeitgeber, die ihren Arbeitnehmern kleinere Sachzuwendungen – bis 44 Euro – zukommen lassen wollen, können das künftig leichter tun. Auch dieser Betrag bleibt steuerfrei; wir haben die Voraussetzungen dafür erheblich verbessert. Es ist also ein in allen Punkten gutes Gesetz. Wenn Sie dem nicht zustimmen wollen, werden wir uns das merken und auch entsprechend verkaufen; denn tatsächlich ist nicht in einem Punkt eine Belastung der Bürgerinnen und Bürger zu verzeichnen, sondern es sind in Größenordnungen Entlastungen zu erwarten, auf die ich mich auch ein bisschen freue, wobei ich auch stolz darauf bin, dass wir das hinbekommen haben. Wir werden das in der nächsten Woche fortsetzen mit der Klimaprämie, mit der Mobilitätsprämie, mit der Pendlerpauschale. Im Moment sind wir deutlich unterwegs, Bürgerinnen und Bürger zu entlasten. ({6}) Eines ist uns noch nicht gelungen, ein Punkt bleibt noch offen, aber auch da weiß ich aus dem Finanzministerium, dass wir uns da auf den Weg machen werden. Der Bundesrat hatte eigentlich angeregt, dass wir schon mit diesem Gesetz das Gemeinnützigkeitsrecht aktualisieren. Wir haben Entscheidungen über die Übungsleiterpauschale, über die Ehrenamtspauschale und über Bürokratieabbau im Gemeinnützigkeitsgesetz auf der Tagesordnung. Das nehmen wir uns vor; ich weiß, dass wir noch in diesem Jahr darüber sprechen werden. Ich bin sicher, dass wir auch da Verbesserungen für die Bürgerinnen und Bürger schaffen werden, und freue mich auf die Beratungen in dem Punkt. Ich hoffe, dass alle weiteren Redner ein wenig die Freude, die ich verspüre, teilen und nicht die schlechte Laune meines Vorredners. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Der nächste gutgelaunte Redner ist Markus Herbrand von der FDP-Fraktion. ({0})

Markus Herbrand (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004745, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Kollegin, die Freude kann ich nicht ganz teilen. ({0}) Denn wenn es noch eines weiteren Beweises bedurft hätte, dass diese Große Koalition nicht imstande ist, auch Großes zu leisten, wäre das tatsächlich das vorliegende Gesetz. ({1}) Es handelt sich um eine diffuse Ansammlung äußerst kleinteiliger Maßnahmen. ({2}) Anstatt unser Steuergesetz zu modernisieren, es international wettbewerbsfähig zu machen und von bürokratischem Unsinn zu befreien, regeln Sie die Steuerfreiheit der Überlassung von Fahrrädern. ({3}) Über 200 Seiten weitgehende steuerpolitische Ambitionslosigkeit hat die Koalition buchstäblich auf den letzten Drücker noch aufzuwerten versucht. In aller Hektik wurden noch Dutzende Änderungen eingebracht. Leider setzt auch da die Koalition wieder einmal die falschen Prioritäten. Deshalb haben wir versucht, im Finanzausschuss einige qualitative Angebote zu unterbreiten, die ich Ihnen zum Teil vorstellen möchte: Erstens. Die Risiken des Klimawandels sollten für Landwirte durch die Möglichkeit einer steuerfreien Risikoausgleichsrücklage zielgenauer berücksichtigt werden, als Sie es in Ihrem Gesetz vorhaben. Zweitens. Der BFH hatte eindeutig festgestellt, dass Gewinne und Verluste aus Kapitalanlagen gleichbehandelt werden müssen. Dafür setzen wir uns ein. ({4}) Die Bundesregierung versteuert die Gewinne und ignoriert die Verluste. Das ist eine sehr fiskalische Sichtweise. ({5}) Außerdem machen wir uns sehr stark dafür, dass die sogenannten Freifunk-Initiativen endlich als gemeinnützig anerkannt werden. ({6}) Das haben Sie alles abgelehnt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Kernstück und Namensgeber des Gesetzes, die in der Tat auch für uns notwendige Mobilitätswende, ist aus unserer Sicht jedoch vollkommen einseitig zugunsten der ökologisch und auch ökonomisch fragwürdigen Elektromobilität ausgestaltet. Unser Hauptkritikpunkt an dieser Stelle ist die fehlende Technologieoffenheit. Hier werden lediglich weitere Subventionstatbestände geschaffen. In einer sozialen Marktwirtschaft sollte der Staat Rahmenbedingungen schaffen und nicht konkrete Wege vorgeben. ({7}) Zudem sind die Regelungen so kompliziert, dass man tatsächlich befürchten muss, dass der Bürger demnächst vor der Anschaffung eines Pkws zum Finanzamt rennen muss, um die steuerlichen Konsequenzen zu überprüfen. Ein Irrsinn! Kompliziert und eindimensional, das ist die Antwort der Großen Koalition auf dieses Zukunftsthema. Meine sehr geehrten Damen und Herren, deutliche Kritik üben wir auch an der Neuregelung der steuerlichen Behandlung von Gutscheinen. Hier gab es im Verfahren ein verwirrendes Hin und Her. Diese wichtige, für die Arbeitnehmer auch wertschätzende Regelung ist letztlich doch wieder extrem aufwendig, Frau Kollegin, auch wenn Sie das nicht wahrhaben wollen. Die jetzt ins Gesetz aufgenommenen Einschränkungen lehnen wir entschieden ab. Zum Glück gibt es auch einzelne Lichtblicke. So finden wir es gut und auch richtig, dass der geplante Unsinn bei der umsatzsteuerlichen Behandlung von Bildungsleistungen in diesem Gesetz so nicht weiter verfolgt wird. ({8}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben jetzt die Möglichkeit, das Gesetz noch etwas aufzuwerten. Deswegen bieten wir Ihnen noch mal namentliche Abstimmungen zu zwei bekannten Themen an. Erstens: Lassen Sie uns bitte den Zins für Steuernachzahlungen endlich reduzieren. Es ist einfach abenteuerlich, dass der Fiskus trotz anhaltender Niedrigzinsphase 6 Prozent erhebt. ({9}) Und zweitens: Lassen Sie uns die Grenze für geringwertige Wirtschaftsgüter endlich auf 1 000 Euro anheben, wie von nahezu allen Seiten gefordert. ({10}) Für diese Änderungen möchten wir in aller Eindringlichkeit werben. Das sind wirklich dringend überfällige Reformschritte, die endlich angegangen werden müssen. Es würde dieses Gesetz mit Qualität und Inhalt füllen. Herzlichen Dank. ({11})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Herbrand. – Nächster Redner ist für die Fraktion Die Linke der Kollege Jörg Cezanne. ({0})

Jörg Cezanne (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004693, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Steuerliche Förderung der Elektromobilität – das weckt immerhin die Hoffnung darauf, dass es die Bundesregierung mit der Verkehrswende jetzt vielleicht doch etwas ernster nimmt. Allein: Der Eindruck täuscht; es handelt sich um Etikettenschwindel. ({0}) Was mit Steuernachlässen tatsächlich gefördert wird – und das ist der wesentliche neue Punkt in diesem Gesetz; alles andere sind kleinteilige Verlängerungen von Regelungen, die bereits gültig sind –, ist vielmehr die private Nutzung von Dienstwagen. Das ist auch keine Kleinigkeit; denn es betrifft mindestens 5 Millionen Autos, also jedes neunte Auto ist ein solcher Dienstwagen oder ein gewerblich genutztes Fahrzeug. Aber es kommt darauf an, wie man die steuerliche Förderung vornimmt. Und hier setzt unsere Kritik an. Wenn Sie sich schon nicht zu einem wirklichen Vorrang der E-Mobilität im öffentlichen Verkehr auf der Schiene, der der großen Mehrheit der Menschen in unserem Land zugutekommen würde, entschließen können, dann sollten Sie auch nicht nach dem Gießkannenprinzip schwere, energieverbrauchsintensive, teilelektrische oder elektrische Geländewagen und Luxuslimousinen fördern. ({1}) Auch bei batterieelektrischen Antrieben muss es eine Mindesteffizienzgrenze geben. Dazu haben wir in unserem Entschließungsantrag einen Vorschlag gemacht; dem könnten Sie heute gerne zustimmen. ({2}) Hinzu kommt, dass Steuerermäßigungen grundsätzlich diejenigen überdurchschnittlich begünstigen, die aufgrund hoher Einkommen auch hohe Steuern zahlen. Also auch diese Regelung bei den Dienstwagen hat eine soziale Schlagseite und ist deshalb aus unserer Sicht in dieser Form nicht hilfreich. ({3}) Soweit Sie damit insbesondere teure und große Wagen steuerlich günstiger stellen, helfen Sie auch nicht denjenigen, die darauf angewiesen wären, dass Elektrofahrzeuge künftig billiger werden, indem sie in größeren Mengen produziert werden. Auch hier stimmt das Vorgehen mit dem Ziel nicht überein. ({4}) Dennoch, Frau Tillmann, gibt es durchaus auch einen Grund für gute Laune. ({5}) Es gibt eine Reihe von zustimmungsfähigen Maßnahmen; darüber haben wir ja schon im Ausschuss gesprochen. Insbesondere freut auch uns, dass Sie die Umsatzsteuer für Hygieneprodukte, für Menstruationsprodukte senken wollen. Das findet unsere Unterstützung. ({6}) In dem vorliegenden Antrag meiner Fraktion gehen wir noch einen Schritt weiter. Dort haben wir vorgeschlagen, dass solche Produkte zukünftig in öffentlichen Gesundheitsstellen, aber auch in den sanitären Einrichtungen öffentlicher Gebäude kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Das können wir ja nächstes Jahr im Jahressteuergesetz noch mal aufgreifen. ({7}) Letzter Punkt. Auch ich möchte noch mal betonen – das hat in der Anhörung ja durchaus eine große Rolle gespielt –, dass wir es sehr begrüßen, dass Sie von der von Ihnen vorgesehenen verunglückten Anpassung der Umsatzsteuer auf Bildungsleistungen an das Europarecht Abstand genommen haben. Es ist auf jeden Fall sinnvoll, mit den Verbänden hier eine Regelung zu finden, die den Bedenken der Volkshochschulen und anderer Bildungsträger Rechnung trägt. Danke schön. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Herr Kollege. – Nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist die Kollegin Lisa Paus. ({0})

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit diesem Gesetz wird die seit Anfang dieses Jahres geltende Förderung der Elektromobilität bis 2030 verlängert. Gradmesser dafür sollte ja eigentlich der Erfolg dieser steuerlichen Förderung sein. Deswegen: Schauen wir doch mal, was da in diesem Jahr passiert ist. Ja, der Anteil von E-Autos bei Neuzulassungen ist leicht gestiegen – von 1 auf 2 Prozent. Der Anteil der Neuzulassungen von Hybridfahrzeugen inklusive der großen, schweren Hybrid-SUVs ist ein bisschen stärker gestiegen – auf 6 Prozent. In der Summe liegen wir beim Thema Elektro inklusive Hybrid immer noch bei unter 10 Prozent. So sieht Ihre Elektromobilitätsoffensive aus, meine Damen und Herren. Das ist kläglich. ({0}) Aber es ist kein Wunder, wenn umweltschädliche Subventionen wie das Dienstwagenprivileg in Höhe von immerhin noch 3 Milliarden Euro jährlich auch für die größten Spritschlucker nach wie vor unangetastet bleiben. Deswegen steht unser Vorschlag nach wie vor: Wir wollen das Dienstwagenprivileg insgesamt ökologisieren. Die bisherige 1-Prozent-Regel gilt weiter für die Fahrzeuge, die den EU-Flottengrenzwert von 95 Gramm CO2-Emission pro Kilometer einhalten. ({1}) Emittieren sie mehr, sinkt der steuerliche Vorteil. Emittieren sie weniger, dann steigt der steuerliche Vorteil. Das hilft der Mobilitätswende im Autoverkehr wirklich. Aber es stehen nicht nur schlechte Dinge in diesem Gesetz. Auch wir begrüßen ausdrücklich die Ausweitung der Förderung auf E-Lastenräder. Wir begrüßen ebenfalls, dass Sie die ursprünglich geplante Einschränkung der Umsatzsteuerbefreiung von Bildungsleistungen nach massiven Protesten – das muss man auch mal sagen – zurückgenommen haben. Das war weder bildungspolitisch sinnvoll noch europarechtlich in dieser Form notwendig, meine Damen und Herren. ({2}) Ganz außerordentlich freue ich mich, dass wir mit diesem Gesetz für alle Frauen etwas – ein klein wenig, aber mit hoher symbolischer Wirkung – besser machen werden; denn zukünftig wird für Tampons und andere mit der monatlichen Periode verbundene Hygieneprodukte endlich statt 19 Prozent der verminderte Mehrwertsteuersatz von 7 Prozent gelten. ({3}) Vielen, vielen Dank an die über 85 000 Unterstützerinnen und Unterstützer der Petition an den Deutschen Bundestag. Sie haben wirklich etwas bewegt. Nicht nur sparen Frauen zukünftig immerhin mehr als 1 000 Euro in ihrem Leben. Ja, Frauen bluten im Schnitt zusammengerechnet sechseinhalb Jahre ihres Lebens. Und, ja, Frauen brauchen deutlich mehr als einen Tampon pro Tag; das möchte ich für die begeistert rechnenden Männer noch mal ausdrücklich betonen. ({4}) Diese Frauen haben auch das Thema Monatsblutung enttabuisiert, und sie haben deutlich gemacht: Unser deutsches Steuerrecht, das Tierfutter weniger besteuert als Tampons, ist nicht geschlechtsneutral; denn es gibt noch eine Reihe von weiteren Regeln, die faktisch Frauen diskriminieren. Ich nenne das Ehegattensplitting, ich nenne das Thema „Freibeträge bei der Altersvorsorge“ etc. Wir brauchen endlich einen Gendercheck des deutschen Steuerrechts, meine Damen und Herren. ({5}) Leider stellt dieses Gesetz praktisch eine völlige Fehlanzeige beim Schließen von Steuerschlupflöchern dar. Share Deals, also die Möglichkeit für große Konzerne, keine Grunderwerbsteuer zahlen zu müssen, wurden kurzfristig aus diesem Gesetz herausgenommen und das Thema ins nächste Jahr verschoben. Und auch unseren Änderungsantrag zu den sogenannten Familiengenossenschaften – das ist ein vor zwei Wochen neu bekanntgewordenes Steuerschlupfloch, bei dem private Anleger Mitbestimmungsrechte in Genossenschaften schleifen und die Genossenschaft nur als Vehikel für steuerfreie Gewinne missbrauchen – haben Sie abgelehnt. Konsequenter Kampf gegen Steuervermeidung, meine Damen und Herren, sieht anders aus! ({6}) Deswegen werden wir uns insgesamt enthalten. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner ist der Kollege Michael Schrodi, SPD-Fraktion. ({0})

Michael Schrodi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004884, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Gestern im Ausschuss haben wir festgestellt, dass wir eine sehr kollegiale Atmosphäre haben, trotz mancher Unterschiede, dass wir eine freundliche, auch freudige Atmosphäre haben, Frau Tillmann. Abgesehen von vielleicht ein paar Lümmeln aus der rechten Bank ({0}) lassen wir uns das auch nicht vermiesen. Übrigens: Wir machen nächste Woche etwas zur Pendlerpauschale. Ich weiß nicht, die Hälfte mancher Rede ging zur Pendlerpauschale. Das machen wir nächste Woche. Sie haben sich in der Woche vertan, Herr Gottschalk. Aber es steht Ihnen zu, dass Sie etwas hier behandeln wollen, was eigentlich erst nächste Woche kommt. Übrigens: Die Verletzung, die ich habe, das waren keine Abnutzungskämpfe in der Koalition oder mit der Opposition, sondern das ist auf dem Fußballplatz geschehen – einige waren mit dabei –; ansonsten arbeiten wir hier sehr gut zusammen. ({1}) Wir beschließen heute das Jahressteuergesetz 2019; ich nehme jetzt mal den kürzeren und nicht den sperrigen Namen. Es sind schon einige Dinge genannt worden, die wir hier beschließen. Ich möchte drei Punkte herausheben, die uns wichtig sind: Der erste Punkt ist das Klimapaket der Bundesregierung; da haben wir uns viel vorgenommen. Es sieht zahlreiche Maßnahmen vor: Investitionen, Anreize, Bepreisung von CO2 mit dem Ziel der CO2-Reduktion – übrigens auch im Verkehr: Da fördern wir die Bahn. Aber wir wollen auch den Individualverkehr fördern, hier die Elektromobilität. Deswegen schaffen wir einige Anreize bei den Dienstwagen. Warum da? Weil über 60 Prozent der Neuzulassungen Dienstwagen sind. Wenn wir eine Änderung in der Flotte wollen, müssen wir also auch da etwas tun. Wir fördern dort auch Fahrzeuge unter 40 000 Euro Anschaffungswert und damit auch Fahrzeuge, die nicht ganz so teuer sind. So können sich auch Menschen mit normalem Geldbeutel ein E-Auto auf dem Gebrauchtwagenmarkt leisten. Das ist eine richtige Maßnahme. ({2}) Wir fördern übrigens technologieoffen: Auch wasserstoffbetriebene Autos können gefördert werden. Sonderabschreibungen für elektrisch betriebene Lieferfahrzeuge und auch Lastenfahrräder sind drin. Dafür sind wir von den Umweltverbänden gelobt worden; ich finde, zu Recht. Wir machen das, was wir versprochen haben: eine schnelle Umsetzung der Beschlüsse des Klimapakets hier im Deutschen Bundestag, und damit fangen wir beim Jahressteuergesetz an. ({3}) Der zweite Punkt betrifft ein Problem, das wir aus vielen Regionen kennen: steigende Mieten. Was kann man dagegen tun? Wir haben in Bayern jetzt gemeinsam mit Mieterbund und DGB ein Volksbegehren Mietenstopp initiiert. Wir müssen aber auch an vielen anderen Stellen etwas tun. Wir tun auch etwas im Jahressteuergesetz: Wir finden, dass es zur sozialen Fürsorge der Unternehmer gehört, ihren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern Wohnraum anzubieten. Es ist aber passiert, dass manche da ausgebremst wurden, beispielsweise in München die Barmherzigen Schwestern, die ihren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern Wohnungen unter dem ortsüblichen Mietwert angeboten hatten. Dafür mussten die Mitarbeiter dann den geldwerten Vorteil versteuern. Unser Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter hat uns immer wieder darauf hingewiesen, dass wir hier etwas tun müssen. Und jetzt tun wir etwas: Wir führen einen Bewertungsabschlag von einem Drittel vom ortsüblichen Mietwert ein. Das wirkt wie ein Freibetrag und heißt ganz einfach, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die in günstigen Werkswohnungen wohnen, den geldwerten Vorteil nicht mehr versteuern müssen. ({4}) Wir ermöglichen den Erhalt und auch die Schaffung bezahlbaren Wohnraums. Darauf hätte Die Linke übrigens auch eingehen können; auch dieser Punkt ist Bestandteil des Jahressteuergesetzes. Zum dritten Punkt. Cum/Cum und Cum/Ex stehen für Steuergestaltungsmodelle von Steuertricksern, durch die dem Staat Milliarden Euro entgangen sind. Immer wenn ein Schlupfloch geschlossen wird, taucht irgendwo anders ein neues auf. Wir sind dabei, diese Gestaltungsmodelle abzuschaffen und Schlupflöcher zu schließen. Mit diesem Gesetz tun wir auch etwas gegen Schlupflöcher: Mit der Änderung des § 31 Investmentsteuergesetz wird zum einen der Zuordnungszeitpunkt für Kapitalerträge klargestellt, und zum anderen werden die Regelungen zur Verhinderung von Cum/Cum-Gestaltungen verbessert. ({5}) Das ist auch ein wichtiger Schritt in diesem Jahressteuergesetz, der Erwähnung finden muss. Wir wollen Steuergestaltungsmodelle, mit denen sich Zocker auf Kosten der Steuerzahler bereichern, konsequent verhindern.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss.

Michael Schrodi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004884, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Dieses Jahressteuergesetz ist ein großes, ein sehr gutes Paket steuerlicher Maßnahmen. Ich habe gesagt, Herr Präsident: So schnell kriegen Sie mich hier nicht los. Ich komme nicht so einfach weg. Deswegen bitte ich jetzt meine Kollegin, mir meine Krücken zu bringen. – Ich darf mich dann wieder auf meinen Platz begeben. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, alles Gute weiterhin! Und denken Sie daran: Fußball kann auch Verletzungen mit sich bringen, vor allen Dingen in einem etwas höheren Alter. ({0}) – Ich bin ja schon drüber hinweg. Liebe Kolleginnen und Kollegen, vielleicht darf ich um Aufmerksamkeit bitten auch für die beiden letzten Redner. Als nächster Redner hat der Kollege Sebastian Brehm, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({1})

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem heutigen Beschluss über das Jahressteuergesetz 2019 findet eine intensive Diskussion mit leider vielen Irritationen im Vorfeld ihr Ende. Mit der Einbringung des Gesetzentwurfs durch das BMF sah es zunächst so aus, als ob Bildungsleistungen teurer würden. Man hatte den Eindruck, dass Sachleistungen für Arbeitnehmer abgeschafft würden, und man hatte den Eindruck, dass Verluste aus Kapitalanlagegeschäften auch nicht mehr voll abzugsfähig sein würden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich danke für die intensive parlamentarische Diskussion. Wir konnten mit dieser intensiven parlamentarischen Diskussion eine ganze Reihe von Punkten klären. Antje Tillmann hat es gesagt: Wir konnten mit diesem Gesetz ganz viele Steuererleichterungen erreichen. ({0}) Die CDU/CSU liefert, liebe Kolleginnen und Kollegen: Erstens. In den intensiven Diskussionen konnten wir die Verteuerung von Bildungsleistungen durch die Umsatzbesteuerung verhindern. Ein wichtiges Signal: Bildungsleistungen bleiben erst einmal umsatzsteuerfrei. Zweitens. Wir konnten die wichtigen Fragen bei E-Paper-Produkten klären und – systematisch richtig: wie bei Zeitungen in Papierform – einen ermäßigten Umsatzsteuersatz vorsehen. Drittens. Wir konnten eine Verlängerung der Begünstigung von reinen Elektrofahrzeugen und aufladbaren Hybridfahrzeugen – übrigens auch der Wasserstofffahrzeuge – erreichen. Statt der teuren 1-Prozent-Regelung bleibt es bei 0,5-Prozent-Besteuerung für eine private Nutzung von Betriebsfahrzeugen. Das bringt den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, aber auch den Unternehmern spürbare Entlastung. ({1}) Viertens. Wir konnten mit der Anhebung der Pauschalen für den Verpflegungsmehraufwand eine weitere Entlastung für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erreichen. Fünftens. Wir konnten – das ist die Handschrift der CDU und der CSU – den Sachbezug für die Überlassung von Betriebswohnungen an Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer rechtssicher gestalten. Hier wurden ja gerade in Großstädten wie München Arbeitgeber und damit übrigens auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bestraft. Wir haben umgesetzt, dass diese Bestrafung aufhört, dass die Unternehmer den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern weiterhin verbilligten Wohnraum zur Verfügung stellen können; das ist die Handschrift der CDU und der CSU. ({2}) Sechstens. Wir halten selbstverständlich auch die Möglichkeit von Sachleistungen mit der 44-Euro-Regelung aufrecht, also auch bei Geschenkkarten und Gutscheinen – außer, die Karten erlauben eine direkte Geldauszahlung. Das haben wir auch im Jahressteuergesetz miteinander beschlossen. Auch diese Sachleistungen sind eine Entlastung für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Siebtens. Wir erweitern die Möglichkeiten des Jobtickets. Achtens. Wir erhöhen die Wohnungsbauprämie. Neuntens. Wir entlasten auch den Mittelstand, wir entlasten auch die Handwerker: indem wir eine Sonderabschreibung von 50 Prozent für die Anschaffung von Elektrolieferfahrzeugen vorsehen. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir hätten noch weitere Abschreibungen vorgehabt, aber wir haben da die Mehrheit in der Koalition nicht gefunden. Zehntens – das ist ein ganz wichtiger Punkt, liebe Kolleginnen und Kollegen; da sollten wir auch alle miteinander stolz sein, dass wir das umgesetzt haben –: Wir setzen ein deutliches Signal zur Entlastung unserer Landwirte in Deutschland. Wir haben hier die letzten Jahre immer wieder diskutiert, dass wir einen Risikoausgleich für die deutschen Landwirte wollen, eben weil aufgrund des Klimawandels auch erhebliche Ernteausfälle zu verzeichnen sind. Der Kollege Herbrand hat das diese Woche gefordert, obwohl wir das schon umgesetzt haben. ({4}) Wir haben den Risikoausgleich in das Jahressteuergesetz aufgenommen, mit dem neuen § 32c EStG, mit der Gewinnglättung. Wir setzen ein deutliches Signal für die Landwirtschaft, und das ist gut so. ({5}) Anstatt Schaufensteranträge zu machen, sollte die FDP diesem Gesetz lieber zustimmen; aber Sie lehnen das Gesetz ab. ({6}) Wir haben ein gutes Jahressteuergesetz. ({7}) Wir sind noch nicht am Ende, wir haben noch viel vor: Unternehmensteuerreform, Solientlastung und weitere Dinge. Lassen Sie es uns gemeinsam anpacken! Wir als CDU/CSU liefern. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Brehm. – Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Johannes Steiniger, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Johannes Steiniger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004418, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir schließen heute das Jahressteuergesetz 2019 ab. In den vier Minuten, die mir zur Verfügung stehen, möchte ich gerne auf vier Themen eingehen, die uns als Union wichtig waren. Erstens. Wir unterstützen mit diesem Gesetz neue, innovative und emissionsarme Mobilität. Wir wollen mehr Elektroautos auf die Straße bringen. Natürlich werden wir das Klima allein mit Elektromobilität nicht retten. Und, ja, wir brauchen auch nichtfossile Kraftstoffe, wir brauchen Biokraftstoffe, wir wollen E-Fuels und synthetische Kraftstoffe auch auf dem deutschen Markt haben. Aber natürlich, meine sehr geehrten Damen und Herren, brauchen wir auch Elektroautos. Denn sie gehören zu einem klugen Verkehrsmix dazu; ich denke dabei an die Innenstädte, an kurze Strecken mit eher leichter Ladung und an viele weitere Anwendungsfälle aus dem Alltag. Hier wollen wir neue Anreize setzen. Wie überall beim Klimaschutz setzen wir auf Anreize und Innovation statt auf Verbote. ({0}) Deshalb werden wir die Absenkung der Dienstwagenbesteuerung für Elektroautos weiter verlängern und setzen uns bei den Hybriden ambitioniertere Ziele. Wir setzen auch schon eine erste Maßnahme des Klimapakets um: Für ein rein elektrisches Auto muss man in Zukunft noch weniger Steuern bezahlen. Zur Wahrheit gehört auch – Herr Schrodi, Sie haben es schon angesprochen –: Elektroautos sind derzeit noch zu teuer. Wir wollen jetzt auch einen Gebrauchtwagenmarkt entwickeln, und dafür ist diese Dienstwagenbesteuerung ein sehr gutes Mittel. Des Weiteren werden wir eine Sonderabschreibung für rein elektrische Nutzfahrzeuge einführen. Das dient unseren Handwerkern. Sie können ihre Flotten umstellen. Auch das ist gut für uns hier in Deutschland. Zweitens: die Monatshygiene. Der Mehrwertsteuersatz auf Monatshygieneprodukte wird reduziert. Für diese sogenannte Tampon Tax haben sich viele Frauen und auch Männer in Deutschland eingesetzt. Die Junge Union hat richtig Druck dafür gemacht, und wir haben es hier im Deutschen Bundestag jetzt umgesetzt. ({1}) Drittens haben wir die Wohnungsbauprämie massiv verbessert. Wir schaffen damit Anreize zur Bildung von Wohneigentum. An dieser Stelle geht ein großer Dank an den Kollegen Olav Gutting, der sich seit vielen Jahren für dieses Thema eingesetzt hat. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gottschalk aus der AfD-Fraktion?

Johannes Steiniger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004418, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Des Kollegen Birkwald?

Johannes Steiniger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004418, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Okay.

Johannes Steiniger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004418, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der vierte Punkt betrifft die Landwirtschaft. Deutschland erscheint ja oft als ein Land von 80 Millionen Bundestrainern. Ich habe derzeit das Gefühl, dass wir ein Land von 80 Millionen Bauern sind: Jeder weiß alles besser, auch wenn er noch nie im Stall gewesen ist oder mal im Weinberg gestanden hat. ({0}) Deswegen sage ich ganz klar: Was derzeit in Deutschland an Bauern-Bashing läuft, geht auf keine Kuhhaut. ({1}) Die Landwirtschaft wird zum Buhmann für alles gemacht. Dabei sind es die Bauern, die Tag für Tag hochwertige Lebensmittel für uns produzieren. Ihre Arbeit verdient unsere Wertschätzung. ({2}) Deswegen haben wir in diesem Gesetz zwei Maßnahmen umgesetzt. Zum einen wird es auch weiterhin möglich sein, dass Familienbetriebe sogenannte Tierhaltungskooperationen nutzen können. Das ist aus dem Grundsteuergesetz herausgeflogen; hier haben wir es an der Stelle geheilt. Zum anderen gehen wir die Gewinnglättung an, der Kollege Brehm ist schon darauf eingegangen. Sie müssen sich mal die Literatur zur Risikoausgleichsrücklage anschauen, Herr Kollege Herbrand. Die gesamte Wissenschaft sagt: Das bindet Kapital. – Es ist eben keine Maßnahme, die zielgenau ist. Jeder sagt im Grunde genommen, dass die Gewinnglättung, die wir jetzt vorhaben, das bessere und genauere Mittelmittel ist, weil wir es dadurch schaffen, dass sowohl gute als auch schlechte Jahre miteinander verrechnet werden können. ({3}) In diesem Sinne: Das ist ein sehr guter Gesetzentwurf, dem Sie alle guten Gewissens zustimmen können. ({4}) Herzlichen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Steiniger.

Dr. Manja Schüle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004885, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin, bevor ich mit der Rede beginne, geben Sie mir bitte die Möglichkeit, zum Ausdruck zu bringen, dass ich hoffe, dass es der Kollegin wieder besser geht und dass ich ihr persönlich alles Gute und eine schnelle Erholung wünsche. ({0}) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer auf den Tribünen! Wirklich viele deutsche Regierungen und viele deutsche Finanzminister haben sich an der steuerlichen Forschungsförderung versucht, aber wir sind es, die sie nach vielen Diskussionen mit dem sozialdemokratischen Finanzminister Olaf Scholz einführen werden. ({1}) – Ja, das ist einen Applaus wert. Schade, dass die Kollegin Andreae von Bündnis 90/Die Grünen nicht mehr dem Hohen Hause angehört. Bei meiner letzten Rede im Oktober 2018 um 0.44 Uhr habe ich ihr versprochen, dass wir liefern werden. Ich habe gesagt: Liebe Frau Andreae, seien Sie mal nicht so skeptisch, wir können als SPD gute Regierungsarbeit, und wir werden in dieser Legislatur liefern. ({2}) Und hier ist der Gesetzentwurf. Schönen Gruß! Sagen Sie ihr, wir haben es geschafft. Ja, Sie können auch stellvertretend für sie klatschen. ({3}) Viele glauben, in der Politik käme es nur darauf an, Recht zu haben, dann wird es schon wie am Schnürchen laufen, aber man muss auch Recht bekommen, und dafür muss man etwas tun. Man braucht gestalterischen Willen, das Talent, Mehrheiten zu organisieren, und die Kraft, das Vorhaben dann auch umzusetzen. Wir haben mit dem vorliegenden Gesetzentwurf bewiesen, dass wir das alles können, frei nach Wehner: Politik ist nicht zuletzt auch organisieren. ({4}) Unsere Unternehmen müssen breit und technologieoffen aufgestellt sein, wenn sie auch in Zukunft in zahlreichen Nischen Weltmeister werden wollen. Das gilt im Übrigen für große Unternehmen wie für die kleinteilige, aber sehr vitale Unternehmensstruktur in Ostdeutschland. Gute nachhaltige Forschungspolitik ist für uns vor allen Dingen auch gute nachhaltige Arbeitsmarktpolitik; denn die Arbeitgeber von heute können mit innovativen Ideen die Arbeitsplätze von morgen garantieren. Dabei unterstützen wir die Hidden Champions auf der Schwäbischen Alb genauso wie die Superstarts aus Potsdam oder der Mittelmark. ({5}) Und wie genau machen wir das? Wir geben Unternehmen eine steuerliche Gutschrift für Personal- und Auftragskosten, so diese im Bereich Forschung und Entwicklung aktiv sind. Jetzt ist Steuerrecht Hoheitsgebiet der Finanzpolitiker, und in dieser Debatte reden außer mir als Forschungspolitikerin fast nur Finanzpolitiker. Wir haben mit Olaf Scholz nicht nur einen schlauen Finanzminister, sondern mit Lothar Binding auch einen sehr schlauen finanzpolitischen Sprecher, der die Forschungspolitiker mit einbezogen hat. ({6}) Wir sind nach dem Paulus-Prinzip vorgegangen: Prüfe alles und behalte das Beste. Und das Beste heißt für uns ganz konkret: Erstens. Wir unterstützen privatwirtschaftliche Investitionen in Forschung und Entwicklung durch eine steuerliche Gutschrift auf Personalkosten. Wir unterstützen die Kooperation von Wirtschaft und Wissenschaft durch eine steuerliche Gutschrift auf Auftragskosten. Zur Erklärung für alle, die nicht tagtäglich mit dem Thema zu tun haben – da gucke ich mal auf die Tribüne –: Das heißt, entweder beschäftige ich Mitarbeiter in meinem Unternehmen, die forschen, dann wird die steuerliche Förderung direkt sichtbar, weil sie sich in der Lohnsumme niederschlägt, oder aber ich habe als Unternehmen keinen forschenden Mitarbeiter, aber eine pfiffige Idee beispielsweise für eine Weiterentwicklung eines Produkts, die ich umsetzen möchte, dann kann ich einen Auftrag an eine Forschungseinrichtung vergeben, und auch das wird mir steuerlich gutgeschrieben. Gute Sache, wie ich finde. Im Übrigen: Die Mehrheit der Expertinnen und Experten, die wir angehört haben, hat es genauso gesehen. Zweitens. Die Forschungszulage geht nicht zulasten anderer Förderprogramme wie ZIM oder INNO-KOM. Drittens. Von der Steuergutschrift auf Innovationen profitieren jetzt auch europäische Unternehmen; denn schließlich ist Europa die Antwort. Und viertens. Der Entwurf sieht Regelungen vor, die möglichst wenig bürokratischen Aufwand für Unternehmen und Forschungseinrichtungen auslösen. Auch das war uns ein Anliegen. ({7}) – Da könnte auch die FDP mal applaudieren. Zu guter Letzt: Zur guten wissenschaftlichen Praxis gehört im Übrigen auch die Überprüfbarkeit. Deswegen haben wir eine zeitnahe Evaluierung festgeschrieben. Wir werden abschätzen: Haben die Regelungen gewirkt, oder müssen wir Rahmenbedingungen verändern? Ich bin überzeugt: Das ist ein sehr gutes Gesetz. Und wer Wehner am Anfang seiner Rede zitiert und Paulus in der Mitte, der kommt am Ende an Machiavelli nicht vorbei, und Machiavelli sagt: Die Menschen urteilen mit den Augen. – Meine Augen blitzen. Es ist ein super Gesetz für den Forschungsstandort Deutschland. Es ist ein super Gesetz für sichere Arbeitsplätze von morgen. Es ist ein super Gesetz für unsere Wirtschaft. Bitte, liebe Opposition, geben Sie sich einen Ruck, und stimmen Sie einem super Gesetz zu. Herzlichen Dank. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Manja Schüle. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Stefan Keuter. ({0})

Stefan Keuter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004778, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir reden heute über Forschungsförderung. Schauen wir uns einmal die Chronologie an: Im Koalitionsvertrag ist die steuerliche Forschungsförderung erwähnt. Dann passierte lange nichts, still ruhte der See. Im Oktober 2018 kam dann der erste Antrag zum Thema Forschungsförderung, und zwar von der AfD-Bundestagsfraktion. ({0}) Es hat dann bis zum Juni 2019 gedauert, bis der Gesetzentwurf der Bundesregierung vorgelegt wurde, der jetzt im November abschließend beraten werden soll. In diesem Zusammenhang habe ich eine nette Anekdote für Sie: Letzten Dienstag hat ein Berichterstattergespräch zum Thema stattgefunden. Das ist extrem konstruktiv verlaufen. Das Einzige, was auffiel, war, dass die Grünen und die Linken nicht mit Abgeordneten vertreten waren. Das hat mich schon gewundert, und meine Frage an Sie ist: Interessiert Sie das Thema „steuerliche Forschungsförderung“ gar nicht? ({1}) Die erfolgreiche Oppositionspolitik der AfD kommt mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zum Ausdruck. ({2}) Der Antrag der AfD 2018 enthielt verschiedene gute Forderungen: Förderung von Forschung und Entwicklung neben projektbezogener Forschungsförderung. Die Bemessungsgrundlage sollten die Personalkosten im Forschungs- und Entwicklungsbereich sein. FuE-Unternehmen, auch die Unternehmen ohne Gewinn, sollten Nutznießer der steuerfreien Zuschläge sein. Die Kernforderungen der AfD, die mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung jetzt vorgelegt worden sind, sind erfüllt worden: Arbeitsplätze, Wohlstand, Standortsicherung, technologisches Wissen. Aber unter dem Dogma des Klimawandels wird das alles mutwillig vernichtet. Schauen wir einmal in die Vergangenheit. Es gab große deutsche Erfindungen: der Computer, der Buchdruck, der erste Elektromotor, das erste Auto mit Verbrennungsmotor, das erste Düsenflugzeug, die Me 262, die erste Rakete im Weltall, das Aggregat 4, die Ohrstöpsel von Ohropax, ({3}) der Doppelkammerteebeutel von 1949 – Produkte, die milliardenfach angewendet und gekauft wurden, entwickelt und produziert von deutschen Unternehmern. Nach 1950 wird es relativ dünn. Da sind zu erwähnen die Chipkarte von Jürgen Dethloff 1969 und das MP3-Format 1994. Ich stelle fest, dass die deutsche Innovationskraft rückläufig ist, auch wenn sie im internationalen Vergleich noch relativ gut dasteht. Ich mache mir Sorgen, insbesondere wenn ich auf den Bloomberg Innovation Index gucke: Deutschland ist abhängig von Daimler, Volkswagen und Bosch, und diese Unternehmen leiden unter Ihrer links-grün ideologisch getriebenen Politik. ({4}) Abgehängt sind wir in den Bereichen Hightech und künstliche Intelligenz. Diese Positionen gilt es zu verteidigen bzw., je nach Blickwinkel, zurückzuerobern, meine Damen und Herren. Forschungsförderung ist der geeignete Weg zur Stärkung von Forschungsaktivitäten. Wir haben allerdings auch einige Kritikpunkte am Gesetzentwurf der Bundesregierung. Wir sehen drohende Mitnahmeeffekte. Frau Schüle, Ihre Einschätzung zu einem zeitnahen Controlling kann ich nicht teilen. Ihr Entwurf sieht die erste Evaluierung nach fünf Jahren vor. Die Deckelung auf 500 000 Euro bis maximal 2 Millionen Euro Personalkosten scheint uns sehr willkürlich. Die AfD wünscht sich außerdem die Berücksichtigung von Kosten für Freiberufler zusätzlich zu den eigenen Personalkosten. Die Bürokratie ist sehr groß, gerade wenn man auf die Bescheinigung für das Finanzamt schaut, der elektronische Weg ist hier nicht vorgesehen. Das wäre wünschenswert. Wir sehen erheblichen Nachjustierungsbedarf, ziehen aber das Fazit, dass die Bundesregierung dem Antrag der AfD weitgehend folgt, ({5}) für uns leider nicht weit genug. Trotzdem stimmen wir dem Gesetzentwurf zu. Ich stelle zum Schluss die Frage: Warum sollte nicht wieder eine bahnbrechende, sich weltweit auswirkende Erfindung aus Deutschland kommen? Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke, Stefan Keuter. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Thomas de Maizière. ({0})

Dr. Thomas Maizière (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004105, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich will eine Vorbemerkung machen, was den Tag heute insgesamt betrifft: Vielleicht sollten wir mal ein bisschen darüber nachdenken, wie wir manchmal miteinander umgehen und was wir wichtig finden, und vielleicht wird auch mancher, der mit Häme über Politiker spricht, angesichts dessen, was heute passiert ist, etwas demütiger. Das würde ich mir jedenfalls wünschen. ({0}) Nun muss ich zu Frau Schüle sagen: Sie haben hier eine kernige Rede gehalten. ({1}) Ich würde mir wünschen, Sie würden die mal auf einem SPD-Parteitag halten, wenn es darum geht, zu bewerten, wie famos diese Regierung arbeitet. Wie wäre das? ({2}) Eine Korrektur würde ich aber anbringen wollen: Das ist jetzt kein SPD-Gesetzentwurf, sondern das ist ein gemeinsamer Gesetzentwurf der Koalition, und wir haben dazu beigetragen, dass er noch ein bisschen besser geworden ist. Deswegen sollten wir gemeinsam stolz darauf sein. ({3}) Was meine ich damit? Sie haben den Gesetzentwurf vorgestellt. Das will ich im Einzelnen nicht noch einmal tun. Für uns war in den Beratungen das Thema Auftragsforschung wichtig. In dem Gesetzentwurf des Finanzministers war geregelt, dass die zu Fördernden bei der Auftragsforschung die Auftragnehmer sein sollten. Wir waren immer anderer Auffassung; ich habe das hier in der ersten Lesung gesagt. Auch bei der SPD waren viele dieser Meinung; die haben das aber nicht ganz so laut gesagt, weil der Finanzminister eine andere Position vertreten hat. Die FDP war dafür, die Grünen waren dafür. Jetzt hat die EU geholfen, beihilferechtlich, und siehe da, jetzt ist der Auftraggeber derjenige, der steuerlich unterstützt wird. Wir finden das richtig. Warum? Weil kleine Mittelständler, die keine eigene Forschungsabteilung haben, die aber zur Forschung angeregt werden sollen, wenn sie einen Auftrag vergeben, den steuerlichen Vorteil davon haben. Wir finden das richtig. Das ist aber eine Verbesserung des Gesetzentwurfs durch die Koalition, liebe Frau Kollegin Schüle. ({4}) Das Zweite, was wir wollten – da waren wir allerdings von Anfang an einer Meinung –: Wir wollten gerne, dass eine steuerliche Forschungsförderung auch denen zugutekommt, die Verluste machen, nicht weil wir Verluste besonders gut finden, sondern weil gerade Start-ups und andere junge Unternehmen in ihrer Gründungsphase, in der Phase, in der sie sich entwickeln, in der sie neue Ideen haben, Forschungsbedarf haben, aber keine Gewinne machen. Es war gar nicht so leicht, das rechtlich zu konstruieren. Der Vorschlag vom Finanzministerium ist gut und richtig: Das wird auf die Einkommensteuerschuld angerechnet. Das heißt, wenn ein Unternehmer Verluste macht, muss er nicht weniger Steuern zahlen – er zahlt ja sowieso keine, weil er Verluste macht –, sondern er bekommt diesen steuerlichen Vorteil als Zulage ausgereicht. Das finden wir richtig. Das ist gut so. ({5}) Jetzt will ich noch ein klein wenig Wasser in den Wein gießen. Es geht um die Frage, wie es jetzt weitergeht. Wir haben ja ein zweistufiges Verfahren: Derjenige, der steuerlich begünstigt werden soll, stellt einen Antrag bei einer bewilligenden Stelle, nicht beim Finanzamt. Diese entscheidet, ob das Forschung ist. Wir wollten nicht – da waren wir uns alle einig –, dass die Finanzämter entscheiden, was Forschung ist, nicht dass wir ihnen das nicht zutrauen, aber das ist nicht ihr Kerngeschäft. Deswegen brauchen wir eine bewilligende Stelle. Nun darf diese bewilligende Stelle aber nicht so arbeiten wie jetzt bei der Prüfung der Projektförderung gearbeitet wird: Gutachten, Erfolgsaussicht, kompliziert und teuer. Wie sorgt man dafür, dass das funktioniert? Das Ergebnis war eine Verordnungsermächtigung – so nennen wir das –, also eine Ermächtigung an die Bundesregierung, die Details zu dieser bewilligenden Stelle zu regeln. Wir wollten aber nicht die Katze im Sack kaufen, wie die Kollegin Hessel von der FDP es völlig misstrauensgetränkt, wie die Opposition nun mal ist, sagt. Wir haben selber daran gedacht und gesagt: Wir ermuntern die Bundesregierung, bei der Verordnung, die da entsteht, ein paar Kriterien zu beachten. Ich bin dankbar, dass die Bundesregierung das gerne aufgenommen hat. Ich will diese Kriterien kurz nennen: Erstens. Wir wollen, dass die zentrale Stelle oder jedenfalls eine der im Land verteilten Stellen in den ostdeutschen Ländern ist. Das ist, glaube ich, nicht mehr als recht und billig. ({6}) Zweitens. Wir wollen gerne, dass die Anträge digital gestellt und bearbeitet werden. Drittens. Wir wollen gerne, dass über die Anträge schnell entschieden wird. Uns schwebt eine Dauer von drei Monaten vor. Viertens. Wir wollen, dass der Antrag und der Bescheid umfangmäßig begrenzt werden, damit die Verfahren nicht ausufern. Und wir wollen diese Verordnung sehen, bevor die Bundesregierung sie im Kabinett beschließt. Also, das ist keine Katze im Sack, liebe Frau Hessel. Das ist so transparent wie nur irgend möglich. So haben wir alles in allem nicht nur einen guten Gesetzentwurf gemacht – das ist ein gemeinsamer Gesetzentwurf –, sondern wir sorgen mit einer guten Verordnung auch dafür, dass das Gesetz so angewendet wird, dass es der Forschung dient. Dies ist ein guter Tag für die Forschung in Deutschland. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. de Maizière. – Nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion Katja Hessel. ({0})

Katja Hessel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004750, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Zuschauer! Auch ich möchte ganz kurz beste Grüße an die Kollegin und den Kollegen richten. Gute Besserung! Ich hoffe, dass wir beide hier bald wiedersehen. Vielleicht ist es wirklich angemessen, noch einmal in sich zu gehen und zu überlegen, wie wir miteinander umgehen. ({0}) Wir haben heute einen fast guten Tag. In 5 der 36 OECD-Länder gibt es keine steuerliche Forschungsförderung. Wir waren eins davon. Keine Forschungsförderung zu haben, ist ein wesentlicher Nachteil, wenn es darum geht, Innovation zu fördern, und wir brauchen mehr Innovation für unsere mittelständischen Unternehmen. Da sind wir einen großen Schritt weiter, wenn dieser Gesetzentwurf heute verabschiedet wird. An dieser Stelle ein großes Dankeschön an den Kollegen de Maizière, der mir versprochen hat – ich kann mich noch entsinnen –: Hier wird noch vieles verändert werden. – Und es ist auch viel passiert. Frau Kollegin Dr. Schüle, um den Fakt, dass dieser Gesetzentwurf so gut geworden ist, dem Finanzminister anzurechnen, muss man wirklich tief in die Trickkiste greifen. ({1}) Der Gesetzentwurf wurde besser – so viel Ehrlichkeit muss bitte sein –, weil die EU-Kommission drübergeguckt hat und gesagt hat: So geht es nicht. – Das war der Brückenschlag. Dadurch ist es der Union gelungen, die Auftragsforschung in diesen Gesetzentwurf hineinzubringen. Hierfür Lob für den Finanzminister haben zu wollen, ist nicht rechtens. ({2}) Wir haben die Auftragsforschung jetzt drin, mit 60 Prozent. Das Gesetz ist bürokratiearm, weil wir eine Pauschale haben. Ich denke, damit können alle ganz gut leben. Wir werden dem Gesetzentwurf aber trotzdem nicht zustimmen, weil wir ein Stück weit doch die Katze im Sack kaufen. Ich kann mich entsinnen, es ist uns versprochen worden: Die Rechtsverordnung wird vorgelegt. Bevor die Rechtsverordnung hier nicht vorliegt, wird diesem Gesetzentwurf nicht zugestimmt werden. Die Rechtsverordnung liegt nicht vor. Wir haben jetzt eine Protokollerklärung, die gewisse Punkte für diese zertifizierende Stelle enthält. Das geht uns aber – das ist die Krux mit der Opposition – nicht weit genug. Wir hätten diese Verordnung gerne vorliegen gehabt. In einem zweiten Schritt sind auch noch Gebühren für die weiteren Bescheinigungen hinzugekommen. Eine Bescheinigung der Zertifizierungsstelle ist frei. Alle weiteren Bescheinigungen innerhalb eines Jahres sind gebührenpflichtig. Liebe Kollegen, wenn die steuerliche Forschungsförderung ziehen soll, dann muss sie bürokratiearm sein, dann müssen die Unternehmer, gerade die kleinen und mittelständischen, sie annehmen können, weil sie kein Bürokratiemonster ist. Wenn wir jetzt eine Gebühr zur Abschreckung einführen, ({3}) dann bin ich mir nicht so sicher, ob das für die steuerliche Forschungsförderung, die wir brauchen, förderlich ist. – Ich habe Sie gerade schon gelobt, Herr de Maizière. ({4}) – Hätten wir sie vorliegen gehabt, hätten wir auch zugestimmt. Wir hatten die Chance, die Vorlage durch einen Entschließungsantrag noch ein bisschen besser zu machen. Wir haben gesagt: Legt uns die Rechtsverordnung vor; ihr seid ja schon drüber. – Dann hätten wir uns das noch einmal überlegen können. Aber das ist für mich immer noch ein Stück weit die Katze im Sack, und die Katze im Sack werden wir nicht kaufen, da werden wir nicht zustimmen. Nichtsdestotrotz freuen wir uns, dass wir eine steuerliche Forschungsförderung bekommen, nach zehn Jahren, nach etlichen Koalitionsverträgen. ({5}) Wir hoffen, dass das der Innovation am Wirtschaftsstandort Deutschland guttut. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Katja Hessel. – Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Fabio De Masi. ({0})

Fabio De Masi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004817, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir bedanken uns zunächst für die Genesungswünsche für unsere Kollegin und richten diese auch an den Kollegen der SPD, der sich heute verbrüht hat. Vor allem sind unsere Gedanken natürlich bei Matthias Hauer, der wirklich ein ganz feiner und engagierter Kollege ist. ({0}) Herr Keuter, Sie haben bahnbrechende Erfindungen für Deutschland gefordert. Eines ist klar: Die AfD ist es schon mal nicht. ({1}) Weil Sie ja bemängelt haben, dass Grüne und Linke abgeordnetenseitig mal bei einer Anhörung nicht vertreten waren: Also, wenn wir bei einer Anhörung nicht vertreten sind, dann fällt das meistens negativ auf. Wenn Sie bei einer Anhörung fehlen, ist das meistens eine Bereicherung in der Substanz. ({2}) Die Linke unterstützt die Förderung von Forschung und Innovation in Unternehmen. Die steuerliche Forschungsförderung erscheint uns dafür aber ungeeignet. Das sehen auch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung so ({3}) und die Industrieländerorganisation OECD. Dabei geht es bei dem Gesetzentwurf der Bundesregierung nicht um die Förderung der Forschung von kleinen und mittelständischen Unternehmen, sondern in erster Linie um die Förderung des internationalen Steuerwettbewerbs im Interesse großer Konzerne. Der Gesetzentwurf ist eine Reaktion auf die Steuerreform Donald Trumps und die Drohung von Boris Johnson, nicht auf die Herausforderungen durch Tesla, Google und Co. Dieser Befund gilt für uns trotz Verbesserungen am Gesetzentwurf. Warum? Erstens. Es gibt empirisch keinen nachweisbaren Zusammenhang zwischen Ausgaben für Forschung und Innovation und steuerlicher Forschungsförderung. Zweitens. Die steuerliche Förderung ist im Vergleich zur direkten Projektförderung ineffektiv und ineffizient. Ja, sie ist teuer; denn sie erlaubt eben keine gezielte Industrie- und Technologiepolitik. Es werden Mittel mit der Gießkanne verteilt, statt Unternehmen gezielt zu fördern, die diese Unterstützung brauchen. ({4}) Drittens. Die steuerliche Forschungsförderung verdrängt durch Steuerausfälle von über 1 Milliarde Euro jährlich die direkte Förderung. Viertens. Die Forschungsförderung ist für kleine und mittelständische Unternehmen nicht geeignet, denn KMUs haben ein anderes Innovationsverhalten. Großunternehmen können aufgrund ihrer Forschungsabteilungen eigene FuE-Tätigkeiten ohne großen Aufwand nachweisen, brauchen aber häufig gar keine Förderung. Demgegenüber haben zwei Drittel der KMUs keine eigene FuE-Abteilung. Durch die Umstellung bei der Auftragsforschung auf Förderung der Auftraggeber können KMUs diese nun besser nutzen. Das ist positiv. Sinnvoller wäre aber eine gezielte Förderung von KMUs durch eine bessere Einstiegsförderung für FuE, weniger Bürokratie und Anpassung des Zuwendungsrechts. ({5}) Wir brauchen eine Aufstockung des Volumens der bestehenden KMU-Programme. Die Linke fordert daher die Verstärkung des Zentralen Innovationsprogramms Mittelstand, ZIM, sowie der industriellen Gemeinschaftsforschung. Wir fordern ebenso einen Fonds zur Förderung sozialer, gemeinnütziger Innovationen im digitalen Bereich. In meiner Heimatstadt Hamburg sieht man überall die MOIA-Sammeltaxen herumfahren, die eine Datentechnologie nutzen. Das ist tatsächlich eine spannende Innovation. Sie kann auch ökologisch genutzt werden, weil man eben im Unterschied zu den klassischen Taxen mehr Leute in ein Sammeltaxi setzen kann, indem man digital schneller ermitteln kann, ob sie einen ähnlichen Fahrweg haben. Wir glauben aber: So etwas sollte nicht durch die Volkswagen AG auf den Markt kommen, die dann das Taxigewerbe mit viel Kapital im Rücken kaputtmacht, sondern wir bräuchten Innovationen, die zum Beispiel dem öffentlichen Nahverkehr dienten. Dort brauchen wir auch eine Förderung von Forschung. ({6}) Deswegen, sagen wir, ist dieser Gesetzentwurf nicht geeignet, dieses Ziel zu erreichen. Vielen Dank. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Fabio De Masi. – Nächster Redner für Bündnis 90/Die Grünen: Dr. Danyal Bayaz. ({0})

Dr. Danyal Bayaz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004664, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zehn Jahre hat es gedauert: 2009 stand zum ersten Mal die steuerliche Forschungsförderung im Koalitionsvertrag. Zehn Jahre später wird sie dann Realität. Glückwunsch an die Koalition, an uns alle. ({0}) Ich glaube, das ist ein gutes Zeichen für den Innovationsstandort Deutschland. Denn Innovation ist, so sagt es der Publizist Wolf Lotter – ich zitiere –, „Anlass für die Hoffnung, dass es besser wird“. Deswegen können wir hoffen, meine Damen und Herren. Wir waren ja als Finanzausschuss vor ein paar Wochen gemeinsam in China, und wir konnten dort beobachten, mit welcher Aggressivität, mit welchen Summen in China im Bereich Forschung und künstliche Intelligenz investiert wird. Hier geht es nicht nur um die Frage von Wettbewerbsfähigkeit oder Technologieführerschaft. Es geht hier um die Frage von Systemwettbewerb, meine Damen und Herren. Deswegen müssen auch wir uns natürlich hier fragen: Wie kann der Staat bei uns aktiv Innovationen im Sinne unseres Wertesystems antreiben? Erfindergeist lässt sich nicht von oben verordnen. Menschen und Unternehmen brauchen Freiräume. Sie brauchen ein inspirierendes Umfeld, um neue Ideen zu entwickeln. Ja, steuerliche Anreize können dabei helfen, genau ein solches Umfeld zu schaffen, meine Damen und Herren. ({1}) Allerdings war die lange Unsicherheit darüber, wie die Auftragsforschung gefördert werden soll, weniger inspirierend. Es ist doch klar, dass Forschung immer da gefördert werden muss, wo das wirtschaftliche Risiko liegt, also beim Auftraggeber. Eigentlich ist das eine Selbstverständlichkeit in der Marktwirtschaft. Aber das Bundesfinanzministerium wollte das lange nicht anerkennen. Aber zum Glück ist der Deutsche Bundestag ein Arbeitsparlament, und manche Gesetze verlassen den Bundestag eben besser, als sie hereingekommen sind, meine Damen und Herren. ({2}) – Wir haben da alle mitgearbeitet, Herr Güntzler. – Von dieser Änderung gegenüber dem Regierungsentwurf werden ja nicht nur Forschungsinstitute profitieren, sondern – das haben wir schon ein paarmal gehört – vor allem kleine und mittlere Unternehmen, Start-ups. Die verfügen anders als Konzerne oft nicht über eigene Forschungsabteilungen. Sie sind auf Auftragsforschung von Unis, Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen angewiesen. Kleine und mittlere Unternehmen sind ja auch die, die durch steuerliche Forschungsförderung zu zusätzlichen Forschungsinvestitionen angeregt werden. Das ist für uns schon ein zentrales Ziel. Wir können nicht einfach nur blind Forschung fördern, sondern wir sollten zusätzliche Forschung unterstützen, meine Damen und Herren. Deswegen hat Ihr Gesetzentwurf eine kleine Schwachstelle, nämlich die, dass Sie sich nicht klar auf die Förderung von kleineren und mittleren Unternehmen fokussieren. Unser Anspruch sollte es sein, Gelder immer mit der bestmöglichen und der größtmöglichen Wirkung einzusetzen. Nehmen wir als Beispiel einmal die Volkswagen AG. Sie wird durch diese 500 000 Euro nicht die neue Mobilität erfinden. Ich hoffe, dass sie sowieso daran arbeitet. Aber Volkswagen nimmt diese 500 000 Euro mit, aber ob dadurch zusätzliche – zusätzliche! – Forschungsanstrengungen unternommen werden, da würde ich ein Fragezeichen machen. Frau Schüle, Sie sagten ja vorhin, die Opposition solle sich einen Ruck geben und dem Gesetzentwurf zustimmen. ({3}) Jetzt reden wir über Innovation. Richtig innovativ wäre es – wir haben einen Gesetzentwurf eingebracht, der den Fokus genau auf KMUs legt –, wenn die Regierung einen coolen Gesetzentwurf der Opposition unterstützte. Das wäre innovativ, meine Damen und Herren. ({4}) Zum Schluss will ich noch sagen: Wir können uns nicht zurücklehnen. Obwohl wir in Forschungspersonal investieren, gilt nach wie vor, was der MIT-Ökonom Daron Acemoglu feststellt – ich zitiere –: Der Staat belohnt und subventioniert Unternehmen, wenn sie Maschinen einsetzen, und bestraft sie, wenn sie Arbeitskräfte einstellen. Wer als Unternehmer eine Maschine anschafft, bekommt staatliche Hilfen in Form von Steuernachlässen. Wer hingegen Arbeitskräfte einstellt, wird vom Staat mit hohen Steuern und Sozialabgaben belastet. Ich finde, die Forschungsförderung wird auch zu mehr Automatisierungs- und Digitalisierungsprozessen beitragen und diese beschleunigen. Das ist auch erst mal gut so. Aber damit eben nicht die Stammbelegschaft in Unternehmen auf der Strecke bleibt, müssen wir noch viel stärker darüber nachdenken, wie wir in die Köpfe aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer investieren. Wissenskapital gewinnt zunehmend an Bedeutung. Dafür muss man sich nur das Jahresgutachten des Sachverständigenrats, das gestern herausgekommen ist, anschauen. Wer also über steuerliche Forschungsförderung redet, der muss auch immer über steuerliche Förderung von Weiterbildung und Qualifizierung reden, meine Damen und Herren. ({5}) Deswegen: Lehnen wir uns nicht zurück; denn auch hier hat Wolf Lotter recht: Innovationsarme Gesellschaften sind auch materiell arm. Wer den Fortschritt nicht hineinlässt, der schadet allen. In diesem Sinne: Herzlichen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Danyal Bayaz. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Hans Michelbach. ({0})

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Es geht heute Abend um die Zukunft. Investitionen in Forschung und Entwicklung von heute bedeuten Arbeitsplätze, Wohlstand und Lebensqualität für die Menschen von morgen; denn zukunftsfähige Produkte bedeuten zukunftsfeste Arbeitsplätze. Das gilt insbesondere für unsere Exportnation Deutschland. Unsere wirtschaftliche Stärke beruht vor allem auf der Fähigkeit, aus Ideen hochinnovative Produkte und Lösungen zu entwickeln. Aber gerade die leistungsfähigen mittelständischen Unternehmen stoßen rasch an Grenzen, wenn es darum geht, aus Ideen durch Forschungsprojekte innovative Produkte zu machen. Manche Innovationen bleiben so leider im Ansatz stecken. Das ist so etwas wie ein doppelter Schaden. Zum einen entstehen keine neuen Arbeitsplätze. Zum anderen wird die Zukunftsfähigkeit unserer Wirtschaft beeinträchtigt. Meine Damen und Herren, deshalb ist es ein großer Erfolg, dass wir die jahrelange Diskussion über die steuerliche Forschungsförderung heute zu einem guten Abschluss bringen. ({0}) Genau vor 25 Jahren, genau in dieser Woche, bin ich in den Deutschen Bundestag gekommen. Schon 1994 haben wir, so habe ich nachgelesen, über eine steuerliche Forschungsförderung gestritten. Da waren wir, Frau Hessel, mit Ihrer Fraktion in einer Koalition. ({1}) – Sie waren damals nicht dabei; das ist klar. Dafür können Sie nichts. – Es ist damals nicht gelungen. Jetzt ist es mit der Großen Koalition gelungen. Das heißt für uns alle: Niemals aufgeben! Das ist die Botschaft für unsere politische Agenda. ({2}) Das Gesetz ist gelungen, weil es zielgenau ist. Wir haben da besonders die kleinen und mittleren Unternehmen im Auge. Sie sind ein wichtiges Standbein unserer Wirtschaft, verfügen vielfach aber nicht über eigene Forschungsabteilungen, könnten aber gleichwohl über entsprechende Auftragsvergaben innovative Potenziale heben. Sie können künftig als Auftraggeber einer Auftragsforschung von den neuen Regelungen stark profitieren. Es ist ein hervorragender Weg, dass das letzten Endes zur Vernunft geführt hat, zur Durchsetzung in diesem Gesetz. ({3}) So sind wir jetzt in Sachen steuerlicher Forschungsförderung international auf Augenhöhe und wettbewerbsfähig. Dass wir es in zahlreichen Gesprächen geschafft haben, einen möglichst bürokratiearmen und schnellen Weg zur Förderung zu finden, begrüße ich sehr; denn das ist eine wichtige Voraussetzung für eine attraktive Forschungsförderung, die auch wirkt. Vorgesehen ist ein einfaches Verfahren über eine Bescheinigungsstelle, die die F-und-E-Qualität eines Vorhabens bestätigt und nicht wie bisher analysieren muss. Die Förderung wird dann unmittelbar mit der aktuellen Steuerschuld eines Unternehmens verrechnet. Unternehmen, die mit einem Jahresverlust abschließen, erhalten die Fördersumme ausgezahlt. Das gilt insbesondere für Start-up-Unternehmen, die noch keine Gewinne erwirtschaften. Meine Damen und Herren, wer den ursprünglichen Gesetzentwurf mit dem vergleicht, was jetzt auf dem Tisch liegt, wird erhebliche Unterschiede finden. Das ist ein Ergebnis der intensiven Beratungen in diesem Parlament. Ich glaube, unser Kollege Thomas de Maizière, der die Federführung in den Verhandlungen hat, hat – gemeinsam mit dem Koalitionspartner – ein Lob verdient. Wir machen jetzt den Weg frei für die steuerliche Forschungsförderung. Herzlichen Dank. Guten Abend. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Michelbach. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Lothar Binding. ({0})

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Manja Schüle und Kollege de Maizière haben das Gesetz schon schön erklärt. Offen gestanden, ging es eine ganze Zeit lang um die Auftragsforschung; das stimmt. Die CDU wollte das; aber sie hat auch eine ganz starke Verbündete gehabt, nämlich die SPD-Arbeitsgruppe Bildung und Forschung, an vorderster Front Manja Schüle, die das von Anfang an wollte – wie viele von uns. Allerdings muss man auch den Minister verstehen. ({0}) Der Minister wollte prüfen und hat lange geprüft, ob diese Idee dem deutschen Forschungsstandort schaden kann. Es ist klug, eine solche Prüfung zu machen; denn wir wollen ja nicht gemeinschaftlich dem deutschen Forschungsstandort schaden. ({1}) Also, wenn wir schwarz-weiß malen, dann bleibt immer eines hängen; es bleibt schwarz-weiß. Übrigens, der Antrag der Grünen gefällt uns ganz gut; das muss ich sagen. Er ist konzentriert auf KMUs. Das ist eine alte Idee von uns; das wollten wir auch. Aber die Grenzziehung ist immer schwierig. Sie, die Grünen, wollen zum Beispiel Unternehmen mit 252 Mitarbeitern nicht mehr fördern – eine schwierige Angelegenheit. Unternehmen mit 249 Mitarbeitern wollen die Grünen noch fördern. In dieser Abgrenzungsproblematik haben wir uns überlegt, dass die Abgrenzung, die die Grünen im Hinblick auf KMUs vornehmen, nicht hinreichend ist. Auch bei der Bilanzsumme setzt man scharfe Kanten. Wer eine Bilanzsumme kurz vor einer solchen Kante hat, kriegt die Förderung; wer kurz dahinter liegt, schon nicht mehr. Das finden wir nicht sehr geschickt. Auch wenn Manja Schüle heute ein so schönes grünes Kleid anhat, lehnen wir den Antrag der Grünen ab; das Kleid ist also insofern kein Commitment für den Antrag der Grünen. Der FDP-Antrag ist sehr allgemein: Die Bemessungsgrundlage ist nicht klar definiert; der Nachweis der Förderung ist nicht ganz klar beschrieben. Ich wollte damit andeuten, dass wir uns richtig gut gestritten haben. Das gehört zu einer guten Demokratie. Jetzt will ich auf etwas Bestimmtes zurückkommen. Wir machen seit zwei Stunden Finanzpolitik. Wir hatten vorhin ein Gesetz, bei dem es um die Förderung von Elektrofahrzeugen, von Elektrorädern, von Lastenfahrrädern ging. Jetzt will ich den acht anwesenden Kollegen von der AfD mal etwas sagen: Da kam doch tatsächlich ein Kollege von Ihnen auf die Idee, dieses Gesetz, bei dem es um Elektrofahrräder und so etwas geht, mit dem Ermächtigungsgesetz zu vergleichen, dem schlimmsten Gesetz in unserer Geschichte – kein „Vogelschiss“; das wissen wir alle. ({2}) Ist das nicht eine Entgleisung besonderer Art? ({3}) – Dass Sie von der AfD nicht zuhören, ist in Ordnung. – Aber Sie verharmlosen etwas: das menschenverachtendste Gesetz, das wir je hatten: Abschaffung der Demokratie, der Einstieg in eine Diktatur. Und diesen Begriff holen Sie in dieses Parlament, das sich absolut demokratisch und streitfreudig um die Sache kümmert. Also, das finde ich eine Unverschämtheit der besonderen Art. Ich bin erschüttert. ({4}) Dass Deutschland mit seiner Forschungslandschaft gut aufgestellt ist, das kann man im OECD-Vergleich sehr schnell erkennen. Wir sind in dieser Hinsicht, bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt, besser als Italien, Frankreich, Großbritannien. Die USA, Schweden und Japan sind besser, und das verdanken wir übrigens der Industrie. Die Industrie hat 66 Prozent dieser Anstrengungen übernommen, den Rest der Staat. Also, wir sehen: Die Industrie ist bei der Projektförderung gut aufgestellt. Jetzt haben wir alle gemerkt: Kleine und mittlere Unternehmen schaffen es nicht immer, einen Projektantrag zu stellen. Das ist sehr kompliziert und in der Vorbereitung teuer. Es ist ein bisschen unsicher. Deshalb ist es klug, neben diese Projektförderung nun eine steuerliche Förderung zu stellen. Die alten Kritikpunkte bleiben. Es gibt Mitnahmeeffekte. Es ist nicht absolut zielgenau; aber es bereitet eine Landschaft, über die wir sagen: Wir haben eine dicke Säule Projektförderung. Wir fügen eine dicke Säule Steuerförderung hinzu und heben damit intellektuelles, kognitives und auch erfinderisches Potenzial. Dieses Potenzial nicht zu verschwenden, zu vergeuden, dafür dient dieses Gesetz. Jetzt merkt jeder: Das hat eine eigene Komponente, und es lohnt sich – auch für die Opposition –, zuzustimmen. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Lothar Binding. – Letzter Redner in dieser Debatte: Fritz Güntzler für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Fritz Güntzler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004285, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer! Im Koalitionsvertrag, über den wir ja lange gestritten und verhandelt haben, heißt es: „Deutschland muss ein Innovationsland bleiben.“ Auch dort haben wir die steuerliche Forschungsförderung als wichtigstes Instrument dafür gesehen. Wir haben vereinbart, dass der Bund gemeinsam mit den Ländern und der Wirtschaft bis zum Jahr 2025 mindestens 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung aufwendet. Ich glaube, das, was wir heute beschließen, ist ein wichtiges Instrument, dieses Ziel zu erreichen. Immerhin nehmen wir dafür nach der Schätzung des Bundesfinanzministeriums 1,2 Milliarden Euro Steuermindereinnahmen pro Jahr in Kauf. Sie haben heute schon mehrfach gehört, dass wir sehr lange darüber diskutiert haben. Hans Michelbach hat ganz alte Erinnerungen aus 1994 herausgeholt. Ich habe gehört, im Koalitionsvertrag 2009 sei das alles auch schon vereinbart gewesen. Dann stellt sich ja die Frage, warum so etwas so lange diskutiert wird. Als Steuerpolitiker muss man sich natürlich überlegen: Ist es richtig, dass wir im deutschen Steuerrecht Subventionen haben? Wir haben oft darüber diskutiert, indirekte Subventionen abzuschaffen – und diese Förderung ist eine Subvention. Von daher war es ein langwieriger Abwägungsprozess, den wir durchgeführt haben. Wir sind im Ergebnis dann dazu gekommen, dass die gesamtwirtschaftlichen Implikationen so positiv sind, dass wir es doch machen müssen, auch weil wir im Wettbewerb sind. Lieber Fabio de Masi, wenn ich Sie richtig verstanden habe, meinen Sie, es werde überhaupt keine Wirkung entfaltet. Wir haben die Expertenkommission Forschung und Innovation, die 2017 einen sehr umfassenden Bericht zu dieser Frage vorgelegt hat. Sie hat über die vielen Studien, die es gibt, ermittelt, dass 1 Euro Steuermindereinnahmen ungefähr 1,33 Euro Zuwachs bei Aufwendungen für Forschung und Entwicklung impliziert. Von daher ist das sehr zielgerichtet, und von daher ist es gut, dass wir das so machen. In der Gesetzesbegründung finden wir dann natürlich auch den wichtigen Hinweis, dass wir das machen, um international wettbewerbsfähig zu sein und die entsprechenden Rahmenbedingungen zu schaffen. Ich sage aber sehr deutlich, auch im Namen der CDU/CSU-Fraktion: Wir sollten an diesem Punkt nicht Schluss machen; das ist ein wichtiger Punkt. Wir haben gerade ein Papier zur Modernisierung des deutschen Unternehmensteuerrechts aufgesetzt. Dort sind weitere wichtige Aspekte drin, die wir genauso erfüllen müssen, damit wir international wettbewerbsfähig bleiben. ({0}) Klug ist es auch, dass wir die Anwendung nicht beschränkt haben. Lothar Binding hat darauf hingewiesen, welche Abgrenzungsprobleme wir dann hätten. Mir ist wichtig, noch einmal herauszustellen, dass wir zwei unterschiedliche Ziele verfolgen. Bei den KMUs geht es darum, zusätzliche Ausgaben für Forschung und Entwicklung zu erzeugen. Von daher ist es klug, die Auftragsforschung jetzt mit aufzunehmen. Ich will nur darauf hinweisen: Wenn wir die Auftragnehmer gefördert hätten, wäre die Förderung oft ins Leere gelaufen, weil Forschungseinrichtungen oft steuerfrei gestellt sind und sie diese dann gar nicht bekommen hätten; das wäre systematisch falsch gewesen. Dass wir das gedreht haben, ist für die KMUs eine gute Sache und wird neue Ausgaben induzieren. Bei den großen Unternehmen, die anscheinend ein bisschen böse sind, geht es in erster Linie gar nicht darum, ob es zusätzliche Forschung gibt, sondern um die Frage, wo diese Forschung in Zukunft stattfindet. Denn wenn wir nichts machen, werden Forschungseinrichtungen – das haben wir schon beobachtet – aus Deutschland verlegt. Von daher ist es klug, eine gute Standortpolitik zu machen und die großen Unternehmen mitzunehmen. ({1}) Über das Verfahren ist auch schon gesprochen worden. Wir hätten gerne die Rechtsverordnung gehabt. In den Debatten haben wir uns das österreichische Modell angeschaut, bei dem mit der Bescheinigung gearbeitet wird. Übrigens gibt es dort ein verpflichtendes Erledigungsdatum mit einem Soll nach zwei, maximal vier Monaten. Das ist sehr bürokratiearm und grundsätzlich ohne Gebühren. Wir können uns von Österreich so einiges abgucken. Ich hoffe, es gelingt uns, keine Mammutbehörde aufzubauen, sondern alles sehr bürokratiearm zu organisieren, damit die Unternehmen tatsächlich an das Geld kommen. Das ist, wie ich finde, eine gute Lösung. Sie wird Investitions- und Innovationsanreize geben und den Standort Deutschland stärken. Herzlichen Dank. ({2})

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ja, mit der Situation in Xinjiang und der Erinnerung an Tiananmen haben wir keine angenehmen Themen auf der Tagesordnung. Hinzu kommt die Situation in Honkong. 70 Jahre nach Gründung der Volksrepublik und 22 Jahre nach Beendigung der britischen Kolonialherrschaft demonstrieren seit Wochen Hunderttausende von Menschen in Hongkong für ihre Rechte. Zunächst richtete sich ihr Anliegen auf die Zurückziehung eines Auslieferungsabkommens mit China. Das ist nun viel zu spät und formal immer noch nicht von Carrie Lam zurückgezogen worden. Aber die Demonstrationen hören nicht auf. Es kommt immer wieder zu gewaltsamen Zusammenstößen. Bis heute wurden Tausende von Menschen festgenommen, darunter Jugendliche und Kinder. Viele von ihnen mussten erst per Gerichtsbeschluss wieder freigelassen werden. Bei den Demos wurden Menschen zum Teil sehr, sehr schwer verletzt. Schlägerbanden griffen vermeintliche Wortführer der Demokratiebewegung an, und die Polizei schaute unzählige Male weg. Aber auch aus friedlichen, geduldeten Demonstrationen heraus kam es zu gewaltsamen Protesten, zur Zerstörung von U-Bahnhöfen, zum Abwurf von Molotowcocktails auf Polizeireviere oder zu Angriffen auf Geschäfte. Diese Situation muss uns besorgen – nicht etwa, weil es in Hongkong 600 deutsche Unternehmen gibt, die dort tätig sind, sondern weil die Gewalt die Grundrechte der in Hongkong lebenden Menschen gefährdet. ({0}) Ich will es in aller Deutlichkeit sagen: Wir stehen an der Seite der friedlichen Demonstrantinnen und Demonstranten. Sie haben recht, wenn sie eine unabhängige und unparteiische Aufarbeitung der Gewalt fordern. Ich kann mir gar keinen anderen als diesen Weg vorstellen, um zu einer Deeskalation zu kommen. Diese Auseinandersetzungen gefährden auch den Status von Hongkong. 1984 vereinbart, gilt ein Grundprinzip, das lautet: „Ein Land, zwei Systeme“. Dieses wurde im Basic Law Hongkongs niedergelegt. Darin garantiert China grundlegende Freiheitsrechte wie die Meinungsfreiheit, die Pressefreiheit und die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Es garantiert unterschiedliche Sozial- und Wirtschaftssysteme, eigene Zölle, eine eigene Währung. „Ein Land, zwei Systeme“ ist – darauf legen die Chinesen immer Wert – eine Absage an Separatismus, aber es ist gleichzeitig der Anspruch an Vielfalt in der Einheit, und deshalb darf es in Hongkong nur eine friedliche Lösung auf der Grundlage des Basic Law geben. ({1}) Ich weiß, dass das nicht einfach ist. Es sind wirklich zwei unterschiedliche Systeme. Hongkong galt einmal als die liberalste Marktwirtschaft der Welt. 51,5 Stunden durchschnittliche Arbeitszeit – das ist die längste der Welt gewesen. Es gibt dort viele Millionäre und Milliardäre, aber es gibt auch unzählige Menschen, die sehr, sehr arm sind. 20 Prozent der Bevölkerung in Hongkong verdienen weniger als die Hälfte des mittleren Einkommens, sind also Armut ausgesetzt. Diese Ungleichheit ist auch ein Treiber der Proteste. Aber ich will eines hinzufügen: Diese Entwicklung und die Infragestellung von „Ein Land, zwei Systeme“ werden auch durch die Veränderungen in China selbst verursacht. Aus einer lange Zeit autoritären, aber fragmentierten Herrschaft ist unter Xi Jinping ein immer autoritäreres – manche sagen auch: totalitäreres – System geworden. Während in Hongkong Menschen für ihre sozialen Rechte auf die Straße gehen, müssen in China mittlerweile Journalisten über Apps Tests absolvieren, um ihren Presseausweis verlängert zu bekommen. Da steht dann zur Auswahl, der Journalist habe sich a) streng an den Wahrheitsgehalt der Nachricht zu halten oder b) streng daran zu halten, positive Propaganda hervorzuheben. Es versteht sich von selbst, dass b) die richtige Antwort ist. Ich will nur darauf verweisen, dass der Begründer von „Ein Land, zwei Systeme“, ein gewisser Deng Xiaoping, das anders gesehen hat. Der wurde nämlich berühmt mit der Parole „Die Wahrheit in den Fakten suchen“. Ich finde, das ist der wichtigste Grund, weswegen es einer unabhängigen Untersuchung der Vorfälle in China bedarf. ({2}) Ich füge zum Schluss hinzu: -

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Denken Sie bitte an die Redezeit.

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

– Ich habe dieser Tage gelesen, dass Xi Jinping und Emmanuel Macron erklärt haben, sie wollten das Pariser Abkommen zum Klimaschutz unumkehrbar machen. Sie haben sich zum Multilateralismus bekannt. Ich finde, man muss Xi Jinping an dieser Stelle beim Wort nehmen: Wer den Multilateralismus lobt, der muss völkerrechtliche Verträge einhalten. Nichts anderes verlangen wir, wenn wir sagen: Das Prinzip „Ein Land, zwei Systeme“ muss in Hongkong auch von China respektiert werden. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Jürgen Trittin. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Michael Brand. ({0})

Michael Brand (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die vorliegenden Anträge zum Thema „Menschenrechte in China“ beleuchten Verletzungen zentraler Grundrechte durch das Regime und seinen Kampf gegen das eigene Volk. Von der Besetzung Tibets im Jahr 1959 über die Niederschlagung der Demokratiebewegung beim Tiananmen-Massaker 30 Jahre später, 1989, bis hin zum gewaltsamen Kampf gegen die Demokratiebewegung in Hongkong wieder 30 Jahre später, 2019, zieht sich ein roter Faden: Es ist der Faden der Unterdrückung. Aktuell wird die Minderheit der muslimischen Uiguren besonders hart verfolgt: über 1,3 Millionen Menschen, die im Jahr 2019 mit Totalüberwachung und Einsatz künstlicher Intelligenz interniert werden. Dies wird international zu Recht als Schandfleck für China offen thematisiert; denn es handelt sich nicht, wie die Führung in Peking behauptet, um Kampf gegen Terrorismus; es ist blanker Terror gegen das eigene Volk. Das Muster ist nicht neu. Seit Jahrzehnten gibt es systematische Verfolgung, auch von Tibetern und Christen. Im Übrigen: In den drei Anträgen der Grünen findet sich nicht einmal das Wort „Christen“. Das ist ein grundlegendes Manko der Anträge; denn auch diese Religionsgruppe wird terrorisiert, interniert, die Freiheit des Glaubens massiv bekämpft. Wir sagen immer: Das sind ja gar nicht so viele. – Es sind aber mehr, als wir Einwohner haben. China ist ein großes Land. Es gibt über 80 Millionen Christen, die verfolgt werden; diese brutale Verfolgung gilt auch für die Tibeter und in diesen Zeiten ganz besonders für die Uiguren. Das alles hat ein klares Motiv: Die Religionsfreiheit wird vom kommunistischen Regime wie jede Freiheit als Gefahr für seine Existenz betrachtet, und das nur, weil Menschen auf der Grundlage der UN-Menschenrechtscharta, die auch China unterschrieben hat, ihren Glauben frei ausüben wollen. Das Regime hält sich unter Xi nicht länger zurück, nicht im Inneren und auch immer weniger nach außen. Man schreckt selbst nicht davor zurück, dem deutschen Parlament vorschreiben zu wollen, was hier im Hohen Hause diskutiert werden dürfe und was nicht. In einer offiziellen Erklärung der Botschaft in Berlin hat China vor genau einem Jahr versucht, uns hier mundtot zu machen. Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: Es gab eine vierseitige Stellungnahme für alle Redner nach der Debatte. Dort heißt es: Am 8. November wurde, ungeachtet des starken Einwandes der chinesischen Seite, die so genannte Menschenrechtslage in der chinesischen Provinz Xinjiang im deutschen Bundestag beraten. Die chinesische Seite ist hierüber äußerst unzufrieden und bringt dem deutschen Bundestag und der Bundesregierung ernsthafte Demarche entgegen. Das geht über vier Seiten so weiter. Ich sage, an die chinesische Botschaft gerichtet, klar: Ihr könnt euch morgen das Fax sparen. Wir sind ein freies und ein souveränes Land. Hören Sie auf mit diesen unwürdigen Einschüchterungsversuchen! Es wird auch nichts bringen. Wir lassen uns von niemandem vorschreiben, worüber wir hier im Deutschen Bundestag zu beraten und zu diskutieren haben. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Deutschland und in Europa braucht es eine Intensivierung der Debatte um die geopolitische Aggression der neuen chinesischen Führung. Wir werden nicht darauf verzichten, auf der Universalität der Menschenrechte zu bestehen, was niemals eine Einmischung in innere Angelegenheiten sein kann. China hat die Charta unterschrieben, die vor 70 Jahren verabschiedet worden ist. Und wir werden es nicht unterlassen, auch die Rechte derjenigen zu verteidigen, die unter der chinesischen Diktatur besonders hart zu leiden haben. Europa hat im Übrigen überhaupt keinen Grund, vor diesem totalitären Regime in die Knie zu gehen. Wir sind wirtschaftlich stärker, und wir sind – um diesen Begriff einmal zu benutzen – auch ideologisch stärker: Es geht um Freiheitsrechte, es geht um Menschenrechte. Wir bieten China den Dialog an, aber wir werden der Unterdrückung von Millionen Menschen nicht einfach stumm zusehen. Ein ernsthafter Dialog ist für Hongkong wie für ganz China – das hat mein Vorredner auch gesagt, lieber Kollege Trittin – die einzige Möglichkeit, die Stabilität dieses Riesenreichs auf Dauer aufrechtzuerhalten. Weder mit maximalem Druck noch mit intensiver Propaganda werden sich die stärker werdenden Zentrifugalkräfte – und das sieht doch auch jeder – in der chinesischen Gesellschaft binden lassen. Die kommunistische Führung in China ist gut beraten, von Arroganz und auch von aggressivem Nationalismus abzulassen und endlich im 21. Jahrhundert anzukommen. Es geht im Inneren wie international um Miteinander, nicht um Konfrontation. Deutschland kann China dabei aus der eigenen Geschichte in vielen Bereichen ein ehrlicher und guter Partner sein. Hongkong, die nationalen und internationalen Proteste, Chinas wirtschaftliche Probleme und die Folgen seiner aggressiven Politik für Partner in Asien, Europa und den USA sollten der chinesischen Führung Alarmzeichen genug sein, dass man endlich einen anderen Weg als den der totalen Repression einschlagen muss. Der Deutsche Bundestag war und bleibt zum Dialog bereit. Die Verweigerung der Einreise deutscher Abgeordneter, ja ganzer Ausschüsse ist Zeichen von Schwäche und nicht von Souveränität und Stärke. Vor allem appellieren wir heute in dieser Debatte an China: Respektieren Sie endlich die Menschenrechte! Kein Druck, keine totale Überwachung retten ein Regime, das vom eigenen Volk nicht respektiert und getragen wird. Chinas Führung kann den ehrlichen Respekt des eigenen Volkes und den Respekt der Welt erst dann verdienen, wenn sie selbst die Rechte der Menschen in China respektiert. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Michael Brand. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Dr. Roland Hartwig. ({0})

Dr. Roland Hartwig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004738, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abgeordneten! Im 19. Jahrhundert wehrten sich die Chinesen gegen die Überschwemmung ihres Landes mit Opium. Die sich daraus entwickelnden Kriege verlor China und mit ihnen Hongkong, das zu einer britischen Kolonie wurde. Die Rückgabe Hongkongs an China ist 1997 ohne große Verwerfungen für das Leben der Hongkonger Bevölkerung verlaufen. Seit 2010 kommt es nun in Hongkong vermehrt zu größeren Demonstrationen. Die Frage ist: Wie soll sich Deutschland dazu positionieren? Grundlage unserer Überlegungen sollte sein, dass Hongkong primär eine innere Angelegenheit Chinas ist, in die wir uns ohne triftigen Grund nicht einmischen sollten. ({0}) Und ein solcher triftiger Grund ist meines Erachtens nicht gegeben. ({1}) Lassen Sie mich auf einzelne Punkte des Antrags der Grünen zu sprechen kommen. Auslöser der Proteste – Sie erwähnten es – ist das Auslieferungsgesetz. Ein Gesetzentwurf allein löst aber keine fünfmonatigen Massenproteste aus. Die eigentlichen Ursachen liegen tiefer. Ein wesentlicher Faktor ist die Frage der eigenen Identität, die für viele Hongkonger relevant ist. Wir Deutschen wissen aus eigener Erfahrung, dass es Zeit braucht, zwischen den in Jahrzehnten der Trennung gewachsenen unterschiedlichen Perspektiven und Identitäten zu vermitteln. Wie wir in unserem eigenen Land sehen, ist es ein Prozess, bei dem es Fortschritte, aber auch Rückschritte gibt. Die deutsch-deutsche Trennung war weniger lang als die Trennung der Hongkonger von den Festlandchinesen. Wir Deutschen sind auch schon länger wieder in einem Staat vereint als die Chinesen. Legen wir doch daher an China bitte nicht strengere Maßstäbe an als an uns selbst, wenn sie dabei sind, ihren gesellschaftlichen Frieden zu finden. ({2}) Eine weitere Sorge vieler Menschen in Hongkong sind die sehr hohen Wohnungspreise. Der Handlungsbedarf in diesem Bereich ist in dieser Woche ja auch in Gesprächen der Hongkonger Regierungschefin mit der Zentralregierung noch einmal unterstrichen worden. Auch hier braucht man, glaube ich, keine Belehrungen aus Deutschland. ({3}) Lassen Sie uns lieber zusehen, dass wir die durch Massenzuwanderung und verfehlte Euro-Politik in Deutschland stark gestiegenen Wohnungspreise in den Griff bekommen, bevor sie sich hier zu sozialem Sprengstoff entwickeln. Sie schreiben in Ihrem Antrag: Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bilden das Fundament Hongkongs als Wirtschafts- und Finanzstandort. – Ja, Hongkong hat sich unter britischer Herrschaft zu einem Wirtschafts- und Finanzstandort von internationaler Bedeutung entwickelt. In dieser Zeit war Hongkong aber keine Demokratie, es war eine britische Kolonie. Die Gouverneure – auch der letzte, Chris Patten – wurden vom britischen Monarchen eingesetzt. ({4}) Nach Rückgabe Hongkongs an China 1997 hatte die Hongkonger Bevölkerung, repräsentiert durch 1 200 Wahlmänner, erstmals die Möglichkeit, mitzubestimmen, wer Gouverneur wird. Die Demonstrationen in den letzten Jahren finden also zu einem Zeitpunkt statt, zu dem Hongkong so demokratisch und so autonom ist wie noch nie zuvor in seiner Geschichte. Ich kann mich an keine internationalen Solidaritätsbekundungen für mehr Demokratie in Hongkong erinnern, als Hongkong noch britische Kolonie war. Und ich glaube auch nicht, dass eine internationale Einmischung in den aktuellen innerchinesischen Diskurs hilfreich ist. ({5}) Sie kritisieren weiter in Ihrem Antrag, dass an der Grenze zu Hongkong Hunderte chinesische Sicherheitskräfte aufmarschiert seien. Schauen Sie sich doch bitte einmal an, wie viele Sicherheitskräfte der deutsche Staat bei den gewalttätigen linksextremistischen Ausschreitungen in Hamburg im Zusammenhang mit dem G-20-Gipfel zusammenziehen musste. Es ist nämlich eine der Kernaufgaben eines Staates, die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten. ({6}) Sie kritisieren die Hongkonger Regierung dafür, ein Vermummungsverbot bei Demonstrationen erlassen zu haben. ({7}) Es hat sich vielleicht gerade bei Ihnen noch nicht herumgesprochen – und bei vielen anderen Linken auch nicht –: Ein Vermummungsverbot bei Demonstrationen gibt es auch in Deutschland. ({8}) Und rührend fand ich, dass die Fraktion der Grünen sich darum sorgt, dass der Finanz- und Wirtschaftsstandort Hongkong gefährdet wird. Wenn wir uns um einen Wirtschaftsstandort wirklich Sorgen machen müssen, dann um unseren. ({9}) Er wird durch eine inzwischen von der CDU mitgetragene links-grüne Politik zunehmend zerstört. ({10}) Lassen Sie mich zum Schluss kommen. ({11}) Hongkong und Festlandchina haben sich unter sehr unterschiedlichen Vorzeichen sehr erfolgreich entwickelt. Trauen Sie den Menschen also zu, dass sie auch für die aktuellen Herausforderungen eine Lösung finden, ({12}) und versuchen wir, Antworten auf unsere Probleme zu finden! Mit Verlaub, Herr Trittin, auch hier gilt: Global denken – national handeln! Vielen Dank. ({13})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke, Dr. Hartwig. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Frank Schwabe. ({0})

Frank Schwabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003846, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Inhaltlich will ich gar nicht groß auf das eingehen, was Sie gesagt haben, Herr Dr. Hartwig. Ich empfehle aber – und es fällt mir bei ganz vielen Themen auf, dass es bei der AfD wild durcheinandergeht –: Vielleicht klären Sie das mal – Herr Braun sitzt jetzt da hinten, er ist ja Ihr Sprecher für Menschenrechte – mit ihm, da er im Ausschuss eine ganz andere Position vertreten hat. Insofern: Versuchen Sie mal, Ihre Positionen ein bisschen abzustimmen. ({0}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir diskutieren heute anhand von drei Anträgen, die die Grünen dankenswerterweise vorgelegt haben, die Menschenrechtslage in China. Und es ist gar keine Frage: Wir wollen gute Beziehungen zu China haben. China hat eine gewachsene internationale Verantwortung, insbesondere in Fragen des Klimaschutzes. Aber wir müssen, glaube ich, deutlich machen – und ich hoffte, dass dies die gemeinsame Haltung dieses Hauses ist –, dass wir in der Frage der Menschenrechte ganz klar sind: Wenn wir mit China über Menschenrechtsfragen reden, dann stehen wir zu den Menschenrechten, und dann machen wir deutlich, dass Menschenrechte universell sind, und zwar deshalb, weil es auch in China – in Xinjiang, Hongkong und anderswo – Menschen gibt, die die Menschenrechte einfordern. Wir müssen diese Fragen also immer wieder ansprechen. ({1}) Deswegen unterstütze ich die Kritik – und würde mir wünschen, dass wir diese Kritik gemeinschaftlich unterstützen –, dass dieses offene Ansprechen von Menschenrechtsverletzungen kein Grund sein kann, Politikerinnen und Politiker aus dem Deutschen Bundestag in irgendein Land der Welt nicht einreisen zu lassen. ({2}) Das ist in hohem Maße inakzeptabel, und es ist auch ein unfreundlicher Akt. Wir fordern die volle Transparenz in China und im Übrigen auch die volle Kooperation mit UN-Gremien. In diesen Tagen – man kann es draußen sehen – feiern wir zu Recht 30 Jahre deutsche Einheit. In China ist es leider die Erinnerung an das Tiananmen-Massaker vor 30 Jahren, wo Hunderte, wenn nicht gar Tausende Menschen ums Leben gekommen sind. Aber das Streben nach Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit und Menschenrechten lässt sich eben – das zeigt die Geschichte – nicht aufhalten. ({3}) Das zeigt auch die Entwicklung in Hongkong. Und ich glaube, es ist wichtig, dass wir – egal, wo auf der Welt – klarmachen: Es ist keine Einmischung in innere Angelegenheiten, wenn wir uns an die Seite derjenigen stellen, die für Menschenrechte weltweit einstehen. ({4}) Deswegen danke ich auch der Bundesregierung – Heiko Maas vorneweg – dafür, das deutlich zu machen, auch durch Treffen, die es hier mit Joshua Wong gegeben hat. Das, was wir in Hongkong erleben, ist ein schleichender Prozess – der hat nicht jetzt erst eingesetzt; jetzt sehen wir das international –, ein schleichender Prozess der Entdemokratisierung. Wenn wir gucken, wie es im Bereich der Medienfreiheit aussieht: Da macht Reporter ohne Grenzen deutlich, dass es in relativ kurzer Zeit einen Abstieg von Platz 18 auf Platz 73 gegeben hat. Deswegen noch mal: Es ist richtig, von uns aus alles zu tun, um die Demokratiebestrebungen zu unterstützen. Ein weiterer Antrag handelt von den Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang, wo es in der Tat schlimmste Verletzungen, nicht nur an den Uiguren, gibt. Ich begrüße an der Stelle noch mal ausdrücklich, dass Ilham Tohti den Vaclav-Havel-Menschenrechtspreis des Europarats und den Sacharow-Preis der Europäischen Union bekommen hat. Herzlichen Glückwunsch dazu! ({5}) Er muss umgehend aus dem chinesischen Gefängnis freigelassen werden. Es ist ein ganzes Volk, das in Unfreiheit gehalten wird. ({6}) Es gibt 1 Millionen Menschen – so lauten Berichte, die die Chinesen jedenfalls nicht widerlegen –, die in Internierungslagern gefangen gehalten werden und umerzogen werden sollen. Deswegen ist es richtig, dass Deutschland diese Fragen anspricht, auch international wie vor einer Woche beim UN-Menschenrechtsausschuss im Rahmen der Generalversammlung der Vereinten Nationen. Die Frage von Menschenrechten – auch das will ich noch mal betonen, weil es gelegentlich Ausführungen gibt, ob das etwas mit Kommunismus, mit Sozialismus oder mit Kapitalismus zu tun hat – ist eine universelle. Es gibt leider Menschenrechtsverletzungen in Regimen ganz unterschiedlicher Art und auch ganz unterschiedlicher gesamtpolitischer Ausrichtung. Für uns ist es wichtig, dass wir gute Beziehungen zu China haben. Für uns ist aber elementar, solche Menschenrechtsverletzungen immer wieder anzusprechen. Und damit muss China rechnen, dass wir das auch immer wieder tun. Vielen herzlichen Dank. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frank Schwabe. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Bijan Djir-Sarai. ({0})

Bijan Djir-Sarai (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004029, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit ungefähr sechs Monaten müssen wir zusehen, wie die Sicherheitskräfte in Hongkong mit Gewalt gegen Demonstranten vorgehen, die für mehr Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit kämpfen. Zu lange hat der Westen gegenüber Menschenrechtsverletzungen in China geschwiegen. Zu lange wurde Peking nur wirtschaftspolitisch betrachtet. Es ist an der Zeit, dass diese Naivität aufhört und die Dinge benannt werden, wie sie vor Ort sind. Es ist höchste Zeit, China realistisch zu betrachten. ({0}) Das brutale Vorgehen der Regierung in Hongkong ist der dramatische Höhepunkt einer Entwicklung, die sich schon lange abgezeichnet hat. Was die Demonstranten fordern, ist das, was die Volksrepublik ihnen mit dem Prinzip „Ein Land, zwei Systeme“ versprochen hat. Es ist auch eine Frage der Glaubwürdigkeit. Aber heute werden die Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit schrittweise immer weiter abgebaut. Immer öfter werden kritische Stimmen zensiert, verfolgt oder auch bedroht. China hat eine außerordentlich wichtige Bedeutung für die Weltwirtschaft. Daher glaubt Peking, dass Deutschland und Europa aufgrund Chinas wirtschaftlicher Bedeutung im Falle weiterer Menschenrechtsverletzungen schweigen werden. Und ich kann nur hoffen, meine Damen und Herren, dass diese Annahmen falsch sind. Anstatt Angst vor möglichen Reaktionen aus Peking zu haben, muss die Bundesregierung den Mut haben, das brutale Vorgehen gegen Aktivisten, gegen religiöse Minderheiten oder kritische Journalisten im Dialog mit China zu verurteilen. ({1}) Das ist eine Frage der politischen Glaubwürdigkeit und Handlungsfähigkeit der deutschen Außenpolitik, meine Damen und Herren. Die Bundesregierung muss signalisieren, dass die Grundlage für Wirtschaftsbeziehungen das Einhalten von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit ist. Es ist zum Teil zu beobachten, wie einige Vertreter der deutschen Wirtschaft vor Ort sich der chinesischen Staatsführung anbiedern. Menschenrechte sind aber universell und unteilbar, und Wirtschaftsinteressen dürfen niemals über Menschenrechten stehen. ({2}) Auch deutsche und europäische Unternehmen dürfen sich daher von China nicht unter Druck setzen lassen. Meine Damen und Herren, nächstes Jahr übernimmt Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft, und für den Herbst 2020 ist ein EU-China-Gipfel angekündigt. Es ist also an der Zeit, mit deutlichen Worten die chinesische Führung an ihre völkerrechtlichen Pflichten zu erinnern. Wir fordern die Regierungen in Peking und Hongkong auf, die Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu schützen, sich an internationales und nationales Recht zu halten, die politisch motivierten Strafverfolgungen von friedlichen Demonstranten zu beenden, eine unabhängige Untersuchung der massiven Polizeigewalt zu billigen und schlussendlich das Recht auf allgemeine und freie Wahlen zu gewähren. Meine Damen und Herren, die Entwicklungen in Hongkong und auf dem chinesischen Festland müssen aber auch ein mahnendes Beispiel für unsere innenpolitischen Debatten und Entscheidung sein. Die nicht vorhandene Meinungsfreiheit und die Massenüberwachung durch Peking können wir nicht ignorieren. Wenn wir demnächst hier im Deutschen Bundestag über Zukunftsthemen wie beispielsweise 5G-Strategien im Zusammenhang mit einem bestimmten Unternehmen diskutieren, dann dürfen wir die Debatten, die wir heute führen, nicht vergessen; wir müssen diese Debatten im Hinterkopf haben. Wir reden von diesem Land China, und wir können derzeit kein Vertrauen erkennen. ({3}) Von daher müssen wir auch bei diesen Debatten höchst sensibel sein. Hier muss der Deutsche Bundestag mitreden, meine Damen und Herren. Vielen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Bijan Djir-Sarai. – Nächster Redner: für die Linke nicht Matthias W. Birkwald, sondern – wir wollen ja über das Thema reden – Stefan Liebich. ({0})

Stefan Liebich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004093, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Bestimmt hätte auch mein Kollege Birkwald kluge Dinge zum Thema China sagen können – da habe ich keinen Zweifel –; aber wir haben uns verständigt, dass ich das doch mache. Wer differenziert, verliert – das ist manchmal in der Außenpolitik der Fall, und das ging mir bei den Debatten um Hongkong auch wieder so. Als nämlich die Proteste losgingen und die Bundesregierung sehr lange sehr leise war, habe ich das öffentlich kritisiert, gerade auch, weil ich noch im Ohr hatte, dass die Bundesregierung bei den Protesten in Venezuela absurderweise sofort eine Gegenregierung anerkannt hat. Ich dachte: Ihr könnt hier nicht schweigen. – Da hatte man den Eindruck, da stehen die Interessen deutscher Unternehmen im Vordergrund. Als ich das gemacht habe, hat natürlich sofort die Peking-Verteidigungsfront gesagt: Ja, das ist klar: Liebich, das transatlantische U-Boot bei der Linkspartei. Wir erwarten da nichts anderes. Kurz danach habe ich bei der Heldenverehrung für Joshua Wong nicht mitgemacht. Denn ich finde tatsächlich seinen Vergleich mit der DDR und der Wiedervereinigung schief, ich finde den positiven Bezug auf die Zeit des Kolonialismus absurd, und ich finde die Unabhängigkeitsbestrebungen falsch. Ich habe auch öffentlich gesagt, dass Gewaltfreiheit Voraussetzung für unsere Solidarität ist und ich die Besetzung von U-Bahnen und Flughäfen für ein ungeeignetes Mittel halte. Als ich das gesagt habe, kam natürlich die Gegenreaktion: Logisch, dass der linke Liebich seinen Kommunistenfreunden in Peking wieder den Rücken stärkt. ({0}) Aber so ist das manchmal in der Außenpolitik. Ich bin den Grünen ganz dankbar, dass wir heute in Ruhe etwas differenzierter anhand der drei Anträge Stellung nehmen können, und das möchte ich auch machen. Wir als Linke unterstützen gewaltfreien Einsatz für Demokratie und Menschenrechte – überall, auch in Hongkong, auch in der Volksrepublik China insgesamt. ({1}) Wir Linke verurteilen die gewaltsame Niederschlagung der Protestbewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens vor 30 Jahren. ({2}) Und wir Linke finden: Die Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang gegenüber den Uigurinnen und Uiguren, den Kasachinnen und Kasachen müssen enden. ({3}) Und wir finden auch, dass sich die Regierung der Volksrepublik China – Jürgen Trittin hat darauf hingewiesen – nun einmal völkerrechtlich verbindlich auf das Prinzip „Ein Land, zwei Systeme“ für Hongkong verpflichtet hat. Jeder, der das einfordert, hat vollständig recht. ({4}) Ich möchte hier aber über einen Aspekt reden, der relativ selten in unseren Debatten eine Rolle spielt. Das ist nämlich die deutsche Vergangenheit in China. Deutschland selbst hatte nämlich einmal eine koloniale Rolle. Die ist vielleicht hier in Deutschland vergessen, nicht aber in China. 1860 ist die preußische Armee nach China gegangen, hat dort Land besetzt und gewaltsam eine Verpachtung erzwungen. Damals haben viele internationale Mächte China als einen Selbstbedienungsladen empfunden, auch Deutschland. Als es dagegen Aufstände gab, sind diese brutal niedergeschlagen worden. Der deutsche Kaiser war sogar stolz, dass es einen deutschen Oberbefehlshaber dieser internationalen Allianz gegen China gegeben hat. Der Kaiser hielt eine Rede: Kommt Ihr vor den Feind, so wird er geschlagen, Pardon wird nicht gegeben; Gefangene nicht gemacht. Wer Euch in die Hände fällt, sei in Eurer Hand. In diesem Krieg sind 5 000 chinesische Zivilisten und 2 000 chinesische Soldaten getötet worden. Warum erzähle ich das hier? Weil es immer noch ein Thema ist hier in unserer Stadt Berlin: Es gibt hier, gar nicht so weit vom Deutschen Bundestag, eine Straße, die heißt Iltisstraße, die ist nicht nach einem niedlichen Marder benannt, sondern nach dem Kanonenboot, das damals diesen Angriff gefahren hat. Auch nach dem Kommandanten dieses Bootes, Wilhelm Lans, ist in Berlin noch eine Straße benannt. Das ist nun wirklich nicht länger akzeptabel. ({5}) Wir müssen uns von diesem Unrecht verabschieden! Ich bedaure es sehr – das sei hier auch ausgesprochen –, dass es eine Koalition aus CDU und Bündnis 90/Die Grünen in Steglitz-Zehlendorf ist, die diese Umbenennung seit Jahren verhindert. Auch Hongkong ist durch die britische Armee militärisch China abgepresst worden. Bei aller notwendigen Kritik an der chinesischen KP sagen ich: Es ist gut, dass dieses koloniale Unrecht zu Ende ist. Danke schön. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Stefan Liebich. – Nächster Redner: Frank Steffel für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Frank Steffel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004163, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielen Dank.- Ich finde es richtig, dass wir sehr intensiv über die Menschenrechtsverletzungen in China-Festland sprechen. Das meiste, was dazu gesagt wurde – mit Ausnahme der AfD, die das ja auf ihre Weise differenziert und anders gesehen hat als alle anderen –, finde ich auch wichtig und zutreffend. Ich fand auch die Darstellung von Ihnen, Herr Liebich, wohltuend differenziert und will Herrn Trittin auch ausdrücklich recht geben, weil es aus Ihrem Munde, finde ich, besonders glaubwürdig ist, wenn Sie zu Recht darauf hinweisen, dass wir bei den Demonstranten in Hongkong natürlich differenzieren müssen. Das, was dort friedlich stattfindet, hat unsere volle Unterstützung. Aber das, was gewalttätig ist, muss auch als gewalttätig beschrieben werden, und natürlich sind Besetzungen von Flughäfen und Angriffe auf Geschäfte und das Anzünden von Autos in jedem Land der Welt auch von der jeweiligen Staatsführung zu unterbinden. Insofern muss man auch in Bezug auf Hongkong hier glaubwürdig bleiben und differenzieren. Ansonsten machen wir auch unsere Kritik an anderer Stelle damit nicht redlicher und nicht glaubwürdiger. Ich möchte einen Punkt ansprechen, der in der Debatte – der Rest ist ja weitestgehend von allen gesagt – aus meiner Sicht etwas untergegangen ist, nämlich die Frage: Warum verhält sich China gegenwärtig anders als in den letzten Jahren, als man sich eigentlich kontinuierlich eher optimistisch und wohlwollend verhalten hat? Wir hatten ja den Eindruck, da ändert sich vieles zum Positiven. Wir waren mit einer Delegation des Auswärtigen Ausschusses in Peking und haben festgestellt, dass die Wortwahl sich geändert hat, dass die Begründungen sich verändert haben, dass es in China offenkundig einen, ich will nicht sagen, Paradigmenwechsel, aber einen politischen Wechsel gibt. Das müssen wir attestieren. Unsere Gesprächspartner aus dem Nichtregierungsumfeld sagen uns: Es gibt eine sicherheitspolitische Paranoia, und die liegt daran, dass natürlich die Handelssanktionen der Vereinigten Staaten die chinesische Führung tief getroffen haben, dass sich die wirtschaftliche Entwicklung in China deutlich verändert hat, aber auch die Proteste in Hongkong vieles doch sehr verändert haben. – Die deutsche Wirtschaft sagt, sie habe noch nie so viel Unruhe und Angst verspürt und sie habe die Sorge, dass das die Ruhe vor einem ganz großen Gewitter ist. All das muss uns natürlich grundsätzlich umtreiben, wir müssen uns die Frage stellen: Was können wir eigentlich tun? Wie können wir mit Worten und Taten dazu beitragen, dass das nicht weiter eskaliert? Ich will abschließend einen Blick auf Hongkong werfen, weil ich schon den Eindruck habe, hier geht manches durcheinander. Dazu zählt unter anderem auch die Vermutung, dass China immer noch auf Hongkong angewiesen sei. Das war vielleicht vor einigen Jahren so; da hatte Hongkong 20 Prozent des Bruttoinlandprodukts von China. Das hat sich mittlerweile dramatisch verändert: Hongkong hat noch 3 Prozent des Bruttoinlandprodukts von China. Durch die Greater Bay Area, den Zusammenschluss von Hongkong, Macao und neun chinesischen Regionen, ist eine Riesenregion mit einem Schwerpunkt in Shenzhen auf dem chinesischen Festland entstanden. Das heißt, die Bedeutung von Hongkong hat abgenommen. Ich sage uns auch politisch: Bedenke das Ende! Ich will Ihnen ganz kurz drei Zahlen nennen. Erste Zahl: 80 Prozent der Wasserversorgung von Hongkong kommen aus China. 50 Prozent der Touristen, von denen Hongkong – gerade diejenigen, die weniger Geld verdienen – nicht zuletzt gut lebt, kommen aus China. Und 50 Prozent der Transporte im Hafen von Hongkong – der unglaublich wichtig ist für die Bedeutung von Hongkong, wie wir alle wissen – kommen ebenfalls aus China. Alle drei Ströme – Wasser, Transporte und Touristen – könnte China relativ unkompliziert, mit einfachen Entscheidungen der kommunistischen Partei, stoppen – mit all den Auswirkungen auf Hongkong, die wir wahrscheinlich gemeinsam nicht wollen. Insofern empfehle ich uns, alles dafür zu tun, eine Eskalation in Hongkong zu vermeiden – der Stärkere wird im Zweifelsfalle China sein. Das heißt, wir müssen überlegen: Was können wir tun? Es wurde angesprochen: Wir müssen schauen, dass die Aufarbeitung stattfindet. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass – nach allem, was uns Gesprächspartner in Hongkong sagen – die sozialen Probleme die wesentliche Ursache für die Massenproteste sind. Und wir müssen auch ehrlich und konsequent sagen: Eine Unabhängigkeit Hongkongs zu fordern, ist mehr als unrealistisch. Das hat hier in der Debatte auch nicht stattgefunden. Mit einer solchen Forderung – wenn wir den Eindruck erweckten, es gäbe eine Chance für Hongkong, unabhängig zu werden – täten wir unseren Gesprächspartnern in Hongkong keinen Gefallen. Hongkong hat große Chancen. Es sind noch einige Jahre Zeit bis 2047. Wir sollten durch unser Handeln und durch unser Reden dazu beitragen, diese Chancen nicht dadurch noch schwieriger zu machen, indem wir die chinesische Führung an Stellen kritisieren, wo Kritik nicht zutreffend ist. Dann ist unsere Kritik an den Stellen, wo sie zutreffend ist, umso glaubwürdiger. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frank Steffel. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Metin Hakverdi. ({0})

Metin Hakverdi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004289, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland wird im kommenden Jahr von Juli an die europäische Ratspräsidentschaft übernehmen. Richtig und wichtig ist das Vorhaben eines EU-China-Gipfels im kommenden Jahr in Leipzig. Wir unterstützen ausdrücklich das Ansinnen, die China-Politik zu einem Schwerpunkt der deutschen Ratspräsidentschaft zu machen. Es ist höchste Zeit, unser Verhältnis zu China zu überprüfen und es an die Herausforderungen unseres Jahrhunderts anzupassen; das zeigen die Anträge der Grünen, die heute vorliegen, das zeigt aber auch die Debatte um den 5G-Ausbau in unserem Land und die Beteiligung von Huawei. Die Welt hat sich verändert. Die Hoffnung eines Wandels durch Annäherung hat sich im Falle Chinas nicht erfüllt. Heute ist China weder eine Demokratie noch eine soziale Marktwirtschaft. Die Volksrepublik ist zu einem Systemrivalen geworden. Die Volksrepublik verkündet, wirtschaftlich und technologisch die weltweite Führung übernehmen zu wollen. Mit dieser Entwicklung muss unsere Außenpolitik Schritt halten. Deshalb brauchen wir jetzt diese China-Debatte. Dafür müssen wir uns vergewissern, wo wir selbst als Deutschland, als Europa, als Europäische Union hinwollen. Ein wesentlicher Baustein künftiger Außenpolitik betrifft unsere Wirtschaftspolitik. Wir wollen unsere Wirtschaft ökologisch und sozial nachhaltig umbauen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wirtschaftliche Aktivitäten, die die Verletzung von Menschenrechten befördern oder unterstützen, passen nicht zum Selbstverständnis der Europäischen Union. Wir werden auch weiterhin sehr genau die Entwicklung der Menschenrechtslage in China beobachten. Die Lage der uigurischen Minderheit in China verheißt leider nichts Gutes. Es geht nicht an, dass circa 1 Million Uiguren in Umerziehungslagern interniert sind, um einer Gehirnwäsche unterzogen zu werden. Es geht nicht an, dass die Minderheiten der Uiguren und der Kasachen mit einer Totalüberwachung konfrontiert sind. Wir müssen feststellen, dass es keinen Raum für eine chinesische Öffentlichkeit gibt, die dieses Regierungshandeln anprangern könnte. Das chinesische System ist nicht in der Lage, solche schreienden Ungerechtigkeiten, solche Fehlentwicklungen innerhalb eigener gesellschaftlicher Strukturen zu korrigieren, weder auf der Ebene der Zivilgesellschaft noch auf der Regierungs- bzw. Führungsebene; denn das System der kollektiven Führung gibt es nicht mehr. Das muss uns mit großer Sorge im Umgang mit China erfüllen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Zeiten von Geoeconomics ist die Trennung von Innen- und Außenpolitik nicht immer zielführend. Wir müssen heute im Hinblick auf unser Verhältnis zu China und anderen außereuropäischen Mächten Wirtschaftspolitik, Außen- und Sicherheitspolitik und Menschenrechte zusammendenken. Die Menschheit ist durch Echtzeitkommunikation, durch Wertschöpfungsketten, durch das weltweite Klima und natürlich durch das Internet miteinander verwoben wie nie zuvor. Eine künftige europäische Außenpolitik muss diesem Umstand Rechnung tragen. Dazu gehört auch die digitale Souveränität Europas. Wir müssen uns vor dem Import des digitalen Überwachungsstaates schützen. Deshalb müssen wir uns auf dem Feld der künstlichen Intelligenz bzw. der digitalen Infrastruktur auf die Höhe der Zeit bringen. Diese Herausforderung ist riesig, unser Rückstand erheblich. Wir sollten hier größer und europäischer denken als bisher. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen ein Apollo-Programm in Sachen Technologieführerschaft in der digitalen Infrastruktur. Der Airbus-Konzern erinnert uns: Durch gezielte industriepolitische Zusammenarbeit auf europäischer Ebene besitzen wir heute einen vollwertigen Global Player in der Luft- und Raumfahrt. Ein zukünftiges 6G-Netz sollte von einem Konsortium europäischer Unternehmen aufgebaut werden. Das muss unser erklärtes Ziel sein. Und natürlich müssen wir im Dialog mit China bleiben – trotz oder gerade erst recht wegen aller Herausforderungen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Metin Hakverdi. – Letzter Redner in dieser Debatte: Sebastian Brehm für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schon in den letzten Monaten konnten wir über einen Teil dieser heute noch mal aufgerufenen Anträge im Parlament sprechen, insbesondere über die schweren Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang und über 30 Jahre Niederschlagung der friedlichen Proteste am Platz des Himmlischen Friedens in Peking. Das Ausmaß an negativen Ereignissen in China steigt leider weiter an. Eine Meldung ist schlimmer als die andere – und das 70 Jahre nach der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen in Paris, und auch China hat diese damals unterzeichnet. „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ So steht es in Artikel 1. Die Vereinten Nationen haben damit jedem Menschen auf dieser Erde – unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Religion und sozialem Status – die gleichen Rechte und Freiheiten zugesichert. Blicken wir auf die letzten 70 Jahre in China zurück, so scheint es, dass diese Allgemeine Erklärung der Menschenrechte bis heute keine große Rolle spielt. 30 Jahre sind in der Zwischenzeit vergangen, seit die chinesische Regierung die friedlichen Proteste von mehreren Tausend Studentinnen und Studenten am Platz des Himmlischen Friedens in Peking brutal niederschlug. Bis heute ist die genaue Zahl der Toten nicht geklärt, und bis heute befinden sich diejenigen, die daran friedlich beteiligt waren, zum Teil unter fortdauerndem Hausarrest und unter Beobachtung. Alle Informationen sind in China verschwunden; eine Aufarbeitung dieser Menschenrechtsverletzungen findet nicht statt. Ebenso dauern seit Jahrzehnten die ethnischen Spannungen in der autonomen Region Xinjiang im Nordwesten Chinas an. Die Rechte der muslimischen Minderheit, der Uiguren, der muslimischen Kasachen und der Tibeter werden von der chinesischen Regierung mit Füßen getreten. Über 1 Million Menschen – überwiegend Muslime – werden in sogenannten Umerziehungslagern in Xinjiang interniert. Das ist ein nicht hinnehmbarer Zustand, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Ich sage das auch als aktiver Christ mit großem Bedauern: Seit 2018 ist ein verschärftes Vorgehen vor allem gegen Christen zu beobachten. Allein im vergangenen Jahr sollen laut Nichtregierungsorganisationen mehr als 10 000 Christen verhaftet worden sein. Berichte von Amnesty International und Human Rights Watch über einen systematischen Ausbau der Überwachung ergänzen das schlimme aktuelle Bild. ({1}) Die Regierung hat sogenannte Sicherheitsgesetze verabschiedet, die Verhaftungen, Hausarrest, Folter und Verschwindenlassen ohne Gerichtsverfahren ermöglichen – nach unserem Rechtsstaatsverständnis undenkbar. Menschenrechtler werden verfolgt und gefoltert. Allein im vergangenen Jahr wurden laut Amnesty International 321 Menschenrechtler in China ermordet. China lässt zudem nach einem Bericht des Auswärtigen Amtes jährlich mehr zum Tode verurteilte Personen hinrichten als alle anderen Staaten zusammen. Wenn wir aktuell nach Hongkong blicken, dann sind wir in großer Sorge. Wir stehen an der Seite der friedlichen Demonstrantinnen und Demonstranten. Sie setzen sich für freie Meinungsäußerung, für Versammlungsfreiheit und für Demokratie – die Grundzüge unseres Gemeinwesens – ein. ({2}) Viele sagen, wir dürften diese Maßstäbe nicht im Ausland und schon gar nicht in China ansetzen. China ist einer der bedeutendsten Handelspartner – auch für die deutsche Wirtschaft. Sie wissen: Ich bin auch Steuer- und Finanzpolitiker. Dass China ein bedeutender Handelspartner ist, ist unstrittig und sicherlich richtig. Bekanntlich entsteht Wandel durch Handel, und diesen Wandel durch Handel sollten wir unbedingt weiter fortsetzen. Aber ich bin auch überzeugter Menschenrechtler, und wir können die Menschenrechtsverletzungen in China nicht einfach so hinnehmen; wir dürfen da nicht wegsehen, meine lieben Damen und Herren. ({3}) Deshalb müssen wir diese Punkte immer wieder ansprechen.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Kommen Sie bitte zum Ende.

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Deshalb müssen wir auch immer wieder auf die Missstände hinweisen. Anders als die AfD, die heute gesagt hat, es bestehe überhaupt kein Grund, hier einzugreifen, ({0}) sage ich: Es besteht Grund, hier einzugreifen! Wir müssen hier handeln. Es werden schwere Menschenrechtsverletzungen begangen. Deswegen müssen wir was tun, und deswegen werden wir das auch immer wieder ansprechen. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Ich schließe die Aussprache.

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundestag berät an diesem Abend aus meiner Sicht zwei wichtige Gesetze, die mit der Frage zu tun haben, wie menschlich unsere Gesellschaft am Ende des Tages sein wird. Später am Abend werden wir über das Soziale Entschädigungsrecht sprechen. Dabei geht es um die Frage, wie die Gesellschaft mit Opfern von Gewalttaten und Anschlägen umgeht, wie wir Menschen helfen, die Opfer geworden sind. Dazu wird nachher Staatssekretärin Kerstin Griese sprechen, weil sie das mutmaßlich am meisten verhandelt hat. Aber jetzt geht es um ein Gesetz, das ebenso über die Menschlichkeit unserer Gesellschaft entscheidet. Es geht nämlich um die Frage, wie wir in dieser älter werdenden Gesellschaft mit dem Thema Pflege umgehen. Ja, dabei geht es um die zu pflegenden Menschen, und deshalb war es richtig, dass der frühere Gesundheitsminister Hermann Gröhe – ich möchte ihn ansprechen – in der letzten Legislaturperiode mit dem Gesetz zur Pflegereform dafür gesorgt hat, dass Menschen, die pflegebedürftig sind, über die Pflegeversicherung besser versorgt werden. Die Pflegegrade und auch die Leistungen für demenziell erkrankte Menschen sind wichtig. Es geht dabei auch um die Menschen, die professionell in der Pflege arbeiten, die dieser Deutsche Bundestag mit dem Gesetz für bessere Löhne in der Pflege unterstützt, weil wir bessere Löhne und Arbeitsbedingungen für die Menschen brauchen, die in der Pflege arbeiten. Aber, meine Damen und Herren, heute Abend geht es um die Angehörigen von zu pflegenden Menschen. Jeder, der selbst schon mal erlebt hat – und jeder von uns kann es erleben –, dass ein geliebter Mensch ein Pflegefall wird und versorgt werden muss, der weiß, was das emotional für viele Familien bedeutet, der weiß, was es organisatorisch bedeutet, wenn man sich kümmern muss, und der weiß, dass wir diesen Menschen Lasten von den Schultern nehmen müssen. Da die gesetzliche Pflegeversicherung keine Pflegevollsicherung mit Pflegevollkasko ist – das wird sie auch in kürzerer Zeit nicht sein –, ist es ganz oft so, dass Menschen, die pflegebedürftig werden, ergänzende Hilfe zur Pflege vom Amt brauchen. Das Problem ist nur, dass es einen Unterhaltsrückgriff auf die Kinder gibt. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass es für viele Familien emotional belastend ist, wenn Angehörige pflegebedürftig werden, dass es organisatorisch anstrengend ist, dass es oft Menschen sind, die in der Mitte des Lebens stehen, die arbeiten, die vielleicht noch Kinder erziehen, dann weiß man: Es ist unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit, diesen Menschen jedenfalls unkalkulierbare finanzielle Risiken beim Unterhaltsrückgriff von den Schultern zu nehmen, und das machen wir heute, meine Damen und Herren. ({0}) Mit dem vorliegenden Gesetz stellen wir Menschen mit einem Jahreseinkommen von weniger als 100 000 Euro – und das ist immer noch die Mehrheit in diesem Land, auch wenn man manchmal das Gefühl vermittelt bekommt: in unserem Land leben nur noch Menschen, die Millionenvillen besitzen – von dem Unterhaltsrückgriff auf die Kinder frei. Ich finde es gut, dass es im Rahmen der Gesetzgebung auch gelungen ist, dass wir das nicht nur wirkungsgleich auf die Situation von Eltern von Kindern mit Behinderung übertragen, sondern dass wir diese vollständig vom Unterhaltsrückgriff entlasten. ({1}) Auch das ist ein Beitrag dazu, das Leben für die Menschen leichter zu machen. Ich möchte mich bei diesem Parlament bedanken, dass die parlamentarischen Beratungen zu diesem wichtigen Gesetz zügig stattgefunden haben; denn die Menschen warten auf dieses Signal. Ich antizipiere mal, dass in der parlamentarischen Debatte, die jetzt noch folgen wird, die einen oder anderen sagen: Ja, aber ihr müsst insgesamt was dafür tun, dass die Eigenanteile in der Pflege beispielsweise zukünftig gedeckelt werden. – Da sind wir ganz ihrer Meinung; das ist auch Teil der Konzertierten Aktion Pflege. Das werden wir im nächsten Jahr auch zu besprechen haben. Aber dass wir mit dem Angehörigen-Entlastungsgesetz einen wesentlichen Schritt machen können, um Menschen das Leben einfacher zu machen, um einen Beitrag zur Menschlichkeit bis in die Mitte der Gesellschaft zu leisten, ist eine große Chance, meine Damen und Herren, die wir heute Abend nutzen sollten. ({2}) In diesem Gesetz gibt es noch weitere Maßnahmen, die vor allen Dingen mit dem Thema Inklusion zu tun haben, mit der gleichberechtigten Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Ich bin froh, dass es gelungen ist, die unabhängige ergänzende Teilhabeberatung für Menschen mit Behinderung, die wir im BTHG auf den Weg gebracht haben, jetzt dauerhaft zu entfristen. Damit Menschen, die Unterstützung brauchen, dass sie ein gleichberechtigter Teil dieser Gesellschaft sein und am Leben teilhaben können, ohne große Schwellen diese Unterstützung bekommen – rechtskreisübergreifend –, von Menschen, die zum Teil selbst Menschen mit Behinderung sind, die sich auskennen. Ich finde es auch gut, dass wir mit diesem Gesetz neben dem Budget für Arbeit, das Teil der Inklusion ist auf dem ersten Arbeitsmarkt, auch ein Budget für Ausbildung schaffen, meine Damen und Herren. ({3}) Bei allem, was man sich sonst noch wünschen kann, möchte ich den Koalitionsfraktionen ganz herzlich für die Unterstützung danken. Und ich möchte die Oppositionsfraktionen um Unterstützung dieses Gesetzes bitten. Das ist ein wichtiger Schritt. Und ehrlich gesagt, hätte diese Debatte auch eine andere Tageszeit vertragen, damit die Menschen wissen, was wir in diesem Land machen. Das ist ein Arbeitsparlament. Es ist anstrengend, hier mitzumachen. Aber wir leisten heute einen Beitrag, das Leben von Menschen konkret zu verbessern, und das ist auch unsere Aufgabe. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Minister. – Das Wort hat für die AfD-Fraktion der Kollege Jürgen Pohl. ({0})

Jürgen Pohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004856, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren an den Geräten! Die Anhörung der Sachverständigen und die Sitzung im Ausschuss haben ergeben, dass das Angehörigen-Entlastungsgesetz ein großer Wurf zur Entlastung der Kranken und Pflegebedürftigen und ihrer Kinder hätte werden können. Herausgekommen ist jedoch eine rechtliche Regelung, der es an vielem mangelt. Richtig ist, Herr Minister – das unterstreiche ich genauso wie Sie –: Es darf durch die Pflege kein Pflegebedürftiger und kein Angehöriger zum Sozialfall werden. Das muss ehernes Ziel unserer Gesellschaft sein. ({0}) Aber – ein großes Aber – stattdessen machen Sie mit diesem Gesetz die Kommunen zum Sozialfall unserer Gesellschaft; dazu komme ich später. Ein Blick in die Nachbarländer zeigt, dass die angedachte rechtliche Regelung eine massive Steigerung der stationären Pflegeleistungen hervorbringen wird, und zwar bis zu 25 Prozent. Diese Steigerung wird zu verschiedenen Problemen führen. Erstens. Die Vorrangigkeit der ambulanten Pflege – das heißt, unsere Eltern dürfen in gewohnter Umgebung, zu Hause in Würde altern – wird durch dieses Gesetz konterkariert; denn dieses Gesetz bevorzugt die ambulante häusliche Pflege nicht. Es bevorzugt die stationäre Pflege. Dabei ist es gerade die häusliche Pflege, verbunden mit der Liebe zu unseren Eltern, die unserer Gesellschaft ihren humanen Rückhalt gibt. Das ist entscheidend. ({1}) Warum wir den Vorrang der ambulanten Pflege verlassen, wenigstens wirtschaftlich verlassen, das bleibt bisher völlig im Dunkeln. Gerade die Kinder dieser Eltern, die zu Hause bleiben, tragen die Hauptlast der Pflege und hätten es verdient, von der Gesellschaft anerkannt und besser gefördert zu werden. ({2}) Aber es gibt noch ein zweites großes Problem. Wir wissen es, die Kommunen sagen es: Unter der Last der Finanzierung dieses Gesetzes werden viele Kommunen zusammenbrechen. ({3}) Der Gesetzentwurf rechnet mit Kosten für den Bund von circa 24 Millionen Euro. Machbar. Den Kommunen werden 300 Millionen Euro aufgelastet. Im Rahmen der Anhörung sprachen die Sachverständigen von Kosten von rund einer halben Milliarde Euro, und das zu Anfang. Wenn die Kommunen dann pleite sind, haben wir neben der Pflege die nächste große Herausforderung in unserer Gesellschaft, das nächste große Problem. Drittens. Wir müssen uns folgendem Problem stellen: Bei einem Aufwuchs des Bedarfes der stationären Pflege, verbunden mit dem Altern unserer Gesellschaft, müssen wir uns fragen: Wo sind die Pflegekräfte, die wir dann brauchen? Wo sind die Heime, die Heimplätze, die wir brauchen? Wer trägt die Kosten dieser notwendigen Investitionen? Das sind die Fragen, die heute auch anstehen, wenn wir über dieses große Gesetz sprechen wollen. In einer Gesamtschau sieht es wie folgt aus: Es wird die ambulante Pflege de facto mal wieder außen vor gelassen. Es gibt eine Einkommensgrenze, die völlig unflexibel ist und kein Vermögen berücksichtigt. Da werden Ungerechtigkeiten bei der Bewertung von Einkommen bei Beamten und Selbstständigen zugelassen. Da wird ein Gesetz vorgelegt, ohne dass die Finanzierung steht. Auch wenn das Thema viel zu ernst ist, ich muss es sagen: Hier wird einfach ins Blaue hinein eines Ihrer Gute-Laune-Gesetze verabschiedet. Ich sage Ihnen: Um die Realität müssen sich dann irgendwelche anderen kümmern. Wir sind der Meinung: Setzen Sie sich noch einmal hin, machen Sie Ihre Hausaufgaben, kümmern Sie sich um die Finanzierung und um die Ausgestaltung! Bis dahin können wir diesem Gesetzentwurf in dieser Form nicht zustimmen. Wir werden uns enthalten. Danke schön. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner: für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Wilfried Oellers. ({0})

Wilfried Oellers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004365, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beraten heute das Angehörigen-Entlastungsgesetz und damit ein Gesetzespaket, mit dem im ersten Punkt die Angehörigen von zu pflegenden Personen sehr stark entlastet werden. Die Einkommensgrenze von 100 000 Euro brutto im Jahr wurde schon genannt. Den Worten von Minister Heil kann ich mich nur anschließen, was die Umschreibung der gesamten Thematik betrifft. Ich möchte in diesem Zusammenhang auf zwei Punkte eingehen, die mir wichtig sind. Herr Pohl hat gerade geschildert, dass – angeblich – die stationäre Pflege gegenüber der ambulanten Pflege bevorteilt werden soll. Das ist nicht der Fall. ({0}) Im Ausschuss ist er sogar noch weitergegangen und hat gesagt, die ambulante Pflege sei von dem Angehörigen-Entlastungsgesetz gar nicht erfasst. Auch das stimmt nicht, weil wir hier im Rahmen der Hilfe zur Pflege sowohl die ambulante als auch die stationäre Pflege meinen. Und das ist im Gesetz ausdrücklich so erwähnt. ({1}) Eine Bevorteilung kann ich hier nicht sehen. Das weisen wir an dieser Stelle auch ausdrücklich zurück, da wir die ambulante Pflege als wesentlichen Teil der Pflege für notwendig halten. Zur angesprochenen Thematik der finanziellen Belastung der Kommunen. Ja, es ist richtig, dass die Kommunen diese Kosten zu tragen haben. Aber ich weise auch darauf hin, dass wir im Ausschuss gerade übereingekommen sind, dass wir eine wissenschaftliche Evaluation bis 2025 anstreben, in der wir uns die Entwicklung dieser Kosten ganz genau anschauen werden. Wenn es nötig ist, wird da entsprechend nachjustiert. Ich will auch darauf hinweisen, dass wir in der jüngsten Vergangenheit, insbesondere in der letzten Legislaturperiode, die Kommunen massiv finanziell entlastet haben. Und wenn es an dieser Stelle wieder nötig ist, werden wir das auch tun und uns dafür einsetzen. ({2}) Ein weiterer Punkt, der wichtig ist, ist die Entfristung der Mittel zur Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung. In der jüngsten Vergangenheit wurde in meinem Wahlkreis eine entsprechende Stelle der EUTB eingerichtet. Sie ist ein wesentlicher Baustein des Bundesteilhabegesetzes, damit man im Rahmen der gesamten Förderprogramme, die es gibt, einen Kompass hat und richtig beraten wird. Ein wichtiger Punkt, den wir im Rahmen der parlamentarischen Beratungen aufgenommen haben, ist die Ergänzung des § 134 Absatz 4 SGB IX. Es geht dabei um die Thematik der Personenzentrierung und insbesondere um Minderjährige, die in Wohngruppen leben. Hier hätten wir nach dem Bundesteilhabegesetz wahrscheinlich die Situation – so ist es uns auch von vielen Sachverständigen bestätigt worden –, dass die Minderjährigen mit Eintritt der Volljährigkeit in ein anderes System kommen und dann nicht mehr in Wohngruppen untergebracht sein könnten. Um gerade diesen wichtigen Bereich des Übergangs zur Volljährigkeit, in dem bestimmte Lebensabschnitte, zum Beispiel eine Ausbildung, beendet werden, keine Unruhe in das Leben der jungen Menschen zu bringen, war es uns wichtig, diesen Bereich des Übergangs zur Volljährigkeit fließend zu gestalten, sodass, wenn ein Minderjähriger in einer Wohngruppe volljährig wird, der Übergang in das nächste System in einem Zeitraum von drei Jahren erfolgen kann. Voraussetzung ist hierbei natürlich, dass die Jugendlichen ununterbrochen in den Wohngruppen gelebt haben. Ein ganz besonderer Teil ist das Budget für Ausbildung. Das ist uns gerade als Ergänzung zum bereits beschlossenen Budget für Arbeit ganz wichtig. Wir ziehen hier eine logische Konsequenz und sorgen dafür, dass die Jugendlichen mit einer Beeinträchtigung finanziell unterstützt werden und auch auf dem ersten Arbeitsmarkt eine Ausbildung absolvieren können. ({3}) Wir hätten uns im parlamentarischen Verfahren gewünscht, dass wir den Anwendungsbereich etwas weiter hätten fassen können. Ich hatte das auch in meiner Rede zur ersten Lesung erwähnt; aber wir mussten im Rahmen des parlamentarischen Verfahrens feststellen, dass das nicht ganz so einfach ist. Deswegen sind wir übereingekommen, dass wir diese Fragen sofort im Anschluss an dieses Gesetzgebungsverfahren noch mal in Ruhe debattieren werden und auch einen entsprechenden Ergänzungsgesetzentwurf einbringen werden, der den Personenkreis insbesondere auf diejenigen ausweitet, die in den Werkstätten tätig sind. Personen, die auf dem ersten Arbeitsmarkt tätig waren, sollen, wenn sie in eine Werkstatt kommen, auf das Budget für Ausbildung zurückgreifen können.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Kommen Sie bitte zum Ende.

Wilfried Oellers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004365, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sofort, Herr Präsident. – Die Zusammenarbeit der Träger der Eingliederungshilfe mit der BA soll besser gestaltet werden. Insbesondere soll direkt anschließend an das Budget für Ausbildung ein Budget für Arbeit möglich sein.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege. ({0})

Wilfried Oellers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004365, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dieser Übergang soll einfach, unkompliziert und unbürokratisch erfolgen. Das sind Dinge, die wir hier noch angehen wollen. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Kollege Jens Beeck ist der nächste Redner für die FDP-Fraktion. ({0})

Jens Beeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004666, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste des Hauses! Kernstück des Gesetzes ist die Entlastung von Angehörigen mit einem Jahreseinkommen von bis zu 100 000 Euro. Die Freien Demokraten begrüßen das ausdrücklich. ({0}) Es muss ein Ende haben, dass Menschen, die sich lange Zeit um ihre Angehörigen gekümmert haben, dann, wenn eine stationäre Versorgung oder eine ambulante Unterstützung durch Pflegedienste erforderlich wird, Angst um die eigene finanzielle Existenz haben müssen. ({1}) Das betrifft sowohl Menschen in Pflegeeinrichtungen als auch Menschen mit Behinderung in Einrichtungen der Eingliederungshilfe. Wie gesagt, wir unterstützen das ausdrücklich. Aber: Besser wäre es, nicht nur dieses Gesetz zu verabschieden, sondern auch die Finanzverantwortung dorthin zu legen, wo das Gesetz verabschiedet wird. Diese Finanzlast den Kommunen aufzubürden, ist grundfalsch, ({2}) weil es sich um eine nationale Aufgabe handelt, für die der Bund die Verantwortung tragen muss. Es ist auch deswegen falsch, weil wir die Kommunen bereits durch andere Gesetzgebungsvorhaben, beispielsweise im Bereich des Bundesteilhabegesetzes, stark belastet haben. Ich bin mir aber sicher, dass über den Umweg des Vermittlungsausschusses auch dieses Gesetz noch eine Verbesserung erfahren wird. ({3}) Ich komme damit zu den weiteren inhaltlichen Punkten. Die Bundesregierung repariert mit diesem Gesetz weitere lange bekannte offene Baustellen im Bereich des SGB IX-neu endlich; aber sie verpasst mit diesem letzten Gesetz, das zum 1. Januar 2020 Rechtswirksamkeit erlangen wird, auch die Gelegenheit, eine ganze Reihe weiterer offener Baustellen zu beseitigen. Die massiven Verwerfungen, die zum 1. Januar 2020 drohen, sehr geehrter Herr Bundesminister Heil, werden damit in großen Teilen nicht adressiert. Was geschieht mit den Menschen, die zum 1. Januar 2020 keinen Antrag – keinen weiteren Antrag – auf Grundsicherung gestellt haben? Was passiert, wenn sie das möglicherweise im Februar oder März auch noch nicht getan haben, in der Systematik unseres Sozialrechts? Wann wird den Einrichtungen endlich rechtssicher vorgelegt, welche Flächen, welche Dienstleistungen und welche Tätigkeiten der Eingliederungshilfe nach dem SGB IX zuzuordnen sind und welche der Existenzsicherung nach dem SGB XII? Bis heute ist das an vielen Stellen unklar. Sie adressieren bis heute nicht die Sorgen der Betroffenen und der ehrenamtlichen und hauptamtlichen Betreuer, die immer noch nicht wissen, wie die Herausforderungen der vielen erforderlichen neuen Vertragsschlüsse zum 1. Januar 2020 und wie die Begleitung im Rahmen der Teilhabe- und Gesamtplanverfahren von ihnen eigentlich bewältigt werden sollen – mit der Folge, dass unsere Familiengerichte reihenweise Kündigungen von gerichtlich bestellten Betreuungen zum 31. Dezember dieses Jahres haben. Auch das ist nicht gelöst. Heute Nachmittag haben Sie die Chance verpasst, in der umsatzsteuerrechtlichen Frage zu verhindern, dass Mittagessen in den Einrichtungen der Eingliederungshilfe nicht nur unterschieden werden müssen nach Einkauf von Ware und Zubereitung von Essen. ({4}) Das eine ist SGB XII, das andere ist SGB IX. Vielmehr soll der eine Teil, der dem SGB XII zugeordnet ist, jetzt auch noch umsatzsteuerveranlagt werden. Auch das kann ja nicht Ihr Ernst sein. ({5}) Keine dieser Fragen haben Sie geklärt. Die Situation in den Ländern ist ebenso konfus, weil das Gesetz so kompliziert ist. Deswegen ist das alles nicht der große Wurf. ({6}) Sie, Herr Bundesminister, haben das Budget für Ausbildung angesprochen. Auch das unterstützen wir ausdrücklich, aber Sie bilden es im Grunde dem Budget für Arbeit nach, das älter ist und von dem wir wissen, Herr Kollege Oellers, dass es nicht funktioniert. Sie haben gerade gesagt, Sie wollten da nachbessern. Das ist im Grundsatz und in der Sache löblich. Nur, nachdem Sie im Koalitionsvertrag vereinbart haben, das Budget für Arbeit einzuführen, in dieser Wahlperiode zweimal einen Anlauf unternommen und es nicht hinbekommen haben, ist es auch keine so ganz große Leistung, dass Sie jetzt selbst sagen müssten, Sie müssen an der Stelle noch einmal nachbessern. Ich komme zum Ende, Herr Präsident. Das Gesetz hat ein paar richtige Ansätze, aber ganz viele Dinge lösen Sie leider nach wie vor nicht. Damit gilt das, was bei Gesetzen, die Sie für Menschen mit Behinderung machen, häufig gilt. Sie haben den richtigen Willen, Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 Grundgesetz und die Behindertenrechtskonvention gemeinsam umzusetzen, aber es fehlt Ihnen an der richtigen Methodik, das auch so zu tun, dass das bei den Menschen ankommt. Das ist schade. Deswegen ist das Gesetz nicht zustimmungsfähig. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist für die Fraktion Die Linke der Kollege Matthias Birkwald. ({0})

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Alles wird besser, aber nichts wird gut“, sang Tamara Danz von der DDR-Rockband Silly. Irgendwie gilt das auch für das Angehörigen-Entlastungsgesetz; denn jede Regelung in diesem Gesetzentwurf hat eine weiße und eine schwarze Seite. Doch die Seiten sind nicht im Gleichgewicht – leider. Einige Beispiele: Erstens. Ja, Sie heben die Grenze für den Unterhaltsrückgriff auf 100 000 Euro an. Und das ist gut. Aber Sie heben sie nicht auf, so wie man das in den Niederlanden oder in Österreich getan hat. Die Grundsatzdebatte über den Elternunterhalt, die seit 2014 ernsthaft gefordert wird, fällt wieder aus. Und das ist schlecht. ({0}) Und das, obwohl wir über ein Prinzip aus dem Jahr 1900 reden! Das ist so, als würde immer noch gelten, dass Blutsbande und der Zufall der Geburt mehr Bedeutung hätten als gelebte Werte. Zweitens. Sie entlasten Angehörige, aber nicht die Betroffenen mit Beeinträchtigungen. Weder werden die Pflegekosten für alle Menschen mit Pflegebedarf solidarisch und vollumfänglich finanziert, noch wird die Grenze für den Unterhaltsrückgriff für die Menschen mit Behinderungen selbst ebenfalls auf 100 000 Euro angehoben. Und das ist schlecht. Dabei wäre das immerhin ein Übergangsschritt hin zu einkommens- und vermögensunabhängigen Leistungen. ({1}) Und es bleibt leider dabei. Durch dieses Gesetz wird es keinen einzigen Menschen weniger geben, der Sozialhilfe beantragen muss. Drittens. Sie entlasten schätzungsweise 30 000 Angehörige im Rahmen der Hilfe zur Pflege; aber die mehr als 3 Millionen pflegenden Angehörigen warten weiter auf soziale Sicherung. Und das ist schlecht. Sie entlasten, viertens, pflegende Eltern volljähriger Kinder mit Behinderungen. Gut. Die pflegenden Eltern minderjähriger Kinder dagegen entlasten Sie nicht. Schlecht. ({2}) Denn Sie wissen um die Gefahr: Das würde die Heranziehung von Einkommen und Vermögen in der Eingliederungshilfe grundsätzlich kippen. Nicht einmal die Minimalvorschläge aus der Anhörung für diese Eltern – mehr Kinderkrankentage oder längerer Elterngeldbezug – greift Ihr Gesetzentwurf auf. Fünftens. Ja, Sie schaffen ein Budget für Ausbildung, aber Sie fassen den berechtigten Personenkreis viel zu eng. Diese Leistung muss unseres Erachtens beispielsweise wegen der Inklusionsverpflichtung der UN-Behindertenrechtskonvention schon vor dem Eintritt in eine Werkstatt greifen. ({3}) Sechstens. Sie entfristen die Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung, aber Sie dynamisieren die Leistungsbeträge für dieses Erfolgsmodell nicht, und Sie senken die ursprünglich vorgesehene Finanzierung sogar ab. Das ist ganz schlecht. ({4}) Siebtens. Mehr Menschen werden ihr Recht auf Sozialhilfe auch nutzen. Das ist nur gerecht. Aber auch die Nachfrage nach professionellen Pflegeleistungen wird wachsen, auch durch dieses Gesetz. Doch bei den Kosten dafür mauert die Regierung und rechnet klein. Das Risiko dafür sollen die Kommunen tragen, und wenn sie das nicht können, bleiben nur private Investitionen. Dabei könnten Sie, meine Damen und Herren, über eine Vermögensteuer Reiche endlich wirklich in die Verantwortung nehmen. Das wäre einmal ein guter Anfang. ({5}) Nicht einmal die vom Bundesrat geforderte Kostenevaluation wird kommen. Achtens. Sie setzen den Koalitionsvertrag um, aber die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen setzen Sie nicht um. Und eine bedarfsdeckende Pflegefinanzierung führen Sie auch nicht ein. Dabei wäre die dringend nötig. Alle, auch wir Linken, wollen unterhaltsverpflichtete Töchter und Söhne sofort und wirksam entlasten, aber nicht nur diese. Das allein ist nämlich zu wenig. Wieder verpassen oder verbauen Sie eine Chance, etwas gut zu machen. Sie regeln immer nur das Nötigste, immer nur ein Stück und immer nur für kleine Gruppen. Es fehlt der Entwurf für alle Betroffenen, für alle Menschen mit Pflegebedarf, für alle pflegenden Angehörigen und für alle Menschen mit Behinderung. Deshalb wird sich Die Linke bei diesem Gesetz enthalten. ({6}) Dem Grünenantrag stimmen wir zu, weil da vieles drinsteht, was wir selber fordern. Insofern: Schönen Abend noch! Danke schön. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort die Kollegin Corinna Rüffer. ({0})

Corinna Rüffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004390, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Einen schönen guten Abend an alle! Sehr geehrter Herr Präsident! Wir werden – ich nehme es vorweg – dem Gesetz zustimmen, weil es natürlich richtig ist, Familien zu entlasten, die Angehörige pflegen, unterstützen und für sie da sind. Das steht, glaube ich, außer Zweifel. ({0}) Aber das, was wir heute Abend tun, ist ein bisschen so, als würden wir nur einen Regenschirm aufspannen, obwohl es ganz viele andere Gruppen gibt, die weiter im Regen stehen, und das ist ein Riesenproblem. Wir hatten am Montag eine Anhörung. Da haben wir über diese Gruppen geredet, die immer noch im Regen stehen werden. Das sind unter anderem Eltern minderjähriger behinderter Kinder. Da hat eine Sachverständige geschildert, wie das so ist, wenn man Kinder zu pflegen hat, die behindert sind: Man muss sie medizinisch versorgen. Man muss ihnen das Essen reichen. Man kann nachts nicht schlafen, weil man sie umbetten muss. Man muss die Therapien sicherstellen, und man muss tagsüber darum kämpfen, dass die Therapien weitergehen und dass das finanziert wird, was diese Kinder zum Leben brauchen. Das ist natürlich belastend, das ist eine Knochenarbeit, und es hindert viele Menschen daran, einer Erwerbsarbeit nachzugehen. Wer die finanziellen Folgen zu tragen hat, das können wir uns alle vorstellen. Es sind trotz all der liebenden Väter, die das auch tun, in allererster Linie die Mütter, die das zu zahlen haben, die diesen Aufwand zu betreiben haben. Ich weiß, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, dass Sie das auch sehen. Sie haben vor einiger Zeit ein Papier vorgelegt, in dem Sie Vorschläge gemacht haben, diese solidarische Entlastung für Familien zu erbringen. Wir hoffen, dass wir in diesen Prozess der Diskussion miteinander einsteigen können, auch vor der Debatte, die wir führen um die Frage der Ausweitung der Pränataldiagnostik. Ich finde, es ist eine ganz existenzielle Frage für unsere Gesellschaft, wie wir als Menschen miteinander in Zukunft zusammenleben wollen. ({1}) Wir sollten uns auch mit der Situation erwachsener behinderter Menschen beschäftigen, die einer Erwerbstätigkeit nachgehen, weil für die nämlich ganz andere Grenzen gelten. Für die gilt nicht eine Grenze von 100 000 Euro, sondern nach derzeitigem Stand eine Grenze von 30 000 Euro. Das sind Leute, die in der Regel nicht nur in einer bestimmten Lebensphase auf Pflege und auf Unterstützung, auf Assistenz angewiesen sind, sondern ein ganzes Leben lang. Auch dazu haben wir in der Anhörung am Montag Erhellendes gehört, so zum Beispiel: Wenn der Gesetzgeber schon nicht einkommens- und vermögensunabhängige Teilhabeleistungen anbietet, dann möge er doch bitte eine einheitliche Einkommensgrenze, und zwar für alle – für Angehörige, für Eltern und eben Menschen mit Behinderungen –, einziehen. Das wäre mindestens geboten auf dem Weg dahin, diese Anrechnung von Einkommen und Vermögen gänzlich zu streichen. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir wirklich – das setze ich einmal voraus – eine solidarische Entlastung erreichen wollen, dann reicht es eben nicht, diesen einzelnen Regenschirm aufzuspannen, sondern dann brauchen wir wesentlich mehr. Dann, sage ich einmal als Grüne, brauchen wir in diesem Fall tatsächlich einen Klimawandel, um unsere Gesellschaft inklusiv zu gestalten. Dann müssen wir radikal diese Gesellschaft verändern. ({3}) Das heißt zum Beispiel, Unterstützungssysteme systematisch und verlässlich zur Verfügung zu stellen. Sie wissen alle aus Ihren Wahlkreisen, dass sich Familien melden, dass sich Menschen mit Behinderungen selbst an Sie wenden und sich darüber beklagen, dass sie in Behörden schlecht behandelt werden. Das muss sich ändern. Da müssen wir alle sagen: Das ist nicht in Ordnung; diese Frage müssen wir angehen, damit hier gleichberechtigte Teilhabe stattfinden kann. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.

Corinna Rüffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004390, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das mache ich. – Deshalb bitte ich Sie, unserem Antrag zu 10 Jahren UN-Behindertenrechtskonvention Ihre Zustimmung zu geben; denn genau diese Frage der Verlässlichkeit des Sozialstaates sprechen wir hierin an. Ich freue mich darauf, dass wir darüber diskutieren werden, um endlich weiterzukommen bei der Entwicklung einer inklusiven Gesellschaft. Einen schönen Abend noch! Danke. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner: für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Peter Aumer. ({0})

Peter Aumer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004004, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Angehörigen-Entlastungsgesetz verabschieden wir heute ein richtiges Familienentlastungsgesetz. Die Unterhaltsheranziehung von Angehörigen für ihre Eltern oder Kinder greift in Zukunft erst bei einem Einkommen von über 100 000 Euro. Das nenne ich ein starkes Signal. Mit diesem Gesetz wird die Handschrift der CSU in dieser Koalition deutlich. Wir haben den Unterhaltsrückgriff in den Koalitionsvertrag verhandelt und erfüllen heute dieses Versprechen, das wir den Menschen im Bundestagswahlkampf gegeben haben. ({0}) Meine Damen und Herren, das ist verlässliche Politik der Großen Koalition. Ich denke, bei solchen Themen, meine Herren der FDP – zum großen Teil Herren –, ist die Partei fast egal; aber ich glaube, man sollte doch auch sagen, wer es auf den Weg gebracht hat. ({1}) Herr Pohl, wenn ich schon bei der Opposition bin: Spielen Sie doch bitte nicht stationäre und ambulante Pflege gegeneinander aus. Das wird den schweren Entscheidungen der Angehörigen nicht gerecht. ({2}) Pflege ist eine der wichtigsten gesellschaftspolitischen Herausforderungen unserer Zeit. Das Angehörigen-Entlastungsgesetz hilft Pflegebedürftigen, aber auch Angehörigen: den Pflegebedürftigen, weil ihnen eine optimale Betreuung gewährleistet werden kann, und den Angehörigen, denn für sie ist die Finanzierung der Pflege oftmals ein großer finanzieller Kraftakt. In meinem Wahlkreis, liebe Kolleginnen und Kollegen, werde ich wahrscheinlich genauso oft wie Sie auf dieses Thema angesprochen. Es bewegt nicht nur die direkt Betroffenen, sondern auch deren Freunde, Bekannte und Kollegen. Jeder, der heute schon einen Pflegefall in seiner Familie hat, weiß, wie belastend diese Situation ist, wie fordernd und wie emotional es ist, wenn man die Pflege für seine eigenen Eltern organisieren muss. Das kann die Politik den Menschen zwar nicht abnehmen, aber wir können dafür sorgen, dass dazu nicht auch noch große finanzielle Sorgen kommen. Wir nehmen die Sorgen und Nöte der Menschen in der Großen Koalition ernst. Deshalb heute auch dieses Angehörigen-Entlastungsgesetz. ({3}) In diesem Gesetz geht es aber um mehr. Wir erweitern das Bundesteilhabegesetz um ein Budget für Ausbildung. In meinen Augen ist das die logische Konsequenz unseres bisherigen Handelns, nachdem wir das Budget für Arbeit eingeführt haben. Das Budget für Ausbildung umfasst zum einen die Erstattung der gesamten Ausbildungsvergütung und zum anderen die Aufwendungen für die wegen der Behinderung erforderliche Anleitung und Begleitung am Arbeitsplatz oder in die Berufsschule. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Menschen mit Behinderungen dadurch einen besseren Zugang zur Ausbildung bekommen, dass sie mehr Begleitung bekommen, um eine Ausbildung abzuschließen, und dadurch auch besser in den Arbeitsmarkt integriert werden können. Meine sehr geehrten Damen und Herren, zum Schluss verstetigen wir auch noch die Mittel für die Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung, eine ganz wichtige Stütze des Bundesteilhabegesetzes. Ich weiß das aus meinem Wahlkreis. Wir haben auch eine solche Beratungsstelle. Ich weiß, wie wichtig diese zusätzliche Beratung für Menschen mit Behinderungen ist, vor allem, weil dort auch Menschen mit Behinderungen beraten. Deswegen ist es gut, wichtig und richtig, dass wir diese Mittel verstetigen. Deswegen bitte ich Sie alle, diesem Gesetzentwurf zuzustimmen, zum einen, um die Angehörigen zu entlasten, wenn es um das Thema Pflege geht, zum anderen aber auch, um die Chancen von Menschen mit Behinderungen am Arbeitsmarkt zu verbessern. Meine sehr geehrten Damen und Herren, herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Angelika Glöckner das Wort. ({0})

Angelika Glöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Ich hoffe so sehr auf die Verabschiedung des Angehörigen-Entlastungsgesetzes.“ Eine E-Mail mit diesen Worten erreichte mich vor zwei Tagen von einer Bewohnerin aus Zweibrücken, einer Stadt in meinem Wahlkreis. Sie schilderte mir, dass sie eine 89-jährige Schwiegermutter mit Pflegegrad 5 hat, schwer dement. Sie sei in einer Einrichtung, werde dort gepflegt. Sie selbst könne sie nicht pflegen, weil sie ebenfalls sehr schwer erkrankt ist. Nun sei auch ihr Ehemann erkrankt. Man weiß noch nicht genau, ob er, wenn er zurückkommt, nicht auch pflegebedürftig werde. Weiter fragt sie: Was ist, wenn er nun auch zum Pflegefall wird? Wir haben beide 47 Jahre gearbeitet und in die Rentenkasse eingezahlt. Ich werde die Debatte verfolgen, schreibt sie mir, und hoffe auf ein positives Resultat. – Ich finde, diese Schilderung zeigt sehr eindrucksvoll, wie notwendig es ist, dass wir heute das Angehörigen-Entlastungsgesetz beschließen. ({0}) Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist es eines der wichtigsten Gesetze dieser Wahlperiode; denn genau dieser Fall zeigt auf, welche Bedeutung dieses Gesetz für viele Menschen in unserem Land hat. Was beschließen wir heute genau? Ich will das an drei Punkten erörtern. Erstens. Wir entlasten die Eltern und Kinder von pflegebedürftigen Angehörigen in Einrichtungen mit weniger als 100 000 Euro Jahresbruttoeinkommen. Künftig wird es keine Rückgriffsmöglichkeit der Sozialhilfeträger mehr geben. Zweitens. Die Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung werden wir ab 2023 entfristen, und wir stocken die Haushaltsmittel auf 65 Millionen Euro auf. Damit schaffen wir die Basis, dass diese wichtigen Beratungsstellen landauf, landab ausgebaut und weiterentwickelt werden. Es war gerade uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ein wichtiger Aspekt – das wurde schon gesagt –, ({1}) dass Menschen in schwierigen Lebenslagen genau diese professionelle Beratung erhalten. Drittens. Es freut mich auch sehr, dass wir das Budget für Ausbildung schaffen und erstmals die Möglichkeit einräumen, dass außerhalb von Werkstätten wichtige Unterstützungen bei der Ausbildung eingeräumt werden. ({2}) Sie sehen: Wir gehen weitere wichtige Schritte, um Menschen mit Behinderungen und ihren Angehörigen Teilhabe in Arbeit und Gesellschaft zu ermöglichen und um sie zu entlasten. Sehr geehrte Mitbewohnerin aus Zweibrücken, aus meinem südwestpfälzischen Wahlkreis, wenn Sie am Bildschirm sitzen: Ja, heute werden wir dieses Gesetz beschließen. ({3}) Auf Wunsch der Länder und der Einrichtungen – Herr Oellers hat es, glaube ich, erwähnt – werden wir für junge Erwachsene im Alter von 18 bis 21 Jahren ausnahmsweise die Hilfen nicht aufsplittern. Wir werden sie weiterhin als Komplexleistung gewähren. Das vermindert den bürokratischen Aufwand für diese Einrichtungen und damit auch das Risiko, dass die Jugendlichen nicht aus den Einrichtungen entlassen werden und sinnvolle pädagogische Maßnahmen abbrechen müssen. Das wollten wir auf jeden Fall verhindern. Zu den kommunalen Vertretern. Ja, sie haben auch in der Anhörung diesen Gesetzentwurf durchweg bevorzugt und befürwortet. Wir werden – das wurde auch gesagt – 2025 wissenschaftlich begleitete Lösungsansätze evaluieren. Wir denken, dass wir wichtige Lösungsansätze bis dahin finden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich finde, es ist ein eindrucksvolles, ein sehr wichtiges, ein sehr gutes Gesetz. Zum Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, die einen 10-Punkte-Plan fordern, habe ich einiges auf meinem Blatt Papier stehen, aber meine Zeit ist abgelaufen. ({4}) – Die Redezeit ist abgelaufen. – Er enthält viele wichtige Hinweise. Er ist aber sehr schwer realisierbar und nicht umsetzbar. Einen Punkt möchte ich noch ganz kurz aufgreifen.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Frau Glöckner.

Angelika Glöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Was wir gar nicht befürworten, ist, dass Sie dafür stehen, dass Werkstätten abgeschafft werden. Das ist nicht unser Ding. Ansonsten bitte ich Sie: Stimmen Sie diesem Gesetzentwurf zu. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Thomas Heilmann für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Thomas Heilmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004741, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Lieber Hubertus Heil! Meine Damen und Herren auf der Tribüne, an den digitalen Endgeräten und hier im Saal! Alle Redner der letzten 30 Minuten haben die großen Vorteile dieser Entlastung für die Familien betont. Auch die Opposition stimmt entweder zu oder enthält sich wenigstens, auch wenn sie natürlich weitergehende Forderungen hat. Es stellt sich die Frage: Ist alles gut? Da muss man leider sagen: Nicht ganz. Was hier nach großer Einigkeit aussieht, verdeckt doch mindestens zwei, drei Differenzen, auf die ich hier gerne eingehen möchte. Insbesondere möchte ich auf meine Vorredner eingehen. Frau Glöckner, den Wunsch Ihrer Bürgerin aus Ihrem Wahlkreis kann ich nur teilen. Aber dieser Appell richtet sich vor allen Dingen an die FDP und die Grünen, die diesem Gesetzentwurf offensichtlich hier wie auch im Ausschuss zustimmen wollen. Aber meine lieben Kollegen von der FDP und den Grünen, das ist nicht viel wert. ({0}) Der eigentliche Lackmustest findet im Bundesrat statt. Ob Sie hier zustimmen oder nicht, ist den Betroffenen weitgehend egal. Die Frage, ob Sie den Vermittlungsausschuss anrufen oder dem Gesetz zustimmen, ist für die Bürgerin in Zweibrücken und alle anderen Betroffenen die entscheidende Frage. ({1}) Den Lackmustest begründen Sie mit der Frage der Finanzierbarkeit. ({2}) Dazu muss man erst einmal wissen, dass wir in 14 Tagen einen Haushalt verabschieden und wir den Kommunen wieder eine Rekordsumme von mehr als 31 Milliarden Euro überweisen werden. Das tun wir übrigens die ganze Zeit. Diese Große Koalition hat in den letzten beiden Legislaturperioden nichts mehr gemacht, als die Kommunen unterstützt. ({3}) Nun sind die Schätzungen, was das die Kommunen wirklich kostet, unterschiedlich. Aber wir reden von einer Größenordnung von 1 bis 2 Prozent dieser großen Summe. Wir tun also so, als wenn die Kommunen plötzlich eine außerordentliche Last tragen. Das eigentliche Thema ist: Ganz viele Bundesländer geben Geld, das wir ihnen geben und das für die Kommunen gedacht ist, nicht an die Kommunen weiter. ({4}) Meine Damen und Herren, ich finde, dieser Vorgang, dass Sie das machen und dann sagen, mit den Stimmen Ihrer Vertreter im Bundesrat schicken wir das Gesetz in den Vermittlungsausschuss, gehört ans Licht der Öffentlichkeit, weil Sie letztlich die Angehörigen als Geiseln nehmen, um im Bundesrat nicht zuzustimmen. Ehrlich gesagt finde ich, dass Sie dann hier auch nicht zustimmen können. ({5}) In der verbleibenden Zeit, Herr Birkwald, kann ich nicht lange auf Sie eingehen, aber eines verstehe ich bei Ihrer Kritik wirklich nicht – jetzt hört er nicht zu –: Herr Birkwald, Sie wollen, dass Steuergelder von Leuten, die weniger als 100 000 Euro bezahlen – das ist die Masse der Steuerzahler –, dafür verwandt werden und dass Leute, die mehr als 100 000 Euro bekommen, Solidarbeiträge bezahlen. Und das von der Linkspartei. Das verstehe, wer will. Natürlich ist eine Einkommensgrenze in diesem Zusammenhang total sinnvoll. ({6}) Letzter Punkt, Herr Pohl. Sie haben es im Ausschuss zweimal gesagt, Sie haben es in der Anhörung gesagt. Jedes Mal ist Ihnen gesagt worden: Es gilt genauso für die ambulante Pflege wie für die stationäre. Es gibt keine Bevorzugung. Wie Sie jetzt wieder sagen können, es gäbe eine Bevorzugung der stationären Pflege, ist mir schlicht schleierhaft. Ich weiß auch nicht, wie man das seriöse Politik nennen kann. ({7}) Obwohl Sie es im Gesetzentwurf nachlesen können, obwohl es Ihnen die Sachverständigen sagen und wir alle es Ihnen im Ausschuss sagen, wiederholen Sie es hier einfach. ({8}) Ehrlich gesagt: Wie wäre es mit einer Alternative für Deutschland, die irgendwo auch eine Alternative ist? Das ist doch purer Populismus, den Sie hier vortragen, wider besseres Wissen. Auch das gehört leider zu den traurigen Kapiteln eines an sich sehr guten Gesetzes. Wir bedanken uns für die Zusammenarbeit bei diesem Gesetz, lieber Hubertus. Ich kann nur hoffen, dass der Bundesrat seiner Verpflichtung auch nachkommt. Vielen Dank. ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege Heilmann. – Ich schließe die Aussprache.

Steffen Kotré (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004791, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Als wir letztens hier schon eine Aktuelle Stunde zur Sanktionspolitik der USA gegen unsere Gasversorgung hatten, war erfreulicherweise klar: Die meisten Fraktionen dieses Hauses stellen sich hinter Nord Stream 2; bis auf eine Fraktion, die Grünen, aber die wollen anscheinend lieber, dass wir frieren, wenn kein Wind weht. Das kann Herr Trittin in seinem Redebeitrag gleich klarstellen; vielleicht ein bisschen klarer als beim letzten Mal. ({0}) Vor dem Hintergrund der allgemeinen Zustimmung erstaunt es mich schon, wie die Bundesregierung es hinnimmt, dass die USA sich in die inneren Angelegenheiten Deutschlands und Europas einmischt. Es ist schon ein kleines Schurkenstück, was die USA hier abliefern, nämlich exterritoriale Gesetzgebung im Kolonialstil, andere Nationen gegen Nord Stream 2 aufzuhetzen und fremde Unternehmen mit Sanktionen zu bedrohen. ({1}) Das ist schon eine Art neokolonialistische Politik, meine Damen und Herren. Merkel hatte richtigerweise festgestellt, dass Nord Stream 2 ein rein wirtschaftliches Projekt zwischen zwei Staaten ist. Da hat sich niemand einzumischen, und wenn er es doch tut, dann muss die Bundesregierung erst recht und unmissverständlich Grenzen setzen. Wir sind Partner, keine Befehlsempfänger, aber diese ganz klare Aussage fehlt. ({2}) Kommen wir zu den Argumenten gegen Nord Stream 2, die allesamt an den Haaren herbeigezogen sind. Noch einmal zur Verdeutlichung: Es geht um eine Gasleitung. Es geht um die Gaslieferung nach Deutschland und Europa. Wir bekommen Gas und nichts anderes. Wir müssen demnächst auch Lücken schließen, Lücken bei den Lieferungen der Niederländer und der Norweger, die nicht mehr liefern können wie bisher. Die Lücke wird mit 120 Milliarden Kubikmeter Gas prognostiziert. Zum Vergleich: Nord Stream 2 liefert jährlich lediglich 55 Milliarden Kubikmeter Gas, das ist nicht einmal die Hälfe. Wenn man noch weiterdenkt, dann könnte man Überlegungen anstellen, ob wir nicht gleich Nord Stream 3 projektieren wollen. Das russische Gas ist preiswert, es scheint wirklich das preiswerteste Gas auf dem Markt zu sein. Das ist ein Vorteilsgeschäft für beide Parteien. Aber kommen wir wieder zu den Argumenten. Ja, die Abhängigkeit steigt, aber die der Russen von den entsprechenden Einnahmen. Sie brauchen die gesicherten Einkünfte mehr als wir ihr Gas. Wir haben genügend, wenn auch alltagsuntauglich teure Alternativen. Im Übrigen reden wir hier von 6 Prozent des Anteils von russischem Gas am europäischen Energiemix. Und nein, die Russen haben uns noch nie im Stich gelassen. Sie haben noch nie Rohstofflieferungen als Waffe eingesetzt. Sie haben immer zuverlässig geliefert, auch zu Zeiten des Kalten Krieges, und da hätten sie sicherlich stärkere Motive gehabt, den Gashahn zuzudrehen. Russland hat uns auch noch nie erpresst. Aber das ist genau das, was die USA mit ihren Sanktionsandrohungen und mit der Aufwiegelei anderer europäischer Staaten gegen Nord Stream 2 gerade machen. Europa hat ein vitales Interesse an einer stabilen Ukraine. Aber Verhandlungen zu Transitgebühren, noch dazu von den USA instrumentalisiert, helfen an dieser Stelle nicht weiter. ({3}) Um was geht es den USA eigentlich bei ihrem Angriff auf Nord Stream 2 wirklich? Sie wollen einzig und allein ihr überteuertes Flüssiggas bei uns verkaufen, um nichts anderes geht es hier. Alles andere ist vorgeschoben. Es geht um ganz knallharte, eigensüchtige Interessen an dieser Stelle. ({4}) Die Bundesregierung ist aufgefordert, sich schützend vor die Akteure von Nord Stream 2 zu stellen. Wir erwarten von der Bundesregierung, jeden Angriff verbal und auch diplomatisch zurückzuweisen. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Mark Helfrich. ({0})

Mark Helfrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004298, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren jetzt bereits zum zweiten Mal innerhalb von fünf Monaten auf Antrag der AfD-Fraktion über dasselbe Thema. ({0}) Das ist „waste of time and waste of energy“. Aber sei’s drum: Jetzt bin ich heute hier, um erneut zu diesem Thema zu reden, und ich sage Ihnen: Deutschland braucht einen starken und unabhängigen Energiemarkt. Dieser muss Versorgungssicherheit, bezahlbare Preise und Akzeptanz zur Grundlage haben, und er muss die Einhaltung der Klimaziele von Paris gewährleisten. Wenn wir dafür Kohle- und Atomkraftwerke in Deutschland vom Netz nehmen, müssen wir die entstehenden Lücken in der Energieversorgung natürlich schließen, und dies geht nur, wenn wir in Zukunft neben dem verstärkten Ausbau der erneuerbaren Energien noch mehr auf Gas setzen. Beide werden zukünftig das Rückgrat unserer Energieversorgung bilden. Aktuell beziehen wir 40 Prozent des Erdgases aus Russland, rund 26 Prozent aus Norwegen und ebenso viel aus den Niederlanden. Magere 4 Prozent stammen aus heimischer Förderung. Deutschland ist nicht nur der weltgrößte Erdgasimporteur, nein, wir sind auch einer der größten Gasverbraucher der Welt. Das Problem ist jedoch, dass die Gasproduktion in Deutschland stark rückläufig ist. Mit dem Abschalten der Kohlekraftwerke wird unser Gasbedarf zudem weiter anwachsen. Aber nicht nur Deutschland, sondern auch die Europäische Union wird in Zukunft mehr Gasimporte brauchen als heute; denn auch die niederländische und die britische Gasförderung sind rückläufig. Im Übrigen ist der Kohleausstieg keine deutsche Erfindung, sondern wird auch in vielen anderen europäischen Ländern kommen. Wir müssen uns also die Frage stellen, wie wir unsere Energieversorgung in Deutschland und Europa zukünftig sichern wollen. Die Antwort ist eine Erhöhung der Kapazitäten für Gasimporte. Diese schaffen wir unter anderem durch Nord Stream 2. Mit deren Hilfe können jedes Jahr rund 55 Milliarden Kubikmeter russisches Gas nach Europa geliefert werden. Das wären ungefähr 40 Prozent des für Europa prognostizierten Mehrbedarfs. Natürlich wird dieses russische Erdgas von Deutschland aus dann an europäische Nachbarländer weitergeleitet. Nord Stream 2 ist damit ein wichtiger Baustein zur Lösung des europäischen und deutschen Energieproblems. Bislang wurden bereits mehr als 2 100 Kilometer der Pipeline verlegt. Das sind immerhin fast 90 Prozent. Seit der letzten Woche haben wir Gewissheit, dass Nord Stream 2 in wenigen Monaten fertiggestellt wird. Die Dänen haben nämlich den Bau der Erdgasleitung durch ihre Gewässer genehmigt. Klar ist aber auch, dass wir langfristig Erdgas durch synthetisches Gas aus erneuerbaren Quellen ersetzen müssen. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Nord Stream 2 ist eine Maßnahme, um die Energieversorgung in Deutschland zu sichern, aber beileibe nicht die einzige. Wir wollen uns nämlich nicht von nur einem Energielieferanten oder nur einer Energiequelle abhängig machen. Deshalb setzen wir in Deutschland und Europa richtigerweise auf Diversifizierung. ({2}) Diese führt zu einer kostengünstigen und zuverlässigen Erdgasversorgung und ist elementar für die Energiesicherheit in Europa. Wir Europäer brauchen daher zukünftig auch Pipelinegas aus Aserbaidschan oder aus Nordafrika. Darüber hinaus setzen wir auf eine Versorgung mit LNG, das mit Schiffen nach Europa gebracht wird. Knapp 10 Prozent der europäischen Gasimporte sind derzeit Flüssigerdgas, Tendenz steigend. ({3}) – Falsch! Das kommt aus verschiedensten Quellen. – Wir müssen daher in die europäische Terminalinfrastruktur investieren, aber vor allem in die deutsche. Und als Schleswig-Holsteiner hoffe ich natürlich, dass es auch ein LNG-Terminal in Brunsbüttel geben wird. Aber was bedeuten Nord Stream 2 und LNG neben der Versorgungssicherheit für private Haushalte und die Wirtschaft in Deutschland? Ein hohes Angebot, mehr Wettbewerb und in der Folge bezahlbare Preise für alle Gasverbraucher. ({4}) Am Ende profitiert davon der gesamte Standort Deutschland. Meine Damen und Herren, ich möchte noch kurz auf die von der AfD so dramatisierte Sanktionspolitik eingehen. Im Hinblick auf die US-amerikanischen Sanktionsandrohungen lässt sich doch eines ganz deutlich sagen: Viel Lärm um nichts. Ein entsprechender amerikanischer Gesetzentwurf steckt seit Monaten im Kongress fest. Er sieht in der Tat schwere Strafen für am Bau beteiligte Firmen vor, insbesondere für die Betreiber der hochspezialisierten Verlegeschiffe. Mit der Erteilung der letzten Genehmigung durch Dänemark und der Fertigstellung der Pipeline bis Ende des Jahres schließt sich doch das Zeitfenster für US-amerikanische Drohungen. Mit der geänderten EU-Gasmarktrichtlinie soll EU-Recht auch auf Pipelines angewendet werden, die aus Drittstaaten in der EU anlanden; dazu mehr heute Nacht auf derselben Bühne. Damit gilt die Richtlinie auch für Nord Stream 2. Daran ist per se erst einmal gar nichts verkehrt, wenngleich das auch Ausdruck der Tatsache ist, dass das Projekt in Europa tatsächlich umstritten ist. Und Sie von der AfD wissen ganz genau, dass sich die Bundesregierung in der EU sehr stark eingesetzt hat für das Projekt Nord Stream 2. Wir haben erreicht, dass wesentliche Teile der Regulierung in den Händen des Staates liegen, in dem eine Gaspipeline ankommt. Damit bleibt die regulatorische Aufsicht über Nord Stream 2 bei Deutschland. Im Übrigen muss man ganz klar sagen, dass Nord Stream 2 ein in erster Linie privatwirtschaftliches Projekt ist, das von Anfang an mit erheblichem unternehmerischem Risiko verbunden war. Ihnen von der AfD dürfte auch klar sein, dass Nord Stream 2 jetzt, da alle Genehmigungen der beteiligten Länder vorliegen, in jedem Fall fertiggestellt wird. Und das zeigt doch vor allem eines: Ihnen geht es nicht um die Energiesicherheit in Deutschland oder in Europa, es geht Ihnen auch nicht um die beteiligten europäischen Unternehmen, sondern es geht Ihnen wieder einmal um die symbolträchtige Pflege Ihrer Russland-Connection. Danke schön. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Dr. Martin Neumann. ({0})

Prof. Dr. Martin Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu später Stunde geht es um ein für Deutschland wichtiges Thema. Wie steht es um Nord Stream 2? Wir haben in der letzten Woche vernommen, dass nun die Genehmigung Dänemarks zur Durchführung des Projekts in dänischen Gewässern vorliegt. Nord Stream 2 kann also – das ist wichtig für den europäischen Markt – quasi Ende des Jahres fertiggestellt werden. Die Bundesregierung jedoch – jetzt komme ich auf sie zu sprechen – hat in Europa bei Nord Stream 2 keine gute Figur gemacht. ({0}) Es fehlen Abstimmungen mit den europäischen Partnern. Es fehlt die Einbindung wichtiger Prozesse. Das hat viel Vertrauen in Europa zerstört. Aber die AfD geht noch einen Schritt weiter. Sie will mit ihrem Antrag keineswegs Vertrauen schaffen, sondern sie will vielmehr spalten. ({1}) Mit dieser Leitung, mit dieser Pipeline Politik zu machen, ist schäbig – egal wer es tut. Und die AfD macht damit Politik. Wir, meine Damen und Herren, setzen auf einen funktionierenden Gasmarkt und vor allen Dingen auf Versorgungssicherheit. Die Leitung wird durch privates Geld finanziert und ist notwendig zum Erhalt der Versorgungssicherheit. Die Gasnachfrage wird auch in Zukunft mindestens konstant bleiben. Wir wissen aber auch, dass das europäische Angebot zurückgeht. Investitionsentscheidungen in diesem Zusammenhang wurden schon vor langer Zeit getroffen, und der Bau der Pipeline ist weit fortgeschritten. Ich verrate kein Geheimnis, wenn ich sage, dass Investoren Vertrauen und Planungssicherheit brauchen. Der Antrag der AfD setzt auf Spaltung ({2}) und ein Ende des globalen Gasmarktes. Das schafft weder Vertrauen noch Planungssicherheit. ({3}) Der Antrag der AfD ist daher obsolet. Das von der AfD Geforderte würde vielmehr zu einer weiteren Verschärfung des verbalen Schlagabtausches führen und für uns wichtige Partner verprellen. Das könnte auch für unsere Energieversorgung Folgen haben; denn die USA bleiben langfristig für uns ein wichtiger Partner, ({4}) insbesondere hinsichtlich des Imports von LNG bzw. erneuerbarem Gas. Wie funktioniert ein Gasmarkt? Weder Russland, meine Damen und Herren, noch die USA können uns ihr Gas aufzwingen. Der Marktpreis entscheidet, wo das Gas in Zukunft herkommt. Wir sind also, um das an dieser Stelle noch einmal deutlich zu sagen, weder von Russland noch von den USA abhängig. Abhängigkeiten, meine Damen und Herren, sind gerade auf dem Sektor der Energieversorgung schlimm. Diese Abhängigkeiten müssen auf jeden Fall vermieden werden. Zentral für die Zukunft der Energieversorgung ist deshalb eine möglichst hohe Diversität, also eine Vielfalt am Markt. ({5}) Diese Vielfalt ist mit Gasimporten aus Russland, den USA und vielen anderen Ländern möglich, aber auch durch die heimische Erzeugung erneuerbarer Gase. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Timon Gremmels. ({0})

Timon Gremmels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004732, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Kein „America First“ in der Energiepolitik, sondern „Europe United“ auch bei Nord Stream 2 – das ist unser Motto als SPD, meine sehr verehrten Damen und Herren, und unsere Antwort. ({0}) Ich sage Ihnen: Wir brauchen keine Belehrungen und keine Ratschläge von US-Präsident Trump. Wir brauchen aber auch keine Anträge der AfD-Fraktion, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({1}) Wir müssen uns von der AfD-Fraktion nicht sagen lassen, wie man Energiepolitik auch mit Russland macht. Es war Willy Brandt, der als Bundeskanzler im Jahre 1973 die erste Pipeline für russisches Gas in Deutschland willkommen hieß. Wir haben auch in Zeiten des Kalten Krieges dafür gesorgt, dass die Energieversorgung Deutschlands – auch mit Russland ‑funktioniert hat, meine sehr verehrten Damen und Herren. Da braucht es keine Belehrungen und keine Anträge der AfD. ({2}) Natürlich ist dieses Beispiel aus dem Kalten Krieg auch Maßstab dafür, wie wir heute mit Russland umgehen können. Es war in den 80er-Jahren so, dass oftmals die Energiediplomatie immer wieder die politische Diplomatie mit Russland unterstützte, manchmal korrigierte, manchmal ihr sogar vorausging. Das war immer auch Mittel zum Zweck und ein Weg, um mit Russland im Gespräch zu bleiben. Genau das müssen wir jetzt auch machen. ({3}) Russland ist nämlich keine lupenreine Demokratie. Russland ist auch weit weg von menschenrechtlichen Standards. Der dortige Umgang mit der LGBTI-Community und mit vielen anderen Gruppen, etwa mit Menschenrechtlern, ist nicht in Ordnung. Da müssen wir mit Russland ein ernstes Wort reden, meine sehr verehrten Damen und Herren. Da kann eine solche Pipeline auch eine wichtige Brücke sein. Das möchte ich ganz klar auch in Richtung der AfD sagen. Kommen wir jetzt aber zurück zu den Trump-Argumenten. Trump sagt doch, dass wir uns mit dieser Pipeline von Russland abhängig machen. Das Gegenteil ist doch der Fall. Umgekehrt wird ein Schuh draus. Russland ist auf die Devisen, auf das Geld aus Europa angewiesen. Ehrlich gesagt, halte ich es für richtig und besser, wenn wir russisches Gas abnehmen, als wenn sich Russland Richtung China orientieren würde. Ich glaube, das kann nicht der Weg sein, den wir gehen wollen, meine sehr verehrten Damen und Herren. Darüber hinaus ist das Argument ja auch nicht ganz ernst gemeint. Herr Trump macht sich ja nicht wirklich Sorgen und hat auch keine schlaflosen Nächte, weil er Angst hat, dass Deutschland, dass sich Europa jetzt in die Hände Putins begibt. Nein, es geht ihm doch um etwas ganz anderes. ({4}) Herr Trump möchte sein überteuertes gefracktes US-LNG nach Deutschland bringen, meine sehr verehrten Damen und Herren. Darum geht es doch Herrn Trump wirklich. ({5}) Ehrlich gesagt sollte – das muss man in aller koalitionärer Freundschaft Herrn Altmaier oder Herrn Hirte, also dem Wirtschaftsministerium, mal sagen – der Herr Altmaier in Richtung Amerika etwas deutlichere Worte finden. Aber statt dort auch kritisch zu sein und den Argumenten standzuhalten, hat er am 12. Februar 2019 zu einer deutsch-amerikanischen LNG-Konferenz eingeladen. Ich finde, das sind die falschen Signale gegenüber den USA. ({6}) Ich zitiere jetzt Sigmar Gabriel; das kommt nicht oft vor. Aber Sigmar Gabriel hat gesagt: Sanktionspolitik ist weder ein geeignetes noch ein angemessenes Instrument zur Beförderung nationaler Exportinteressen und der heimischen Energiebranche. Recht hat Sigmar Gabriel. Ich wünschte mir vom amtierenden Wirtschaftsminister auch solche klaren Signale Richtung USA, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({7}) Hinzu kommt doch, dass wir genau das in den 80er-Jahren gemacht haben. Ein Blick ins Geschichtsbuch hilft. ({8}) Auch da war es doch ganz klar so, dass die Amerikaner versucht haben, Druck auf Deutschland und Europa zu machen, damit wir weniger Gas von Russland, von der damaligen UdSSR, abnehmen. Wir waren standhaft und haben vor den Amerikanern nicht gekuscht. Das waren deutlich schwierigere Zeiten, als sie es heute sind. Insofern: Auch da erwarten wir von unserem Wirtschaftsminister einen etwas härteren Einsatz für die Interessen von Deutschland und Europa, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({9}) Ich sage Ihnen: „Europe United“, auch bei Nord Stream 2; denn es geht hier nicht um ein deutsch-russisches Projekt. Unternehmen aus fünf Ländern sind beteiligt: Russland, Frankreich, Österreich, Holland und Deutschland. Das Gas, das aus Russland kommt, fließt nur zu einem ganz kleinen Teil nach Deutschland. Viel Gas leiten wir weiter. Zwei Drittel soll von der Anlandestation in Lubmin zur österreichischen Energie-Erdgas-Drehscheibe Baumgarten transportiert und von dort nach ganz Europa umverteilt werden, meine sehr verehrten Damen und Herren. Insofern ist es ein europäisches Projekt. Ich sage Ihnen: Selbst die Ukraine und Osteuropa können davon über die sogenannte Schubumkehr profitieren. Auch von dort versorgen wir dann mit dem Gas Osteuropa und die Ukraine. Ich finde, dass wir da auch solidarisch zu unseren Freundinnen und Freunden in der Ukraine stehen sollten. Wir sind dafür, dass wir den Dialog mit der Ukraine in dieser Frage fortsetzen sollten, da wir sie als wichtiges Transitland für russisches Erdgas weiter benötigen. Deswegen bin ich froh, dass auch die Bundesrepublik Deutschland unterstützt, dass es in naher Zukunft zu einem neuen Gastransitvertrag zwischen Russland und der Ukraine kommt. Den brauchen wir ganz dringend. Dafür brauchen wir auch Investitionen in das ukrainische Gasnetz. Da stehen deutsche und europäische Unternehmen bereit, um der Ukraine an dieser Stelle zu helfen, meine sehr verehrten Damen und Herren. Ich möchte, weil ich noch zwei Minuten Redezeit habe, auch etwas zur Gasbinnenmarktrichtlinie sagen. Es ist wichtig, dass wir sie heute in nationales Recht umsetzen. Ich lese in der „Bild“-Zeitung und jetzt gerade online im „Handelsblatt“, dass dazu im Wirtschaftsausschuss angeblich etwas beschlossen worden wäre und dass wir das sozusagen in einer Nacht-und-Nebel-Aktion umsetzen wollten. Ja, meine sehr verehrten Damen und Herren, es gibt einen europäischen Konsens. Die Gasbinnenmarktrichtlinie ist im Mai dieses Jahres von 27 der 28 EU-Länder beschlossen worden. Dahinter steht Europa, meine sehr verehrten Damen und Herren. Wir müssen diese Richtlinie jetzt in nationales Recht umsetzen, damit es hier Investitionssicherheit gibt. ({10}) Es ist für einen Rechtsstaat entscheidend, dass die Unternehmen Investitionssicherheit haben, ({11}) ganz egal, ob sie aus Russland, aus den USA oder wo auch immer kommen. ({12}) Wir brauchen hier Investitionssicherheit. Deswegen wird diese Richtlinie eins zu eins umgesetzt. ({13}) Das ist gut für alle, die hier investieren, meine sehr verehrten Damen und Herren. Damit kann Nord Stream 2 fristgerecht fertiggestellt werden. Mittlerweile sind auch schon über 80 Prozent der Leitungen verlegt. Auch Dänemark hat endlich die Genehmigung erteilt. Das ist eine gute Nachricht für diese Pipeline. Ich sage Ihnen ganz klar und deutlich, auch für die Sozialdemokratie, damit da keine Missverständnisse aufkommen: Wir brauchen Erdgas, auch aus Russland, für eine Übergangszeit, um die Energiewende in Deutschland hinzubekommen. Wir haben den Kohleausstieg bis 2038. Wir haben den Atomausstieg bis 2022. Da brauchen wir für eine Übergangszeit auch Gas aus Russland. Aber klar ist: Auch dieses Gas muss perspektivisch grüner werden. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen alles Gute, und ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({14})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege Klaus Ernst. ({0})

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nord Stream 2 wird gebaut; das ist gut so. Die Dänen haben grünes Licht gegeben. Ich gehe davon aus, dass das nicht an meinem Gespräch mit dem dänischen Botschafter, das ich vor Kurzem mit ihm führte, lag. Aber das Gespräch war trotzdem interessant; denn bei diesem Gespräch – wir haben dabei die Handys weggelegt und sind in einen anderen Raum gegangen, damit keiner mithört – wurde deutlich, dass die Dänen den Bau der Leitungen so lange behindert haben, dass das nicht ganz freiwillig war, sondern da gab es schon jemanden im Hintergrund. Da muss man einfach die Realitäten sehen. Meine Damen und Herren, vielleicht war es dennoch Trump, der die Dänen dazu gebracht hat, doch zuzustimmen. Wahrscheinlich wollte er das gar nicht erreichen. Aber wenn man mit den Dänen so komisch umgeht und sagt: „Wir kaufen euch euer Grönland ab, macht da mal ein bisschen flotter“, dann kann es schon sein, dass die Dänen sauer waren und deshalb gesagt haben: So, jetzt reicht es mal mit Trump. – Wenn das so ist: Hervorragend, meine Damen und Herren! ({0}) Aber jetzt muss ich natürlich schon etwas zur AfD sagen. Ich dachte, ihr habt so einen guten Kontakt zu dem Trump. ({1}) Ich dachte, er ist irgendwie euer Kumpel, so ein Bruder im Geiste vielleicht. ({2}) Wenn das so ist, dann stellt doch keine Anträge, sondern fahrt hin und sagt ihm, er soll mit dem Unsinn der Sanktionen aufhören. Das ist wichtiger, als einen Antrag zu stellen, insbesondere zum jetzigen Zeitpunkt. ({3}) Das wäre vielleicht eine Idee. Aber, meine Damen und Herren, darüber brauchen wir uns nicht lange zu echauffieren. Nord Stream 2 wird gebaut – trotz aller Versuche der Vereinigten Staaten, trotz Drohungen gegen die Bundesrepublik, trotz Drohungen gegen Dänemark, trotz Drohungen gegen Unternehmen, die sich daran beteiligen wollen. Herr Neumann, Sie haben von der transatlantischen Freundschaft gesprochen. Ich weiß nicht, was Sie sonst für Freunde haben. ({4}) Aber wer solche Freunde wie den Trump hat, der braucht keine Feinde mehr. ({5}) Das ist doch der Zustand. Wir müssen doch langsam erkennen, dass sich an dem Verhältnis was geändert hat, dass es eben nicht die deutschen Interessen sind, die beim amerikanischen Handeln im Vordergrund stehen. Meine Damen und Herren, es ist schon viel gesagt worden, aber eins möchte ich noch mal hervorheben: die Frage der Abhängigkeit. Es wird so getan, als würden wir durch die Leitung abhängiger werden. Dann dürften wir die Leitungen gar nicht bauen. Darum geht es aber auch den Polen nicht. Ihnen geht es darum, dass die Leitungen durch ein anderes Land gebaut werden. Es bleibt dann aber russisches Gas. Also, die Abhängigkeit wäre vollkommen gleich. Es geht dabei vielmehr um etwas anderes. Da geht es einfach darum, dass die Ukrainer und auch andere gerne Transitgebühren für unser Gas nähmen. Ich habe ja nichts dagegen, dass sie Geld bekommen; aber dann sollen sie zur EU gehen und es nicht über unsere Gasleitungen versuchen. Das wäre doch mal ein Vorschlag; den richte ich jetzt auch an die Union. Warum sollen wir zulassen, dass man denen über den Bezug von Gas was zuschanzt? Dass die Amerikaner selber eigene Interessen verfolgen, ist auch schon gesagt worden. Trump will sein eigenes Gas verkaufen. ({6}) Das US-Ministerium für Energie nennt das Gas, das Amerikaner verkaufen wollen, inzwischen „freedom gas“, also Freiheitsgas. Donald Trump schwärmt von Fracking als der Technologie, die aus den USA – Zitat – „die größte Energiesupermacht der Weltgeschichte“ geformt hat. Wenn ich ganz ehrlich bin: Ich weiß nicht, ob ich nicht mehr Angst vor der Abhängigkeit von Trump habe als vor dem, was momentan mit den Russen läuft. ({7}) Wenn ich mir vorstelle, wir wären von Trump abhängig, dann weiß ich nicht, ob das gut wäre. Zölle erhebt er. Unternehmen werden unter Druck gesetzt. In anderen Zusammenhängen werden exterritoriale Sanktionen verhängt. Bitte schön, also wenn man sich von dem abhängig machen würde – Katastrophe! Insofern bin ich froh, dass die Haltung der Bundesregierung auch in dieser Frage klar war. Ich bin auch froh, dass wir nun die Änderung der EU-Gasrichtlinie umsetzen und dass damit Nord Stream 2 zustande kommt. Wir müssten allerdings mal darüber reden, ob die Bundesregierung nicht insgesamt ein wenig konsequenter gegen diese amerikanische Handelspolitik vorgehen sollte. Nur mit Wattebäuschchen schmeißen wird den amerikanischen Präsidenten nicht umstimmen. Danke fürs Zuhören. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Kollege Jürgen Trittin hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Klaus Ernst, es geht auch nicht um Wattebäuschchen. Wie man souverän mit solchen Beleidigungen wie dem Ansinnen, Grönland zu kaufen, umgehen kann, das hat ja gerade die dänische Regierung bewiesen: Sie hat einfach gehandelt. Ich hätte mir eigentlich gewünscht, dass wir mit einer Debatte darüber anfangen, was jetzt ist. Nord Stream 2 ist genehmigt: Was folgt daraus? Das Erste, was daraus folgen müsste, wäre, dass dafür gesorgt wird, dass der Betrieb dieser Pipeline auf der Basis europäischen Rechts geschieht. ({0}) Es kann ja nicht sein, dass diese Pipeline 8 Kilometer Umweg macht, aber Sie das zum Anlass nehmen, das europäische Recht zu umgehen, und an dieser Stelle das Unbundling nicht durchsetzen. Das ist das, was Sie heute Abend vorhaben. ({1}) Das Zweite, was ich gerne von der Bundesregierung gehört hätte, betrifft etwas anderes. Wir alle sind massiv daran interessiert, dass es keine weitere Destabilisierung der Ukraine gibt. Was sind jetzt Ihre Schritte, liebe Bundesregierung, lieber Michael Roth, um dazu beizutragen, dass der Dauerstreit über den Transit gelöst wird? Was werden Sie tun, um das Versprechen der Bundeskanzlerin einzulösen, dass es auch in Zukunft einen relevanten Transit über die Ukraine gibt, wovon unter anderem die Stabilität dieses Landes abhängt? Darauf gibt es keine Antwort. Stattdessen nostalgische Erklärungen aus der Vergangenheit. ({2}) Ich will eine letzte Bemerkung, nach vorne gerichtet, machen. Haben Sie sich eigentlich mal ausgemalt, was es heißt, wenn die Kommission unter Ursula von der Leyen das umsetzt, was sie in ihren Richtlinien angekündigt hat. Es wurde verlautet, dass man in den ersten 100 Tagen dieser Kommission ein Klimagesetz verabschiedet, mit dem verbindlich – verbindlich! – festgelegt wird, dass Europa 2050 klimaneutral ist. Das ist erst mal die Definition, lieber Kollege Gremmels, des Rahmens bezüglich Übergangstechnologie. ({3}) Es ist gleichzeitig die Definition dessen, wie lange die Abschreibungsfrist für diese Pipeline läuft. Haben Sie sich mal überlegt, was das für Deutschland heißt? 2050 klimaneutral zu sein, hieße für Deutschland, wir müssten 2030 mindestens 50, besser 55 bis 60 Prozent in Europa eingespart haben. Ihr Klimapäckchen ist nicht mal in der Lage, das deutsche Klimaziel von 55 Prozent zu erreichen. Da fehlen mindestens 6 oder 7 Prozent punkte. Was passiert, wenn Deutschland das nicht erreicht? Europa wird das alte Ziel ebenfalls verfehlen. Aber wenn die Kommission sich mit ihrem Ansatz durchsetzt – ich habe von Ihnen keine Kritik daran gehört –, dann muss Deutschland bis 2030 nicht 55, sondern 65 bis 70 Prozent CO2 einsparen. Können Sie mir mal erklären, wie Sie das mit Ihren Vorstellungen, mal eben Kohle durch Gas zu ersetzen, hinkriegen wollen? Das geht gar nicht. ({4}) Es geht noch viel weniger, meine Damen und Herren, wenn Sie Gas auch noch über den Südlichen Gaskorridor beziehen oder mit Subventionen für LNG-Terminals. Denn die CO2-Bilanz des Gases, das an den LNG-Terminals ankommt, zum Beispiel aus Fracking-Produktionen in den USA – es gibt übrigens auch Fracking-Gas aus Russland, aus Australien –, ist schlechter als die CO2-Bilanz von Steinkohle. Wie wollen Sie also diese Klimaschutzziele vor dem Hintergrund Ihrer Jubelarien über Nord Stream 2 tatsächlich erreichen? ({5}) Ich will Ihnen eins sagen: Nord Stream 2 wird kommen. Nord Stream 2 ist eine Wette gegen die europäische Klimaschutzpolitik. Vielleicht konnte oder wollte man Nord Stream 2 auch nicht verhindern. Aber wir können dafür sorgen, dass die fossilen Fossile, die gewissermaßen gegen die Klimaschutzpolitik wetten, diese Wette tatsächlich verlieren. Wir müssten aber anfangen, Klimaschutz zu betreiben. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der letzte Redner ist der Kollege Dr. Andreas Lenz, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Von Grönland, Russland, USA vielleicht wieder zurück auf die Ebene der Europäischen Union. Im April dieses Jahres wurde durch die EU eine Änderung der Richtlinie für den Erdgasbinnenmarkt, der EU-Gasrichtlinie, verabschiedet. Hintergrund war ein vorausgegangener Kompromiss zwischen Deutschland und Frankreich. Wir werden nach Mitternacht noch die entsprechenden Änderungen im Energiewirtschaftsgesetz vornehmen, Stand jetzt um 2.22 Uhr. Herr Kotré wird sicher noch da sein und sprechen, während die anderen Redner ihre Rede zu Protokoll geben. Wir haben aber schon einige Inhalte besprochen. Ich glaube, es lohnt sich schon, dass wir noch mal auf diese Gasrichtlinie schauen. Es ist so, dass wir hier natürlich eine EU-rechtskonforme Umsetzung vorlegen werden; das ist überhaupt keine Frage. Das wurde auch entsprechend juristisch geprüft. Die Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt der EU sollen künftig auch für Leitungen nach und aus Drittländern gelten, wenn sie auf dem Territorium oder im Küstengewässer eines EU-Mitgliedstaates verlaufen. Für bestehende Leitungen gilt dabei ein Bestandsschutz, wenn er entsprechend beantragt wird. Zu den wichtigsten Elementen der EU-Erdgasbinnenmarktrichtlinie werden gehören eine Entflechtung der Eigentumsverhältnisse, der Netzzugang Dritter, nichtdiskriminierende Tarife und Transparenzanforderungen. Jetzt ist es so, dass auch die EU in Artikel 49a dieser Richtlinie die Versorgungssicherheit adressiert, dass sie auf die Versorgungssicherheit abzielt. Die Versorgungssicherheit ist und bleibt also auch auf europäischer Ebene ein sehr, sehr wichtiges Ziel. Gas dient als Energieträger eben der Erreichung der entsprechenden Versorgungssicherheit. Wir brauchen Gas auch zukünftig, um die schwankende Produktion von erneuerbaren Energien auszugleichen. Die flexibel und schnell hochfahrbaren Gaskraftwerke eignen sich hier wie kein anderer Energieträger. Zudem verfügt Gas über die beste CO2-Bilanz unter den fossilen Energieträgern. Gas wird also helfen, die Energie- und Klimaschutzziele Deutschlands und auch der Europäischen Union insgesamt zu erreichen. Gas ist letztlich Teil der Lösung und nicht Teil des Problems, meine sehr geehrten Damen und Herren. Derzeit verbraucht Deutschland pro Jahr circa 88 Milliarden Kubikmeter Gas. Gas deckt zu 23 Prozent den deutschen Primärenergiebedarf, und es trägt zu 18 Prozent der Stromerzeugung bei. Dieser Anteil wird eher zu- als abnehmen, zumindest mittelfristig. Wir haben natürlich auch bei der Gasinfrastruktur den Vorteil, dass wir sie auch für die Erneuerbaren, für Power-to-X, nutzen können, und wir werden das auch entsprechend machen. Die Frage, ob das für den privaten Betreiber zukünftig wirtschaftlich sein wird, ist eine Frage, die sich der private Betreiber stellen muss, meine sehr geehrten Damen und Herren. Wir haben im Vergleich momentan allerdings eine komfortable Situation hinsichtlich der Versorgung mit Erdgas. Lediglich knapp 40 Prozent des deutschen Verbrauches stammen aus Russland, 20 Prozent aus Norwegen, 30 Prozent aus dem Rest Europas und 7 Prozent aus Deutschland selbst. Zudem planen verschiedene Unternehmen den Bau von drei größeren LNG-Terminals in Deutschland, was zusätzlich ein Volumen von circa 25 Milliarden Kubikmetern Gas pro Jahr nach Deutschland ans Netz bringen wird. Global betrachtet werden derzeit zahlreiche neue Gasquellen erschlossen, Stichwort „EastMed“ oder auch der Südliche Gaskorridor. Ein Mehr an Angebot, auch durch Nord Stream 2, wird nicht zu mehr Abhängigkeit führen, sondern ganz im Gegenteil zu einem Mehr an Versorgungssicherheit und zu einem Mehr an Diversifizierung für Deutschland insgesamt. Wir wollen also die EU-Gasrichtlinie umsetzen, und zwar europarechtskonform, und wir glauben, dass das nicht im Widerspruch zu Nord Stream 2 steht. Sie von der AfD sprechen in Ihrem Antrag vom Schutz deutscher Unternehmen. Ich finde ganz interessant, dass nach Rücksprache diese Unternehmen von Ihnen gar nicht geschützt werden wollen. Übrigens gibt es im Bereich des Investitionsschutzes nach dem Energiecharta-Vertrag klare Regelungen, auch und gerade, was den Bereich des Investitionsschutzes betrifft. Genau diese Regelungen zum internationalen Investitionsschutz lehnen Sie an anderer Stelle grundsätzlich ab. Außerdem ist es seltsam, dass Sie zwar zum einen die besten Freunde von Trump sind, zum anderen hier aber antiamerikanische Ressentiments schüren. Das passt nicht ganz zusammen. Deswegen lehnen wir Ihren Antrag insgesamt ab. Wir werden die EU-Gasrichtlinie umsetzen; wir werden das Projekt Nord Stream 2 entsprechend begleiten. Es ist insgesamt ein privatwirtschaftliches Projekt. Jetzt haben wir eigentlich schon alles zum TOP 22, der später noch besprochen werden wird, gesagt. Aber lieber Herr Kotré, wir kommen natürlich wieder – oder auch nicht – und werden uns dann Ihre Märchengeschichte „Nord Stream 3 – die Fortsetzung“ anhören und unsere Umsetzung der Gasrichtlinie beschließen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit und bis später. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, lieber Kollege Lenz. – Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/14763 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit einverstanden. Dann verfahren wir so.

Kerstin Griese (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003440

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundestag berät und beschließt heute das Gesetz zur Regelung des Sozialen Entschädigungsrechts. Meine Damen und Herren, mit diesem Gesetz schreiben wir Sozialgeschichte. ({0}) Was mir besonders wichtig ist: Wir werden diese wichtige Reform hoffentlich in einem großen Konsens aller demokratischen Fraktionen im Deutschen Bundestag beschließen. ({1}) Daher möchte ich zu Beginn ein Wort des Dankes an die Regierungsfraktionen von CDU/CSU und SPD und an die Oppositionsfraktionen von FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen richten. Denn wir haben gemeinsam sehr konstruktiv und engagiert an dieser wichtigen Sozialreform gearbeitet. Herzlichen Dank dafür! ({2}) Der Bundesregierung ist sehr daran gelegen, dass diese wichtige Reform nicht gegen, sondern mit den Betroffenen von Gewalt beschlossen wird. Deshalb auch ein herzlicher Dank an die Verbände, die die Entwicklung dieses Gesetzes intensiv begleitet haben. ({3}) Das sei mir an dieser Stelle auch erlaubt: ein besonders herzlicher Dank an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des BMAS, die teilweise seit Jahren an dieser wichtigen Aufgabe arbeiten. ({4}) Meine Damen und Herren, Opfern von Gewalttaten ist oftmals unermessliches Leid zugefügt worden. Erlittenes Leid lässt sich niemals rückgängig machen. Aber der Staat kann dieses Leid anerkennen, kann Hilfen anbieten und unterstützen und zumindest materiell entschädigen. Unsere geltenden Regelungen basieren aber noch auf der Kriegsopferversorgung für die Opfer beider Weltkriege aus den 50er-Jahren. Jetzt brauchen wir ein neues Recht, bei dem die Betroffenen von Gewalttaten, auch von psychischer und sexualisierter Gewalt, genauso wie ihre Angehörigen und Hinterbliebenen im Mittelpunkt stehen. Ihnen muss schnell und umfassend geholfen werden. Das ist Aufgabe aller staatlichen Stellen. ({5}) Das Gesetz, das wir heute beschließen, setzt nach der Ausschussberatung genau hier mit Verbesserungen an. Opfer von Gewalttaten sollen möglichst schnell und einfach alle verfügbaren Hilfen erhalten. Ziel ist es, dass sie die Tat und ihre Folgen überwinden und in ihren Alltag zurückfinden. Eine ganz wichtige Aufgabe kommt dabei den Traumaambulanzen zu; denn hier sollen Betroffene, die eine Gewalttat erlebt haben, schnelle und unbürokratische Hilfe erhalten. Dauerhafte psychische Schäden können so vermieden, zumindest aber gemindert werden. Da vor allem Kinder und Jugendliche eine besondere Unterstützung benötigen, wurde für sie die Anzahl der vorgesehenen Stunden in den Traumaambulanzen im parlamentarischen Verfahren noch einmal von 15 auf 18 Stunden erhöht. ({6}) Wir haben das Anliegen der genannten Fraktionen, der Verbände und auch einiger Länder aufgegriffen, dass von Gewalttaten Betroffene die Leistungen der Traumaambulanzen schon früher, bereits ab dem Jahr 2021, erhalten können. Vielen Dank auch dafür. ({7}) Noch ein ganz wichtiger Punkt, an dem wir den Gesetzentwurf gemeinsam mit den Regierungsfraktionen und den drei genannten Oppositionsfraktionen noch mal verbessert haben: Sexueller Missbrauch, egal gegen wen, egal von wem er verübt wurde, ist ein schlimmes Verbrechen. Daher haben wir im Gesetzentwurf klargestellt, dass alle Opfer von sexuellem Missbrauch künftig Leistungen nach dem neuen Sozialen Entschädigungsrecht erhalten können. ({8}) Wir haben bei Bildungsaufenthalten im Ausland, wenn dort jemand eine Gewalttat erlebt hat, die Zeit, in der das Soziale Entschädigungsrecht greift, auf ein Jahr verlängert. Das bedeutet eine Verbesserung für alle, die zum Beispiel im Rahmen eines Schüleraustausches, im Studium oder im Freiwilligendienst im Ausland sind, was oft ein Jahr andauert. Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, das sind nur einige der Änderungen. Insgesamt liegt jetzt mit Ihrer konstruktiven Unterstützung aus dem Parlament ein sehr gutes Gesetz zur Abstimmung vor. Dafür danke ich Ihnen herzlich. Ich bitte Sie um Zustimmung zu dem neuen Sozialen Entschädigungsrecht, das eine wichtige und notwendige Grundlage ist für mehr Vertrauen und bessere und umfassendere Leistungen für Betroffene von Gewalt und Terror; denn sie verdienen alle unsere Hilfe und Solidarität. Vielen Dank. ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. – Für die AfD-Fraktion hat das Wort der Kollege Uwe Witt. ({0})

Uwe Witt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004937, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste des Hohen Hauses! Nach dem feigen und hinterhältigen Anschlag auf dem Breitscheidplatz am 19. Dezember 2016 mit 12 Mordopfern und 50 Verletzten ist die Einführung eines neuen Entschädigungsrechts dringendst notwendig geworden. Daher begrüßen wir als AfD es grundsätzlich, dass die Regierung endlich versucht, für soziale Gerechtigkeit in Deutschland zu sorgen. Doch in einigen Teilen des SGB XIV ist es leider bei einem Versuch geblieben. Der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD sieht zwar vor, dass mit der Gesetzesreform keine Leistungsverschlechterung für Opfer von Gewalttaten jeglicher Art hervorgehen soll. Die Realität sieht aber leider anders aus. Dass Sie als Koalition das neue SGB XIV innerhalb von drei Wochen durch die Gremien peitschen und am heutigen Tage im Bundestag verabschieden wollen, ist eine sportliche Leistung, ({0}) birgt aber die Gefahr, dass der gute Wille zu einer Verschlimmbesserung führt. Ich weiß nicht, ob die Genossen der SPD Angst vor ihrem eigenen Bundesparteitag im Dezember haben; aber anders kann ich mir nicht erklären, warum deshalb die sozialen Gesetze wie erst kürzlich das Pflegelöhneverbesserungsgesetz im Schweinsgalopp auf den Weg gebracht werden. Wir als AfD-Fraktion haben in dem Bereich der Sozialen Entschädigung zwei Entschließungsanträge eingebracht, auf die ich gern näher eingehen möchte. Wir fordern die Einführung einer Clearingstelle, also einer Einrichtung zur Koordination und Schlichtung zwischen Trägern und Betroffenen. Gestellte Anträge werden zurzeit in der Regel in einem Zeitraum zwischen einem und drei Jahren bearbeitet. Kommt es dann noch zu einem Widerspruchsverfahren, verzögert sich der Vorgang auf unbestimmte Dauer. Wir erwarten, dass mit der Einführung einer Clearingstelle der hohe Prüf- und Verwaltungsaufwand deutlich reduziert werden kann; denn 2017 wurden 50 Prozent der Anträge abgelehnt. Durch die Einschaltung einer Clearingstelle werden der Verwaltung Möglichkeiten zu weiteren Verfahrensweisen aufgezeigt und damit das Risiko langer Verfahrensdauern gemindert. Kommen wir jetzt zu unserem zweiten Antrag. Die Einführung eines neuen Entschädigungsrechts sieht unter § 138 SGB XIV leider keine Verbesserung gegenüber § 10a des alten Opferentschädigungsgesetzes vor. Im Gegenteil: Der § 10a Opferentschädigungsgesetz samt der Härtefallregelung wurde in § 138 Absatz 3 ff. SGB XIV eins zu eins übernommen. Das bedeutet, der Anspruch auf einen Berufsschadensausgleich bleibt den Betroffenen, die vor dem 16. Mai 1976 Opfer einer Gewalttat wurden, auch weiterhin verwehrt. Ebenso bleiben den Betroffenen Heilbehandlungen, Rehamaßnahmen und andere Hilfen als Folge der Schädigung versagt. ({1}) Im Falle einer Bedürftigkeit erhalten sie bestenfalls eine Erwerbsminderungsrente, die sehr gering ausfällt und auf andere Leistungen wie zum Beispiel Arbeitslosengeld II angerechnet wird. ({2}) Sie, Herr Heil – leider ist er nicht mehr da –, fordern im neuen Entschädigungsrecht auch noch eine Heranziehung von Vermögen bei der Beurteilung, ob eine Bedürftigkeit vorliegt oder nicht. Dies ist eine Verhöhnung der Opfer, insbesondere wenn man an Ihre vehemente Weigerung in der aktuellen Diskussion um die Bedürftigkeitsprüfung bei der Grundrente denkt. Für die Opfer aber bedeutet diese Bedürftigkeitsprüfung eine deutliche und spürbare Verschlechterung. Das neue Entschädigungsrecht sieht auch immer noch keine Gleichstellung von Leistungen in den neuen und in den alten Bundesländern vor. Wie soll man es jemandem plausibel machen, dass der Regierung das Leid, das zum Beispiel durch Missbrauch entstanden ist, von Opfern aus dem Osten weniger wert ist als das von Opfern aus dem Westen? 30 Jahre nach der Wiedervereinigung sollte man doch meinen, dass diese Ungleichheit zwischen Ost und West endlich mal ein Ende hat. ({3}) Mit unseren Entschließungsanträgen wollen wir für die betroffenen Opfer eine tatsächliche und gerechte Verbesserung schaffen. Ohne diese Veränderungen sehen wir mit der Einführung des neuen SGB XIV teilweise eine deutliche Verschlechterung der Situation der Geschädigten, ({4}) da die Probleme aus der alten Gesetzeslage mit in das neue Gesetz übernommen werden und für die Betroffenen in den genannten Bereichen keine Verbesserungen entstehen. Das sieht der Weiße Ring übrigens auch so, Herr Kollege Bartke. Herr Präsident, ich komme jetzt zum Schluss. ({5}) Das Gesetz verbessert sicherlich vieles, es führt aber auch teilweise, wie ausgeführt, zu Verschlechterungen, die wir als AfD im Sinne der Geschädigten verhindern wollen. Da dieses Gesetz für die Opfer und nicht für den Parteiproporz gemacht wurde, ({6}) verstehen wir umso weniger, warum Sie unsere Vorschläge ablehnen. Ich appelliere noch einmal an Sie: Denken Sie bitte an die Opfer und nicht daran, reflexartig alle Anträge der AfD abzulehnen. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner: für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Peter Weiß. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der erste Abgeordnete meines Wahlkreises, Heinrich Höfler, war 1950 der Berichterstatter für das Kriegsopferentschädigungsrecht. Das war damals eine große Leistung, und deswegen freue ich mich persönlich, dass ich heute zu dem Thema „neues Soziales Entschädigungsrecht“ sprechen kann. Das Sozialgesetzbuch XIV ist ein Gesetz, mit dem wir uns allen Opfern zuwenden – den Kriegsopfern, den Gewaltopfern, den Terroropfern und den Opfern sexualisierter Gewalt – und ein neues, modernes Opferentschädigungsrecht schaffen, das für alle verbesserte Leistungen bringt. Übrigens – weil der Weiße Ring gerade erwähnt worden ist –: Der Weiße Ring, eine verdienstvolle Organisation, die sich um Opfer kümmert, begrüßt dieses Gesetz ausdrücklich. Ich freue mich, dass wir als Gesetzgeber uns mit der bedeutendsten Opferschutzvereinigung in Deutschland, dem Weißen Ring, einig darüber sind, was gut und richtig ist. ({0}) Wir wollen mit diesem Opferentschädigungsrecht eine Vielzahl von Einzelgesetzen zusammenfassen, sie für die Betroffenen verständlicher und nachvollziehbarer machen und vor allen Dingen auch für schnellere Hilfe sorgen. Deswegen ist dieses Gesetz ein Gesetz, das zum Ersten ein ganzes Stück Entbürokratisierung bringt und zum Zweiten den Betroffenen schnellere Hilfe ermöglicht. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ein modernes Opferentschädigungsrecht nimmt zu Recht auch die Folgen psychischer Gewalt in den Blick und wendet sich vor allen Dingen – Frau Staatssekretärin Griese hat es vorgetragen – auch den vielfältigen Formen sexualisierter Gewalt zu, sodass wir den Opfern entsprechende Hilfe zukommen lassen können. ({1}) Großen Wert haben wir auf schnelle Hilfe gelegt. Wir wollen flächendeckend Traumaambulanzen in Deutschland errichten, auch Traumaambulanzen, die speziell auf die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen eingestellt sind. Meine sehr geehrten Damen und Herren, Opferentschädigungsleistungen machen eine Gewalttat nicht ungeschehen. Aber mit der Opferentschädigung geben wir den Opfern ein Stück ihrer Würde zurück, und vor allen Dingen zeigt dieser Staat, zeigen wir als Gesellschaft Solidarität mit den Opfern. Das hat nicht nur finanziell, sondern auch ideell für die Opfer und ihre Angehörigen eine große Bedeutung. ({2}) Dass wir nicht nur an Geldleistungen, sondern auch an personelle Hilfe denken, zeigt die Tatsache, dass wir für professionelle Begleitung und Unterstützung durch Fallmanager sorgen wollen, die eine zentrale Bedeutung im neuen Sozialgesetzbuch XIV erhalten. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, mit diesem neuen Gesetz haben wir darauf geachtet, dass Hilfe unbürokratisch geleistet wird, dass nicht noch zusätzlicher Verwaltungsaufwand entsteht und auf die Betroffenen zukommt. Wir gestatten den Ländern, wenn sie das wollen, Aufgaben auch auf die Unfallkassen zu übertragen. Es ist von Frau Staatssekretärin Griese schon gesagt worden: Das Sozialgesetzbuch XIV ist wirklich ein Stück Sozialgeschichte, ein Meilenstein in der Sozialgesetzgebung. Deswegen möchte ich vor allen Dingen den beiden Berichterstattern der Koalitionsfraktionen, die sich ja schon im Vorfeld der Erarbeitung des Entschädigungsgesetzes diesem Thema gewidmet haben, die sich in eine komplizierte Materie tief eingearbeitet haben und mit einer Vielzahl von Anträgen das Gesetz weiter verbessert haben, nämlich dem Ausschussvorsitzenden Matthias Bartke und unserem Kollegen Peter Aumer, ein ausdrückliches Dankeschön von den Koalitionsfraktionen – aber ich denke, auch des ganzen Hauses – sagen. ({3}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, eigentlich hätte man sich gewünscht, dass so ein Gesetz zu einer viel prominenteren Uhrzeit im Deutschen Bundestag beraten und beschlossen wird. Aber es liegt an uns, die gute Botschaft anschließend auch nach draußen zu tragen. Ich finde, dieses neue Opferentschädigungsrecht ist – alles zusammengefasst – eine tolle und gute Leistung, auf die wir stolz sein können. Ich finde, wir haben etwas Gutes geschaffen. Vor allen Dingen ist es ein deutliches und klares Zeichen der Solidarität mit den Opfern in unserem Land, die sie verdient haben, eine Solidarität, zu der wir als Staat und Gesellschaft insgesamt stehen. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Jens Beeck. ({0})

Jens Beeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004666, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste des Hauses! Ein neues Sozialgesetzbuch auf den Weg zu bringen, ist wahrlich nichts, was hier so oft passiert. Das Soziale Entschädigungsrecht als besonders nobler Ausdruck der Beziehung zwischen dem Sozialstaat und seinen Bürgerinnen und Bürgern blickt in Deutschland mit dem Allgemeinen Preußischen Landrecht auf eine Erfahrung bis in das Jahr 1794 zurück. Mit der heutigen Verabschiedung eines Sozialgesetzbuchs XIV widmen wir uns Leistungsansprüchen für Opfer von Gewalttaten, für Opfer von Terrortaten, für Opfer sexualisierter Gewalt – psychischer wie physischer – und beispielsweise auch für diejenigen, die als Kinder und Jugendliche in kirchlichen und/oder staatlichen Einrichtungen schwerstes Leid erfahren haben. Ungewöhnlich ist, dass die Fraktionen der Regierungskoalition, aber auch von FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen in diesem Hause und das BMAS mit seinem großen Stab für das Soziale Entschädigungsrecht gemeinsam daran gearbeitet haben, ein solches Gesetz erfolgreich auf den Weg zu bringen, und im Grunde bis zum Montagabend dieser Woche noch Verbesserungen eingebracht haben. Uns Freien Demokraten war es besonders wichtig, dass nun klargestellt ist, dass auch alle ehemaligen wehrdienstbeschädigten Soldaten von der 25-prozentigen Erhöhung des Berufsschadensausgleichs profitieren werden. Ein anderer wichtiger Punkt war für uns, dass die Opfer in den Traumaambulanzen, die vor 2024 eingerichtet werden sollen, Termine wahrnehmen können, ohne dass ihnen das bei auftretenden Spätfolgen nach dem 1. Januar 2024 zum Nachteil gereicht. Ebenso bedeutsam ist für uns, dass Fallmanager durch die komplexe Struktur mit all den Schnittstellen, die an dieser Stelle leider auch neu geschaffen werden müssen, führen. ({0}) Ebenso ist wichtig, dass das Trauma durch das eigentliche Schadensereignis nicht auch noch durch abschreckende Verwaltungsbürokratie verlängert wird, und ich hoffe sehr, dass das neue Soziale Entschädigungsrecht dazu heute durch eine im großen Konsens aller Fraktionen im Hause getragene Verabschiedung beitragen kann. Schneller, unbürokratischer Hilfe zu leisten, das ist das Ziel, dem wir uns heute verschrieben haben. Es ist schon erwähnt worden: Die offensichtlichen Defizite im bisher bestehenden Recht sind besonders deutlich geworden im März 2015 beim Absturz der Germanwings-Maschine und beim Terroranschlag am Breitscheidplatz im Dezember 2016. Gerade der Terroranschlag machte deutlich, dass Opfern und Angehörigen durch die sehr komplizierten Verfahren danach eine weitere unnötige und zusätzliche Belastung wiederfahren ist. Er hat übrigens auch deutlich gemacht, dass das Soziale Entschädigungsrecht jeden betrifft; denn keines der Opfer am Breitscheidplatz war individuell gemeint, sondern gemeint war unsere freie Gesellschaft. Es hätte jeden von uns treffen können, und daraus ergibt sich zu Recht das Eintreten des Staates für das, was an Folgen hinterher abzumildern ist. ({1}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, jedes einzelne Gewaltopfer hat eine eigene Biografie, unterschiedliche Verletzungen, individuelle Ansprüche und Bedürfnisse. Mit den neuen Regelungen werden wir darauf besser als bisher reagieren können, und es wird sich zeigen, ob wir weitere Evaluierungen vornehmen müssen. In jedem Fall gelingt mit dem heutigen Gesetz eine deutliche Verbesserung gegenüber dem bisherigen Status quo. Der weittragenden Auswirkungen eines jetzt wieder zeitgemäßen Entschädigungsrechts sind wir uns sehr bewusst. Aus einer Hand, unbürokratisch, ausreichend und schnell – daran wird sich das neue Recht messen lassen müssen. ({2}) Die Novelle war notwendig, sie war lange überfällig, und wenn wir nach neun Jahren heute dabei zu einem guten Ergebnis kommen, dann ist das ein Erfolg für alle sozialpolitisch verantwortlich denkenden Abgeordneten in diesem Haus, nie wieder den Kern aus den Augen zu verlieren: Menschen, die von ganz besonderen Schicksalsschlägen getroffen worden sind, schnell und effektiv zu helfen. ({3}) Dazu leisten wir heute einen wichtigen Beitrag. Und – Herr Präsident, letzter Satz –: Ich bin stolz darauf in der Sache und ein wenig froh und auch stolz auf das Verfahren, das wir gemeinschaftlich gewählt haben. Auch das ist ein gutes Signal. Die Freien Demokraten werden diesem Gesetzentwurf heute sehr gerne zustimmen. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege Matthias Birkwald. ({0})

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist gut, dass wir heute ein umfassendes und deutlich verbessertes Soziales Entschädigungsrecht als neues Sozialgesetzbuch XIV auf den Weg bringen. Menschen, die unverschuldet durch die Gewalt anderer schwerwiegende Folgen zu tragen haben, brauchen schnelle und zielgerichtete Hilfe, auch staatliche. Und die wird es künftig geben. Fünf Punkte will ich hervorheben: Erstens. Alle Menschen, die in Deutschland Gewalt erleben, werden nun im Entschädigungsrecht gleichbehandelt, egal welcher Herkunft sie sind oder welche Nationalität sie haben. Das ist gut. ({0}) Zweitens. Die Opfer werden deutlich mehr Geld erhalten. Das ist gut. ({1}) Drittens. Die schnellen Hilfen werden durch Traumaambulanzen ermöglicht, und Fallmanager und Fallmanagerinnen werden die Betroffenen unterstützen, sich im Verfahren zurechtzufinden. Das ist gut. ({2}) Viertens. Psychische Gewalt und Stalking werden explizit in das Gesetz aufgenommen. Das ist gut. Fünftens. Die Traumaambulanzen werden bereits zum Jahr 2021 in den Ländern eingerichtet werden und nicht – wie von der Koalition zunächst geplant – erst ab 2024 ihre Arbeit aufnehmen. Das ist gut und wurde von der Opposition in den Gesetzentwurf hineinverhandelt. ({3}) Wir Linken begrüßen es außerdem ganz besonders, dass alle Formen von Angriffen auf die sexuelle Selbstbestimmung von Kindern und Jugendlichen sowie von Erwachsenen vom Entschädigungstatbestand erfasst sind. Darauf haben wir uns in einer gemeinsamen Beschlussempfehlung der Regierungsfraktionen und der Fraktionen der demokratischen Opposition verständigt, und das war und ist der Linksfraktion außerordentlich wichtig. ({4}) Warum? Es bedeutet: Die Betroffenen erhalten jetzt die notwendige Rechtssicherheit. Meine Damen und Herren, für eine Opfergruppe ist Gewalt meistens kein einmaliges Ereignis, sondern leider oft Alltag: Hunderttausende Frauen – und einige Tausend Männer – erleben in Deutschland Gewalt durch ihren eigenen Partner, ihre Partnerin, durch Bekannte oder auch durch Fremde. Frauen sind besonders betroffen; denn jede vierte Frau hat schon mindestens einmal in ihrem Leben häusliche Gewalt erleben müssen, und jede dritte Frau erlebt im Verlaufe ihres Lebens häusliche oder sexualisierte Gewalt. Doch ausgerechnet diese größte aller Opfergruppen erhielt nach dem alten Recht oft keine Entschädigung. Ihnen wurden oft Leistungen wegen sogenannter Unbilligkeit oder Mitverursachung versagt. Das betraf und betrifft insbesondere Frauen, die „zu lange“ in der „Partnerschaft“ geblieben sind oder sogar in die Gewaltbeziehung zurückgingen. Aus der Praxis der Beratungsstellen, aus der Praxis der Frauenhäuser und aus der Wissenschaft wissen wir aber, dass diese Frauen meist gar keine andere Chance hatten. Und deshalb ist es gut und richtig, dass nun alle Formen von Angriffen auf die sexuelle Selbstbestimmung von Kindern und Jugendlichen sowie von Erwachsenen vom Entschädigungstatbestand des § 13 Absatz 1 SGB XIV umfasst sind. Diesen Punkt hat Die Linke im Beratungsprozess besonders stark betont. ({5}) Das gilt für die Verbesserung der Situation von Betroffenen häuslicher Gewalt; denn dazu gehört, dass der Verbleib in einer häuslichen Gemeinschaft mit einem Schädiger nicht grundsätzlich als vorwerfbare Selbstgefährdung gewertet werden soll. Von Gewalt betroffene Frauen müssen nun auch nicht mehr Anzeige erstatten, um Leistungen zu erhalten. Damit wird eine wesentliche Hürde abgebaut, und das ist gut so. ({6}) Wir hätten uns an dieser Stelle noch deutlichere Regelungen gewünscht. Es braucht eine eindeutige Klarstellung, dass das Verbleiben in einer Gewaltbeziehung nicht zu „Unbilligkeit“ und damit zum Leistungsausschluss führt. Nun heißt es in der Beschlussempfehlung, dass das Verbleiben in häuslicher Gemeinschaft nicht grundsätzlich als Selbstgefährdung gewertet wird. Immerhin. Hier hätte das Gesetz aber klarer sein dürfen. Ein Kritikpunkt zum Schluss: Wir halten es immer noch für problematisch, dass das Gesetz erst ab dem Jahr 2024 gelten wird; denn damit werden die Erfassung von psychischen Gewalttaten und die Beweiserleichterungen für die Opfer, die zwischen 2020 und 2024 Gewalt erleiden müssen, nicht umgesetzt, und das ist schlecht. Meine Damen und Herren, als letzten Satz: Ich möchte mich für das ausgesprochen transparente und wertschätzende sowie konstruktive Verfahren und den Arbeitsprozess herzlich bei den Kollegen Matthias Bartke, Sven Lehmann, Jens Beeck, Peter Ammer und – stellvertretend fürs Ministerium – bei der Parlamentarischen Staatssekretärin Kerstin Griese für die Union bedanken. ({7}) Trotz unserer Kritikpunkte und obwohl wir gerne weitere Klarstellungen und Ergänzungen gesehen hätten, wird Die Linke diesem insgesamt guten Gesetzentwurf zustimmen. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, lieber Kollege Matthias Birkwald. – Ich erteile das Wort der Kollegin Katja Keul, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Erinnern wir uns kurz an die Rechtslage, mit der die Opfer des Attentats vom Breitscheidplatz 2016 konfrontiert waren: Nach dem Opferentschädigungsgesetz hätte es Rentenansprüche geben können – aber leider nicht, wenn die Tat mit einem Kraftfahrzeug verursacht worden ist. Auch für Ausländer sah das Gesetz keine Ansprüche vor. Dafür gab es Ansprüche aus dem Verkehrsopferhilfe-Fonds, der den Sachschaden und das Schmerzensgeld erfasste, aber eben keine Versorgungsrenten. Außerdem sind diese Hilfen auf einen unzureichenden Gesamtbetrag gedeckelt. Aus dem Härtefonds für Opfer von Terroranschlägen konnten ebenfalls Leistungen erfolgen, allerdings nur nach Ermessen; denn hier wiederum besteht kein Rechtsanspruch. Und als ein Jahr später in Münster ein psychisch Kranker mit einem Auto in eine Menschenmenge raste, fielen die Opfer weder unter das Opferentschädigungsgesetz noch unter den Härtefonds, weil es sich nicht um einen Terrorakt handelte. Diese juristische Komplexität ist nicht nur für die Betroffenen unübersichtlich und ein einziges Durcheinander. Am Ende hat man eine Härtefallklausel im Gesetz genutzt, um die Opfer zu entschädigen, aber die Reformbedürftigkeit der Norm war unübersehbar. Es ist daher gut, dass jetzt immerhin das Opferentschädigungsgesetz und das Bundesversorgungsgesetz in einem modernen und einheitlicheren Sozialgesetzbuch XIV zusammengeführt worden sind. ({0}) Sie sind dabei dankenswerterweise unserem Vorschlag aus der letzten Legislaturperiode gefolgt und haben die Ausnahmeregelung für Straftaten, die mittels Kraftfahrzeug begangen werden, gestrichen. Es ist gut, dass jetzt alle gleichbehandelt werden, egal ob bei der Tat ein Pkw zum Einsatz kam oder nicht. Und auch die Staatsangehörigkeit ist kein Ausschlusskriterium mehr. ({1}) Noch besser hätte ich es gefunden, wenn Sie noch einen Schritt weiter gegangen wären und auch die Ansprüche auf Schmerzensgeld mit in das Gesetz aufgenommen hätten. ({2}) Das wäre zwar rechtssystematisch ungewohnt, aber aus der Perspektive der Opfer eine Erleichterung, zumal ein Schmerzensgeld eine andere Funktion hat als eine Versorgungsrente. Richtig ist hingegen, dass der Fonds der Verkehrsopferhilfe in solchen Fällen vorrangig in Anspruch genommen werden muss; denn das neue Gesetz soll schließlich die Opfer und nicht die Haftpflichtversicherer besserstellen. Wichtigste Verbesserung der Rechtslage ist die Einbeziehung von Opfern psychischer Gewalt wie beispielsweise von schwerem Stalking und Opfern sexueller Gewalt. Schade ist allerdings, dass gerade diese Betroffenen erst für Taten ab 2024 Entschädigungsleistungen bekommen sollen. Dass die Behörden sich auf die neue Rechtslage umstellen müssen, ist aus meiner Sicht keine Rechtfertigung, die Betroffenen weitere drei Jahre schlechterzustellen. ({3}) Positiv ist die Einführung eines Fallmanagers, damit die Betroffenen möglichst aus einer Hand beraten werden und auch aus einer Hand Leistungen erhalten. Ebenfalls positiv ist die Beweiserleichterung durch Glaubhaftmachung der schädigenden Straftat, wenn sonst keine Beweismittel vorliegen. Damit ist auch das Erstatten einer Strafanzeige keine Voraussetzung mehr für den Leistungsanspruch. Hilfreich ist in diesem Zusammenhang auch die neue Vermutungsregelung in § 4 Absatz 5 für die Fälle der psychischen Gesundheitsstörung. Danach genügt künftig die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Die Beweiserleichterung gilt allerdings nicht für den Grad der körperlichen Beeinträchtigung; dieser wird nach der Versorgungsmedizin-Verordnung bewertet und kann sich ohne Mitwirkung des Gesetzgebers jederzeit durch Anpassungen auch zulasten der Betroffenen ändern. Gerade ältere Menschen, die bereits über Jahrzehnte Leistungen beziehen, können jetzt von einer Änderung der Verordnung negativ betroffen sein. Hier ist vergessen worden, den Betroffenen Bestandsschutz für ihre Ansprüche nach altem Recht zu sichern. ({4}) Trotz dieser einzelnen Mängel ist das neue Gesetz insgesamt ein großer Schritt in die richtige Richtung, dem wir gerne unsere Zustimmung geben. Auch ich möchte mich im Namen meiner Fraktion noch einmal ganz herzlich für die wirklich konstruktive interfraktionelle Zusammenarbeit bedanken, ganz besonders bei der Staatssekretärin Kerstin Griese, die das so ermöglicht hat. Vielen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Katja Keul. – Einen schönen guten Abend, liebe Kolleginnen und Kollegen, von mir und Ihnen weiterhin einen guten Verlauf! Es ist ziemlich sicher, dass es jetzt passiert mit Dr. Matthias Bartke als nächstem Redner. ({0})

Dr. Matthias Bartke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004248, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin, vielen Dank für die Vorschusslorbeeren! – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Soziale Entschädigungsrecht ist ein wenig bekanntes Gebiet im Sozialrecht. Für die Opfer von Gewalttaten ist es aber das wichtigste Sozialgesetz überhaupt. Mit dem neuen Sozialgesetzbuch XIV sortieren wir das Opferentschädigungsrecht jetzt in die Reihe der Sozialgesetzbücher ein. Das ist keine kleine, formelle Änderung, es ist eine große Reform, die viele Verbesserungen für die Opfer bringt. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Gewalt hat viele hässliche Gesichter, und sie ist nicht immer nur körperlich. Mit dem SGB XIV bekommen Opfer psychischer Gewalt erstmals auch die Möglichkeit, Leistungen zur Entschädigung zu erhalten. Das betrifft zum Beispiel Opfer von Menschenhandel oder Stalking. Bei psychischer Gewalt wird dem Opfer körperlich meist kein Haar gekrümmt. Aber psychisch schafft es der Täter, schwerste Ängste auszulösen und die normale Alltagsgestaltung komplett zu zerstören. Wenn durch diese psychische Form von Gewalt massive gesundheitliche Folgen zurückbleiben, hat ein Opfer nach dem neuen Sozialgesetzbuch XIV nun auch Anspruch auf Leistungen. Das ist neu, und das ist wichtig. ({1}) Wir haben bei dieser Reform genau hingeschaut, woran gerade Opfer sexueller Gewalt bisher scheiterten, wenn sie zu ihrem Recht kommen wollten. Deshalb bauen wir Hürden nun ab. Für einen Antrag auf Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch XIV reicht es künftig aus, wenn das Opfer seine Angaben glaubhaft schildert; Frau Keul hat es eben dargestellt. Wenn es ansonsten keine Beweismittel für die Tat gibt, die Angaben aber glaubhaft erscheinen, dann wird dem Opfer auch geglaubt. Das hilft vor allem Opfern von sexueller Gewalt; denn – das wissen wir alle – bei Sexualdelikten gibt es bekanntlich häufig keine Zeugen. Und, meine Damen und Herren, wir schaffen neue und bessere Leistungen, um die Opfer auf ihrem Weg der Genesung zu unterstützen: Das sind die erhöhten monatlichen Entschädigungszahlungen. Das sind die Leistungen zur Teilhabe. Das sind die Traumaambulanzen, die jetzt schon 2021 starten können, Herr Birkwald. Das ist das Fallmanagement, das die Opfer in den Behörden begleitet, und vieles mehr. Meine Damen und Herren, heute ist ein historischer Tag: Heute beenden wir ein Gesetzgebungsverfahren, das fast neun Jahre gedauert hat. Die letzten beiden Koalitionen sind daran gescheitert – wir haben es geschafft. ({2}) Und nicht nur das: Das Gesetz ist im Ausschuss fast einstimmig verabschiedet worden. Nur die AfD hat natürlich dagegengestimmt. Wenn Sie zugestimmt hätten, wäre das nach der Rede von Herrn Sichert in der ersten Lesung auch geradezu makaber gewesen. ({3}) – Sie haben sich enthalten. Sie haben nicht zugestimmt. Ich möchte mich ausdrücklich bei den Oppositionsfraktionen FDP, Linke und Bündnis 90/Die Grünen bedanken für ihre außerordentlich konstruktive Mitarbeit. Ich fand das schön und der Sache auch angemessen. ({4}) Bedanken möchte ich mich auch bei meinem Berichterstatterkollegen Peter Aumer, mit dem ich ganz großartig zusammengearbeitet habe, und ganz besonders bei Frau Staatssekretärin Kerstin Griese, die unermüdlich für das Soziale Entschädigungsrecht tätig gewesen ist. ({5}) Dort oben auf den Tribünen sehe ich die Mitarbeiter des Bundesministeriums, die ganz intensiv daran gearbeitet haben. Ein riesiges Dankeschön an Sie! Richten Sie es auch Ihren Kollegen aus! Vielen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Bartke. – Nächster Redner: der schon mit Dank bedachte ({0}) Peter Aumer für die CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Peter Aumer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004004, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Sozialen Entschädigungsrecht, das in einem neuen Sozialgesetzbuch geregelt wird, kommen wir einem Versprechen nach: dem Versprechen, dass Menschen, die vom Staat nicht geschützt werden konnten, zum Beispiel vor Terroranschlägen, oder missbraucht wurden, die beste Begleitung und Versorgung unseres Staates gewährleistet bekommen. Das, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist eine Frage des Respekts. Genauso war der Brief der Angehörigen der Opfer vom Breitscheidplatz an die Bundeskanzlerin überschrieben: „Eine Frage des Respekts“. ({0}) Das neue Soziale Entschädigungsrecht ist getragen von diesem Respekt. Das Sozialgesetzbuch XIV, das wir heute beschließen, ist eines der modernsten und durchdachtesten Opferentschädigungsgesetze in ganz Europa – deswegen hat es wahrscheinlich auch neun Jahre gedauert. Die Bedürfnisse und Interessen der Opfer und deren Angehörigen stehen im Mittelpunkt dieses Gesetzes. Einige Beispiele dafür: Die Entschädigungszahlungen werden deutlich erhöht. Darüber hinaus erreichen wir mehr Menschen, unabhängig von ihrer Nationalität. Das war eine Lehre des Attentats vom Breitscheidplatz. Traumaambulanzen und schnelle Hilfen werden gewährleistet. Opfer psychischer Gewalt und Schockschadensopfer erhalten Ansprüche. Opfer von sexueller Gewalt werden durch eine erleichterte Beweisführung besser in das SER und dessen Ansprüche aufgenommen. Und auch die Angehörigen bekommen Leistungen des Sozialen Entschädigungsrechtes. Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, nach einigen Anläufen liegt heute das neue Sozialgesetzbuch XIV in zweiter und dritter Lesung zur Abstimmung vor. Dieses Sozialgesetzbuch ist getragen von einer großen Mehrheit dieses Hauses. Es war schön, zu sehen, dass fast alle Oppositionsfraktionen – bis auf die AfD – mitgeholfen haben, dieses neue Soziale Entschädigungsrecht zu etwas Besonderem zu machen: ({1}) einem Gesetz, das in enger Abstimmung mit den Opferverbänden verbessert worden ist – deren Erfahrungen und tägliche Arbeit mit den Opfern finden sich in diesem Gesetz wieder –, einem Gesetz, das der Verantwortung des Staates für erbrachte Sonderopfer und erlittenes Unrecht in angemessener Weise Rechnung trägt, einem Gesetz, das das Spannungsverhältnis zwischen Förderung von Selbstbestimmung und Teilhabe am Arbeitsleben und dem individuellen Schadensausgleich auflöst. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben in einer Beschlussempfehlung des Ausschusses mehrere Punkte ganz besonders hervorgehoben. Die Kollegen, die vor mir geredet haben, haben schon viele herausgehoben. Ich möchte nur noch einige Punkte nennen. Dass der Fonds Sexueller Missbrauch fortgeführt werden soll, war ein Punkt. Dass die Traumaambulanzen schon 2021 eingeführt werden sollen, ein anderer. Und wie Peter Weiß vorher gesagt hat: Auch das Thema Traumaambulanzen für Kinder und Jugendliche ist ein wichtiges Thema. Das wurde ebenfalls betont.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Entschuldigen Sie bitte. – Ich würde wirklich bitten, vor allen Dingen bei der FDP-Fraktion, jetzt dieser Rede zuzuhören. Das ist eine sehr intensive Diskussion. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, dieser Debatte jetzt bis zum Ende zu folgen. ({0})

Peter Aumer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004004, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Dass dieses Gesetz heute so zustande gekommen ist, ist auch dem Druck der Bundeskanzlerin zu verdanken, der eine Einigung auch wichtig war. Deswegen, glaube ich, ist die Einigung auch ein kleines bisschen beschleunigt worden. Meine sehr geehrten Damen und Herren, dass dieses Gesetz heute von fast allen Fraktionen mitgetragen wird, ist ein wichtiges Zeichen für die Opfer und deren Angehörige. Ich möchte den Dank erwidern: an alle, die das vorher schon gemacht haben, an die drei Oppositionsfraktionen, an dich, lieber Matthias, an Kerstin Griese, an die Mitarbeiter des Ministeriums. Ich möchte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, bitten, heute diesem Gesetz zuzustimmen – einem Gesetz, das getragen ist vom Respekt vor den Opfern und ihren Angehörigen. Die Opfer und ihre Angehörigen stehen im Mittelpunkt dieses Gesetzes. Stimmen Sie deshalb diesem Gesetz zu, weil jede Stimme für dieses neue Soziale Entschädigungsrecht ein Zeichen des Respekts ist! Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Peter Aumer. – Der letzte Redner, der in dieser Debatte redet, ist Dr. Edgar Franke für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Edgar Franke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004033, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das SGB XIV ist wahrlich ein gutes Gesetz. Es ist ein Gesetz, das Opfer von Gewaltkriminalität, aber auch Terroropfer wesentlich besserstellt als bisher. Viele Anregungen – auch von mir als Opferbeauftragtem der Bundesregierung – sind in das Gesetz aufgenommen worden. Kerstin Griese und das Ministerium sind schon sehr gelobt worden. Ich darf mich aber auch ganz herzlich bedanken, dass ich frühzeitig einbezogen wurde und viele meiner Anregungen aufgenommen worden sind. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben aus den Erfahrungen gelernt. Am Breitscheidplatz stand zum Beispiel ein Vater mit seinen vier Kindern an der Ampel und musste den Anschlag miterleben. Seitdem konnte er nicht mehr arbeiten. Er fiel nicht unter das alte Recht. Wir haben jetzt eine Regelung, dass in Zukunft alle unmittelbaren Tatzeugen im neuen SGB XIV erfasst werden. Das ist eine wichtige und richtige Regelung, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({0}) Nicht nur das: Staatsangehörigkeit und Aufenthaltsstatus sind nach unseren Anregungen nicht mehr maßgeblich. Das bedeutet beispielsweise, dass – im Gegensatz zum auf Anschlag auf dem Breitscheidplatz – ein Israeli unter das geltende Recht fallen kann. Auch das ist wichtig: dass der Aufenthaltsstatus keine Rolle mehr spielt. ({1}) Für mich ist auch positiv, dass der Leistungsmaßstab gegenüber der Krankenversicherung erheblich angehoben worden ist. Das war auch ein Thema. Jetzt kann der Leistungsmaßstab fast mit der gesetzlichen Unfallversicherung verglichen werden, entspricht fast einer Rehabilitation mit allen geeigneten Mitteln. Auch dafür bedanke ich mich ganz herzlich. ({2}) Der Zugang zu Traumaambulanzen und die Betreuungsqualität wurden erheblich verbessert. Was ich auch sagen muss: Man kann zwar – das wurde vorhin von Herrn Weiß gesagt – mit Finanzmitteln kein Leid ausgleichen. Aber es sind jetzt Renten von über 2 000 Euro pro Monat möglich. Auch das ist wichtig und richtig. Schließlich und endlich ist auch eine Leistung aus einer Hand möglich. Die Länder können zum Beispiel auch der gesetzlichen Unfallversicherung die Aufgaben übertragen. Dieses Gesetz ist richtungsweisend. Dieses Gesetz setzt ein eindeutiges politisches Signal; denn Terroropfer sind stellvertretend für den Staat angegriffen worden, sei es auf dem Breitscheidplatz oder sei es in Halle, wo ich vor drei Wochen war. Ich möchte schließen: Opfer von Gewalttaten haben, meine sehr verehrten Damen und Herren, nicht nur die bestmögliche Versorgung, sondern auch unsere Solidarität, die Solidarität der Gesellschaft, verdient. Ich danke Ihnen ganz herzlich. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Edgar Franke. – Der Kollege Torbjörn Kartes gibt seine Rede zu Protokoll. ({0}) Damit schließe ich die Aussprache.

Alexander Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004798, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zum Einmaleins der Diplomatie gehören ein paar einfache Regeln: Es kommt auf die Sprache an. Der Ton macht die Musik. Und: Unterscheide zwischen dem Problem und der Person! Bundesaußenminister Maas hat es geschafft, in einer einzigen Pressekonferenz alle diese Regeln zu missachten. Der Bundesaußenminister war Ende Oktober als Chefdiplomat der Bundesrepublik in der Türkei. Er hat dort mit seinem türkischen Amtskollegen eine Pressekonferenz abgehalten. Ein Journalist stellte eine Frage zu dem neuen Vorschlag der Bundesministerin Frau Kramp-Karrenbauer für eine UNO-Schutzzone in Nordsyrien. Eine Frage kann man so oder so beantworten, man hat in Sprache, Ton und Adressat ziemlich freie Wahl. Dass Minister Maas das weiß und auch beherrscht, das hat er gestern hier in der Regierungsbefragung eindrucksvoll demonstriert: Mehrfach gefragt, ob er seine Äußerungen zu Kramp-Karrenbauer bedauere, hat er es geschafft – immer wieder, mehr oder weniger elegant –, diese Frage eben nicht zu beantworten. In der Pressekonferenz in Ankara dagegen hat sich der Minister, wie wir jetzt schlussfolgern müssen, wissentlich und willentlich dazu entschieden, den Vorschlag der Bundesverteidigungsministerin für vollkommen irrelevant zu erklären. ({0}) Er hat damit inhaltliche Differenzen innerhalb der Bundesregierung bei einem wichtigen außen- und sicherheitspolitischen Vorstoß herausgestellt – im Ausland, noch dazu in der Türkei, die eine der Konfliktparteien ist. Meine Damen und Herren, das geht gar nicht! ({1}) Es ist ja so: Der Außenminister war weder privat noch als SPD-Politiker in der Türkei; er war dort als Mitglied der Bundesregierung. Er hat auch nicht die Person Annegret Kramp-Karrenbauer oder – was eindeutig seine Absicht war – die CDU-Bundesvorsitzende desavouiert, nein, er hat eine Kabinettskollegin der Lächerlichkeit preisgegeben und hat damit Deutschlands Ansehen und Deutschlands Interessen Schaden zugefügt. ({2}) Lassen Sie mich hier eines deutlich sagen: Inhaltlich kann man über den Vorschlag der Bundesverteidigungsministerin streiten. Man kann ihn für zu theoretisch oder schlecht getimt halten. Man kann sich auch darüber wundern, ja ärgern, wie einem solch ein Vorschlag mitgeteilt wird. Man sollte dann aber in der Lage sein, zu sehen, dass die inhaltliche Debatte sowie der politische Ärger über den Koalitionspartner auf der einen Seite, aber auf der anderen Seite das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland steht. Wir dürfen von unserem Außenminister erwarten, dass er den SPD-Politiker in sich hintanstellt, wenn es um das Ansehen und die Glaubwürdigkeit der deutschen Politik im Ausland geht. ({3}) Er selbst hat den Vorschlag der Verteidigungsministerin mit den Worten kommentiert – Zitat –: Es geht auch um das Vertrauen in die deutsche Außenpolitik. Genau das ist der Punkt, genau dieses Vertrauen hat Heiko Maas erschüttert. Genau deshalb ist es die Obliegenheit des Deutschen Bundestages, seine Amtsführung zu missbilligen, meine Damen und Herren. ({4}) Ich finde es in diesem Zusammenhang mehr als bemerkenswert, dass die Fraktionen der Großen Koalition unserem Antrag auf Sofortabstimmung nicht folgen wollen. Stattdessen soll der Vorgang noch mal ausführlich im Auswärtigen Ausschuss diskutiert werden. Das ist schon für sich genommen ein klares Misstrauensvotum gegen den Bundesaußenminister. ({5}) Was der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses – immerhin Koalitionspartner – vom Minister hält, konnten wir ja vor einigen Tagen in der „New York Times“ lesen – ich zitiere –: Der Außenminister ist eine „Leerstelle“. Aber auch die Bundeskanzlerin wurde gescholten – Zitat –: Sie „weiß alles“ und „tut nichts“. – Einen vollständigen „Zusammenbruch von Kompetenz und Energie“ attestierte der Vorsitzende den beiden maßgeblichen Akteuren der deutschen Außenpolitik. Als Oppositionspolitiker könnte ich mich darüber freuen – als Staatsbürger will es mir nicht recht gelingen. ({6}) Als Freie Demokraten, aber auch als Bürger unseres Landes, die das Ansehen Deutschlands in der internationalen Gemeinschaft hochhalten wollen, fordern wir den Bundesaußenminister auf: Üben Sie Ihr Amt mit dem Takt, der Wortwahl und dem Anstand aus, den dieses verantwortungsvolle Amt erfordert! ({7}) Ich danke Ihnen. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Graf Lambsdorff. – Nächster Redner: Jürgen Hardt für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Jürgen Hardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch wir in der CDU/CSU-Fraktion waren natürlich irritiert von den Äußerungen des Bundesaußenministers auf der Pressekonferenz. Das war mit Sicherheit keine Glanzleistung, es war, um es landläufig zu sagen, vielleicht eher kleines Karo. ({0}) Gleichwohl würde ich mich gerne mit diesem Thema inhaltlich auseinandersetzen. Zunächst einmal hat der Bundesaußenminister in dieser Pressekonferenz gesagt, überall höre man ja, dass der Vorschlag von Annegret Kramp-Karrenbauer unrealistisch sei. Ich habe das jetzt sinngemäß zitiert; ich glaube, das stimmt so. ({1}) Ich glaube, das ist sachlich schlicht falsch. Denn sowohl einige wichtige Verteidigungsminister bei der NATO als auch die Vereinigten Staaten von Amerika als auch das Europaparlament haben sich hinter die Idee gestellt, diesen Versuch zu wagen, und auch Professor Ischinger, der mit komplizierten diplomatischen Angelegenheiten ja durchaus eigene Erfahrungen hat, hat diesen Vorschlag als gut bezeichnet in dem Sinne, dass endlich mal ein konstruktiver Beitrag zur Diskussion kommt, welche Rolle eigentlich die Europäische Union und welche Rolle Deutschland bei der Bewältigung des Syrien-Konflikts spielen kann. ({2}) Herr Maas kann – ich verstehe das – heute leider nicht hier sein, weil er einen wichtigen Job mit Herrn Außenminister Pompeo von den Vereinigten Staaten von Amerika hat, dessen Besuch in Deutschland, wie ich finde – nach der Presselage –, sehr gelungen ist. Der Minister hat mit klaren Äußerungen die Rolle der Vereinigten Staaten von Amerika bei der Wiedervereinigung betont, ({3}) was ich sehr begrüße. Deswegen kann Herr Maas heute nicht hier sein. Das ist im Übrigen auch allen Fraktionen des Deutschen Bundestages am Dienstag mitgeteilt worden. Alle haben signalisiert, dass sie das akzeptieren, weil die Staatsräson an dieser Stelle natürlich vorgeht – sonst hätten wir den Termin heute irgendwie umlegen müssen. ({4}) Zum Inhalt des Vorschlags selbst möchte ich kurz einige Dinge anmerken. Der Vorschlag von Annegret Kramp-Karrenbauer steht ja nicht in Konkurrenz oder gar im Widerspruch zu irgendeinem anderen Vorschlag, wo man jetzt sagen könnte: „Plan B ist besser“, sondern das ist ein Vorschlag, der versucht, die Tatenlosigkeit zu überwinden, diese ständige Zaungastrolle, die wir dort innehaben. Wir haben selbst als Deutsche vor über fünf Jahren auf der Münchner Sicherheitskonferenz – der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier, der damalige Bundespräsident Joachim Gauck, die damalige Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen – Erwartungen bei unseren Partnern geweckt, dass Deutschland bereit ist, mehr Verantwortung zu übernehmen, wenn es von unseren Partnern gewünscht wird. Wir verspüren leider bisher keine konkrete Umsetzung dieses Themas in vielen Punkten. ({5}) Es gibt zum Beispiel im Libyen-Konflikt, wie ich finde, gute Ansätze. Aber was Syrien angeht, glaube ich, hätte die deutsche Rolle in den letzten Jahren eine stärkere sein können. Deswegen wäre es gut, wenn die gesamte Bundesregierung sich jetzt auf den Weg macht und zunächst einmal versucht, die fünf EU-Mitglieder im UN-Sicherheitsrat – es sind ja fünf Staaten, die der EU angehören, inklusive Großbritannien – zu einer gemeinsamen Initiative zu bewegen, einmal auszubuchstabieren, was das konkret bedeuten könnte, dann in einem nächsten Schritt die Vereinigten Staaten von Amerika für dieses Projekt zu gewinnen, dann gemeinsam mit diesem Vorschlag auf Russland und China zuzugehen, um am Ende des Tages vielleicht doch den Weg zu bereiten für eine UN-Resolution. Die Vorstellung, dass die Vereinten Nationen eine größere Rolle spielen müssten, ist ja auch enthalten in dem Friedensprozess, der in Genf stattfindet. Denn es wird sich ja keiner vorstellen können, dass ein Ergebnis einer Syrien-Friedenskonferenz in Genf zustande kommt und implementiert wird, ohne dass die Vereinten Nationen dazu eine schützende, eine begrüßende, eine unterstützende Entschließung fassen. Wir müssen also die Vereinten Nationen jetzt in diese Frage involvieren, statt dieses Feld einfach Russland und der Türkei zu überlassen, die meinen, jetzt im Nordosten Syriens Fakten schaffen zu können. Das, finde ich, wäre als Initiative richtig. Vielleicht hat der Bundesaußenminister sein Gespräch mit Secretary Pompeo heute ja auch genutzt, um das anzusprechen. Ich bin sicher, dass Annegret Kramp-Karrenbauer und die Bundeskanzlerin das morgen machen werden. In diesem Sinne: Herzlichen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Jürgen Hardt. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Petr Bystron. ({0})

Petr Bystron (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004692, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor allem: Liebe Kollegen von der FDP! Sie haben einen Missbilligungsantrag gestellt. Das ist ein Instrument, dessen es seit 30 Jahren im Bundestag nicht bedurfte. Jetzt ist die Situation so. Kompliment, dass Sie sich daran erinnert haben! Allerdings, muss man fairerweise sagen, hat Heiko Maas es Ihnen nicht besonders schwer gemacht. ({0}) Laut aktuellen Umfragen sind lediglich 4,5 Prozent der Deutschen mit seinen Leistungen sehr zufrieden. Das mag einigen Kollegen von der SPD angesichts der aktuellen Wahlergebnisse wie eine hohe Zahl erscheinen, ({1}) aber uns anderen macht es deutlich, wie schlecht die Amtsführung von Heiko Maas ist. Ich denke, man kann hier mit Fug und Recht behaupten: Wir haben hier den schlechtesten Außenminister aller Zeiten. ({2}) Das Auswärtige Amt hat in der Vergangenheit ein hohes Ansehen genossen – ich denke da an wirklich große Außenminister: Walter Scheel, Hans-Dietrich Genscher –; unsere Diplomaten waren in aller Welt respektiert. Nach zwei Jahren Heiko Maas ist Deutschland in der Welt isoliert. Die Beamten wurden oft der Lächerlichkeit preisgegeben. Kurzum: Der gute Ruf der deutschen Diplomatie und auch unseres Landes wurde beschädigt. ({3}) Heiko Maas macht keine Diplomatie, Heiko Maas macht eine Ausbildung zum Außenminister auf Kosten des deutschen Steuerzahlers. ({4}) Das wird besonders deutlich an den Beziehungen zu den drei wichtigsten Ländern, zu den USA, zu Russland, zu China. Schauen Sie, was gerade mit China passierte. China ist einer der wichtigsten Handelspartner Deutschlands. Gerade in einer weltpolitisch fragilen Lage, wo es Spannungen zwischen China und den USA gibt, wo es Fingerspitzengefühl in der Diplomatie bedürfte, was macht da Heiko Maas? Er trifft sich ausgerechnet mit dem Protestler aus Hongkong, Joshua Wong. Wozu führt das? Natürlich: Der chinesische Botschafter ist verärgert, spricht von Einmischung in Chinas innere Angelegenheiten. Die Führung in Peking spricht von einem Akt der Respektlosigkeit. ({5}) – Das ist Diplomatie à la Maas. ({6}) Übrigens: Wenn sich Maas auf die Menschenrechte beruft, dass die ihm wichtig seien, ist das pure Heuchelei. Denn als in Frankreich die Gelbwesten protestiert haben und zusammengeschossen wurden, 50 Menschen schwer verletzt wurden, das Augenlicht verloren haben, zum Teil abgerissene Hände hatten, da hat er nicht interveniert, da waren ihm die Menschenrechte völlig egal. ({7}) Beim Verhältnis zu Russland ist die Lage nicht viel besser: Er hat sich mit dem russischen Präsidenten Putin angelegt, hat die Legitimität der Wahlen angezweifelt, mit Außenminister Lawrow hat er sich in Moskau auf offener Bühne gestritten – angeblich, weil ihm die Pressefreiheit so wichtig ist. Komisch, dass er dann einen deutschen Journalisten im venezolanischen Knast über 100 Tage verrotten ließ. ({8}) Als genau dieser russische Außenminister – das ist die Ironie der Geschichte – diesen Journalisten aus dem Knast rausgeholt hat, hat Heiko Maas sich nicht mal bedankt. Zur USA. Wie sind die Beziehungen zur USA? Das ist durch Umfragen empirisch belegt: Wir haben das schlechteste Verhältnis zu den USA seit dem Zweiten Weltkrieg, liebe Freunde. ({9}) – Ja, da lachen Sie; aber das scheint ja die Linie der SPD zu sein; denn Ihr Bundespräsident macht genau da weiter. Er beschimpft den US-amerikanischen Präsidenten als Hassprediger und gratuliert ihm nicht zur Amtseinführung, dafür aber dem iranischen Regime zu 40 Jahren Revolution, Folter und Unterdrückung. ({10}) Jüngstes Beispiel – Sie haben das schon angesprochen –: 30 Jahre Mauerfall. Heiko Maas veröffentlicht in allen möglichen Zeitungen hier in Europa einen Artikel, in dem er sich bei Rumänien, Estland, Lettland, Litauen bedankt. Aber den USA dankt er ostentativ nicht. Ausgerechnet unserem Befreier, ausgerechnet dem wichtigsten Verbündeten und dem Land, das die UdSSR in die Knie gezwungen hat, dankt er nicht. Da sagt selbst Ihr Koalitionspartner von der CDU, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, der von uns allen geschätzte Dr. Norbert Röttgen: Das war ein „historischer Fehltritt“. Und die „Bild“-Zeitung schreibt: „Jetzt steht unser Außenminister mit beiden Füßen im Fettnapf“. ({11}) Ich schließe mit Ausführungen von Heiko Maas von gestern. Er hat gestern nämlich gesagt, er habe die USA in seinem Artikel ausreichend – ausreichend! – erwähnt. Lieber Heiko Maas, wenn sich der ehemalige und der aktuelle amerikanische Botschafter über Ihre Äußerungen ärgern, wenn Generäle sich darüber ärgern, wenn selbst Ihr Koalitionspartner peinlich berührt ist, dann ist Ihre Leistung nicht ausreichend, dann ist sie ungenügend. Note 6! Sie sind bei dieser Prüfung durchgefallen! ({12})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank. – Nächste Rednerin: Gabriela Heinrich für die SPD-Fraktion. ({0})

Gabriela Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004296, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vielleicht vorab: Dass Gelbwesten in Frankreich jemals erschossen wurden, ist schlicht gelogen und falsch. ({0}) Und das wird überhaupt nicht wahr, wenn man an dieser Stelle versucht, sich so aufzuführen. Ich beginne hier – mit Ihrer Erlaubnis, Frau Präsidentin – mit einem Zitat: Wir sind „mehr als irritiert über das Vorgehen Kramp-Karrenbauers“. Es geht weiter – Zitat –: Da kommt endlich mal ein außenpolitischer Vorschlag der Bundesregierung ({1}) und wir erfahren staunend, dass das Auswärtige Amt per SMS ‚informiertʼ, mit Frankreich, USA etc. aber ‚abgestimmtʼ wurde. … „Besser wäre aber, wenn Kramp-Karrenbauer einen professionellen Vorschlag gemacht hätte, der rechtlich und politisch umsetzbar wäre“. ({2}) Das hat die FDP am 25. Oktober, also am Vortag der Pressekonferenz in Ankara, so auf ihre Homepage gestellt. ({3}) Als Erstes haben Sie Frau Kramp-Karrenbauer attackiert, und jetzt ist Heiko Maas dran – aufgrund einer Pressekonferenz und einer spontanen Äußerung. ({4}) Über die Forderung einer internationalen Schutzzone oder über Blauhelme in Nordsyrien kann man ja diskutieren. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, waren ja schon vor der Verteidigungsministerin für eine solche Mission. Mit diesem Antrag kommen Sie Ihrem Anliegen aber keinen Schritt näher; denn Heiko Maas hat unserer Meinung nach zu Recht festgestellt, dass eine solche Initiative derzeit keine realistische Chance auf Umsetzung hat. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Ich würde bitten, dass Sie der Kollegin jetzt genauso zuhören, wie Sie den anderen auch zugehört haben. ({0})

Gabriela Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004296, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Zu unterstellen, liebe Kolleginnen und Kollegen, Heiko Maas billige – und das schreiben Sie in Ihrem Antrag – den türkischen Einmarsch, nur weil er einen anderen Vorschlag aktuell für unrealistisch hält, ist doch arg übertrieben. Und das, liebe Kolleginnen und Kollegen, weisen wir entschieden zurück! ({0}) Die SPD ist der Auffassung, dass die Türkei-Reise des Außenministers zu diesem Zeitpunkt richtig war. ({1}) Gerade in der angespannten Lage können die Erwartungen Deutschlands in Vieraugengesprächen besonders deutlich gemacht werden. Das Thema Sicherheitszone war, wie Sie wissen, nur ein kleiner Teil der Gespräche. Es ging vielmehr um Waffenruhe, den Kampf gegen den IS, humanitäre Hilfe und den politischen Prozess in Syrien. Teil einer politischen Lösung kann die Arbeit des Verfassungskomitees werden, die nun begonnen hat. Wir müssen abwarten, wie ernst der Prozess von den Beteiligten genommen wird. ({2}) Fakt ist, dass zum ersten Mal seit Jahren über die Zukunft dieses Landes verhandelt wird – von Akteuren, die sonst einander bekämpfen. ({3}) Deswegen hat Deutschland gut daran getan, die Arbeit dieses Formats in Genf weiter politisch und finanziell zu unterstützen. Dafür setzt sich der Außenminister ein. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin der Auffassung, dass wir bei allen unterschiedlichen Ansätzen, die wir jetzt diskutieren, um in Syrien voranzukommen, die Menschen nicht aus dem Blick verlieren dürfen. Gemäß den Vereinten Nationen waren in Nordsyrien schon vor der türkischen Offensive über 1,7 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Durch die türkische Militäroffensive steigt diese Zahl weiter. Wir dürfen nicht nachlassen, für genügend humanitäre Hilfe zu sorgen. Und wieder gilt: finanziell und politisch. ({5}) „Finanziell“ sage ich mit Blick auf den Bundeshaushalt, und das wird vom Außenminister ausdrücklich unterstützt. ({6}) „Politisch“ müssen wir weiterhin daran arbeiten, auch bei schwierigen Akteuren dafür zu sorgen, dass die humanitäre Hilfe zu den notleidenden Menschen kommen kann. Ich möchte an uns alle appellieren: Lassen Sie uns diesen Konflikt um Syrien nicht innenpolitisch hochziehen. Jeder muss seinen Teil dazu beitragen, hier zu vernünftigen Lösungen zu kommen. Ich bedanke mich. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Gabriela Heinrich. – Nächster Redner: Tobias Pflüger für die Fraktion Die Linke. ({0})

Tobias Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004852, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch wir als Linke missbilligen so manche Äußerungen von Heiko Maas, ({0}) aber dem Antrag der FDP können wir nicht zustimmen, weil er diesen Konflikt so offensichtlich für eine innenpolitische Frage instrumentalisiert. ({1}) Wenn sich Verteidigungsministerin und Außenminister öffentlich – auch noch im Ausland – streiten, dann ist das keine Glanzleistung dieser Regierung. ({2}) Auslöser der Diskussion ist ein Vorschlag von Annegret Kramp-Karrenbauer für eine militärische Schutzzone, den Heiko Maas abgelehnt hat. Eigentlich geht es darum, dass die türkische Regierung Krieg gegen Kurden und die mehrheitlich kurdische Selbstverwaltung in Rojava, Nordsyrien, führt. Dass die Bundesregierung dagegen nicht wirklich ernsthaft was unternimmt und nicht mal die Waffenlieferungen an die Türkei stoppt, ist der eigentliche Skandal. ({3}) Es geht darum, dass dort Krieg herrscht. Es gibt dort Vertreibungen, es werden in dieser mehrheitlich kurdisch-autonomen Region durch die türkische Armee und islamistische Hilfstruppen, bei denen inzwischen Waffen aus Deutschland gesichtet wurden, Städte besetzt. ({4}) Es geht um Schwerverletzte, Sterbende und Menschenleben und nicht um das Ansehen Deutschlands, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP. ({5}) Heiko Maas hat bei seinem Auftritt in Ankara an der Seite des türkischen Außenministers jede direkte Kritik an dem türkischen Krieg gegen die Kurden vermieden. Und das kritisieren wir klipp und klar! ({6}) Die Bundesregierung muss gegenüber der türkischen Regierung deutlich machen, dass der Einmarsch in die kurdischen Gebiete bestialisch abläuft, völkerrechtswidrig ist und sofort beendet werden muss. ({7}) Es ist besonders beschämend, dass die Bundesregierung immer noch Waffenlieferungen an die Türkei zulässt. Wir wissen inzwischen, dass es die Bundesregierung war – explizit das Auswärtige Amt –, die verhindert hat, dass die EU bereits genehmigte Rüstungsexporte stoppt. Der groß verkündete Exportstopp gilt also nur für neue Waffenlieferungen und deren Genehmigungen. In diesem Jahr wurden bereits Rüstungsgüter im Wert von 250 Millionen Euro in die Türkei exportiert – so viel, wie noch nie seit dem Jahr 2005. Und das ist skandalös! ({8}) Wir als Linke missbilligen explizit auch den Vorschlag von Annegret Kramp-Karrenbauer, und zwar nicht nur, weil sie ihn nicht mit der eigenen Regierung abgesprochen hat und sich deshalb nicht wundern muss, dass der Außenminister ihr nicht sofort beipflichtet. Ich habe darüber hinaus manchmal den Eindruck, dass die Tragweite dieser sogenannten Schutzzonen gar nicht richtig begriffen wird. Das Magazin „Loyal“ vom Reservistenverband der Bundeswehr schreibt von einer Zäsur für die deutsche Außenpolitik; denn mit Kramp-Karrenbauers Vorschlag sei – Zitat – nicht weniger als der offensive Einsatz der Bundeswehr in einem Kriegsgebiet verbunden. Das wäre ein bisher einmaliger Vorgang. Offensichtlich wollte sich Annegret Kramp-Karrenbauer damit als Kanzlerkandidatin profilieren. Zum Ende des bestialischen türkischen Angriffskriegs trägt dieser Vorschlag nichts, aber auch gar nichts bei. ({9}) Im Verteidigungsausschuss konnte Annegret Kramp-Karrenbauer auf die Nachfragen keine substanziellen Details nennen. Welche staatlichen Akteure würden einem solchen Vorschlag zustimmen? Woher kommt die wahnwitzige Idee, dass der Kriegsaggressor, die Türkei, einem solchen Vorschlag zustimmen sollte? AKKs Schutzzonenvorschlag erwies sich als spektakulärer Fehlschlag. Missbilligen wir, was Heiko Maas gesagt hat? Natürlich! Aber wir missbilligen ebenfalls den Vorschlag von Annegret Kramp-Karrenbauer, die Bundeswehr in Kriege im Nahen Osten zu verwickeln. Deshalb lehnen wir den FDP-Antrag ab. Vielen Dank. ({10})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Tobias Pflüger. – Der letzte Redner, der in dieser Debatte leibhaftig redet, ist Omid Nouripour für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist richtig, was die FDP im Antrag feststellt: Das Ansehen und die Interessen der Bundesrepublik Deutschland haben Schaden genommen. ({0}) Dennoch stimmen wir Ihrem Antrag nicht zu. ({1}) Wir stimmen dem Antrag nicht zu, weil er nur einen Teil der Gründe für diesen Schaden beschreibt. Es ist richtig, dass es sich für einen Außenminister nicht gehört, öffentlich in Ankara – ausgerechnet in Ankara – zu erklären, dass die Vorschläge seiner Amtskollegin nicht realitätstauglich seien. Es ist richtig, dass sich Verteidigungsministerin und Außenminister – egal wie sie heißen – immer bewusst sein müssen, dass ihre Worte im Ausland sehr genau gehört werden. Deshalb müssen sie auch genau darauf achten, was sie sagen. ({2}) Es ist sicher nicht hilfreich, dass der Außenminister diese Woche noch einmal wiederholt hat, dass die Art und Weise, in der die Verteidigungsministerin vorgeprescht sei, keinen guten Eindruck machte, weder innerhalb noch außerhalb Deutschlands. Das ist auch innerhalb des Kabinetts sicher nicht solidarisch. Dem stimmen wir auch zu. ({3}) Trotzdem stellt sich mir ein bisschen die Frage – diese Kritik von Maas ist ja völlig berechtigt –: Hat er eigentlich niemanden in seiner Fraktion, der für ihn diese Kritik äußert? Muss er das selber machen? ({4}) Damit sind wir beim anderen Teil des Problems. Die Frau Verteidigungsministerin wünscht sich jetzt einen Bundessicherheitsrat, damit man sich besser abstimmen und koordinieren kann. Wenn Sie Sonntagabend zusammensitzen und die Verteidigungsministerin spricht die Idee, die sie am Montag groß verkündet, nicht einmal an: Was hilft es dann, wie das Gremium heißt, in dem Sie zusammensitzen? ({5}) Wenn man kommunizieren will, wenn man koordinieren will, dann braucht man den Willen zur Kommunikation, und ist dieser Kommunikationswille zwischen Verteidigungsministerium und Außenministerium nicht da, dann entsteht eben ein solcher Schaden. Dazu gehören in diesem Fall zwei, wenn nicht sogar mehr. ({6}) – Sie hätten auch zwei Anträge stellen können. Wir sind wirklich dankbar für jede Idee, die die Intention hat, den Menschen in Syrien zu helfen. Das Problem ist aber, dass der Begriff „Schutzzone“ – ohne dass wir wissen, was sich dahinter verbirgt; nach zweieinhalb Wochen wissen wir das bis heute nicht – so viel Hoffnung geschürt hat. Es gibt Menschen hier draußen, die auf unseren Straßen demonstrieren, weil sie nicht wissen, wo ihre Großmütter sind, da sie im Norden Syriens durch die türkische Armee aus Dörfern vertrieben werden. Die wissen nicht, wo sie sind. Sie hören diesen Begriff und schöpfen Hoffnung. Die Art und Weise, mit der diese Regierung vorgeht, die dilettantischen Fehler in der Kommunikation dieser Regierung, führt dazu, dass diese Hoffnung schon am Anfang durch Verfahrensfehler zunichte gemacht wird. ({7}) Diese Hoffnungen zu wecken, ohne irgendwas liefern zu können – das gilt in Richtung der Verteidigungsministerin –, ist schlicht unanständig, und das gehört sich schlicht nicht. ({8}) Es gibt aber noch mehr Schaden. Sie fordert jetzt pauschal mehr Einsätze der Bundeswehr. Warum? Es muss ja einen Anlass geben. Sie muss sich ja was dabei gedacht haben. Sie sagt aber nicht, was für Einsätze sie meint. Bundeswehreinsätze sind keine vorweihnachtlichen Einkäufe, die man dann unter den Baum stellt. Wir wollen doch wissen, wovon sie redet, wenn sie von mehr Einsätzen spricht. ({9}) Vor allem: Wo bleibt die Evaluation bisheriger Einsätze, damit man die Fehler, die man jetzt in Mali macht und die man vorher in Afghanistan schon gemacht hat, schlicht abstellt? Einfach nur pauschal zu sagen: „Wir wollen mehr machen“, ist – ohne eine Evaluation – schlicht falsch und schadet dem Ansehen der Bundesrepublik Deutschland. ({10}) Im Übrigen zeugt das auch von einem massiv binären Denken derjenigen innerhalb der Union, die das unterstützen, weil es nicht nur um Militäreinsätze gehen darf. Sie sagen ja die ganze Zeit: Militär oder gar nichts! – Dabei gibt es so viel, was dazwischen passieren kann, und das macht die Bundesregierung nicht. Ich denke beispielsweise an die Hermesbürgschaften für die Türkei, die man aussetzen müsste. Schaden gibt es aber im Übrigen auch, wenn der Ausschussvorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Norbert Röttgen, in der „New York Times“ sagt – das Zitat ist gerade gefallen –, diese Regierung sei ein Totalausfall, es gebe keine Kompetenz und keine Energie mehr, ({11}) während er gleichzeitig in Deutschland Unterschriften dafür sammelt, dass innerhalb der Union keine Personaldebatten geführt werden können. Das ist heuchlerisch und schadet dem Ansehen der Bundesrepublik Deutschland. ({12}) Letzter Punkt, Frau Präsidentin: Wenn die FDP es ernst damit meint, Schaden im Hinblick auf das Ansehen der deutschen Außenpolitik abwenden zu wollen, dann wäre es hilfreich gewesen, wenn Sie unseren Anträgen im Haushaltsausschuss zugestimmt hätten. ({13}) Wir haben im Auswärtigen Ausschuss einen Personalmangel ohne Ende. Es wäre sinnvoll, wenn wir zusammen daran arbeiten würden, diesen zu beheben. ({14}) In diesem Jahr haben Sie leider alle unsere Anträge abgelehnt. Ich hoffe, das ändert sich im nächsten Jahr. ({15})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Omid Nouripour. – Die Kollegen Henning Otte, CDU/CSU-Fraktion, Dr. Nils Schmid, SPD-Fraktion, und Christian Schmidt, CDU/CSU-Fraktion, geben ihre Reden zu Protokoll. ({0}) Damit schließe ich die Aussprache.

Dr. Thomas Gebhart (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11004038

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Gesetz für bessere und unabhängigere Prüfungen – MDK-Reformgesetz –: Das klingt möglicherweise technisch. Es geht in der Tat um Strukturveränderungen, um Strukturverbesserungen. Am Ende profitieren aber die Menschen, die Patientinnen und Patienten, von dem, was in diesem Gesetz geregelt wird. Das Personal in den Krankenhäusern wird von Verwaltungsaufwand entlastet, und das ist eine gute Nachricht. ({0}) Worum geht es in diesem Gesetzentwurf konkret? Ich will drei Punkte nennen: Der erste Punkt. Wir stärken die Unabhängigkeit der Medizinischen Dienste. Sie werden künftig organisatorisch von den Krankenkassen gelöst, sie werden eigenständige Körperschaften des öffentlichen Rechts, und künftig gelten bundesweit verbindliche Richtlinien für die Prüfungen. Wer landauf, landab die Diskussionen kennt, der weiß, dass genau das ein ganz wichtiger Punkt ist. Auch wie Verwaltungsräte der Medizinischen Dienste künftig besetzt werden, regeln wir neu. Vertreter der Patientinnen und Patienten sowie der Pflegebedürftigen bekommen eine Stimme in den Verwaltungsräten, und ihre Perspektive wird berücksichtigt. Daneben stärken wir die Rechte der Versicherten. Bei jedem Medizinischen Dienst schaffen wir unabhängige Anlaufstellen. Die Versicherten können sich mit ihren Beschwerden dorthin wenden, und diese werden vertraulich behandelt. Der zweite Punkt. Die Anzahl der Krankenhausabrechnungen, die durch den Medizinischen Dienst überprüft werden, wird begrenzt. Gleichzeitig wird es für Krankenhäuser starke Anreize geben, korrekt abzurechnen. Je besser die Qualität der Abrechnungen, desto weniger Rechnungen werden in der Folge geprüft werden. Damit begrenzen wir insgesamt die Prüfungen der Krankenhausabrechnungen. Das entlastet von Verwaltungsaufwand. Auch digitale Übermittlungswege helfen, Bürokratie zu reduzieren. Wir alle wissen: In der Praxis kommt es immer wieder zu strittigen Abrechnungsfragen, zu strittigen Kodierfragen. Wir sehen mit diesem Gesetzentwurf jetzt vor, dass deren Anzahl künftig durch verschiedene Maßnahmen systematisch reduziert wird, und daraus folgen verschiedene Vorteile. Wenn schneller geklärt wird, was abgerechnet werden darf, dann entsteht dadurch mehr Rechtssicherheit sowohl für die Krankenkassen auf der einen Seite als auch für die Krankenhäuser auf der anderen Seite. ({1}) Zudem werden wir die ambulanten Behandlungsmöglichkeiten in den Krankenhäusern erweitern. Auch dadurch reduzieren wir die Zahl der Prüfungen – hier insbesondere an der Grenze zwischen stationärer und ambulanter Versorgung. Der dritte Punkt. Mit diesem Gesetzentwurf sehen wir eine ganze Reihe weiterer Regelungen vor. Ich kann sie aufgrund der Kürze der Zeit nur stichpunktartig nennen: Die Dauer des Hygieneförderprogramms wird um drei Jahre verlängert. Die Mitglieder der gesetzlichen Krankenkassen können ihre Kasse künftig einfacher und unbürokratischer wechseln. Die Krankenkassen müssen im nächsten Jahr überschüssige Finanzreserven abbauen; das kommt ganz konkret und zeitnah den Versicherten zugute. Bei den Sozialwahlen wird eine Geschlechterquote bei der Listenaufstellung eingeführt. Die öffentlichen Sitzungen des Gemeinsamen Bundesausschusses werden künftig live im Internet übertragen. Das schafft Transparenz. Schließlich ein Punkt, der vor allem den Krankenhäusern zugutekommen wird: Es wird in Zukunft mehr Geld für Maßnahmen geben, die die Pflege entlasten. Wir erhöhen die Mittel dafür von 3 auf 4 Prozent des Budgets. Das ist eine gute Nachricht für die Krankenhäuser. ({2}) Unter dem Strich können wir sagen: Dieser Gesetzentwurf ist sinnvoll. Er entlastet an den richtigen Stellen und kommt den Patientinnen und Patienten in diesem Lande zugute. Deswegen bitte ich Sie um Ihre Zustimmung. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Gebhart. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Detlev Spangenberg. ({0})

Detlev Spangenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004898, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Gesetz für bessere und unabhängigere Prüfungen – MDK-Reformgesetz –: Dazu liegt unser Entschließungsantrag vor. Ich gehe mal kurz zurück: Seit 1989 wird geprüft. Grund war die Steigerung der Kosten bei den gesetzlichen Krankenversicherungen. Die Kritik daran ist bekannt. Man sagte, die Abhängigkeit der MDKs von den Kranken- und Pflegekassen führe bei den Kassen zu günstigeren Prüfungsergebnissen; das war ja die Kritik. Mit einer neuen Rechtsform will man die Unabhängigkeit herstellen. Das Ziel ist also, die vermutete Abhängigkeit der MDKs von den Kassen zu beenden. Die Begründung der Streitigkeiten über Kodierungen und Abrechnungen ist durch eine neue Rechtsform aber natürlich nicht zu beenden, sondern nur durch klare Abrechnungsmodalitäten. DRG und die Fallpauschalen sind in diesem Fall zu hinterfragen. Ich habe mich gefragt, warum die Krankenhäuser 2,8 Milliarden Euro an die Krankenkassen zurückzahlen mussten. Darüber habe ich mit Vertretern der Krankenhäuser gesprochen – heute, vor einer Stunde, noch mal –, und sie haben mir erklärt, wie so was zustande kommt. Belegzeiten wurden zum Beispiel nicht anerkannt. Nach den Fallpauschalen hätte der Patient nach ein oder zwei Tagen aus dem Krankenhaus nach Hause oder irgendwo anders hin verlegt werden müssen. Das war medizinisch nicht möglich. Die Krankenkassen haben das aber nicht akzeptiert und nur den Satz angerechnet, der nach der Fallpauschale dafür gezahlt wird, obwohl aus medizinischen Gründen ein anderes Vorgehen nicht möglich war. ({0}) Man sieht also: Hier gibt es sehr viele Differenzen, die nur durch ein klares Abrechnungssystem beseitigt werden können. Allerdings gibt es auf der anderen Seite auch sehr alberne Begründungen. Man wirft den Kassen vor, sie hätten aus Wettbewerbsgründen zu viel geprüft. Das ist natürlich totaler Quark. Wie will ich denn mit Prüfungen einen Vorteil im Wettbewerb erreichen? Ich kann höchstens mein Geld zurückbekommen, was mir eh zusteht. Ich denke, das hat mit Wettbewerb wenig zu tun. ({1}) Die Forderungen, die jetzt aufgestellt wurden, sollen Anreize – das wurde eben noch mal gesagt – für „regelkonforme Abrechnungen“ sein. Das kann ich nicht verstehen. Eine Abrechnung muss immer korrekt sein, auch ohne dass ich jemanden – ich sagte das schon mal – zum Kaffee einlade und nett mit ihm rede, damit er ordentlich abrechnet. Ich denke, es müsste unstrittig sein, dass eine Abrechnung immer stimmen muss. ({2}) Meine Damen und Herren, „strittige Kodier- und Abrechnungsfragen werden … weiterentwickelt“: Das ist das Ziel. Wunderbar; so muss es sein! Das würde aber, wie gesagt, die bisherige Rechtsform auch nicht berühren. Jetzt werden Prüfquoten eingeführt. Ein hoher Anteil unbeanstandeter Abrechnungen führt zu einer geringen Prüfquote, wurde eben gesagt; das habe ich auch schon ausgeführt. Das ist an und für sich die klare Handhabung durch die Finanzämter; das kennen wir alles. Das ist also keine große Weisheit. Weiter heißt es, die „Verringerung von Prüfquoten“ – das ist hochinteressant – wirke sich auf die „Summe der Rückzahlungsbeträge“ an die Krankenkassen aus. ({3}) Man sagt also, Unregelmäßigkeiten werden damit hingenommen, aber durch gezielte tiefere Prüfungen können höhere Rückzahlungen erreicht werden. Das besagt im Grunde genommen: Wenn ich früher schon tiefer geprüft hätte, wären die Rückzahlungsforderungen noch höher gewesen; denn wenn ich jetzt tiefer prüfe, komme ich auf das Gleiche, als wenn ich viel prüfen würde. – Das ist sehr merkwürdig formuliert. Man könnte das auch als Unterstellung gegenüber den Krankenhäusern werten. Jetzt komme ich zu dem Thema „Verwaltungsgremien/Geschlechterparität“. Ich habe schon im Ausschuss darüber gesprochen, und ich drehe es jetzt herum, damit Sie beruhigt sind: Stellen Sie sich vor: Sie haben fünf gute Frauen und keinen einzigen Mann als Bewerber. Die fünf Frauen sind top und wären gut geeignet. Sie nehmen sie nicht, weil ein Mann fehlt. ({4}) Das ist doch so ein Quark! Es muss doch nach der Qualifikation gehen und darf nicht danach gehen, ob man ein Mann, eine Frau, groß, klein, dick oder dünn ist. Es geht doch allein um die Qualifikation. ({5}) Es geht jetzt noch weiter – Sie wissen es doch –: Wenn Sie die Quote nicht einhalten, dann wird der Verwaltungsrat immer kleiner. Das heißt, die Arbeitsfähigkeit ist dann nicht mehr gegeben, weil Sie Ihre alberne Quote nicht erreichen können. So einen Blödsinn habe ich noch nie gehört. ({6}) Ich habe in der ersten Lesung den § 387 BGB, Aufrechnungsverbot, angesprochen, in dem es um die Voraussetzungen für eine Aufrechnung geht. Das hier ist ja totaler Unsinn. Gleichwertige Forderungen können immer aufgerechnet werden. Zu meiner großen Freude – vielleicht war ich sogar der Urheber; das würde mich stolz machen – ist ein Änderungsantrag der Koalition zu dem § 109 Absatz 6 Sozialgesetzbuch V eingegangen. Sie können jetzt also wieder aufrechnen. ({7}) Die Erklärung dazu, dass die Forderung anerkannt oder gerichtlich festgestellt sein muss, ist natürlich nicht nötig. Das ist sowieso eine Bedingung, wenn ich aufrechnen will. Ich freue mich aber, dass das jetzt wieder drin ist. Vielleicht ist das der AfD zu verdanken. Das könnte doch sein. Aus unserer Sicht ergibt sich aus unserem Entschließungsantrag Folgendes: Wir lehnen die Quote ab, ({8}) da eine Missbrauchsgefahr gegeben ist, wenn nicht geprüft werden kann, weil die Quote nicht erfüllt wird. Prüfungen in einem angemessenen Rahmen: Der Medizinische Dienst – so heißt es dann ja – soll entsprechend prüfen. Das sehen wir auch so; das kann man machen. Prüfungen bei begründetem Verdacht müssen aber grundsätzlich möglich sein. Eine eindeutige Definition der zu prüfenden Leistung ist auch eine Bedingung – daran darf nicht gedreht werden –, sodass es keine Streitigkeiten mehr gibt. Ich habe das soeben erläutert. Nach § 17c Absatz 2a Krankenhausfinanzierungsgesetz – das ist auch sehr merkwürdig und hält an und für sich auch keiner betriebswirtschaftlichen Prüfung stand – soll eine Abrechnungskorrektur der Krankenhäuser an die Krankenkassen nicht mehr möglich sein.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege, denken Sie an die Redezeit; sie ist abgelaufen.

Detlev Spangenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004898, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ja, ich komme zum Schluss. – Natürlich muss eine Korrektur der Abrechnung immer möglich sein; das ist normaler Handelsbrauch. Das sind ja auch Geschäftspartner. Meine Damen und Herren, gute Beziehungen der Vertragspartner – Krankenhäuser und Krankenkassen – dienen auch dem Wohle der Patienten. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen herzlichen Dank, Herr Spangenberg. – Nächste Rednerin: Sabine Dittmar für die SPD-Fraktion. ({0})

Sabine Dittmar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004261, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart, die Medizinischen Dienste der Krankenversicherung zu stärken und deren Unabhängigkeit zu gewährleisten. Mit dem MDK-Reformgesetz setzen wir nun dieses Vorhaben um. Die Medizinischen Dienste nehmen eine wichtige Aufgabe wahr: Sie stellen sicher, dass alle Versicherten nach ihrem individuellen Bedarf den gleichen Anspruch auf Leistungen der Kranken- oder Pflegekasse haben. Jeder muss die für ihn notwendigen medizinischen und pflegerischen Leistungen erhalten, aber es ist auch im Sinne der Beitragszahler, unnötige und unwirtschaftliche Leistungen abzulehnen. Die Begutachtungen und Prüfungen werden durch unabhängige und nicht weisungsgebundene Gutachter aus der Ärzteschaft und der Pflege durchgeführt. Das war so und wird auch in Zukunft so sein. Im parlamentarischen Verfahren war es für uns, die SPD, klar: Eine Schwächung der Selbstverwaltung werden wir nicht hinnehmen. ({0}) Die ursprünglich vorgesehene Regelung, nach der die Vertreter der Beitragszahler im neu strukturierten Verwaltungsrat der Medizinischen Dienste nicht mehr gleichzeitig im Verwaltungsrat einer Kasse tätig sein sollten, hat die SPD von Anfang an abgelehnt. Diese Unvereinbarkeitsregelung wäre für uns ein nicht akzeptabler Angriff auf die Selbstverwaltung gewesen. ({1}) Ich freue mich, dass wir auch unseren Koalitionspartner davon überzeugen konnten. Es werden nun auch zukünftig durch Sozialwahlen legitimierte Vertreter der Beitragszahler, also der Arbeitnehmer und Arbeitgeber, ihre fachliche Expertise in den Verwaltungsrat einbringen, und das ist gut so. Hier wird wieder einmal deutlich, wie wichtig es ist, dass die SPD mitregiert. ({2}) Meine Damen und Herren, häufig hört man den Vorwurf, dass die Medizinischen Dienste einseitig die Interessen der Krankenkassen vertreten. Dem begegnen wir mit noch mehr Transparenz. Zukünftig sitzen stimmberechtigte Patientenvertreter mit am Tisch – und in beratender Funktion die Berufsgruppen. Außerdem wird es bei den Medizinischen Diensten eine unabhängige Ombudsperson geben, ({3}) an die sich Beschäftigte und Versicherte wenden können. Kolleginnen und Kollegen, auch bei der Krankenhausrechnungsprüfung haben wir deutliche Akzente gesetzt. Alle Experten stimmen darin überein, dass bei den Prüfungen von Krankenhausrechnungen etwas aus dem Ruder gelaufen ist. Krankenkassen und Krankenhäuser sind in einem irren Wettlauf von Prüfungen, Rechnungskorrekturen und Aufrechnungen gefangen, und das werden wir beenden. ({4}) Allerdings war der von Minister Spahn vorgeschlagene Weg für uns der falsche. Er sah vor, dass im Jahr 2020 nur noch 10 Prozent der Rechnungen den Medizinischen Diensten zur Überprüfung vorgelegt werden dürfen. Damit wäre den Krankenkassen ein Verlust von über 1 Milliarde Euro entstanden. Die Prüfspirale wäre einseitig auf dem Rücken der Beitragszahler beendet worden. Das haben wir korrigiert. Ich verrate kein Geheimnis, wenn ich Ihnen mitteile, dass meine Fraktion und auch ich keine Freunde von starren Prüfquoten sind. Das macht das System erheblich strategieanfällig, und wir sind auch nach wie vor der Meinung, dass mit anderen in diesem Gesetz verankerten Maßnahmen eine Deeskalation der Prüfungen zu erreichen gewesen wäre. Diese Position war jedoch nicht durchzusetzen. Ich sage aber voller Überzeugung: Wir haben einen guten Kompromiss verhandelt, der den Interessen beider Partner – denen der Krankenkassen und denen der Krankenhäuser – gerecht wird. Wir werden im ersten Jahr die Prüfquote von 10 auf 12,5 Prozent erhöhen und bereits 2020 die Sanktionen bei Fehlabrechnungen greifen lassen. Außerdem entfällt der Sanktionsdeckel der Krankenhäuser. Die Krankenhäuser empören sich hier über eine Selbstverständlichkeit; denn wer korrekt abrechnet, der muss auch keine Sanktion fürchten. Also, meine Damen und Herren, wir können einen weiteren Haken auf die To-do-Liste dieser Koalition setzen, und dieser Haken bedeutet nicht nur „Abgearbeitet“, sondern auch „Gut gemacht“. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Sabine Dittmar. – Nächster Redner: Dr. Andrew Ullmann für die FDP-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Andrew Ullmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004922, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit einem Lob an das Bundesministerium für Gesundheit möchte ich gerne starten; denn unter dem Deckmantel des MDK-Reformgesetzes haben Sie das Thema Infektionskrankheiten versteckt. Es ist zwar die Verlängerung eines bereits bestehenden Förderprogramms, aber allein die Erwähnung und Förderung des Facharztes für Innere Medizin und Infektiologie ist etwas Gutes. Allerdings gibt es diesen Facharzt in Deutschland nur in Mecklenburg-Vorpommern – sonst nirgends. Daher meine Bitte an Herrn Spahn und an Sie, Herr Dr. Gebhart: Suchen Sie das Gespräch mit der Bundesärztekammer, motivieren Sie bitte die Bundesärztekammer, diesen Facharzt endlich in die Musterweiterbildungsordnung zu implementieren. Ich selber werde das auch tun, und ich bedanke mich an dieser Stelle für Ihre Mühen. ({0}) Nun aber direkt zum MDK-Reformgesetz. Wieder einmal packt der Bundesgesundheitsminister ein wichtiges Thema nur oberflächlich an. Er will den MDK reformieren – das ist richtig so –, und er will die Unabhängigkeit des Medizinischen Diensts stärken – auch das ist richtig so. Diese Punkte unterstützen wir nachdrücklich. Doch ist der Gesetzentwurf wirklich gelungen? Vier Kritikpunkte möchte ich gerne aufzählen: Erstens. Die soziale Selbstverwaltung wird geschwächt. Mit dem Gesetzentwurf wird das legitime Interesse der Beitragszahlenden, also der Versicherten und Arbeitgeber, nicht mehr hinreichend abgebildet. Zweitens. Sie erweitern zwar den Katalog zum ambulanten Operieren, doch das strukturelle Problem fehlender intersektoraler Vergütungssysteme wird nicht gelöst. Drittens. Die Neuregelung des Verfahrens der Abrechnungsprüfung bei den Krankenhäusern ist nicht nachhaltig. Viertens. Die begrenzte Bezahlung der Leiharbeit in der Pflege ist falsch. ({1}) Die letzten beiden Punkte möchte ich gerne ein wenig herausarbeiten: Allein im Jahr 2018 gab es 2,6 Millionen Abrechnungsprüfungen mit einem Rückforderungsvolumen von insgesamt knapp 3 Milliarden Euro. Warum ist das so? Die Ursachen zunehmender Abrechnungsstreitigkeiten liegen klar auf der Hand: die immer weiter steigende Komplexität des Vergütungssystems und falsche Anreize. Ihr Gesetzentwurf birgt die Gefahr drastischer Mehrausgaben und neuer Fehlanreize in der stationären Versorgung; denn wir haben ein Vergütungssystem, das keine echte Qualität abbildet. Der Gesetzentwurf geht an diesem Thema und an diesem Problem vorbei. Sie wollen offensichtlich keine strukturelle Reform der stationären Versorgung angehen. Auch durch die willkürliche Quotierung der Abrechnungsprüfungen, die gerade auch von Frau Dittmar angesprochen wurde, gießen Sie noch mehr Öl ins Feuer. Sowohl im Grundsatz als auch in der beabsichtigten Höhe ist sie abzulehnen. Meine Damen und Herren, will man wirklich eine nachhaltige Lösung des Problems, bedarf es einer tiefgreifenden ordnungspolitischen Anpassung der Einrichtungsstrukturen und des Vergütungssystems. ({2}) Hier ist erheblicher Reformbedarf. Von der Regierung kommt nichts – nur eine oberflächliche symptomatische Therapie. Nun zum Thema Pflegebudget. Wir lehnen die Begrenzung des Pflegebudgets bei der Leiharbeit ab. ({3}) Bereits heute ist die von Ihnen gewollte Herausnahme der Pflegekosten aus dem DRG-Fallpauschalensystem ein ordnungspolitischer Irrweg. Krankenhäuser sind deswegen auf Leiharbeit angewiesen. Nur so erfüllen sie die Personaluntergrenzen und halten die regionale Versorgung aufrecht. Sie sind daher auch vollständig zu finanzieren. ({4}) Es ist auch falsch, auf gut ausgebildete Pflegekräfte, die sich bewusst für die Leiharbeit entscheiden, Druck auszuüben. Diese Fachkräfte in ein festes Anstellungsverhältnis in einem Krankenhaus zu zwingen, lehnen wir ab. ({5}) Wer nachhaltig etwas erreichen will, muss weiterdenken, sinnvoller agieren und vor allem die Kausalität der Probleme erkennen. Nur so funktioniert gute Politik. Daher können wir diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Danke schön. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Ullmann. – Harald Weinberg, Die Linke, gibt seine Rede zu Protokoll, Maria Klein-Schmeink, Bündnis 90/Die Grünen, gibt ihre Rede zu Protokoll, Emmi Zeulner, CDU/CSU, gibt ihre Rede zu Protokoll, ({0})

Claudia Moll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004825, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einen wunderschönen guten Abend! ({0}) In meiner Zeit in der Altenpflege habe ich über Jahre hinweg fast täglich Kontakt mit dem Medizinischen Dienst der Krankenversicherung gehabt. Ich kann von guter und von vertrauensvoller Zusammenarbeit berichten. Dennoch genießt der Medizinische Dienst in der öffentlichen Wahrnehmung keinen besonders guten Ruf. Gibt es dafür Gründe, die in der Arbeit des Medizinischen Dienstes liegen, oder spielen andere Gründe eine Rolle? Ich bin überzeugt: Ein wichtiger Grund ist die derzeitige Organisationsstruktur. Bei einer Pflegebegutachtung beispielsweise sind am Ende nicht immer beide Seiten zufrieden. Dadurch wurde in der Vergangenheit hauptsächlich von Patienten immer wieder kritisch hinterfragt, wie unabhängig der Medizinische Dienst überhaupt agiert, wenn er doch organisatorisch von den Kranken- und Pflegekassen abhängig ist. Mit diesem Gesetzentwurf werden wir hier Abhilfe schaffen. Kernstück des Gesetzentwurfs ist die Herauslösung des Medizinischen Dienstes aus den Krankenkassen, hin zu einer eigenständigen Körperschaft des öffentlichen Rechts. Im Laufe des parlamentarischen Verfahrens ging es für uns besonders darum, wie sich diese neue Organisation von innen gestaltet. Uns war und ist es wichtig, dass die in den Sozialwahlen gewählten Vertreterinnen und Vertreter der Selbstverwaltung des Gesundheitswesens auch in Zukunft Mitglieder in den Verwaltungsräten des Medizinischen Dienstes sein dürfen. ({1}) Wir haben engagiert diskutiert und sind froh, dass wir so den Vorwurf, es gebe hier einen Angriff auf die Selbstverwaltung, aus dem Weg räumen konnten. ({2}) Gleichzeitig schaffen wir hiermit die notwendige Unabhängigkeit von Kostenträgern. Ein genauso wichtiges Anliegen war für uns die Stärkung der Stellung des Patienten. Wie können Streitigkeiten bei einer Begutachtung oder bei einem Antrag auf bestimmte Leistungen einer Krankenkasse besser gelöst werden? Deshalb wird, wie es schon im Gesetzentwurf vorgesehen war, beim Medizinischen Dienst eine Ombudsperson geschaffen, die Unregelmäßigkeiten und Beeinflussungsversuche beobachten und darüber berichten soll. Ich bin froh, dass diese Berichte in Zukunft auch veröffentlicht werden. ({3}) Das schafft Transparenz und sorgt für mehr Vertrauen. ({4}) Sowohl Kranken- als auch Pflegekassen müssen in Zukunft immer auf diese Möglichkeiten hinweisen. Bei abgelehnten Leistungen müssen Patienten in Zukunft auch immer in leichter und verständlicher Form über die Gutachten des Medizinischen Dienstes aufgeklärt werden. Ein weiterer großer Aufgabenbereich des Medizinischen Dienstes ist die Prüfung von Krankenhausabrechnungen. Wir ergreifen Maßnahmen, den Aufwand abzubauen. In Zukunft sollen die Strukturen von Krankenhäusern darauf geprüft werden, ob sie bestimmte Leistungen überhaupt erbringen können. Dadurch entfallen viele Einzelfallprüfungen, und es wird klare Vorgaben geben. Das erleichtert die Arbeit ungemein. Drei Punkte in dem Gesetzentwurf waren mir ein besonderes Anliegen. Erstens. Die Krankenhäuser erhalten mehr Geld für pflegeentlastende Maßnahmen, die neben den tatsächlichen Pflegepersonalkosten im Pflegebudget berücksichtigt werden können. Zweitens haben wir mit einer Klarstellung dafür gesorgt, dass die Abrechnung für Gebärdensprachdolmetscher, die bei Behandlung von gehörlosen Menschen benötigt werden, deutlich vereinfacht wird ({5}) und das Leistungsspektrum ausgeweitet wird, sodass es hier in Zukunft deutlich weniger Schwierigkeiten geben sollte. Und zu guter Letzt darf die Pflegebegutachtung auch durch die Pflegefachkräfte stattfinden und nicht mehr nur in Zusammenarbeit mit den Ärzten. Wer kann besser eine Pflegebegutachtung durchführen als eine Pflegefachkraft? Danke schön. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Claudia Moll. – Lothar Riebsamen gibt seine Rede zu Protokoll.

Markus Grübel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003542, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das hört sich komisch an mit dem „leibhaftig“. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die USA haben in Syrien ein Vakuum hinterlassen, indem sie sich ohne Not aus dem Norden zurückgezogen haben. Dieses Vakuum haben die Türkei, Russland und Assads Truppen gefüllt. Erdogan, Putin und Assad haben neue Fakten geschaffen. Europa und damit auch Deutschland haben schon viel zu lange zugeschaut. Was wir jetzt brauchen, ist eine stringente Syrien-Strategie der EU. Wir Europäer sind unmittelbare Nachbarn von Syrien. Eine gute Entwicklung ist in unserem ureigenen Interesse. Eine Syrien-Strategie muss verschiedene Punkte beinhalten. Der erste und wichtigste Punkt: Die EU übernimmt Verantwortung. Dazu gehört eine Schutzzone im Norden unter internationaler Kontrolle. Wir müssen die Lebensbedingungen vor Ort verbessern. Rund 80 Prozent der Syrer leben in großer Armut. Die Menschen in Syrien brauchen wieder eine Perspektive; sonst bleiben sie nicht im Land. Gerade von den Christen in Syrien höre ich, dass sie ein starkes Signal von Deutschland und Europa erwarten. Nur so können Fluchtursachen vermindert werden. Die Zerstörung der Infrastruktur, der Produktionsanlagen und der Wohnungen durch Assads Armee und die russische Luftwaffe hat ganze Arbeit geleistet. Ich meine die Zerstörung von Städten wie Aleppo und Homs. Von den Bomben der russischen Luftwaffe ist in den Anträgen der Linken überhaupt nichts zu lesen. Mit solchen ideologischen Anträgen kann man sich darum nicht ernsthaft befassen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Menschen brauchen eine Perspektive. Darum müssen wir auch über das Thema Sanktionen reden. Ich meine nicht die Sanktionen gegenüber der verbrecherischen Führung des Landes, die die Menschenrechte verletzt und das Völkerrecht gebrochen hat. Diese Sanktionen müssen bleiben. Es gibt aber auch Sanktionen, die mehr das Volk treffen als die verbrecherische Führung. Und sie führen dazu, dass den Menschen eine Perspektive im Land fehlt. ({0}) Ich denke zum Beispiel an Ersatzteile für die Wasser- und Stromversorgung, an Maschinen für Handwerker und Baumaschinen. Die Aufhebung dieser Sanktionen, die die Menschen treffen und am wenigsten die Führung, muss an Bedingungen geknüpft werden. Dazu gehören die Freilassung der von Assad eingekerkerten Menschen, die Aufklärung über die vielen Tausend Menschen, die verschwunden sind, Sicherheit und Straffreiheit von Rückkehrern und auch, dass die Enteignungen von Flüchtlingen – deren Immobilien enteignet wurden – rückgängig gemacht werden. Zu einer Versöhnung gehört auch die Bestrafung der Haupttäter. Syrien ist – wie der Irak – kein Vertragsstaat des Römischen Statuts. Daher muss die EU darauf hinwirken, dass der UN-Sicherheitsrat dem Internationalen Strafgerichtshof oder einem Sondertribunal das Verfahren zuweist. Denken wir an Ruanda oder Jugoslawien. Das wird im UN-Sicherheitsrat gegen China und gegen Russland sicherlich kein einfaches Unterfangen. Aber ich bin der Überzeugung, wir müssen dafür kämpfen. Zur Strafverfolgung ist eine Beweissicherung zwingend erforderlich. Insofern teile ich das Anliegen aus den vorliegenden Anträgen der Grünen. Wir müssen auch darauf drängen, dass der Verfassungsprozess ernsthaft betrieben wird. Es besteht die Gefahr, dass der Verfassungsprozess nur scheinbar betrieben wird, damit dem Westen unter Gesichtswahrung ermöglicht wird, den Wiederaufbau zu finanzieren. Darum ist Voraussetzung für eine Unterstützung des Wiederaufbaus eine glaubwürdige Veränderung in Syrien. Vielen Dank. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Markus Grübel. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Armin-Paulus Hampel. ({0})

Armin Paulus Hampel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004735, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Schönen guten Morgen, meine Damen und Herren! Liebe Kollegen! Es ist schön, dass sich zumindest in der Union einiges bewegt, zumindest bei Frau Kramp-Karrenbauer. Und auch bei Ihnen, Kollege Markus Grübel, freue ich mich, dass es einige Erkenntnisse gibt, da nämlich die Vorschläge der AfD-Fraktion und noch frühere Vorschläge, als wir noch gar nicht in diesem Hause saßen, jetzt aufgenommen werden. ({0}) Frau Kramp-Karrenbauer hat ja recht, allerdings viel zu spät. 2015 hätte ihr Vorschlag Sinn gemacht und Aussicht auf Erfolg gehabt. 2015, als die Gemengelage noch eine ganz andere war als heute, als sich Russen und Türken noch nicht in Sotschi geeinigt haben, wie sie dort vorgehen wollen, hätte man in der Tat mit den Amerikanern gemeinsam und mit den Russen zusammen unter Beteiligung der Türken, zumindest beratend von der westlichen Seite, den NATO-Ländern, genau solche Schutzzonen schaffen sollen, wie sie Frau Kramp-Karrenbauer jetzt gefordert hat. Damals hätte es erfolgreich sein können. Heute ist es viel schwieriger, weil man in dieser Regierung vier Jahre gepennt hat, meine Damen und Herren. ({1}) Sie haben es gerade angeführt. Rückführung der Flüchtlinge, sagen wir. Sie sagen: Ja, das auch, und zwar wenn man mit Herrn Assad verhandelt. – Dazu gehört aber auch, Herr Grübel, dass man anerkennt, dass, ob man es will oder nicht, das Assad-Regime sich in diesem Konflikt durchgesetzt hat. ({2}) Ob uns das gefällt, ist eine völlig andere Frage. Aber er hat sich durchgesetzt. Zur Diplomatie gehört aber auch – und da fehlt die deutsche Außenpolitik wieder –, dass man auf eine Regierung wie die Assad-Regierung zugeht und mit ihr darüber verhandelt, was möglich ist und was nicht. Genau das haben wir die ganze Zeit nicht getan. Herr Maas hat gestern wiederholt, dass man sich so lange verweigert, bis die Verfassungskommission in Genf zu einem Ergebnis kommt. Meine Damen und Herren, da können wir auf den Sankt-Nimmerleins-Tag warten, bis das endlich Realität wird. ({3}) Um es klar zu sagen: Eine Schutzzone genau in dem Bereich, in dem die Türken jetzt intervenieren, hätte damals Sinn gemacht. Man hätte die Binnenflüchtlinge, die damals noch nicht nach Deutschland geflüchtet sind, in diesen Schutzzonen unter einem robusten UN-Mandat schützen und sicher unterbringen können, und man hätte gleichzeitig einen Puffer gegen die Einflussnahme der Türken geschaffen. Damals wäre es möglich gewesen, heute nicht. Zurück zu der Einwirkung auf Assad. Was müssen wir denn heute machen? Wir können jetzt in unserer Position im Weltsicherheitsrat versuchen, das Rad zu drehen; das ist nach der Entscheidung von Sotschi schwer genug, aber versuchen muss man es auf jeden Fall. Wir haben wiederum 200 000 Binnenflüchtlinge in dieser Region, und ich ahne – das habe ich schon mehrfach gesagt –, wenn wir diesen Konflikt nicht lösen, wohin diese 200 000 Binnenflüchtlinge sich in Bewegung setzen werden, nämlich nach Europa, und 90 Prozent davon – ich verspreche es Ihnen – nach Deutschland. Und das wollen wir als AfD-Fraktion nicht. ({4}) Wir haben heute nur dann die Möglichkeit, in den Prozess einzugreifen, wenn wir anbieten, bei dem Wiederaufbau Syriens unterstützend zu helfen. Militärisch haben wir keine Möglichkeiten mehr, zu intervenieren. Wir können nur noch politisch intervenieren und, was Russen und andere vielleicht nicht können, finanzielle Unterstützung anbieten. Lieber Herr Grübel, ich gebe Ihnen völlig recht: Man muss das Assad-Regime dazu zwingen – und es ist möglich, wenn man mit dem Wiederaufbau winkt – und sagen: Das geht nur, wenn den Heimkehrern eine sichere Heimkehr garantiert wird, sie nicht politisch verfolgt werden und sie ihr Eigentum selbstverständlich zurückbekommen. Das wäre meines Erachtens verhandlungstechnisch auch heute noch möglich. Allerdings sehe ich gerade die Entwicklung im Libanon, wo durch die internen Konflikte der Druck auf die 1 Million Flüchtlinge dort sich ebenfalls stark erhöht und wir bis dato wiederum nichts unternehmen, um auf eine Lösung des Konfliktes friedlich einzuwirken. Denn wenn die Entwicklung im Libanon eskaliert, bedeutet das, dass sich eine weitere Million Menschen aus der Region auf den Marsch nach Europa machen – und wieder mal zu uns. Wir müssen jetzt allein ein Ziel verfolgen. Statt in Deutschland an die 50 Milliarden Euro für Sozialkosten aufzuwenden, können wir mit einem Bruchteil dieser Summe mit deutschen Firmen beim Wiederaufbau Syriens helfen. Ich habe es gerade erwähnt: Wir können das meines Erachtens mit dem Assad-Regime aushandeln, indem wir ganz klar festlegen: keine Verfolgung der Heimkehrer und Rückgabe ihres Eigentums. Jetzt mache ich Ihnen einen weiteren Vorschlag. Das können Sie nur über ein UN-Mandat machen, und das muss mit einer UN-Person und einer Vertrauensperson gefüllt werden. Sie haben diese Person in Ihren Reihen: mein Freund, den früheren Umweltminister und UN-Envoy Klaus Töpfer. Das wäre eine Person, die hervorragend geeignet wäre – ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin –, als Garant für die Durchsetzung dieser Forderung in Syrien zu wirken. Dann würden Sie für die Menschen Syrien Gutes tun. Wir würden die Heimkehr der Flüchtlinge unterstützen und ihre Sicherheit ebenfalls garantieren. Folgen Sie diesem Vorschlag! Danke schön. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke, Herr Hampel. – Nächste Rednerin: Siemtje Möller für die SPD-Fraktion. ({0})

Siemtje Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004826, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! „Wir verurteilen die türkische Offensive im Nordosten Syriens auf das Schärfste.“ Das, meine Damen und Herren, ist kein Zitat aus den vorliegenden Anträgen, sondern Teil der sofortigen Reaktion unseres Außenministers, Heiko Maas, die gemeinsam mit dem Präsidenten der EU-Kommission, Jean-Claude Juncker, abgegeben wurde und die unsere unumstößliche Position deutlich macht: Die Offensive ist völkerrechtswidrig, und wir verurteilen diese Seitʼ an Seitʼ oder, wenn man so will, im Gleichschritt mit der Europäischen Union. ({0}) Die türkische Offensive in Syrien ist unbenommen ein weltpolitisches Problem, ausgelöst durch den unvorhergesehenen Abzug der USA und die damit einhergehenden geostrategischen Veränderungen in der Region. Offenkundig wird nun der Einfluss des Iran, offenkundig wird die Zerstrittenheit der Kurden untereinander, und offenkundig wird auch die unsichtbare Hand des russischen Einflusses. Offenkundig wird aber auch, dass in dieser Region nun Weltpolitik ohne die westliche Allianz, ohne Europa und ohne Deutschland gemacht wird. Denn wir finden in der Diskussion der Akteure vor Ort nicht statt. Angesichts des Fundaments, auf dem die EU aufgebaut wurde, und unserer ureigenen Interessen an einem stabilen Mittleren Osten und an der Verbreitung und Wahrung der Menschenrechte halte ich das für eine absolut bedenkliche Entwicklung. Die Krise in Syrien ist eine weltpolitische Krise, die in vielerlei Hinsicht – so auch hier – bisher zur Profilierung in der innerdeutschen Debatte missbraucht wurde. Ich finde, das wird der Krise und den notleidenden Menschen nicht gerecht, ({1}) das wird dem Ernst der Lage in Syrien nicht gerecht. Es wird auch der fragilen Situation, in der die EU sich befindet, nicht gerecht, und es wird vor allen Dingen unseren Ansprüchen an uns selber und unsere ethischen Prinzipien nicht gerecht. Weltpolitische Probleme bedürfen globaler Allianzen. Die Menschen in Syrien haben zumindest ein abgesprochenes Vorgehen der europäischen Mitgliedstaaten der NATO oder der gewillten EU-Mitgliedstaaten verdient. Nationale Alleingänge führen nur zu Vielstimmigkeit und öffentlich zur Schau getragener Uneinigkeit – zulasten der bedrohten und notleidenden Menschen. Es ist an der Zeit, tragfähige Lösungen zu erarbeiten. Deshalb ist es vollkommen richtig, dass Deutschland innerhalb der EU, innerhalb der NATO und innerhalb der UN seine Handlungsspielräume auslotet und sich Partner sucht: internationale Partner wie die Mitglieder der Small Group zu Syrien und europäische Partner, die beispielsweise Mitglieder der NATO sein können. Zugleich ist es richtig, sich mit den unmittelbaren Nachbarn der Türkei, mit Griechenland, mit Bulgarien, aber auch mit Rumänien, Albanien, Mazedonien über die Auswirkungen des EU-Türkei-Flüchtlingsabkommens auseinanderzusetzen. Auch hier müssen wir Handlungsoptionen entwickeln, damit Erdogan uns nicht länger erpressen kann. Nur so können wir als Europa tatsächlich zu einer Handlungsperspektive kommen. Es ist auch richtig, dass das Auswärtige Amt mit Hochdruck daran arbeitet, Zugang für humanitäre Hilfe für die Menschen vor Ort zu schaffen. Es ist auch richtig, in mühsamer Kleinstarbeit daran mitzuwirken, dass der Prozess der Verfassungsbildung weitergehen kann. Und es ist auch richtig, alle noch so kleinen Bemühungen zu wagen, um mit Russland und dem Iran ins Gespräch zu kommen. All das ist so viel mehr als ein öffentlichkeitswirksam erhobener moralischer Zeigefinger, wie Sie es hier tun – wohlgemerkt ein Zeigefinger, der nur auf die innerdeutsche Debatte zielt. Genau in diesem Zusammenhang müssen wir uns alle – auch Sie, liebe Opposition – die Fragen gefallen lassen: Wie kann denn Frieden in Syrien geschaffen werden? Was gehört eigentlich dazu? Was wäre uns dieser Frieden wert? Wie hinterlegen wir vollmundige Verurteilungen so, dass auch Autokraten wie Erdogan verstehen, dass es uns ernst damit ist? Welche Bündnisse, welche Allianzen, welche Druckmittel und am Ende auch welche Konsequenzen – militärischen Mittel – können wir zumindest als Drohkulisse oder auch als Schutzkulisse aufbauen? Das sind zugegebenermaßen unbequeme Fragen. Aber wir dürfen uns nicht aus Angst vor unbequemen Antworten in innenpolitisch motivierte Diskussionen zurückziehen. Dafür geht es um zu viel.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Kommen Sie zum Schluss, bitte. ({0})

Siemtje Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004826, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin überzeugt: Es ist an Deutschland, seine erfahrene und besonnene Stimme in dieser unübersichtlicher werdenden Welt einzubringen. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Möller. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Ulrich Lechte. ({0})

Ulrich Lechte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004799, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte drei Gäste oben auf der Tribüne! Meine Jungfernrede im Deutschen Bundestag hatte ich zur völkerrechtswidrigen türkischen Militäroffensive „Olivenzweig“ gehalten. Damals ging es um die Belagerung der Stadt Afrin in Nordsyrien. Das ist mehr als anderthalb Jahre her. Derzeit habe ich ein kleines Déjà-vu-Erlebnis; denn vieles wiederholt sich: Die neue türkische Militäroffensive hat einen euphemistischen Namen: Friedensquelle. Der kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich erneut um einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg handelt, wie Heiko Maas selbst am Mittwoch hier bestätigte. Doch die Sache ist noch viel schlimmer als im vorherigen Jahr, und unsere Bundesregierung gibt ein katastrophales Bild ab. ({0}) Warum? Zunächst muss man fairerweise dazu sagen, dass die Lage äußerst schwierig ist; denn unsere eigenen Verbündeten haben schwere Fehler begangen. Die Türkei – immer noch unser Verbündeter als NATO-Mitglied – hat bereits in Afrin völkerrechtswidrig gehandelt und aus unserer bemerkenswerten Reaktion gelernt: Wir haben weiter Rüstungsgüter in die Türkei exportiert. Wir haben die EU-Beitrittsgespräche nicht abgebrochen. Wir haben nicht entschieden auf die Fehler unseres Verbündeten Türkei reagiert. Erdogan hat daraus den Schluss gezogen, dass er so weitermachen kann wie bisher. ({1}) Unser NATO-Partner USA hat auch seinen Beitrag zur Verschlechterung der Situation geleistet: Trump hat entschieden, unsere kurdischen Alliierten im Kampf gegen den IS schlicht im Stich zu lassen. Und leider wurde diese Entscheidung eins zu eins umgesetzt, ohne Rücksichtnahme auf gegenteilige Ratschläge der Administration und von Parlamentariern im eigenen Land oder gar Rücksprache mit internationalen Partnern wie uns. Dies war ein klares Signal an Erdogan, dass er freie Bahn hat. Der faktische Rückzug der USA ist Realität, garniert mit einem wirren Brief, den Trump dann noch an Erdogan hinterhergeschickt hat. Man ist schlicht fassungslos, meine Damen und Herren! In dieser schwierigen Situation hat unser Graf Lambsdorff sehr frühzeitig eine UN-Schutzzone vorgeschlagen. Meine Fraktion hat damit bereits am 9. Oktober eine Blauhelmmission ins Spiel gebracht, um die Konfliktparteien auseinanderzuhalten. ({2}) Es hatte mich daher zunächst gefreut, als die Verteidigungsministerin und CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer am 21. Oktober diesen Vorschlag aufgriff und ebenfalls eine Schutzzone forderte. ({3}) – Den Lambsdorff-Plan, genau. – Aber leider ist sie dabei sehr dilettantisch vorgegangen, wie wir vorhin schon gehört haben. Sie hat den Vorschlag nicht mit dem zuständigen Außenminister Heiko Maas abgestimmt und ihn nicht einmal ansatzweise durchdacht. Ihr weiterer Vorschlag, dies als NATO-Mission statt als UN-Mission zu gestalten, hat bei einigen, vielleicht gar bei allen Experten im In- und Ausland nur zu Kopfschütteln geführt. Damit hat Kramp-Karrenbauer dem richtigen Anliegen einer Schutzzone und der deutschen Außenpolitik bereits einen Bärendienst erwiesen. Entscheidungen im NATO-Rat erfolgen nämlich einstimmig. Das scheint unserer Ministerin der Verteidigung nicht bekannt gewesen zu sein. Die Türkei wird dort sicher nicht gegen ihre eigenen Interessen stimmen. Das Verhalten der Fachministerin ist damit – für mich zumindest – völlig absurd. ({4}) Doch wer dachte, dass dies schon ein Tiefpunkt der deutschen Politik war, der wurde kurz darauf eines Besseren belehrt. Denn dann kam Außenminister Heiko Maas und hat diesen Dilettantismus seiner neuesten Kollegin noch getoppt: Am 26. Oktober, wie wir heute schon gehört haben, stellte Maas sich in Ankara neben den türkischen Außenminister und lästerte in einer Pressekonferenz über den „theoretischen“ Vorschlag seiner Ministerkollegin Kramp-Karrenbauer. Kurz nachdem Erdogan Maas noch als Dilettant verspottet hatte, führte gekränkte Eitelkeit bei Heiko Maas zu einem Fauxpas par excellence, nur um innenpolitisch eine Spitze gegen den eigenen Koalitionspartner loszuwerden.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Und die Redezeit ist vorbei.

Ulrich Lechte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004799, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wer unserer Außenpolitik derart schadet, nur um innenpolitisch zu punkten, der hat das Amt des Außenministers nicht richtig verstanden. Fazit: Heiko Maas hat nicht nur seinem ehrenwerten Amt geschadet, sondern auch der internationalen Syrien-Politik, -

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Die Redezeit ist vorbei. – Sonst mache ich den Kubicki. ({0})

Ulrich Lechte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004799, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

– vom Ansehen Deutschlands auf dem diplomatischen Parkett ganz zu schweigen. Vielen Dank, Frau Präsidentin. Ich bin am Ende meiner Rede. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke, Herr Kollege Lechte. – Nächster Redner: Omid Nouripour für die Grünen. ({0})

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist in der Tat mit das ernsteste Thema, das man diskutieren kann. Was in Syrien als friedliche Demonstration begann, auf die geschossen wurde, ist acht Jahre später eine unendliche Geschichte von Leid mit über einer halben Million toten Menschen. Es gibt viele Verantwortliche dafür. Es gibt Kriegsverbrechen aller Parteien. Die Hauptverantwortung trägt unbestritten das Regime von Assad. Das Leid ist aber gerade massiv verstärkt worden durch das Eingreifen der Türkei. Diese Offensive ist völkerrechtlich, humanitär und auch für die NATO als Organisation eine immense Herausforderung. Allein die Tatsache, dass zurzeit humanitäre Organisationen im Norden Syriens kaum arbeiten können, während 300 000 Menschen auf der Flucht sind, zeigt, wie dramatisch die Lage ist. Das darf nicht dazu führen, dass wir die Aufmerksamkeit von dem, was im restlichen Syrien und vor allem von dem, was derzeit in Idlib passiert, abziehen. Dort sind zwar jetzt die Kampfhandlungen halbwegs weniger geworden, weil sowohl die Türkei als auch Syrien ihre Streitkräfte für die anderen Schlachten abgezogen haben. Aber dort sind über 2 Millionen Menschen eingeschlossen in einer Region, in der nahezu alle Krankenhäuser systematisch weggebombt worden sind. Das ist eine Verpflichtung für uns, nicht zu vergessen, was dort passiert, und auch weiterhin hinzuschauen. ({0}) Hier wird manchmal ein Pappkamerad aufgestellt, man müsse doch mal mit Assad reden. Es war in den letzten Jahren nie anders. Die Vereinten Nationen haben durch den Genfer Prozess ständig mit Assads Vertretern gesprochen. Aber die Frage ist: Wohin führt das, und was sind die Bedingungen dafür? Wenn Assad jetzt kommt und sagt: „Ihr habt Panik vor Flüchtlingen? Ich nehme euch die Angst, ich nehme die Leute auf – wenn ihr mir Milliarden gebt“, und wenn Erdogan quasi mit derselben Rechnung – mit einem Preisschild von 27 Milliarden – genau dasselbe tut, dann stellt sich nicht nur die Frage, ob unsere Panik falsch ist, sondern dann stellt sich auch die Frage, wie wir dem entgehen können. Die Antwort darauf ist: Bedingungen stellen. Herr Kollege Grübel, ich habe viele Ihrer Ausführungen nicht geteilt – abgesehen vom Lob für unsere Anträge –, aber jenseits davon bin ich sehr dankbar, dass Sie Bedingungen genannt haben. Dazu gehört natürlich in erster Linie, dass über 100 000 politische Gefangene in diesem Land freigelassen werden. ({1}) Dazu gehört natürlich in erster Linie, dass wir erfahren, wo die ganzen Verschwundenen hingekommen sind. Dazu gehört, dass wir erfahren, was mit denjenigen geschieht, die zurückgehen, und was aus ihrem Hab und Gut wird, das konfisziert worden ist, als sie plötzlich nicht mehr da waren. All das fehlt. Nichtsdestotrotz ist die zentrale Aufmerksamkeit derzeit auf die Situation im Norden gerichtet, auf den Deal von Sotschi und auf die Aggression der Türkei. Das ist eine Herausforderung, der die Bundesregierung nicht gerecht worden ist in den letzten Wochen. Nicht nur sind naheliegende Instrumente wie beispielsweise eine Aussetzung der Hermesbürgschaften nicht ergriffen worden. In einem zentralen Feld der Auseinandersetzung fehlen derzeit auch jegliche Aktivitäten. Das Eingreifen der Türkei führt gerade dazu, dass der Dschihadismus in einer sehr großen Stärke – und vor allem der „Islamische Staat“ als Organisation – wieder sehr stark zurückkommt. Das ist verheerend. Und wenn Erdogan beispielsweise sagt: „Ich werde nicht zulassen, dass Dschihadisten die Grenzen Syriens verletzen“, dann ist das der reinste Hohn, wenn man bedenkt, dass das größte Lager, in dem gefangene Dschihadisten von kurdischen Milizen festgehalten worden sind, al-Hol, etwa 15 Kilometer von der irakischen Grenze, die halbwegs offen ist an der Stelle, entfernt ist. Seit Monaten flehen wir die Bundesregierung geradezu an, dafür zu sorgen, dass wenigstens diejenigen, die bei uns, in unseren Gesellschaften, radikalisiert worden sind – die deutschen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger unter den Dschihadisten und vor allem ihre Kinder –, geordnet zurückgebracht werden. Die Bundesregierung hat nichts getan, bis die Kontrolle über dieses Lager mehr oder minder verloren gegangen war. Das ist extrem fahrlässig. Das bedeutet einen Riesenrückenwind für den Dschihadismus, der durch die Passivität dieser Bundesregierung mit verstärkt worden ist.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Nouripour, die Redezeit.

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Letzter Satz, Frau Präsidentin. – Es ist wirklich bizarr, wenn Sie sagen, Länder wie Tunesien müssten ihre Dschihadisten zurücknehmen, Sie selbst das aber nicht tun. Das ist geballte Heuchelei. Das muss aufhören! ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Omid Nouripour. – Dr. Andreas Nick gibt seine Rede zu Protokoll. Aydan Özoğuz ihre Rede zu Protokoll. ({0})

Alexander Radwan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004383, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Guten Morgen! Meine sehr verehrten Damen und Herren, dass wir die Debatte heute um 0.45 Uhr führen, bedaure ich sehr, und alle, die unmittelbar von diesem Thema betroffen sind und dieses möglicherweise beobachten, sollen nicht daraus schließen, dass dieses Thema für uns keine Bedeutung hat. Der Kollege Omid Nouripour hat es gesagt: Das ist ein sehr wichtiges Thema. Ich hätte es sehr begrüßt, wenn mit anderen Themen, die tagsüber beraten worden sind und die vielleicht nicht diese Bedeutung haben, getauscht worden wäre. Es wurde bereits angesprochen: Die USA haben sich aus Syrien zurückgezogen, haben ein entsprechendes Vakuum hinterlassen. Nur wenige Stunden später haben Russland, die Türkei und Assad Fakten geschaffen, haben dieses Vakuum gefüllt. Meine Damen und Herren, darum sage ich Ihnen klipp und klar: Die Diskussion, die durch die Bundesverteidigungsministerin angestoßen wurde, ist aktueller denn je, zeigt uns, dass es notwendig ist, dass wir in Europa endlich dazu kommen, hier entsprechende Verantwortung zu übernehmen. Das eine betrifft die Aufgabe, die Waffenruhe zu stabilisieren und eine Sicherheitszone zu schaffen. Herr Kollege Lechte, Sie mögen mit dem Begriff der NATO in dem Bereich agieren, aber erklären Sie uns erst einmal, wie Sie mit den Russen im UN-Sicherheitsrat Einstimmigkeit herstellen wollen. Von daher sage ich Ihnen: Man muss beides probieren, und man sollte es jetzt nicht von einer Seite zur anderen schieben und letztendlich zu innenpolitischen Zwecken nutzen. Humanitäre Hilfe vor Ort ist dringend geboten; denn die Menschen, die in Not sind – insbesondere die Kurden –, brauchen unsere Hilfe in der elenden Situation. Der politische Prozess zur Stabilisierung in Syrien ist dringend notwendig. Ein Punkt ist bisher nicht angesprochen worden: Wir dürfen bei all diesen Entwicklungen natürlich nicht den Kampf gegen den IS aus den Augen verlieren. Die ursprüngliche Situation im Kampf gegen den IS ist nach wie vor gegeben. Die Finanzierung des Wiederaufbaus ist notwendig, damit wir helfen, dem Land wieder Struktur und den Menschen wieder eine Basis zum Leben zu geben. Wir müssen die Bedingungen dafür schaffen; der Kollege hat es angesprochen. Und natürlich brauchen wir von europäischer und deutscher Seite eine entsprechende Internationalisierung und eine regionale Gruppe, die wir hier einbinden können. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend sagen: Die Situation in Syrien hat uns vor Augen geführt, dass in einer Region, aus der sich die Amerikaner zurückziehen, ein Vakuum entsteht. Dieses Vakuum wird relativ schnell von Ländern bzw. Machthabern gefüllt, die nicht unsere Werte teilen und die in einer Art und Weise Fakten schaffen, die nicht in unserem Interesse sind, auch nicht im deutschen Interesse. Umso mehr ist es geboten, dass wir die Diskussion der Verteidigungsminister endlich ernst nehmen, statt sie für innenpolitische Zwecke zu missbrauchen, und dafür sorgen, dass wir in Europa und in Deutschland endlich dazu kommen, unsere eigenen Interessen in der Welt zu vertreten. Besten Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Alexander Radwan. – Damit schließe ich die Aussprache.

Thomas Erndl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004709, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Meine Kolleginnen und Kollegen! Unser Land profitiert umfassend von der Globalisierung, profitiert umfassend von internationaler Vernetzung. Ein erfolgreiches Netzwerk ist möglichst vielgliedrig, mit möglichst vielen Freunden Deutschlands in möglichst vielen Ländern dieser Welt. Das ist genau der strategische Ansatz unserer Auswärtigen Bildungspolitik: vielen Menschen eine mit Deutschland verbundene Bildungsbiografie zu ermöglichen, mit unserer Sprache, unserer Kultur, unseren Werten als wichtigem Element. Am Anfang dieser Bildungsbiografien, am Anfang jeder Laufbahn steht eine Schule, und zwar nicht nur eine: Wir können auf mehr als 2 000 PASCH-Schulen, also Partner-Schulen, zählen, an denen über 600 000 Schülerinnen und Schüler verstärkt Deutsch lernen. Und wir können vor allem auf 140 deutsche Auslandsschulen in 70 Ländern zählen, die junge Menschen zu unseren Freunden machen. Im Koalitionsvertrag heißt es: Der härter werdende globale Wettbewerb um Köpfe, Ideen und Werte verdeutlicht die wichtige Aufgabe der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik … für Deutschlands Ansehen und Einfluss in der Welt. Die Schulen sind dabei seit langer Zeit ein wichtiger Baustein, ({0}) Sie haben eine Wandlung, eine Entwicklung hinter sich: Waren sie früher Inseln für Kinder von Botschaftsangestellten und für Kinder von ins Ausland entsandten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern deutscher Firmen, sind die meisten dieser Schulen heute sogenannte Begegnungsschulen, das heißt, sie werden überwiegend von einheimischen Schülerinnen und Schülern besucht. Unsere deutschen Auslandsschulen sind Orte der Begegnung und des interkulturellen Dialogs. Sie legen Wert auf Mehrsprachigkeit und individuelle Förderung, damit die Schülerinnen und Schüler sowohl deutsche als auch einheimische als auch internationale Abschlüsse erwerben können. Unsere deutschen Auslandsschulen sind zukünftig auch die Quelle für Fachkräfte, die unser Land dringend benötigt. Wir wollen deshalb prüfen, wo wir gerade die berufliche Bildung noch stärker ausbauen können. ({1}) Unsere deutschen Auslandsschulen sind aber vor allem eines: ein Aushängeschild für unser Land. Hier wird sehr gute Arbeit geleistet. Unsere Aufgabe ist es, für die richtigen Rahmenbedingungen zu sorgen. Die haben wir mit dem Auslandsschulgesetz bereits 2014 gesetzt, und die werden nun überprüft. Die Qualität der Schulen hängt selbstverständlich von den Lehrerinnen und Lehrern ab. Es ist mittlerweile eine große Herausforderung, Stellen zu besetzen, besonders in den MINT-Fächern und bei den Schulleitern. Wir müssen dafür sorgen, dass der Auslandsschuldienst genügend attraktiv ist. Wir haben bei der Lehrerbesoldung bereits einiges erreicht. Bei dem wichtigen Thema „Versorgungszuschlag für beurlaubte beamtete Lehrerinnen und Lehrer“ bin ich zuversichtlich, dass wir ab dem Schuljahr 2020/21 eine versorgungsrechtliche Gleichstellung sicherstellen können, damit Lehrerinnen und Lehrer im Ausland keine finanziellen Nachteile erleiden. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, in unserem Antrag ist uns bzw. der Koalition auch wichtig, dass Schülerinnen und Schüler aus einkommensschwachen Familien unsere Auslandsschulen mit einem ermäßigten Beitrag besuchen können. Wir sprechen uns dafür aus, dem Thema Inklusion die notwendige Aufmerksamkeit zu widmen, mit verstärkter Werbung den Wettbewerb im Bildungswesen in den Gaststaaten anzunehmen, deutsche Unternehmen vor Ort noch stärker einzubinden und vor allem zu prüfen, ob die starre Förderung nach Abschlusszahlen auch in der Zukunft der geeignete Maßstab ist. ({3}) Meine Damen und Herren, ich kann Sie nur ermuntern, auf Auslandsreisen immer auch eine deutsche Auslandsschule zu besuchen. Sie erleben dort hochengagierte Lehrerinnen und Lehrer und auch Eltern in den Trägervereinen, die dafür sorgen, dass junge Menschen lebenslang positiv mit unserem Land verbunden bleiben und zusätzliche Glieder in unserem globalen Netzwerk bilden. Die Stärkung und Förderung der deutschen Auslandsschulen ist Wirtschaftspolitik, Integrationspolitik, Beschäftigungspolitik, Sozialpolitik, Friedenspolitik und so vieles mehr. Ich bitte Sie deshalb, den Koalitionsantrag zu unterstützen. Herzlichen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Thomas Erndl. – Das ist nicht nur ein Koalitionsantrag, wenn ich das mal sagen darf; aber gut. Nächster Redner: für die AfD Fraktion Norbert Kleinwächter. ({0})

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Guten Morgen allerseits! Gemäß Titel soll dieser Antrag von Union, SPD und Grünen das deutsche Auslandsschulwesen stärken. Das wird diesem wohlfeilen Antrag allerdings nicht gelingen. Auslandsschulen sind in der Tat sehr wichtig. Sie tragen zum Verständnis unserer kulturellen Werte, unserer Traditionen und unserer Geschichte bei. Deswegen sollten wir sie fördern und sie auch finanziell stärken. Aber davon ist in Ihrem Antrag keine Rede. Als Lehrer habe ich früher immer meinen Schülern beigebracht, sie sollen den ersten Satz mit Bedacht wählen, weil er einen Text vorprägt. Schauen wir also, was die übergroße Koalition hier niedergelegt hat: Der Deutsche Bundestag stellt fest: In einer Welt, die aus den Fugen geraten scheint, in der alte Ordnungen sich auflösen und Populismus und Nationalismus auch im Herzen Europas auf dem Vormarsch sind, kommt der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik … eine wachsende Bedeutung zu, die Hoffnung macht und Wege aufzeigt. ({0}) Mal ehrlich, liebe Kollegen: Wollen Sie wirklich, dass der Deutsche Bundestag diesen geistigen Tiefflug feststellt? ({1}) Pädagogen würden hier von externer Kausalattribuierung sprechen. Wer wie Sie die Axt an die Grundpfeiler unserer Gesellschaft anlegt, unser Geld entwertet, stabile Arbeitsverhältnisse mit allen Mitteln bekämpft ({2}) und die klaren Definitionen und den Zusammenhalt der Familie, der Gesellschaft und der Geschlechter zu zertrümmern sucht, ({3}) dessen Welt gerät nicht aus den Fugen, sondern der hebt unsere Gesellschaft aus den Angeln. Die Menschen, die wollen diesen Postmodernismus nicht, und sie bewerten Ihre Politik – wie auch ich jetzt Ihren Antrag zu bewerten habe: Mehr als eine Fünf kommt dabei nicht heraus. ({4}) Ihr Antrag strotzt vor ideologischer Arroganz. Diversität und Inklusion bilden eindrucksvolle Wortwiederholungsketten. Sie sprechen von Wirtschaftsfaktoren und dem Bildungsmarkt, in dessen Wettbewerb sich Auslandsschulen zu stürzen hätten. Sie wollen sogar die Fachkräfteeinwanderung über deutsche Auslandsschulen mit regeln, in der Hoffnung, die Schüler werden in Buntland ihr ganzes Berufsleben verbringen. Zu diesem Zweck wollen Sie möglichst früh berufliche Bildung in die Curricula integrieren und deutsche Unternehmen in die Rekrutierung für den deutschen Arbeitsmarkt einbeziehen. Abgesehen davon, dass Sie auf diese Weise nicht das Desaster der verfehlten deutschen Einwanderungspolitik wiedergutmachen können, betreiben Sie mit der Abwerbung qualifizierter junger Leute aus anderen Ländern postkolonialistische Arbeitsmarktpolitik. Wir als AfD haben da einen völlig anderen Ansatz, nämlich einen ideologie- und zweckfreien. ({5}) Wir sind einem humanistischen Bildungsideal verpflichtet. Deswegen haben wir vor allem drei Wünsche für die deutschen Auslandsschulen: Erstens. Wir möchten den Deutschunterricht dort wieder fördern und stärken und auf hohem Niveau die deutsche Kultur und Sprache vermitteln. Zweitens. Wir wollen den Lehrermangel lösen, und zwar nicht durch ineffiziente Werbeaktionen, wie Sie das vorschlagen, sondern durch erhöhte Zuschüsse für ins Ausland gehende Lehrer und für die finanziell benachteiligten Ortslehrkräfte. Und wir fordern mehr Autonomie für die deutschen Auslandsschulen. Das kann auch durch eine Stärkung der Schulvorstände geschehen, die sich vor Ort engagieren und Verantwortung für die Entwicklung der Schulen übernehmen. Fazit: Von all dem ist in Ihrem Antrag nichts zu lesen. Union, SPD und Grüne bemühten sich um eine erste Annäherung an das Thema. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Norbert Kleinwächter. – Ulla Schmidt gibt ihre Rede zu Protokoll. Alexander Kulitz, FDP-Fraktion, gibt die Rede zu Protokoll. Dr. Diether Dehm gibt zu Protokoll. Claudia Roth gibt zu Protokoll. Ursula Groden-Kranich gibt die Rede zu Protokoll.

Dr. Maria Flachsbarth (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003527

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten und lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Kairoer Konferenz vor 25 Jahren brachte einen Paradigmenwechsel in der Bevölkerungspolitik. Sie stellte erstmals den Menschen und nicht die demografischen Vorgaben in den Mittelpunkt. Kairo hatte eine Vision: Alle Menschen – insbesondere Frauen und Mädchen – sollen darüber entscheiden können, ob sie Kinder bekommen möchten und, wenn ja, mit wem, wann und wie viele – frei von Diskriminierung, Zwang und Gewalt. Doch diese Vision haben wir 25 Jahre später längst noch nicht umgesetzt, obwohl diese Entscheidungsfreiheit ein grundlegendes Menschenrecht ist und obwohl sie entscheidend für die gesellschaftliche Teilhabe von Frauen und Mädchen ist; denn nur so können sie ihre Lebensplanung selbst in die Hand nehmen. Realität ist vielmehr: Es gibt in den Entwicklungsländern jedes Jahr 89 Millionen ungewollte Schwangerschaften; das sind 43 Prozent aller Schwangerschaften dort. In Subsahara-Afrika kann jede zweite Frau, die eine Schwangerschaft verhindern möchte, nicht verhüten. Eine ungewollte Schwangerschaft beendet oft den Bildungsweg der betroffenen Mädchen und Frauen und verringert – ja, verhindert – in den meisten Fällen ihre Chancen auf ein gutes Einkommen und ein selbstbestimmtes Leben. Dabei wissen wir doch: Gut ausgebildete Mütter haben gesündere Kinder und können ihnen eine bessere Bildung ermöglichen. Leider gibt es derzeit viel Gegenwind beim Thema „sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte“ – seien es dramatische Mittelkürzungen in der Entwicklungszusammenarbeit durch die USA oder regressive Formulierungsvorschläge beim VN-Gesundheitsgipfel in New York. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit setzt sich deshalb noch entschiedener für sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte ein, weil wir davon überzeugt sind, dass eine gute Entwicklung unserer Partnerländer nur dann möglich ist, wenn die Bevölkerungsentwicklung den Ressourcen des Landes entspricht. Wir sind davon überzeugt, dass jedes Kind, jeder junge Mensch das Recht auf ausreichend Nahrung, Gesundheitsvorsorge, Bildung und einen Job hat – und damit die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben. Alle Mädchen und Frauen müssen deshalb Zugang zu umfassender Sexualaufklärung und zu modernen Kontrazeptiva haben. Unsere Initiative für selbstbestimmte Familienplanung und Müttergesundheit zielt darauf ab, dass jede Schwangerschaft erwünscht und jede Geburt professionell begleitet und sicher ist. Das ist mir ein persönliches Anliegen als Parlamentarische Staatssekretärin im Entwicklungsministerium und als deutscher Champion der globalen Initiative „SheDecides“. Daher werde ich auf der Weltbevölkerungskonferenz in Nairobi in der nächsten Woche den deutschen Einsatz für die Vision von Kairo bestärken. Das BMZ wird die Umsetzung der Kairoer Vision mit mehreren Zusagen beschleunigen. So wird die Initiative für selbstbestimmte Familienplanung und Müttergesundheit bis 2023 verlängert und mit bis zu 100 Millionen Euro jährlich ausgestattet. Außerdem haben wir die Weltbevölkerungskonferenz zum Anlass genommen, noch dieses Jahr die Mittel für Familienplanungsvorhaben in Niger, in Malawi und in Kamerun aufzustocken. ({0}) Und schließlich erhöhen wir die deutschen Kernbeiträge für den UN-Bevölkerungsfonds UNFPA und die International Planned Parenthood Federation auf 33 bzw. 12 Millionen Euro in 2019. Daher danke ich Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, sehr herzlich für Ihre Unterstützung bei den Haushaltsverhandlungen zu diesem Thema. Danke schön. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. – Der nächste Redner: Dietmar Friedhoff für die AfD-Fraktion. ({0})

Dietmar Friedhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004719, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es geht um sexuelle und reproduktive Gesundheit, Gleichberechtigung und Bildung für Frauen und Kinder, Hunger, Krieg, Armut, Nachhaltigkeit und Teilhabe im Kontext des Bevölkerungswachstums. Ich möchte hier aus drei Berichten zitieren: Erstens. Das BMZ schrieb: „Für die nachhaltige Entwicklung“ von Entwicklungsländern „ist es wichtig, das Bevölkerungswachstum abzuschwächen“. Zweitens. In der Declaration of Population – 1964 und 1966 – schrieb die UN: Ziel war es, das Bevölkerungswachstum in den Entwicklungsländern zu begrenzen. Drittens. Der Schlusssatz der Weltbevölkerungskonferenz in Kairo 1994 lautete: Vonseiten der Eltern sollten die Bedürfnisse der lebenden und zukünftigen Kinder sowie die Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft berücksichtigt werden. Es geht also um Bevölkerungsbegrenzung und Verantwortung. Das muss uns bei der Begrifflichkeit „reproduktive Gesundheit“ klar sein. Es geht um ein selbstbestimmtes sexuelles Leben jenseits von Kinderehen, Beschneidungen, Misshandlungen und Drangsalierungen. Es geht um die freie Entscheidung, Kinder zu bekommen, jenseits pseudoreligiöser oder pseudogesellschaftlicher Dogmen der Zwangsbeglückung und mit dem Ziel: weniger Kinder und mehr gesellschaftliche Teilhabe aller Menschen. Im Hinblick auf ein zukünftiges Wachstum um 3 Milliarden Menschen in 30 Jahren in den Armutsgebieten der Welt ist Bevölkerungswachstum doch das zentrale Thema, auch unter Berücksichtigung nie dagewesener Umweltzerstörungen, Ernährungsunsicherheiten und des Ressourcenwahnsinns. Kommen wir zum Schluss aber noch mal zum Bericht von Kairo aus dem Jahr 1994 und hier insbesondere zum Thema Verantwortung, zu der Verantwortung anderen gegenüber: Verantwortung bedeutet, für seine Handlungen selbstverantwortlich einzustehen, Rechenschaft abzulegen oder Strafen zu akzeptieren. Das setzt Verantwortungsgefühl sowie die Kenntnis von Wertevorstellungen und sozialen Normen voraus. Und genau hier kommt es zu einem Wertedilemma. Was, bitte, wenn es verschiedene Normen und Wertevorstellungen gibt, so zum Beispiel die UN-Menschenrechtserklärung gegenüber der Islamischen Menschenrechtserklärung von Kairo aus dem Jahr 1990? Hierin erhebt der Islam die Scharia über jedes staatliche Recht und den Mann über die Frau. Welche Werte sollen nun das Leben der betroffenen Menschen bestimmen? Ihre? Unsere? Andere? Im Hinblick auf das Bevölkerungswachstum, die Freiheit von Menschen und die Erhaltung unserer Welt braucht es eine offene, differenzierte, aber auch kritische Auseinandersetzung mit dem instrumentalisierten Islam, dem politischen Islam, aber auch den patriarchalischen Staaten und Gesellschaften; denn oft liegt genau hier das Problem. Das wäre eine echte Weiterentwicklung im Sinne einer selbstverantwortlichen Selbstentwicklungspolitik. Sie haben 60 Jahre lang Entwicklungspolitik betrieben. Erfolg? Die Welt schreit wie nie vor Hunger, Armut, Krieg, Ausbeutung und Korruption. Wollen Sie wirkliche Teilhabe und eine ehrliche Entwicklung für alle Menschen, darf es bei der Bewältigung der Herausforderungen keine Tabus mehr geben. Ihre Anträge erfüllen diese Anforderung bei Weitem nicht.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege.

Dietmar Friedhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004719, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Denn dazu bedarf es mehr Klartext, ({0}) mehr Realität hinsichtlich der Machbarkeit und Mut zur Wahrheit. Danke schön. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege Friedhoff. – Die Kolleginnen und Kollegen Gabriela Heinrich, Dr. Christoph Hoffmann, Helin Evrim Sommer, Ottmar von Holtz und Dr. Wolfgang Stefinger geben ihre Reden zu Protokoll,

Ulle Schauws (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004395, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch noch 70 Jahre nach Entstehung unserer Verfassung wird eine Vielzahl von Bürgerinnen und Bürgern im Grundgesetz nicht erwähnt. Das Fehlen der sexuellen Identität in Artikel 3 Absatz 3 schreibt bis heute eine Rechtsungleichheit fort. Aus diesem Grund legen wir Grünen zusammen mit FDP und Linken diesen Gesetzentwurf vor, weil endlich auch die letzte von den Nationalsozialisten verfolgte Gruppe explizit im Grundgesetz genannt werden muss. Die sexuelle Identität von Menschen unter den Schutz unserer Verfassung zu stellen, ist jetzt das Gebot der Stunde. ({0}) Der gerade verstorbene, hochgeschätzte Bundesanwalt Manfred Bruns, den wir in würdevoller Erinnerung behalten werden, sagte es auf den Punkt: Die Verfassung behandelt „Homosexuelle als Bürger zweiter Klasse“. Ich sage: Damit muss nach 70 Jahren Schluss sein. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wäre bereits 1949 die sexuelle Identität im Grundgesetz verankert worden: Hätte es den Unrechtsparagrafen 175 StGB dann noch gegeben? Hätte es dann den Kampf für die Ehe für alle gegeben? Wären Regenbogenfamilien dann noch immer rechtlich schlechter gestellt? Wären die schädlichen, menschenverachtenden Konversionstherapien dann möglich gewesen? Die Antwort ist: Nein. All dies wäre mit dem Merkmal der sexuellen Identität in Artikel 3 Absatz 3 Grundgesetz schwerlich gegangen. Vielen Menschen wäre viel Leid erspart geblieben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir Grünen haben bereits vor zehn Jahren eine Ergänzung des Grundgesetzes gefordert. Die heutige Justizministerin Lambrecht hat das damals unterstützt. Wir können sicherlich sagen, dass sich in puncto gleiche Rechte vieles verbessert hat, und Errungenschaften wurden mit Freude gefeiert. Aber in Zeiten, in denen Rechtsextreme im Bundestag beantragen, die Ehe für alle wieder abzuschaffen, in denen eine Parteivorsitzende Kramp-Karrenbauer auf Kosten von gesellschaftlichen Minderheiten Witze reißt und in denen eine Bildungsministerin Karliczek mit Vorurteilen gegen LSBTI irrlichtert, braucht es unmissverständlich auch den Schutz von Lesben, Schwulen und Bi im Grundgesetz. Es darf nie wieder geschehen, dass eine politische Stimmungslage zur Gefahr für die Freiheit und Würde Einzelner werden kann. ({2}) Das lehrt uns die Geschichte unseres Landes, in dem Menschen aufgrund ihrer sexuellen Identität menschenrechtswidrig verfolgt wurden. Eine Erweiterung von Artikel 3 Absatz 3 bedeutet, verantwortungsvoll mit der eigenen Geschichte umzugehen – so, wie es bereits mit der Ergänzung durch die Verankerung des Merkmals „Behinderung“ 1994 passiert ist. Darum an Sie, Kolleginnen und Kollegen der Union, und insbesondere an Herrn Kollegen Frei gerichtet: Es ist nicht glaubwürdig, die wichtige Ergänzung als „Aufblähung“ zu bezeichnen. Sie alle wissen, dass ein ausdrücklicher Verfassungswortlaut eine größere Strahlkraft hat als die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Darum: Machen Sie sich ehrlich! Springen Sie hier über Ihren Schatten! ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Verfassung ist überdies die zentrale Grundlage, auf der wir festlegen, welche Werte wir teilen. Sie ist richtungsweisend für eine solidarische, gerechte Gemeinschaft. In Schulen oder Integrationskursen wird die Verfassung im Unterricht behandelt. Solange die sexuelle Identität im Grundgesetz fehlt, sind auch bestehende Anfeindungen unsichtbarer und werden sie so bagatellisiert. Alle, die das Grundgesetz lesen, sollen dort sich selbst, ihre Freundinnen und Freunde und ihre Familienmitglieder wiederfinden. Nach 70 Jahren steht es dieser großartigen Verfassung gut zu Gesicht, vervollständigt zu werden. Es geht hier nicht um Symbolik, sondern es geht um den Abbau rechtlicher Nachteile. Homo- und bisexuelle Menschen sind keine Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse. Stimmen Sie unserem Gesetzentwurf deswegen zu! Vielen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir debattieren über eine Änderung im Herzen unseres Grundgesetzes, im Bereich der Grundrechte. Deswegen sollten wir über diese Frage sehr sorgsam und auch wohlüberlegt sprechen. Ich glaube, zunächst einmal ist wichtig, deutlich zu machen, dass der Artikel 3 des Grundgesetzes, um den es geht, zwei Abschnitte hat: zum einen den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz und zum anderen die sogenannten Diskriminierungsverbote. Wir sprechen heute davon, ob man in die Diskriminierungsverbote noch das Merkmal der sexuellen Identität aufnimmt oder nicht. Gewiss vermag ein Blick zu den Verfassungsmüttern und Verfassungsvätern hier nicht so recht weiterhelfen. Im Mai 1949, zur Zeit der Entstehung des Grundgesetzes, war die Diskriminierung von Homosexuellen nämlich noch gang und gäbe – Stichwort: § 175 des Strafgesetzbuchs. Die Weltanschauungen haben sich in den letzten 70 Jahren sukzessive geändert – zu Recht. Wir haben das abgebildet, indem wir als Deutscher Bundestag gesagt haben: Es war unrecht, dass Menschen zwischen 1949 und 1969 unter Geltung dieses Grundgesetzes wegen homosexueller Handlungen verurteilt worden sind. – Diese Rehabilitierung war ein ganz wichtiges Zeichen. Jetzt geht es um die Frage, ob wir im Grundgesetz selbst – im Diskriminierungsverbot – das Merkmal „Sexuelle Identität“ brauchen oder nicht. Ich meine, wir sollten diese Debatte offen und ehrlich und auch konstruktiv führen. Zunächst einmal ein Blick auf die internationale Rechtsordnung: In der Europäischen Menschenrechtskonvention gibt es ein solches Diskriminierungsverbot in Bezug auf die sexuelle Identität ausdrücklich nicht, wenngleich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Rechtsprechung ein solches Merkmal stetig einfordert. Auf der anderen Seite sagt die Europäische Grundrechtecharta in Artikel 21, dass es verboten ist, jemanden wegen seiner sexuellen Ausrichtung zu diskriminieren. Ich glaube, wir müssen mit Fug und Recht darüber sprechen, in welchem Umfang wir uns eine solche Änderung vorstellen könnten. Zunächst einmal wäre die Frage des Begriffs – ob wir über „Identität“ oder „Ausrichtung“ sprechen – zu klären. Identität ist etwas, was ein Mensch in sich selbst hat, während die Ausrichtung etwas ist, was auf den anderen bezogen ist. Das ist der Grund, weshalb wir sagen: Lasst uns diese Fragen durch eine Anhörung in Ruhe klären und dann daraus ableiten, was das für die Praxis bedeutet. Ich glaube, dass wir durch eine grundgesetzliche Verankerung dieses Merkmals auf alle Fälle Menschen noch stärker vor Diskriminierungserfahrungen schützen können und dass wichtige gesetzgeberische Entscheidungen dadurch eine verfassungsrechtliche Fundierung bekommen. Wir wollen im Deutschen Bundestag demnächst darüber entscheiden, ob wir das Verbot der sogenannten geschlechtszuweisenden Operationen endlich umsetzen. Wir wollen darüber sprechen, dass sogenannte Konversionstherapien verboten gehören, weil es letztlich unrecht ist, den Eindruck zu erwecken, es sei ein Schaden oder etwas Minderwertiges, wenn jemand eine andere sexuelle Orientierung hat. Das gehört nicht mehr in das Jahr 2019. Wir müssen hier deutlich machen, dass wir die Menschen eindeutig gleich behandeln. Über die entscheidende Frage, ob das Diskriminierungsverbot bezüglich der sexuellen Identität nicht schon durch den Begriff des Geschlechts abgebildet ist oder nicht, lässt sich trefflich streiten. Aber das sollte uns nicht von vornherein davon abhalten, Nein zu sagen. Ich glaube, wir müssen uns insgesamt das Verfassungsgefüge mit Blick auf die Frage ansehen, was eine solche Grundgesetzänderung ganz konkret in der Praxis bedeuten kann. Wir haben – ich sage das ganz offen und ehrlich – bei der Diskussion über die Ehe für alle einige Kollegen gehabt, die die Ehe für alle auch deswegen abgelehnt haben, weil sie gesagt haben: Dazu fehlt es auch an einer verfassungsrechtlichen Grundlage. – Eine solche Einfügung in Artikel 3 Grundgesetz könnte diese verfassungsrechtliche Grundlage, die die Kollegen damals vermisst haben, letztlich schaffen. Sie sehen also, es gibt hier einige Aspekte, die wir zu bedenken haben, und ich glaube, das sollten wir offen und ehrlich auch in einer Anhörung diskutieren. Ich will abschließend eines sagen – unabhängig von der Frage, ob in Artikel 3 Grundgesetz „Sexuelle Identität“ oder „Sexuelle Ausrichtung“ steht –: Es muss die klare Botschaft von diesem Bundestag ausgehen, dass wir in unserem Land keine Diskriminierungen dulden, weil ein Menschen so oder so liebt oder diese oder jene sexuelle Identität oder Ausrichtung hat. Das darf in diesem Land nicht vorkommen. ({0}) Wir stellen uns auch gegen all diejenigen, die das Rad bei dieser Frage zurückdrehen wollen. Es ist vom Deutschen Bundestag entschieden worden, und es geht jetzt darum, dass wir in der Gesellschaft genügend Akzeptanz dafür schaffen, dass Menschen nicht diskriminiert werden, weil sie homosexuell oder intersexuell sind oder weil sie ihr Leben anders, als manche sich das vielleicht vorstellen, gestalten wollen. Das ist eine Frage von Respekt und Toleranz und eines friedlichen Umgangs, und den wollen und sollten wir weiterhin pflegen. Deswegen: Lassen Sie uns mit offenem Ergebnis intensiv über diese Grundgesetzänderung beraten! Herzlichen Dank. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege Ullrich. – Der nächste Redner: der Kollege Fabian Jacobi, AfD-Fraktion. ({0})

Fabian Jacobi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004767, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf der Fraktionen Linke, Grüne und FDP möchte das Grundgesetz ändern und in dessen Artikel 3 Absatz 3 zu den dort aufgezählten Eigenschaften noch das neue Merkmal der sexuellen Identität hinzufügen. Die Lektüre des Werkes lässt den Leser zunächst einigermaßen ratlos zurück. ({0}) So besteht die Begründung des Entwurfs großenteils aus Ausführungen, in denen seine eigene Überflüssigkeit dargelegt wird. ({1}) Detailreich wird ausgeführt, wie die deutsche und europäische Rechtsordnung und Rechtsprechung vergangene Zeiten und Zustände überwunden haben und heute den Schutz vor Benachteiligung – beispielsweise wegen der Homosexualität eines Menschen – sehr gründlich gewährleisten. Was genau dann eigentlich die beantragte Änderung des Grundgesetzes konkret bewirken soll, wird nicht recht klar. Man ist versucht, sich an dieser Stelle den alten Merksatz ins Gedächtnis zu rufen: „Wenn es nicht nötig ist, ein Gesetz zu machen, dann ist es nötig, kein Gesetz zu machen“ – und es dabei zu belassen. ({2}) Eine weitere Lektüre der Entwurfsbegründung führt dann allerdings zu einem Satz, der vielleicht etwas tiefer blicken lässt. Dieser Satz beklagt eine – Zitat – „jahrzehntelange gesellschaftliche wie politische Unsichtbarmachung“ von homosexuellen Menschen. Das danach offenbar angestrebte Gegenteil der angeblichen Unsichtbarmachung wäre dann wohl die Sichtbarmachung. Das aber würde ein Herausheben und damit Absondern von Menschen aufgrund ihrer Homosexualität bedeuten. ({3}) Nun entspricht es der Lebenserfahrung, dass es eine kleine Minderheit von Menschen gibt, die sich durch eine gewisse übersteigerte Fixierung auf Sexualität – ihre eigene und die anderer Menschen – auszeichnen und dem Rest der Menschheit damit nachhaltig auf die Nerven gehen. ({4}) Keinesfalls trifft dies jedoch generell auf homosexuelle Menschen zu. Im Gegenteil darf man wohl getrost davon ausgehen, dass die große Mehrheit sowohl der homosexuellen wie der heterosexuellen Menschen in ihrem Leben das praktiziert, was den Kern bürgerlicher Lebensweise ausmacht: ({5}) die Trennung von gesellschaftlicher und privater Sphäre, wobei die Sexualität klar der letzteren zugeordnet ist. ({6}) Mit anderen Worten: Die Unterstellung des Gesetzentwurfs, dass homosexuelle Menschen sich angeblich besonders wünschten, in ihrer Sexualität „gesellschaftlich sichtbar gemacht“ zu werden, dürfte in den allermeisten Fällen eine Anmaßung und eine Übergriffigkeit sein. ({7}) Schon deshalb folgen wir diesem Antrag nicht. ({8}) Die Entwurfsverfasser halten es lustigerweise auch für nötig, in ihrem Text ausdrücklich zu versichern, es handle sich bei ihrem Gesetzentwurf nicht etwa um reine Symbolpolitik. Das ist auch wieder bezeichnend; denn natürlich ist er genau das. Anstatt mit dem nutzlosen Versuch des Herumschraubens an der Verfassung nach vermeintlich billigem Applaus zu haschen, könnten sich die antragstellenden Fraktionen auch relevanteren Aufgabenstellungen zuwenden. ({9}) Eine Bedrohung von Homosexuellen jedenfalls geht in Deutschland heutzutage wohl kaum vom deutschen Staat aus, an den sich eine Grundgesetzänderung richten würde, sondern von ganz anderen Akteuren. ({10}) Sinnvoller könnte es deshalb sein, zum Beispiel darüber nachzudenken, wie in Deutschland die Propagierung religiöser Wahnlehren, die Homosexuelle zu Untermenschen erklären, effektiv unterbunden werden kann. ({11}) In diesem Sinne: Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({12})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Dr. Karl-Heinz Brunner. ({0})

Dr. Karl Heinz Brunner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004256, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Wir haben jetzt weit nach Mitternacht, und ich frage mich ernsthaft, ob dieser Zeitpunkt der wichtigen Thematik wirklich angemessen ist. – Nein, ich frage mich nicht mehr; denn die Ausführungen von Herrn Jacobi der AfD haben gezeigt, dass es sehr notwendig ist, auch zu später Stunde über dieses Thema zu sprechen, ({0}) und zwar ganz gleich, ob man bei diesem Thema der Gruppe der homosexuellen, bisexuellen, transexuellen Menschen angehört oder nicht. Ich sage ganz deutlich, verehrte Kolleginnen und Kollegen: So eine gute Sache auf den schnellen Weg zu bringen, wie das die drei Oppositionsparteien FDP, Linke und Grüne machen, tut mir persönlich mit Blick auf die Sache ein bisschen weh. ({1}) Ich sage deshalb „weh“, weil ich zwar der tiefen und festen Auffassung bin, dass es notwendig ist, diese Grundgesetzänderung durchzuführen – dies wünscht die Sozialdemokratie seit vielen Jahren –, dazu aber ein großer gesellschaftlicher und parlamentarischer Konsens herbeizuführen ist, der für eine stabile Zweidrittelmehrheit in diesem Hause und im Bundesrat erforderlich ist. ({2}) Deshalb die Frage: Um was geht es denn wirklich? Es geht darum, dass Artikel 3 unseres Grundgesetzes zum einen sagt: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ Sind sie das aber wirklich? Denn in Absatz 3 wird zum anderen gesagt: Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Übrigens: „Heimat und Herkunft“ ist hier aufgeführt; das Diskriminierungsverbot gilt für alle Menschen, die eine Heimat und eine Herkunft haben. Schließlich folgt die Ergänzung: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Ist Ihnen was aufgefallen? Da fehlt doch was! Denn dieser Schutz wird nicht allen Menschen – was eigentlich selbstverständlich sein sollte – gewährt: Schwule, Lesben, Bi- und Transsexuelle, Intermenschen und andere Diversitäten werden nicht genannt. Sie gehören ganz einfach nicht dazu. Wollen wir nicht, dass sie zu diesem Land dazugehören? Doch, sie gehören dazu. Genau deshalb wiederhole ich seit vielen Jahren gebetsmühlenartig, dass der Marsch des Stolzes, der am 28. Juni 1969 in New York begonnen hat, noch nicht zu Ende ist. Ja, wichtige Marken sind in den vergangenen Jahrzehnten erreicht worden: 1969 die Legalisierung gleichgeschlechtlichen Geschlechtsverkehrs unter Erwachsenen, übrigens ein Erfolg der SPD und von Bundesjustizminister Heinemann, ({3}) 1994 die Aufhebung des § 175 Strafgesetzbuch, übrigens ein Geschenk der Wiedervereinigung – das dürfen wir in diesen Tagen nicht vergessen –, ({4}) 2001 die Einführung der Lebenspartnerschaft, übrigens eingeführt durch SPD und Grüne, ({5}) 2017 die Öffnung der Ehe; auch dies durch Hartnäckigkeit der SPD, und hier darf ich auch die Grünen und die Linke nennen. ({6}) Was aber fehlt, ist die Verankerung dieser gewonnenen Rechte im Grundgesetz über den Tag hinaus, und zwar in Artikel 3 Absatz 3 unseres Grundgesetzes, was wir im Übrigen seit vielen Jahren verlangen. Ich glaube, dass eine Zweidrittelmehrheit mit Unterstützung einer öffentlichen Anhörung und durch intensive Gespräche mit unserem Koalitionspartner zu erreichen ist. Ich glaube daran und möchte für diese Mehrheit im Deutschen Bundestag und im Bundesrat werben. In Bundestag und Bundesrat – da bin ich mir sicher – wird dies auch ohne die Herren und Damen auf der rechten Seite gelingen. Ich bedanke mich. Ich wünsche noch eine gute Nacht und hoffe, dass wir alle gesund und heil morgen in der Früh wieder anfangen können. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Dr. Jens Brandenburg. ({0})

Dr. Jens Brandenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jeder Mensch soll sich frei entfalten können – so wie man ist und so wie man fühlt. Niemand darf aufgrund seiner sexuellen Identität diskriminiert werden. Genau diesen Schutz wollen wir im Wortlaut im Grundgesetz festhalten. Als Gegenargument hat Thorsten Frei von der Union – ich sehe ihn hier nicht, aber er hat sich in der „FAZ“ geäußert – angeführt, eine solche Änderung blähe das Grundgesetz auf und sei ohnehin gar nicht notwendig. Stimmt das? Ich habe einmal nachgeschaut: Das Grundgesetz ist aktuell 23 794 Wörter lang. Eine Erweiterung um weitere 3 Wörter wäre wohl verkraftbar. ({0}) Und wenn Sie sich Artikel 3 Absatz 3 anschauen, stellen Sie fest: Da wäre sogar noch ein bisschen Platz. Oder meinen Sie vielleicht eine angebliche inhaltliche Aufblähung des Grundgesetzes? Entweder sind Sie inhaltlich gegen den Schutz der sexuellen Identität – dann sollten Sie das offen sagen –, oder Sie halten den Schutz auch ohne expliziten Wortlaut bereits für gewährleistet – dann überzeuge ich Sie gerne vom Gegenteil. Mit meinen 33 Jahren bin ich in einem Land aufgewachsen, in dem das Bundesverfassungsgericht und allmählich auch die Politik dem Schutz von Lesben, Schwulen und bisexuellen Menschen in Deutschland einen hohen Stellenwert einräumen. Das ist leider keine Selbstverständlichkeit. Das war in Deutschland nicht immer so. Noch in den 1950er- und 1970er-Jahren haben die Bundesverfassungsrichter auf Basis desselben Grundgesetzes die strafrechtliche Verfolgung homosexueller Männer gebilligt. Zehntausende Männer wurden inhaftiert, weil sie in den Augen des deutschen Staates eine Person des vermeintlich falschen Geschlechtes liebten. Ein solches Unrecht darf sich nie wiederholen. ({1}) Das Grundgesetz schützt die freie Entfaltung der Persönlichkeit, stellt sie aber unter den Vorbehalt des Sittengesetzes, einer Norm also, die dem gesellschaftlichen Wandel unterliegt. Gesellschaftlicher Wandel ist keine Einbahnstraße. Zunehmende Aufklärung und Toleranz sind keine Selbstläufer. Die politische Radikalisierung in Deutschland, aber auch weltweit zeigt, wie zerbrechlich vermeintlich sicher geglaubte Minderheitenrechte eigentlich sind. Politische Stimmungslagen dürfen nicht zur Gefahr für Freiheit und Würde des Einzelnen werden. Spekulieren wir also nicht auf eine hoffentlich wohlwollende Zusammensetzung künftiger Bundesverfassungsgerichte, sondern garantieren wir diesen Schutz der sexuellen Identität im Wortlaut des Grundgesetzes. Daran dürfen wir als Gesetzgeber keinen Zweifel lassen. ({2}) Schließen möchte ich mit einer aufrichtigen persönlichen Bitte an die Kolleginnen und Kollegen der Union. Die Frage nach der Notwendigkeit einer Grundgesetzänderung, wie sie gerade aufgeworfen wurde, ist immer berechtigt. Lassen Sie uns gemeinsam die Ausschussberatung und die Expertenanhörung nutzen, um diese Frage ehrlich zu beantworten. Sie wissen ja, dass auch die FDP-Fraktion früher in dieser Frage eine andere Position vertreten hatte. Tun Sie es meiner Fraktion gleich, und lassen Sie sich ohne Scheuklappen von besseren Argumenten überzeugen. Wir leben in Zeiten, in denen eine politische wie gesellschaftliche Mehrheit die Würde und Freiheit des Einzelnen erkennt und achtet. Solche Jahre sollte man nutzen, um den Wortlaut des Grundgesetzes für stürmischere Zeiten zu wappnen. Sie haben es in der Hand, ob sich die kommenden Generationen homo- und bisexueller Menschen in Deutschland zweifelsfrei auf das Grundgesetz verlassen können. Seien Sie sich dieser Verantwortung bewusst. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke die Kollegin Doris Achelwilm. ({0})

Doris Achelwilm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004651, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir behandeln hier zu sehr später Stunde einen Gesetzentwurf von Gewicht. ({0}) Die demokratischen Kräfte der Opposition – also FDP, Grüne, Linke – wollen, dass das Grundgesetz anders vor Diskriminierungen schützt, die aufgrund der sexuellen Identität verübt werden. Die Idee ist keine, an die noch niemand gedacht hätte. Weltweit gibt es dieses Diskriminierungsverbot von Verfassungsrang zum Beispiel in Portugal, in Schweden, in Mexiko. Auch in vielen deutschen Landesverfassungen, wie etwa der meines Bundeslandes Bremen, ist es aufgenommen, auf Grundgesetzebene trotz einiger Zeitfenster, die es dafür gab, leider nicht. Das wollen wir ändern. ({1}) Zum Hintergrund: Der Gleichheitssatz in Artikel 3 Absatz 3 Grundgesetz benennt seit 70 Jahren Merkmale, aufgrund derer keine Bevor- oder Benachteiligung geschehen soll, darunter Herkunft, Glaube, politische Anschauung – praktisch eine Konsequenz aus der Nazizeit, als Minderheiten aufgrund dieser Merkmale systematisch verfolgt wurden. Sexuelle Identität gehörte als Verfolgungsgrund dazu, war aber 1949 als Formulierung nicht durchsetzbar. Zum Nachtrag kam es seitdem nicht, auch nicht 1994, als das Grundgesetz im Zuge der Einheit reformiert wurde. Was aber 1994 gemacht wurde, war die überfällige Aufhebung des unter dem NS-Regime rabiat verschärften § 175 Strafgesetzbuch. Der § 175 kriminalisierte Homosexualität seit dem Kaiserreich. Ganze Generationen schwuler Männer, aber auch lesbischer Frauen wurden in seinem Namen per Gesetz verfolgt und beschädigt. Erst in der letzten Zeit folgten öffentliche Entschuldigung, Rehabilitation und potenzielle Entschädigungsleistungen gegenüber den noch lebenden Betroffenen. Jahrzehnte beschämendster Kriminalisierung wären vermeidbar gewesen, wenn vor 70 Jahren die Chance ergriffen worden wäre, das Grundgesetz um zwei bis drei Schlüsselworte zu erweitern. Was spricht heute dagegen, diese Lücke zu schließen? ({2}) Es stimmt: Durch beharrliche emanzipatorische Kämpfe haben sich Akzeptanz und Rechtslage trotzdem stark verbessert. Aber das Erreichte ist brüchig, lückenhaft und unter Beschuss. Der Gesetzentwurf der AfD zur Rückabwicklung der Eheöffnung ging ja schon über unsere Tische, zwar ohne Erfolgsaussichten, aber die Absicht von rechts, den mühsam erreichten Fortschritt umzukehren, ist unverkennbar da. Die Abwertung von sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten gründet gesellschaftlich tief. Erst 1995 wurde Homosexualität in Deutschland aus dem WHO-Katalog der Krankheiten genommen. Transrechte hängen in diesem menschenrechtlichen Handlungsfeld am schlimmsten hinterher. Die Abschaffung des Transsexuellengesetzes bedeutet Hoffnung, kommt aber nicht von der Stelle. Gegen alle, die in seinen Wirkungskreis fallen, gibt es besonders viel Gewalt und Hasskriminalität, die gegen queere Menschen allgemein extrem alarmierend ist. Noch einmal: Das wollen wir ändern. ({3}) Eine Ergänzung im Grundgesetz kann die Aufgaben und Probleme sicherlich nicht auf einen Schlag heilen; aber sie setzt einen anderen Rahmen. Das öffentliche Interesse an der Grundgesetzerweiterung ist tatsächlich groß. ({4}) Seit zehn Jahren wird die Forderung von Millionen CSD-Teilnehmerinnen und -Teilnehmern auf die Straße getragen. Die Schutzrechte von unter anderem lesbischen, schwulen, trans-, bisexuellen Menschen ernst zu nehmen, gebietet die Vergangenheit und hilft heute. ({5}) Und es wirkt in eine ungewisse Zukunft. Weil wir wissen, dass Mehrheiten unter Umständen bereit sind, Minderheitenrechte preiszugeben, sollten wir Gleichheitsgrundsätze so verbindlich wie möglich machen. Vielen Dank an dieser Stelle an den Lesben- und Schwulenverband LSVD, der das Thema mit seiner Kampagne „#Artikel 3“ sehr hochgehängt hat. Es wäre Zeit für parlamentarische Umsetzung und Unterstützung. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Kollegin Achelwilm. – Die Kollegen Jan-Marco Luczak und Sonja Amalie Steffen geben ihre Reden zu Protokoll

Steffen Kotré (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004791, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Diese EU-Richtlinie verstößt gegen geltendes EU-Recht – so wie es in den EU-Verträgen dargelegt ist. Die EU ist für den Binnenmarkt zuständig, aber nicht für Gasleitungen, die aus einem Drittland in einem Mitgliedsland anlanden. Die EU wollte Nord Stream 2 verhindern. ({0}) Sie hat versucht, die bestehenden Regeln widerrechtlich auszulegen und sich Nord Stream 2 unter den Nagel zu reißen. Das ist misslungen. Der eigene Wissenschaftliche Dienst hat gesagt: Nein, das ist nicht so. – Dann wollte sie das Verhandlungsmandat, mit Russland zu verhandeln, an sich reißen. Das ist natürlich auch abgelehnt worden. Und der dritte Angriff jetzt, nämlich diese neu gefasste EU-Richtlinie, hat dann letztendlich zum Ziel geführt. Damit wird unsere Gasversorgung künstlich verteuert und unsicherer. Was wir durch solche Regelungen erwarten können, sehen wir zum Beispiel an dem Verbot der vollen Nutzung der OPAL-Gasleitungen. Da haben wir einen kleinen Vorgeschmack, wie die EU unserer Energieversorgungssicherheit schadet. Die EU betreibt an dieser Stelle das Geschäft der USA. Das ist ganz gut daran zu sehen, dass die EU und die USA übereingekommen sind, dass die Flüssiggaslieferungen aus den USA jetzt extrem gesteigert werden; das ist der wahre Grund. Dass sich die Bundesregierung nun diesem wirtschaftlichen Angriff unterwirft, ist ein Ausdruck von Kapitulation. Sie ist nicht mehr in der Lage, deutsche Interessen zu vertreten, ({1}) geschweige denn sie überhaupt noch durchzusetzen. Vor einem Jahr noch hatte die Bundesregierung den richtigen Standpunkt. Merkel – auch an dieser Stelle noch mal betont – hat gesagt: Nein, das ist ein bilaterales wirtschaftliches Projekt von einem Mitgliedstaat und einem Drittstaat. Die EU hat dort nicht mitzureden. – Dass sie nun umgekippt ist, ist erbärmlich und zeugt von einer mangelnden Souveränität Deutschlands. ({2}) Wieder einmal werden wir von der real existierenden EU über den Tisch gezogen. Denn die EU-Regeln machen das Gas teurer, und wir Deutsche zahlen wieder einmal drauf, wie schon zum Beispiel bei den Zahlungen an die EU insgesamt. ({3}) Ein anderes Beispiel ist, dass deutsche Sparer von der EZB abgezockt werden: 54 Milliarden Euro in diesem Jahr, 650 Milliarden Euro insgesamt. ({4}) Wir finanzieren fremde Staaten. Für uns stehen mehr als 2 Billionen Euro im Feuer, und wir wissen nicht, ob wir dieses Geld wiederbekommen, noch bekommen. Das Ergebnis ist, dass wir Deutsche nicht – wie Frau Merkel das immer behauptet – reich sind, sondern wir sind unterdurchschnittlich, ({5}) was das Nettogeldvermögen pro Kopf anbelangt. Da muss sich die Bundesregierung natürlich fragen, wie sie unter diesen Umständen noch glaubwürdig sein kann, wenn sie von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit spricht – handeln tut sie gegenteilig. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die übrigen Kollegen – Timon Gremmels, Martin Neumann, Lorenz Gösta Beutin, Julia Verlinden und Andreas Lenz – geben ihre Reden zu Protokoll. ({0}) Ich schließe die Aussprache.

Dr. Götz Frömming (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004722, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident, meine Fraktion zweifelt die Beschlussfähigkeit des Plenums an. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die AfD-Fraktion zweifelt die Beschlussfähigkeit an. – Es sieht aber ganz gut aus. ({0}) – Also, wir sind im Präsidium der Meinung, dass die Beschlussfähigkeit gegeben ist. ({1}) Bitte schön, Herr Kollege.

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Werter Herr Präsident, laut der Geschäftsordnung kann eine Fraktion bis zum Beginn der Abstimmung eine namentliche Abstimmung beantragen. ({0}) Dies tun wir hiermit.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Gut, dann machen wir eine namentliche Abstimmung. ({0})