Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich freue mich sehr, dass ich meine letzte Rede im Deutschen Bundestag mit so guten Nachrichten verbringen kann.
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– Wer weiß! Aber es spricht eine Menge dafür, dass es die letzte Rede ist, und es spricht auch viel dafür, dass sich der Aufschwung in Deutschland weiter fortsetzt.
Der Aufschwung war gut. Wir hatten im letzten Jahr eine Erhöhung der Wirtschaftsleistung um 2,2 Prozent. Die gute Nachricht dabei ist: Es ist nicht nur der Export, sondern auch eine solide Binnennachfrage, die dazu geführt haben, dass Deutschland gut dasteht. Wir rechnen für das laufende Jahr – das ist die Prognose – mit einem Wachstum von 2,4 Prozent. Wir haben also einen Aufschwung, der in das neunte Jahr geht, und das ist gut. Gleichzeitig haben wir es im letzten Jahr geschafft, die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler dieses Landes bei der Einkommensteuer um 11 Milliarden Euro zu entlasten. Das ist auch ein gutes Signal, das dazu geführt hat, dass der Konsum stärker angeregt werden konnte.
Es ist völlig klar, dass wir uns in der Zukunft stärker für Investitionen und Innovationen einsetzen müssen. Das ist etwas, was wir im Hinblick auf die neue Bundesregierung diskutieren. Wir haben es aber auch in der vergangenen Legislaturperiode bereits gemacht. Zum Beispiel wurden die finanzschwachen Kommunen unterstützt, damit sie besser in Bildungsinfrastruktur investieren können. Insgesamt haben wir den Kommunalinvestitionsförderfonds um 3,5 Milliarden Euro aufgestockt. Da sind jetzt 7 Milliarden Euro drin, damit finanzschwache Kommunen die Schulen wieder auf Vordermann bringen.
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Unser Einsatz für Investitionen und Innovationen muss aber weitergehen. Die deutsche Wirtschaft zögert etwas bei den Ausgaben für Forschung. Wir wollen solche Ausgaben gerne unterstützen. Deswegen haben sich die möglichen Koalitionäre darauf verständigt, die Forschung steuerlich zu fördern. Insofern stehen unsere Vorstellungen in der Tat im Gegensatz zu den Empfehlungen des Sachverständigenrates. Er hält eine solche steuerliche Forschungsförderung nicht für notwendig. Wir hingegen sagen: Wir wollen sie, weil wir so viel Forschung wie nur irgend möglich in Deutschland auf die Beine bekommen wollen. Das Kapital Deutschlands sind die klugen Köpfe. Wir haben keine Rohstoffe – das weiß jeder –, und deswegen müssen wir da noch besser werden.
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Gleiches betrifft das Thema Digitalisierung, das schon in der Vergangenheit ein großes Thema war. Hier müssen wir weiter ansetzen, insbesondere im Hinblick auf den Mittelstand. Dieses Thema hat mir in meinem Jahr als Bundeswirtschaftsministerin besonders am Herzen gelegen. Wir haben eine Menge getan, um den deutschen Mittelstand besser zu informieren und besser darauf vorzubereiten, was sich durch die Digitalisierung in den verschiedenen Geschäftsmodellen der Mittelständler verändert. Wir haben 23 Kompetenzzentren eingerichtet. Dort kann man gezielte und individuelle Beratung bekommen rund um die Frage: Was bedeutet Digitalisierung eigentlich für mein Geschäftsmodell? Ich habe die herzliche Bitte, dass Sie als Abgeordnete in Ihren Wahlkreisen überall dafür werben, dass Mittelständler dieses Angebot auch annehmen und Ihre Industrie- und Handelskammern vor Ort Werbung machen und Informationsveranstaltungen für Mittelständler durchführen, damit das Thema stärker in den Fokus rückt.
Im Moment haben wir volle Auftragsbücher. Im Moment geht es allen gut; alle sind beschäftigt, die Auftragsbücher abzuarbeiten. Aber in die Zukunft gedacht müssen wir noch mehr tun. Die Bitte habe ich. Das müssen Sie in dieser Legislaturperiode weiter voranbringen. Alles Gute dafür!
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Vielen Dank, Frau Zypries. Wenn ich sicher wäre, dass das Ihre letzte Rede im Bundestag war, würde ich Ihnen ein paar freundliche Worte mit auf den Weg geben.
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Aber man weiß nie. Deswegen erteile ich dem Kollegen Dr. Joachim Pfeiffer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
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Herr Präsident! Frau Bundesministerin für Wirtschaft! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir können in der Tat stolz sein auf das, was wir gemeinsam in den vergangenen Jahren erreicht haben. Deutschland steht so gut da wie lange nicht, vielleicht wie noch nie. Wir gehen in das neunte Jahr eines Aufschwungs. Dieser Aufschwung ist mittlerweile der wohl längste Aufschwung, den wir je in der Geschichte der Bundesrepublik hatten. Es ist, ehrlich gesagt, fast schon etwas unheimlich, wenn man die Zahlen sieht, die wir für das Jahr 2018 prognostizieren dürfen.
Das Wirtschaftswachstum wird gegenüber der Projektion vom Herbst letzten Jahres noch einmal kräftig zulegen, und zwar auf 2,4 Prozent. Es wird breit getragen. Der Aufschwung hat als ein Exportaufschwung begonnen. Er wurde dann durch eine zweite Säule ergänzt, nämlich den Binnenmarkt, die Binnenkonjunktur bzw. die Binnennachfrage in Deutschland, die nicht nur stabil, sondern auch weiter im Steigen begriffen ist. In den letzten Jahren wurde häufig beklagt, dass die Investitionen, sowohl die privaten als auch die öffentlichen, nicht im notwendigen Umfang nachziehen. Auch das hat sich geändert. In den letzten Monaten haben insbesondere die Investitionen an Dynamik zugenommen. Ersatzinvestitionen und Erneuerungsinvestitionen in neue Technologien – die Digitalisierung wurde angesprochen – nehmen Fahrt auf. So ist dieser Aufschwung auf mindestens drei Säulen stabil verankert, und es besteht die Hoffnung, dass er weiterhin trägt.
Anders als noch vor zwei Jahren gehen wir davon aus, dass nicht nur die Zahl der Beschäftigten weiter zunimmt, sondern auch die Arbeitslosigkeit weiter abnimmt und ein neues Rekordtief seit der Wiedervereinigung erreicht. Das ist ausgesprochen erfreulich, vor allem angesichts der Flüchtlingsthematik; denn auch diese Menschen drängen zunehmend in den Arbeitsmarkt.
Der Aufschwung kommt bei den Menschen auch an. In diesem Jahr werden die Haushaltseinkommen voraussichtlich um 3,6 Prozent wachsen. Das heißt, real wird, wie in den letzten Jahren auch, bei den Menschen, die diesen Aufschwung erarbeiten, am Ende mehr auf dem Konto sein. Die Inflationsrate wird moderat bei 1,7 Prozent liegen, sodass der Aufschwung bei den Menschen, die arbeiten, wirklich ankommt, und über die entsprechenden Mechanismen wird sich das auch auf die Rente auswirken.
Trotzdem bleiben die Sozialversicherungsbeiträge stabil. Wir haben das Ziel, sie unter 40 Prozent zu halten. Das wird Bestandteil einer möglichen Koalitionsvereinbarung sein. Wo es möglich ist, werden wir Entlastungen vornehmen, beispielsweise den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung senken.
Das, was wir gemeinsam erreicht haben, ist gut und richtig. Wir können stolz darauf sein. Aber wir dürfen uns nicht darauf ausruhen; es ist kein Selbstläufer. Es gibt etwas, das das Wachstum beschränkt, das sozusagen als Wachstumsfessel das weitere Wachstum gefährdet. Ich meine den steigenden Fachkräftebedarf. Mittlerweile ist der Fachkräftebedarf an allen Ecken und Enden zu spüren, nicht nur im Handwerk, sondern auch in der Industrie. Wenn es nicht gelingt, genügend Fachkräfte zu mobilisieren,
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wird der Wachstumsmotor ins Stocken geraten bzw. nicht so rund laufen, wie wir uns das wünschen. Deshalb müssen wir alle Potenziale heben, zunächst die Potenziale im Inland. Wir haben noch immer 1 Million Menschen, die dem Arbeitsmarkt eigentlich zur Verfügung stehen könnten, es aber nicht tun. Hier wird es nicht reichen, mehr Geld in die Hand zu nehmen. Wir müssen diese Menschen richtig aktivieren. Wir müssen darüber nachdenken, was man bei den Arbeitsmarktreformen vor 15 Jahren richtig gemacht hat. Wegen dieser Reformen sind wir da, wo wir sind; aber wir müssen den Weg weitergehen, um insbesondere die Langzeitarbeitslosen zu aktivieren. Wir haben die Zahl der Langzeitarbeitslosen schon halbiert; aber es ist immer noch eine Million. Es reicht nicht, dafür mehr Geld auszugeben; wir müssen diese Menschen entsprechend mobilisieren.
Es gilt, die Rahmenbedingungen weiter zu verbessern, zum Beispiel im Bereich Betreuung, damit die Frauenerwerbstätigkeitsquote, die bereits deutlich gestiegen ist, weiter steigt. Auch die Erwerbsbeteiligungsquote der Älteren muss weiter steigen. Ein Geheimnis unseres großen gemeinsamen Erfolgs am Arbeitsmarkt ist, dass die Erwerbsbeteiligung der Älteren, der über 55-Jährigen, aber auch der über 60-Jährigen, deutlich gestiegen ist. In der letzten Legislaturperiode haben wir beispielsweise mit der Flexirente die richtigen Weichenstellungen vorgenommen.
Es ist wichtig, gleichzeitig den Haushalt weiter zu konsolidieren. Wir werden im nächsten Jahr wahrscheinlich die Maastricht-Grenze erreichen: Die Staatsverschuldung wird auf unter 60 Prozent des BIP sinken.
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– Das hat auch mit niedrigen Zinsen zu tun. Das hat aber auch damit zu tun, dass wir Schulden zurückzahlen. Ihr habt das nicht zustande gebracht, als ihr Regierungsverantwortung hattet.
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Wir zahlen Schulden zurück. Erstmals läuft die Schuldenuhr rückwärts. Wir werden diesen Weg konsequent weitergehen, weil er uns Spielräume für die Zukunft eröffnet.
Wir müssen in der Tat auch die Infrastruktur weiter ausbauen. Wir brauchen schnellere Planungsprozesse im Verkehrsbereich, aber auch im Wohnungsbaubereich. Wir müssen die Planungsprozesse beschleunigen. Im Koalitionsvertrag werden wir – hoffentlich – auch hierzu entsprechende Aussagen machen.
Wir müssen die Gigabit-Gesellschaft entwickeln, nicht nur indem wir den Ausbau des Breitbandnetzes forcieren, sondern auch indem wir beispielsweise bei der nächsten Ausschreibung zum Funknetz vorhandene Lücken schließen.
Wir müssen weiter auf Forschung und Entwicklung setzen. Wir geben derzeit knapp 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung aus. Damit stehen wir in Europa sehr gut da. Wir belegen einen Spitzenplatz in Europa; in der Welt gibt es aber Länder, die noch besser sind, zum Beispiel Südkorea und Japan. Deshalb wollen wir den Bereich „Forschung und Entwicklung“ weiter ausbauen. Neben der bewährten Projektförderung – die Frau Ministerin hat es angesprochen – müssen wir endlich auch die steuerliche Forschungsförderung einführen. In vielen Wahlprogrammen stand sie ja bereits drin.
Wir wollen Entlastungen vornehmen, womöglich auch beim Solidaritätszuschlag. Wir müssen aber ganz genau beobachten, was der Rest der Welt macht. Die aktuelle Steuerreform in den USA beeinflusst natürlich den weltweiten Wettbewerb. Da können und wollen wir in Deutschland und Europa steuerpolitisch nicht untätig sein.
Insofern bleiben in dieser Zeit des Aufschwungs noch genug Aufgaben übrig, die wir bewältigen wollen, damit der Aufschwung auch in ein zehntes, elftes und zwölftes Jahr gehen kann. Dafür setzen wir uns ein. Lassen Sie es uns anpacken.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Jetzt erteile ich dem Kollegen Leif-Erik Holm, AfD, das Wort.
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Liebe Bürger! Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es freut mich ja sehr, dass Sie, Frau Ministerin, heute von einer guten konjunkturellen Lage berichten können. Es stellt sich allerdings die Frage, ob das an der Politik dieser Bundesregierung liegt.
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Um die Antwort vorwegzunehmen: Nein.
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Das ist natürlich in erster Linie Resultat der viel zu lange andauernden Nullzinspolitik der EZB.
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Wir haben in Deutschland eine überschießende Konjunktur, weil der Schuldenturm in Frankfurt die Südländer über Wasser halten muss. Die Folgen sind für die Wirtschaft im Moment positiv, für die Sparer allerdings verheerend. Ihnen sind bereits Hunderte Milliarden Euro an Zinsen entgangen, und jetzt haben wir sogar negative Realzinsen, weil die Inflation wieder anzieht.
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Das Ersparte verliert jedes Jahr an Wert. So geben viele ihr Geld heute eben lieber im Elektronikmarkt aus oder investieren in das eigene Häuschen – kein Wunder, dass die Immobilienpreise deutlich anziehen. In großen Städten sind die Preise schon um 15 bis 30 Prozent überhöht. Die Blase wächst also, und sie droht natürlich irgendwann zu platzen. Das ist ein Problem, das wir vor dem Euro so nicht hatten. Die Bundesbank hätte längst die Zinsen angehoben. Dass das nicht mehr geht, haben Sie mit Ihrer unsäglichen Euro-Politik gegen jede ökonomische Vernunft zu verantworten. Der Euro passt einfach nicht auf so unterschiedliche Volkswirtschaften.
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Die gute Konjunktur überdeckt die Risiken und Probleme, die wir nach wie vor haben. Die Wirtschaftsweisen fordern zu Recht, jetzt Reformen einzuleiten, die dann im Abschwung wirken können; es bestehe jetzt die Chance zur Neujustierung der Wirtschaftspolitik. Genau so ist es; denn irgendwann werden die Zinsen anziehen müssen. Wir brauchen also nicht eine möglichst große Verteilungsdebatte, wie wir sie in den Koalitionsverhandlungen wieder erleben, sondern Strukturreformen und eine deutliche Senkung der Abgabenlast; denn diese steigt schon seit 2010 an und liegt bei über 50 Prozent.
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Sie haben von einer Entlastung der Bürger um 11 Milliarden Euro gesprochen. Das ist allerdings deutlich zu wenig. Seit 2010 haben Sie allein mit den heimlichen Steuererhöhungen durch die kalte Progression so viel Geld eingenommen, dass laut Sachverständigenrat Entlastungspotenzial von über 30 Milliarden Euro besteht. Die Bürger erwarten, dass Sie ihnen das endlich zurückgeben.
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Wenn ich einen Vorschlag machen darf: Schaffen Sie endlich den Solidaritätszuschlag ab!
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Ende 2019 endet der Solidarpakt, und damit entfällt auch die Begründung für den Soli. Also: Weg damit! Nicht irgendwelche Freigrenzen-Mätzchen, die Sie sich auf Ihrem Sondierungsbasar zusammengeschustert haben! Wir wollen endlich Nägel mit Köpfen. Der Soli muss weg!
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Die kalte Progression können Sie gleich mit beerdigen; das ist nämlich gar nicht so kompliziert. Koppeln Sie die Steuerstufen an die Inflationsentwicklung, und fertig ist die Laube. Andere Länder können das auch.
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Es wird auch Zeit, dass wir von den hohen Energiepreisen herunterkommen. Wir haben dank des planwirtschaftlichen Monstrums namens EEG die zweithöchsten Strompreise in Europa.
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Es ist ein Riesenklotz am Bein vieler Mittelständler.
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Und die Kosten steigen: Bis 2025 rechnet McKinsey mit Kosten von 77 Milliarden Euro – nicht insgesamt, sondern dann jährlich. Das EEG schadet unserem Wirtschaftsstandort.
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Reden wir über den Fachkräftemangel. Ja, ihn gibt es in einigen Bereichen. Aber die Lösung wird ganz sicher nicht ein Fachkräftezuwanderungsgesetz sein, wie es der Koalition in spe vorschwebt.
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Wir haben etwas in dieser Art schon, nämlich die Bluecard. Den Erfolg können Sie ablesen. Im letzten Jahr kamen gerade einmal 20 000 Menschen ins Land.
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Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass Deutschland für wirklich gut Qualifizierte kein Topziel ist.
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Stattdessen erleben wir nach wie vor eine unkontrollierte Einwanderung in die Sozialsysteme; denn die große Mehrzahl der hier Ankommenden ist für den Arbeitsmarkt auf lange Sicht ungeeignet. Das sollte mittlerweile auch die Bundesregierung klar erkannt haben.
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Deutschland muss für die sogenannten High Potentials wieder attraktiver werden, und zwar zuallererst für die eigenen. Jedes Jahr verlassen 1 Million Deutsche unser Land, davon viele gut Ausgebildete. Wir brauchen wieder mehr Gründe fürs Hierbleiben: Familienfreundlichkeit, erstklassige Bildung, nicht zu hohe Steuern und Abgaben.
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Außerdem müssen wir schnellstens die Infrastruktur verbessern; sonst werden wir abgehängt. Im Grunde sind wir es ja schon. Wir kriegen keine Flughäfen und Bahnhöfe fertig, Brücken verfallen, und beim schnellen Internet hinken wir anderen meilenweit hinterher. Das kleine Estland hat drei Viertel seiner Bürger mit einem Gigabit-Netz versorgt, bei uns sind es gerade einmal 1,6 Prozent.
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Mir fehlt der Glaube, dass Sie dieses Ziel bis 2025 erreichen. Sie haben ja das Ziel der Versorgung mit 50-Mbit-Leitungen bis 2018 schon nicht erreicht. Die Durchsetzungsrate ist im Prinzip von gestern; auch sie liegt erst bei 80 Prozent. Sie schaffen es einfach nicht.
Wenn Sie sich in den ländlichen Regionen umschauen, sieht es dort noch schlechter aus. Ich habe neulich Post von einem Bürger bekommen. Er hat mir geschrieben: Ich weiß nicht, was passiert, wenn am Jahresende ISDN abgeschaltet ist. – Damit surft er im Moment. – Muss ich dann wieder auf ein 56k-Modem umsteigen? – Sie wissen: Das ist das aus dem letzten Jahrtausend, von kurz nach der Postkutschenzeit.
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Das sind die Probleme, die wir haben. Die Digitalisierung kommt nicht in Gang.
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Meine Damen und Herren, die konjunkturelle Lage ist gut; aber wir erwarten, dass die Bundesregierung diese Phase nutzt, um sich für schwierigere Zeiten zu wappnen. Wir brauchen jetzt Reformen und keine Füllhornpolitik, wie sie sich bei der neuen alten Koalition wieder einmal abzeichnet.
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Michael Theurer, FDP.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! International hochqualifizierte Fachkräfte gewinnen wir für unseren Standort Deutschland nicht, wenn man, wie die AfD, ein Klima der Angst und Abschottung entstehen lässt.
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Der Jahreswirtschaftsbericht ist ein Armutszeugnis und zeigt politische Mutlosigkeit. Die offizielle Überschrift lautet: „Wirtschaftlich gestärkt in die Zukunft“. Ehrlicher wäre ein anderer Titel gewesen, nämlich: „Streit, Stillstand, Weiter-so“.
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Die neue GroKo ist ja, bereits bevor sie ins Amt gekommen ist, so zerstritten, dass ihr Ablaufdatum auf der Stirn steht, nämlich der 14. Oktober 2018, nach der Bayern-Wahl.
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Sehr geehrte Frau Ministerin Zypries, Sie sonnen sich in den guten Wachstumszahlen. Für Sie persönlich ist das sogar verständlich und nachvollziehbar; denn Sie sind die letzte Politikerin der Agenda-2010-Politik.
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Die Reformdividende von Gerhard Schröder ist immens. Sie ist sein Verdienst und auch ein Teil Ihres Verdienstes. Wir hätten von Ihnen aber erwarten können, dass Sie vor einem plumpen Weiter-so warnen. Wir hätten erwarten können, dass Sie davor warnen, die Reformdividende Gerhard Schröders ohne Not für einen kurzfristigen Wählerkauf zu verfrühstücken.
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Das „Handelsblatt“ nennt diese Politik eine „Politik by Spendierhose“.
Wir hätten erwarten können, dass Sie ein Zukunftsbild entwerfen und nicht dem Weiter-so das Wort reden. Sie haben hier einen Eiertanz aufgeführt. Dem Sondierungspapier wollten Sie nicht widersprechen. Das ehrt Sie politisch; wirtschaftspolitisch aber ist das ein Desaster. Was sagt denn die Wirtschaftsministerin dazu, dass die neue GroKo den Unternehmen bei den Gesundheitsbeiträgen weitere 5 Milliarden Euro draufknallen will? Ist das gut für die Wirtschaft? Ist das schlecht für die Wirtschaft?
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Wir sagen, es ist schlecht für die Wirtschaft; denn es belastet insbesondere den deutschen Mittelstand, die kleinen und mittleren Unternehmen. Deshalb muss man hier kritische Worte finden.
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„Mittelstand“ ist eine Weltmarke. Was sagen denn das Wirtschaftsministerium und die Wirtschaftsministerin dazu, dass der Soli nicht komplett abgeschafft wird? Alle führenden OECD-Länder nehmen Steuersenkungen vor. Das zeigen die Trump’sche Reform in den USA, aber auch Macron in Frankreich. Die GroKo will um 10 Milliarden Euro entlasten; angekündigt waren 60 Milliarden Euro. Das heißt, die Parteien CDU, CSU und SPD halten nicht Wort bei dem, was sie versprochen haben.
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Das IW Köln hat ausgerechnet, dass 40 Prozent der übriggebliebenen Lasten durch den Soli die Personengesellschaften zahlen, also Einzelunternehmen, Familienunternehmen. Sie werden durch Ihre Pläne nicht entlastet.
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Was sagen Sie denn zum Fallbeileffekt bei der geplanten Gleitzone? Das ist doch ein offener Verfassungsbruch. Wir Freien Demokraten sagen: Wir werden notfalls nach Karlsruhe gehen, um diesen verfassungswidrigen Soli abzuschaffen.
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Von Digitalisierung lese ich in diesem Jahreswirtschaftsbericht kein Wort. Man bleibt weit hinter dem zurück, was notwendig wäre. Selbst Volker Kauder bedauert in einem Gastbeitrag in der „Welt am Sonntag“, dass jedes zweite Unternehmen in Deutschland keinen Highspeed-Zugang hat.
Hier muss mehr Tempo gemacht werden. Hier hätten wir uns eine entschlossenere Antwort der Bundesregierung gewünscht.
Fazit, meine Damen und Herren: Die Zeche Ihrer Politik bezahlt der Steuerzahler, vor allen Dingen die kleinen und mittleren Unternehmen. Hier muss dringend eine Kurskorrektur vorgenommen werden.
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Jetzt hat der Kollege Klaus Ernst von der Fraktion Die Linke das Wort.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft ist festgelegt, dass der Jahreswirtschaftsbericht „eine Darlegung der für das betreffende Jahr geplanten Wirtschafts- und Finanzpolitik“ enthalten soll. Es geht also ein Stück weit um die Zukunft. Da wundert mich schon die Aussage von Herrn Theurer von der FDP, gut für die Wirtschaft sei es, wenn sie weniger zahlt, am besten gar keine Steuern mehr und im Bereich der Gesundheit auch gar keine Beiträge mehr.
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– Das ist aber schon einmal ein Vorschlag von euch gewesen. – Ich kann nur sagen: Das hat mit Wirtschaftspolitik überhaupt nichts zu tun; das ist reine Klientelpolitik.
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Genau diese Klientelpolitik war die Ursache dafür, dass ihr im letzten Bundestag nicht vertreten wart.
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Also seid ein bisschen vorsichtig, dass der Bürger nicht merkt, was ihr eigentlich macht.
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Das Problem ist, dass in diesem Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung ein Punkt vollkommen ausgeklammert ist, nämlich das Problem der Verteilung. Das kommt nicht vor. Das heißt, bei einer in die Zukunft gerichteten Wirtschaftspolitik erkennt die Bundesregierung die Verteilung überhaupt nicht als Problem an. Tatsächlich ist die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland im Zeitraum von 2000 bis 2017 von 39,9 Millionen auf 44,2 Millionen gestiegen, also um 10,9 Prozent. Das klingt erfreulich. Schaut man genauer hin, merkt man, dass die geleisteten Arbeitsstunden allerdings nur um 3,5 Prozent gestiegen sind. Was bedeutet das? Das bedeutet: Arbeit wurde umverteilt. Vollzeitstellen wurden abgebaut und durch Teilzeitstellen, durch atypische Beschäftigungsformen wie Minijobs und Ähnliches ersetzt.
Um auch das noch einmal deutlich zu sagen: Wenn in einer Zeit, in der Leiharbeit, befristete Beschäftigung und Ähnliches in diesem Land üblich sind, von Facharbeitermangel geredet wird, dann glaube ich das einfach nicht.
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Jeder normale Arbeitgeber, der ein bisschen Hirn hat – und die haben mehr Hirn, als man annimmt, insbesondere wenn man Ihre Reden hört –, hat ein Interesse daran, die eigenen Leute zu binden, indem er vernünftige Verträge macht. Wenn er das nicht nötig hat, dann haben wir beim Fachkräftebedarf eben noch kein Problem; ansonsten würde er das nämlich tun.
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Meine Damen und Herren, Deutschland hat den größten Niedriglohnsektor in Westeuropa. In ihrem Armuts- und Reichtumsbericht erkennt die Bundesregierung an – Zitat –:
Dabei entwickelten sich die realen Bruttostundenlöhne in diesem Zeitraum
– seit 1995 –
in den unteren vier Dezilen
– also für 40 Prozent der Beschäftigten –
zum Teil deutlich rückläufig, während in den darüber liegenden Dezilen teils ausgeprägte Zuwächse zu verzeichnen waren ... Entsprechend nahm die Ungleichheit unter den Bruttostundenverdiensten der Beschäftigten zu.
So weit die Bundesregierung.
Fast die Hälfte der Beschäftigten ist von der wirtschaftlichen Entwicklung abgehängt. Das ist eine Spaltung des Arbeitsmarktes, eine Spaltung bei der wirtschaftlichen Entwicklung unseres Landes, weil ein Teil nicht mitgenommen wird. Wenn Sie das nicht als Problem erkennen, wenn Sie in den Jahreswirtschaftsberichten nicht darauf eingehen, dass es hier ein Problem gibt, das man zu lösen gedenkt, dann wundert mich nicht, dass in den Koalitionsgesprächen, die bisher stattgefunden haben, von Verteilung überhaupt nicht mehr geredet und dies sofort abgehakt wird.
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Das Erkennen des Problems ist, glaube ich, der erste Schritt zur Lösung.
Im Übrigen hat sich die Umverteilung von unten nach oben fortgesetzt. Der Anteil der Löhne am Volkseinkommen ist von 71,9 auf 68,5 Prozent gesunken.
Deshalb, meine Damen und Herren, kann ich Ihnen nur sagen: Wenn Sie tatsächlich eine Politik machen wollen, bei der alle – nicht nur die, für die die FDP steht – an der wirtschaftlichen Entwicklung partizipieren, dann müssen Sie sich dem Problem zuwenden, dass wir eine Vermögens- und Einkommensverteilung haben, die nicht in Ordnung ist und die wir dringend angehen müssen.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Kerstin Andreae von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass es so gut läuft, hat viel mit Europa und der Welt, jedoch herzlich wenig mit der Bundesregierung zu tun. Was aber mit Ihnen zu tun hat, ist, dass es in ganz zentralen Punkten keine Verbesserung gibt.
Der Aufschwung kommt doch schon lange nicht mehr bei allen an. Die Gleichung „Wachstum gleich Wohlstand“ stimmt doch in dieser Form nicht mehr. Der Niedriglohnsektor ist riesig.
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Die Langzeitarbeitslosigkeit verfestigt sich.
Der Fachkräftemangel ist das Thema für Mittelstand und Handwerk schlechthin. Im Dezember 2017 wurden 761 000 offene Stellen gemeldet. Das sind 15 Prozent mehr als im Vorjahr. Und bei der Digitalisierung sind wir gerade einmal auf Platz 17 von 35 Industrieländern. Deutschland verschläft seine Zukunftschancen, meine Damen und Herren.
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Was Sie überhaupt nicht anpacken – die SPD hätte es gewollt, aber die Union macht es nicht, wie wir jetzt lesen dürfen –, ist die Abzugsfähigkeit bei Managergehältern und Boni.
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Warum ist es eine Aufgabe der Steuerzahler, dies zu finanzieren? Das ist nicht gerecht; das ist Kuschen vor der Wirtschaft.
Deutschland war lange Vorreiter in Sachen Umweltschutz. Aber wir verspielen diesen Vorsprung. Beispiel Autoindustrie: Der Trend geht hin zu sauberen Antrieben. Die deutsche Industrie hinkt weit hinterher. Die Bundesregierung steuert nicht dagegen. Wenn Sie wollen, dass unsere Autoindustrie auch in Zukunft weltweit führend ist, dann müssen Sie mehr tun, als eine Kaufprämie für Elektroautos einzuführen.
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Wir Grünen sagen: Wirtschaftspolitik ist mehr als Psychologie, Selbstverpflichtung und das Warten darauf, dass Draghi die Zinsen niedrig hält. Wirtschaftspolitik ist mehr als großes Marketing für kleine Schritte. Das ist es, was uns dieser Jahreswirtschaftsbericht gibt.
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Die Industrie ist viel weiter. Das Wirtschaftsforum in Davos – das ist kein Hort von Umweltaktivisten –
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erklärt Klimaschutz zur größten Herausforderung für die Wirtschaft.
Der BDI, auch kein Sammelbecken von Grünen, fordert von der Politik, Klimaschutz als bedeutende Chance für die Wirtschaft anzuerkennen und diese Chance stärker zu nutzen. Mein Gott, das sind ausgestreckte Hände. Ergreifen Sie sie doch endlich!
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Wo ist denn Ihr Ansatz zu einer ökologischen Industriepolitik? Wir stehen im Wettlauf mit der Klimakrise, und wir müssen alles dafür tun, den Klimawandel ernsthaft in unsere Ökonomie, in unsere Wirtschaftspolitik aufzunehmen. Klimaschutz ist die Herausforderung der Zukunft, und da sind Sie blank, meine Damen und Herren.
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Wissen Sie, was noch ein Riesenskandal ist? Wir sprechen in Deutschland inzwischen von Regionen, die abgehängt sind.
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Das ist ein Armutszeugnis für so ein reiches Land. Wenn ich keinen Arzt und keinen Lebensmittelladen mehr finde, die Ladenzeile leersteht und die Häuser verfallen, dann hat das mit Wohlstand nichts mehr zu tun. Dann wird Wachstum zur Worthülse.
Was ist jetzt Ihre Strategie für diese Regionen? Ich empfehle immer wieder: Beschäftigen Sie sich einmal mit Richard Florida, einem amerikanischen Ökonomen, der wirtschaftlich prosperierende Regionen untersucht hat. Er hat festgestellt, dass es auf drei Dinge ankommt, die berühmten drei T: erstens Technik: Investitionen in zukunftsweisende, moderne und damit grüne Technologien; zweitens Talente: Investitionen in beste Schulen und Hochschulen, in Aus- und Weiterbildung; und drittens Toleranz – das richte ich ganz konkret an die rechte Seite hier im Haus –:
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Wer No-go-Areas für Fremde und Schutzsuchende hat, wer Menschen ausgrenzt und ihnen die Türen verschließt, der handelt nicht nur zutiefst inhuman,
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der verschließt sich auch der Kreativität dieser Welt und schmort im eigenen Saft.
Toleranz ist ein hohes Gut, und wir werden dieses immer verteidigen und schützen. Das ist auch wichtig für die wirtschaftliche Entwicklung in unserem Land.
Vielen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Bernd Westphal, SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist für die Opposition schon schwierig, Argumente gegen den erfolgreichen Jahreswirtschaftsbericht 2018 zu finden.
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Das merkt man an den Debattenbeiträgen.
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Im Jahreswirtschaftsbericht ist eine Bilanz zu erkennen, die nicht nur, aber auch mit den politischen Rahmenbedingungen zu tun hat. In erster Linie haben wir die Erfolge unserer Wirtschaftsstruktur mutigen und kreativen Arbeitgebern, aber vor allen Dingen auch gut ausgebildeten, hochmotivierten und fleißigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu verdanken. Deshalb möchte ich Dankeschön für diese Leistung sagen.
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Wir haben eine sehr erfolgreiche industrielle Struktur. Andere Länder beneiden uns um unsere innovative Industrie, deren Potenzial es uns ermöglicht – meine Vorrednerin hat es angesprochen –, wirtschaftliche Entwicklung, Prosperität, Umweltschutz und Nachhaltigkeit nicht als Gegensätze zu verstehen, sondern diese zusammenzudenken. Das sind keine Gegensätze. Die innovativen Potenziale der Industrie helfen uns, die globalen Probleme zu lösen.
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Die Wettbewerbsfähigkeit unseres Standortes wird an den innovativen Produkten deutlich. Die deutschen Unternehmen können an der Weltspitze mithalten. Das hat damit zu tun, dass wir gute Bedingungen für den Export haben. Das setzt voraus, dass wir Zugang zu Märkten haben und dass wir den Handel nicht nur frei, sondern auch fair gestalten. Es ist schädlich, dass hier Redner gegen Europa reden. Wenn jemand von der Entwicklung in Europa profitiert, dann sind das die deutsche Wirtschaft und die Menschen, die hier leben.
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Was die Zukunft angeht, sind natürlich gewisse Dinge auf den Weg zu bringen. Ich bin mir sicher – daraus mache ich kein Geheimnis –, dass die nächste Bundesregierung aufgrund der stabilen Verhältnisse einer Großen Koalition diesem Land durchaus guttun wird und dass wir mit der Digitalisierung und dem Ausbau der Infrastruktur, aber auch mit der Energiewende wirtschaftspolitische Themen haben, die wichtig sind, wenn es um die Modernisierung unseres Wirtschaftsstandorts geht.
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Bei den Fachkräften sind natürlich verstärkt Anstrengungen im Bereich der Bildung zu unternehmen. Die Koalitionsverhandlungen haben in den letzten Tagen gezeigt, dass hierfür Geld in die Hand genommen wird und dass Strukturen verändert werden.
Beim inklusiven Wachstum gibt es Nachholbedarf in einigen Regionen. Der Strukturwandel produziert auch Ängste und Sorgen bei einigen. Aber ich will an dieser Stelle sagen: Deutschland ist ein starkes, ein erfolgreiches Land. Wir haben mithilfe der Strukturpolitik und der Ansiedlung von Gewerbe und Industrie die Möglichkeit, auch in nicht so starken Regionen für Prosperität zu sorgen. Es gibt gar keinen Grund, in diesem starken Land rechtsnationale Parteien zu wählen.
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Wir alle wollen einen Beitrag dazu leisten, dass wir kein Land der Angst werden, sondern ein weltoffenes und solidarisches Land bleiben, das auch für Investitionen aus dem Ausland attraktiv ist. Deshalb sind Sie keine Alternative für Deutschland, sondern der Abgrund.
Vielen Dank.
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Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Andreas Lenz von der CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Holm, wenn es um Ihre Rezepte geht, dann erinnere ich mich an die Wahlplakate der AfD, auf denen stand: „Raus aus dem Euro!“
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Wenn man aber mit Mittelständlern, den Hidden Champions, spricht, dann sagen diese: Wenn wir aus dem Euro herausgehen, dann können wir zusperren. – Ihre Rezepte sind der Abstieg für Deutschland.
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Die deutsche Wirtschaft steht einmal mehr sehr gut da; wir haben es gehört. Wir gehen „wirtschaftlich gestärkt in die Zukunft“, heißt es daher zu Recht im Jahreswirtschaftsbericht. Das ist in erster Linie ein Erfolg der Unternehmen sowie der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Aber das ist auch ein Erfolg der unionsgeführten Bundesregierung.
Die Arbeit ist und bleibt die Grundlage des Wohlstands; das betonte bereits Ludwig Erhard. So ist es auch heutzutage. Allein im letzten Jahr stieg die Zahl der Beschäftigten um rund 640 000 Personen. An dieser Stelle sei erwähnt, dass Bayern angesichts der Tatsache, dass dort jeder fünfte neue Arbeitsplatz geschaffen wurde – das sind insgesamt 133 000 neue Beschäftigte –, die Jobmaschine ist.
Das Gros der zusätzlichen Jobs sind übrigens, Herr Ernst, sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse, also gute Arbeit, die wir ja alle wollen. Um diese Dynamik fortzusetzen, brauchen wir auch weiterhin einen flexiblen, das heißt einen aufnahmefähigen Arbeitsmarkt. Sozial ist eben immer noch, was Arbeit schafft, und nicht, was für den Einzelnen eine Scheinsicherheit bringt, aber insgesamt Arbeitsplätze vernichtet.
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Die gute Beschäftigungslage schafft auch Spielraum in den Sozialkassen. Auch deshalb fordert der Sachverständigenrat zu Recht eine Senkung der Beitragssätze in der Arbeitslosenversicherung. Das wird im vorliegenden Sondierungspapier mit einer geplanten Senkung von 0,3 Prozentpunkten adressiert. Das würde sowohl die Arbeitgeber als auch die Arbeitnehmer entlasten.
Herr Kollege Lenz, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der AfD-Fraktion?
Sehr gerne.
Vielen Dank, Herr Dr. Lenz, für das Erlauben der Zwischenfrage. – Sie stellen einen möglichen Austritt Deutschlands aus der Euro-Zone als einen potenziellen Ruin dar, weil Sie, wenn ich Sie richtig verstanden habe, der Überzeugung sind, dass ein solcher Austritt unserer Exportwirtschaft massiven Schaden zufügen würde. Können Sie dem Hohen Haus erklären, warum es dann möglich gewesen ist, dass Deutschland bereits vor Einführung des Euros Exportweltmeister war?
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Es ist wieder einmal nicht so einfach, wie es die AfD darstellt, etwa auf ihren Wahlplakaten.
Wir hatten schon vor Einführung des Euros ein System der Wechselkursbindungen, das auch im Hinblick auf die Einführung des Euros entsprechend ausgestaltet war. Wie gesagt, ist der Euro Teil der Exportstärke Deutschlands.
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Wir sehen doch an der aktuellen Entwicklung im Export: Steigt der Euro, geht es der deutschen Wirtschaft schlechter.
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Würde Deutschland aus dem Euro aussteigen – das besagen alle Studien –, dann würden unsere Waren aufgrund der dann eintretenden Exportschwäche signifikant teurer werden, etwa um 30 Prozent.
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Das würde die deutsche Wirtschaft massiv beeinträchtigen. Deswegen ist Ihr Konzept keine Alternative und auch wirtschaftlich nicht sinnvoll.
({3})
Da wir gerade bei Europa sind: Man muss auch sagen, dass der Aufschwung in ganz Europa ankommt. Wir haben mit 7,8 Prozent mittlerweile die niedrigste Arbeitslosenquote in der EU seit über neun Jahren, also dem Ausbruch der Wirtschafts- und Finanzkrise. Diese Krise hat übrigens auch nichts mit der Einführung des Euros zu tun gehabt.
Schauen wir uns außerdem an, wie Prognosen für das Jahr 2018 ausschauen. Für fast alle Staaten wird eine bessere wirtschaftliche Entwicklung prognostiziert. Als einzigem Land wird übrigens Großbritannien keine bessere wirtschaftliche Entwicklung prognostiziert. Auch hieran sieht man, dass sich der Brexit wirtschaftlich negativ auswirkt.
Der Außenbeitrag trägt 0,2 Prozentpunkte zum Wirtschaftswachstum von 2,2 Prozent in 2017 bei; das sind gemessen am Bruttoinlandsprodukt 7,6 Prozent. Auch hier ist es so, dass die Importe schneller steigen als die Exporte. Trotzdem haben manche hier im Hause immer noch Angst aufgrund des Exportüberschusses, Herr Ernst.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich hätte viel mehr Angst, wenn wir keine Überschüsse mehr erzielen würden. Sie sind ein Zeichen der globalen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft.
({4})
Wir, Deutschland, konkurrieren doch mittlerweile viel mehr mit den USA, mit China, mit Südostasien als mit unseren europäischen Nachbarländern. Das zeigt sich beispielsweise in einem neuen Steuerwettbewerb, der sich zwischen den Wirtschaftsblöcken anbahnt. Oft ist es übrigens die Konkurrenz der Staaten, die die Lösung globaler Herausforderungen behindert.
Herr Kollege Lenz, es besteht der Wunsch nach einer Zwischenbemerkung aus der Fraktion Die Linke. Lassen Sie sie zu?
Ja, gerne.
Herr Dr. Lenz, nachdem Sie die Exportüberschüsse angesprochen haben, möchte ich dazu noch eine Bemerkung machen. Können Sie sich vorstellen, dass, wenn in einem Land wie der Bundesrepublik Deutschland, das dauernd bei weitem mehr exportiert als importiert, hier also ein Überschuss entsteht, der irgendwie finanziert werden muss,
({0})
den Ländern, die unseren Überschuss sozusagen aufnehmen, irgendwann das Geld ausgeht, wenn wir ihnen nicht mehr abkaufen? Können Sie sich vorstellen, dass die Unsicherheiten, die Unwägbarkeiten in der wirtschaftlichen Entwicklung auch darin liegen, dass wir permanent so hohe Überschüsse haben?
Können Sie sich gleichzeitig vorstellen, dass die Bürger unseres Landes irgendwann ein Problem damit haben, diese Überschüsse per Übertragungen zu finanzieren? Wenn wir denen im Ausland kein Geld geben, können sie bei uns nichts mehr kaufen; sie haben permanent sozusagen zu wenig Geld, weil sie schon kaufen, wir ihnen aber nichts abkaufen. Das ist eine Binsenweisheit.
({1})
Das Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft, das Stabilitätsgesetz, das wir in der Bundesrepublik Deutschland haben, hat als ein Ziel – ich habe schon mehrmals darauf hingewiesen – eine ausgeglichene Handelsbilanz, eine ausgeglichene Leistungsbilanz. Ich verstehe überhaupt nicht, warum gerade Ihre Fraktion permanent so tut, als wäre es ein Grund zum Jubeln, dass man Außenhandelsüberschüsse erzielt.
({2})
Es ist keiner. Das gefährdet die wirtschaftliche Entwicklung in Europa.
({3})
Lieber Herr Ernst, ich habe gestern im Ausschuss schon wahrgenommen, dass es Ihnen schwerfällt, den Ausschussvorsitz auszuüben, weil man da nicht immer etwas sagen darf und auch nicht immer seine Stellungnahme abgeben darf.
({0})
Das dürfen Sie heute hier im Plenum.
Herr Ernst, können Sie sich vorstellen, dass zu einer sozialen Marktwirtschaft Wettbewerb gehört? Können Sie sich vorstellen, dass die Grundlage von wirtschaftlichem Wachstum und Prosperität Wettbewerb, auch internationaler Wettbewerb um die besten Produkte, ist?
({1})
Vielleicht noch abschließend: Es ist so, dass die EU-Kommission Deutschland zwar ein Ungleichgewicht im Bereich des Außenhandels attestiert, aber kein exzessives. Das ist der einzige Punkt, der von der Kommission überhaupt noch adressiert wird. Von daher sollten wir weiterhin froh sein, dass wir eine Wirtschaft haben, die sich auch auf den globalen Märkten behauptet. Es ist nicht so, dass irgendjemand auf der Welt gezwungen wird, deutsche Waren zu kaufen.
({2})
Wenn es um den internationalen Handel geht, dann müssen wir auch hier klar sagen, dass Protektionismus, dass Nationalismus und dass Isolationismus nicht die Probleme der Zukunft lösen.
({3})
Es ist aber auch wichtig, dass wir uns stärker Gedanken um die Wettbewerbsfähigkeit des eigenen Standorts machen, dass wir uns Gedanken über die Wettbewerbsfähigkeit Europas machen. Dazu brauchen wir zuallererst ein positives Bild vom Unternehmertum. Unternehmer sind für uns immer noch Vorbild und nicht Feindbild.
({4})
Eigentum, Eigenkapital der Unternehmen sind die Grundlage von Produktivität und die Grundlage einer erfolgreichen Wirtschaft. Auch deshalb sind vermögensbezogene Steuern Gift für die wirtschaftliche Entwicklung.
({5})
Die deutsche Wirtschaft muss die Chancen der Digitalisierung nutzen können und sie dann auch nutzen. Die Aufgabe der Politik ist es, die Chancen nutzbar zu machen. Dabei sind wir.
Gerade wurde auch die Wichtigkeit von Innovation und von Investition angesprochen. Die steuerliche Forschungsförderung ist ein Beitrag dazu.
Sieht man sich die demografische Herausforderung für unsere Volkswirtschaft an, stellt man fest, dass gerade für die junge Generation das Festhalten am ausgeglichenen Haushalt von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist. Die Schuldenstandsquote – wir haben es gehört – beträgt in diesem Jahr nur noch 64,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. 2019, wenn das Finanzministerium in Unionshand bleibt, wird es so sein, dass sie unter 60 Prozent fällt und dass damit das Maastricht-Kriterium eingehalten wird. Das ist zukunftsgerichtete Politik und generationengerechte Politik.
({6})
Gleichzeitig brauchen wir natürlich weitere Entlastungen. Wir haben einen Konsensvorschlag zur Entlastung beim Soli, nach dem insgesamt über 90 Prozent der Menschen in unserem Land entlastet werden.
Für eine weiterhin positive wirtschaftliche Entwicklung brauchen wir jetzt natürlich auch politische Stabilität. Es liegt in unserer Verantwortung, die in den nächsten Tagen und Wochen zu schaffen. Das ist der Rahmen für eine positive wirtschaftliche Entwicklung. Das liegt in unserer Verantwortung.
Ich will es jetzt nicht versäumen – wenn es sonst keiner macht –, der Wirtschaftsministerin persönlich noch alles Gute zu wünschen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf den Drucksachen 19/580 und 19/80 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Abgeordnete! Die Verleihung der deutschen Staatsbürgerschaft ist keine Gefälligkeitsleistung des deutschen Staates, kein Willkommensgeschenk für Kinder von Ausländern, schon gar kein Integrationsbeschleuniger – eher im Gegenteil.
({0})
Was also dann? Sie darf nur Antwort sein auf eine zu fordernde Integrationsleistung desjenigen, der deutscher Staatsbürger werden will, Antwort auf ein definitives und ausschließliches Bekenntnis zu Deutschland.
({1})
Im Jahr 2000 hatte Rot-Grün das geltende Recht der Staatsbürgerschaft zerstört. Sie wurde grundsätzlich an Kinder mit Geburtsort Deutschland verschenkt, damals noch befristet: Spätestens mit 23 Jahren musste man sich zwischen der deutschen Staatsangehörigkeit und der der Eltern entscheiden. 2014 hat die GroKo unter ihrer rot-grünen Kanzlerin diese Optionspflicht abgeschafft und uns diesen Doppelpass auf Dauer beschert.
({2})
Die AfD fordert, das rückgängig zu machen. Staatsvolk ist Wahlvolk, und Wahlvolk kann Staat, Grundgesetz und Demokratie aus den Angeln heben. Ein zur Regel entarteter Doppelpass untergräbt Staat und Demokratie.
({3})
Das wollen wir nicht.
({4})
Dass jemand mehrere Staatsbürgerschaften anhäuft, muss begründete Ausnahme bleiben. Schließlich akzeptieren wir in Deutschland ja auch nicht zwei, drei oder vier Ehefrauen, oder etwa doch?
({5})
Und wenn Integration – wenn denn angezeigt, nicht bei temporär Schutzberechtigten – also gelingen soll, dann sollte der zugewanderte Fremdstaater wirklich hier ankommen, sich auf das Land, in dem er eine neue Heimat finden möchte, einlassen und einlassen wollen. Mit dem geistigen Rückfahrschein in der Tasche – nichts anderes ist der Pass des Zweitstaats – wird dies schwerlich gelingen. Ohne die Pflicht der Entscheidung für einen Staat fehlt jede Motivation, sich zu integrieren; man lebt dann gern in einer wachsenden Blase fremdstaatlicher Identität, einer bloß verpflanzten Version des Heimatlandes, als Ausländer, der nur die Vorteile der deutschen Staatsangehörigkeit mitnimmt. So etwas will kein Staat. Das ist nicht im Interesse Deutschlands. Das lehnen wir ab.
({6})
Und warum überhaupt sich integrieren, wenn einem ganz anderes nahegelegt wird, etwa von einer sogenannten Integrationsbeauftragten, selbst ein Musterbeispiel misslungener Integration,
({7})
wenn sie erklärt, sie habe in Deutschland keine deutsche Kultur erkennen können, in die hinein man sich integrieren sollte, stattdessen müsse das Zusammenleben täglich neu ausgehandelt werden? Das, meine Damen und Herren, nennt man, den Bock zum Gärtner machen.
({8})
Welchem Land gehört denn nun die politische Loyalität der Doppelstaater? Niemand kann zwei Herren dienen. Soll, wer die Erdogan-Diktatur unterstützt, die deutsche Politik mitbestimmen? Wollen wir Fremdeinflussnahme bei der Gesetzgebung als Türöffner für Standards einer Lebenskultur, die unserem Rechtsverständnis widerspricht?
({9})
Wir kennen die Geburtenraten; es bedarf keiner Phantasie: Soll Klein-Anatolien – Berlin-Neukölln –, soll Syrien, soll Innerafrika jetzt nicht nur hier wohnen, sondern bald direkt die deutsche Politik bestimmen?
({10})
Müsste hingegen, bei wiederhergestellter Optionspflicht, politischer Einfluss – Wahlrecht – erst erkauft werden durch Verzicht auf die mitgebrachte Staatsangehörigkeit, gäbe es diese Probleme weniger: fremdkulturelle Zonen, außenbestimmte Politik, innergesellschaftliche Konflikte. All dies kann Deutschland nicht wollen. Wir wollen deutsche Selbstbestimmung und Bewahrung des inneren Friedens.
({11})
Man erinnere sich der Aufrufe Erdogans an „seine“ Türken, sich in Deutschland nicht zu assimilieren, oder seines Rates: „Macht nicht drei Kinder, sondern fünf, denn ihr seid die Zukunft Europas!“ – was die Ideologie einer feindlichen Übernahme offen ausspricht –,
({12})
oder seiner Aufforderung, bestimmte deutsche Parteien nicht zu wählen. Wenn es noch irgendeines Nachweises der Gefahren beim Doppelpass bedurft hätte, hier wird er prompt geliefert.
Auch die CDU wollte jüngst die Optionspflicht wiederhaben. Und? Die Schwarzen nehmen es hin, dass ihre rot-grüne Kanzlerin so einen Parteitagsbeschluss mal eben wegwischt, als gäbe es ihn nicht.
({13})
Herr Kollege Curio, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein.
({0})
Es darf doch nicht darum gehen, dass hier lediglich Parteisoldaten salutieren, sondern es muss doch um Deutschland gehen. Verehrte Kollegen: Entdecken Sie auf dem Grunde Ihrer schwarzen Parteiidentität einmal Ihr blaues Gewissen,
({1})
bekennen Sie sich zu Ihrem eigenen Parteitagsbeschluss, folgen Sie Frau Merkel nicht, sondern handeln Sie für Deutschland, und stimmen Sie zu!
({2})
Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Marian Wendt von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch heute haben wir leider wieder eindrücklich zu hören bekommen, wie die AfD versucht, uns hier vorzuführen.
({0})
Ich sage Ihnen eines: Wir als Union brauchen uns beim Thema „doppelte Staatsbürgerschaft“ von Ihnen nicht vorführen zu lassen. Das tun wir auch nicht. Und wir werden uns auch nicht jagen lassen, wie Sie es versuchen.
({1})
Wir haben beim Thema „doppelte Staatsbürgerschaft“ eine ganz klare und deutliche Position und brauchen erst recht keine Belehrungen von der sogenannten Alternative. Eine Staatsbürgerschaft ist mehr als ein Bonbon, das man einfach einmal so mitnimmt.
({2})
Sie ist für mich Ausdruck der tiefen Verbundenheit mit dem Land, in dem man lebt. Sie zeigt für mich die Verwurzelung in dieser Gesellschaft und das Bekenntnis zu den damit verbundenen Rechten und Pflichten. Man übernimmt mit ihr Verantwortung. Nach der prägnanten Formulierung von Joachim Gauck treten auch zu uns Zugewanderte in unsere Verantwortungsgemeinschaft ein. Einfach einen Pass zu bekommen, damit man es bei der Einreise einfacher hat, ist mit der Union nicht möglich.
({3})
Die CDU hat mit dieser klaren und einfachen Position bereits 1999 die Wahl in Hessen gewonnen.
({4})
Auch auf dem Bundesparteitag der CDU haben wir uns deutlich für die Abschaffung der doppelten Staatsbürgerschaft und für die Einführung der Optionspflicht im Grundsatz ausgesprochen.
({5})
Die Optionspflicht – wir kommen noch dazu, warum sie noch immer besteht; da war ein Fehler in der Rede des Kollegen Curio – halte ich für eine sinnvolle Regelung für Menschen, die hier geboren sind und deren Eltern Ausländer sind. Sie sollen entscheiden, ob sie sich für das Land und die Gesellschaft der Eltern verantwortlich fühlen. Oder sie können Verantwortung für unser Land übernehmen, indem sie den deutschen Pass annehmen. Niemand kann – aus meiner Sicht – zwei Gesellschaften dienen; immer wieder wird es Loyalitätskonflikte geben. Wer länger in unserem Land lebt, soll und darf sich auch zu diesem bekennen können.
Die französischen Hugenotten zum Beispiel, die vor 200 Jahren eingewandert sind, sind auch alle Deutsche geworden und haben sich zu unserem Land bekannt.
({6})
Ich darf Ihnen ein Beispiel für einen gelungenen Integrationsprozess geben und dafür, wie wichtig es ist, sich für eine Sache zu entscheiden. Cheema Sukhdev Singh kam vor zehn Jahren mit seiner Frau als Inder in meine Heimatstadt. Er betreibt dort ein Restaurant, beschäftigt vier bis sechs Angestellte und zahlt gut und gerne Steuern und Sozialabgaben. Wir verstehen uns blendend und können vortrefflich über Politik streiten. Voller Stolz hat er mir letzten September berichtet, dass er einen Termin zur Einbürgerung bekommen hat.
({7})
Am 28. September letzten Jahres ist er deutscher Staatsbürger geworden. Als ich ihn im Oktober wieder besuchte, zeigte er mir voller Freude seine Ausweise, die Einbürgerungsurkunde und auch den durchgestrichenen indischen Pass. Für ihn war klar: Er möchte hier in Deutschland leben, ihm gefällt unsere Heimatstadt Torgau sehr. Deshalb legte er die indische Staatsbürgerschaft ab und nahm voller Stolz die deutsche an. Als Krönung – das darf ich hier noch sagen – ist er sogar CDU-Mitglied geworden.
({8})
Das ist ein Weg, der zeigt, dass man sich nicht nur formell zu einem Staat bekennt, sondern auch inhaltlich in diesem mitarbeiten möchte. Es braucht mehr solcher Beispiele; denn sie sind der Schlussstein einer erfolgreichen Integration und ein Bekenntnis zu unserem Land.
Die CDU Sachsen schlussfolgerte auf ihrem letzten Landesparteitag richtigerweise: Die doppelte Staatsbürgerschaft hat sich als Integrationshindernis erwiesen.
({9})
Deshalb lehnen wir es ab, dass Kinder ausländischer Eltern in Deutschland automatisch Deutsche werden. Der Optionszwang muss wieder gelten. Wer wirklich Deutscher werden will, braucht keine weitere Staatsbürgerschaft.
({10})
– Ganz entspannt.
Nun können Sie sich fragen, warum wir der AfD nicht zustimmen. Weil unsere Begründungen für die Ablehnung der doppelten Staatsbürgerschaft diametral – wirklich diametral – unterschiedlich sind.
({11})
Ein Blick in die Begründung Ihres Gesetzentwurfs belegt das auch. Schon die Begriffswahl mit der unverhohlenen Herabschätzung von Nichtdeutschen,
({12})
im Text „Fremdstaatler“ und „fremdkulturelle Personen“ genannt, zeigt Ihr abermaliges Anliegen von Abschottung, Ausgrenzung und Diskriminierung.
({13})
Ihr Text suggeriert ganz einfach: Das Problem sind die Ausländer. Für das Problem haben Sie sogar einen Namen gefunden: die Türken. Dabei gibt es laut Statistik mindestens genauso viele russische wie türkische Doppelstaatler.
Herr Kollege Wendt, es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage aus der AfD-Fraktion.
Wir verschließen uns den Debatten nicht, und deswegen lasse ich sie zu.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege. – Sie haben gerade gesagt, dass Sie uns in der Sache schon zustimmen. Da hier auch eine ganze Menge Bürger zusehen, frage ich Sie: Können die für sich mit nach Hause nehmen, dass Sie bei der Politik, die Sie machen, die Dinge nicht nach ihrem Inhalt und der Wirkung, die sie entfalten, beurteilen, sondern nur danach, von wem sie kommen?
({0})
Herr Kollege, wenn Sie mir richtig zugehört hätten, hätten Sie bemerkt, dass ich mich inhaltlich mit Ihren Argumenten und der Begründung Ihres Gesetzentwurfs auseinandergesetzt habe. Ich habe nicht gesagt, dass ich es ablehne, weil es von Ihnen kommt.
({0})
Nein, ich habe Ihnen das beschrieben. Sie werden von mir gleich sogar noch Weiteres dazu hören, warum wir das inhaltlich konkret ablehnen. Von daher gibt es von meiner Seite kein Problem, und von daher sehe ich an dieser Stelle auch keinen Konflikt. Ich werde gleich sogar noch erläutern, warum die Optionspflicht aktuell weiter besteht. Sie sollten sich einmal intensiver und auch inhaltlich mit den Gesetzen dieses Landes auseinandersetzen und nicht nur pauschal in Überschriften und Buzzwords denken.
({1})
Wir waren beim Punkt der statistischen Daten. Es gibt in Deutschland genauso viele türkische wie russische Doppelstaatler. Aber das verschweigen Sie einfach. Warum? Weil Sie dann die Russen als einer „fremdstaatlichen“, „nichtaufgeklärten Lebenskultur entstammend“ bezeichnen müssten, so wie Sie es in Ihrem Gesetzentwurf mit den Türken machen. Dieser Doppelmoral kann man nicht zustimmen.
({2})
Für die Union hat eine Staatsbürgerschaft vor allen Dingen auch etwas mit Stolz, Verantwortung und Werten zu tun. Aber diese Worte kommen in Ihrem Gesetzentwurf gar nicht vor. Sie sind nur vom Negativen geprägt.
({3})
Es liegt auf der Hand, dass die Hand, die diesen Gesetzentwurf geschrieben hat, von Hass geführt wurde.
({4})
Wenn Sie einen Blick in das aktuelle Ausländerrecht werfen würden, würden Sie feststellen, dass die Optionspflicht im Grundsatz bestehen bleibt. Denn es kann nur derjenige einen doppelten Pass erhalten, der sich integriert hat. Dafür haben wir ganz harte Kriterien definiert, die sich an der Dauer des Aufenthaltes, am Spracherwerb und auch am Stand der Ausbildung orientieren. Grundsätzlich muss man sich also entscheiden, es sei denn, man hat gewisse Ausnahmetatbestände erfüllt, die davon zeugen, dass man ein Bekenntnis zu diesem Land und seinen Werten abgelegt hat.
Ich darf abschließend für die Unionsfraktion feststellen: Wir sind grundsätzlich für die Beibehaltung der Optionspflicht bis zum 23. Lebensjahr. Sie ist für uns eine Kernforderung, und wir werden dafür sorgen, dass die deutsche Staatsbürgerschaft weiterhin für die Werte Freiheit, Stolz und Verantwortung steht und die Bürgerinnen und Bürger sich dahinter versammeln können.
Vielen Dank.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Sebastian Hartmann von der SPD-Fraktion.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Präsident! Bevor ich zum Thema dieser Aussprache komme, schlage ich vor, dass wir als gewählte Parlamentarierinnen und Parlamentarier Solidarität mit einer Kollegin aus Hamburg erklären, die in Hamburg geboren ist und als Staatsministerin soeben in diesem Plenum als Beispiel gescheiterter Integration bezeichnet worden ist.
({0})
Das hat die Frage der Staatsangehörigkeit nicht verdient, dass wir eine einzelne Kollegin so diffamierend herausstellen. Ich denke, es widerspricht der Würde dieses Hauses, zu versuchen, wenn es um die Frage der Staatsangehörigkeit geht, einen solchen Zusammenhang für die eigene krude Begründung zu konstruieren. Denn wer Heimat gegen Herkunft ausspielt, der spaltet wider besseres Wissen unsere Gesellschaft und gefährdet den friedlichen Zusammenhalt in unserem Land.
({1})
Es ist umgekehrt: Nicht zwei Pässe lösen einen Loyalitätskonflikt aus, sondern erst das Aberkennen einzelner Teile der eigenen Identität.
({2})
Deswegen sind wir von der SPD stolz darauf, dass wir uns in wesentlichen Schritten für die Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechtes eingesetzt haben.
({3})
Wer in der Debatte zum Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung beklagt, dass Chancen verpasst werden, dass Menschen nicht in unseren Staat einwandern wollen, und gleichzeitig das Staatsangehörigkeitsrecht des Kaiserreichs, nämlich das von 1913, aus der Mottenkiste herausholen und es zurückdrehen will, der wird die SPD nie an seiner Seite haben.
({4})
Wir sind stolz darauf, dass wir in der Großen Koalition die Optionspflicht 2014 abgeschafft haben,
({5})
auch wenn die Union versucht hat, einen – zweifellos untauglichen – Ausfallschritt nach rechts zu machen. Sie ist damit aber im Dezember 2016 erneut gescheitert. Im Dezember 2016 haben wir unter dem Eindruck des CDU-Bundesparteitages erneut die Frage der Optionspflicht diskutiert. Damals konnte der Staatsminister der Union nicht erklären, warum auf einem CDU-Bundesparteitag die Junge Union Frau Merkel angreifen wollte und verlangt hat, dass das Staatsangehörigkeitsrecht zurückgedreht wird.
Es ist klar: Das, was mit der SPD vereinbart ist, hat Bestand. Wir werden die Frage um Loyalitätskonflikte in unserem Land nicht neu aufmachen. Sie sind damit keinen Millimeter weitergekommen. Auch wenn die sächsische CDU behauptet, sie könne etwas anderes sagen: Sie kann sich in ihrem eigenen Laden nicht durchsetzen, und das ist gut so.
({6})
Um auf das Thema doppelte Staatsangehörigkeit zurückzukommen: Ja, es gibt Beispiele doppelter Staatsangehörigkeit in Deutschland. Diesen Bereich haben wir klar geregelt, und zwar in Schritten im Jahr 2000 und im Jahr 2008, als wir Ergänzungen zur Reform hinzugenommen haben. Warum sollen wir das im Jahr 2018 zurücknehmen? Wir haben eine gute Regelung gefunden. Diese Regelung hat Bestand. Auf die Zahlen ist der Kollege Wendt schon eingegangen. Es betrifft eben nicht nur Menschen, die einen türkischen Hintergrund haben, sondern auch Menschen aus Polen, aus Kasachstan, aus Russland. Sie haben sich für Deutschland entschieden. Das ist ein Unterschied. Millionen von Deutschen sind nach ihrer Geburt in Deutschland niemals danach gefragt worden – vielleicht im Kreißsaal? –, wie denn ihr Bekenntnis zum deutschen Staat, zu unseren Grundwerten und Grundrechten aussieht. Wenn das die Lektion der Diskussion heute ist, dass wir verstärkt vermitteln wollen, was der Grundkonsens unseres demokratischen Rechtsstaates ist, dann hat diese fehlgeleitete Debatte doch noch etwas gebracht.
Meine Damen und Herren, die SPD bekennt sich zu einem modernen Staatsangehörigkeitsrecht. Wir sichern den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft und spielen die eine Gruppe nicht gegen die andere Gruppe aus. Wir wollen dieses Land nicht spalten, wir wollen es stärker machen.
({7})
Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Jürgen Martens von der FDP-Fraktion zu seiner ersten Rede im Deutschen Bundestag.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zu Beginn meiner ersten Rede hier muss ich sagen: Ich fühle mich beschämt und zu Hause zugleich. Zum einen fühle ich mich beschämt, weil ich nicht gedacht hätte, dass in diesem Hause, an diesem Ort im deutschen Parlament wieder solch diffamierendes Gerede zu hören ist und solch völkische Floskeln verwendet werden.
({0})
Ich fühle mich zugleich zu Hause, weil ich im Sächsischen Landtag zehn Jahre lang neben den Nazis der NPD sitzen musste.
({1})
Aber so viel Mühe Sie sich auch geben, meine Damen und Herren von der AfD: An deren Boshaftigkeit kommen Sie noch nicht ganz heran. Im Verhältnis zu denen geht es bei Ihnen zu wie beim Kindergeburtstag, wenn auch einem Kindergeburtstag mit vielen Grauhaarigen.
({2})
Herr Kollege Martens, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Brandner?
Im Moment nicht, danke. Meine erste Rede möchte ich ungestört halten.
({0})
Meine Damen und Herren, das Verlangen nach der Wiedereinführung der Optionspflicht wird damit begründet, dass die Gewährung der Staatsangehörigkeit – so als sei dies ein Gnadenakt – ein Bekenntnis voraussetzen würde. Welches Bekenntnis sollte denn ein Säugling ablegen können? Mein Vorredner hat es schon erwähnt: Auch der deutscheste Säugling kann kein Bekenntnis ablegen.
({1})
Meine Damen und Herren, als Jurist weiß man: Das Wichtige steht immer im Kleingedruckten. Deswegen lohnt es sich, die Begründung dieses Gesetzentwurfes einmal durchzusehen. Eine Auseinandersetzung mit der Faktenlage, irgendwelche Wertungen oder Prognosen künftiger Entwicklungen werden Sie dort vergeblich suchen.
({2})
Stattdessen finden Sie dort unbewiesene Behauptungen, Unterstellungen oder wie jetzt in der mündlichen Begründung den Gebrauch von völkischen Kategorien wie zum Beispiel die Entwicklung von irgendwelchen Geburtenzahlen.
({3})
Wenn behauptet wird, dass Konfliktpotenziale „das Zusammenleben in einer Gesellschaft mit massenhafter doppelter Staatsbürgerschaft“ prägen,
({4})
dann spricht daraus eine besondere Wahrnehmung.
({5})
Tatsächlich sind wir davon weit entfernt. In Deutschland leben nach Mikrozensus 2015 1,7 Millionen Menschen mit doppelter Staatsangehörigkeit. Von einer Übernahme der deutschen Politik durch Doppelstaatler sind wir damit weit entfernt.
({6})
Sie verlangen, dass durch die Optionspflicht Menschen dazu gezwungen werden sollen, sich geistig auf Deutschland „einzulassen“ – was immer das heißen mag –, als ob Doppelstaatler dies nicht oder nur in geringem Maße täten.
({7})
Im Umkehrschluss weitergedacht heißt das: Ausländer lassen sich geistig sowieso nicht auf Deutschland ein.
({8})
Das ist die Konsequenz daraus.
({9})
Jetzt frage ich Sie: Haben Sie dafür irgendeinen klitzekleinen Beleg?
({10})
Nein, wir, die Freien Demokraten, glauben nicht, dass Identität aus einem Pass folgt.
({11})
Man könnte sich dem Thema der Staatsangehörigkeit durchaus sachlich nähern. Das tun Sie allerdings hier nicht.
({12})
Meine Damen und Herren, wir Freien Demokraten wollen diese Frage in einem umfassenden Gesetzeswerk behandelt wissen, in einem Einwanderungsgesetz und in einem Staatsangehörigkeitsrecht aus einem Guss, und nicht mit kleinen Einzelschüssen irgendwo herumdoktern.
({13})
Ich glaube, in dieser Legislatur wird es so weit kommen, dass wir uns ernsthaft über ein Einwanderungsgesetz unterhalten. Ich glaube, die Mehrheit des Hauses hält dies für notwendig.
({14})
Und die FDP? Auch wir wollen die doppelte Staatsangehörigkeit. Das muss grundsätzlich möglich sein. Mehr als die Hälfte aller Länder macht dies möglich. Die Frage der doppelten Staatsangehörigkeit betrifft zum großen Teil Menschen, die aus anderen Ländern der Europäischen Union zu uns gekommen sind. Das ist die unmittelbare Folge der Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union, meine Damen und Herren.
({15})
Das ist nichts Schlechtes. Einwanderer müssen deutsche Staatsbürger werden können, und wir werden uns darüber zu unterhalten haben. Der Gesetzentwurf der AfD, insbesondere seine Begründung und die Debatte, genügen dem schon inhaltlich bei weitem nicht. Vor allen Dingen ist dieser Gesetzentwurf wie fast alles von der AfD zutiefst fremdenfeindlich grundiert.
({16})
Es wird Sie deswegen nicht wundern, dass die FDP diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen kann.
({17})
Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Movassat von der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was die AfD heute als Gesetzentwurf vorgelegt hat, ist echt schwer erträglich.
({0})
Sie wollen die Möglichkeit der doppelten Staatsangehörigkeit abschaffen. Das wäre ein integrationspolitischer Rückschritt. Das lehnen wir Linke ab.
({1})
Weite Teile der Begründung Ihres Gesetzentwurfs sind schlichtweg ekelhaft.
({2})
Da reden sie von „fremdkultureller Herkunft“, „fremdstaatlicher Lebenskultur“, „Fremd-Einflussnahme“, „nichtaufgeklärten Kulturen“. Ihr Gesetzentwurf ist ein Sammelsurium völkischer Begriffe.
({3})
Sie sprechen Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft ab, „geistig“ deutsch zu sein. Ja, geht es noch? Sie beleidigen Millionen Menschen in diesem Land. Sie tun so, als ob es die eine deutsche Lebensweise gibt, an die sich alle zu halten haben. Das ist nicht nur falsch – ein Bayer denkt vermutlich etwas anderes über das Deutschsein als ein Schleswig-Holsteiner –,
({4})
sondern es ist zutiefst autoritär, was Sie vorgelegt haben.
({5})
Sie von der AfD scheinen das Grundgesetz auch 69 Jahre nach seiner Verabschiedung nicht verstanden zu haben.
({6})
Denn laut unserer Verfassung ist die Bundesrepublik ein freiheitlicher Staat. Jede und jeder kann – im Rahmen der Gesetze – so leben, wie er oder sie mag. Das Grundgesetz schreibt keine bestimmte Lebenskultur vor. Ist halt Pech für die AfD und Glück für uns alle, dass wir nicht ihre völkisch-autoritäre Lebenskultur annehmen müssen.
({7})
In Ihrem Gesetzentwurf sprechen Sie von „massenhafter“ Doppelstaatlichkeit. Ich empfehle Ihnen, sich die Zahlen des Statistischen Bundesamtes oder des Zensus von 2011 anzuschauen. Maximal 5 Prozent der Bevölkerung haben eine doppelte Staatsangehörigkeit. Das hat mit „massenhaft“ nichts zu tun. Hören Sie auf, Fake News zu verbreiten!
({8})
Sie sprechen Menschen mit doppelter Staatsangehörigkeit die – wie Sie es nennen – „Loyalität“ zur Bundesrepublik ab. Sie tun ja gerade so, als ob Menschen mit doppelter Staatsangehörigkeit Agenten sind. Eine Verschwörungstheorie muss offenbar in jede AfD-Initiative rein.
({9})
Dann kommt ein Punkt, der oft gegen die doppelte Staatsbürgerschaft vorgebracht wird: die Einflussnahme des türkischen Regimes auf Deutschtürken, um sie im Sinne des Autokraten Erdogan zu beeinflussen. Diese Einflussnahme ist natürlich zu verurteilen; aber das hat mit der doppelten Staatsbürgerschaft wenig zu tun. Denn genauso wäre es denkbar, dass das Erdogan-Regime, um Einfluss auf die deutsche Politik zu nehmen, die Leute animiert, nur die deutsche Staatsbürgerschaft zu behalten, wenn eine doppelte nicht möglich ist.
Und ja, Sie sagen: Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft können Rechtsregeln brechen. – Das kann jeder Mensch. Nazis in diesem Land brechen ständig die Rechtsregeln. Sie zünden Asylheime an. Sie verletzten Menschen. Sie morden. Wo bleibt eigentlich da die Empörung der AfD?
({10})
Die AfD behauptet, ihr Gesetzentwurf diene der Integration. Das ist wirklich der Witz des Jahrhunderts. Wenn Sie wissen wollen, wie Integration geht, schauen Sie sich einmal die bisherigen Anträge der Linksfraktion an.
({11})
Das Wichtigste ist, dass Menschen, die dauerhaft hier leben, die die gleichen Pflichten wie deutsche Staatsbürger haben, auch die gleichen Rechte erhalten. Wir brauchen ein Staatsangehörigkeitsrecht, das Integration fördert.
({12})
Dazu gehört die Möglichkeit der Mehrstaatlichkeit. Dazu gehört die Möglichkeit der Einbürgerung nach fünf Jahren Aufenthalt. Wir brauchen freiwillige, kostenlose und alltagsnahe Staatsbürgerschaftskurse und Sprachkurse. Anstatt darüber zu diskutieren, wie wir Migranten ihre Rechte nehmen können, was anscheinend ja die einzige Triebfeder der AfD ist, sollten wir darüber reden, wie wir die Demokratie für alle Menschen in diesem Land stärken können.
({13})
Wir haben in Deutschland 8 Millionen Erwachsene, die hier Steuern zahlen, die hier schon teilweise lange leben und die nicht wählen dürfen. Das sind 12 Prozent der Erwachsenen. Das ist ein echtes demokratisches Defizit. Wir brauchen endlich ein fortschrittliches Staatsbürgerschaftsrecht und ein Wahlrecht für alle, die dauerhaft hier leben. Das wäre ein echter Beitrag zur Integration.
({14})
Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Filiz Polat von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine Fraktion ist zutiefst schockiert
({0})
über die Begründung des Gesetzestextes, aber Herr Curio hat mit dem Begriff „entarteter Doppelpass“ dem Ganzen eine Krone aufgesetzt. Sie diffamieren damit Millionen von Doppelstaatsbürgerinnen und -bürgern, auch hier im Parlament. Hier sitzen mehrere Abgeordnete mit doppelter Staatsbürgerschaft, mit Mehrstaatigkeit stellvertretend für die Realität in unserer Migrationsgesellschaft. Das ist absolut inakzeptabel und beschämend.
({1})
Wir erwarten von allen Fraktionen, dass wir hier gemeinsam ganz klar die Grenzen aufzeigen, und erwarten das auch vom Präsidium dieses Hohen Hauses.
({2})
Zu einer offenen, globalisierten und modernen Gesellschaft gehört eine Politik der Mehrstaatigkeit. Deshalb ist meine Fraktion gegen die Optionspflicht, ohne Wenn und Aber.
({3})
Denn der Optionszwang bedeutet, dass junge Deutsche unter dem Damoklesschwert einer drohenden Ausbürgerung aufwachsen und letzten Endes dazu gezwungen werden, sich für eine Staatsangehörigkeit zu entscheiden. Eine solche Politik wäre sachlich absolut falsch und integrationsfeindlich.
({4})
Sie würde wieder dazu führen, dass Deutsche anderen Deutschen beweisen müssen, dass sie deutsch genug sind, um Deutsche zu bleiben. Insofern ist diese Optionspflicht absoluter Irrsinn und geht an der Lebenswirklichkeit in Deutschland und im Übrigen auch in diesem Parlament völlig vorbei.
({5})
Deutsche haben heutzutage unterschiedlichste Wurzeln. Herr Victor Perli hat drei Staatsangehörigkeiten, Herr Ottmar von Holtz – namibischer Herkunft – zwei Staatsangehörigkeiten, Dr. Danyal Bayaz – türkischer Herkunft – doppelte Staatsbürgerschaft.
Ich sage Ihnen: Wer eine Migrationsgesellschaft gestalten möchte, sollte alles daransetzen, dass sich Menschen unserer freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft zugehörig fühlen, dass sie Deutsche sein werden und auch bleiben dürfen.
({6})
Was wir hier beraten – das haben die Kolleginnen und Kollegen gesagt –, ist nicht nur einfach die Forderung der Wiedereinführung der Optionsregelung. Darüber kann man streitig diskutieren; das haben wir auch zur Genüge mit der Union getan. Aber, meine Damen und Herren – es wurde in der Rede deutlich –, die Begründung des Gesetzestextes ist wirklich eine Offenbarung der Fremdenfeindlichkeit der Partei auf der rechten Seite dieses Hauses.
({7})
Es wurde bereits gesagt: Da ist von „Fremdstaatlern“, von fremden Kulturen, die sich „zu einer explosiven Mischung verdichten“, die Rede.
({8})
Wer die Tagebücher der Anne Frank gelesen hat, wird merken: Dort werden genau dieselben Worte verwendet. „Fremdstaatler“ ist nämlich ein Begriff aus der Judenverfolgung des Nationalsozialismus.
({9})
Eine Initiative mit einer solchen Sprache und Begründung auf die Tagesordnung des Deutschen Bundestages zu setzen, zwei Tage nachdem wir hier im Bundestag der Opfer des Nationalsozialismus gedacht haben – das ist beschämend, Herr Gauland.
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Nun ein Wort zur Loyalitätsfrage. Was ist das Maß, was sind die Kriterien für Loyalität? Sind es diejenigen in Ihrer Partei, die das System abschaffen wollen, die uns den Krieg erklären?
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Ist es die Kanzlerin, die Ihre Leute an den Galgen hängen? Was ist mit denjenigen in Ihrer Partei, die Putin huldigen oder von Trump schwärmen?
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Auf welcher wissenschaftlichen Grundlage beruht eigentlich der Vorwurf, eine Doppelstaatlerin könne gar nicht in demselben Maße dem deutschen Staat gegenüber loyal sein wie ein Deutscher ohne zweite Staatsangehörigkeit?
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Frau Kollegin, achten Sie bitte auf die Redezeit.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
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Ganz ehrlich: Beim Bekenntnis zum Grundgesetz sehe ich eher bei manchen Mitgliedern der AfD-Fraktion Nachholbedarf, nicht bei uns Doppelstaatlern und Doppelstaatlerinnen.
Liebe AfD, die „Hannoversche Allgemeine Zeitung“ titelte am 29. August letzten Jahres „Parallelgesellschaft AfD“ und trifft es damit auf den Punkt.
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Nicht Doppelstaatler, Geflüchtete oder weltoffene Menschen sind die Parallelgesellschaft, sondern Sie.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Michael Kuffer von der CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Schon nach wenigen Minuten dieser Debatte wird deutlich, dass heute der typische Oppositionsansatz „Die Politik ist die Kunst des Demonstrativen“ mit dem Regierungsansatz „Politik ist die Kunst des Möglichen“ kollidieren wird.
Ja, das Thema Staatsbürgerschaft stand schon mehrfach im Zentrum schwieriger politischer Auseinandersetzungen und war schlussendlich Gegenstand mühsam errungener Kompromisse. Die Art und Weise, wie Sie, meine Damen und Herren von der AfD, Ihre generelle Abschätzigkeit gegenüber Kompromissen zur Schau stellen, ist befremdlich.
({0})
Ich sage das ausdrücklich in Richtung Ihrer demokratischen Einstellung, die Sie damit offenbaren, und weniger in Bezug auf Ihre inhaltlichen Argumente, soweit Sie welche vorbringen. Zugegeben: Der Kompromiss ist manchmal nichts für schwache Nerven; aber er gehört zu den wichtigsten Lebensadern der Demokratie. Ihn zu suchen, gehört zu den Daseinsberechtigungen des Parlamentarismus.
({1})
Meine Damen und Herren von der AfD, Herr Gauland, Sie legen immer so großen Wert darauf, dass Sie demokratisch gewählt sind. Ich würde Ihnen herzlich anempfehlen: Dann verhalten Sie sich auch demokratisch, dann funktioniert auch unsere Zusammenarbeit in diesem Parlament.
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Die Art und Weise, wie Sie einzelne Kollegen mit Vergleichen und Begriffen belegen, zeigt, dass Sie permanent politische Gegnerschaft mit Feindschaft verwechseln.
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Ich frage mich wirklich: Was ist mit Ihnen los?
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Zum Inhaltlichen. Die Staatsbürgerschaft ist – und das ist doch unbestritten – die intensivste Form der Bindung an einen Staat – deshalb ist dieses Thema nicht einfach zu lösen –, eine Bindung, die notwendigerweise mit einer besonderen Loyalität verbunden sein muss. Und natürlich ist es schwer vorstellbar, diese Loyalität zu teilen, ja, in Konfliktfragen sie zu spalten. Es bleibt richtig: Man kann nur einem Herren dienen, man kann sich nicht doppelt verheiraten.
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– Zu dem, was Sie sagen, sage ich Ihnen gleich noch etwas.
Wir wissen, dass die doppelte Staatsbürgerschaft integrationshemmend sein kann.
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Wir mussten erst kürzlich am Beispiel des Referendums in der Türkei erleben, dass die doppelte Staatsbürgerschaft ein Anreiz für ausländische Regierungen sein kann, in die inneren Angelegenheiten unseres Staates hineinzuregieren,
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ja, wie über das Instrument einer zweiten, ausländischen Staatsbürgerschaft der Versuch unternommen worden ist, deutsche Staatsbürger aus dem Ausland in nicht hinnehmbarer Weise unter Druck zu setzen. Und deshalb sage ich Ihnen zunächst ganz klar Folgendes: Die doppelte Staatsbürgerschaft muss ein Ausnahmefall bleiben. Sie darf nicht zur Regel werden. Das ist für die Union im Übrigen völlig klar.
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Völlig klar ist im Übrigen auch – manchmal nutzt ein Blick ins Gesetz –, dass die Optionspflicht nicht abgeschafft worden ist.
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Die Optionspflicht ist weiterhin der Grundsatz. Sie ist nur für die hier Aufgewachsenen eingeschränkt worden; ansonsten bleibt sie als Grundsatz in § 29 Absatz 1 StAG das zentrale Element des Staatsbürgerschaftsrechts.
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Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, zum vollständigen Bild gehören auch einige Erfahrungen aus einem anderen Blickwinkel, zum Beispiel dass es bei integrationswilligen Betroffenen zu einer Entfremdung von Deutschland kommen kann, wenn eine so weitreichende Entscheidung zu früh aufgezwungen wird. Das kann nicht das Ziel einer vernünftigen Integrationspolitik sein. Mit Blick auf die wirtschaftspolitische Debatte von heute Morgen sage ich: Es kann auch im Hinblick auf den Fachkräftemangel wirtschaftspolitisch nicht besonders klug sein, gut ausgebildete und gut integrierte Fachkräfte und Akademiker ohne Not in das Land ihrer Eltern zurückzutreiben, anstatt alles zu tun, um sie hier zu halten.
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Zu einem anderen Blickwinkel gehört zum Beispiel auch, dass die Durchsetzung der Optionspflicht mit unverhältnismäßig hohen Kosten und bürokratischem Aufwand verbunden ist, bei dem gleichzeitigen Umstand, dass etwa in der Hälfte der Fälle die Mehrstaatigkeit aus anderen Gründen akzeptiert werden muss, etwa weil die Aufgabe der ausländischen Staatsbürgerschaft unmöglich oder unzumutbar ist.
Um diese beiden Seiten der Medaille in einen Ausgleich zu bringen, tritt die CDU/CSU-Fraktion für den sogenannten Generationenschnitt ein. Das heißt, die Mehrstaatigkeit derjenigen, die in Deutschland aufgewachsen sind, wird hingenommen, während sich die darauffolgende dritte Generation für eine der beiden der Staatsbürgerschaften entscheiden muss. Mir scheint dieser Weg des Generationenschnitts auch angesichts der bei Staatsangehörigkeitsfragen naturgemäß sehr aufgeladenen politischen Gefechtslage kompromissfähig zu sein. In diesem Sinne bitte ich die anderen Fraktionen hier im Hause, diesen Weg zu unterstützen.
Einen letzten Satz zum Gesetzentwurf der AfD. Dieser Gesetzentwurf ist aus einem ganz einfachen Grund nicht zustimmungsfähig. Ich kann keinen Sinn darin erkennen, dass wir hier im Deutschen Bundestag als Legislative Gesetze beschließen, die anschließend die Judikative, sprich: das Bundesverfassungsgericht, einkassieren muss. So wie Sie den Gesetzentwurf angelegt haben, würde das Gesetz nämlich eindeutig zu einer Rückwirkung bei der Wiedereinführung der Optionspflicht für bestimmte Gruppen führen. Sie sollten wissen, dass ein solcher Ansatz verfassungswidrig ist. Das weiß man aber natürlich nur, wenn man
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jenseits der großen Gesten hier am Rednerpult bereit ist, sich mit Fakten und Details zu beschäftigen. Dann würde man es auch schaffen, einen Gesetzentwurf vorzulegen, dem vielleicht zugestimmt werden kann.
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Vielen Dank.
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Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Juratovic von der SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die AfD gibt sich alle Mühe, ihrem Ruf als monothematische Antiausländerpartei gerecht zu werden. Mit ihrem Gesetzentwurf gegen die Doppelstaatlichkeit wärmt sie ein Thema wieder auf, an dem sich CDU und CSU schon abgearbeitet haben. Mit der Union hatten wir vor drei Jahren nach zähem Ringen die Aussetzung der Optionspflicht durchgesetzt und gegen ihren Willen beibehalten.
Jetzt will die AfD diesen Kompromiss kippen. Und warum? Weil sich gegen Ausländer immer gut Stimmung machen lässt. Das Thema Staatsbürgerschaft hat schon mal Wahlen entschieden. Wir erinnern uns an die unerträgliche Unterschriftensammlung bei der Wahl in Hessen,
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bei der die Menschen gefragt haben: Wo kann ich gegen die Ausländer unterschreiben? – Die AfD möchte diese unselige Tradition fortsetzen.
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– Jawohl.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gehöre zu der sogenannten Gastarbeitergeneration, einer Generation, die dieses Land seit sechs Jahrzehnten Schulter an Schulter mit den deutschen Kolleginnen und Kollegen aufgebaut hat, und zwar unter schwierigsten Bedingungen.
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Wie viel Loyalität brauchen Sie noch? Heute muss ich erleben, dass selbsternannte Vaterlandsvertreter von der AfD, von denen nicht bekannt ist, dass sie diesem Land bislang einen großen Dienst erwiesen hätten, den Gastarbeitern die Genugtuung verweigern wollen, dazuzugehören.
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Noch nicht einmal deren Kinder sollen die deutsche Staatsbürgerschaft haben dürfen, ohne ihre Herkunft verleugnen zu müssen. Im Gesetzentwurf der AfD heißt es sogar:
Wenn Integration gelingen soll … muss der Fremdstaatler,
– was für ein Wort! –
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der in Deutschland leben will, wirklich hier ‚ankommen‘, sich auf das Land … einlassen wollen.
Ich möchte an dieser Stelle klarstellen: Integration hat nichts mit der Zahl der Pässe zu tun, die jemand hat. Integration ist Identifikation, Identifikation mit diesem Land, mit der Gesellschaft, in der man lebt,
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mit unserer Gesellschaft, deren Grundgesetz im ersten Artikel auf die Unantastbarkeit der Menschenwürde hinweist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere Gesellschaft ist eine gespaltene Gesellschaft,
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nicht nur in der Frage „Deutsche oder Ausländer“, sondern vielmehr insgesamt in der Frage der gelebten Werte und der Haltung der Menschen.
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Das spiegelt sich auch hier im Parlament wider. Das hat aber nichts mit der doppelten Staatsbürgerschaft zu tun, sondern mit der Stimmungsmache der AfD und ihren Gesetzentwürfen. Es ist nämlich ganz anders, als Sie es in Ihrem Gesetzentwurf schreiben. Da heißt es, die jetzige Aussetzung der Optionspflicht führe – ich zitiere – „automatisch zu einer … massenhaften, ja regelhaften Doppelstaatigkeit, die es zu vermeiden gilt“. Großer Gott, immer diese „Massen“, von denen die AfD spricht.
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Da wird einem ja ganz bange.
Bleiben wir doch zur Abwechslung mal bei konkreten Zahlen. Laut Statistischem Bundesamt verfügen in Deutschland knapp 2 Millionen Menschen über zwei Pässe. Das sind nicht einmal 2,5 Prozent der deutschen Bevölkerung.
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Ich meine, das ist selbst für Kritiker verkraftbar. Davon – und das ist interessant – sind 870 000 gebürtige Deutsche.
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Das heißt, zum einen ist die Zahl derer, die zwei Pässe haben, durchaus überschaubar. Zum anderen profitieren auch gebürtige Deutsche von dieser Möglichkeit. Was soll also dieser Gesetzentwurf – außer spalten?
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen Menschen mit Migrationsgeschichte und Deutsche selbstverständlich gleichberechtigt behandeln und endlich damit aufhören, ständig an ihrer Loyalität zu zweifeln, wie es die AfD offen macht. Das erschwert die Integrationsbemühungen auf beiden Seiten. Zudem spielen Sie damit die Menschen den Erdogans und Putins dieser Welt in die Hände.
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Wir Sozialdemokraten wissen um den Reichtum unserer Gesellschaft. Deutschland ist dank seiner Vielfalt zu einem Land geworden, das weltweit bewundert wird – ein Land, auf das ich stolz bin. Das wollen wir aufgrund unserer gemeinsamen Werte und Tugenden aufrechterhalten. Wir werden uns das nicht von irgendwelchen völkischen Gespinsten der AfD kaputtmachen lassen.
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Zum Schluss. Es ist widerlich, wie wir uns hier durch AfD-Anträge an menschlicher Herkunft und Schicksalen abarbeiten, statt bessere Lebensbedingungen für die Menschen zu schaffen, und zwar gleichermaßen für Deutsche wie für Ausländer.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf der Drucksache 19/86 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Wolf ist wieder ein Thema in unserem Land – ein Grund zur Freude, aber auch ein Grund zum Handeln. Wenn ich mir die Anträge, die vorliegen, ansehe, muss ich sagen: Da sind wir uns alle einig. Die immer sichtbarere Verbreitung eines so großen Raubtieres muss sorgfältig begleitet werden. Zurzeit sprechen wir von etwa 60 Wolfsrudeln in Deutschland, und die Dunkelziffer ist wesentlich höher.
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Jährlich nimmt die Zahl der Tiere um circa ein Drittel zu, und noch immer stellen vor allem Hobbyexperten die Notwendigkeit der Bestandskontrolle infrage. Aber was passiert denn, wenn man mit der Rückkehr der Wölfe blauäugig umgeht? Die Rückkehr droht zu scheitern, wenn sich die Politik nur auf solche Freizeittierschützer verlässt.
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Natürlich haben wir in Deutschland Flächen, auf denen der Wolf weitgehend gefahrlos einen Lebensraum finden kann. Das Umland von Metropolen wie Berlin, München oder des Ruhrgebiets gehören aber definitiv nicht dazu. Auch deshalb brauchen wir ein effektives und bundesweit einheitliches Wolfsmanagement mit festgesetzten Verbreitungsgebieten.
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Unerklärlich ist mir, dass die vorhandenen Strukturen unseres deutschen Jagdrechts beim Wolfsmanagement nicht herangezogen werden. Da haben wir über 390 000 ehrenamtliche Natur- und Tierschützer, die in den vergangenen Jahrzehnten ihre Leistungsfähigkeit bewiesen haben. Statt die Jägerinnen und Jäger in den Prozess einzubinden, wird in den Bundesländern eine bürokratische und unglaublich komplizierte Struktur mit Wolfsmanagementplänen und Wolfsberatern geschaffen.
Wenn man Verbreitungsgebiete festgelegt hat und die Population im jeweiligen Verbreitungsgebiet gefestigt ist, dann kann und muss man Wölfe außerhalb dieser Gebiete auch entnehmen. Nur so kann die Gefahr für Herdentiere und andere Wildbestände wirksam gebannt werden.
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Machen wir uns eines klar: Viele Landwirte sind in ihrer Existenz bedroht, wenn der Wolf ihre Herdentiere reißt. 2017 wurden mehr als 1 000 Tiere gerissen; das war eine Verdoppelung gegenüber 2016. Mehr und höhere Zäune alleine werden dieses Problem hierzulande nicht lösen.
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Bei den Zahlungen zum Ausgleich von Wolfsrissen sowie bei der Finanzierung von Präventionsmaßnahmen brauchen wir, wie beim Wolfsmanagement, bundesweit einheitliche, unbürokratische und verlässliche Regeln.
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Wir wollen heute schon an morgen denken. Gerade die Menschen in den ländlichen Räumen, wo der Wolf schon heute herumstreift, machen sich Sorgen, dass sie nicht gehört werden. Wir hier im Deutschen Bundestag tragen die Verantwortung dafür, vorausschauend Problemlösungen auch schon für künftige Herausforderungen zu finden.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns im Ausschuss detailliert über die dringend notwendigen Maßnahmen zum Wolf sprechen. Ich bitte daher um Überweisung.
Danke schön.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Klaus-Peter Schulze von der CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Alle Wölfe in Norddeutschland sind, wie ich, Lausitzer.
Wie kam es dazu? Im Jahre 1999 siedelte sich das erste fortpflanzungsfähige Paar in der Muskauer Heide, etwa 20 Kilometer von meinem Wohnort entfernt, an. Im Jahr 2000 erfolgte die erste erfolgreiche Reproduktion. Dies hat sich fortgesetzt, und in den ersten zehn Jahren wuchs die Population in Deutschland um etwa sieben Rudel. Von 2010 bis 2017 sind aus sieben Rudeln 60 geworden, und das ist jetzt ein Punkt, an dem man dieses Thema intensiver behandeln muss. Deshalb haben wir dieses Thema schon in der letzten Legislaturperiode im Umweltausschuss und im Landwirtschaftsausschuss behandelt.
Ich glaube, die vier Anträge, die heute hier in unterschiedlicher Qualität eingebracht wurden,
({0})
müssen wir zur Grundlage nehmen, um im Umweltausschuss dieses Thema zeitnah – auch unter Anhörung von Experten – weiter zu verfolgen.
Im vergangenen Jahr sind, wie der Kollege Busen schon dargestellt hat, mehr als 1 000 Nutztiere gerissen worden. In den Anträgen der Linken und der Grünen wird auf mehr Herdenschutz – sprich: mehr Zäune – abgestellt. Wenn man wolfssichere Zäune in entsprechender Größenordnung in den Weidegebieten aufstellt, dann durchtrennt man Lebensräume. Auf der anderen Seite nehmen wir, wenn eine neue Autobahn gebaut wird, viele Millionen in die Hand, um Grünbrücken zu bauen und dadurch Lebensräume miteinander zu verbinden. Hier würden wir Lebensräume in der freien Landschaft durch große Einzäunungsmaßnahmen zerschneiden. Ich weiß nicht, ob das der richtige Weg ist. Darüber sollten wir intensiv sprechen.
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Es kommt dadurch nicht nur zur Zerschneidung der Lebensräume, sondern es geht auch um eine wirtschaftliche Betrachtung. Die Landesanstalt für Landwirtschaft im Freistaat Bayern hat errechnet, dass allein in Bayern 57 000 Kilometer wolfssichere Einzäunungen erforderlich wären, was mit einem Kostenumfang von mehr als 300 Millionen Euro – ohne Berücksichtigung der Folgekosten – verbunden wäre. Ich glaube, das können wir in dieser Form nicht umsetzen.
Man konnte heute früh um 6.10 Uhr im „Morgenmagazin“ sehen, dass es jetzt eine zunehmende Zahl an Weidetierhaltern gibt, die ihre Kälbchen und Rinder im Stall und nicht mehr auf der Weide unterbringen. Dadurch haben wir das nächste Problem; denn jeder Dunghaufen – im Volksmund auch als „Kuhfladen“ bezeichnet – ist ein wichtiger Lebensraum.
Wir haben vor einigen Monaten über das Thema „Rückgang der Insekten“ gesprochen.
Wenn ich die Weidetierhaltung weiter einschränke, dann muss ich mich auch nicht wundern, wenn wir hier weitere Probleme bekommen.
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Deshalb sollten wir neben dem Herdenschutz weitere Maßnahmen ergreifen. Ich denke daran, dass die Weidetierhalter mit Herdenschutzhunden ausgestattet werden sollten, wobei die Kosten, die bis zu 1 000 Euro pro Hund und Jahr betragen, zum Teil übernommen werden sollten.
Staatssekretär Flasbarth hat am 19. Juni 2017 gesagt: In Gegenden, wo man keine Zäune errichten kann, zum Beispiel an den Deichen in Norddeutschland, insbesondere an der Nordsee, aber auch im Gebirge, müssen wir uns damit einfach abfinden und die Ansiedlung von Wölfen dadurch verhindern, dass nicht einzelne Tiere entnommen werden, sondern ganze Rudel.
Aber für mich ganz wichtig ist es, dass wir die Frage der Populationsentwicklung und des Populationsstatus betrachten. Für große Säugetiere wird ein günstiger Haltungszustand vorgegeben. Er liegt bei 1 000 geschlechtsreifen Tieren in einer für sich genetisch abgeschlossenen Population. An dieser Stelle müssen wir meiner Meinung nach bei den Wölfen ansetzen und das durch wissenschaftliche Untersuchungen belegen, damit wir dann die FFH-Richtlinie der Europäischen Union anwenden können.
Für mich stellt sich auch die Frage: Wie betrachte ich die deutschen und die westpolnischen Wölfe, die alle den gleichen Ursprung haben, nämlich das Rudel in der Muskauer Heide, die von einigen Balkonbiologen
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aus den Ballungsräumen als zwei selbstständige Populationen angesehen werden? Dort muss ich ansetzen und sagen: Es kann nicht sein, dass wir jetzt in nationalen Grenzen denken; denn das würde bedeuten, dass wir in Deutschland, wenn ich die Wölfe dort als eigene Population betrachte, insgesamt 500 Rudel haben müssten. Wenn ich sechs Tiere pro Rudel ansetze, sind das 3 000 Tiere. Ich glaube, das verträgt unsere Landschaft nicht.
Deshalb stellen wir folgende Forderungen auf:
Erstens. Der Status der Populationen muss durch genetische Untersuchungen geklärt werden, natürlich nicht nur von den in unserer Region vorhandenen Wölfen, sondern man muss sie zum Beispiel auch mit der baltischen Population vergleichen. In diesem Zusammenhang kann ich gleich etwas zu der Diskussion sagen, die immer wieder geführt wird, dass die hier herumlaufenden Wölfe nur Nachkommen von den ehemaligen Wachhunden der sowjetischen Truppen seien. Dieses Vorurteil kann ich damit abräumen.
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– Ich habe diese Theorie nicht aufgestellt, Frau Dr. Tackmann. Sie kam von anderen.
Zweitens müssen wir die Zahl der besenderten Tiere deutlich erhöhen, um die Migrationswege zu berücksichtigen.
Drittens müssen wir die Entschädigungsverfahren entbürokratisieren und, wie schon angesprochen, das Thema finanzielle Unterstützung bei Herdenschutzhunden mit aufnehmen.
Viertens. Sie wissen – das ist aus meiner Sicht ein neuer Aspekt, den wir in der Vergangenheit noch gar nicht diskutiert haben –, dass die Afrikanische Schweinepest vor der Tür steht; in Polen und Tschechien ist sie bereits angekommen. Wir wissen auch, dass derzeitig etwa 18 Prozent der Beutetiere Wildschweine sind. Das sind insgesamt gesehen relativ wenig. Warum sind es nur 18 Prozent? Weil Wildschweine sehr wehrhaft sind und die Wölfe eher nicht an sie herangehen.
Wenn man sich aber das Krankheitsbild eines Tieres im Falle einer Schweinepest anschaut, dann stellt man fest: Das Tier wird in seinen Bewegungen stark eingeschränkt, die Wehrhaftigkeit nimmt ab. Damit ist zu erwarten, dass die Wildschweine in der Zukunft einen größeren Beuteanteil ausmachen werden, und es ist nicht auszuschließen, dass Erreger von den Wölfen aufgenommen werden.
Wir wissen von besenderten Tieren, dass sie lange Strecken zurücklegen. Kollege Schipanski sprach mich wegen seines Wolfsrudels an. Ich kann sagen: Seine Wölfe stammen vom Spremberger Rudel. Dieses Rudel hat einen Wolf geschickt, damit er in Thüringen eine Familie gründen kann. Sie sehen: Ein Wolf kann große Strecken zurücklegen. Auch dieses Thema sollten wir bei einer wissenschaftlichen Untersuchung betrachten.
Ich komme zum Schluss. Wir müssen – das ist eine Diskussion, die vor einigen Jahren begann – im Zusammenhang mit der FFH-Richtlinie auf europäischer Ebene auch die besonderen Bedingungen in den Ländern berücksichtigen.
Während die Population der Wölfe in Schweden und Norwegen in einem Gebiet lebt, in dem es 18 Einwohner pro Quadratkilometer gibt, lebt die polnisch-deutsche Population in einem Gebiet mit 130 Einwohnern pro Quadratkilometer. Solche Dinge sind künftig bei den Untersuchungen zu berücksichtigen.
Danke.
({5})
Nächste Rednerin ist für die Bundesregierung die Parlamentarische Staatssekretärin Rita Schwarzelühr-Sutter.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mein Kollege Schulze hat die Zahlen noch einmal sehr eindrücklich genannt. Das sind die Fakten: Wir haben 60 Wolfsrudel und 13 standorttreue Wolfspaare. Das sind die amtlichen Zahlen, die auf wissenschaftlicher Grundlage erfasst wurden. Über die Dunkelziffer und Hobbyexperten will ich hier nicht reden. Wenn man bedenkt, dass der Wolf fast völlig ausgerottet war, ist es ganz natürlich, dass er sich seinen ehemals angestammten Lebensraum wiedererobert und dort sich ansiedelt.
Wir haben den günstigen Erhaltungszustand noch nicht erreicht. Aber wir setzen uns mit den Ängsten, Problemen und Sorgen auseinander und nehmen sie ernst.
Wir haben zum einen die Weidetierhalter und Nutztierhalter und zum anderen die Menschen vor Ort. Ich fange mit der Weidetierhaltung an. Wir wissen alle, dass sie ein wertvoller Beitrag zur Landschaftspflege und zum Naturschutz ist. Wir wollen helfen, sie auch dort in Zukunft sicherzustellen, wo der Wolf auftritt. Das BMUB sieht es als Kernaufgabe an, Wolfschutz und Herdenschutz miteinander vertretbar zu gestalten.
Dazu wurde schon sehr viel auf den Weg gebracht. Es wurden Standards für einen adäquaten Herdenschutz entwickelt. Sie sind allgemein bekannt, und Brandenburg hat sie gerade auch in einer Wolfsverordnung festgeschrieben.
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Meine Bitte geht an die Weidetierhalter, ihre Tiere gut zu schützen. Das gilt natürlich auch für die Nebenerwerbs- und Hobbyhalter.
Die Länder unterstützen mit Expertise und mit Präventions- und Schadensersatzzahlungen. Natürlich werden Bund und Länder – das haben wir in den Koalitionsverhandlungen auch durchaus ernst genommen – die Situation noch verbessern und den bürokratischen Aufwand reduzieren.
Unser Kernanliegen ist, die wirtschaftliche Situation der Nutztierhalter insgesamt zu verbessern. Agrarsubventionen müssen zugunsten von Betriebsformen umverteilt werden, die Naturschutzvorteile mit sich bringen. Dazu gehören besonders die Schäferei und die Ziegenhaltung.
Ein gutes Wolfsmanagement ist auf Basis des bereits geltenden nationalen und europäischen Artenschutzrechts erfolgreich möglich. Daher sind die Forderungen nach einer Änderung des Schutzstatus des Wolfs auf EU- bzw. nationaler Ebene entbehrlich.
({1})
Populationsobergrenzen und wolfsfreie Zonen sind auch gänzlich unvereinbar mit dem europäischen Recht. Sie fordern Managementstrategien, die auf eine Bejagung setzen. Aber diese werden das Problem nicht lösen. Auch wenn es nur einen Wolf gibt, wird dieser eine Herde angreifen und ein Nutztier reißen können. Deswegen ist das der falsche Ansatz. Es gibt zwar manchmal Wölfe, die es sogar bis nach Baden-Württemberg schaffen; aber dort werden sie gleich erschossen und im See versenkt.
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Es ist unverantwortlich und nicht gerechtfertigt, Ängste vor dem Wolf zu schüren.
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– Bitte? Haben Sie eine Zwischenfrage?
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Die Vorgänge um das sogenannte Munsteraner Rudel sind seit Jahren erledigt. Es ging dort auch um Vergrämung. Wenn es einen problematischen Wolf gab, hat man auch gehandelt. Der sogenannte MT6 – „Kurti“ – wurde entnommen.
({5})
– Ich finde es phänomenal, wie Sie immer aus einer Mücke einen Elefanten machen.
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Wir nehmen diese Ängste und Sorgen und die durchaus existenziellen Anliegen der Landwirte sehr ernst. Deswegen finde ich Ihren Einwurf gänzlich unangebracht.
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Ich will noch einmal betonen: Die Sicherheit der Menschen hat für uns oberste Priorität.
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Wir werden die Entwicklung ganz genau beobachten. Wir haben mit unseren Managementplänen und in Zusammenarbeit mit den Ländern gute Arbeit geleistet. Wir werden, wie gesagt, auch im Koalitionsvertrag darauf entsprechend reagieren.
Herzlichen Dank.
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Danke sehr. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, um Missverständnisse zu vermeiden: Immer wenn die Redezeit abgelaufen ist, möchte ich keine Zwischenfragen mehr gestatten. Nur zum Verständnis.
Jetzt erteile ich als nächstem Redner dem Kollegen Karsten Hilse von der AfD-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als ich die Überschrift des FDP-Antrags las, war ich sehr gespannt. Der Titel des Antrags „Gefahr Wolf – Unkontrollierte Population stoppen“ insinuiert, dass die FDP-Fraktion die Courage hat, sich ernsthaft mit einem unpopulären Thema zu befassen. In Ihrem Antragstext wollen Sie aber lediglich den Wolf, wie in Sachsen schon geschehen, im Jagdrecht berücksichtigen und Weidetierhalter besser entschädigen. Das ist doch weniger couragiert. Das Problem ist aus unserer Sicht vielschichtiger.
Die in den vergangenen Jahren übermäßig zunehmende Ausbreitung des Wolfes in einzelnen Regionen in Deutschland, zum Beispiel in der Lausitz, ist in jedem Fall Ausdruck der fehlenden Regulierung von Gleichgewichten in dichtbesiedelten Kulturlandschaften. Das birgt großes Konfliktpotenzial, das umso schneller steigt, je dogmatischer der Schutz der Wölfe, wie von den Linken gefordert, betrieben wird. Der absolute, bedingungslose Schutz des Wolfes hat in einzelnen Regionen zu einer Populationsdichte von Wölfen geführt, welche sie zu einer artfremden Lebensweise veranlasst. Durch eine mediale Konditionierung durch die Leitmedien haben sehr viele Menschen in Deutschland einen sehr verklärten, ja romantischen Blick auf den Wolf.
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Für viele ist er eine Art in der Wildnis lebendes Kuscheltier.
({1})
Der Wolf ist aber ein Raubtier. Er ist ein Raubtier, das dem Menschen gefährlich werden kann. Ich bitte Großstädter, hier wirklich Verständnis für die nachvollziehbaren Sorgen der Menschen im ländlichen Raum zu haben. Wölfe laufen immer öfter seelenruhig durch Dörfer und an Bushaltestellen vorbei, an denen nur wenige Stunde zuvor Kinder auf ihren Schulbus warteten. Wölfe haben schon lange gelernt, dass vom Menschen keine Gefahr ausgeht. Der nächste logische Schritt ist, dass sich auch ihr Beuteschema ändert. Alles, was kleiner und langsamer ist, ist als potenzielles Jagdopfer anzusehen.
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Wir brauchen Maßnahmen für eine wirkungsvolle Vergrämung und im äußersten Fall den Abschuss von Tieren, die ihre Scheu verloren haben und diese durch andere Vergrämungsmaßnahmen nicht wiedererlangen. Romantik ist hier fehl am Platz.
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In einer gemeinsamen Erklärung von Bundesumweltministerin Barbara Hendricks und dem niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil heißt es – ich zitiere –:
Die Sicherheit der Menschen hat oberste Priorität. Wölfe, die sich gegenüber Menschen auffällig verhalten, sind zu beobachten und gegebenenfalls zu töten.
Es geht nicht darum, Wölfe massenhaft abzuschießen, sondern darum, sachlich mit Fachleuten, Wissenschaftlern und Betroffenen Möglichkeiten zu finden, Wölfe vom Menschen wirksam fernzuhalten. Wenn Wölfe erkennen, dass Menschen für sie eine Gefahr darstellen, werden sie zu ihrem natürlichen Verhaltensmuster zurückkehren und die Nähe des Menschen meiden.
Wölfe haben seit ihrer Rückkehr nach Deutschland offiziell mehr als 3 500 Nutztiere gerissen. In der Lausitz ist die Haltung von Schafen stark eingeschränkt. Viele Menschen, die sich früher zwei, drei Schafe hielten, sind davon abgegangen. Schafhalter, die ihre Schafe vor allem in Heidelandschaften grasen ließen, haben genervt aufgegeben, mit der Folge, dass die Diversität bei den Heidepflanzen zurückgegangen ist. Das, was Natur- und Tierschützer eigentlich erreichen wollen, nämlich eine Nutztierhaltung, die vorrangig auf der Weide stattfindet, konterkarieren sie durch zu hohe Wolfspopulationen.
Darüber hinaus wird von verschiedenen Seiten die Schutzwürdigkeit einiger Tiere der Wolfspopulation infrage gestellt, da die Zugehörigkeit vieler Wölfe zur Art des Grauwolfes – lateinisch Canis lupus lupus –, der vor seiner Ausrottung in Europa heimisch war, bezweifelt wird. Vielfach zeigen genetische Analysen, dass es sich bei tot aufgefundenen Wölfen um Hybride handelt. Bei einem durch einen Verkehrsunfall getöteten Wolf wurden per Genanalyse 60 Prozent Gene Grauwolf und 40 Prozent Gene Labrador festgestellt.
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Hier werden Wesensmerkmale vermischt, die ein hohes Gefahrenpotenzial bergen: einerseits die Anhänglichkeit eines Familienhundes und andererseits der ausgeprägte Jagdtrieb des Wolfes. Hier muss mit geeigneten Mitteln festgestellt werden, welche Tiere wir hier ansiedeln und bedingungslos schützen.
Im Fachkonzept für ein Wolfsmanagement heißt es unter anderem sinngemäß, dass bis zu einer Anzahl von zwölf Rudeln der Abschuss nur im äußersten Notfall erfolgen soll. Mit zunehmendem Bestand kann diese Option dann großzügiger zur Anwendung kommen. Es leben jetzt schon mehr als fünfmal so viele Rudel in den verschiedenen Wolfsgebieten mit offiziell 600 bis 700 Tieren. Lassen Sie uns im Umweltausschuss sachlich über Lösungsansätze reden. Vielleicht sind die Kollegen der FDP dort etwas couragierter.
Eine letzte Anmerkung. In den letzten Jahren haben diejenigen, die sich dafür interessiert haben, gesehen, wie invasives Eindringen in bestehende Lebensräume zu massiven Problemen der dort schon länger Lebenden führen kann. Naturschützer wissen natürlich wovon ich spreche: von Kormoranen und Bibern.
Ein schönes Wochenende.
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Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Dr. Kirsten Tackmann von der Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf der Tribüne! Seit 2005 kämpfe ich als Bundestagsabgeordnete der Linken darum, dass die Existenznot insbesondere in der Schafhaltung hier endlich wahrgenommen wird. Die Schäferinnen und Schäfer standen mit ihren Schafen am Brandenburger Tor, haben protestiert; sie sind mit ihren Herden in einem Hirtenzug quer durchs Land gezogen. Sie haben uns zu runden Tischen geladen. Das war alles, lange bevor der Wolf zum zusätzlichen Problem geworden ist.
Als Linke haben wir mit Anträgen, mit Anfragen oder mit Fachgesprächen diese Anliegen, die wir für berechtigt halten, immer unterstützt – von der Weidetierprämie über einen Nothilfefonds beim dramatischen Ausbruch der Blauzungenerkrankung bis hin zum Herdenschutz. Leider wurde das hier im Bundestag immer verweigert, und deswegen geben Schäferinnen und Schäfer auf.
Wo waren eigentlich all die Jahre diejenigen, die sich jetzt selbst zum Rächer der Schafe ernennen und zum großen Halali gegen den Wolf blasen?
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Lassen wir doch einfach jemanden zu Wort kommen, der sich seit Jahren für den Herdenschutz engagiert. Ich habe Schäfermeister Knut Kucznik vom Bundesverband Berufsschäfer einmal gefragt, was er in dieser Debatte sagen würde, wenn er Rederecht hätte. Mit Einverständnis des Präsidenten möchte ich seine sehr eindrucksvollen Worte hier vortragen:
Wir Weidetierhalter in Brandenburg haben zurzeit die höchste Wolfsdichte der Welt auf unserem Weideland. Und wir haben mehr als 15 Jahre Erfahrungen im Umgang mit den Wölfen und der Gefährdung unserer Weidetiere.
Eines muss anfangs gesagt werden: Uns Weidetierhalten wäre es lieber, wenn es Wölfe nicht geben würde. Nun ist der Wolf aber da. Und er ist streng geschützt. Wir werden mit diesem Fakt lernen müssen zu leben. Deshalb ist es unsere Pflicht, dass wir unsere Tiere schützen. Das zeichnet einen guten Hirten aus.
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Leider waren die betriebswirtschaftlichen Ergebnisse der Weidetierhaltung schon vor der Einwanderung der Wölfe die niedrigsten in der Landwirtschaft. Viele Betriebsleiter können für sich selbst nicht einmal den derzeitigen Mindestlohn erwirtschaften. Und Altersarmut droht allen. Hier zeigt sich ganz deutlich, dass der Wolf nicht nur die schwächsten Tiere schlägt, sondern unserem Land auch ganz klar seine Schwäche zeigt.
Wir Weidetierhalter erzeugen nicht nur hervorragende Lebensmittel bei besten Haltungsbedingungen, sondern wir halten mit unseren Tieren Luft, Wasser und Boden gesund. Wir sorgen für Sicherheit in den Berg- und Küstenregionen Deutschlands. Dafür werden wir aber nicht ausreichend entlohnt. Den Wolf ins Jagdrecht zu nehmen, hilft uns nicht. Er bleibt nach europäischem Recht trotzdem ganzjährig geschützt. Den Wolf zu bejagen, nützt uns nichts. Ein übrig gebliebener Wolf kann genauso gefährlich für unsere Herden sein wie zehn.
Herdenschutz, den wir uns leisten können, hilft uns. Die längst überfällige Anpassung der Tierschutz-Hundeverordnung,
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um Herdenschutz mit Hunden rechtssicher durchführen zu können, hilft uns. Bessere Bezahlung für unsere Produkte der agrarökologischen Dienstleistungen hilft uns.
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Eine Weidetierprämie als Direktzahlung hilft uns. Und die rechtssichere Entnahme von Wolfsrudeln, die Herdenschutzmaßnahmen überwinden, hilft unseren Tieren.
Im Namen aller Weidetierhalter bitte ich den Deutschen Bundestag um Hilfe in dieser für Weidetierhalter schwierigen Zeit. Die Zahl der Schafbestände in Deutschland ist im Absturz. Ohne Schafe können die Schutzgebiete Deutschlands nicht in einem guten Erhaltungszustand und die Deiche nicht gesichert werden. Deshalb muss nicht gegen den Wolf, sondern für unsere Schafe gehandelt werden.
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So weit Knut Kucznik, dem ich für diese eindrucksvollen Worte und sein jahrelanges Engagement mit seinen Verbündeten sehr danke.
Mein Appell geht heute an diejenigen, denen es wirklich um die Weidetierhaltung geht. Lassen Sie uns die Zeit ohne Koalitionszwang nutzen, um hier endlich Hilfe zu beschließen.
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Die Bundesländer tun schon relativ viel. In Brandenburg und Thüringen beispielsweise wird die Anschaffung von Herdenschutzhunden bereits gefördert. Aber jetzt ist der Bund in der Pflicht. Lassen Sie uns also die Dinge tun, die zu tun sind! Viele Vorschläge stehen im Antrag der Linken. Lassen Sie uns das gemeinsam beschließen!
Vielen Dank.
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Die nächste Rednerin ist die Kollegin Steffi Lemke von Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben über die Frage des Wolfes in Deutschland, in Europa im Deutschen Bundestag eine lange Debatte geführt. Die Anfänge liegen Jahre zurück; manche Vorredner haben schon darauf hingewiesen.
Es gibt zwei Möglichkeiten, diese Debatte zu führen:
Man kann sie so führen, wie die Kollegin Tackmann das eben gemacht hat, sich nämlich um das Problem kümmern und versuchen, tatsächlich Lösungen für die real existierenden Probleme der Weidetierhalter zu finden.
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Dies haben der Agrarausschuss des Deutschen Bundestages und der Umweltausschuss des Deutschen Bundestages in der letzten Legislaturperiode auch getan, und zwar fraktionsübergreifend.
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Die zweite Möglichkeit, diese Debatte zu führen, ist die der FDP hier. Schon im Titel ihres Antrags wird etwas angetriggert und mit dem Satz fortgesetzt – ich zitiere –: „Das Eindringen des Wolfes in den Lebensraum des Menschen führt zu Risiken“ für die Kleinsten in unserer Gesellschaft.
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Kinder können die Gefahren, zum Beispiel durch unvorhergesehene Angriffe oder übertragbare Krankheiten, noch nicht erkennen.
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Ich sage Ihnen: Damit sind Sie nicht weit von „Großmutter, warum hast du so große Augen?“ entfernt.
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Sie können diese Debatte so führen und mit einem sehr dünnen Antrag unterlegen, in dem keine einzige Forderung enthalten ist, die den Herdenhaltern wirklich hilft – das fehlt in Ihrem Antrag komplett –,
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oder Sie können Folgendes tun – dazu lade ich Sie ein –: Sie kommen in die Debatte in den Ausschüssen, wie wir sie – ich hatte es gesagt – fraktionsübergreifend geführt haben, und suchen gemeinsam mit den anderen Fraktionen nach funktionierenden Lösungen. Dass wir einen Konflikt haben, nämlich einen Konflikt zwischen dem menschlichen Nutzungsinteresse und dem Schutzinteresse beim Wolf – der Wolf nimmt Lebensraum in Anspruch –, bestreitet hier niemand.
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Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, bitte.
Sehr geehrte Frau Kollegin Lemke, ist Ihnen bekannt, dass in Niedersachsen Wölfe mittlerweile in Ortsteilen gesichtet wurden? Ich darf hier aus einem Infobrief aus dem „rundblick“, einem niedersächsischen Politikjournal, zitieren. Der Bürgermeister einer Gemeinde, übrigens SPD-Mitglied, sagt: Ich glaube, dass die Bürger verstanden haben, dass in unserer Gegend Wölfe leben und wir als Gemeinde in Sachen Wolf keine Handhabe haben; denn Wolfspolitik ist Landessache. – Letzteres ist nicht richtig. – Dann wird weiter zitiert: Dieser Wolf ist schon mehrfach an einem örtlichen Kindergarten vorbeigelaufen. Dieser Kindergarten wird mit einem Zaun derzeit gesichert von 1,20 Meter Höhe.
Ich will Ihnen nur die Frage stellen: Wissen Sie um diesen Zustand oder um diese Tatsache? Wenn nicht, dann würde ich Sie vor dem Hintergrund, dass dreijährige Kinder dort in der Sandkiste spielen, gern fragen, wie man den Wolf, der die Geschichte vom bösen Wolf vielleicht noch nicht zu Ende, sondern nur bis zum Rotkäppchen gehört hat, davon abhalten kann, bei dem Beuteschema etwas ganz Schlimmes zu tun. – Wenn das nämlich passiert, dann sind wir als Parlamentarier absolut blamiert. Das darf nicht passieren.
Deswegen meine Frage: Ist Ihnen diese Tatsache bekannt?
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Natürlich ist mir diese Tatsache bekannt. Wenn Sie mich kennen, sollten Sie auch wissen, dass wir Grüne uns zum einen umfassend über solche Themen informieren
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und zum anderen natürlich auch über solche Vorfälle reden, dass wir mit Stefan Wenzel als Umweltminister in Niedersachsen Verantwortung dafür übernommen haben, wie mit Problemwölfen in Niedersachsen umgegangen wird,
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und dass wir in Brandenburg als Landtagsfraktion und in Sachsen-Anhalt mit einer Umwelt- und Landwirtschaftsministerin in der Ausübung von Exekutivgewalt permanent mit diesen Problemen befasst sind.
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Jetzt frage ich Sie: Was hilft diese Debatte, die Sie jetzt wieder hervorgeholt haben, und was hilft die Passage in Ihrem Antrag, mit der unberechtigte Ängste geschürt werden?
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Ich wiederhole: unberechtigte Ängste geschürt werden! Es gibt keine real existierende Gefahr für dreijährige Kinder im deutschen Wald. Vielmehr ist es die Aufgabe von Behörden, dort, wo Problemwölfe auftauchen, also wenn sie sich zum Beispiel Kindergärten nähern, ebenso wie bei Wildschweinhorden, die Freiflächen von Kindergärten umgegraben haben, die in Kleingärten auftauchen, Lösungen zu finden. Es geht aber nicht an, Angstdebatten im Deutschen Bundestag zu kreieren! Das ist der springende Punkt. Es geht nicht um Problemignoranz, sondern um Lösungen! Das ist der Unterschied.
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Frau Kollegin, würden Sie noch eine Zwischenfrage von der FDP-Fraktion zulassen?
Ich habe nicht gesehen, wer eine Frage stellen möchte.
Ein Kollege aus der FDP-Fraktion.
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Wenn ich ausraste, sieht das anders aus, Herr Kollege.
Vielen Dank, Frau Kollegin Lemke, dass ich diese Frage stellen darf. – Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Sie eben gesagt haben, dass mit unserem Antrag sinnlos Ängste geschürt würden, die eigentlich gar nicht berechtigt wären, möchte ich Sie fragen, ob Sie bereit sind, mit mir zusammen zur Kenntnis zu nehmen, dass in Niedersachsen massiv Existenzen von Weidetierhaltern bedroht sind. Sie haben nämlich jede Nacht Angst um ihre Tiere und wissen nicht, ob in der vergangenen Nacht acht oder zehn oder zwölf ihrer Schafe gerissen wurden.
Ist Ihnen außerdem bewusst, dass in besonderem Maße in Niedersachsen der Hochwasserschutz gefährdet ist, weil man Deich- und Hochwasserschutz nicht betreiben kann, ohne dass Weidetierhaltung auf den Deichen stattfindet? Wären Sie bereit, mit mir nach Niedersachsen zu fahren, um sich vor Ort ein Bild über die Situation zu machen?
Vielen Dank.
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Ja, Ihre Einschätzung dieser Gefahren und dieser Risiken teile ich mit Ihnen. Ihren gerade gemachten Ausführungen würde ich zustimmen. Sie haben mir aber entweder nicht zugehört oder sind meinem Redeverlauf einfach voraus. Ich habe eben darüber gesprochen, dass Sie bei Eltern und bei Kindern Ängste vor Gefahren schüren, die in dieser Form nicht vorhanden sind. Darum geht es mir.
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– Darum geht es mir.
Wissen Sie, ich kann Ihre Wolfstränen, die Sie an dieser Stelle vergießen, nur als Angstmache bezeichnen, solange Sie nicht alle anderen Risiken, beispielsweise durch Wildschweinherden – Menschen sind im Wald eher durch Wildschweine gefährdet als durch Wölfe –,
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gleichermaßen thematisieren. Darum ging es mir, weil es mir um eine rationale Debatte geht.
Ich bin sehr gerne bereit, mit Ihnen nach Niedersachsen zu Weidetierhaltern zu fahren. Grüne in Ministerverantwortung haben das auch mehrfach gemacht. Wir Grüne müssen uns in Ministerverantwortung als Exekutivgewalt ganz konkret mit diesen Problemen auseinandersetzen. Kommen Sie mit mir nach Sachsen-Anhalt, begleiten Sie Frau Dalbert, die dortige grüne Landwirtschaftsministerin; ich begleite Sie gerne nach Niedersachsen. Das können wir wechselweise machen.
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Frau Kollegin, es gibt noch einen Wunsch nach einer Zwischenfrage, und zwar vom Kollegen Kubicki. Sind Sie damit einverstanden?
Wirklich? Ihm kann ich es ja nicht abschlagen, aber dann ist gut.
Frau Kollegin Lemke, Sie können mir alles abschlagen. Meine Frage lautet: Ist Ihnen, wenn Sie schon darauf eingehen, dass man sich um die Wildschweinpopulation kümmern sollte, bekannt, dass Wildschweine im Gegensatz zu Wölfen bereits bejagt werden dürfen?
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Herr Kubicki, darf ich Ihnen mit der Gegenfrage antworten, auch wenn Sie sie laut Geschäftsordnung nicht beantworten können, ob Ihnen bekannt ist, welche Probleme die Wildschweine trotz Bejagung Landwirten, Kleingärtnern, Menschen, die Nutzgärten und Kindergärten pflegen, permanent machen?
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Das sind relevante finanzielle und ökonomische Schäden, die dort entstehen. Dort gibt es ebenfalls Angstdebatten. Man muss sich entscheiden, ob man diese schüren will oder ob man sich um Lösungen kümmern will. Darum ging es mir.
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Ich habe wirklich Respekt vor den Menschen, die die Weidetierhaltung aufrechterhalten, die weiter Schafe und Ziegen halten, obwohl sie mit Wölfen konfrontiert sind. Pferde und Rinder sind nicht ganz so stark tangiert. Ich habe großen Respekt vor den Menschen, die das trotz zerbröselnder Infrastruktur im öffentlichen Raum, trotz Ärztemangels und all der Probleme im ländlichen Raum, die wir hier schon diskutiert haben, machen, dabei mit dem Wolf zurechtkommen und öffentlich bekennen – Frau Tackmann hat das gerade zitiert –, dass sie das tun wollen, auch wenn es ihnen lieber wäre, der Wolf wäre nicht da. Davor habe ich wirklich Respekt.
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Ich finde, dass diese Menschen all unsere Unterstützung verdienen. Wir haben nach den Anhörungen im Deutschen Bundestag Vorschläge vorgelegt. Der entscheidende Punkt ist, dass die Gemeinsame Agrarpolitik endlich umsteuern und eine finanzielle Existenzgrundlage für die Weidetierhalter schaffen muss.
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Der Naturschutzbund Deutschland hat immer wieder darauf hingewiesen, dass die Situation für die Weidetierhalter existenzbedrohend ist und die Rückkehr des Wolfes in der Tat der Tropfen ist, der das Fass zum Überlaufen bringt, was dazu führt, dass Weidetierhalter die Weidetierhaltung aufgeben – mit allen ökonomischen, sozialen und ökologischen Konsequenzen.
Die spannende Frage ist: Versucht man, sich darum zu kümmern, dass das Fass endlich einmal leer wird, oder diskutiert man noch weitere vier Jahre über den Tropfen?
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Ich habe heute Morgen zur Kenntnis genommen, dass die Koalitionsfraktionen einige Punkte für den Koalitionsvertrag vorbereiten. Das, was der Presse zu entnehmen war, scheint alles sehr vernünftig zu sein, wenn Sie es tatsächlich schaffen, erstens die Finanzgrundlage für die Weidetierhaltung im bestehenden Rahmen der GAP schnell zu verändern – das können Sie; diese Möglichkeit haben Sie aber vier Jahre lang verstreichen lassen, und das ist bitter für die Weidetierhalter – und zweitens bei der anstehenden Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik endlich eine strukturelle finanzielle Verbesserung für die Weidetierhalter zu erreichen und tatsächlich eine Weidetierprämie einzuführen.
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Als Koalition aus CDU/CSU und SPD haben Sie ein riesengroßes Betätigungsfeld: die Verbesserung von Herdenschutzmaßnahmen, ein scharfes Wolfsmonitoring, bundeseinheitliche Entschädigungs- und Versicherungsregelungen. Sie hätten dort längst tätig werden können. Vergießen Sie weniger Tränen! Handeln Sie, und sorgen Sie dafür, dass sich die wirtschaftlichen Bedingungen für die Weidetierhaltung strukturell verändern!
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Ich sage Ihnen: Es ist natürlich auch richtig, auffällige Wölfe zu kontrollieren. Dafür brauchen wir das Monitoring und das Besendern von Wölfen, um auf Problemwölfe zu reagieren. Das darf aber nicht erst dann geschehen, wenn es zu spät ist, sondern es muss rechtzeitig geschehen; da stimme ich Ihnen zu. Aber das funktioniert nur, wenn Sie all diese Maßnahmen zusammen ergreifen und den Weidetierhaltern ihre Existenz über die Gemeinsame Agrarpolitik sichern. Wir führen diese Debatte hier sonst in einigen Jahren nicht mehr, weil es keine Weidetierhalter mehr gibt.
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Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Gero Hocker von der FDP-Fraktion.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Verehrte Frau Kollegin Lemke, Sie haben eben in Ihrer Rede ein Zitat vorgetragen und behauptet, dass wir in unserem Antrag auf die besonderen Gefahren, die sich für Kinder aus der Wolfsmigration ergeben, hinweisen würden.
Ich möchte Sie gerne darauf aufmerksam machen, dass unser Antrag diese Passage ausdrücklich nicht enthält, sondern dass wir den Schwerpunkt unserer Argumentation und unserer Schilderung der Gefahrensituation darauf gelegt haben, dass Weidetierhaltung in Niedersachsen und in vielen anderen Bundesländern Deutschlands massiv bedroht ist. Ich weiß nicht, woher Sie dieses Zitat haben. Es ist jedenfalls nicht Teil des Antrags, den wir in das Plenum eingebracht haben.
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Wollen Sie darauf antworten, Frau Kollegin Lemke? – Ja.
Mir liegt das vor: „Deutscher Bundestag, 19. Wahlperiode, Antrag des Abgeordneten Karlheinz Busen ... und der Fraktion der FDP, Gefahr Wolf – Unkontrollierte Population stoppen“. Aus diesem Dokument habe ich diesen Satz vorhin zitiert, sonst hätte ich nicht um die Zitiergenehmigung des Präsidenten gebeten.
Falls das eine Vorabfassung gewesen sein sollte und Sie es in der zweiten Fassung gestrichen haben sollten,
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fände ich das noch interessanter. Ich würde es nichtsdestotrotz begrüßen, weil es mir wirklich um die Problemlösung geht und weil ich es als einen Ausweis dafür identifizieren würde, dass Sie sich in dieser Debatte weg vom Populismus und hin zur Problemlösung bewegen. Dazu habe ich Sie vorhin schon einmal eingeladen.
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Zu Ihrer ersten Rede erteile ich das Wort der Kollegin Silvia Breher von der CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ja, es ist ein Erfolg für den Natur- und Artenschutz in Deutschland, dass der Wolf hier wieder heimisch geworden ist. Aber an dem Punkt, ihm einfach nur: „Hallo und herzlich willkommen; schön, dass du da bist!“, zuzurufen, sind wir heute leider nicht mehr.
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Die typischen Thesen lauten: Der Wolf ist ein scheues Tier. Der Wolf meidet den Menschen. Der Wolf ernährt sich von Wildtieren. – An diese Thesen hält sich leider nicht jeder Wolf. Ich kann verstehen, dass all diejenigen, die weit weg sind, in der Stadt wohnen und nicht betroffen sind, das Thema romantisieren und sich einfach darüber freuen, dass der Wolf da ist.
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Aber in meinem Wahlkreis Cloppenburg-Vechta haben wir seit 2014 eine Wölfin. Diese Wölfin hat gelernt, dass es bei uns nicht nur Wild, sondern auch Nutztiere gibt, die freundlicherweise eingezäunt sind und deswegen nicht weglaufen können.
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Und sie hat gelernt, dass die nach Standard errichteten Zäune – 1,50 Meter hoch und stromführend – ihr nichts anhaben, wenn sie darüber springt. In der Luft wirkt der Strom nämlich nicht, weil sie dort nicht geerdet ist. Über 2 Meter hohe Zäune klettert sie drüber. Dass die Menschen keine Feinde sind, hat sie auch gelernt. Denn sie spaziert durch unsere Orte und Siedlungen. Und weil es ihr bei uns so gut geht, hat sie im vergangenen Jahr Nachwuchs bekommen. Wir haben jetzt ein Rudel, und den Welpen zeigt sie gerade, wie sie diese Zäune einfach so überwinden können. Das ist nur ein Beispiel von ganz vielen in Deutschland.
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Haben Sie mit den Weidetierhaltern in den betroffenen Regionen in Niedersachsen gesprochen? Ich kann diese Weidetierhalter verstehen. Aber können Sie sich vorstellen, wie sich die Hobbyhalter, die Privatzüchter und eben auch die Landwirte fühlen, wenn sie jeden Morgen auf die Weide gehen und Angst haben müssen, wieder tote Tiere zu finden? Ich spreche nicht von nur einem toten Tier, das aufgefressen worden ist, und auch nicht von nur einem einmaligen Vorfall. Nein, ich spreche von mehreren Tieren, von einer ganzen Herde, von vielen schwerstverletzten Tieren. Die Bilder wollen Sie nicht sehen. Ich aber habe sie gesehen.
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Diese Weidetierhalter sind am Ende ihrer Kraft. Sie können nicht mehr. Die Hobbyhalter haben aufgegeben und ihre Tiere – zumindest die, die übrig geblieben sind – verkauft. Die Landwirte stehen mit dem Rücken zur Wand. Aber ohne unsere Weidetierhalter funktionieren unsere Vegetation und der Schutz der Heidelandschaften und unserer Buschvegetationen nicht. Ohne unsere Weidetierhalter funktioniert auch der Deichschutz an unseren Küsten und an unseren Flüssen nicht. Dadurch wird die Deichsicherheit und damit auch die Sicherheit der Menschen hinter dem Deich gefährdet.
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Wir wollen unsere Weidetierhaltung, und wir brauchen unsere Weidetierhaltung. Aber sprechen wir hier ernsthaft – wirklich ernsthaft – über Weideschutz durch wolfssichere Zäune, und zwar überall in unserem Land, an der gesamten Küste und unseren Deichen entlang und durch die Heide? Wohl kaum. Oder sprechen wir über Herdenschutz durch Herdenschutzhunde an den Küsten, wo die Urlauber entlanglaufen sollen? Wohl kaum.
Lassen Sie uns doch endlich ehrlich sein: Ja, ein sinnvoller Herdenschutz hilft. Ja, wir brauchen schnellere Verfahren zur Feststellung im Falle eines Wolfsrisses. Ja, wir brauchen eine bessere finanzielle Unterstützung der Weidetierhalter zur Prävention und auch im Schadensfall.
All das wird aber nicht reichen; denn die Wolfspopulation wächst in jedem Jahr um 30 Prozent. Wenn wir die Existenz des Wolfes in Deutschland sichern wollen, dann brauchen wir nicht nur die Akzeptanz derjenigen, die damit nichts zu tun haben, sondern auch die Akzeptanz derjenigen, die mit dem Wolf leben müssen.
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Wir müssen den heute schon vorhandenen Rechtsrahmen, den uns das Bundesnaturschutzgesetz liefert, doch nur konsequent anwenden. Wir brauchen bundeseinheitliche Regeln. Das heißt, wir müssen auffällige – ich betone: auffällige – Wölfe, die sich den Kindern immer wieder nähern, wie sie es bei uns im Waldkindergarten in Goldenstedt und auch woanders getan haben, und die immer wieder Nutztierrisse verursachen, besendern und zeitnah vergrämen. Wenn das nicht geht, müssen wir auch eine Entnahme durchführen.
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Wir müssen uns bei der EU-Kommission dafür einsetzen, dass der Schutzstatus des Wolfes überprüft wird, damit wir zu einem wirksamen Bestandmanagement kommen können.
Wir müssen endlich anfangen, die Sorgen und die Ängste der Menschen, die betroffen sind, ernst zu nehmen – im Interesse der Menschen und des Wolfes.
Danke schön.
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Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Carsten Träger von der SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir müssen nicht anfangen, die Sorgen der Menschen ernst zu nehmen, liebe Kollegin; denn wir nehmen ihre Ängste und Sorgen bereits ernst. Vieles von dem, was Sie gefordert haben – Sie haben das richtigerweise angesprochen –, wird schon so gehandhabt; es gibt Vergrämungsmaßnahmen, und es gab auch schon Entnahmen.
Dies ist eine Debatte, die wir sachlich und mit Respekt führen müssen, mit Respekt sowohl gegenüber denjenigen, die Sorgen und Befürchtungen haben, aber auch gegenüber denjenigen – dazu zähle ich mich –, die sich darüber freuen, dass der Wolf wieder da ist. Eine Art, die in Deutschland ausgerottet war, ist jetzt wieder in unserem Land heimisch. Das halte ich für eine gute Nachricht.
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Ich weiß aber auch – das sage ich ausdrücklich –, dass es Sorgen, Befürchtungen und auch handfeste Probleme gibt. Deswegen müssen wir uns mit den Möglichkeiten eines fairen Interessenausgleichs seriös auseinandersetzen.
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Da hilft es nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, wenn Sie am Anfang Ihres Antrages schreiben, die Rückkehr des Wolfes sei ein großer Erfolg für den Artenschutz – so weit bin ich bei Ihnen –, aber dann, wenige Zeilen darunter, die Aufnahme des Wolfes als – ich zitiere – „jagdbare Tierart“ ins Jagdgesetz fordern und kurz danach die Senkung des Schutzstatus im europäischen Recht fordern. Das würde in der Konsequenz zu Abschüssen von Wölfen führen. So ehrlich müssen Sie wenigstens sein und dürfen nicht am Beginn Ihres Antrages schreiben, dass Sie sich freuen, dass der Wolf wieder da ist.
Lieber Herr Kollege von der AfD, Ihre Einlassungen über Hybride, Hundemischlinge zeigen nur einmal mehr, von welchen Internetseiten Sie Ihre Informationen beziehen. Dies ist kompletter Unfug.
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Der Weg der Entnahme, den Sie hier vorschlagen, führt nicht zum Ziel. Gerade erst hat die Europäische Kommission zum wiederholtem Male bestätigt, dass der Wolf in Europa noch nicht den günstigen Erhaltungszustand erreicht hat und weiterhin hohen Schutzstatus genießt, und auch hier in Deutschland hat die Wolfspopulation noch lange nicht den günstigen Erhaltungszustand erreicht. 60 Rudel plus einige Einzeltiere – das ist schon mehrfach angesprochen worden –, das sind die Zahlen, die wissenschaftlich belegt sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wird nicht zu einer Explosion der Population kommen. Wölfe breiten sich in der Fläche aus. Wenn ein Rudel ein Territorium besetzt hat, dann werden einige Tiere weiterwandern – meist sind es Jungwölfe – und sich ein weiteres Territorium suchen. Also wird die Population nicht unendlich anwachsen.
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– Ich habe darum geworben, dass wir uns sachlich auseinandersetzen. Sie können aber noch gerne eine weitere Anmerkung machen.
Trotzdem, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir natürlich die Ängste und die handfesten Probleme, die es ebenfalls gibt, ernst nehmen. Ich wiederhole: Das tun wir bereits. Es gibt in jedem Bundesland ein Wolfsmanagement. Problemwölfe werden schon heute entnommen, erschossen. Weidetierhalter werden entschädigt. Der Bund unterstützt die Länder bei ihrem Wolfsmanagement. Wir können gerne darüber reden, dass wir noch mehr tun, dass wir die Maßnahmen, die es bereits gibt, verbessern werden; denn – das ist schon gesagt worden; es ist richtig, deswegen wiederhole ich es – Weidetierhaltung ist für den Erhalt des Grünlandes und den Naturschutz unersetzlich. Deshalb bin ich gerne dabei, darüber nachzudenken, wie wir noch mehr helfen können.
Wir brauchen meiner Meinung nach unbürokratische und schnelle Hilfen. Da können wir besser werden. Wir brauchen ein seriöses Monitoring und Beratung, und wir brauchen auch mehr Geld, und zwar für die Schutzmaßnahmen und die Entschädigungen, von mir aus auch gerne bis zu 100 Prozent Erstattung.
Herr Kollege, der Kollege Dr. Hoffmann würde gerne eine Zwischenfrage stellen. Lassen Sie diese zu?
Nein, ich würde gerne zum Ende kommen. Wir haben heute schon viele Zwischenfragen gehört.
Wir haben auch eine Idee, wie wir das machen: Wir wollen eine Umschichtung der Agrarsubventionen nach dem Grundsatz „öffentliches Geld für öffentliche Leistungen“. Leistungen für die Schäferinnen und Schäfer, die Weidetierhalter sind für mich ein Paradebeispiel für ein gutes Zusammenspiel von Naturschutz, Artenschutz und Herdenschutz. Diesen Weg sollten wir gehen.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache zu diesem Punkt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/584, 19/581, 19/594 und 19/589 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Allerdings ist die Federführung strittig. Die Fraktionen CDU/CSU, SPD, AfD, Bündnis 90/Die Grünen wünschen eine Federführung beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit, die Fraktionen FDP und Die Linke wünschen eine Federführung beim Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft.
Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen FDP und Die Linke, also Federführung beim Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Die Linke und die FDP. Wer stimmt dagegen? – Das sind alle anderen Fraktionen. Damit ist der Überweisungsvorschlag abgelehnt.
Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, AfD, Bündnis 90/Die Grünen, also Federführung beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit. Wer stimmt dafür? – AfD, CDU/CSU, Grüne und SPD. Wer stimmt dagegen? – FDP und Linke stimmen dagegen. Damit ist der Überweisungsvorschlag angenommen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie viele Linke stehe auch ich frühmorgens regelmäßig vor dem Jobcenter, um Kaffee auszuschenken und um mit Hartz-IV-Betroffenen ins Gespräch zu kommen. Frühmorgens vor dem Jobcenter sind der Druck, dem sich diese Menschen ausgeliefert fühlen, und der Frust allgegenwärtig. Die einen berichten, wie das Geld nicht reicht, die anderen ärgern sich, dass sie keine ordentlichen Arbeitsangebote vermittelt bekommen, nichts Dauerhaftes, und andere fühlen sich einfach nur ausgeliefert, abgewertet. Immer wieder stelle ich fest: Nicht nur die direkt Sanktionierten leiden darunter. Allein die Möglichkeit, dass das ohnehin schon niedrige Arbeitslosengeld II noch gekürzt werden kann, wirkt wie ein Damoklesschwert. Deswegen beantragt Die Linke heute erneut die Abschaffung der Hartz-IV-Sanktionen.
({0})
Bei der Grundsicherung handelt es sich schließlich nicht um ein Almosen, das gewährt wird oder auch nicht; vielmehr handelt es sich um ein Grundrecht, und Grundrechte kürzt man nicht.
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Doch nicht nur aufseiten der Leistungsbezieher ist Druck zu spüren, auch die Sachbearbeiter auf der anderen Seite des Tisches stehen unter Druck, unter enormem Einsparungsdruck. Für sie ist das zuständige Sozialministerium verantwortlich. Infolge dieses Druckes werden sogar Sanktionen verhängt, die selbst nach der strengen Gesetzeslage nicht haltbar sind. Wir haben nachgefragt: Im letzten Jahr waren fast 40 Prozent aller Klagen und Widersprüche gegen Hartz-IV-Sanktionen erfolgreich. Das heißt, Menschen wurde rechtswidrig das ohnehin niedrige Arbeitslosengeld II gekürzt. Wir reden hier von Menschen, die kein finanzielles Polster haben, um so etwas einfach abzufedern. Allein diese hohe Fehlerquote ist doch ein klarer Appell: Schaffen Sie endlich diese Hartz-IV-Sanktionen ab!
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Wir Linke sind gegen alle Sanktionen. Aber es gibt besonders üble Sanktionsformen: die harten Sanktionen für die unter 25-Jährigen und die Sanktionierung bezüglich der Kosten der Unterkunft.
Wenn Sie da die Kosten der Unterkunft kürzen und die ALG-II-Bezieher ihre Unterkunft verlieren, dann ist doch klar, was dabei herauskommt: Obdachlosigkeit. Das kann man doch nicht wirklich wollen.
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Ja, ich habe mich gefreut, dass einige von der SPD geklatscht haben; denn das waren die Worte von Herrn Bartke von der SPD im Oktober 2015 in diesem Saal.
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– Er hat sie wiedererkannt. – Umso beschämender ist aber, was in dem 28-seitigen schwarz-roten Sondierungspapier zu Hartz IV steht, nämlich nichts: keinerlei Erhöhung des Regelsatzes, keine Abmilderung der Sanktionen, auch nicht bei der Sanktionierung bezüglich der Kosten der Unterkunft.
({5})
Ganz offensichtlich sind der SPD-Spitze die Hartz-IV-Betroffenen egal. Das Hartz-IV-Unrecht wird zementiert. Liebe Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, das dürfen Sie Ihrem Verhandlungsteam nicht durchgehen lassen. Wehren Sie sich! Setzen Sie ein Zeichen gegen die soziale Ignoranz gegenüber den Millionen Hartz-IV-Betroffenen in diesem Land!
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Vonseiten der Regierungsfraktionen kommt immer das gleiche Abwehrargument: Man müsse auch an die arbeitenden Menschen denken. Hören Sie auf, den erwerbsarbeitenden Menschen einzureden, ihnen würde es besser gehen, wenn es den Hartz-IV-Betroffenen schlechter geht! Das Gegenteil ist der Fall. Die Androhung von Sanktionen wirkt disziplinierend. Menschen sind eher bereit, schlechte Arbeitsbedingungen in Kauf zu nehmen. Und deswegen ist Hartz IV auch ein Angriff auf die Arbeitsstandards. Auch deswegen gehört es abgeschafft.
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Ich komme zum Schluss. Ja, solange Menschen unter Hartz-IV-Sanktionen leiden, werden wir für deren Abschaffung kämpfen. Ich kann Ihnen versichern: Ich werde nicht eher Ruhe geben, bis wir die Hartz-IV-Sanktionen abgeschafft haben; denn Hartz IV ist ein Angriff auf die Menschenwürde. Dieser Angriff muss gestoppt werden.
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Im Übrigen bin ich der Meinung, Hartz IV ist generell zu ersetzen durch gute Arbeit und durch eine sanktionsfreie Mindestsicherung in Höhe von 1 050 Euro.
Vielen Dank.
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Für die CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Professor Dr. Matthias Zimmer.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Thema Hartz-IV-Sanktionen ist ein parlamentarischer Dauerbrenner,
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den Die Linke, heute wieder Frau Kipping, meistens damit begründet, dass sie gegen Grundrechte verstoßen.
Ich will einige grundsätzliche Ausführungen zu dem Thema „Grundrechte und Menschenrechte“ machen, um unsere Haltung zu präzisieren. Menschenrechte sind vorstaatliche Rechte. Für diese Erkenntnis muss ich kein Vertragstheoretiker sein oder in dieser Tradition stehen; das ergibt sich durch einen Blick in unsere Verfassung: Zuerst kommen die Menschenrechte, dann die Ausführungen zu den staatlichen Organen. Der Staat erhält seine Legitimation durch den Schutz der Menschenrechte.
Wenn ich allerdings darüber nachdenke, was in einem vorstaatlichen Zustand überhaupt Rechte begründet, dann kann es nur eine Antwort geben: die Tatsache, dass es Pflichten gibt, vornehmlich die Pflicht, die Rechte anderer zu achten, als Voraussetzung dafür, dass auch meine Rechte geachtet werden.
Rechte und Pflichten sind also untrennbar miteinander verknüpft, aufeinander bezogen: ohne Pflichten keine Rechte. Der Philosoph Otfried Höffe spricht in diesem Zusammenhang von einem transzendentalen Tausch, der aus der wechselseitigen Anerkennung der Menschenrechte als rechtsmoralischer Anspruch entsteht. Reziprozität ist ein Schlüsselelement dieses Kerns der Menschenrechte. Freilich, die Menschenrechte haben noch einen zusätzlichen Aspekt: Sie gelten auch dort, wo keine Reziprozität geleistet werden kann.
({1})
Wenn wir diesen Gedanken weiterführen und auf das staatliche Handeln übertragen, dann ergibt sich daraus: Der Staat schützt die Rechte der Menschen, die sie im vorstaatlichen Zustand haben, und zwar sowohl die, die durch den rechtsmoralischen Anspruch des Tausches zustande gekommen sind, als auch diese, bei denen wir Reziprozität nicht erwarten können.
({2})
Konkreter formuliert: Ist eine Person nicht handlungsfähig, verliert sie auch nicht ihre Menschenrechte.
Bei unserer Debatte ist die Lage freilich diese: Der Empfänger von Hilfen nach SGB II ist nach unserem Verständnis zu Reziprozität in der Lage. Den Ansprüchen, die er gegenüber der Gemeinschaft als Rechte geltend machen kann, entsprechen Pflichten aus dem ursprünglichen, dem rechtsmoralisch begründeten Tauschverhältnis. Verstoße ich gegen diese Pflichten, hebe ich selbst den engen Zusammenhang von Rechten und Pflichten auf; die Pflicht zur Hilfeleistung erlischt aus meiner Sicht durch einen Verzicht.
({3})
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage zulassen?
Nein, danke. Ich würde das gerne zu Ende ausführen.
Das ist der Kern der Debatte, die wir heute führen: Kann ich Rechte geltend machen und gleichzeitig die damit einhergehenden Pflichten außer Kraft setzen? Wir meinen: Nein,
({0})
denn damit wird ein Grundprinzip der Menschenrechte im Kern berührt, nämlich das der geschuldeten Reziprozität dort, wo sie geleistet werden kann.
Den Bezug von Leistungen nach SGB II sanktionsfrei zu stellen, heißt damit, ein schon naturrechtlich begründetes wechselseitiges Bedingungsverhältnis zugunsten der Rechte zu suspendieren. Ich fürchte, dass eine solche Forderung nicht nur die Idee der Menschenrechte selbst beschädigt, sondern vor allem die Voraussetzungen gesellschaftlicher Solidarität untergräbt.
Überdies entspricht ein Menschenbild, das nur Rechte, aber keine Pflichten kennt, nicht dem meinen. Es wäre ironischerweise ein Menschenbild, das in einem beinahe darwinistischen Individualismus endet, den nicht einmal die Erben des politischen Liberalismus vertreten; dies aber, meine Damen und Herren, müssen die Erben der postsozialistischen Tradition mit sich selbst ausmachen.
({1})
Ich erteile das Wort zu einer Kurzintervention dem Kollegen Straetmanns von der Fraktion Die Linke.
Herr Professor Dr. Zimmer, spätestens nach Ihrem Beitrag hätte jeder hier in diesem Raum gewusst, dass Sie an einer Universität Hochschullehrer sind.
({0})
Ich komme aus einem schlichten Sozialgericht im östlichen Nordrhein-Westfalen, und es schnürt mir etwas die Kehle zu, wie Sie über dieses menschliche Problem reden.
({1})
Ich habe nachgeschaut: Sie sind Vater von Kindern. Sie sollten sich einmal vergegenwärtigen: Mit jeder Sanktion trifft man auch Kinder. Machen Sie sich das eigentlich klar?
Würden Sie mit mir zusammen einfach mal eine Verhandlung oder einen Verhandlungstag am Sozialgericht in Berlin verfolgen und am Ende mit mir über das menschliche Elend diskutieren, das Sie da sehen? Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie die Einladung annähmen.
({2})
Wollen Sie antworten, Herr Kollege?
Nein, es lohnt sich nicht.
Dann rufe ich als nächsten Redner den Kollegen Michael Gerdes für die SPD-Fraktion auf.
({0})
Herr Präsident! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem nun ein Professor geredet hat, redet jetzt ein Bergmann zu Ihnen, ein Kind des Ruhrgebiets.
({0})
Der Kampf gegen die Langzeitarbeitslosigkeit bleibt für uns Arbeitsmarktpolitiker wohl die schwerste Aufgabe überhaupt: Was hilft Menschen, den Weg raus aus dem ALG-Il-Bezug zu finden? Welche Maßnahmen bzw. Sanktionen verschlimmern ihre Lebenssituation womöglich?
Als Abgeordneter des Reviers, wo Arbeitslosigkeit ein sichtbares Problem ist, kenne ich das eine oder andere Schicksal sehr genau. Der Gang zum Jobcenter ist keinesfalls leicht. So manche Sanktion verschlimmert die persönliche Situation und wird als vorschnell oder gar respektlos empfunden. Dennoch tue ich mich schwer mit der generellen Abschaffung von Sanktionen. Was wir überprüfen müssen, sind Art und Umfang von Sanktionen. Sie sollten meiner Meinung nach abgemildert werden.
({1})
Worum geht es unterm Strich? Es ist das Signal, dass jede und jeder Betroffene auch einen Teil zur Verbesserung der eigenen Situation beitragen muss und sich nicht ausnahmslos auf die Solidargemeinschaft verlässt. Es geht um Rechte und um Pflichten sowie um das eigene Bemühen und nicht darum, Erwerbslose unter Generalverdacht zu stellen, wie es uns die Fraktion Die Linke in ihrem Antrag unterstellt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir hatten in der vergangenen Wahlperiode eine sehr ausführliche Anhörung zum Thema „Sanktionen bei Hartz IV“. Dabei gab es gute Argumente für die Beibehaltung von Sanktionen, aber auch für ihre Abschaffung. Die SPD-Fraktion hätte gerne bei den Regelungen für unter 25-Jährige gehandelt. Schärfere Sanktionen für junge Erwerbslose sind nicht hinnehmbar.
({2})
Auch die Sanktionierung von Leistungen für Kosten der Unterkunft lehnen wir ab. Wir wollen keine Existenzen vernichten, sondern Chancen geben. Dabei ist Diplomatie gefragt. Schließlich ist die Lebenslage aus Sicht der Leistungsbezieher schlimm genug: Erst ist der Job weg, dann wird das Geld weniger, der soziale Status bröckelt, und wir alle wissen, dass lange Erwerbslosigkeit oft auch weitere Probleme wie Suchterkrankungen mit sich bringen kann. Notwendig sind individuelle Hilfen. Ohne finanzielle Unterstützung und passgenaue Beratung kann keine und keiner diese Negativspirale durchbrechen.
({3})
Das hat auch etwas mit den Rahmenbedingungen in den Jobcentern und deren personeller und finanzieller Ausstattung zu tun. Hier wollen wir zulegen, sodass die individuelle Unterstützung geleistet und eine hohe Beratungsqualität dauerhaft sichergestellt werden kann.
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So stärken wir die Interessen und Rechte der Arbeitslosen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, angesichts der Tatsache, dass in den vergangenen Jahren circa 3 Prozent der ALG-II-Bezieher von Sanktionen betroffen waren, sollten wir dieses Thema in unseren Debatten nicht überreizen, sondern lieber konkrete Wege aus der Arbeitslosigkeit finden. Die Förderung von Betroffenen muss deutlich mehr Gewicht haben als restriktive Maßnahmen.
({5})
In diesem Punkt verweise ich auf das Sondierungspapier von Union und SPD. Kommt es zur Neuauflage der Großen Koalition, wird das erfolgreich erprobte Modellprojekt für Langzeitarbeitslose „Soziale Teilhabe am Arbeitsmarkt“ in ganz Deutschland angeboten. Damit bekommen circa 150 000 Langzeitarbeitslose die Chance auf eine öffentlich geförderte Beschäftigung.
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Arbeit zu haben, für sich selbst sorgen zu können, das ist eine Frage der Würde. Mit öffentlich geförderter Beschäftigung geben wir Langzeitarbeitslosen nachhaltige Perspektiven.
Neben dem sozialen Arbeitsmarkt gehört die Qualifizierung in den Fokus gerückt. Hauptursache für Arbeitslosigkeit sind fehlende Schulabschlüsse und nicht abgeschlossene Berufsausbildungen. Diese Tatsache wird sich noch verschärfen, wenn wir nicht handeln. Präventive Maßnahmen im Rahmen der Schulsozialarbeit, der Jugendberufsagenturen oder der ausbildungsbegleitenden Hilfen sind wichtiger denn je.
Herzlichen Dank und Glück auf!
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Der Kollege Jörg Schneider von der AfD-Fraktion hält seine erste Rede. Sie haben das Wort, Herr Kollege.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Zuschauer auf der Tribüne! Wer in diesem Land arbeitslos wird, dem hilft diese Gesellschaft. Aber dann hat diese Gesellschaft auch einen Anspruch darauf, dass er, wenn sich für denjenigen eine Möglichkeit bietet, von eigener Hände Arbeit zu leben, diese Chance auch nutzt. Das ist für mich Solidarität.
({0})
Jetzt weiß ich: Solidarität ist für Die Linke etwas anderes. Solidarität bedeutet für Sie leider sehr häufig: Der Unternehmer muss bezahlen. Aber Solidarität ist weit mehr. Solidarität bedeutet, dass jeder im Rahmen seiner Möglichkeiten einen Beitrag zum Funktionieren des Gesamtsystems leistet,
({1})
und wer diesen Beitrag nicht erbringt, der wird sanktioniert: Der Steuerhinterzieher wird sanktioniert,
({2})
der Schwarzarbeiter wird sanktioniert, und wer die Möglichkeit, von eigener Hände Arbeit zu leben, abschlägt und stattdessen von Sozialleistungen lebt, der muss eben auch sanktioniert werden.
({3})
Ich weiß, dass es in Deutschland sehr viele Menschen gibt, die von Hartz IV leben und die alles dafür täten, einen Job zu bekommen. Wir von der Alternative für Deutschland stehen klar an der Seite dieser Menschen.
({4})
Bei Ihnen von der Linken sind diese Menschen hingegen schlecht aufgehoben. Ihr Antrag zeigt ganz klar: Sie stehen eher auf der Seite der Menschen, die überhaupt nicht arbeiten wollen.
({5})
Sie schädigen damit unser Sozialsystem und schaden den Menschen, die tatsächlich auf dieses Sozialsystem angewiesen sind.
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Ich möchte mich jetzt aber gar nicht an der Linken abarbeiten;
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denn verantwortlich dafür, dass wir überhaupt Sanktionen brauchen, sind Sie, meine sehr geehrten Kollegen von SPD und CDU/CSU.
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Es ist nämlich so, dass es sich für viele Menschen in diesem Land schlichtweg nicht lohnt, zu arbeiten. Wenn Sie als Mindestlohnempfänger Vollzeit arbeiten, dann haben Sie am Monatsende Abzüge von 25 Prozent. Ein Viertel Ihres Gehaltes wird in Form von Steuern und Sozialabgaben abgezogen.
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Das hat zur Folge, dass ein Hartz-IV-Empfänger, dem Sie einen Job auf dieser Basis anbieten, ziemlich schnell feststellt, dass er hinterher nicht viel mehr Geld hat als vorher. Ich habe durchaus Verständnis dafür, wenn dann jemand sagt: Lieber nicht!
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Ich weiß nicht, ob Sie von SPD und Union auch Verständnis dafür haben. Auf jeden Fall habe ich den Eindruck, dass Sie diese Problematik überhaupt nicht verstanden haben und überhaupt nicht sehen;
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denn in Ihrem Sondierungspapier lese ich zu diesem Problem kein einziges Wort.
({12})
– Das ist nur ein Sondierungspapier; aber trotzdem hätten Sie sich dazu äußern können.
Ich denke, dieses Problem wird Ihnen ganz fürchterlich auf die Füße fallen. Wenn, wie Die Linke in ihrem Antrag richtigerweise zum Ausdruck bringt, das Bundesverfassungsgericht die Sanktionen tatsächlich für verfassungswidrig erklärt und es sich für viele Menschen einfach nicht lohnt, wie ich eben dargelegt habe, einen Job anzunehmen, wie wollen Sie dann in nennenswertem Umfang Menschen mit niedriger Qualifikation an den Arbeitsmarkt heranführen?
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Sie werden an dieser Aufgabe wegen Ihrer Konzeptionslosigkeit gnadenlos scheitern.
({14})
Das finde ich sehr ärgerlich; denn es gibt Ansätze. Wir könnten zum Beispiel über die Einführung von Freibeträgen bei den Sozialversicherungsbeiträgen sprechen. Damit könnte man die Aufnahme von Arbeit gerade für Geringqualifizierte tatsächlich attraktiver gestalten. Es gibt diese Ideen; aber diese Ideen gibt es nicht bei der SPD und auch nicht bei der Union.
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Wir von der Alternative für Deutschland sind gerne bereit, mit Ihnen konstruktiv an entsprechenden Lösungen zu arbeiten.
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Den Antrag der Linken verstehen wir als einen Einstieg in diese Diskussion. Wir werden der Überweisung Ihres Antrags in den Ausschuss deshalb gerne zustimmen.
Wir haben in Deutschland Menschen, die niedrig qualifiziert sind und von Arbeitslosengeld II leben. Unser Ziel muss es sein, dass sich Arbeit endlich auch für diese Menschen wieder lohnt.
Ich danke Ihnen.
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Nächster Redner: Pascal Kober von der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion Die Linke, Sie wollen mit Ihrem Antrag die Möglichkeit, Sanktionen im Rahmen des SGB II auszusprechen, abschaffen. Sie wollen sich also vom Fordern im Prinzip des Förderns und Forderns verabschieden.
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Um es noch deutlicher zu sagen: Sie wollen, dass es für den Einzelnen keine Pflicht mehr gibt, an der Überwindung seiner Arbeitslosigkeit nach seinen Möglichkeiten mitzuwirken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion Die Linke, das ist nichts anderes als ein Angriff auf das Solidaritätsprinzip unserer Gesellschaft.
({1})
Jede und jeder in unserer Gesellschaft ist zu wechselseitiger Solidarität mit seinem Nächsten verpflichtet. Das betrifft natürlich zunächst einmal all diejenigen, die ohne Hilfe durchs Leben gehen können, die einen Arbeitsplatz haben, die gesund sind, die bei Kräften sind. Von ihnen dürfen wir erwarten, dass sie mit ihren Steuern und mit ihren Sozialversicherungsbeiträgen jene Mittel zur Verfügung stellen, die wir brauchen, um die, die unterstützungsbedürftig sind, zu unterstützen. Wer von diesen der zu erwartenden Solidaritätsleistung nicht nachkommt, der wird sanktioniert. Wer seine Steuern nicht zahlt, wird sanktioniert; wer seine Sozialversicherungsbeiträge hinterzieht, wird sanktioniert.
Dann gibt es die aus dem Rechtskreis des SGB II, die Erwerbslosen. Sie sind in zweifacher Hinsicht zur Solidarität verpflichtet: einmal gegenüber denjenigen, die die Mittel für ihre Unterstützung mit ihrer Hände und Köpfe Arbeit erwirtschaften, aber auch gegenüber denjenigen, die einen noch höheren Unterstützungsbedarf als sie selbst haben; denn für diese stünden bei effektiver Mittelverwendung, das heißt bei einem möglichst kurzen Hilfebezug, mehr Mittel zur Verfügung; sie könnten mehr Unterstützung bekommen.
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Die Solidarität, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion, die wir von Arbeitsuchenden erwarten dürfen, ist, dass sie ihre persönlichen Fähigkeiten und ihre persönlichen Möglichkeiten einsetzen, um dann zusammen mit der ihnen angebotenen Unterstützung möglichst schnell wieder Arbeit zu finden und aus dem Hilfebezug herauszukommen.
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Der Grundgedanke unseres Sozialstaates ist, dass jede und jeder das beiträgt, was aus eigener Kraft möglich ist, und dann Unterstützung erhält, wenn seine Kräfte nicht ausreichen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, nur 3 Prozent aller Empfänger von Hartz-IV-Leistungen werden überhaupt sanktioniert. Das heißt zunächst einmal, dass die Anforderungen, die die Jobcenter an die Empfänger von Hartz-IV-Leistungen stellen, von fast allen Hilfeempfängern auch erfüllt werden können und erfüllt werden. Bevor überhaupt eine Sanktion ausgesprochen werden darf – auch das muss man wissen –, muss der Betroffene gehört werden.
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Nur wenn keine nachvollziehbaren Gründe für ein Pflichtversäumnis vorliegen, können überhaupt Sanktionen ausgesprochen werden. Wenn man auch betrachtet, dass nur gegen 5 Prozent der ausgesprochenen Sanktionen überhaupt Widerspruch eingelegt wird, dann zeigt das, dass die weitaus überwiegende Anzahl der Betroffenen die gegen sie ausgesprochenen Sanktionen als nachvollziehbar empfindet.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion, wenn Sie die Sanktionen im SGB II abschaffen wollen, dann legen Sie nach meinem Verständnis die Axt an das Solidaritätsprinzip in unserer Gesellschaft.
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Wenn Sie von den Beziehern von Hartz IV nichts mehr erwarten, ihnen zum Beispiel nicht zutrauen, Termine beim Jobcenter oder beim Arzt wahrzunehmen und einzuhalten, dann zeigt das letztlich, wie klein Sie von diesen Menschen denken und wie klein Sie diese Menschen mit solchen Anträgen machen.
({8})
Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Kipping zu?
Sehr gerne.
Werter Kollege Kober, Sie haben darauf hingewiesen, dass nur ein kleiner Teil der Betroffenen Widerspruch gegen Sanktionen einlegt. Da ich mit mehreren Menschen, die davon betroffen sind, gesprochen habe, würde ich meinen Eindruck gern in einer Frage formulieren. Können Sie sich vorstellen, dass sich Menschen zum einen aus Unwissenheit so verhalten, zum anderen aber auch aus Angst, dass man, wenn sie Widerspruch einlegen, in Zukunft noch schärfer gegen sie vorgeht,
({0})
und dass sie nicht wissen, wie sie die Zeit überbrücken sollen, wenn sie dann erneut sanktioniert werden, sodass die von Ihnen genannte geringe Zahl der Widersprüche womöglich nicht Ausdruck dessen ist, dass das alles super ist und die Leute das alles als richtig empfinden? Können Sie sich vorstellen, dass auch so etwas mitspielt wie Angst und das Gefühl, ausgeliefert zu sein, weil man immer am kürzeren Hebel sitzt?
({1})
Liebe Frau Kollegin Kipping, in Einzelfällen kann ich mir das tatsächlich vorstellen. Allerdings glaube ich, man muss, wenn man sich die Gesamtstatistik anschaut, sehen, dass die Einspruchsmöglichkeit den Betroffenen jedenfalls überwiegend bekannt ist. Wenn man sich die Zahl der Widersprüche gegen Sanktionen anschaut, ist erkennbar, dass das nicht das Grundproblem dieses Systems ist. Es gibt pro Jahr über eine halbe Million Widersprüche gegen Entscheidungen der Jobcenter. Das heißt, das ist nicht das grundlegende Problem. In Einzelfällen mag das anders sein. Da gebe ich Ihnen recht. Aber ich glaube, dass die Zahl der Klagen, aber auch die Zahl der Widersprüche erkennen lässt, dass dies nicht das Grundproblem ist.
({0})
Wir als Freie Demokraten trauen den Menschen etwas zu. Deshalb werden wir diesem Antrag nicht zustimmen.
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Zu seiner ersten Rede im Deutschen Bundestag erteile ich dem Kollegen Sven Lehmann vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt seit Jahren einen gewissen Mythos in Deutschland, nämlich den selbsterschaffenen Mythos der AfD, sie sei die Partei der kleinen Leute. Ich finde, Sie haben mit Ihrem Auftritt heute vor allem eines gezeigt: dass Sie für Menschen, die arm und auf Hilfe und Unterstützung angewiesen sind, vor allem eines übrig haben, nämlich Verachtung und Abwertung.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt zur Sache. Heute stellt das Deutsche Kinderhilfswerk den Kinderreport für dieses Jahr vor. Dieser Report beschäftigt sich mit dem Thema Armut. Armut bei Kindern und Familien hat sehr, sehr viele Ursachen. Eine Ursache ist leider, dass das gesetzlich garantierte Existenzminimum eben nicht für alle garantiert ist.
Ich frage Sie: Wie erklären wir eigentlich Kindern, deren Eltern auf Sozialleistungen angewiesen sind, dass diese Leistungen gekürzt werden, wenn zum Beispiel ihr Vater, der an einer Depression leidet, einen Termin beim Jobcenter versäumt? Genau solche Fälle machen 80 Prozent aller Sanktionen aus.
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Wie erklären wir diesen Kindern, dass es sogar passieren kann, dass die Heizung abgestellt wird oder sie aus ihrer Wohnung ausziehen müssen? Ich finde, das können wir diesen Kindern nicht erklären, sondern das müssen wir ändern.
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Ein Existenzminimum ist ein – das sagt der Name bereits – Existenzminimum, und ein Minimum sollte nicht gekürzt werden.
Ich frage Sie auch: Wie erklären wir den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Jobcentern, dass sie einen großen Teil ihrer Zeit und ihrer Arbeitskraft darauf verwenden müssen, Meldeversäumnisse nachzuhalten, Sanktionen zu berechnen und Sanktionen zu verhängen, obwohl sie wissen, dass das den eigentlich kooperativen Charakter des Fallmanagements gefährdet und damit das Klima in den Jobcentern belastet?
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Selbst viele Leiterinnen und Leiter von Jobcentern sagen mittlerweile sehr offen: Wir wollen mehr Zeit und mehr Ressourcen dafür, zu qualifizieren, zu fördern und zu vermitteln, und unsere Zeit nicht damit verbringen, Menschen zu kontrollieren. Ich finde, sie haben recht.
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Die Sanktionen sowie die Einschränkungen von Leistungen sind keine wirkungsvollen Beiträge, um Langzeitarbeitslosigkeit zu verhindern.
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Das zeigen eigentlich alle Studien. Der Staat nutzt diese Sanktionen vielmehr politisch. Genau diese Politik hat sehr viele Abstiegsängste bis weit in die Mitte der Gesellschaft verursacht. Deswegen sollten wir genau diese Politik korrigieren.
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Mit der Agenda 2010, mit Hartz IV ist das Fördern und Fordern eingeführt worden. Diese Balance ist schon längst in einer Schieflage. Immer dann, wenn Sanktionen gegenüber Menschen verhängt werden, die eh schon arm sind, treffen diese Sanktionen Menschen dort, wo eigentlich das System versagt.
Deswegen sollten wir darüber sprechen, wie wir Menschen auch in unsicheren Lebenslagen ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit und Teilhabe garantieren können. Wir sollten darüber sprechen, wie wir die Angebote zur Qualifizierung verbessern können. Wir sollten darüber sprechen, wie wir einen sozialen Arbeitsmarkt schaffen, der auch Menschen mit geringer Qualifikation Chancen und Perspektiven bietet,
({7})
und wir sollten ermöglichen, dass Hinzuverdienst nicht bestraft, sondern belohnt wird. Das wäre eine wirkungsvolle und würdevolle Sozialpolitik.
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Apropos Würde – das ist mein letzter Gedanke –: Es wurde eben sehr viel über Grundrechte gesprochen, und in Artikel 1 unseres Grundgesetzes geht es um ein Grundrecht.
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Artikel 1 des Grundgesetzes sagt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. In diesem Artikel 1 steht nicht, die Würde der Erwerbstätigen ist unantastbar, sondern die Würde des Menschen ist unantastbar.
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Diese Würde, die gesetzlich und grundrechtlich garantiert ist, ist sanktionsfrei.
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Genau so, nämlich sanktionsfrei, sollte auch die Grundsicherung in Deutschland sein.
Ich freue mich sehr auf die Debatte im Ausschuss und hoffe, dass wir bei diesem Thema endlich auch einmal einen richtigen Schritt nach vorne machen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Die Kollegin Jana Schimke von der CDU/CSU-Fraktion ist die nächste Rednerin.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen und Kolleginnen der Linken, ich frage mich manchmal schon, in welcher Welt Sie leben. Das ist nicht wirklich meine Welt, und das ist auch nicht die Lebenswirklichkeit und Realität, die ich erlebe.
Ich bin selbstverständlich oft in den Jobcentern vor Ort und treffe mich mit den Mitarbeitern im geschlossenen Raum – ohne Öffentlichkeit und ohne Presse. Das, was man dort erfährt, ist das, was vor Ort wirklich los ist.
Der Arbeitsvermittler wird mehr und mehr zum Sozialarbeiter, weil es unter den Kunden natürlich Langzeitarbeitslose gibt, die einen unglaublich hohen Betreuungsbedarf haben. Wir alle wissen, wie schwer es ist, sie in Arbeit zu bringen; wir arbeiten ja seit vielen Jahren daran. Auf meine Frage, wie viele aus dieser Gruppe tatsächlich auch eigenständig aktiv nach einer Arbeit suchen, lautete die Antwort: Leider nur 10 Prozent. Nicht nur das ist ein Argument, warum wir auch Sanktionen brauchen.
Wir haben es in diesem Beschäftigtenbereich, im Bereich der Arbeitsagenturen, der Jobcenter, mehr und mehr auch mit Gewalt zu tun. Wir müssen unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schützen.
In meinem Wahlkreis, in dem ich unterwegs bin – nur davon kann ich hier als Abgeordnete ja immer sprechen –, hat man sich entschieden, eine härtere Gangart an den Tag zu legen. Die Sanktionsquote beträgt bei mir eben nicht nur 3 Prozent, wie wir das in diesen schönen Studien überall nachlesen können. Nein, sie liegt bei uns im SGB-II-Bereich bei 10 bis 15 Prozent. Im SGB-III-Bereich ist sie sogar noch höher, weil es in unserer Gesellschaft offensichtlich mitunter die Annahme gibt: Na ja, ich kann mich jetzt zur Ruhe setzen. – Aber das ist eine fatale Entwicklung. Wenn man daran interessiert ist, dass die Menschen in Arbeit kommen, dass sie für eine gute Altersversorgung sparen, dann kommt es eben genau darauf an, dass sie schnell wieder in den Job kommen und sich eben nicht ausruhen.
({0})
Ich möchte noch etwas sagen: Niemand muss heute mehr arbeitslos sein. Wenn Sie eine qualifizierte Fachkraft sind, dann bekommen Sie von der Arbeitsagentur innerhalb einer Woche – ich gucke noch einmal auf meinen Zettel – 60 bis 80 Vermittlungsvorschläge;
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so ist es zumindest bei uns. Es ist auch unrealistisch, nach zehn Jahren Arbeitslosigkeit zu seinem Vermittler zu sagen: Ich möchte aber bitte 12 bis 14 Euro Stundenlohn haben. – Das ist einfach unrealistisch, das funktioniert nicht. Wir müssen zu den Menschen immer ehrlich sein, damit sie wissen, was sie mit ihrem Verhalten bewirken und wo die Chancen und der richtige Weg liegen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sanktionen sind gerechtfertigt. Wir leben in einem Staat, in dem wir dem Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe folgen.
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Wir berufen uns auf Leistungen der Solidargemeinschaft. Das, was unsere Leistungsempfänger bekommen, wird von anderen in die Sozialkassen eingezahlt. Unsere Aufgabe als Deutscher Bundestag ist es, in Deutschland eine Akzeptanz für diese sozialen Leistungen zu schaffen, dafür einzustehen, dass dafür jeden Monat etwas vom Gehalt abgezogen wird.
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Wenn wir das machten, was Sie wollen, dann führte das dazu, dass uns die Menschen an den Stammtischen gegenüberträten und kein Verständnis mehr dafür hätten, für andere einzutreten und für andere Sozialbeiträge zu zahlen.
Noch ein Wort zu Jugendlichen. Gerade bei Jugendlichen ist es wichtig, streng zu sein. Ich weiß nicht, Frau Kipping, wie Sie Ihre Kinder erziehen. Aber Konsequenzen und Sanktionen gehören nun einmal dazu, gerade bei jungen Menschen. Das ist wichtig.
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Es gibt für einen jungen Menschen nichts Schlimmeres, als ohne Konsequenzen für sein Handeln aufzuwachsen, als sein ganzes Leben lang – das ist natürlich auch familiären Umständen geschuldet – in einem Haushalt im Sozialbezug zu leben. Das ist nicht gut. Auch deswegen müssen wir die entsprechenden Sanktionsmöglichkeiten nutzen.
Arbeit ist – davon bin ich fest überzeugt – natürlich auch sinnstiftend; das sage ich in diesem Hause immer wieder. Wenn jemand eine Tätigkeit ausübt, in dem die Arbeitsbedingungen nicht optimal sind, dann gibt unser gesetzliches Regelwerk alle Möglichkeiten her, dagegen vorzugehen.
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Es gibt also keinen Grund, Sanktionen aufzuheben.
Ich bin der Auffassung, dass wir in Deutschland über ein sehr gutes Arbeitsvermittlungsinstrument und -system verfügen. Was wir brauchen, ist mehr Personal in den Jobcentern,
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um das Missverhältnis in der Arbeit der Mitarbeiter – die Hälfte der Arbeitszeit benötigt ein Mitarbeiter zum Beispiel für die Bearbeitung von Widersprüchen oder für Auseinandersetzungen mit den Gerichten – auszugleichen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, ich bin immer an einer sachlichen Auseinandersetzung mit Ihnen interessiert. Aber wer im 21. Jahrhundert, 27 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung, in einem System der sozialen Marktwirtschaft noch von einem „kapitalistischen Wirtschaftssystem“ spricht, von der „Hinnahme quasi jedweder Arbeitsbedingungen“ und dem „Mangel an Arbeitsplätzen“, den kann ich beim besten Willen nicht ernst nehmen.
Vielen Dank.
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Liebe Kollegen, es sind genügend freie Stühle hier in diesem Hohen Haus. Ich bitte Sie, sich hinzusetzen und nicht hier herumzustehen.
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Liebe Kollegen, könnten Sie sich bitte hinsetzen? Das hier ist kein Stehparlament, sondern jeder hat einen Platz.
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Der Kollege Dr. Matthias Bartke ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es wurde schon gesagt: Die Sanktionsquote bei Hartz-IV-Empfängern liegt seit Jahren konstant bei 3 Prozent. Meine Gespräche mit Jobcentermitarbeitern haben mir gezeigt, dass niedrigschwellige Sanktionen durchaus helfen können, bei den Betroffenen eine Mitwirkung einzufordern, und zwar dort, wo sie bislang nicht da ist. Aber ich betone: niedrigschwellige Sanktionen.
Daher sage ich: Das Prinzip des Förderns und Forderns ist sinnvoll. Aber wir sehen, dass dieses Prinzip in eine immer größere Schieflage gerät. Viel zu oft geht es nur um das Fordern und nicht um das Fördern.
({0})
Deshalb fordert die SPD eine Weiterbildungsoffensive. Wir wollen das Fördern wieder großschreiben, auch außerhalb des Hartz-IV-Systems.
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Dafür brauchen wir ein Recht auf Weiterbildung. Wir müssen schon im Voraus verhindern, dass überhaupt jemand länger arbeitslos wird.
Die SPD fordert für die Dauer der Weiterbildung ein neues Arbeitslosengeld Q. Arbeitslose müssen für die Dauer der Weiterbildungsmaßnahme länger im ALG-I-Bezug bleiben. Wir wollen die Arbeitslosenversicherung auch insgesamt stärken.
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Nach unserer Auffassung müssen die Menschen künftig Arbeitslosengeld erhalten, wenn sie innerhalb von drei Jahren mindestens zehn Monate sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren. Derzeit muss man in einem kürzeren Zeitraum länger beschäftigt sein.
Meine Damen und Herren, wir leben in einer Wissensgesellschaft. Deshalb brauchen wir für jeden Arbeitnehmer ein Chancenkonto. Für welche Weiterbildungsmaßnahme dieses Chancenkonto genutzt wird, kann jeder Arbeitnehmer dann ganz persönlich entscheiden.
Meine Damen und Herren, ich bin davon überzeugt, dass allein diese Maßnahmen deutlich mehr helfen als die pauschale Abschaffung sämtlicher Sanktionen bei Hartz IV, wie sie die Linkspartei fordert.
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Aber – das will ich auch deutlich sagen – wir sind keineswegs der Auffassung, dass das Sanktionsregime bei Hartz IV gut ist. Die meisten Sanktionen werden derzeit wegen Meldeversäumnissen verhängt und nicht wegen der Ablehnung von Arbeitsangeboten. Ich sage Ihnen: Fast alle Arbeitslosen wollen unbedingt wieder arbeiten.
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Daher gilt: Wenn sie beispielsweise eine fristgerechte Meldung verpassen, dann liegt das meist nicht an der mangelnden Motivation. Und wo doch die Motivation fehlt, liegen oft echte Probleme vor. Dann können scharfe Sanktionen genau das falsche Instrument sein.
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In solchen Fällen hilft in aller Regel ein Sozialarbeiter deutlich besser.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CSU, wir sehen überhaupt keinen Vorteil in einer besonders scharfen Sanktionierung bei den unter 25-Jährigen.
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Ich glaube, dass man damit die Türen eher zuschlägt, als sie öffnet.
Mein Bürgermeister, der frühere Arbeitsminister Olaf Scholz, sagt in solchen Fällen immer: Wir dürfen keinen von den jungen Menschen verlieren,
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vor ihnen liegt das komplette Berufsleben. Wir fordern die besten Startchancen für die jungen Menschen statt harter Komplettsanktionen.
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Genauso ist die SPD strikt gegen die Kürzung bei Kosten der Unterkunft. Frau Kipping, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie meine Ausführungen aus der letzten Debatte zu dem Thema noch einmal zitiert haben. Unsere Position ist in diesem Bereich ganz klar.
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Wir sind der Auffassung, dass Sanktionen, wenn sie verhängt werden, dafür sorgen sollen, dass die Arbeitslosen an der Verbesserung ihrer Situation mitwirken. Aber wenn die Sanktion bewirkt, dass ein Arbeitsloser obdachlos ist, dann hat sich jede Mitwirkung von selbst erledigt.
Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage von der AfD-Fraktion zu?
Nein, ich bin ja schon fast fertig. – Meine Damen und Herren, selbst bei bestmöglicher Aktivierung und Unterstützung: Es gibt Langzeitarbeitslose, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt überhaupt nicht mehr Fuß fassen können.
Frau Schimke, wenn Sie sagen, dass heutzutage niemand arbeitslos sein muss, dann frage ich Sie: Wo leben Sie?
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Es gibt Menschen, die auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr Tritt finden. Deswegen finde ich es ganz großartig – Michael Gerdes hat es eben schon gesagt –, dass wir im Sondierungspapier einen sozialen Arbeitsmarkt für 150 000 Menschen verabredet haben.
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Das heißt, wir werden in der Zukunft nicht mehr die Arbeitslosigkeit finanzieren, sondern Arbeit und Teilhabe.
Liebe Union, ich freue mich, dass Sie Ihren ewigen Widerstand gegen den sozialen Arbeitsmarkt aufgegeben haben. Für die Langzeitarbeitslosen in Deutschland ist das eine wirklich gute Nachricht.
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Ich habe die Hoffnung, dass wir in dieser Wahlperiode auch bei Sanktionen auf eine solche Einsichtsfähigkeit bei Ihnen setzen können.
Ich bedanke mich.
({3})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt: der Kollege Max Straubinger, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben gleich zu Beginn der Legislaturperiode über den immerwährenden Antrag der Linksfraktion „Sanktionen bei Hartz IV und Leistungseinschränkungen bei der Sozialhilfe abschaffen“ zu beraten. Dieses Thema haben wir zuletzt – Frau Kollegin Kipping hat darauf bereits hingewiesen – am 6. Juni 2014 abgearbeitet.
({0})
– Kollege Birkwald, Sie dürfen nicht vergessen, dass die damals erfolgte Anhörung ein eindeutiges Bild ergeben hat, und zwar für die Beibehaltung und nicht für die Abschaffung von Sanktionen.
({1})
Sie haben Ihr Ziel auch unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten nicht erreicht, Ihren Antrag substanziell zu untermauern.
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Angesichts des Grundsatzes „Fördern und Fordern“ kommen wir um Sanktionen nicht herum. Mit dem Instrument der Sanktionen wird sehr maßvoll umgegangen; Pascal Kober hat das bereits verdeutlicht. Nur in 3 Prozent der Fälle werden überhaupt Sanktionen verhängt. Wenn jemand in Hartz-IV-Bezug ist, hat er die Pflicht und Schuldigkeit, zumindest Termine einzuhalten und, wenn es geht, die Angebote der Bundesagentur für Arbeit anzunehmen.
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Es gibt ja Chancen auf dem Arbeitsmarkt; die Kollegin Schimke hat darauf hingewiesen. In diesem Januar haben wir die niedrigste Arbeitslosigkeit seit 27 Jahren zu verzeichnen. Es sind 200 000 Menschen weniger arbeitslos als im Januar 2017. Bei der Bundesagentur für Arbeit sind 736 000 offene Stellen gemeldet. Es gibt also Chancen. Das bedeutet, dass die Mitwirkungspflicht von Hartz-IV-Empfängern gegeben ist, ihre Bedürftigkeit zu beenden und in Eigenverantwortung das Leben zu bestreiten, und zwar insbesondere im Hinblick auf ihre Verantwortung gegenüber ihren Familien und Kindern.
({4})
Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rosemann zu?
Ja.
Herr Kollege Straubinger, Sie haben auf die Sachverständigen verwiesen. Können Sie mir denn einen einzigen Sachverständigen außer Herrn Seehofer in der „Bild“-Zeitung nennen, der das verschärfte Sanktionsrecht für unter 25-Jährige noch für richtig hält?
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Ich halte es für richtig, ganz einfach. Jugendliche an den Arbeitsmarkt heranzuführen und in Verantwortung zu bringen, gehört dazu. Deshalb ist es richtig, hier verschärfte Sanktionsregeln anzuwenden. Das hat sich auch bewährt.
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Nun wird ständig darüber fabuliert, ob die Sanktionen verfassungswidrig sind. Warten wir ab, wie gerichtlich dazu entschieden wird. Ich bin überzeugt, dass die Verfassungsmäßigkeit gegeben ist. Aber ich sage ganz offen: Wir müssen in dieser neuen Legislaturperiode vielleicht Überlegungen anstellen, wie wir zukünftig mehr Sanktionen in Form von Pauschalbeträgen verhängen können. Hier haben wir neue Antworten zu finden. Jedenfalls darf sich niemand sozusagen ein Recht auf Faulheit herausnehmen. Das wäre letztendlich eine Überforderung der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler.
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Da auch Bezieher niedriger Einkünfte Sozialabgaben zu leisten haben – das wurde bereits dargelegt –, ist es die Pflicht und Schuldigkeit des Hartz-IV-Beziehers gegenüber den hart arbeitenden Menschen, die nicht über hohe Einkommen verfügen, seine Arbeitslosigkeit zu beenden und seinen Beitrag zu leisten.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/103 an den Ausschuss für Arbeit und Soziales vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Bildung ist zentral für gesamtgesellschaftliche Entwicklungen eines Landes. Das gilt für Deutschland; das gilt für jedes Entwicklungsland. Bildung hat auch eine starke individuelle Bedeutung. Ein Mangel an Bildung ist immer mit gesellschaftlicher Ausgrenzung verbunden, hier wie im Süden. Ohne gute Ausbildung fehlt Kindern eine fundamentale Voraussetzung für ein eigenständiges und erfülltes Leben.
Die Schulbildung ist in den letzten Jahren etwas besser geworden, gerade in Bezug auf Einschulungsraten; das muss man lobend hervorheben. Allerdings muss auch ganz klar gesagt werden: Wir sind von halbwegs akzeptablen Verhältnissen wirklich noch sehr weit entfernt.
Der Weltbildungsbericht fordert deshalb zu Recht eine enorme Steigerung der Anstrengungen im Bildungsbereich.
({0})
Dass diese Forderung gerechtfertigt ist, wird durch viele Fakten belegt, auch durch die Tatsache, dass heute immer noch 60 Millionen Schulkinder im Grundschulalter, 264 Millionen Kinder im Schulalter keine Schule besuchen können. Das ist, global gesehen, schlicht ein Skandal,
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der natürlich auch persönliche, individuelle Tragödien nach sich zieht.
Bildung ist nicht kostenlos. Deshalb findet aktuell in Dakar eine Finanzierungskonferenz der Globalen Bildungspartnerschaft statt. Eingeladen haben der französische Präsident Macron und der senegalesische Präsident Sall. Beide sind persönlich vor Ort. Es gibt weitere Staats- und Regierungschefs, die vor Ort sind. Anwesend sind 60 Minister. Die Bundesregierung ist vertreten – man ahnt es; nein, es ist nicht die Praktikantin; sie ist nur für UN-Veranstaltungen verantwortlich –: durch niemanden.
({2})
Die Botschaft hat den Auftrag bekommen, die Bundesrepublik Deutschland auf dieser Konferenz zu vertreten.
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Das ist sicherlich praktisch, ist sicherlich billig. Aber ich meine, das ist pure Ignoranz gegenüber einem wichtigen Thema, und es ist ein miserables internationales Auftreten. Diese Thematik hat tatsächlich etwas anderes verdient.
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Aber wir haben Gott sei Dank einen Entwicklungsminister, der in seinen öffentlichen Reden – Sie teilen es ihm sicherlich mit, Herr Staatssekretär – immer wieder die ganz große Bedeutung von Bildung hervorhebt – das ist richtig, und das ist gut –, der aber auch nicht müde wird, zu erklären, Bildung zu einem Schwerpunkt seiner Amtszeit gemacht zu haben. Das ist uns beiden sicherlich entgangen, Herr Staatssekretär.
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Wir werden jetzt gleich von der CDU/CSU tolle Zahlen hören: 1,6 Milliarden, 38 Millionen. – Ich habe jetzt keine Zeit, darauf einzugehen. Aber lassen Sie sich nicht blenden. Im Wesentlichen ist es so, dass sich in den letzten fünf Jahren relativ wenig getan hat.
Der deutsche Beitrag für die Globale Bildungspartnerschaft ist jedenfalls ein Armutszeugnis.
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Magere 9 Millionen Euro jährlich sind beschämend. Das sind gerade einmal 1,7 Prozent der international finanzierten Gesamtsumme. Da versteht man natürlich schon, warum die Kanzlerin auch kein Minister nicht nach Dakar fliegt; denn mit 9 Millionen Euro kann man da wirklich nicht punkten.
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Angesichts der volkswirtschaftlichen Leistungsfähigkeit unseres Landes muss ich sagen: Ein fairer Anteil würde wohl bei ungefähr 100 Millionen Euro liegen. Sie alle wissen, dass es keinen Minister gibt, der den Begriff „fair“ öfter gebraucht als Gerd Müller.
({8})
Diese eklatante Diskrepanz – 9 Millionen Euro/100 Millionen Euro – ist weder zu entschuldigen noch zu erklären. Vor allen Dingen sind die Kinder die Leidtragenden.
Wir haben in der Staatengemeinschaft vereinbart, bis 2025 die ausbeuterische Kinderarbeit abzuschaffen. Heute müssen noch immer 152 Millionen Kinder in Fabriken, Steinbrüchen, Plantagen schuften, statt zur Schule zu gehen. Kinder gehören auf die Schulbank und nicht in ausbeuterische Verhältnisse geworfen.
({9})
Der beste Hebel in diesem Zusammenhang ist und bleibt die Bildung. Der Globus braucht stabile Staaten mit positiven Entwicklungsmöglichkeiten und für seine Menschen positive Perspektiven. Ich sagte es bereits: Bildung ist hierbei ein entscheidender Hebel, und Grundschulbildung ist das Fundament. Wer sich dem verweigert, fördert letztlich Fluchtursachen.
({10})
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Der kürzeste Weg aus Armut und Perspektivlosigkeit ist der Schulweg. Ich bitte Sie: Gehen Sie mit uns diesen Weg, und stimmen Sie dem Antrag zu!
Danke schön.
({11})
Der Kollege Volkmar Klein spricht für die CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Völlig richtigerweise hat der Kollege Kekeritz die Bedeutung der Bildung unterstrichen. In diesen Passagen kann man ihm nur voll und ganz zustimmen;
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denn es ist tatsächlich so, dass Bildung eine entscheidende Voraussetzung für das ist, was in der Entwicklungszusammenarbeit und in der Entwicklung afrikanischer Länder nun wirklich notwendig ist, nämlich dass Jobs und Chancen entstehen. Die wiederum kann nur wahrnehmen, wer entsprechend qualifiziert ist, wer entsprechend gebildet ist. Insofern ist das wirkliche Nachhaltigkeit auch für die weitere Entwicklung; denn nur wer Arbeit hat, nur wer Chancen hat, hat Einkommen, kann Steuern bezahlen und kann dazu beitragen – das muss unser entscheidendes Ziel sein –, dass die Selbstfinanzierungsquote der Länder Afrikas steigt.
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Genau deswegen war Bildung bereits im zweiten der acht Millenniumsziele verankert. Damals hieß es: Alle Kinder sollen bis zum Jahr 2015 Zugang zu Schulbildung haben. – Einiges wurde erreicht. Die Quote der Kinder, die in die Grundschule eingeschult wurden, ist weltweit von 80 Prozent auf 91 Prozent gestiegen, und der Anteil der Mädchen ist erst recht signifikant gestiegen.
Defizite bleiben aber; denn Schule allein – sie ist vielleicht auch schlecht – reicht nicht. Wir müssen vielmehr auch über die Qualität von Bildung und über das Abbrechen von Schulkarrieren reden.
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Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich will erst einmal im Zusammenhang vortragen. – Genau deswegen war es richtig, dass Bildung in einem sehr umfassenden Sinne in den globalen Nachhaltigkeitszielen, den SDGs, verankert worden ist. Dieses Ziel, meine Damen und Herren, unterstützen wir uneingeschränkt.
Unsere Entwicklungspolitik hat sich auch sehr angemessen darauf eingestellt. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hat seine Bildungsstrategie 2015 unter die Überschrift gestellt „Gerechte Chancen auf hochwertige Bildung schaffen“. Das war nicht nur eine Strategie, sondern das wird auch implementiert. In 60 Ländern der Welt fördert das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Bildungsmaßnahmen. In elf Ländern steht Bildung im Mittelpunkt der Zusammenarbeit.
Der Kollege Kekeritz hat eben schon auf diese wirklich fantastische Zahl hingewiesen: Insgesamt weist die internationale ODA-Statistik 1,66 Milliarden Euro als deutschen Beitrag aus. Das ist ein ordentlicher Anteil unserer Entwicklungszusammenarbeit. Wie ich finde, ist aber eine andere Zahl in diesem Zusammenhang noch interessanter: Dieser Teil unserer Entwicklungszusammenarbeit macht 17 Prozent der weltweiten Entwicklungszusammenarbeit im Bereich der Bildung aus. Also fast jeder fünfte Euro, der weltweit an Hilfen in Entwicklungsländer geht, kommt aus deutschen Quellen. Insofern ist es absurd, zu sagen, wir würden zu wenig tun.
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Das soll im Übrigen auch in Zukunft so bleiben. Bildung steht im Mittelpunkt auch des Marshallplans mit Afrika, der ja auf den Dreiklang Bildung, Ausbildung, Arbeit setzt. Wir haben beispielsweise Ausbildungspartnerschaften mit Kenia und Ägypten, um das voranzubringen. Klar, Deutschland gilt als das Land mit der besten Kompetenz und Expertise im Bereich Ausbildung. Das alles wird weltweit geschätzt und genutzt.
Wenn Sie, Frau Hajduk, unbedingt eine Frage stellen wollen – bitte.
So, Ihre Zwischenfrage, Frau Kollegin.
Sehr geehrter Herr Kollege Klein, ich habe Ihrer Rede insofern gerne zugehört, als dass ich den Eindruck habe, dass Sie den Antrag im Grunde genommen für sehr unterstützenswert halten. Sie haben sich ja durchweg positiv auf das Thema bezogen.
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Wir haben sicherlich eine Differenz bei der Einschätzung, wie die Bundesregierung sich da finanziell engagieren sollte. Das habe ich schon verstanden; ich habe ja zugehört. Ich möchte jetzt aber fragen: Können Sie mir erklären, warum die Bundesregierung, wenn das Thema Bildung gerade in der Entwicklungszusammenarbeit so wichtig ist, an diesem Wochenende in Dakar so schlecht vertreten ist? Was meinen Sie als entwicklungspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion dazu, dass die Regierung das so tief hängt?
Nach dem bereits Gesagten und auch nach meinen Gesprächen mit Julia Gillard, der Vorsitzenden der Globalen Bildungspartnerschaft, oder mit Alice Albright kann ich nur voll und ganz der Auffassung zustimmen, dass GPE ein wesentlicher zusätzlicher Bestandteil ist. Aber vor dem Hintergrund des gerade Gesagten möchte ich noch einmal betonen: „ein zusätzlicher Bestandteil“, weil gerade Deutschland eben entsprechend viel tut.
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Deswegen, glaube ich,
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ist der größte Nutzen der GPE, das Verständnis für die Wichtigkeit dieses Bereiches auch in anderen Staaten zur wecken. Insofern ist dieses Anliegen für andere noch sehr viel wichtiger als für uns, weil für uns Bildung sowieso im Mittelpunkt steht.
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Das kann man im Übrigen ja auch daran sehen, dass Deutschland zu den Gründern des Fonds gehörte und seit 2008 knapp 70 Millionen Euro dazu beigetragen hat.
Aus Verpflichtungsermächtigungen des Jahres 2017, die der Haushaltsausschuss – da war ich noch selber beteiligt – in seiner Bereinigungssitzung für den Haushalt 2017 beschlossen hat, haben wir zumindest schon einmal 38 Millionen Euro neues Geld für die GPE zur Verfügung gestellt. Dadurch steigt der deutsche Beitrag in Höhe von zuletzt 7 Millionen Euro noch einmal deutlich. Ein darüber hinausgehender Beitrag ist zurzeit nicht möglich; da sind wir uns doch alle, sagen wir mal, als professionelle Akteure im Berliner Betrieb einig. Und in einer Zeit der vorläufigen Haushaltsführung und einer geschäftsführenden Bundesregierung ist es nicht ganz so offensichtlich, dass jemand persönlich von hier an der Konferenz in Dakar teilnimmt. Allerdings tun wir ja auch genug.
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Die Kollegin kennt ja die Zahlen und weiß, dass über diesen finanziellen direkten Beitrag an die GPE hinaus Deutschland auch noch bilaterale Beistellmittel zur Verfügung stellt; so helfen wir afrikanischen Staaten mit über 20 Millionen Euro, Gelder der GPE einzuwerben. Die müsste man natürlich sowieso dazupacken; dazu käme auch noch einmal das, was an Kofinanzierung vonseiten der Schweiz zu unseren Beistellungen ausgegeben wird.
Unter dem Strich bleibe ich bei der Einschätzung, dass Deutschland viel tut, dass Deutschland sehr viel tut und dass Deutschland berechtigterweise viel tut. Wenn wir weiter über das Thema in angemessener Weise beraten wollen – denn es ist ja so wichtig –, dann wäre ich sehr dankbar, wenn wir das im Ausschuss tun könnten. Wenn aber die grüne Fraktion heute eine Abstimmung in der Sache will, dann unterstreicht sie damit eigentlich, dass vielleicht weniger die Sache im Mittelpunkt steht, sondern eher der heutige öffentliche Effekt. Angesichts der Wichtigkeit des Themas wünsche ich mir, dass wir es heute nicht abwickeln, sondern den Antrag in den Ausschuss überweisen und im Gespräch bleiben. Dazu laden wir als CDU/CSU-Fraktion alle anderen ein.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Nächster Redner für die SPD-Fraktion: der Kollege Christoph Matschie.
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Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Klein, es ist sicher richtig: Die Bundesrepublik Deutschland tut viel in diesem Bereich. Die Frage ist aber, ob wir nicht noch mehr tun können.
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Ich will es ganz deutlich sagen, Herr Kekeritz: Der Antrag der Grünen hat meine volle Sympathie;
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denn die Unterstützung der Globalen Entwicklungspartnerschaft ist nicht nur sinnvoll, sondern auch dringend notwendig. Wir wissen, dass die Globale Entwicklungspartnerschaft ein besonderes Instrument ist, weil es nicht nur darum geht, unmittelbar Geld zur Verfügung zu stellen, sondern auch, für die Entwicklung des gesamten Bildungssystems in den Partnerstaaten zu sorgen. Dazu gehört, dass man Bildungsentwicklungspläne aufstellt und dass diese evaluiert werden. Dazu gehören auch der Schulbau und die Ausbildung von Lehrern. Insofern, Herr Klein, ist die Globale Entwicklungspartnerschaft Voraussetzung für andere Formen der Zusammenarbeit im bildungspolitischen Bereich in Entwicklungsländern. Deshalb müssen wir uns noch einmal diesem Thema ganz besonders widmen und uns fragen: Was kann die Bundesrepublik Deutschland in diesem Zusammenhang tun? Ich will noch einmal deutlich machen – deshalb ist das Thema so wichtig –: Bildung ist der Schlüssel für Entwicklung. Das gilt für jeden einzelnen Menschen ganz genauso, wie es für Staaten gilt; darauf haben meine Vorredner hingewiesen.
Wenn man in den aktuellen Report der Vereinten Nationen schaut, dann findet man eine Zahl, die schon erschrecken muss: Über 260 Millionen Kinder und Jugendliche haben keine Möglichkeit, die Schule zu besuchen. 260 Millionen! Das ist mehr als die Hälfte der gesamten Einwohnerschaft der Europäischen Union. Ich finde, eine solche Zahl stellt wirklich eine Herausforderung dar, darüber nachzudenken, ob wir in diesem Zusammenhang genug tun, ob wir nicht mehr tun können und mehr tun müssen.
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Seit gestern tagt die Geberkonferenz. Das Ziel, das sich diese Konferenz vorgenommen hat, ist, 3,1 Milliarden Dollar für einen Bildungsfonds einzusammeln. Zur Wahrheit gehört, dass die letzte Geberkonferenz ihr Ziel deutlich verfehlt hat; damals ging es um 3,5 Milliarden Euro. 2,1 Milliarden Euro sind damals zusammengekommen.
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Insofern müssen wir darüber reden, ob auch Deutschland einen weiteren Beitrag leisten kann. Insofern spricht der Antrag der Grünen einen kritischen Punkt an.
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In den letzten Jahren belief sich unser Beitrag auf 7 Millionen Euro; diese Summe wurde genannt. Meine Kollegin Sonja Steffen hat in den Haushaltsberatungen mit dafür gesorgt, dass der Beitrag aufgestockt werden konnte.
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Ob das ein beachtlicher Betrag war, Herr Klein, daran scheiden sich die Geister. 2 Millionen sind hinzugekommen, jetzt sind es 9 Millionen Euro pro Jahr. Ich finde, da ist noch Luft nach oben, und darüber werden wir miteinander diskutieren müssen.
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Die Erwartung des Sekretariats liegt bei 50 Millionen pro Jahr. Die Frage ist: Können wir uns dieser Erwartung zumindest noch ein Stück weit nähern?
Ich will an dieser Stelle – auch in Richtung der Grünenfraktion – sagen: Der Antrag geht so, wie er gestellt ist, in gewisser Weise ins Leere. Denn die Bundesregierung sitzt im Moment zwar dort am Verhandlungstisch – wenn auch nur mit dem Botschafter –, ist aber an die Haushaltsbeschlüsse gebunden. Sie kann also bei der Geberkonferenz nicht über diese Haushaltsbeschlüsse hinausgehen.
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Es wird als Haushaltsgesetzgeber und Parlament unsere Aufgabe sein, in den kommenden Haushaltsberatungen dafür zu sorgen, dass dieser Spielraum größer wird und sich die Bundesrepublik Deutschland mit einem deutlich größeren Beitrag an der Globalen Entwicklungspartnerschaft beteiligt.
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Es wäre gut, wenn wir Ihren Antrag heute in den Ausschuss überweisen und dort gemeinsam besprechen, mit welchen Positionen man in Haushaltsberatungen gehen kann, die irgendwann dann hoffentlich kommen werden. Unser gemeinsames Ziel muss sein, mehr Geld für die Bildung bereitzustellen, und zwar auch für genau diesen Bereich der Globalen Entwicklungspartnerschaft.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Zu seiner ersten Rede erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Marc Jongen von der AfD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Vizepräsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Millionen von Kindern einen Schulbesuch zu ermöglichen und die Schlechterbehandlung und oftmals Misshandlung von Mädchen in Entwicklungsländern zu beenden, das sind zweifellos ehrenwerte Ziele, denen man sich wohlwollend nähern muss – umso mehr, als die betroffenen Länder zugleich diejenigen sind, aus denen sich die großen Migrantenströme Richtung Europa in Bewegung setzen.
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Fazle Rabbani, wohlgemerkt kein AfD-Politiker, werte Kollegin, sondern ein Experte der Globalen Bildungspartnerschaft, um die es hier heute geht, weist darauf hin, dass die Geburtenrate in Bangladesch durch den vermehrten Schulbesuch von Mädchen halbiert werden konnte. Das ist gut für das betroffene Land, dessen Ressourcen begrenzt sind. Das ist aber auch gut für Deutschland und Europa, weil der Migrationsdruck dadurch nachlässt.
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Man könnte jetzt darüber streiten, ob die Summe von jährlich 100 Millionen Euro, auf die die Kollegen von den Grünen den deutschen Beitrag zur Globalen Bildungspartnerschaft aufblähen wollen, wirklich angemessen ist oder ob man nicht zuerst die eigenen maroden Schulgebäude sanieren und die 35 000 fehlenden Grundschullehrer einstellen sollte, bevor man gleich die ganze Welt rettet.
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Diesen finanziellen Diskurs kann ich mir hier aber sparen;
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denn das Programm der Globalen Bildungspartnerschaft krankt leider schon auf einer viel grundsätzlicheren Ebene. Es ist in Wahrheit ein ideologisches trojanisches Pferd, das die Grünen hier heute ins Parlament gerollt haben.
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Die Strategiepapiere der GPE, allen voran die „Gender Equality Policy and Strategy 2016–2020“ sprechen es ganz klar aus: Hinter den wohlklingenden philanthropischen Bildungszielen verbirgt sich – nicht ausschließlich, aber eben in weiten Teilen – ein weltweit angelegter Aktionsplan, um der Genderideologie,
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der Inklusionsideologie und der Ideologie des Postkolonialismus im globalen Maßstab zum Durchbruch zu verhelfen.
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All diese zutiefst schädlichen, weil an der Wirklichkeit vorbeigehenden Ideologien, unter denen Schüler, Eltern, Lehrer und Studenten – pardon: Studierende – in Deutschland leiden und die zum hiesigen Bildungsnotstand maßgeblich beitragen, sollen nun weltweit in die Bildungssysteme implementiert werden. Am Gender-Wesen soll die Welt genesen, und Deutschland soll dafür bezahlen. Mit der AfD sicher nicht, meine Damen und Herren!
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– Ja. Das müssen Sie sich jetzt auch einmal anhören.
Mit dem Gender-Mainstreaming wurde der Geschlechterkampf in unseren Bildungseinrichtungen und Behörden staatlich verordnet auf Dauer gestellt.
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Das Verhältnis zwischen den Geschlechtern wurde damit einer permanenten unterschwelligen Vergiftung ausgesetzt.
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Wenn dies in den betroffenen Einrichtungen und in der Öffentlichkeit nicht viel mehr thematisiert wird, so nur deshalb, weil eine Gesinnungsdiktatur von allmählich Orwell’schen Ausmaßen
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jedem das Karriereende androht, der sich politisch inkorrekt äußert und das Gender-Dogma infrage stellt. Das ist die Realität.
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Auch die Praxis der Inklusion hat verheerende Auswirkungen und darf schon jetzt als gescheitert gelten. Sie wird weder den behinderten noch den nichtbehinderten Kindern gerecht, sie zerstört das hervorragende deutsche Förderschulsystem, und sie beruht auf demselben Gleichheitswahn wie die Gender-Ideologie.
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Versuchen wir uns doch einmal vorzustellen, was es für die Entwicklungsländer bedeuten würde, einem derartigen Erziehungsprogramm, das ja ein kulturelles Umerziehungsprogramm ist, unterworfen zu werden.
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Stellen wir uns den Gender-Beauftragten der Universität Timbuktu, den Diversity Manager von Sanaa vor, und wir ahnen Böses, meine Damen und Herren. Je erfolgreicher dieses Programm arbeitet, desto mehr muss es doch in den oft noch archaischen Gesellschaften dieser Länder massive soziale Spannungen hervorrufen, vor allem zwischen den Generationen.
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Unweigerlich wird es dann auch zu Abstoßungsreaktionen gegen die eingeschleusten westlichen Fremdideologien kommen. Das ist dann auch gut so, meine Damen und Herren.
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Nicht zuletzt für uns Europäer ist das gut, denn was die GPE unter „transformativer Bildung“ versteht, ist nichts anderes als eine Indoktrination mit postkolonialer Ideologie, und das heißt die Verankerung einer Überlegenheits- und Anspruchshaltung im Globalen Süden gegenüber dem Westen,
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während dem Westen ein tiefer Schuldkomplex aufgrund seiner kolonialen Vergangenheit eingeimpft werden soll. Dies alles im Zuge einer sogenannten Global Citizenship Education, die, wie der Name schon sagt, nichts anderes bedeutet als die Schleifung der historisch gewachsenen Nationen
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und die ideologische Bodenbereitung für weltweite Migrationsströme. Im Grunde ist das, was Sie machen, eine Form von Kulturimperialismus, aber eine paradoxe Form,
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bei der die aufgedrückte Ideologie zum Schaden der Imperialisten ausschlägt, die sich ein humanitäres Mäntelchen umhängen.
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Ja, für Bildung für alle wäre die AfD zu haben,
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für Ideologie für alle sicher nicht, verehrte Kollegin.
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Trotzdem stimmen wir der Überweisung in den Ausschuss zu. Meines Erachtens wäre dieser Antrag im Bildungsausschuss am besten aufgehoben, weil dort diese ideologischen Ladungen diskutiert gehören.
Herr Kollege!
Aber ich kann auch mit dem Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit leben, weil wir dort gemeinsam ausloten wollen, inwiefern eine ideologisch unkontaminierte Bildungsförderung, die dringend notwendig ist, in den Entwicklungsländern realisiert werden kann.
Vielen Dank.
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Herr Kollege, das mit der Redezeitbegrenzung ist ernst gemeint.
Ebenfalls die erste Rede hält der Kollege Olaf in der Beek von der FDP-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich denke, ich spreche jetzt zum Thema.
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Nachdem ich mir den Antrag der Grünen zum ersten Mal durchgelesen habe, habe ich mich gefragt: Wie oft habe ich eigentlich mit meinen Kindern darüber diskutiert, wenn sie nicht in die Schule gehen wollten? Ich habe immer gesagt: In anderen Ländern der Welt wären Kinder froh, wenn sie zur Schule gehen könnten.
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Es ist ja so: Weltweit haben 264 Millionen Kinder keinen Zugang zu Schulbildung. Über 330 Millionen Kinder besuchen zwar Schulen, lernen aber nicht die Grundlagen im Lesen, Schreiben und Rechnen.
Auch aus diesem Grund war es ein maßgebliches Ziel der im Jahr 2015 verabschiedeten Nachhaltigkeitsziele, Bildung für alle Menschen weltweit zu ermöglichen. Das überrascht nicht; denn wir alle kennen doch den Vorteil, den Bildung in Entwicklungsländern hat: Bildung reduziert Armut, Bildung führt zu Wohlstand, Bildung führt zu Chancengleichheit, und Bildung leistet einen hohen Beitrag dazu, dass Menschen gesundheitlich aufgeklärt werden.
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Kurz gesagt, Bildung versetzt die Menschen in Entwicklungsländern in die Lage, ihr Leben ein Stück weit selbstbestimmter in die Hand zu nehmen. Durch Bildung werden die Lebensbedingungen von Millionen von Menschen direkt und vor Ort verbessert.
Das sieht ganz offensichtlich auch die Bundesregierung so. Minister Müller hat erst vor wenigen Monaten in einer Rede gesagt:
Es müssen Perspektiven vor Ort geschaffen werden. Nur wer vor Ort eine Aufgabe und ein Auskommen hat, wird bleiben. Kinder brauchen Schulen, Jugendliche eine Ausbildung, Erwachsene Arbeit und Auskommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, man sollte Worten dann aber auch Taten folgen lassen.
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Deshalb unterstützen wir die Forderung, den finanziellen Beitrag Deutschlands an der Globalen Bildungspartnerschaft zu erhöhen.
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Zwar ist es wichtig, dass wir 190 Millionen Euro in die berufliche Bildung investieren; aber die Grundbildung darf dahinter auf keinen Fall zurückstehen.
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Wer nicht lesen, schreiben und rechnen kann, wird sich auch nicht für eine anschließende höhere Bildung qualifizieren können. Leider scheint sich das noch nicht bis ins Ministerium herumgesprochen zu haben; diesen Eindruck muss man haben, wenn man sich die geplanten Ausgaben für die GPE ansieht. Anstatt bisher 7 Millionen Euro jährlich gibt es ab diesem Jahr 9 Millionen Euro. Das ist nun wirklich kein substanzieller Beitrag Deutschlands für weltweite Grundbildung, deckt sich aber mit der Strategie des Ministers.
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Entgegen allen Reden und obwohl bekannt ist, dass ein gemeinsames Vorgehen mit mehreren Partnern auf der internationalen Ebene am erfolgversprechendsten ist, setzt er fast ausschließlich auf bilaterale Projekte.
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Warum wir uns an dieser Stelle – leider so oft – international abkapseln, muss schon hinterfragt werden.
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Denn wir sehen doch, dass Kooperationen wie die GPE erfolgreich sind.
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Seit 2002 gehen 72 Millionen Kinder mehr in die Grundschule, 74 Prozent der Mädchen gehen nun zur Grundschule und schließen diese auch ab.
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Das, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, sind messbare Erfolge. Die GPE ist ein funktionierendes Programm. Es sorgt nicht nur dafür, dass viele Kinder auf der Welt genauso wie meine eigenen die Chance haben, in die Schule zu gehen. Es sorgt auch dafür, dass ein Umdenken vieler GPE-Partnerländer eingesetzt hat. Die sind mittlerweile auch dazu bereit, ihre eigenen Bildungsausgaben zu erhöhen. Denn uns allen sollte klar sein: Es nützt nichts, wenn wir ankommen, Schulen bauen und vor Ort dann nicht genügend Lehrer ausgebildet werden können oder die Kinder ohne Bücher, Stifte und Zettel dastehen.
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Ob das von Deutschland aufgebrachte Geld in diesem Rahmen tatsächlich auch nachhaltig investiertes Geld ist, das werden wir zukünftig prüfen müssen. Und wir sollten auch schauen, wie sich die GPE weiter verbessern lässt. Bei aller Liebe für den Grundsatz dieses Antrages: Eine so kurzfristige Mittelaufstockung dieser Größenordnung aus dem Bauch heraus ist nicht zielführend. Uns geht es um den nachhaltigen Einsatz für Grundbildung. Da kommen wir mit dem Motto „Viel hilft viel“ einfach nicht weiter. Lassen Sie uns den Antrag im Ausschuss weiter beraten. Die Geberkonferenz ist vorbei, aber wir haben nun die Chance, zu schauen, an welchen Stellen wir mehr Geld für Grundausbildung einsetzen können. Bei diesem Ziel stehen die Freien Demokraten an Ihrer Seite.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Die dritte erste Rede in Folge: die Kollegin Brigitte Freihold von der Fraktion Die Linke.
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Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Verwirklichung sozialer Menschrechte ist eine unabdingbare Voraussetzung für eine sozial gerechte Gesellschaft, und zwar überall auf der Welt. Das soziale Menschenrecht auf Bildung, verankert im UN-Sozialpakt, bindet auch die Bundesregierung. Der freie Zugang zu Bildung ist demnach eine rechtsverbindliche Pflicht und kein Almosen!
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Die Linke begrüßt aus diesem Grund ausdrücklich die Forderung, dass die Bundesrepublik einen fairen und substanziellen Anteil für die Globale Bildungspartnerschaft leisten muss. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, es wäre jedoch wohlfeil, unsere Verantwortung für die Erreichung des Nachhaltigkeitsziels einer inklusiven, gleichberechtigten und hochwertigen Bildung bereits in diesen finanziellen Forderungen erschöpft zu sehen. Deshalb dürfen wir uns der grundlegenden Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Praxis der Entwicklungszusammenarbeit nicht verweigern.
Durch Rechentricks und Etikettenschwindel bei der Entwicklungszusammenarbeit ist die Bundesrepublik schon längst zum größten Nutznießer der eigenen Entwicklungshilfe geworden. Oxfam kritisiert zum Beispiel einen Trend zu Billigschulen, in denen profitorientierte Unternehmen in das Bildungswesen einbrechen und das staatliche Bildungswesen aushöhlen. In der Vergangenheit folgte auch die bilaterale Bildungs- und Wissenschaftskooperation der Bundesregierung häufig einer solchen einseitigen zweckdienlichen Logik: Zum Beispiel wurde in Indien in die Fachkräfteausbildung für deutsche Betriebe und nicht für einheimische investiert. Dies entspricht nicht den Bedürfnissen der von Bildung ausgeschlossenen Menschen.
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Es entspricht auch nicht den Herausforderungen einer globalen Welt.
Wir müssen dafür Sorge tragen, dass öffentliche Bildungssysteme inklusive der Lehrerausbildung gestärkt werden. Bildung darf nicht privatisiert oder gebührenpflichtig werden.
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Denn das bringt nur neue soziale Ungleichheiten hervor. In diesem Zusammenhang möchte ich noch daran erinnern: Investition in Bildung darf auch nicht als Hilfsmittel bei der Legitimierung von Diktatoren missbraucht werden,
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die die Migration in Richtung Europa besonders effektiv unterbinden.
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Wir brauchen deswegen ein neues Grundverständnis von Bildung und deren Einbettung in eine demokratisch verfasste Politik, die den Menschen im Globalen Süden auf Augenhöhe begegnet.
Gerade im Kontext der Bildung dürfen wir weder die sozioökonomische Lebensrealität noch die aufgezwungene Rolle in der globalen Arbeitsteilung vieler Menschen ausblenden. Dadurch entsteht eine Reihe von Fragen, denen wir uns stellen müssen. Deshalb fordern wir auch eine entsprechende Evaluation aller EZ-Maßnahmen der Bundesrepublik, auch im Bereich der Bildung. Bildungspartnerschaften dürfen weder ein verstecktes Subventionsprogramm für private deutsche Stiftungen oder Unternehmen sein noch als Förderung privilegierter Schichten missbraucht werden und neue Ungleichheiten schaffen. Sie müssen Partizipation und gleichwertige Lebensbedingungen für alle Menschen durch Bildung ermöglichen.
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Deshalb müssen wir der Förderung der Bildungspartnerschaften Maßnahmen zur Veränderung der Strukturen der Ungerechtigkeit an die Seite stellen. Diese Änderungen müssen bereits hier bei uns beginnen, wo viele Ursachen für die Missstände im Globalen Süden liegen. Die Bundesregierung bleibt beim Thema Bildung so lange unglaubwürdig, solange sie selbst die Unterzeichnung des Fakultativprotokolls zum UN-Sozialpakt verweigert oder solange die Primärverantwortung für die Umsetzung der sozialen Rechte auf Bildung einseitig den Bundesländern aufgebürdet wird. – Ich komme gleich zum Ende.
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Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit bedeuten, dass alle Menschen, selbstverständlich auch die Geflüchteten, einen ungehinderten und gleichwertigen Zugang zu Bildung erhalten müssen. Aus diesem Grund muss die Bundesregierung als einen der ersten Schritte in die richtige Richtung ihrer Verpflichtung nachkommen und sofort die Finanzmittel in Höhe von 100 Millionen Euro jährlich als fairen Anteil für die Globale Bildungspartnerschaft zur Verfügung stellen. Über weitere Maßnahmen muss selbstverständlich noch geredet werden.
Herzlichen Dank.
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Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege Dr. Wolfgang Stefinger.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland leistet einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklungszusammenarbeit, gerade auch im Bereich der Bildung. Das möchte ich ausdrücklich betonen, weil man in der Debatte den Eindruck hat, wir würden zu wenig oder nichts tun. Ich darf Ihnen auch einmal die Zahlen nennen: Mit 67,75 Millionen Euro beteiligt sich Deutschland seit 2008 an der Initiative der Globalen Bildungspartnerschaften. Die Wiederauffüllungskonferenz, die derzeit tagt, wird außerdem mit 38 Millionen Euro unterstützt, weil es für uns eine wichtige Initiative ist. Ich darf erinnern, dass Deutschland mit zu den Initiatoren und Gründern dieser Initiative gehört. Auf die Erfolge wurde bereits hingewiesen.
Wenn hier kritisiert wird, dass für Deutschland „nur“ der Botschafter teilnimmt, dann muss ich sagen: Ich bin gespannt, wie viel Geld die teilnehmenden Staats- und Regierungschefs für diese Initiative im Gepäck haben. Ich möchte schon betonen, dass Deutschland mit 24,67 Milliarden Dollar im Jahr 2016 laut OECD insgesamt den größten Beitrag aller EU-Länder geleistet hat, was den Bereich der Entwicklung angeht. Frankreich hat 9,5 Milliarden Dollar bereitgestellt – das nur als Beispiel. Nicht zu vergessen ist, dass auch die EU-Gelder, die im Bereich der Entwicklungshilfe fließen, deutsches Geld enthalten.
Uns ist natürlich wichtig, dass die zur Verfügung gestellten Gelder auch abgerufen werden; das ist vorhin schon kurz angesprochen worden. Es hilft ja nichts, wenn die Gelder zwar da sind, aber nicht abgerufen werden. Deswegen unterstützt Deutschland die Regierungen und die Nichtregierungsorganisationen dabei, die Mittel abzurufen und dann auch zielgerichtet einzusetzen, nämlich mit 20,6 Millionen Euro.
In Ihrem Antrag, liebe Grüne, berücksichtigen Sie eines nicht. Sie betrachten ausschließlich die Globale Bildungspartnerschaft.
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Sie berücksichtigen aber nicht, was Deutschland insgesamt alles leistet. Ich habe schon erwähnt, dass wir die größte Gebernation im Bereich Bildung sind; denn wir fördern die Ausbildungswege von der Grundschule über die Sekundarschule bis hin zur beruflichen Bildung. Wir arbeiten mit über 60 Staaten im Bereich der Bildung zusammen, und in elf Staaten ist es auch unser Schwerpunkt. Das ist uns über 190 Millionen Euro wert.
Herzlich bedanken möchte ich mich bei Bundesminister Gerd Müller, heute vertreten durch den Staatssekretär Silberhorn, für das Sofortprogramm, das aufgelegt wurde. Ich möchte betonen, dass wir zur Linderung der Auswirkungen von Krisen und Flucht den Schulunterricht in den Aufnahmeländern unterstützen. Das kann sich wirklich sehen lassen.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, Deutschland ist ein gefragter Partner, was den Bereich der beruflichen Bildung angeht. Die berufliche Bildung wird häufig schlechtgeredet. Aber wir sind wirklich stolz auf unser Berufsausbildungssystem, und wir exportieren es in andere Länder.
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Damit stärken wir die Berufsqualifizierung und erhöhen auch die Beschäftigungschancen. 190 Millionen Euro – nur mal kurz eingeworfen – ist uns das wert.
Ich möchte den Blick etwas weiten: Schauen wir uns doch mal die Haushalte der anderen Ministerien an. Das Auswärtige Amt stellt knapp 300 Millionen Euro für kulturelle Bildung, Auslandsschulen etc. zur Verfügung.
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Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat im Übrigen – das ist heute überhaupt nicht zur Sprache gekommen – eine eigene Afrika-Strategie mit über 30 Maßnahmen aufgelegt, und zwar Maßnahmen zur Zusammenarbeit bei Bildung, Forschung und Innovationen, bei den Herausforderungen im Zusammenhang mit den Themen Klima, Wasserversorgung und Energie sowie beim Aufbau der Forschungseinrichtungen und Hochschulen und eben auch im Bereich der Aus- und Weiterbildung. Es sind mehr als 6 Millionen Euro, die das BMBF hier zur Verfügung stellt.
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Deutschland steht zu seiner Verantwortung – das betone ich ausdrücklich –; aber wenn wir über die Entwicklungszusammenarbeit sprechen, dann müssen wir das große Ganze sehen. Kein Programm und keine Initiative darf man in dem Bereich isoliert betrachten.
Deutschland leistet viel im Bereich der Bildungspartnerschaften. Diesen Weg wollen wir weitergehen. Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass der Deutsche Bundestag der Haushaltsgesetzgeber ist, nicht das Ministerium. Wir werden uns also haushalterisch beraten, inwieweit wir weitere Mittel zur Verfügung stellen können.
Wir plädieren für Überweisung des Antrags zur weiteren Beratung an den Ausschuss. Wenn Sie dem zustimmen, werden wir uns darüber gerne im Ausschuss unterhalten.
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Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Sonja Amalie Steffen das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich spreche heute als Mitglied des Haushaltsausschusses und als Berichterstatterin für den Bereich der Entwicklungszusammenarbeit; das war ich bereits in der letzten Legislaturperiode, und hoffentlich werde ich es auch in dieser Legislaturperiode sein.
In meiner Tätigkeit als Berichterstatterin habe ich verschiedene Reisen unternommen, auch nach Afrika: nach Mosambik und in den Südsudan. Was einen begeistert, was einen freut, wenn man vor Ort ist, ist, dass der Kontinent unglaublich jung ist. Zugleich aber erfüllt es einen mit einer gewissen Traurigkeit, wenn man auf diesen Reisen feststellt, dass viele junge Menschen den ganzen Tag mit Warten verbringen. Sie warten auf eine bessere Zukunft, die aufgrund der fehlenden Perspektiven in ihrem Land nie kommen wird. Deshalb ist es kein Wunder, dass viele dieser Menschen, die nur ihr Leben als Investition haben, sich auf einen gefährlichen Weg machen, der oft genug mit dem Tod endet.
Die Frage, die sich uns als reicher Nation stellen muss, ist: Wie können wir verhindern, dass sich die vielen Menschen auf den Weg machen, der wirklich gefährlich ist? Die Antwort kann nur heißen: indem wir in Bildung investieren.
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Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen vom Bündnis 90/Die Grünen, freue ich mich sehr, dass wir heute eine Debatte über die Globale Bildungspartnerschaft führen. Wir von der SPD-Fraktion halten den Fonds der Globalen Bildungspartnerschaft für ebenso hervorragend wie seine unglaublich engagierte Botschafterin, Frau Albright, die vorhin schon kurz erwähnt wurde; an dieser Stelle einen herzlichen Gruß an sie. Richtig ist, dass wir den Fonds derzeit lediglich mit 9 Millionen Euro unterstützen. Aber es ist schon gesagt worden: Der Entwurf sah nur 7 Millionen Euro jährlich vor. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, lieber Volkmar Klein, wir mussten euch schon zum Jagen tragen, um wenigstens 2 Millionen mehr zur Verfügung stellen zu können.
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Der Erfolg des Fonds spricht für sich; das hat der Kollege von der FDP schon gesagt. Und um die Kollegen von der Union vielleicht davon zu überzeugen, dass multilaterale Entwicklungszusammenarbeit gut ist: Mit diesem Fonds ist die Hilfe zur Selbsthilfe ausdrücklich vorgesehen. Es ist dafür gesorgt, dass die Nehmerländer 20 Prozent ihres Staatshaushaltes in Bildung investieren müssen, um an diesem Fonds teilhaben zu können. Das ist eine unheimlich gute Sache.
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Im Vorfeld der Finanzierungskonferenz im Senegal haben wir von der SPD-Fraktion eine Anfrage an das BMZ gestellt, in der es um die Erhöhung der finanziellen Beteiligung Deutschlands ging. Die Antwort des BMZ war vorauszusehen und auch verständlich: Es handelt sich derzeit um eine vorläufige Haushaltsführung. Daher kann es derzeit keine Erhöhung der Finanzmittel geben. – Aber, liebes BMZ, liebe Regierung, es kann nicht sein, dass wir nicht einmal an der Konferenz teilnehmen. Das finde ich peinlich.
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Meine Damen und Herren, die Koalitionsverhandlungen im Bildungsbereich sind bisher sehr erfolgversprechend verlaufen. Wir konnten gestern erfahren, dass 11 Milliarden Euro mehr für die Bildung zur Verfügung gestellt werden. An dieser Stelle Dank an Manuela Schwesig und Dank an Hubi Heil für die hervorragende Verhandlungsführung.
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Kollegin Steffen, diesen Bericht müssen Sie jetzt aufschieben für einen anderen Tagesordnungspunkt.
Ich komme zum Ende. – Auch im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit gehe ich davon aus, dass es zu einer deutlichen Erhöhung der Bildungsunterstützung kommen wird. Ich freue mich auf die Arbeit im Ausschuss.
Vielen Dank.
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Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/456. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Abstimmung in der Sache, die Fraktionen der CDU/CSU, SPD, AfD und FDP wünschen Überweisung an den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
Wir stimmen nach ständiger Übung zuerst über den Antrag auf Ausschussüberweisung ab. Ich frage deshalb: Wer stimmt für die beantragte Überweisung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Ausschussüberweisung ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der AfD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke beschlossen. Damit stimmen wir heute nicht über den Antrag in der Sache ab.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man muss sich das wirklich auf der Zunge zergehen lassen: Da lässt ein Lobbyverein der Autoindustrie Affen in eine Kammer sperren und leitet dort Autoabgase ein, um die Effektivität der eigenen Abgasmanipulation beweisen zu können. Wie verkommen müssen Verantwortliche eines Unternehmens sein, die so etwas tun, die so etwas zulassen? Das ist nicht nur widerlich. Ich finde das skrupellos, um es in aller Klarheit zu sagen.
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Man wird nicht nur aufklären müssen, was in den USA passiert ist, sondern auch, wie es sein kann, dass eine renommierte deutsche Universität Versuche mit Menschen macht, beauftragt von einem – so hat ihn die „Süddeutsche Zeitung“ bezeichnet – „Lobbyisten-Verein mit wissenschaftlicher Fassade“. Das kann nicht der Anspruch der Wissenschaft sein. Darüber müssen wir diskutieren.
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Es gibt noch etwas, worüber wir diskutieren müssen, und das ist, wie ich finde, fast noch wichtiger. Vor allen Dingen die Fraktionen von Union und SPD müssen sich die Frage stellen: Wie kann es eigentlich sein, dass der Vorsitzende des sogenannten Wissenschaftlichen Beirates dieses Lobbyvereins, ein gewisser Herr Professor Greim, übrigens Träger des Bundesverdienstkreuzes, nicht nur als Sachverständiger in den Parlamentarischen Untersuchungsausschuss eingeladen wurde, sondern seine Grundthese, dass Stickoxide gar nicht so gefährlich sind und das mit dem Abgasskandal etwas übertrieben ist, auch noch Eingang in den Abschlussbericht der Großen Koalition gefunden hat? Meine Damen und Herren, das ist ein Skandal, der dieses Parlament und diese Koalition betrifft.
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Ich möchte eines sagen: Wir Grüne und der Kollege Behrens von den Linken als Vorsitzender des Untersuchungsausschusses sind hier in der letzten Wahlperiode ein ums andere Mal von Ihnen beschimpft worden, das sei alles gar nicht so schlimm, das sei alles viel harmloser, wir würden hier Panik machen. Ganz offensichtlich ist alles noch viel schlimmer, als wir es uns vorgestellt haben.
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Ich hätte mir in meinen schlimmsten Albträumen nicht vorstellen können, dass dieser von Ihnen eingeladene Professor Greim, als er im Untersuchungsausschuss über Tierversuche redete, nicht die Versuche meinte, die vor Jahren und Jahrzehnten stattfanden, sondern aktuelle Versuche. Ich lerne daraus: Bei dieser Bundesregierung haben nicht nur amtierende, ehemalige und geschäftsführende Verkehrsminister Skandalpotenzial, sondern auch die Sachverständigen, die von dieser Großen Koalition eingeladen werden.
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Gut ist, dass der VW-Vorstand, alle möglichen geschäftsführenden Mitglieder der Bundesregierung, Herr Weil als Ministerpräsident und sogar die Bundeskanzlerin ihre Empörung über die Tierversuche haben mitteilen lassen. Es freut mich, dass das in dieser Klarheit erfolgt ist. Aber, meine Damen und Herren, was ist denn diese Empörung wert, wenn die gleichen Leute seit zweieinhalb Jahren systematisch den Abgasskandal und seine Folgen mit aller Konsequenz aussitzen?
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Sie veranstalten hier in Deutschland ein Realexperiment mit 80 Millionen Menschen und nehmen in Kauf, dass infolge des Tricksens und Betrügens der Autoindustrie und des Wegsehens der Bundesregierung jeden Tag Menschen erkranken und sterben. Deshalb ist es bigott, sich nur über Tierversuche zu empören und an dieser Stelle nichts weiter zu unternehmen.
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Sie werden dieses Problem nicht lösen, wenn Sie nicht endlich den Mut haben, auch der Automobilindustrie etwas zuzumuten. Dabei geht es vor allen Dingen um zwei Punkte – da helfen noch so viele Dieselgipfel nicht und auch nicht ein paar Programme zur Förderung von Elektrobussen, so schön sie sein mögen –: Am Ende kann die Luft in unseren Städten nur besser werden, wenn wir dafür sorgen, dass die 7 bis 8 Millionen Dieselfahrzeuge, die infolge des Tricksens und Betrügens der Automobilindustrie die Grenzwerte nicht einhalten, auf Kosten dieser Industrie nachgerüstet werden,
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und wenn wir als zweite Maßnahme endlich eine blaue Plakette einführen, damit die Kommunen handeln und das vor Ort administrieren können. Wenn Sie diese beiden Themen nicht anpacken, dann setzen Sie auf den Straßen und in den Innenstädten unseres Landes die widerlichen Versuche von Albuquerque fort. Dagegen werden wir uns mit allem zur Wehr setzen, meine Damen und Herren.
Ich danke Ihnen.
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Bevor wir fortfahren, ein geschäftsleitender Hinweis: Wir sind in der Aktuellen Stunde. Deshalb konnte ich keine Zwischenfragen und Zwischenbemerkungen zulassen.
Das Wort hat nun der Bundesminister Christian Schmidt.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, das ist inakzeptabel. Das ist ein Skandal. Das muss scharf verurteilt werden. Ich habe das auch sofort getan. Das sind Tests, die allein zu PR-Zwecken, zur Reinwaschung von Dieselmotoren und unter Umgehung von Normen stattgefunden haben. Das ist eine absolut inakzeptable ethische Entgleisung. Mir fehlt dafür jedes Verständnis.
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Die Zielsetzung dieser Tests war grundsätzlich falsch. Es geht nicht darum, die Unschädlichkeit von Emissionen nachzuweisen, sondern darum, Emissionen zu reduzieren und Grenzwerte einzuhalten. Die Automobilindustrie hat damit das ohnehin schwindende Vertrauen bei den Menschen, bei den Verbrauchern, bei den Betroffenen, auch bei uns in der Politik und weltweit weiter verringert. Ich kann den Unternehmen nur dringend raten, schleunigst die Trendwende einzuleiten und das verlorengegangene Vertrauen wieder zurückzugewinnen. Das gelingt durch Transparenz, konsequente Aufklärung und ein großes Umdenken in der Unternehmenskultur, das wohl notwendig zu sein scheint. Sie können das erreichen.
Erste Schritte sind bereits getan. Ich habe die Automobilhersteller sofort vor die Untersuchungskommission meines Hauses einbestellt und zu detaillierten Stellungnahmen und Darlegungen aufgefordert, die auch geliefert worden sind.
Es gibt eine Reihe von weiteren Fragen. Ich möchte zum Beispiel wissen, ob es vergleichbare oder andere ethisch genauso miserabel zu bewertende Verhaltensweisen gibt, von denen wir bisher noch keine Kenntnis erlangt haben. Deswegen bin ich für die Kooperation dankbar. Es erfolgte bereits eine große Offenlegung; wir werten das Material noch aus. Die Hersteller waren kooperativ und haben sich in aller Form entschuldigt. Sie haben sich von der Lobbyvereinigung distanziert und ähnliche Tests für alle Zeiten ausgeschlossen.
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– Man kann doch berichten, dass das so gesagt worden ist.
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Wir werden auch verifizieren, dass das stattfindet. – Sie klären die Vorgänge intern auf und prüfen dabei auch, ob es weitere Vereinigungen wie die EUGT oder ähnliche Tests bzw. Forschungsprojekte gibt.
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– Lieber Herr Krischer, reizen Sie mich jetzt bitte nicht. Sie haben einen Untersuchungsausschuss beantragt, sich in den Untersuchungsausschuss gesetzt und dem von Ihnen gerade titulierten Herrn Greim, der von Tierversuchen gesprochen hat, zugehört,
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waren aber als Opposition offensichtlich nicht in der Lage, das zu thematisieren. Das ist doch das Instrument der Opposition. Wo waren Sie denn?
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– Moment, lieber Herr Krischer! Ja, Sie waren dabei. Wieso haben Sie vor eineinhalb Jahren nichts gesagt?
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Mir ist jedenfalls nicht bekannt geworden, dass Herr Krischer bereits vor einem halben Jahr auf Tierversuche hingewiesen hat.
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Ich habe davon nichts gehört.
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Ich stelle fest: Es besteht ein Aufklärungswunsch, und Sie überblicken alles. Das ist wunderbar. Wir ziehen die Verantwortlichen ohne Rücksicht auf Rang und Namen zur Rechenschaft.
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Es sind auch erste personelle Konsequenzen gezogen worden, wie man hört und liest. Die Zusagen können nur erste Schritte sein. Ich erwarte jetzt von den Unternehmen, dass sie uns zeitnah ihre internen Prüfungsergebnisse vorstellen
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und verbindlich darlegen, wie sie sicherstellen, dass sich ihr Fehlverhalten nicht wiederholt. Ich empfehle dringend, dass sich die Unternehmen ein transparentes ethisches Prüfraster geben, das solches Fehlverhalten verhindert.
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Es wäre eine ähnliche Reue und Einsicht notwendig für vieles, insbesondere im Zusammenhang mit dem Abgasskandal.
Zwei Sachverständige haben im Untersuchungsausschuss zur Abgasaffäre vor eineinhalb Jahren mehrfach von Tierversuchen berichtet. Die Stellungnahmen sind sogar auf der Homepage des Deutschen Bundestages veröffentlicht worden.
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– Wieso haben Sie sich nicht gekümmert?
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– Ich dachte immer, Untersuchungsausschüsse, von denen ich aus der Opposition heraus auch einige bestritten habe, sind Instrumente der Opposition.
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– Herr Krischer, Sie waren Obmann im Untersuchungsausschuss.
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– Aber Sie haben zu den Punkten leider nichts gesagt.
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Meine Damen, meine Herren, es ist eine eigenartige Vorstellung, über diese Themen zu reden, ohne die ethischen Grundlagen zu akzeptieren. Natürlich muss alles auf den Tisch. Es geht überhaupt nicht, dass versucht wird, die Unschädlichkeit der Abgase nachzuweisen, indem man Tests macht, die ethisch problematisch und für Tiere und Menschen gefährlich sind. Da gibt es kein Pardon; da gibt es eine klare Linie. Darüber hinaus will ich bei dem entscheidenden Thema vorankommen, wie wir in der Zukunft eine Verbesserung der Luft durch eine Senkung des Stickoxidausstoßes erreichen.
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Einiges haben wir in der letzten Zeit erreicht. Ich erinnere nur an den Mobilitätsfonds von 1 Milliarde Euro. Ich erinnere daran, dass wir mit den Kommunen im intensiven Gespräch sind. Gott sei Dank sind von den 70 Kommunen im Ergebnis nur 20 besonders betroffen. Für die müssen wir schnell Lösungen finden und weitere Maßnahmen ergreifen. Wir werden das tun. Das haben wir mit den Ministerpräsidenten, den Bürgermeistern, aber auch der Automobilwirtschaft besprochen. Sie hat hier eine Bringschuld, und wir werden diese Bringschuld einfordern.
Ich empfehle also, in Untersuchungsausschüssen die Texte genau zu lesen. Dann muss man hinterher nicht so erbost sein.
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Die Tierschutzthematik betrifft mich in meiner Zuständigkeit als Minister.
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– Hören Sie doch einfach einmal zu.
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Überwiegend hat im Moment der Herr Bundesminister das Wort.
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Wir haben das Deutsche Zentrum zum Schutz von Versuchstieren am Bundesinstitut für Risikobewertung eingerichtet. Wir fördern mit jährlich rund 5 Millionen Euro den Forschungsschwerpunkt „Ersatzmethoden zum Tierversuch“. Damit ist nicht diese Art von Tierversuchen gemeint. Aber es ist wichtig, den Respekt vor dem Tier auch in die Etagen zu bringen, in denen über solche Dinge entschieden wird. Das ist die eigentliche Aufgabe.
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Für die SPD-Fraktion hat die Abgeordnete Kirsten Lühmann das Wort.
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Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kollegen und Kolleginnen! Werte Zuhörende! „Politiker und Aufsichtsräte, die nichts hören, nichts sehen und nichts fühlen, braucht kein Mensch.“
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Das war das Fazit des Morgenbriefings des „Handelsblatts“ am Dienstag dieser Woche. Wir haben an dem Applaus gehört: Wir alle können dem zustimmen. Allerdings: Herr Krischer, Herr Lange und ich – wir sind namentlich erwähnt worden – gehörten zu dieser Kategorie. Wir sehen das auch an der Debatte. Wir fangen schon wieder mit genau der Debatte an, die uns die Presse aufzwingen will: Wer musste wann was gelesen oder gefragt haben? Dabei ist das doch gar nicht die Frage.
Was war denn wirklich los? Am 8. September 2016 haben wir im Untersuchungsausschuss beschlossen, dass wir vier Sachverständige einladen, die uns darlegen sollten, welche Wirkung Stickoxide auf den menschlichen Organismus haben. Von diesen vier Sachverständigen haben uns zwei, nämlich Herr Greim und Herr Kuhlbusch, erklärt, dass ihre Bewertungen auf Studien mit Menschen und Tierversuchen gründen, unter anderem Tierversuchen mit Ratten. Weder wir – das stimmt – noch die anwesenden Journalisten – es waren Journalisten im Raum –
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noch diejenigen, die hinterher oder vorher die veröffentlichten Stellungnahmen gelesen haben, haben nachgefragt. Fühlen die denn alle nichts, meine Kolleginnen und Kollegen? Das ist doch Quatsch. Darum geht es in dieser Debatte überhaupt nicht.
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Worum es geht, hat dankenswerterweise die sachliche Berichterstattung vieler Medien in dieser Woche dargelegt. Es geht nicht um die Frage: Gab es Tierversuche oder nicht? Die machen alle. Auch in der Studie der Weltgesundheitsorganisation, auf der alle unsere Grenzwerte, auch in Europa, fußen, wurde eindeutig festgestellt: Ja, Stickoxide sind giftig, sind gefährlich für den Menschen. – Woher weiß die Organisation das? Weil sie Tierversuche und Studien mit Menschen gemacht hat. Das hat in diesem Untersuchungsausschuss niemand bezweifelt. Das ist nicht der Skandal. Der Skandal – darum ist es gut und richtig, dass wir heute darüber reden – ist, dass es Versuche mit Tieren gab, die keinen Erkenntnisgewinn gebracht haben. Die Tiere sind gequält worden, ohne dass es irgendein vernünftiges Ergebnis gab, das man hätte verwerten können. Das ist der Skandal, und das müssen wir zukünftig verhindern.
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Ich sage Ihnen aber ganz deutlich: Diese Versuche und Studien sind nach allem, was wir wissen, sowohl in den USA als auch in Europa legal.
Was sagt das deutsche Recht? Das deutsche Recht sagt: Tieren darf nicht ohne Grund Schmerzen zugefügt werden, und wenn es einen Tierversuch gibt, muss er einen Erkenntnisgewinn haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt sind wir in einem Dilemma. Wir haben in Deutschland – zu Recht aus meiner Sicht – die Freiheit von Forschung und Lehre. Das ist ein hohes Gut; das wollen wir auf alle Fälle erhalten. In der Frage, ob diese spezielle Studie, über die wir heute reden, einen Erkenntnisgewinn hat, sind wir uns alle einig: Nein, die hatte sie nicht.
Aber was machen wir in Grenzfällen? Wer soll denn entscheiden, ob eine Studie einen Erkenntnisgewinn hat oder nicht? Liebe Kolleginnen und Kollegen, uns ist die Freiheit von Forschung und Lehre ein sehr hohes Gut. Aber es gibt andere Möglichkeiten, um zum Ziel zu kommen, und zwei davon vertreten wir auch schon, und zwar erstens, die Zahl der Tierversuche zu senken. Diese Bundesregierung fördert mit öffentlichen Geldern die Forschung nach Alternativen. Das Zweite ist – das wäre auch in diesem Fall eine sehr gute Möglichkeit gewesen – eine öffentlich zugängliche Datenbank, in der alle Tierversuche mit Ergebnissen enthalten sind. Das haben wir derzeit nämlich nur für klinische Studien. Wir brauchen auch etwas für Tierversuche, damit es keine Doppelung bei Tierversuchen gibt. Was schon an Tieren erforscht wurde, darf nicht noch einmal an Tieren erforscht werden.
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Aber wir hätten ein Mittel der Wahl, das sehr effektiv und sofort wirksam wäre. Das hat die SPD schon oft gefordert, nämlich mehr Transparenz beim Lobbying und ein Lobbyregister. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt einige in diesem Haus, die dagegen Vorbehalte haben. Bitte gehen Sie auch im Lichte dieser Vorkommnisse noch einmal in sich! Überlegen Sie, ob das nicht doch das Mittel der Wahl sein kann! Denn die schon erwähnte „Europäische Forschungsvereinigung für Umwelt und Gesundheit im Transportsektor“ konnte doch nur deshalb diese Versuche machen und damit in der Öffentlichkeit hausieren gehen, weil niemand wusste, wer sie bezahlt hat.
Wenn wir fordern, dass bei solchen Studien künftig an prominenter Stelle vorne drinstehen muss, wer letztendlich das Geld dafür gegeben hat, dann gibt es keinen Anreiz mehr für Tierversuche, die allein der Imagepflege der Industrie dienen. Das könnten wir hier und jetzt machen. Wir fordern ein Lobbyregister, liebe Kollegen und Kolleginnen.
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Damit könnten wir verhindern, dass Tiere aus unlauteren Gründen für Versuche missbraucht werden.
Auch zu den freiwerdenden Gelder, die die Automobilindustrie in Deutschland jetzt für eine Initiative für Luftreinhaltung in Städten ausgeben will, hätte die SPD einen guten Vorschlag – das fordern wir seit über einem Jahr –: Liebe Industrie, geben Sie das Geld aus für eine vernünftige Hardwareumrüstung von alten Dieselfahrzeugen!
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Dann haben wir sofort bessere Luft für die Menschen in unseren Städten.
Herzlichen Dank.
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Zu seiner ersten Rede im Deutschen Bundestag erhält der Abgeordnet Detlev Spangenberg aus der AfD-Fraktion das Wort.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! „Abgasversuche an Menschen und Affen“ ist das Thema, eingebracht von Bündnis 90/Die Grünen, ein sehr reißerischer Titel. Was steckt nun eigentlich dahinter? Zwei unterschiedliche Sachverhalte werden hier in einer unverantwortlichen Art und Weise miteinander vermischt: zum einen die Tierversuche mit Abgasen und zum anderen ein Probandenversuch an der Uniklinik in Aachen mit reinem Stickstoffdioxid.
Was ist wirklich passiert, meine Damen und Herren? Darauf will ich näher eingehen. Das Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen unter der Leitung von Professor Thomas Kraus erklärt: Die Initiative zu diesem Test kam vonseiten der Senatskommission der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen der damaligen Diskussion zur Änderung von Grenzwerten an Arbeitsplätzen – nicht im Straßenverkehr, nicht mit Autos, sondern an Arbeitsplätzen. Und: Diese Studie war ein Teil einer neuen Auflage mit feineren Messmethoden. Man wollte reines Stickstoffdioxid auf seine Wirkung testen.
Die Probanden wurden geringen und kurzzeitigen Belastungen mit Stickstoffdioxid ausgesetzt. Das ist Fakt. Was heißt „gering“? „Gering“ heißt: unter den Werten von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter. „Kurzzeitig“ heißt: kleiner 1 Stunde. Die Europäische Forschungsvereinigung für Umwelt und Gesundheit im Transportsektor – das wurde eben schon angesprochen –, finanziert von VW, Daimler und BMW, hat das finanziert, um eine Belastung am Arbeitsplatz zu untersuchen. Sie wollten die Werte wissen.
Zu dieser indirekten Finanzierung der Studie sagt Professor Kraus von der RWTH Aachen, die Autokonzerne hätten keinen Einfluss auf den Versuch oder die Interpretation der Ergebnisse gehabt. Diese Erklärung müssen wir erst einmal so hinnehmen. Es ging um eine Studie an Menschen mit reinem Stickstoffdioxid, um Grenzwerte für Belastungen am Arbeitsplatz zu ermitteln. 25 Personen wurden einem Test unterhalb des Grenzwertes ausgesetzt. Es geht also nicht um Abgase aus Dieselmotoren – das müssen wir unterscheiden –, sondern allein um reines Stickstoffdioxid. Die Abgase aus einem Dieselmotor enthalten wesentlich mehr Schadstoffe.
Versuche an Probanden sind nichts Neues. Wie wir gerade gehört haben, unterziehen sich Zehntausende Probanden per annum freiwillig Versuchen in der Medizintechnik. Es ist auch festzustellen, dass die Studie vor dem Dieselskandal initiiert wurde. Es besteht auch kein Zusammenhang mit den in den USA durchgeführten Versuchen an Tieren, zumindest nicht, was die in Rede stehende Studie in Aachen betrifft.
Nun ein sehr wichtiger Punkt, den schon die Vorrednerin angesprochen hat. Es gibt eine Ethikkommission. Diese hat zum Beispiel nach § 40 Absatz 1 des Arzneimittelgesetzes und § 20 des Medizinproduktegesetzes eine klare Aufgabe und Struktur. Sie besteht aus Ärzten, Juristen, Pharmakologen, Apothekern, Ethikern usw. Sie berät Ärzte bei Versuchen und hat auch das Recht, zu sagen: Der Versuch darf nicht durchgeführt werden.
Bei der Genehmigung eines Versuchs müssen zwei wesentliche Kriterien erfüllt sein: erstens keine wesentlichen gesundheitlichen Schäden bei den Probanden und zweitens Freiwilligkeit.
Insofern verstößt die in Rede stehende Studie bei aller Kritik nicht gegen geltendes Recht. Wenn solche Versuche als kritikwürdig anzusehen sind, muss das Recht geändert werden. Jedenfalls hat man sich in Aachen, gemessen an der Gesetzeslage, nicht sträflich falsch verhalten.
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Die Vorwürfe gegenüber der Rheinisch-Westfälischen TH Aachen, der Europäischen Forschungsvereinigung oder der Autoindustrie sind aus meiner Sicht nichts anderes als der Versuch, einen Skandal ohne Substanz aufzubauen.
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Ich beziehe mich hierbei auf die Studie in Aachen. Die Vorwürfe sind ohne Substanz. Hier hat man sich im Rahmen des geltenden Rechts bewegt.
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Wenn man solche Studien für falsch hält, muss man das geltende Recht ändern. Die Wissenschaftler haben sich jedenfalls im Rechtsrahmen bewegt.
Ihre Kritik ist undifferenziert, da sie unverantwortlicherweise suggeriert, dass in Deutschland Abgasversuche an Menschen durchgeführt werden. Das waren keine Abgase, wie Sie das darlegen, sondern das war ein Gas.
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Ich frage mich manchmal, welche Auflage die „Bild“-Zeitung hätte, wenn es die Fraktion der Grünen nicht gäbe. Ich glaube, dass die Zeitung dann nur noch aus einem Blatt bestünde.
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Diese Diskussionen mit den Grünen habe ich schon im Sächsischen Landtag durch; das ist nichts Neues für mich.
Die von Ihnen initiierte Diskussion ist unredlich. Das ist für mich bei Ihrer Partei nichts Ungewöhnliches. Es wäre aber besser, wir würden sachlich darüber reden.
Recht vielen Dank.
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Das Wort hat die Abgeordnete Judith Skudelny für die FDP-Fraktion.
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Liebe Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Empörungsgeschwader poltern wieder: „Abgasversuche an Menschen und Affen“! Es wird großgeredet und viel Staub aufgewirbelt. Bei aller berechtigten Kritik muss man unterscheiden. Der politische Beifang, den wir durch diese Empörung erhalten, ist nichts anderes als Kritik am Wissenschafts- und Forschungsstandort Deutschland. Im Kern geht es um zwei Studien: eine Studie, die in den USA an Affen durchgeführt wurde, und eine andere Studie, die in Deutschland durchgeführt wurde. Bei der Studie in Deutschland ging es in der Zielsetzung darum, nachzuweisen, ob schon unterhalb der bestehenden Grenzwerte Gesundheitsschädigungen beim Menschen auftreten können. Das ist sicherlich eine Zielsetzung, die die Mehrheit dieses Hauses befürwortet; denn hier geht es um zusätzlichen Gesundheitsschutz. Diese Studie wurde von einer Ethikkommission genehmigt.
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Wenn eine Studie, die mit öffentlichen Mitteln finanziert wird, ethisch richtig ist, dann kann sie nicht ethisch unrichtig sein, wenn sie von privater Seite finanziert wird.
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Etwas komplett anderes ist die Studie an Affen in den USA. Herr Krischer hat richtig dargelegt, was dort gemacht wurde. Dort wurden Tests an Affen durchgeführt, nur um die PR für eine bestimmte Technologie bzw. für einen bestimmten Konzern zu verbessern. Das ist weder ethisch nachvollziehbar noch sonst in irgendeiner Weise als Handlung eines deutschen Konzerns duldbar.
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Die wichtige Frage, die sich in diesem Zusammenhang aber stellt, ist: Warum schon wieder VW?
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Sie ist leider sehr leicht zu beantworten: VW hat seit 2015 offenbar nichts dazugelernt. Reue und Vertrauen erzeugt man erst einmal durch vorbehaltlose Transparenz.
Tatsächlich ist es so, dass hinsichtlich der Veröffentlichung der Studie an Affen in den USA im Moment ein Gerichtsverfahren anhängig ist. Einen Vorstandsvorsitzenden, zwei Compliance-Beauftragte später ist VW nach wie vor nicht bereit, absolute Offenheit in Sachen Dieselskandal und Studien zu praktizieren. Das ist eines der großen Probleme, die wir hier diskutieren sollten.
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Dabei stellt sich im Hinblick auf den aktuellen Vorstandsvorsitzenden von VW die Frage: Kann er keine oder will er keine Transparenz schaffen? Für die Aktionäre, übrigens auch für die staatlichen Aktionäre in Niedersachsen, sollte sich daraus die Frage ergeben: Ist er nicht fähig, den Konzern so zu leiten, dass alles transparent gemacht wird, oder ist er ethisch nicht willens, das zu machen? Das sind Fragen, die sich die Aktionäre heute mehr denn je stellen sollten.
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Drei kurze Botschaften zum Abschluss.
Die erste Botschaft, an die linke Seite des Hauses gerichtet: Die USA sind offensichtlich besser darin, Verbraucher- und Umweltschutzskandale aufzudecken. Wir in Europa haben offensichtlich höhere ethische Werte. TTIP wäre eine Möglichkeit gewesen, beides für beide Kontinente zum besseren anzuwenden.
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Die zweite Botschaft, mit Blick auf VW: Bitte machen Sie jetzt reinen Tisch. Die Mehrheit dieses Hauses steht nach wie vor zur deutschen Automobilindustrie. Die Mehrheit dieses Hauses steht nach wie vor zum Diesel als Zukunftstechnologie.
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Machen Sie es uns doch nicht so schwer, auch zu ihrem Konzern zu stehen.
Dritte Botschaft: Wenn es in diesem Zusammenhang pauschale Reaktionen gibt, dann sollte jedem, also auch jedem Einzelnen in diesem Haus, klar sein, dass die Zukunft Deutschlands im Fortschritt und in der Forschung liegt. Wenn etwas Studien einer deutschen Universität mit ethisch höchsten Maßstäben betrifft, dann sollte die pauschale Reaktion sein, dass wir den Forschungsstandort Deutschland verteidigen.
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Das Wort hat die Abgeordnete Ingrid Remmers für die Fraktion Die Linke.
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Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Jetzt fasse ich kurz zusammen, worüber wir hier heute eigentlich reden: Wir reden über wichtige Akteure der Autoindustrie, die eine Forschungsvereinigung gegründet haben, die im wissenschaftlichen Sinne gar keine ist. Mittels dieser Forschungseinrichtung sollten vermeintlich wissenschaftliche Nachweise über die Unbedenklichkeit von Stickoxiden erbracht werden, welche eben nicht unbedenklich sind. Um also zu beweisen, dass sich alle Welt einschließlich der Weltgesundheitsorganisation irrt, wurden Tiere und Menschen in perfiden Versuchen giftigen Gasen ausgesetzt. Das ist erbärmlich.
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Abgesegnet wurden diese Versuche, die zu reinen PR-Zwecken durchgeführt wurden, von einer universitären Ethikkommission, die offenbar unter Vorspiegelung falscher Tatsachen ihre Genehmigung erteilt hat.
Nachdem nun alles aufgeflogen ist, gaukelt uns die Autoindustrie wieder einmal große Betroffenheit vor und bringt ein paar Bauernopfer aus der zweiten Reihe, und das ist schäbig.
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Kolleginnen und Kollegen, wir reden hier über einen Skandal, der bereits im dritten Jahr in Folge ungelöst ist. Die Ignoranz der Autoindustrie gegenüber den gesetzlich festgesetzten Grenzwerten und die Ignoranz der Bundesregierung gegenüber allen Verstößen bis hin zu kriminellen Handlungen haben dazu geführt – ich spitze jetzt einmal ein bisschen zu –, dass wir alle, die gesamte Bevölkerung, inzwischen quasi Versuchstiere in einem deutschlandweit angelegten Abgastest sind,
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und das finde ich unerträglich.
Ob wirklich Rechtsverstöße vorliegen oder nur Gesetzeslücken genutzt wurden, ist hier völlig unerheblich. Wirklich entscheidend ist doch, dass viele Menschen, insbesondere in der Nähe von stark befahrenen Straßen, seit Jahren viel mehr Abgase einatmen, als zulässig ist. Sie bekommen Asthma, Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Wenn also die Autoindustrie seit Jahren die gesetzlich geregelten Abgasgrenzwerte bewusst überschreitet, die Menschen also bewusst diesen Risiken aussetzt und sie dabei nicht nur völlig im Unklaren darüber lässt, nein, sie auch noch permanent belügt und täuscht, dann ist das in meinen Augen strafbar, und damit muss endlich Schluss sein.
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Aber, Kolleginnen und Kollegen, die politische Verantwortung für diese nicht abreißen wollende Kette von Skandalen trägt eindeutig eine abgewirtschaftete Bundesregierung: eine Umweltministerin Hendricks, die das Thema Luftreinhaltung irgendwie verschlafen hat,
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ein nicht mehr amtierender Verkehrsminister Dobrindt, der bayerischen Hirngespinsten hinterherläuft, und schließlich eine Bundeskanzlerin Merkel, die die Interessen der Autoindustrie offenbar über alles stellt. Liebe Bundesregierung, wir brauchen endlich einen gesetzlichen Rahmen. Hören Sie auf, mit der Autoindustrie zu kuscheln, und ziehen Sie die notwendigen Schlussfolgerungen aus dieser Never-ending Story!
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Dazu gehört zuallererst die gesetzliche Verpflichtung der Autoindustrie zur flächendeckenden Nachrüstung mit SCR-Systemen in allen 7 bis 8 Millionen betroffenen Fahrzeugen. Nur so kann relativ schnell eine effektive Senkung der Stickoxidwerte überhaupt erreicht werden.
Und leiten Sie endlich Strafzahlungen für die Autoindustrie ein! Wie kann es sein, dass die Autoindustrie seit Jahren Autos verkauft, die viel mehr Schadstoffe ausstoßen, als in ihren Hochglanzbroschüren und bei der Zulassung angegeben worden ist, und der ganze Vorgang insgesamt straffrei bleibt? Überlegen Sie doch einmal, was für ein Signal Sie damit senden! Sie sagen doch damit: Die Autoindustrie steht über dem Gesetz. Die Gesetze gelten für normale Menschen, aber nicht für die deutsche Autoindustrie.
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Die darf selbst entscheiden, wann sie welches Fehlverhalten einräumt und wann sie gedenkt – aber auch nur freiwillig – Abhilfe zu schaffen. Dem Ganzen die Krone setzt noch die Tatsache auf, dass die Autoindustrie gerade wieder kräftig verdient, unter anderem mit ihren eigenen Betrügereien.
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Das ist doch eine Farce.
Ein letzter Punkt: Im Übrigen könnten die Mittel aus Strafzahlungen sinnvoll an die Kommunen weitergeleitet werden, die Ihre bisherige Ignoranz jetzt ausbaden müssen und oft nicht einmal die Eigenbeteiligung aufbringen können, um Ihr neuestes Alibiprojekt „Sofortprogramm Saubere Luft“ vor Ort auch umsetzen zu können.
Als Linke fordern wir Sie auf: Nehmen Sie endlich Ihre politische Verantwortung wahr, für die Menschen und für die Umwelt, und helfen Sie den geprellten Autofahrern, deren Autos heute nichts mehr wert sind!
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat der Kollege Steffen Bilger für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Ende letzter Woche bekanntgewordenen Vorgänge im Zusammenhang mit Studien zur Auswirkung von Dieselabgasen und Stickoxiden bei Affen haben auch mich sehr betroffen gemacht. Keine Frage: Wir benötigen auch beim Thema „Saubere Luft“ mehr wissenschaftlich gesichertes Wissen. Doch Wissenschaft muss immer der Wahrheitsfindung dienen und in den Grenzen des ethisch und moralisch Vertretbaren stattfinden.
Es mag sein, dass man bei der Erforschung von Schadstoffen nicht immer ohne Untersuchungen auskommt, bei denen Tiere oder Menschen beteiligt sind. Die Hürden dafür aber sollten sehr hoch sein, und es sollten strenge Überprüfungen stattfinden. In jedem Fall sollten solche Versuche nur wissenschaftlichen Zwecken dienen und nicht zu Werbe- oder Marketingzwecken missbraucht werden.
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Ich kann es auch nur ganz klar sagen: Das, was wir bisher zu dem aktuellen Fall wissen, entspricht in keiner Weise ethischen und moralischen Maßstäben und ist deswegen nicht zu rechtfertigen.
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Eines will ich auch klar sagen: Stickoxide sind natürlich in großen Mengen für den Menschen schädlich; das steht ebenfalls außer Frage.
Wir haben jetzt eine Aktuelle Stunde am Ende der Sitzungswoche. Manchmal ist es ganz gut, dass sich die Aktuellen Stunden so über die Sitzungstage verteilen. Im aktuellen Fall haben wir in den letzten Tagen nämlich etwas mehr Klarheit bekommen, und es wurden auch bereits erste Konsequenzen gezogen.
Ganz klar: Die Hersteller sind gefordert, sicherzustellen, dass solche und andere Skandale, die uns in letzter Zeit immer wieder beschäftigt haben, endgültig nicht mehr vorkommen können. Das ist unsere klare Erwartung an die deutsche Automobilindustrie. Das sind die Unternehmen den Menschen in unserem Land, nicht zuletzt unserem Industriestandort und den Beschäftigten, aber auch den Autokäufern schuldig. In Zukunft müssen endlich wieder positive Nachrichten für die deutsche Automobilindustrie stehen.
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Als Bundestagsabgeordnete beschäftigen wir uns schon lange intensiv mit dem Abgasskandal und seinen Folgen. Wir haben Konsequenzen gezogen,
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und diese Konsequenzen führen zu Erfolgen. Gestern wurden Ergebnisse vorgelegt: Von 90 Städten, die noch 2016 die Stickstoffdioxidgrenzwerte überschritten haben, sind 20 2017 unter die Grenzwerte gekommen, und auch bei den restlichen 70 entwickeln sich die Werte überwiegend sehr erfreulich.
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Das ist auch bereits Folge der verschiedenen Maßnahmen, die bei den Dieselgipfeln zwischen Bund, Ländern und Städten vereinbart wurden.
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Meine Damen und Herren, diese Erfolge zeigen auch, dass die von Deutscher Umwelthilfe, von den Grünen, aber auch von den Linken und anderen verbreitete Hysterie völlig unangemessen ist.
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Es geht hier nicht um Aussitzen, sondern wir handeln. Sie reden die erzielten Erfolge klein, Sie überzeichnen Probleme – und das alles nur, weil es Ihnen in Ihr politisches Konzept passt.
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Wir aber lassen uns nicht beirren: Wir sind auf einem guten Weg und wir werden – das zeigen die Zahlen, die gestern vorgelegt wurden – die Ziele bei der Luftreinhaltung sehr bald erreichen.
Von den Grünen unterscheidet uns eines: Wir sind für alle Bürger da. Wir denken auch an die betroffenen Autofahrer, an die Pendler, an die Handwerker.
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Sie alle wären von den Fahrverboten, die Sie so herbeisehnen, betroffen.
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Wir wollen die verschiedenen berechtigten Interessen in Einklang bringen. Wir kämpfen aber auch für den Erhalt der vielen Arbeitsplätze, die in Deutschland am Automobil hängen.
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Dieser Blick auf alle Betroffenen unterscheidet uns von Ihnen. Er unterscheidet uns aber auch von manchem Automanager, wenn ich beispielsweise an die Äußerungen von VW-Chef Müller denke, der sich kürzlich für die sogenannte blaue Plakette und die Verteuerung von Diesel ausgesprochen hat. Da muss ich ganz klar sagen: Den Leuten erst Autos verkaufen und ihnen hinterher Fahrverbote und höhere Treibstoffpreise zumuten zu wollen, dafür fehlt mir wirklich jedes Verständnis, meine Damen und Herren.
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Stichwort „blaue Plakette“: Herr Krischer, Sie haben vorhin auch die Forderung erhoben. Dazu möchte ich sagen: Blaue Plakette klingt ja schön, aber letztendlich ist das eine andere Bezeichnung für ein ganzjähriges Fahrverbot für Millionen Autofahrer.
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Da gibt es definitiv klügere Lösungen.
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Wir haben diese Woche intensiv in den Koalitionsverhandlungen mit den Sozialdemokraten beraten, und wir haben uns auf den Umgang mit den Problemen bei der Luftreinhaltung in den Städten verständigt. Der Koalitionsvertrag ist noch nicht ausformuliert, aber uns eint der Ansatz, Fahrverbote zu vermeiden, Innovationen zu fördern, die Kommunen bei der Problemlösung massiv zu unterstützen und sicherzustellen, dass die Zukunft der Mobilität bei uns sichtbar wird – auf den Straßen genauso wie in den Fabriken unserer Hersteller und Zulieferer. Telematik, Digitalisierung im Verkehr, Ausbau des ÖPNV – das hilft, unsere Straßen zu entlasten. Hinzu kommen die Potenziale der Elektromobilität, aber auch die Brennstoffzellentechnologie genauso wie hocheffiziente und saubere Verbrennungsmotoren, die Abgase sicher und effizient reinigen und zukünftig vermehrt mit E-Fuels aus erneuerbaren Energien oder übergangsweise mit Gas betrieben werden können. Diesen Weg werden wir weitergehen. Alle Beteiligten sind gefordert. Von der Industrie erwarten wir, mutig und mit ambitionierten Zielen voranzugehen.
Um es abschließend noch einmal sehr deutlich zu sagen: Mut und ambitionierte Ziele sind wichtig, das Handeln der Unternehmen muss dabei aber auf festen moralischen und ethischen Grundpfeilern ruhen, um zukünftig glaubhaft und erfolgreich zu sein. Das ist unsere klare Erwartung.
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Die Abgeordnete Ulli Nissen hat für die SPD-Fraktion das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Oben auf der Tribüne möchte ich besonders meine Schülerpraktikantin Rojda aus Frankfurt begrüßen. Liebe Rojda, danke, dass du mich drei Wochen so toll begleitet hast.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, am Wochenende saß ich beim Neujahrsempfang eines Vereins mit Mitarbeitern von VW zusammen. Diese berichteten mir, dass sie froh sind, dass sich die Aufregung um die Abgasmanipulationen so langsam wieder legt. Viele der Beschäftigten hätten sich geschämt, dass ihr Unternehmen an so etwas Miesem beteiligt ist.
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Einen Tag später kommt raus, dass VW neben Daimler und BMW an den sehr schäbigen Abgastests an Affen und wohl auch an Menschen beteiligt war. Die Belegschaft an der Basis der Automobilunternehmen muss jetzt wieder das ausbaden, wofür die Konzernspitze verantwortlich ist. Ihnen an der Basis, liebe Kolleginnen und Kollegen bei VW, gilt meine volle Solidarität.
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Warum wurde eine Studie in Auftrag gegeben, die gut 600 000 Euro gekostet hat? Nach der Meinung von Experten steht sie angeblich im Zusammenhang mit einer Veröffentlichung der Weltgesundheitsorganisation, die Dieselabgase als krebserregend eingestuft hatte. Da wollten die Automobilunternehmen wohl eine Studie, die etwas anderes beweist. Da sie eine solche nicht im eigenen Namen beauftragen konnten, nutzten sie dazu ein Lobbybündnis. Aber dummerweise entsprachen die Ergebnisse nicht den Vorstellungen von VW; denn auch beim modernen Dieselfahrzeug stellten die Forscher kritische Effekte fest, als sie den Affen später Blut abnahmen und Lungenabstriche machten. Es kam zu erhöhten Entzündungswerten und Reizungen. Zufälligerweise wurden die Untersuchungsergebnisse nicht veröffentlicht.
Die Aussage des niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil – ich zitiere –: „Zehn Affen stundenlang mutwillig Autoabgase einatmen zu lassen, um zu beweisen, dass die Schadstoffbelastung angeblich abgenommen habe, ist widerlich und absurd“, hat meine volle Unterstützung.
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Wir alle wissen, wie gefährlich Stickoxide sind, die in großer Menge durch Dieselfahrzeuge emittiert werden. Laut einer Studie des Fachmagazins „Nature“ gab es im Jahr 2015 107 000 frühzeitige Todesfälle aufgrund von Dieselstickoxidemissionen. 107 000 Menschen, 107 000 Schicksale und die Schicksale der Angehörigen! Diese Zahlen zeigen: Wir müssen dringend handeln, um die durch den Autoverkehr verursachte schlechte Luftqualität zu verbessern. Ich versuche, mit gutem Beispiel voranzugehen. Mehr als 90 Prozent meiner Fahrten in Frankfurt erledige ich elektromobil: seit neun Jahren mit einem Elektroroller und seit fünf Jahren mit meinem kleinen Twizy.
Auf dem sogenannten Dieselgipfel im August 2017 sagten die deutschen Hersteller „großzügigerweise“ zu, 5 Millionen Fahrzeuge mit einem Softwareupdate auszustatten. Eine technische Nachrüstung – insbesondere auch die Kostenübernahme dafür – wurde von den Unternehmen abgelehnt. Vom damaligen Verkehrsminister und jetzigem CSU-Fraktionsvorsitzenden, Herrn Dobrindt, wurde dies leider so akzeptiert. Mit Ärger erinnere ich mich noch an die Aussage von VW-Chef Müller: „Ich möchte meine Ingenieure ... zukunftsorientiert arbeiten lassen.“ Er kümmerte sich nicht um die manipulierten Autos aus der Vergangenheit. Auch das ist schäbig, Herr Müller.
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Herr Dobrindt ist leider nicht da, aber ich sage es trotzdem: Herr Dobrindt, auf Ihre heftigen Attacken auf die SPD bezüglich unserer Forderungen für einen besseren Familiennachzug hätten wir gut verzichten können.
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Herr Dobrindt, solche Aussagen hätte ich mir gegenüber der Automobilindustrie mit der Forderung gewünscht, nicht nur die Kosten des Softwareupdates zu übernehmen, sondern auch die Kosten der technischen Nachrüstung. Ich bin sehr dankbar, dass unsere Bundesumweltministerin Barbara Hendricks diese Kostenübernahme gefordert hat.
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Bisher argumentierten viele, Nachrüstungen seien nicht machbar. Nun spricht sich aber ein Gutachten der TU München, das im Auftrag der Bundesregierung erstellt wurde, für die Nachrüstung sogenannter SCR-Katalysatoren aus. Eine Softwareoptimierung bringt etwa eine Reduzierung um 25 Prozent. Eine technische Nachrüstung bringt dagegen eine Reduzierung der giftigen Stickoxide um 90 Prozent. Autos mit dieser Technik könnten von drohenden Fahrverboten in deutschen Städten ausgenommen werden. Die Nachrüstung der Fahrzeuge kostet etwa 1 300 Euro. Alleine mit den Kosten für die empörende Studie, über die wir heute diskutieren, hätten fast 500 Autos umgerüstet werden können.
In den USA muss VW viele Milliarden Euro Strafe für die Manipulationen bezahlen. Was müssen VW und die anderen Unternehmen hier bezahlen? Warum lassen wir bisher unsere Bürgerinnen und Bürger im Stich, denen manipulierte Autos verkauft wurden?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns die Automobilindustrie dazu verpflichten, die Kosten für die technische Nachrüstung solcher Fahrzeuge zu bezahlen. Das wäre doch ein schönes Signal an die Bürgerinnen und Bürger.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat der Abgeordnete Marc Bernhard für die AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die von der Automobilindustrie beauftragten Abgastests mit Affen sind in jeder Hinsicht eine abscheuliche Vorstellung. Diese – in Anführungszeichen – „Forschungsarbeiten“ sind in keiner wie auch immer gearteten Weise zu rechtfertigen.
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Sie sind unethisch in ihrer Konzeption, sie sind unprofessionell in ihrer Durchführung, und vor allem sollten ihre Ergebnisse offenbar in fragwürdiger Weise instrumentalisiert und sogar manipuliert werden. Sie sind damit ein Tiefpunkt in einer Reihe von Maßnahmen und zeigen, wie die deutsche Automobilindustrie in den letzten Jahren mit den Auflagen zum Schutz unserer Umwelt umgegangen ist.
Nur eines, meine sehr geehrten Damen und Herren: Diese Tierversuche waren bislang nicht unbekannt. Denn den Politikern der Altparteien – wir haben es vorhin schon gehört – wurde im VW-Untersuchungsausschuss in der öffentlichen Anhörung am 8. September 2016 ausführlich von diesen Tierversuchen berichtet. Da saßen beispielsweise der verkehrspolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Ulrich Lange, Kirsten Lühmann, die wir schon gehört haben, der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen, Oliver Krischer, und das alles unter dem Vorsitz des Linkenpolitikers Herbert Behrens.
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Trotz dieser ausführlichen Hinweise auf Tier- und Menschenversuche ist im Protokoll, wie Sie selber zugegeben haben, keine einzige Nachfrage von Ihnen zu diesen Versuchen dokumentiert. Auch in Ihrem Abschlussbericht sind Ihnen diese Tier- und Menschenversuche ganz offensichtlich kein einziges Wort wert.
Damals, 2016, haben Sie geschwiegen. Heute, fast zwei Jahre später, skandalisieren Sie diese Vorgänge.
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Daran sieht man ganz deutlich, dass es Ihnen hier nicht um das Wohl dieser armen Geschöpfe geht, sondern einzig und allein um Ihre eigene Seligsprechung und die ideologisch motivierte Verteufelung des Dieselmotors.
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Hätten Sie, verehrte Kollegen der schon länger hier sitzenden Parteien, sich die Berichte über die heute diskutierten Tests mit menschlichen Probanden einmal genau durchgelesen, hätten auch Sie feststellen müssen, dass die verwendeten Schadstoffkonzentrationen gerade einmal 30 Prozent der an Arbeitsplätzen zulässigen Grenzwerte betragen haben, also deutlich unter den Konzentrationen lagen, die an vielen Arbeitsplätzen in Deutschland auftreten. Und wieder geht es Ihnen ganz offensichtlich nur um bloße Panikmache, Selbstdarstellung und um Ihren ideologisch motivierten Kampf gegen das Auto.
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Wenn es Ihnen wirklich um die Gesundheit der Menschen geht, wo bleibt dann eigentlich Ihr Aufschrei gegen die zigfach höheren Schadstoffbelastungen an den Arbeitsplätzen der Menschen in unserem Land?
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Wenn es irgendetwas an diesen Versuchen zu skandalisieren gibt, dann ist es doch die Tatsache, dass es offenbar immer noch keine öffentlich finanzierten, seriösen Forschungsdaten zu den langfristigen Gesundheitsgefahren durch Stickoxide gibt. Warum ermöglicht die Bundesregierung in diesem Fall mit ihrer Untätigkeit einem zweitklassigen Prüflabor irgendwo in Albuquerque in der Wüste von Neumexiko, in einem solchen Ausmaß Einfluss auf deutsche Umweltdebatten zu nehmen?
Ich klage hier auch eine rot-grüne Augen-zu-und-durch-Mentalität an, die an dieser Stelle nachwirkt und die durch ihre hohen Auflagen und mediale Meuchelei wieder eine Hightech-Branche in Deutschland in Verruf bringen will.
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Während für Autos ganz scharfe Schadstoffgrenzwerte gelten, wird am Arbeitsplatz eine viel höhere Belastung akzeptiert. Zur Erinnerung: Der Grenzwert für Stickstoffdioxidkonzentration in der Außenluft beträgt gerade einmal 40 Mikrogramm pro Kubikmeter. Am Arbeitsplatz sind dagegen bis zu 950 Mikrogramm pro Kubikmeter, also das 24-Fache, erlaubt.
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– Hören Sie einfach mal zu. Vielleicht lernen Sie noch etwas.
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Also: An Straßenkreuzungen, wo man sich nur wenige Minuten aufhält, ist der Grenzwert 24-mal strenger als am Arbeitsplatz, wo sich die Menschen acht oder mehr Stunden jeden Tag aufhalten.
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Das, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist der wirkliche Skandal hier.
(Beifall bei der AfD – Kirsten Lühmann [SPD]: Der Skandal ist, dass Sie den Bericht nicht lesen! Keine Ahnung zu haben, das ist der Skandal!
Der Schutz von Menschen muss Vorrang vor der ideologisch motivierten Verdammung der Autohersteller haben.
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Bei dieser Debatte geht es Ihnen, werte Kollegen von der Grünenfraktion, eben nicht um den Schutz der Menschen, sondern um eine Vertuschung Ihrer eigenen Versäumnisse im Untersuchungsausschuss und um eine rein ideologisch motivierte Verteufelung der Automobilindustrie. Das ist mit uns nicht zu machen, meine sehr geehrten Damen und Herren.
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Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Abgeordnete Michael Donth.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir halten hier heute eine Aktuelle Stunde ab. Aus welchem aktuellen Anlass wir das tun, interessiert die Zuhörer vielleicht auch. Zeitungsberichte haben in die Öffentlichkeit gebracht, dass eine von deutschen Autokonzernen finanzierte Forschungsgemeinschaft Abgasversuche an Menschen und in den USA auch an Affen hat vornehmen lassen.
Der von der Grünenfraktion erhobene Vorwurf lautet nun, die Bundesregierung hätte von diesen Tierversuchen gewusst. Das sei schließlich im September 2016, also schon vor anderthalb Jahren, im Untersuchungsausschuss berichtet worden.
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– Herr Krischer, Sie waren doch auch dabei. Die Frage wurde heute schon gestellt; die müssen Sie sich gefallen lassen: Wo war denn damals Ihre Reaktion?
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Was ist denn jetzt diese neue Enthüllung, die anderthalb Jahre später eine Aktuelle Stunde rechtfertigt?
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Keine Frage: Diese Tests sind ethisch und auch vom Erkenntnisgewinn her mehr als fragwürdig. Deshalb kann ich mich den Ausführungen unseres Ministers und auch meines Kollegen Steffen Bilger nur anschließen:
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Das muss und wird – da bin ich mir sicher – aufgeklärt werden.
Aber mindestens genauso sehr wie über das instinktlose Verhalten der deutschen Autobauer rege ich mich darüber auf, wie undifferenziert, unehrlich und damit auch verantwortungslos hier wieder einmal Stimmung gegen den Diesel gemacht wird, und zwar zuallererst gegen den Diesel aus deutscher Produktion. Um nichts anderes geht es hier. Das hat ja auch die Rede des Kollegen Krischer belegt.
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Wo war denn die Aktuelle Stunde, als ganz aktuell und skandalös bekannt wurde, dass die Stickoxidbelastung am Neckartor in Stuttgart, dem schlechten Vorzeigebild, im Jahr 2017 nur noch an drei Stunden im ganzen Jahr – zulässig wären 18 Stunden gewesen – überschritten worden sind? Auch der Jahresmittelwert ist gesunken. Offensichtlich kann man das Problem peu à peu in den Griff bekommen – und zwar ohne Fahrverbote.
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Seltsamerweise findet diese Meldung in der öffentlichen Skandaldiskussion um Stickoxide kaum Widerhall. Warum nicht? – Weil diese Meldung eben dem Ziel, dem Diesel den Garaus zu machen, nicht dienlich ist.
Es ist notwendig, dass wir aufhören, die Menschen zu veräppeln und aufzuhetzen und einen Verleumdungsfeldzug gegen die deutsche Autoindustrie zu führen. Denn wozu führt das? Es führt dazu, dass wir am Ende vielleicht nur noch Elektroautos aus Fernost, vielleicht von der Marke des Hauptsponsors der Deutschen Umwelthilfe, kaufen,
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die sich dann aber Hunderttausende hier im Lande gar nicht mehr leisten können, weil sie in der deutschen Auto- und Zulieferindustrie ihren Job verloren haben.
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Ich lebe auf dem Land, in Römerstein auf der Schwäbischen Alb. Dort sind wir im Alltag auf unsere Autos angewiesen,
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und gerade weil wir viel fahren müssen, haben sich viele, wie zuletzt auch unser grüner Ministerpräsident, ein Dieselauto gekauft.
Diese Menschen werden durch diese permanenten Skandaldebatten zutiefst verunsichert. Sie sind besorgt, ob sie mit ihren Autos auch noch in Zukunft zur Arbeit nach Stuttgart fahren können oder ob sie sich nicht schnell ein neues Auto kaufen müssen. Das kann sich aber nicht jeder eben mal so leisten, einen Tesla schon gar nicht.
Dann kaufen sie sich lieber einen Benziner. Aber wir wissen ja auch, dass die Abgase der Benziner, was die CO 2 -Werte in der Luft angeht, noch negativer sind. Das ist Ihnen aber offensichtlich egal, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. Hauptsache: Der Diesel ist weg. Und dann kann man heftigst weiter kritisieren, dass wir die Klimaziele nicht einhalten.
Wie gesagt: Es ging mir heute nicht darum, diese ethisch fragwürdigen Tests oder Betrügereien zu verteidigen oder zu verharmlosen.
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Es ging mir darum, dass wir die Debatte über Abgasgrenzwerte, Dieselmotoren, Klimaschutz etc. ehrlich und sachlich führen. Dazu gehört eben nicht nur, dass die Betrügereien aufgeklärt werden, sondern auch, dass alle Fakten auf den Tisch gelegt werden, auch die, die vielleicht nicht in Ihr Weltbild hineinpassen.
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Das Wort hat Cem Özdemir für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Jeden Morgen stehen Männer und Frauen in der Bundesrepublik Deutschland auf, arbeiten hart, stellen Produkte her, die zu den besten in der ganzen Welt gehören. Darauf dürfen sie zu Recht stolz sein. Aber einige unverantwortliche Autobosse – nach der Debatte muss ich leider sagen: auch manche ihrer vermeintlichen Freunde in der Politik – gefährden genau diese Leistung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in diesem Lande.
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Wenn die heimische Autoindustrie trickst und täuscht, dann fällt das eben negativ zurück auf das Image unseres Landes. Es fällt aber vor allem zurück auf das „Made in Germany“, auf den Wirtschaftsstandort Deutschland. Ich würde mir wünschen, dass auch Sie das anerkennen und sehen. Es schadet der Gesundheit der Menschen in den Städten und Kommunen. Wir sind zuständig für die Jobs und für die Gesundheit. Hören Sie doch endlich einmal auf, das eine gegen das andere auszuspielen!
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Mit Blick auf den Regierungsbildungsprozess der angehenden Großen Koalition
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– ich lasse da jetzt keine Häme zu; denn sonst fällt es auf uns zurück; ich weiß, das werden wir jetzt dank FDP vier Jahre hören müssen –, habe ich aber doch noch einen Wunsch
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– das müssen Sie jetzt aushalten; ihr wisst ja auch, dass es so ist –:
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Bitte, liebe Kollegen von der CSU, hören Sie auf, das wichtige Ministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur als ein Strafbataillon zu betrachten. Das ist doch eines der wichtigsten Ministerien. Da schickt man seine besten Leute hin.
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Diesen Wunsch habe ich mit Blick auf die künftige Regierungsbildung. Das wäre doch einmal eine schöne Sache.
Eines überrascht mich dann doch sehr, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CSU: dass Sie so gar kein Interesse daran haben und sich so gar nicht zuständig fühlen für die Aufgabe, dass man geltendes EU-Recht erfüllen muss. Kollege Donth, Sie haben das Neckartor erwähnt. Ich habe gehofft, dass das diesmal nicht erwähnt wird. Da muss ich als Stuttgarter Wahlkreisabgeordneter sagen: Ich wäre doch sehr dankbar, wenn wir künftig national und international weniger über die Luft am Stuttgarter Neckartor sprechen würden, weil sie besser geworden ist, und dafür mehr über die sportlichen Leistungen des VfB Stuttgart, weil er besser geworden ist.
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– Da müsstest du eigentlich klatschen. – Ich habe vor allem wenig Verständnis dafür, dass die Bundesregierung sich weigert, die blaue Plakette einzuführen, weil sie das wirksamste Instrument ist und den Kommunen sofort helfen würde, für saubere Luft zu sorgen.
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Ich empfehle Ihnen einmal: Reden Sie mit Ihren Kollegen von der CDU in Baden-Württemberg. Die fordern das nämlich zu Recht mit uns gemeinsam. Ich glaube, die haben das verstanden. Dieser schwarz-rote Unwille zur Aufklärung und die falsch verstandene Freundschaft zu den falschen Leuten in den Automobilkonzernen und die Entschlossenheit, das Problem auszusitzen, haben den Abgasskandal zu einer Art unendlichen Geschichte gemacht, allerdings wesentlich weniger fantasievoll als bei Michael Ende im Original. Von Michael Ende stammt auch der großartige Satz – ich darf zitieren –:
Auf einem Dampfer, der in die falsche Richtung fährt, kann man nicht sehr weit in die richtige Richtung gehen.
Deshalb: Lassen Sie uns endlich umsteuern, damit wir uns nicht die gesamte Legislaturperiode mit den Altlasten der Vergangenheit beschäftigen müssen. Man fragt sich doch schon: Wie viele Dieselgipfel ohne Ergebnis wollen Sie eigentlich noch durchführen, bis sich endlich einmal etwas tut?
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Lassen Sie uns nach vorne gerichtet diesen Abgasskandal als letzten Weckruf sehen. Das Automobil wurde übrigens genauso wie das Fahrrad und die Eisenbahn im Süden der Republik erfunden. Darauf sind wir zu Recht stolz. Das Automobil steht vor einer Neuerfindung. Die Politik muss künftig Partner der Ingenieure sein und nicht ein falscher Freund derer, die die Vergangenheit in die Zukunft retten wollen.
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Das Auto von morgen ist emissionsfrei, es fährt vernetzt, zunehmend selbstfahrend, es wird immer häufiger geteilt, kombiniert mit Rad, mit Bahn, mit Bus, es tankt erneuerbare Energien, und es kann sie als Teil des Energiesystems bei Bedarf sogar auch wieder abgegeben. Wissen Sie, was die gute Nachricht ist? Die gute Nachricht ist: Wir haben alles, was wir dafür brauchen. Wir haben die besten Ingenieure der Welt. Wir haben die besten Hochschulen.
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Wir haben großartige Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Betriebsräte und Gewerkschaften, Frau Kollegin. Was wir jetzt noch brauchen, sind die Partner in der Politik,
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die denen Mut machen. Wenn wir das gemeinsam anpacken, dann bin ich mir sicher, dass wir das hinkriegen.
Ich will noch auf einen Punkt eingehen, der hier kaum eine Rolle gespielt hat: die Chancen, die wir durch die Digitalisierung haben, im Zusammenhang mit dem Thema Mobilität. Wenn wir das künftig zusammendenken, liegt auch dort ein immenses Potenzial, damit das Auto von morgen auch noch „Made in Germany“ ist, und ein Exportschlager bleibt. Ich will das an drei Zielen festmachen: erstens saubere Luft und Klimaschutz, zweitens zukunftsfähige, innovative und wettbewerbsfähige Industrie und schließlich drittens der Erhalt von Arbeitsplätzen.
Vielleicht bekommen wir es in dieser Legislaturperiode hin, dass unsere demokratischen Parteien bei diesen drei Zielen künftig einen gemeinsamen Konsens erzielen und nicht mehr das eine gegen das andere ausspielen. Alles drei müssen wir schaffen. Ich bin mir sicher: Wir können es machen, wenn wir die richtigen Rahmen setzen.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Abgeordnete Florian Oßner das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hätte nie zu träumen gewagt, dass ich in einer Aktuellen Stunde, die von den Grünen beantragt worden ist, einem Grünen zumindest in einem Punkt zustimmen kann.
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Wenn der Ausschussvorsitzende Cem Özdemir zu uns aus der CSU sagt, dass wir immer nur die besten Politiker in unsere Ministerien schicken,
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dann kann ich ihm nur zustimmen. Lieber Cem Özdemir, Sie haben absolut recht mit dieser Annahme.
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Sollten sich die Meldungen tatsächlich bewahrheiten, dass diese Versuche an Affen lediglich zu PR-Zwecken durchgeführt worden sind, müssen diese Versuche natürlich umfassend aufgearbeitet werden und die Verantwortlichen mit aller Schärfe zur Rechenschaft gezogen werden. Ich denke, das steht völlig außer Frage.
Unser geschäftsführender Verkehrsminister, Christian Schmidt, der zugleich auch für den Tierschutz zuständig ist, hat umgehend reagiert und im Bundesverkehrsministerium eine Sondersitzung der Untersuchungskommission zum Abgasskandal angesetzt, um die Vorfälle zu untersuchen. Die Autohersteller wurden aufgerufen, rasch und detailliert Stellung zu beziehen. Für das schnelle und besonnene Handeln, lieber Bundesminister Christian Schmidt, möchte ich mich recht herzlich bei dir und deinem Haus bedanken.
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Allerdings möchte ich an dieser Stelle eindringlich davor warnen, diesen Vorfall politisch zu instrumentalisieren und ihn dazu nutzen, die Dieseltechnologie weiter zu verteufeln. Das Fehlverhalten Einzelner darf am Ende nicht dazu führen, dass eine für den Wirtschaftsstandort Deutschland und insbesondere für den Klimaschutz wesentliche Technologie komplett kaputtgeredet wird. Das kann mit uns nicht gemacht werden.
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Unterlassen Sie daher, liebe Grüne, bitte Ihren ideologischen Kreuzzug gegen den Diesel, und hören Sie auf die Stimme der Vernunft in Ihrer Partei, den grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann, der gesagt hat:
Wir müssen den Klimawandel bekämpfen, dafür brauchen wir auch den sauberen Diesel …
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In Sachen Dieseltechnologie hat sich in den letzten Jahren sehr viel getan, gerade auch unter Mitwirkung der Politik. Moderne Diesel-Pkw haben geringeren Verbrauch und damit geringere CO 2 -Emissionen als vergleichbare Autos mit Ottomotor. Die Stickoxidemissionen des Straßenverkehrs sind im Zeitraum von 1990 bis 2015 in Deutschland um rund 60 Prozent zurückgegangen. Das ist doch wahrlich ein großer Erfolg, auch der Automobilindustrie. Dieselfahrzeuge deutscher Hersteller sind seit rund zehn Jahren serienmäßig mit Partikelfiltern ausgestattet, sodass auch die Feinstaubbelastung bei diesen Fahrzeugen inzwischen stark verringert wurde.
Rund 830 000 Personen – das entspricht knapp 14 Prozent in den Betrieben des verarbeitenden Gewerbes – sind in der Automobilindustrie tätig und erwirtschaften dabei einen Umsatz von über 400 Milliarden Euro pro Jahr. Diese starke Stellung ist ganz wesentlich dem deutschen Know-how im Motorenbau geschuldet, in dem auch ein erheblicher Teil der Mitarbeiter der Automobilindustrie beschäftigt ist – aus meiner Sicht ein unverzichtbarer Teil der deutschen Volkswirtschaft.
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Etwa zwei Drittel dieser Arbeitsplätze findet man bei den Herstellern, ein weiteres Drittel bei den Zulieferern. Es geht also auch um kleine Zulieferbetriebe in unseren Heimatregionen.
Der besonders komplexe Dieselmotor hat einen großen Anteil daran, dass diese hochwertigen Arbeitsplätze in Deutschland existieren – auch bei uns in Bayern und in meiner Region Landshut –, während sie in vielen traditionellen Automobilländern bereits verloren gegangen sind. Dies müssen wir mit allen Mitteln vermeiden.
Ein häufig formulierter Vorwurf aus der grünen Ecke lautet, die deutsche Automobilindustrie habe bei der Elektromobilität geschlafen
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und halte deshalb am Diesel fest. Die Realität ist jedoch eine völlig andere.
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Insgesamt investiert die deutsche Automobilindustrie bis zum Jahr 2020 rund 40 Milliarden Euro in alternative An triebe, wie zum Beispiel die Wasserstoff-Brennstoff-Zelle. Die Unternehmen treiben also die Elektromobilität massiv voran – eine aus meiner Sicht sehr positive Entwicklung.
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Der effiziente Verbrennungsmotor wird dennoch auf Jahrzehnte noch eine wichtige Rolle spielen. Mit synthetischen Kraftstoffen aus erneuerbaren Energien könnte er in Zukunft sogar CO 2 -neutral werden. Aber: Um Geld in neue Technologien investieren zu können, muss es natürlich erst einmal verdient werden. Das ist alles andere als ein Selbstläufer.
Die Politik hat die Dieselaffäre mit einem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss begleitet – das ist heute schon mehrfach zur Sprache gekommen – und hat sie bei insgesamt drei Dieselgipfeln im Bundeskanzleramt umfassend aufgearbeitet.
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Nun liegt es aber auch an der Industrie, das verspielte Vertrauen zurückzugewinnen.
Zum Abschluss. Die Verkehrswende, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, wie sie von Ihnen immer wieder gefordert wird, kann nicht mit irgendwelchen Ausstiegsterminen für den Verbrennungsmotor gelingen.
Kollege Oßner, Sie müssen bitte einen Punkt setzen.
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Ich bin gleich fertig; das ist mein letzter Satz. – Wenn Sie in der Diskussion über die Zukunft des Verkehrs weiter mitreden wollen, müssen Sie Ihre Forderungen auf Realitätstauglichkeit hin überprüfen.
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Abrupte Verbote aus ideologischen Gründen sind da völlig fehl am Platz.
Vielen Dank fürs Zuhören.
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Das Wort hat der Abgeordnete Mario Mieruch.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! An einem Freitag ist noch ordentlich Leben im Saal. Das wird auch die Gäste freuen. Ich will nicht all das wiederholen, was hier heute schon gesagt wurde; da war vieles dabei. In der Betrachtung von ganz hinten habe ich feststellen können: Wir alle sind uns bei ein paar Dingen im Grunde genommen absolut einig. Keiner möchte mehr Affen, sondern wir alle lehnen ab, was da passiert ist.
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Da haben wir doch einen großen und breiten Konsens. Das ist sehr zu begrüßen. – Das war das Erste.
Der Kollege Bilger von der Unionsfraktion hat es vorhin, wie ich finde, sehr schön und sehr sachlich zusammengefasst, wie wir mit diesem Thema umgehen sollten. Ich möchte es gern noch ein bisschen weiter ausführen. Worüber diskutieren wir überhaupt? Die Luft ist so sauber wie nie. Das ist einfach ein Fakt; das müssen wir feststellen. Wir müssen mal wieder die Relationen betrachten. Nehmen wir uns Berlin als Beispiel: Seit 1989 sind die Emissionen von Stickoxiden in der Stadt um 73 Prozent zurückgegangen, die Emissionen von Schwefeldioxid wurden um 96 Prozent gesenkt und die Feinstaubbelastung um 86 Prozent reduziert. Das kann man im Umweltatlas der Stadt wunderbar nachverfolgen.
Das heißt, wir führen heute eine Diskussion darüber, etwas zu reduzieren. Aber von wo? Was haben wir eigentlich schon über den technologischen Fortschritt erreicht? Wie stehen wir als Wettbewerber in der Welt da, wo wollen wir eigentlich noch hin, und wie sinnvoll ist das, was wir da anstreben? Darüber sollten wir sachlich diskutieren.
Wo wir stehen, wird insbesondere deutlich, wenn man sich die Messzyklen des ADAC anschaut, die zeigen, dass die deutschen Automobilhersteller bei den tatsächlichen Emissionsausstößen im realen Fahrbetrieb um ein Vielfaches besser dastehen als der Wettbewerb in der Welt. Deswegen brauchen wir eine Debatte, die sich um sachliche Fakten dreht, die sich auf vernünftige Erkenntnisse beruft und nicht auf Messstationen an irgendwelchen Hotspots, die nicht einmal den EU-Vorgaben entsprechen.
Wer die Dieseltechnologie, selbst die moderne der Euro-5- und Euro-6-Klassen, heutzutage verteufelt, der hat von Motorentechnologie keine Ahnung. Warum sage ich das? Ich bin Mechatronikingenieur und habe in diesem Bereich gearbeitet. Wer versucht, den Menschen ideologische Aussagen wie „Das Auto von Morgen ist emissionsfrei“ unterzujubeln, dem werde ich solche Aussagen zerpflücken müssen – das schaffe ich auch ohne Fraktion –; denn ein emissionsfreies Auto fällt nicht vom Himmel.
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Sie müssen sich das einmal überlegen: Bei der Herstellung des Akkus für den Tesla S werden 17,5 Tonnen CO 2 ausgestoßen. Sie können acht Jahre lang mit einem modernen Dieselfahrzeug fahren, bis Sie diesen Wert erreichen. Setzen Sie das einmal in Relation, und fragen Sie sich, wer die Seltenen Erden abbaut, die für den Diesel gebraucht werden.
Wir müssen die Diskussion wieder versachlichen.
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Ich finde es super, dass Sie sich für Vögel, für Schmetterlinge und auch für Bienen sehr stark einsetzen – ich kriege im Frühjahr selber Bienen, das ist eine super Sache –, aber versuchen Sie es einmal mit Maurern, mit Handwerkern und mit Krankenschwestern. Das funktioniert auch klasse.
Danke.
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Das Wort hat der Kollege Oliver Wittke für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lassen Sie mich zum Abschluss dieser Debatte einige wenige Feststellungen treffen.
Erstens. Die an Affen durchgeführten Tests haben weder der Wissenschaft noch dem Menschen gedient. Sie waren zutiefst unmoralisch, ethisch nicht zu rechtfertigen und sind deshalb abzulehnen. Wir müssen sicherstellen, dass so etwas künftig nicht wieder passiert. Wenn es tatsächlich wahr ist, dass diese Tests allein dazu durchgeführt worden sind, um Propaganda für minderwertige, nicht funktionstüchtige Motoren zu machen, verschärft das diese Aussage noch um ein Vielfaches. Ich glaube, wir sind uns in diesem Haus einig: Es ist nicht damit getan, dass man das von Vorstandsseite aus bedauert. Vielmehr müssen wir sicherstellen, dass so etwas nicht wieder vorkommen kann.
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Ich würde mir übrigens den gleichen Eifer bei den betroffenen Unternehmen wünschen, wenn es darum geht, Motoren sauberer zu machen oder Abgase zu reduzieren. Wenn man ähnlich kreativ, ähnlich intensiv arbeiten würde, hätten wir wahrscheinlich über viele Probleme, über die wir in den vergangenen Jahren in diesem Haus diskutiert haben, nicht diskutieren müssen.
Zweitens. Die Tests waren überflüssig, weil die Schädlichkeit von Autoabgasen längst nachgewiesen war. Seit 2012 gelten Dieselabgase als krebserregend. Von daher gab es keinen Anlass, solche Tests durchzuführen. Darum sage ich noch einmal: Überflüssige Tests, egal ob mit Menschen oder mit Tieren, gehören sich nicht, auch wenn sie rechtlich einwandfrei sein mögen. Es gibt auch eine ethische, eine moralische Ebene, die Berücksichtigung finden muss.
Und darum drittens: Nicht alles, was rechtlich erlaubt ist, ist auch ethisch gerechtfertigt. Jawohl, es stimmt: Wir haben die grundgesetzlich garantierte Freiheit der Wissenschaft, aber Freiheit verstehen wir immer so, dass es eine Freiheit in Verantwortung ist. Es gibt keine grenzenlose Freiheit, auch nicht in der Wissenschaft. Darum erwarte ich gerade von einer Leitindustrie in Deutschland und von den Führungskräften einer solchen Leitindustrie, dass sie Verantwortung übernehmen und Freiheit nicht grenzenlos ausleben.
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Viertens – ich schließe nahtlos an das an, was ich gerade zur Freiheit der Wissenschaft und zu der ethischen Ebene gesagt habe –: Ich habe mittlerweile den Eindruck, dass es ein kulturelles Problem ist, wie in einigen Unternehmen unseres Landes Unternehmenspolitik betrieben wird. Vielleicht muss die eine oder andere Führungskraft akzeptieren, dass wir nicht mehr in den 50er-, 60er- oder 70er-Jahren, sondern im 21. Jahrhundert leben. Da muss man vielleicht auch einmal akzeptieren, dass das, was vielleicht noch vor 20 oder 30 Jahren gesellschaftlich akzeptiert worden ist, heute eben nicht mehr akzeptiert wird. Diese Erfahrung haben ja auch andere Branchen gemacht, ob das die Banken waren, ob das Versicherungsunternehmen waren, ob das andere große Industriekonzerne waren. Wir brauchen einen kulturellen Wandel in der Spitze unserer Unternehmen. Es reicht eben nicht, mal eben zwei, drei Manager zu feuern, sie quasi wie Sündenböcke in die Wüste zu schicken, nach dem Motto: Damit haben wir unsere Pflicht und Schuldigkeit getan. Nein, in den Unternehmen muss sich grundlegend etwas ändern, damit Vorkommnisse wie die, die wir jetzt wieder erlebt haben, nicht mehr passieren.
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Fünftens. Ich will noch einmal darauf hinweisen, dass Forschung immer unabhängig sein muss. Ich finde, der eigentliche und größte Skandal an diesen Vorkommnissen offenbart sich in einer Mail, die der Werksarzt von VW abgesandt hat. Sie hat folgenden Inhalt – ich zitiere wörtlich –:
Uns geht es jetzt darum, den Text …
– gemeint ist der Text zur Vergabe der Studie mit den Affen –
rechtssicher so formuliert zu wissen, dass es sich nicht um eine von uns verantwortete Auftragsforschung handelt.
Das ist an Zynismus nicht mehr zu übertreffen. Das kann man nicht entschuldigen. Das muss Konsequenzen haben und darf nicht wieder passieren.
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Transparenz geht im Übrigen anders, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich finde, dass uns VW jetzt zum wiederholten Male einen Bärendienst erwiesen hat. Wir werden darauf reagieren müssen, auch als Politik; das sage ich ganz offen. Wir werden darüber reden müssen, ob die Regeln, die wir aufgestellt haben, so in Ordnung und ausreichend sind, um künftig zu vermeiden, dass so etwas passiert.
Aber es gibt auch eine Eigenverantwortung der Unternehmen. Diese Eigenverantwortung müssen wir einfordern. Das tun wir nicht nur in der heutigen Debatte. Dieses Thema wird uns noch viele Monate beschäftigen. Übrigens erwarten nicht nur die Probanden, sondern auch die Menschen von uns, dass wir die Rahmenbedingungen so setzen, dass solche Vorkommnisse nicht wieder passieren.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, leider ist der Kollege Arno Klare kurzfristig erkrankt, sodass er jetzt nicht hier die Positionen der SPD-Fraktion vertreten kann. Es ist vereinbart, seinen Beitrag zu Protokoll zu nehmen. Wir wünschen ihm, denke ich, fraktionsübergreifend gute Besserung.
Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 21. Februar 2018, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen alles Gute.
(Schluss: 14.32 Uhr)