Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 10/17/2019

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Seit nunmehr zweieinhalb Jahren verhandeln wir intensiv über den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union. Es hat in den letzten Tagen Bewegung gegeben, deutliche Bewegung. Die britische Seite hat Verhandlungsbereitschaft gezeigt und diese durch sehr konkrete Vorschläge unterlegt. Wir sind also auf einem besseren Weg als zuvor, aber – das muss ich heute Morgen hier ganz klar sagen – wir sind noch nicht am Ziel. Wir müssen und werden deshalb unverändert alles tun, um die Verhandlungen zu einem erfolgreichen Ende zu bringen. Ich möchte Michel Barnier, dem Verhandlungsführer, und seinem Team ganz herzlich danken, die wirklich Tag und Nacht dabei sind. Es gilt unverändert, dass, wenn wir eine gute Lösung finden wollen, dies etwa der Quadratur des Kreises gleicht. In den letzten Jahren, Monaten und Wochen dachten wir schon mehrfach, dass wir kurz vor einer Lösung stehen. Dann haben sich die Dinge erneut zerschlagen. Deshalb kann ich heute hier nicht sagen, wie der Europäische Rat morgen enden wird. Aber ich darf Ihnen sagen, dass ganz klar bleibt, dass wir nicht zulassen werden, dass auf der irischen Insel durch eine harte Grenze Hass und Gewalt wieder aufflammen können. ({0}) Wir werden dafür eintreten, dass das Karfreitagsabkommen von nichts und niemanden aufs Spiel gesetzt wird. Auch die Prinzipien des Binnenmarktes dürfen nicht infrage gestellt werden – das kann man gar nicht oft genug betonen –; denn wir haben noch nicht bei allen Fragen, die mit dem Zoll verbunden sind, eine Einigung. Wir brauchen praktikable, realistische Lösungen dafür, wie die neuen Zollkontrollen in Nordirland konkret umgesetzt werden sollen. Die Verhandlungen dazu werden geführt. Wir stellen also insgesamt fest: Ein Abkommen über einen geregelten Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU ist unverändert möglich. Wir werden bis zur letzten Sekunde verhandeln. Wenn erforderlich, können wir auch noch einmal auf einem Sonderrat tagen; aber schauen wir erst einmal, was sich ergibt. Auch wenn wir auf einen ungeordneten Austritt gut vorbereitet sind, liegt ein geregelter Brexit natürlich im Interesse aller, ich glaube, auch im Interesse Großbritanniens. Das Vereinigte Königreich ist und bleibt ein wichtiger Partner in vielen Fragen, sei es wirtschaftlich oder sicherheitspolitisch. Uns verbinden eine lange Geschichte und gemeinsame Werte. Deshalb wollen wir auch nach einem Austritt Großbritanniens enge und vertrauensvolle Beziehungen haben, sowohl wirtschaftlich als auch in der Außen- und Sicherheitspolitik. ({1}) Deshalb wird sich die Bundesregierung weiterhin mit aller Kraft dafür einsetzen, die zukünftigen Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union wie auch zwischen dem Vereinigten Königreich und Deutschland so zu gestalten, dass wir eine gute gemeinsame Zukunft haben. Meine Damen und Herren, die intensive Auseinandersetzung mit der Frage des Austritts Großbritanniens aus der Europäischen Union in diesen Tagen darf nicht den Blick dafür verstellen, dass in Europa und auf der Welt auch andere drängende Themen zu lösen sind. Diese betreffen ganz wesentlich die Sicherheit und Stabilität an Europas Grenzen. Das betrifft nicht zuletzt eine Frage, über die in diesem Haus vor einigen Wochen besonders intensiv debattiert worden ist: die Aufnahme der Beitrittsgespräche der Europäischen Union mit Nordmazedonien und mit Albanien. Gerade Deutschland ist dem westlichen Balkan nicht nur geopolitisch, sondern auch wirtschaftlich und gesellschaftlich durch die vielen Menschen aus dieser Region, die bei uns leben, in besonderem Maße verbunden. Es ist in unserem gemeinsamen europäischen Interesse, die Staaten des westlichen Balkans langfristig nicht nur an Europa zu binden, sondern auch in die Europäische Union einzubinden. Damit dies gelingt, müssen wir zu unseren Versprechen stehen, diesen Ländern auch eine europäische Perspektive zu bieten. Versprechen einzuhalten, ist die beste Voraussetzung, um Reformen und eine rechtsstaatliche Entwicklung bei unserem Nachbarn im westlichen Balkan überzeugend einfordern zu können – und damit auch die beste Voraussetzung für Wohlstand, Stabilität und Sicherheit innerhalb Europas. Ich habe es daher sehr begrüßt und sage danke, dass der Bundestag mit seinem Beschluss am 26. September dieser Verantwortung im westlichen Balkan gerecht geworden ist. Dank dieser frühzeitig und sorgsam abgewogenen Haltung haben wir eine Brücke zu vielen Partnern in Europa gebaut, die hier noch Bedenken haben. Deshalb glaube ich, dass unsere Position Vorbild und Denkanstoß für andere sein kann. Auch wir sind dafür, den Beitrittsprozess insgesamt transparenter und besser zu gestalten. Aber ich bin überzeugt, dass es sich lohnt, Albanien und Nordmazedonien eine europäische Perspektive zu bieten. ({2}) Wir werden diese Debatte heute im Europäischen Rat führen, um diejenigen, die nicht überzeugt sind, vielleicht noch zu überzeugen. Ich muss Ihnen aber sagen: Die Chancen, dass wir zu einem einvernehmlichen Votum kommen, stehen nicht gut. Vor allem werden wir heute und morgen natürlich über die Türkei sprechen. Unsere Beziehungen zur Türkei sind vielschichtig. Sie ist unser europäischer Nachbar und NATO-Partner. Die Situation dort, direkt an der Grenze Europas, betrifft uns alle unmittelbar. Mehrfach habe ich die Türkei – auch im persönlichen Gespräch mit dem türkischen Staatspräsidenten – in den letzten Tagen eindringlich dazu aufgerufen, ihre Militäroffensive in Nordsyrien gegen die kurdische YPG-Miliz umgehend zu beenden. Das wiederhole ich hier an dieser Stelle. ({3}) Bei allen durchaus auch nachvollziehbaren Sicherheitsinteressen: Die Militäroperation der Türkei in Syrien bringt in dem ohnehin schon so geschundenen Land nur neues menschliches Leid mit sich. Sie fordert viele Opfer und treibt Zigtausend Menschen, darunter Tausende Kinder, in die Flucht. Es ist ein humanitäres Drama mit großen geopolitischen Folgen. Deshalb wird die Bundesregierung unter den jetzigen Bedingungen auch keine Waffen an die Türkei liefern. Ich freue mich, dass das auch die Haltung der europäischen Partner ist. ({4}) Wenn ich über geopolitische Folgen spreche, müssen wir daran denken, dass sich die Rolle Russlands in der Region zusammen mit dem Iran massiv verstärkt, nachdem die amerikanischen Soldaten abgezogen sind. Die Folgen dieser Entwicklung sind heute noch nicht absehbar. Allein mit Blick auf die Terrororganisation IS führt die türkische Militäroperation zu großer neuer Unsicherheit – und das nach einem jahrelangen und oft durch die internationale Gemeinschaft getragenen Kampf gegen den IS. Es führt zu Unsicherheit in der Region, aber auch in Europa, wenn die gefangengehaltenen Angehörigen des IS nicht mehr bewacht werden. Damit erschüttert die türkische Militäroperation in Syrien diese ohnehin krisengeschüttelte Region weiter. Die Erfolge im Kampf gegen den IS, der wesentlich durch kurdische Kräfte in Syrien möglich war, können so zunichtegemacht werden. Wir sind überzeugt, dass die türkischen Sicherheitsinteressen an der syrisch-türkischen Grenze nicht durch militärische Mittel, sondern nur auf diplomatischem Wege wirklich gut zu erreichen sind. ({5}) Wir werden auch über ein weiteres Thema im Zusammenhang mit der Türkei sprechen. Das sind die andauernden Gasbohrungen der Türkei in den Gewässern unseres europäischen Partners Zypern. ({6}) Wir können nicht akzeptieren, dass die Türkei die territoriale Integrität eines EU-Mitgliedstaates wissentlich missachtet. Wir werden dies auf dem EU-Rat auch zum Ausdruck bringen. ({7}) Unbeschadet der neuen Entwicklungen müssen wir zugleich sehen, dass 3,6 Millionen Syrer in der Türkei Zuflucht gefunden haben, und es gibt noch eine Vielzahl Flüchtlinge aus anderen Ländern. Damit leistet die Türkei einen außerordentlich wichtigen humanitären Beitrag, mit dem sie im Übrigen auch uns in Europa zum Teil beschämt, wenn ich an manche Diskussion denke. ({8}) Ich kenne all die Kritik, die seit 2015 und besonders seit dem Frühjahr 2016 am EU-Türkei-Abkommen geübt wird. Ich werde mich jedoch weiterhin dafür einsetzen, dass dieses Abkommen bestehen bleibt. Es rettet Leben, und zwar sehr konkret in der Ägäis, und es verhindert, dass Schlepper und Schleuser wieder die Oberhand bekommen und Geld von Menschen nehmen, die eigentlich keins haben. ({9}) Ich werde mich weiterhin für dieses Abkommen einsetzen, damit die Menschen, die in der Türkei Zuflucht gefunden haben, ein würdiges Leben nahe ihrer Heimat führen können dank der dazu bereitgestellten finanziellen Mittel durch die Europäische Union und noch zusätzlich durch Deutschland. ({10}) Das hat zum Beispiel dazu beigetragen, dass fast alle syrischen Kinder in der Türkei in die Schule gehen können. Die durch Krieg und Flucht so gequälten Menschen sind die Schwächsten in diesem Konflikt. Wir dürfen uns deshalb auch jetzt unter dem Eindruck des türkischen Vorstoßes in Syrien unserer Verantwortung nicht entziehen, sondern müssen ihr weiterhin gerecht werden. ({11}) Ein Ende des EU-Türkei-Abkommens machte die Dinge kein Jota besser, sondern verschärfte die Lage, und zwar auf dem Rücken der Schwächsten. Diese Haltung haben Bundesinnenminister Horst Seehofer und der europäische Innenkommissar Dimitris Avramopoulos mit ihrem gemeinsamen Besuch in Griechenland und der Türkei noch einmal unterstrichen. Meine Damen und Herren, gerade die Lage an Europas Außengrenzen zeigt, dass sich Europas Rolle in der Welt zunehmend verändern muss. Immer mehr Aufgaben kommen auf uns zu. Dazu braucht Europa einen modernisierten und an diese Bedürfnisse angepassten mehrjährigen Finanzrahmen. Deshalb ist es gut, dass die amtierende finnische Ratspräsidentschaft die Debatte nach vorne bringt und dem Europäischen Rat eine Beratungsgrundlage hierzu vorlegt. Es wird auf diesem Europäischen Rat – ich sage: leider – noch keine Einigung darüber geben. Aber es wird Gespräche geben, in denen ich mich für einen zukunftsorientierten Haushalt einsetzen werde, der Europas Handlungsfähigkeit in dreierlei Hinsicht sichert: Erstens. Für uns ist eine Modernisierung des mehrjährigen Finanzrahmens entscheidend. Unsere Ziele müssen durch entsprechende Festschreibungen im Haushalt unterstützt werden. Dies gilt für den Klimaschutz, die Migration und ein forschungsstarkes und innovatives Europa sowie eine stärkere Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik. Die Verlässlichkeit etablierter Politikbereiche wird dabei natürlich nicht infrage gestellt. So muss zum Beispiel berücksichtigt werden, dass viele Regionen in den neuen Bundesländern weiterhin strukturelle Nachteile haben. Insgesamt geht es darum, das richtige Gleichgewicht für einen Haushalt zu finden, der gerade auch Europas neuen Herausforderungen gerecht werden kann. Zweitens. Ausgangspunkt der Verhandlungen können nicht Wünsche sein, sondern es müssen realistische Grundlagen sein. Als Nettozahler führen wir die Verhandlungen zum Volumen auf der Grundlage eines Budgetansatzes in Höhe von 1 Prozent der Wirtschaftsleistung der 27 EU-Mitgliedstaaten. Allein das bedeutet schon einen deutlichen Anstieg der Beiträge, gerade auch für Deutschland. Drittens. Deutschland wird aufgrund dieses Anstiegs und auch aufgrund des bevorstehenden EU-Austritts des Vereinigten Königreichs beim mehrjährigen Finanzrahmen übermäßig stark belastet. Deshalb müssen wir auch über eine faire Lastenteilung auf der Finanzierungsseite und einen Rabatt für Deutschland sprechen. ({12}) Außerdem hat die von der Europäischen Kommission vorgeschlagene Verknüpfung der Rechtsstaatlichkeit mit den EU-Finanzen für uns höchste Priorität; denn die Mitgliedschaft in der Europäischen Union und die damit verbundenen Freiheiten und Errungenschaften haben auch mit einer entsprechenden Verantwortung beim Einsatz von EU-Mitteln einherzugehen. Wer bei der Ausgabe europäischer Mittel Grundsätze und Prinzipien des Rechtsstaats missachtet, der soll in Zukunft nicht mehr erwarten dürfen, weiterhin von Europa uneingeschränkt finanziell profitieren zu können. ({13}) Damit stärken wir die gute Regierungsführung in ganz Europa und schützen die Interessen von Millionen von Steuerzahlern. Eine zügige Verabschiedung des mehrjährigen Finanzrahmens ist Voraussetzung für die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union. Sie ist damit auch Voraussetzung dafür, dass die neue Kommission der Europäischen Union, die bald ihre Arbeit aufnehmen wird – leider etwas verspätet –, ihre Prioritäten auch wirklich umsetzen kann. Wir stehen derzeit zwischen dem Ausscheiden der alten Kommission und dem Antritt der neuen Kommission. Ich möchte dem scheidenden Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker sowie dem noch amtierenden Präsidenten der Europäischen Union, Donald Tusk, für ihren unermüdlichen und leidenschaftlichen Einsatz für Europa danken. ({14}) Beide haben Großes und Bleibendes für Europa und seine Bürgerinnen und Bürger geleistet. Mit der im Juni verabschiedeten Strategischen Agenda haben beide entscheidend mitgeholfen, das Programm für die kommenden fünf Jahre zu umreißen. Der neue institutionelle Zyklus mit einer neuen Kommission ist nun Anlass, uns über den weiteren Weg, über Ziele und Prioritäten zu verständigen, um Europa weiter voranzubringen. Darüber werden wir schon auf dem heutigen Europäischen Rat mit der neuen Kommissionspräsidentin, Ursula von der Leyen, sprechen. In ihren politischen Leitlinien hat sie die Schwerpunkte ihrer zukünftigen Arbeit umrissen. ({15}) Ich begrüße sehr, dass die gewählte Kommissionspräsidentin von Beginn an deutlich gemacht hat, dass sie die neue Kommission als eine geopolitische Kommission versteht. Schon heute setzt Brüssel Maßstäbe weltweit, wenn zum Beispiel die Wettbewerbsbehörde Entscheidungen gegen mächtige Konzerne wie Google oder Facebook trifft. Solche Maßstäbe wollen wir auch in anderen Bereichen setzen, etwa beim Klimaschutz oder bei der Digitalisierung, bei Herausforderungen, in denen wir nur gemeinsam als Europa ein Zeichen setzen können, das dann auch weltweit gesehen wird und Gewicht entfaltet. Europa muss eigene Akzente setzen und digital souverän werden. Wir brauchen Alleinstellungsmerkmale, die unsere Art, zu leben, auch in der Digitalisierung widerspiegeln. Bei einer erfolgreichen Digitalisierung made in Europe muss und wird daher der Mensch im Mittelpunkt stehen. Das war schon der Leitgedanke bei der Datenschutz-Grundverordnung, und das wird auch der Leitgedanke sein, wenn es um ethische Maßstäbe für die künstliche Intelligenz und den Umgang mit Daten im 5G-Netzbereich geht. Das trifft genauso auf den Bereich des Klimaschutzes zu. Für diese Menschheitsherausforderung hat die neue Kommission unter anderem ein europäisches Klimagesetz und einen sogenannten European Green Deal angekündigt, mit dem Europa bis 2050 der erste klimaneutrale Kontinent werden soll. ({16}) Europa zeigt damit, dass es sich zum Pariser Klimaabkommen und dem dort vereinbarten 1,5-Grad-Ziel sowie zur Klimaneutralität bekennt. Bei der Umsetzung dieser Ziele sind wir uns in Europa jedoch noch nicht mit allen Mitgliedstaaten einig. Wir haben natürlich die Besonderheiten jedes einzelnen Mitgliedstaates zu bedenken; denn es macht einen Unterschied, ob ein Land wie zum Beispiel Polen 80 Prozent seiner Energie aus Kohle gewinnt oder ob ein Land wie zum Beispiel Schweden schon heute über 50 Prozent des Energieverbrauchs aus erneuerbaren Quellen trägt. Aus diesem Grund muss Europa die Staaten bei ihrem Übergang zur Klimaneutralität bis 2050 unterstützen, um mittelfristig weiterhin Vorreiter für Klimapolitik in der Welt zu sein. Meine Damen und Herren, eine sich ausdrücklich als geopolitisch verstehende Europäische Kommission wird darauf setzen, Europas Rolle in der Welt zu stärken. Dazu müssen wir geschlossener für unsere Überzeugungen und Interessen einstehen. Vor dem Hintergrund einer sich rasant verändernden globalen Lage kann sich Europa ein Auseinanderfallen in wichtigen außenpolitischen Fragen nicht weiter leisten. ({17}) Deutschland tritt seit jeher für genau dieses, nach außen starke Europa ein. Aus diesem Grund werden wir zum Beispiel im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im nächsten Jahr alle Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union zu einem EU-China-Gipfel nach Leipzig einladen. Wir machen die Beziehung der Europäischen Union mit China zu einem Schwerpunkt unserer EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020; denn heute haben wir keine einheitliche Chinapolitik der Europäischen Union, und das ist nicht gut für die Europäische Union. ({18}) Es ist entscheidend, dass Europa mit einer Stimme spricht. Sonst können wir keine konkreten Ergebnisse für unsere zukünftige Zusammenarbeit erzielen, etwa wenn es um den Klimaschutz oder um Investitionen geht. Dazu will Deutschland in seiner Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 einen Beitrag leisten. Die Zeiten sind unruhig und die Erwartungen an Deutschland hoch. Dessen bin ich mir bewusst. Gleichwohl freuen wir uns auf die Zusammenarbeit mit unseren Partnern in Europa wie auch mit dem jüngst neu gewählten Europäischen Parlament und mit der neuen Kommission. Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen bei allen Herausforderungen niemals vergessen, was wir ganz grundsätzlich an Europa haben: diese einzigartige Friedens- und Wertegemeinschaft. Und ein Blick an die Grenzen Europas zeigt, was wir an Europa haben. ({19}) Dieser Tage erinnern wir bei uns an den Fall der Berliner Mauer vor 30 Jahren. Wir erinnern uns an den Mut der Abertausenden DDR-Bürgerinnen und -Bürger, die 1989 für Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit auf die Straße gegangen sind. Und dieser Mut erinnert uns wiederum daran, wie sehr es sich lohnt, auch in Zukunft für Überzeugungen, Werte und Ziele einzutreten, gerade auch für ein vereintes Europas. ({20}) Dieser Mut erinnert uns daran, dass Veränderungen zum Guten möglich sind. Sich dafür einzusetzen, gerade auch in Europa, ist unsere Pflicht. Herzlichen Dank. ({21})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Fraktionsvorsitzende der AfD, Dr. Alexander Gauland. ({0})

Dr. Alexander Gauland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004724, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin! Neben den üblichen, sozusagen chronischen Problemen hat die Europäische Union derzeit zwei akute Probleme. Zwei wichtige Länder, beide an der Peripherie gelegen, setzen sich auf freilich grundverschiedene Art und Weise von der EU ab: im Nordwesten die Briten, im Südosten die Türkei. Zu beiden müssen wir unser politisches Verhältnis neu ausrichten. Das war auch das Hauptthema Ihrer Rede. Beginnen wir mit Großbritannien. Meine Damen und Herren, es gibt ein Leben nach dem Brexit. Es gibt auch eine Politik nach dem Brexit. ({0}) Wir sollten also heute schon dafür sorgen, dass unsere Beziehungen zu den Briten keinen dauerhaften Schaden nehmen. Sie bleiben ein politischer Partner, ein wirtschaftlicher Partner, ein militärischer Partner und selbstverständlich eine führende europäische Kulturnation. ({1}) Das politische Gewicht der EU sinkt ohnehin durch das Ausscheiden der Briten. Eine Atommacht, eine Flottennation, überdies die zweitgrößte Wirtschaftsmacht verlässt den Klub. Sorgen wir dafür, dass beide Seiten sich gewogen bleiben! Auch wenn es in diesem Hause, in den Medien, in den Zirkeln der Globalisten vielen nicht passt: Der Brexit ist der Wunsch der Mehrheit der Briten. ({2}) Es war eine knappe Mehrheit, ja; doch diese Konstellation ist heute normal, und historisch bedeutende Entscheidungen sind gelegentlich auch durch knappe Mehrheiten herbeigeführt worden. Wie ernst die älteste Demokratie in Europa den Mehrheitswillen nimmt, sehen wir täglich. Ja, die Briten streiten erbittert über den Brexit, vor allem über den Modus des Ausstiegs. Das scheint in unserem konsenssüchtigen Land vielleicht ungewöhnlich; aber das ist lebendige Demokratie. ({3}) Vielleicht scheitert Boris Johnson an diesem Streit, aber das wäre ebenfalls lebendige Demokratie. Auch wenn einige EU-fromme Idealisten noch von einem Ausstieg aus dem Ausstieg träumen: Großbritannien wird wieder ein souveräner Nationalstaat. Das ist nach Ansicht der Progressisten ein Rückschritt, ja, ein Rückfall, in, wie es heißt, längst überwundene Zeiten. Schließlich gehöre die Zukunft übernationalen, postnationalen Strukturen. Das sehen wir anders. Wir halten die Nationalstaaten nicht für überholt. Wir glauben, dass dieser Planet ein Pluriversum bleibt, und nun werden wir vor der Haustür einen direkten Vergleich haben, welche Seite mit ihrem politischen System besser fährt. Was will man also mehr? ({4}) Es ist richtig, dass sich Boris Johnson in der Nordirland-Frage entscheiden muss. Entweder in Nordirland wird für eine bestimmte Zeit, also bis es neue Handelsverträge gibt, faktisch weiterhin EU-Recht gelten, dann kann die Grenze offen bleiben, oder das EU-Recht gilt dort wie im übrigen Teil Großbritanniens nicht mehr, dann muss es Grenzkontrollen geben. Beides zugleich geht nicht. Allerdings darf die Dauer dieses Übergangszeitraums nicht einseitig von der EU festgelegt werden, sondern muss von beiden Partnern in freundschaftlichem Einvernehmen gemeinsam bestimmt werden. ({5}) Frau Bundeskanzlerin, ich kann nur wiederholen, was ich hier schon gesagt habe: Tun Sie bitte alles Ihnen Mögliche, um den Briten ihren Abschied nicht zu erschweren – für das Leben nach dem Brexit! ({6}) Manche Eurokraten betrachten den britischen Abgang freilich als eine narzisstische Kränkung. Das mag damit zu tun haben, dass sie selber an der Attraktivität der Union zu zweifeln beginnen. EU bedeutet heute Bürokratie, Zentralismus, Zwist, Geldentwertung, Alimentierung von Pleitestaaten, angekündigte Strafaktionen gegen die Osteuropäer, weil sie die Folgen der deutschen Masseneinwanderungspolitik nicht mittragen wollen. Der zweitwichtigste Zahler steigt deshalb aus. Norwegen und die Schweiz zeigen keinerlei Interesse, dem Klub beizutreten, und es geht ihnen gut dabei. Island hat sein Aufnahmeersuchen zurückgezogen. Problematisch wird es, wenn sich solche Kränkungsgefühle mit Überlegenheitsdünkel vereinen und in offene Geringschätzung münden. Es ist ein bedrückendes Phänomen, dass verschiedene Ansichten in der Außenpolitik neuerdings dazu führen, die Gegenseite als unzurechnungsfähig zu behandeln. Begonnen hat es mit Donald Trump. Derzeit ist Boris Johnson an der Reihe. Wo bitte soll das hinführen, wenn die Medien nicht ganz ohne Beteiligung der Politik die Regierungschefs von immerhin verbündeten und mächtigen Staaten als Clowns darstellen? ({7}) Wo das im Falle Trump hinführt, sehen wir gerade in Syrien. Der Abzug der US-Truppen ist ein „Dann macht doch euren Kram alleine“-Signal an die Adresse der Europäer. Während die Deutschen es mit den militärischen Bündnisverpflichtungen nicht gar so genau nehmen, gerade auf der linken Seite des Hauses, ({8}) redet die deutsche Öffentlichkeit seit zwei Jahren über den mächtigsten Mann der Welt wie über einen ungezogenen Schuljungen. ({9}) Das ist Hybris, und dieser folgt bekanntlich die Nemesis. ({10}) Das ändert nichts daran, dass auch wir den Abzug der US-Truppen für falsch halten, für einen Verrat an den Kurden. ({11}) Am Bosporus sitzt ein Präsident, der von einem neo-osmanischen Reich träumt, der von der Expansion des Islam träumt, der seit Langem schon über die türkische Minderheit Druck auf die deutsche Politik auszuüben versucht. Die Türkei ist größer als die Türkei, sagte Erdogan in einer Rede, und weiter: Wir können „nicht Gefangene auf 780 000 Quadratkilometern sein“. Zugleich animiert er seine Landsleute bekanntlich, fleißig Kinder zu zeugen und das türkische Volk zu vergrößern. ({12}) Unsere physischen Grenzen sind anders als die Grenzen unserer Herzen, sagte Erdogan in derselben Rede und zählte auf: unsere Brüder in Mosul, Kirkuk, Hassaka, Aleppo, Homs, Misrata, Skopje, auf der Krim und im Kaukasus. Berlin oder Duisburg nannte er einstweilen nicht. Derzeit führt Erdogan einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf die Kurdengebiete in Ostsyrien. Der türkische Präsident spekuliert auf eine Vergrößerung des türkischen Territoriums und droht uns damit, 3,5 Millionen syrische Flüchtlinge nach Europa durchzulassen, wenn wir das zu kritisieren wagen. Unter diesen Flüchtlingen würden sich viele IS-Terroristen befinden, die derzeit in großer Zahl aus den kurdischen Gefängnissen fliehen. Womit können wir im Gegenzug drohen? Wir haben eine kaputtgesparte Bundeswehr und sperrangelweit offene Grenzen. Der kurdisch-türkische Konflikt ist längst auf unseren Straßen angekommen. Was macht die Bundesregierung? Sie hat Erdogan dafür Geld gegeben, dass er erledigt, was wir angeblich nicht können: die Grenzen schließen. Wir haben uns von Erdogan abhängig und damit erpressbar gemacht. ({13}) Mit dem Segen der Multikulturalisten leben Millionen Nichtdeutsche mit verfestigtem Aufenthaltsstatus in unserem Land, unter denen sich auch Hunderttausende Erdogan-Anhänger befinden. Wir können nicht wie der türkische Präsident mit Flüchtlingsströmen drohen, etwa damit, alle Türken ohne deutschen Pass zurückzuschicken; denn wir sind ein Rechtsstaat. Wir können allerdings endlich damit anfangen, aus der Situation zu lernen und unsere Grenzen zu schützen. ({14}) Zweierlei können wir lernen: zunächst einmal, dass es töricht ist und eines Tages auch gefährlich werden kann, unentwegt Menschen einwandern zu lassen, die unsere Rechts- und Werteordnung eben nicht zu schätzen wissen, ({15}) und dabei zu hoffen, dass sich das Problem schon irgendwie von selbst lösen wird, und zweitens, dass wir immer sagen: Wir müssen unsere Grenzen endlich wieder selber schützen. ({16}) Meine Damen und Herren, was unsere Bündnisse betrifft: Die Bundesregierung sollte darauf drängen, dass diese Türkei unter dieser Regierung kein vollwertiges NATO-Mitglied mehr sein kann. ({17}) Die NATO muss die Mitgliedschaft der Türkei mindestens einfrieren. Diese Türkei darf auch kein EU-Mitglied werden. ({18}) Die EU muss den Beitrittsstatus aufheben, Frau Bundeskanzlerin. Ich hoffe, dass Sie sich für diese Politik einsetzen. Ich bedanke mich. ({19})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort der Vorsitzende der SPD-Fraktion, Dr. Rolf Mützenich. ({0})

Dr. Rolf Mützenich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003599, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Mehrheit von uns steht noch immer unter dem Eindruck der Morde von Halle und der Absicht des Täters, die jüdische Gemeinde anzugreifen, ja, man muss es sagen, es war seine Absicht, die jüdische Gemeinde auszulöschen. Es hätte nicht schlimmer kommen können nach den Morden des NSU, nach dem Mord an Regierungspräsident Lübcke, nach Angriffen, nach Morden an mutigen Demokratinnen und Demokraten, nach Einschüchterungsversuchen und nach vielen Anschlägen. Und ja, vieles bleibt noch aufzuklären. Vielleicht hat der Täter auch alleine gehandelt; aber er wird getragen von einem System der Hetze, des Chauvinismus und des Rechtsextremismus, und die AfD ist Teil dieses Systems. ({0}) Meine Damen und Herren, als ich 2002 in dieses Parlament gewählt wurde, ({1}) hätte ich mir nicht vorstellen können, dass in diesem Parlament jemals wieder Abgeordnete sitzen, die widerliche Kommentare über die Opfer von Anschlägen verbreiten. Diese Abgeordneten sitzen mitten in den Reihen der AfD. ({2}) Ich muss Ihnen sagen, Kollege Gauland: Sie behaupten, Sie würden jüdisches Leben in Deutschland willkommen heißen. ({3}) Solange Sie denken und aussprechen, dass der Nationalsozialismus ein „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte war, werden Menschen jüdischen Glaubens sich hier nicht heimisch fühlen. Sie treiben diese Hetze an. ({4}) Was hier vor fast 100 Jahren gesagt werden musste, muss auch heute gesagt werden: „Da steht der Feind – und darüber ist kein Zweifel: dieser Feind steht rechts!“, meine Damen und Herren. ({5}) Frau Bundeskanzlerin, Sie haben zu Recht gesagt, dass der Europäische Rat – es ist so – erneut in einem wichtigen Moment zusammenkommt. Übergeordnete Frage dieses Rates ist aber etwas Neues. Es geht um die Selbstvergewisserung und Selbstachtung europäischer Politik. In der Tat: Es gibt genügend Themen, die Sie angesprochen haben, und ich bin froh, dass wir in dieser Debatte mit unterschiedlichen Rednerinnen und Rednern darauf reagieren können. Ich will an den Anfang stellen: Ja, Sie haben recht, das ist eine erneute Wende im syrischen Krieg, und möglicherweise stehen sich in den nächsten Tagen syrische und türkische Truppen unmittelbar gegenüber. Wir haben die Situation noch in guter Erinnerung, als die Türkei damals ein russisches Flugzeug abgeschossen hat. Das ist also eine große Gefahr. Für mich ist eine besonders große Enttäuschung, dass nicht nur in Europa – das haben wir nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder versucht zu verhindern –, sondern auch in Syrien wieder Grenzen verschoben werden. Und es war Andrea Nahles, die vor zwei Jahren hier für meine Fraktion gesagt hat: Der Angriffskrieg auf Afrin war völkerrechtswidrig. – Ich stelle heute fest: Auch dies ist wieder ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg, und Erdogan macht sich als Präsident der Türkei persönlich strafbar, meine Damen und Herren. ({6}) Die Einlassungen des türkischen Präsidenten sind unwürdig; sie sind eine Grenzüberschreitung in der internationalen Sprache und in der internationalen Politik. Meine Bitte an Sie, Frau Bundeskanzlerin, ist, dies im nächsten Gespräch richtigzustellen. Ich bin überzeugt, dass Sie das tun werden. Wir brauchen konkrete Feststellungen und Verabredungen der Staats- und Regierungschefs zu diesem Konflikt. Sie haben die Rüstungsexporte angesprochen. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir eine Verpflichtung der EU-Staaten brauchen, nicht nur jetzt keine neuen Rüstungen zu genehmigen, sondern auch einen generellen Rüstungsexportstopp zu unternehmen. ({7}) Wir müssen prüfen, was in der Zollunion möglich ist. Ich bin auch der Überzeugung: Wir müssen prüfen, was an Bürgschaften möglich ist, wenn europäische Unternehmen in der Türkei in nächster Zeit Investitionen vornehmen. Zur Wahrheit gehört aber: Auch in den kurdischen Gebieten in Syrien sind Menschen vertrieben worden. Das ist etwas, was wir an dieser Stelle sagen müssen. Es geht nicht nur um die Invasion der türkischen Armee, sondern es geht auch darum, was dort in den letzten Jahren passiert war. ({8}) Es gibt nur eine politische Lösung. Wir werden keine militärische Lösung für dieses Problem herbeiführen. ({9}) Vielmehr kann politische Autonomie nur politisch erreicht werden. In diesem Zusammenhang möchte ich daran erinnern, dass es die Vorsitzende der CHP in Istanbul gewesen ist, die mutig, weil sie verfolgt wird, von Erdogan ganz persönlich, gesagt hat: Es gibt keinen Sieger des Krieges. Der Weg zu einer dauerhaften Lösung besteht darin, die Verfassungsmodelle zu erörtern, die es Syrien ermöglichen, als Staat zu existieren, Dialogkanäle einzurichten und zu schützen. Das ist auch unsere Auffassung, und wir werden solche Politikerinnen und Politiker wie sie nicht nur in unserem Herzen tragen, sondern wir werden sie auch politisch in ihren Forderungen unterstützen, meine Damen und Herren. ({10}) Ich will Sie, Frau Bundeskanzlerin, darin unterstützen: Die Aufnahme der Gespräche mit Albanien und Nordmazedonien – der Deutsche Bundestag hat es in einem gemeinsamen Antrag festgestellt – ist der richtige Weg. Mittlerweile hat der Habitus des französischen Staatspräsidenten einen Kratzer. Er tritt oft als Europäer auf – was er ist, was ich ihm nicht abspreche –, aber ich muss von dieser Stelle sagen: Er zahlt mit kleiner Münze zurück, wenn er allein aus innenpolitischen Interessen diese Beitrittsgespräche verhindern will. Das ist die Botschaft meiner Fraktion an den französischen Präsidenten. ({11}) Ich wünsche Ihnen viel Erfolg, insbesondere auch beim Meinungsaustausch mit der neuen Kommissionspräsidentin. Auch wir wünschen uns eine Einigung über eine Kommission, die hoffentlich am 1. Dezember dieses Jahres ihre Arbeit antreten wird. Aber ich glaube, vielleicht ist es gut, in diesem Gespräch hinter verschlossenen Türen mit der Kommissionspräsidentin mehr Fingerspitzengefühl mit dem Europäischen Parlament anzumahnen; denn das Europäische Parlament bestimmt mittlerweile europäische Politik mit, und nicht einfach gewählte oder entsandte Kommissare oder Kommissionspräsidentinnen und ‑präsidenten. Wir wollen, dass das Europäische Parlament gestärkt wird. Das ist immer auch die Verpflichtung vonseiten der Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten gegenüber europäischen Interessen gewesen. ({12}) Sie haben den Klimaschutz angesprochen. Ja, die Klimaschutzstrategie steht im Dezember auf der Tagesordnung. Aber für meine Fraktion will ich sagen: Es geht genauso um den Sozialschutz, um die Förderung fairer Arbeit und fairer Wettbewerbsbedingungen. Alles das muss auch auf der Tagesordnung der zweitägigen Gespräche stehen, meine Damen und Herren. ({13}) Frau Bundeskanzlerin, Sie haben geopolitische Fragen angesprochen. Wir feiern den Fall der Mauer. Das ist gerade für uns in Deutschland ein Ereignis; aber es ist nicht das einzige Ereignis. Vielmehr erleben wir seit dem Ende des Kalten Krieges, wie sich eine Welt neu gestaltet, die offensichtlich eben nicht richtig beschrieben ist, wenn amerikanische Politikwissenschaftler sagen: Jetzt treffen Zivilisationen aufeinander. – Ich glaube, zutreffender ist das, was europäische Forscher wie der deutsche Soziologe Dieter Senghaas gesagt haben, nämlich dass es einen Konflikt im Inneren der Gesellschaften gibt. Das zeigt sich nach meinem Dafürhalten gerade auch beim Brexit; denn es geht um die unterschiedlichen Geschichten, die dieses Land hat, Loyalitäten, die sich zeigen, die Frage von Souveränität und die Frage, wie wir es schaffen, mit diesen Veränderungen umzugehen. Es ist offensichtlich ein kultureller Kampf, der auf der Insel stattfindet und der internationale Weiterungen hat. Insofern bin ich dankbar. Wir können diese inneren Kämpfe nicht beeinflussen. Wir können nur mit Vernunft, mit Ruhe alles versuchen, dass es am Ende der Verhandlungen eine Lösung gibt. Dazu wünsche ich Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, viel Erfolg. Die SPD-Bundestagsfraktion wird Sie in dieser Absicht unterstützen. Ich will mit einer gewissen Zuversicht enden. Es ist in den letzten Wochen wieder versucht worden, Deutschland das Stereotyp anzuhängen, aus der Geschichte zu wenig gelernt zu haben, und uns die Geschichte wie einen Spiegel vorzuhalten. Viele europäische Nachbarn sind diesem Stereotyp nicht gefolgt. Das hat etwas mit kluger Politik zu tun, das hat etwas mit der Entspannungspolitik zu tun, das hat mit dem Europäer Helmut Kohl zu tun, das hat etwas mit dieser Bundesregierung zu tun, die sich nicht provozieren lässt. Deswegen sage ich: Wir müssen denen entgegentreten, die dem Furor des nationalen Alleingangs und der Ausgrenzung von Menschen erliegen. Das bleibt die Antwort, auch in dieser Zeit. Vielen Dank. ({14})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Vorsitzenden der FDP-Fraktion, Christian Lindner. ({0})

Christian Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004097, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mein Vorredner, der Kollege Dr. Mützenich, hat seinen Beitrag völlig zu Recht mit den Ereignissen in Halle begonnen. Nach einem solchen Ereignis kann der Deutsche Bundestag nicht einfach so zur Tagesordnung übergehen. Der Herr Präsident des Bundestages hat dazu angemessene Worte gefunden. Der Angriff von Halle war nicht nur ein Angriff auf eine Gruppe in unserer Gesellschaft. Wenn sich heute einige in unserer Mitte nicht mehr sicher fühlen können, dann wird sich morgen niemand mehr in Deutschland sicher fühlen. ({0}) Deshalb waren das richtige Worte. Sie haben – ich teile das – völlig korrekt auch eine gewisse Verrohung unserer politischen Debattenkultur in einen Zusammenhang mit diesem Ereignis gebracht. Das hat zur Empörung eines Teils des Deutschen Bundestages geführt. Den Kolleginnen und Kollegen der AfD will ich aber sagen: Herr Gauland hat die Gelegenheit verpasst, hier auch nur einen Satz zu den Entgleisungen auf Twitter zu sagen. ({1}) Auch aus Ihrer Mitte gab es keine Distanzierung. Hier gilt: Wer schweigt, stimmt zu. ({2}) Wenn Sie einen solchen Kollegen weiter einen Ausschuss des Deutschen Bundestages leiten lassen, dann sagt das etwas über Ihren wahren Charakter aus. ({3}) Frau Bundeskanzlerin, Sie haben unsere Unterstützung bei der Linie, die Sie mit Blick auf den möglichen Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union skizziert haben. Wir haben – das haben Sie ausgedrückt – ein Interesse an intakten, an vitalen, an partnerschaftlichen und freundschaftlichen Beziehungen zu Großbritannien, auch über das Austrittsdatum hinaus. Aber – das verkennt die AfD –: Wir haben nicht nur ein Interesse an zukünftig guten Beziehungen zum Vereinigten Königreich, wir haben auch ein Interesse an der Integrität der Europäischen Union für die 27, die gerne bleiben wollen. ({4}) Deshalb, Frau Bundeskanzlerin, teilen wir die Dinge, die Sie skizziert haben. Die Türkei war ein Schwerpunkt Ihrer Rede – völlig zu Recht. Uns erreichen schockierende, erschütternde Bilder aus Syrien mit großen innenpolitischen Auswirkungen bei uns, weil auch der innere Frieden in unserem Land bedroht ist, weil auch neue Migrationsbewegungen zu erwarten sind. Der türkische Präsident hat sich in einer für die internationalen Beziehungen nicht akzeptablen Weise über den Bundesminister des Auswärtigen geäußert. Heiko Maas erfährt hier im Haus oft Kritik – nicht immer zu Unrecht. Aber wenn er von außen in dieser Weise angegriffen wird, dann stellen wir uns alle hinter ihn. So geht man mit einem deutschen Außenminister nicht um. ({5}) Frau Merkel, von Ihnen hätten wir uns in der Frage bezüglich der Türkei und Syrien mehr Klarheit gewünscht, als Sie sie heute geäußert haben. Wie klar waren die Äußerungen aus Deutschland bei dem Völkerrechtsbruch Russlands auf der Krim? Wir sehen jetzt in Syrien dasselbe, nämlich eine völkerrechtswidrige Invasion einer islamistischen Präsidialdiktatur. Wir erwarten von Ihnen, Frau Merkel, dass Sie die völkerrechtswidrige Invasion der Türkei in Syrien klar ansprechen. Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass wir erpressbar geworden sind aufgrund der Flüchtlingspolitik der vergangenen Jahre. ({6}) Der richtige Schritt wäre, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie jetzt einen Sondergipfel der NATO fordern, zusammen mit unseren Partnern in Frankreich und anderen in Europa. Es muss das Gespräch geführt werden mit Herrn Erdogan und Herrn Trump, wie die Region auf Dauer wieder stabilisiert werden kann. Da erwarten wir von Ihnen Führung im westlichen Bündnis. ({7}) Ob es in dieser Zeit tatsächlich richtig ist, in der eine Abhängigkeit von der Türkei im Raum steht, Initiativen zu ergreifen, wie die des Bundesinnenministers bei den Bootsflüchtlingen, wage ich in Zweifel zu ziehen. Herr Innenminister, Ihnen ist es noch nicht gelungen, die Rückführung von sich illegal in unserem Land aufhaltenden Menschen korrekt und wirksam zu organisieren. Alle Zusagen zu dem Rückführungsabkommen, die Sie in den vergangenen Jahren gemacht haben, haben sich in Wahrheit als haltlos erwiesen. Jetzt pauschal 25 Prozent der Bootsflüchtlinge aufnehmen zu wollen, ist nichts anderes als Beihilfe zur Werbung für die illegalen Schlepperorganisationen. Von Ihnen hätten wir anderes erwartet. ({8}) Von Ihnen, Herr Seehofer, hätten wir erwartet, dass Sie wieder über die Hotspots in afrikanischen Transitländern unter Verantwortung des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen sprechen. Von Ihnen hätten wir erwartet, dass Sie über europäischen Grenzschutz sprechen, Frontex nicht erst 2027 auf volle Mannstärke bringen, sondern bereits vorher. Von Ihnen hätten wir eine Initiative für eine hoheitliche Seenotrettung im Mittelmeer erwartet, und nicht pauschal eine Politik, der niemand im Europäischen Rat folgen wird. ({9}) Frau Bundeskanzlerin, Sie haben hier Bemerkenswertes über die Haushaltsplanung der Europäischen Union von 2021 bis 2027 gesagt. Man konnte heute in der „FAZ“ lesen, dass der deutsche Nettobeitrag von 13,5 Milliarden Euro im Jahr 2018 auf über 30 Milliarden Euro bis 2027 ansteigen kann. Sie haben heute das Wort von einem Rabatt in den Mund genommen. Sie haben gesagt, dass Sie bei Ihren Verhandlungen von einem 1-Prozent-Ziel der Wirtschaftsleistung als deutschem Beitrag ausgehen. Frau Bundeskanzlerin, diese Ihre Einschätzung teilen wir. Wie viel anders ist das aber als das, was Sie in Ihrem Koalitionsvertrag geschrieben haben, wo Sie seinerzeit von sich aus als deutsche Koalition angeboten haben, mehr in die Europäische Union einzahlen zu wollen, ohne die Frage zu stellen, wofür? Da müssen doch unsere Partner in Europa irrewerden, wenn auf der einen Seite öffentlich angeboten wird: „Wir zahlen mehr“ und es kurze Zeit später dann heißt: Deutschland will einen Rabatt. – Das ist nicht die Verlässlichkeit und das Leadership, das andere von Ihnen in Europa erwarten und das wir von Ihnen erwarten. Eine klare Linie wäre notwendig. ({10}) Dann muss man auch die Frage stellen: Wie zukunftsfähig wird eigentlich der Haushalt der Europäischen Union? Die SPD hat sehr präzise aufgenommen, was Sie gesagt haben. Den Gesichtsausdruck von Herrn Schulz, der das in den Koalitionsvertrag hineinverhandelt hat, bei dieser Passage Ihrer Regierungserklärung hätten Sie sehen müssen. Richtig ist aber, dass wir über die Strukturhilfen sprechen, die es gibt. Welche Bedeutung und welchen Erfolg haben die Struktur- und Regionalfonds eigentlich gehabt? Da müssen wir heran. Nicht pauschal mehr Geld für die Europäische Union zu geben, ist europafreundlich, sondern das Geld darauf zu konzentrieren, wo es einen wirklichen Mehrwert gibt, also Forschung, Außenpolitik, transeuropäische Netze, Grenzschutz und Innovation. Da erwarten wir von Ihnen Initiativen für einen anderen, einen zukunftsfesten Haushalt der Europäischen Union. ({11}) Zuletzt, Frau Bundeskanzlerin, haben Sie über den Klimaschutz und einen europäischen Green New Deal gesprochen. In welchem Zusammenhang steht aber das Klimapaket, das Sie gestern im Kabinett beschlossen haben, zu einer europäischen Klimapolitik? Sie widersprechen doch geradezu einem europäischen Einsatz. Wir haben seit Jahren, um nur ein Beispiel zu nennen, einen Zertifikatehandel im Flugverkehr. Was macht die deutsche Regierungskoalition? Sie macht einen Alleingang im nationalen Rahmen mit einer Verteuerung des Flugverkehrs. Das Ergebnis wird der sogenannte Wasserbetteffekt sein. Falls tatsächlich in Deutschland weniger Menschen fliegen, dann wird es ab 2021 so sein, dass anderswo in Europa die CO2-Zertifikate günstiger werden. Für das Weltklima erreichen Sie so nichts. ({12}) Das Einzige, das Sie erreichen, ist, dass die ganzen Regionalflughäfen mit ihrer wirtschaftlichen Bedeutung ins schwere Fahrwasser geraten. Das ist der einzige Effekt, für das Klima nichts, nur wirtschaftliche Belastung. Ich schließe, Frau Bundeskanzlerin, an dieser Stelle mit der Enttäuschung, dass gestern im Kabinett das Klimapaket beschlossen worden ist. Die CDU-Vorsitzende hatte einen nationalen Klimakonsens angekündigt. In ihrem Sommerinterview wurden parteiübergreifende Gespräche angekündigt. Was wird daraus? Ein reguläres parlamentarisches Verfahren. Welche Autorität hat die CDU-Bundesvorsitzende eigentlich, wenn deren Ankündigungen belanglos sind? Und welches Interesse haben Sie eigentlich an einem parteiübergreifenden Konsens, der auch Regierungswechsel und Legislaturperioden überdauert? Gerade in der Frage des Klimaschutzes wird es darauf ankommen, Leitlinien zu beschreiben, die länger als nur zwei Jahre halten – also bis zur nächsten Bundestagswahl, die dann spätestens stattfindet – und die Planungssicherheit und Berechenbarkeit bis ins nächste Jahrzehnt gewährleisten. Es ist ein bedauerliches Versäumnis, dass Sie das Angebot der Opposition in dieser Frage in den Wind geschlagen haben. ({13})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Vorsitzenden der CDU/CSU Fraktion, Ralph Brinkhaus. ({0})

Ralph Brinkhaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004021, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Lindner, was für einen besseren Platz gibt es, um einen Konsens zu erzielen, als dieses Hohe Haus, den Deutschen Bundestag – dafür ist er da –, als den Vermittlungsausschuss und auch den Bundesrat? Insofern besteht hier, denke ich mal, kein Widerspruch. ({0}) Meine Damen und Herren, Europa ist eine Wertegemeinschaft. Wir haben uns einen Wertekanon über mehr als 3 000 Jahre erkämpft – blutig und mit vielen, vielen Opfern –, in dem wir heute zusammenleben. In diesem Wertekanon spielen die Würde des Menschen, Toleranz gegenüber Andersdenkenden und auch Andersgläubigen, Respekt, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit eine große Rolle. Wir alle sind als Europäer aufgerufen, diese Rechte zu verteidigen. Wir machen das hier in Deutschland, aber auch sehr gerne, indem wir – teilweise zu Recht – auf andere Länder zeigen. Aber ich glaube, die schrecklichen Anschläge von Halle zeigen uns, dass wir auf uns selbst erst einmal zeigen müssen, wenn es darum geht, diesen europäischen Wertekanon zu verteidigen. ({1}) Ich will jetzt überhaupt nicht spekulieren, was den Attentäter von Halle zu dem gemacht hat, was er ist, und wer dafür verantwortlich war. Aber Fakt ist: Wir haben hier ein Klima – das ist eben schon gesagt worden – der Verrohung. Das fängt im Netz an und hört im Deutschen Bundestag auf. Oder ist es vielleicht auch umgekehrt, dass es hier anfängt und im Netz aufhört, meine Damen und Herren? ({2}) Deswegen sind wir alle aufgerufen, uns klarzumachen – darin sollten wir uns einig sein –: Wir hier im Deutschen Bundestag haben eine ganz besondere Rolle. Wir haben eine Vorbildfunktion. Wenn wir nicht respektvoll und achtsam miteinander umgehen, wenn wir nicht die Worte wägen – denn aus Worten werden Taten, meine Damen und Herren –: ({3}) Wer soll es denn sonst machen? Das sollte uns hier in diesem Haus Verpflichtung sein. ({4}) Ich finde es sehr erstaunlich, dass genau an dieser Stelle jetzt Widerspruch vonseiten der AfD kommt; das können Sie an den Fernsehbildschirmen nicht hören. Aber es kam an dieser Stelle, nach dem eben von mir gesagten Satz Widerspruch von der AfD, meine Damen und Herren. ({5}) Wir sollten uns auch einig sein: Als wertegeleitete Europäer ist es unser aller Aufgabe, jüdisches Leben auf diesem Kontinent zu sichern. ({6}) In unserem wertegeleiteten Europa stehen wir nicht vor einer Zäsur, aber vor einem Neuanfang. Wir haben ein neues Parlament, und wir haben eine neue Kommission. Wir werden – die Bundeskanzlerin hat darauf hingewiesen – über den mehrjährigen Finanzrahmen sprechen, im Zuge dessen wir festlegen werden, was unsere Prioritäten bis 2027 sein werden. Und ja, es ist so: Wir haben den Brexit. Ein Land tritt erstmals aus der Europäischen Union aus. – Jetzt ist die Frage: Was ist die Rolle des nationalen Parlamentes? Wir haben eine große Rolle als nationale Parlamente, vielleicht eine noch größere, weil die Mehrheitsverhältnisse im Europäischen Parlament schwieriger geworden sind. Wir sind nicht nur der nationale Gesetzgeber, nein, wir haben auch eine europäische Verantwortung als Treiber im Prozess der europäischen Gemeinsamkeiten, aber auch – das ist uns ebenso aufgegeben worden – als Bremser dort, wo das Subsidiaritätsprinzip verletzt wird. Wir sind die Anwälte unserer nationalen Bürgerinnen und Bürger auf europäischer Ebene. Deswegen ist meine Fraktion entschlossen, noch mehr in Richtung Europa zu arbeiten, sich noch mehr in Brüssel mit unseren Fraktionskollegen aus den anderen nationalen Parlamenten zu vernetzen. Deswegen hat meine Fraktion ein Positionspapier erstellt, in dem wir ganz genau die Erwartungen an die neue Kommission, an Ursula von der Leyen aufschreiben. Ich möchte drei Dinge aus diesem Positionspapier herausgreifen. Das Erste, was ich herausgreifen möchte – das ist so aktuell, wie es nur sein kann –, ist, dass wir beim Konflikt der Türkei mit Syrien festgestellt haben, dass es ganz, ganz schwierig ist, eine gemeinsame europäische Haltung dazu zu entwickeln. Wenn wir nicht in der Lage sind, eine gemeinsame europäische außenpolitische Haltung zu entwickeln, dann verzwergen wir uns, dann machen wir uns klein, ({7}) weil wir dann keine Rolle mehr spielen. Es reicht nicht, eine Haltung zu definieren; wir müssen auch unsere Interessen definieren. Und unsere Interessen liegen nicht nur in der Türkei und in Syrien, sie liegen beispielsweise auch auf dem Westbalkan; auch das hat die Bundeskanzlerin gesagt. ({8}) Und unsere Interessen liegen auch in Afrika. Um unsere Interessen zu wahren, müssen wir handlungsfähig sein, und handlungsfähig können wir nicht sein, wenn die europäischen Regeln in der Außenpolitik so weitergelten wie bisher. Wir müssen wirklich hinterfragen, ob das Einstimmigkeitsprinzip nicht durch eine qualifizierte Mehrheit ersetzt werden muss. ({9}) Wir brauchen auch eine gemeinsame europäische Entwicklungspolitik; denn es ist eines der Kernelemente des europäischen Wertekanons, dass wir über Entwicklungspolitik versuchen, Frieden in dieser Welt zu stiften, soweit es uns möglich ist. Ja, aber wir brauchen auch eine stärkere europäische Verteidigungspolitik. Wir sind der Meinung: Wir brauchen einen europäischen Sicherheitsrat. Wir sind der Meinung, dass die europäischen Armeen mehr kooperieren müssen. Ja, wir sind auch der Meinung: Wir brauchen mehr gemeinsame europäische Rüstungsprojekte. ({10}) Nur, meine Damen und Herren, das bedeutet, dass am Ende des Tages nicht alles nach deutschen Maßstäben und Regeln ablaufen kann. Wenn wir das europäisch regeln, dann müssen wir an der einen oder anderen Stelle Abstriche machen bei Dingen, die uns wichtig und lieb sind. Das beinhaltet der Kompromiss. Der erste Punkt ist also die Erwartung an die neue Kommission, eine gemeinsame Außenpolitik zu entwickeln. Der zweite Punkt ist: Wir müssen eine gemeinsame Zukunftspolitik machen. Wir brauchen einen Schwerpunkt in der Europäischen Union auf Innovation, auf Technologie. Wir brauchen einen gemeinsamen europäischen Digitalmarkt. Wir müssen sehr viel, viel mehr machen im Bereich der künstlichen Intelligenz. Und weil das in dieser Woche aktuell ist: Wir brauchen eine große Kooperation im Bereich Ausbildung, insbesondere im Bereich der beruflichen Ausbildung. Das sind nur einige Punkte, die wir formuliert haben und die unseren Kontinent zukunftsfähig machen. ({11}) Der dritte große Punkt – ihn haben wir an den Anfang unseres Positionspapiers gestellt, und er spielt auch bei Ursula von der Leyen eine ganz wichtige Rolle – ist das Thema Klima und Umwelt. Ja, wir haben einiges in Deutschland auf den Weg gebracht – ich weiß, darüber wird diskutiert –, was wir übrigens mit einer bemerkenswerten Geschwindigkeit – das ist jetzt an die Adresse der Bundesregierung gerichtet – umsetzen. Jede Woche setzen wir um, was wir am 20. September beschlossen haben. Es gibt natürlich Menschen, die sagen: Was nützt es, wenn ihr das alleine auf deutscher Ebene macht? Wir brauchen eine europäische Lösung. – Und genau diese europäische Lösung ist von Ursula von der Leyen skizziert worden. Kern dieser europäischen Lösung ist zum Beispiel, dass der Zertifikatehandel auf die Non-ETS-Bereiche, nämlich Mobilität, Gebäude und Wärme, ausgedehnt wird. ({12}) Deswegen ist es richtig, dass in unserem Konzept der Zertifikatehandel steht; denn er ist in Europa anschlussfähig. Ich glaube, das muss unser Ansinnen sein, meine Damen und Herren. ({13}) Das, was wir inhaltlich wollen, ist das eine. Das andere ist – auch darüber wird bei diesem europäischen Gipfel gesprochen –: Wie wird das finanziell verankert? Es wird finanziell verankert in einem mehrjährigen Finanzrahmen. Das ist anders als bei uns hier im Bundestag. Wir werden uns auf die Eckpunkte der nächsten sechs oder sieben Jahre festlegen. In diesem mehrjährigen Finanzrahmen können wir Prioritäten setzen. Wir können die Prioritäten so setzen, dass wir jedem etwas geben, damit er irgendwie politisch befriedet ist. Wir können diesen Finanzrahmen so setzen, dass wir jedem etwas geben, der Strukturen erhalten will. Oder wir können diesen Finanzrahmen so setzen, dass wir ihn konsequent auf Zukunft ausrichten. Und das muss doch unser Ansatz sein. Europa muss ein Zukunftsprojekt sein und kein Projekt, das den Nachlass verwaltet, das irgendwie bewahrt. Dementsprechend müssen unsere Schwerpunkte im Bereich Außen- und Sicherheitspolitik liegen, müssen unsere Schwerpunkte im Bereich Technologie und Innovation liegen, müssen unsere Schwerpunkte in diesem mehrjährigen Finanzrahmen im Bereich Klima, Umwelt und Ökologie liegen. Wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion werden darauf achten, dass genau das im mehrjährigen Finanzrahmen enthalten ist. ({14}) Jetzt ist es so, liebe Freundinnen und Freunde, meine Damen und Herren, dass wir den Weg mit einem dicken Ziegelstein im Rucksack gehen: Und das ist der Brexit. Wir hätten uns gewünscht, Frau Bundeskanzlerin, dass wir heute schon weiter gewesen wären; aber es ist nicht so. Ich habe noch mal nachgeschaut, was wir uns aufgeschrieben haben, als der Brexit-Prozess begonnen hat. Wir haben gesagt: Wir wollen respektvoll mit den Briten verhandeln, weil sie immer unsere Freunde waren, sind und auch bleiben werden. Wir wollen deswegen respektvoll mit den Briten umgehen, weil sie uns in ihren Werten und Einstellungen sehr nahe sind. Wir wollen deswegen respektvoll mit den Briten umgehen, weil es auch nach dem Brexit viele, viele Arten der Zusammenarbeit geben wird und geben muss. Daran haben wir uns, meine Damen und Herren, auch gehalten. Ich kann seitens der CDU/CSU-Bundestagsfraktion nur ein Lob an Michel Barnier aussprechen. Wir sind in diesem Prozess fair geblieben – das ist überhaupt keine Frage –, wir sind als Europäer zusammengeblieben, wir haben uns nicht aufspalten lassen. Das war nicht selbstverständlich. Meine Damen und Herren, wir haben – und das gehört zur Fairness dazu – auch gesagt: Es wird kein Rosinenpicken geben, sondern wer die Belastungen trägt, der hat auch den Vorteil. Und es kann nicht sein, dass jemand Vorteile aus dieser Europäischen Union hat, der die Belastungen nicht trägt. In meiner ersten Rede zu diesem Thema habe ich eine Sache gesagt – die hat uns getragen und trägt uns auch heute noch –, nämlich dass es keine Lösung geben kann, die das Karfreitagsabkommen infrage stellt, dass es keine Lösung geben kann, die aus Nordirland wieder einen Platz von Krieg und Terror macht. ({15}) Das muss uns, meine Damen und Herren, auch leiten, und das sind ja auch die Knackpunkte, über die noch geredet wird. Und ich glaube, es ist richtig, dass wir uns die Zeit dafür nehmen, darüber zu reden; denn da jetzt etwas Falsches zu machen, hätte fürchterliche Folgen. Damit komme ich zum Anfang meiner Rede zurück. Ich habe gesagt: Europa ist ein Werteprojekt; das ist überhaupt keine Frage. Aber Europa ist auch – und das sehen wir wieder einmal am Beispiel Nordirland und Irland – immer noch das größte und erfolgreichste Friedensprojekt der Menschheitsgeschichte. ({16}) Deswegen ist es gut und deswegen ist es richtig, dass wir – wie vor jedem Europäischen Rat – hier heute darüber debattieren, damit wir uns vergewissern und uns daran erinnern, wie wichtig dieses Europa für den Frieden auf diesem Kontinent ist. Danke schön. ({17})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort der Fraktionsvorsitzende der Linken, Dr. Dietmar Bartsch. ({0})

Dr. Dietmar Bartsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003034, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke, Herr Präsident. – Meine Damen und Herren! Ich will zunächst ganz kurz Bemerkungen zu den schrecklichen Ereignissen in Halle machen: Ich danke dem Bundestagspräsidenten für seine Worte. Ich finde es richtig und vernünftig, dass wir im Anschluss an diese Regierungserklärung und die entsprechende Debatte eine Vereinbarte Debatte dazu haben. Ich schließe mich den Einschätzungen des Kollegen Rolf Mützenich ausdrücklich an, will aber an uns alle appellieren, dass wir eine Verantwortung tragen, und sagen, dass ich mir vor allen Dingen wünsche, dass sich diese Verantwortung dann auch in den anstehenden Haushaltsberatungen zeigt, wo wir Projekte, die gegen Rechtsextremismus sind, eben nicht kürzen, sondern aufstocken sollten, meine Damen und Herren. ({0}) Zum Europäischen Rat: Ich habe der Bundeskanzlerin aufmerksam zugehört, und mir ist aufgefallen, dass ihre Worte den Reden in den vergangenen Jahren sehr, sehr ähnlich waren. Es geht wieder um das Thema Irland/Nordirland. Es geht um die Zollfrage. Wir sind auf einem besseren Weg, aber noch nicht am Ziel. Das alles ist mehrfach gesagt worden, und wir können nur feststellen, die Farce – als die ich all das bezeichne – zieht sich inzwischen schon drei Jahre hin. Es gibt allerdings eine gewaltige Veränderung, und das ist die Tatsache, dass inzwischen Boris Johnson Premierminister ist. Er hat offensichtlich eine eigene heilige Mission, und das ist die, Premierminister Boris Johnson zu sein. ({1}) Die hat er erfüllt. Und ich kann nur feststellen: Das ist jemand, der noch 2009 in der Parteifamilie der Union war. Da sieht man, wie schnell das geht: vom Konservativen zum Rechtspopulisten. ({2}) Und ich wünsche mir, Frau Merkel, dass Sie aufpassen, dass das bei Ihrer Partei nicht auch passiert. Das wäre zumindest günstig. ({3}) Bei den Treffen, meine Damen und Herren, geht es natürlich nicht nur um den Brexit, sondern es geht um die langfristige strategische Ausrichtung der Europäischen Union, es geht um zentrale Weichenstellungen. Wir alle wissen und sehen, dass sich die Europäische Union in einer ihrer schwersten Krisen befindet. Und, Herr Brinkhaus, EU als Friedensprojekt – ja, sehr gut; aber es zeigt sich doch aktuell am Umgang mit der Türkei, in welch dramatischer Krise wir uns befinden. Während wir hier reden, rollen Panzer von der Türkei nach Syrien. Jahrelang wurde – auch von hier – der Türkei immer wieder signalisiert, dass sie kulturell nicht zur EU passe. Damit haben wir bzw. Sie auch die säkularen und demokratischen Kräfte in der Türkei im Stich gelassen. Frau Bundeskanzlerin, ich teile ja Ihre Sicht und Ihre Auffassung, die Aufrufe an Erdogan. ({4}) Das ist ja insoweit okay. Aber man muss eines auch erwähnen: Sie haben Herrn Erdogan und die Entwicklung ja leider, leider unterstützt. Ich will da nur an Ihre Reise vor dem entscheidenden Verfassungsreferendum Anfang 2017 erinnern. Damit haben Sie faktisch Wahlhilfe für Erdogan geleistet. Das gehört auch zur Wahrheit dazu. ({5}) Jetzt, im Herbst des Jahres 2019, zeigt sich ohne jeden Zweifel: Erdogan ist ein Diktator mit Großmachtfantasien, der einen völkerrechtswidrigen und verbrecherischen Krieg führt. Meine Damen und Herren, der Mann hält sich nicht an internationale Absprachen, er hält sich nicht an geltendes Recht. Mir ist eines nicht klar: Warum sind Sie als Bundesregierung eigentlich so ängstlich? Warum trauen Sie sich nicht einmal, das als völkerrechtswidrig zu bezeichnen? ({6}) Ich kann Ihnen sagen, warum das so ist: Das Flüchtlingsabkommen ist das Erpressungsmaterial, meine Damen und Herren. Das Flüchtlingsabkommen versorgt Ankara mit Milliarden, damit Sie Ihre Verantwortung in der EU gegenüber den Menschen, die flüchten, nicht wahrnehmen müssen. Das ist die Wahrheit. ({7}) War es nicht mal Staatsräson, sich nicht erpressbar zu machen? Wir sind erpressbar, und das ist überhaupt nicht zu akzeptieren, meine Damen und Herren. ({8}) Weiterhin ist es so, dass Erdogan mit Rüstungsgütern versorgt wird. Seit 2000 sind für 1,75 Milliarden Euro Waffen an die Türkei geliefert worden. 2018 und 2019 war die Türkei der größte Abnehmer deutscher Waffenexporte, und bis Ende August dieses Jahres ist wiederum der höchste Anteil von Deutschland geliefert worden. Das nennen Sie restriktiv? Nein, das ist überhaupt nicht restriktiv. Die Wahrheit ist, dass der Angriffskrieg gegen die Kurden in Nordsyrien eben auch mit deutschen Panzern geführt wird. Diejenigen, die das genehmigt haben, sollten keine Nacht mehr schlafen können! ({9}) Und die Verantwortlichen in den Rüstungskonzernen, die blutige Profite verdienen, sollten ebenfalls nicht schlafen können, weil sie nämlich an diesem Wahnsinn beteiligt sind. ({10}) Meine Damen und Herren, es sind die Kurden – und im Übrigen vor allen Dingen die Kurdinnen und Kurden die an Erdogan ausgeliefert worden sind. Das sind diejenigen, die die Jesiden zu einem großen Teil vor Tod und Versklavung bewahrt haben. Das sind diejenigen, die tapfer gegen den IS gekämpft haben. Das ist die Wahrheit. Und wenn jetzt der Generalkommandant Mazlum Kobane wegen des Schutzgesuches an Syrien sagt: „Wenn wir zwischen Kompromissen und Genozid an unserem Volk entscheiden müssen, entscheiden wir uns natürlich für das Leben unserer Menschen“, müssen diese Worte doch alle mehr als nachdenklich machen. Deswegen erwarte ich nicht nur, dass keine Waffenexporte in die Türkei mehr genehmigt werden, sondern insbesondere, dass es einen sofortigen Exportstopp gibt. ({11}) Keine einzige Waffe darf mehr an die Türkei geliefert werden, meine Damen und Herren! Das setzen Sie mal beim EU-Gipfel durch! ({12}) Die Situation ist in Wahrheit jedoch eine völlig andere. Die Bundesregierung hat Anfang der Woche die Weisung ausgegeben, dass ein europäisches Waffenembargo an die Türkei zu verhindern ist. Das ist doch unfassbar, meine Damen und Herren! Sie bremsen faktisch ein hartes Vorgehen, obwohl wir viel härter vorgehen müssten, ob es nun Hermesbürgschaften sind, ob es das Einfrieren von Vermögen ist oder, oder, oder. Und eines will ich noch sagen: Wir sind mit der Bundeswehr in einer gemeinsamen Mission beim Einsatz Counter Daesh. Da sind auch vier Aufklärungstornados in Absprache mit der Türkei unterwegs. Können Sie eigentlich garantieren, dass diese Aufnahmen, diese Bilder jetzt nicht im Krieg gegen die Kurdinnen und Kurden genutzt werden? – Wir dürfen diesen Einsatz auf gar keinen Fall verlängern, meine Damen und Herren! ({13}) Das wäre mal eine Ansage, die deutlich macht, wo die Bundesregierung steht. Ich will gleich noch eine Bemerkung anschließen – was ich selten mache – zu einem Entschließungsantrag von uns. Da geht es um die Aufnahme unbegleiteter Flüchtlingskinder, die in Griechenland aktuell unter schlimmsten Bedingungen leben müssen – leben kann man gar nicht sagen. Setzen Sie sich bitte bei der Europäischen Union dafür ein, dass es eine humanitäre Lösung für diese Kinder gibt. Das ist doch das Mindeste, was da morgen rauskommen kann. Es sind gar nicht so viele. Bitte klären Sie das, Frau Merkel. ({14}) Wir stehen vor Riesenherausforderungen. Es ist so, dass die Kommission immer noch nicht eingesetzt werden kann. Und interessanterweise ist das Verhältnis Deutschland-Frankreich jetzt doch vielfach belastet. Da geht es um die Beitritte. Herr Macron macht Frau von der Leyen verantwortlich, dass die französische Kandidatin nicht gewählt worden ist. Also, der deutsch-französische Motor stockt offensichtlich sehr. Damit steht auch die Politikfähigkeit der EU infrage. Eines aber ist wiederum komisch: Ausgerechnet bei Rüstungsexporten kriegten Sie gestern eine Lösung hin, nämlich dass 20 Prozent auch deutscher Rüstungsgüter zum Beispiel nach Saudi-Arabien reingehen können. Das ist doch unfassbar, dass es bei Rüstung immer klappt, aber bei den wichtigen Sachen – Kommissionsbesetzung und, und, und – klappt es nicht, meine Damen und Herren. Wir wollen, dass es endlich ein Europa gibt, das auch sozial ausgerichtet ist, wo wirklich Interessen, die den Menschen entsprechen, wahrgenommen werden. Setzen Sie sich dafür ein, Frau Bundeskanzlerin! Dann können wir Sie auch partiell unterstützen. Herzlichen Dank. ({15})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort der Vorsitzende der Fraktion Bündnis90/Die Grünen, Dr. Anton Hofreiter. ({0})

Dr. Anton Hofreiter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003772, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Täter des schrecklichen antisemitischen Anschlags in Halle mag bei dieser Tat alleine gehandelt haben; aber er war Teil eines rechtsextremen Netzes aus Hass und Hetze, das auch im Internet besteht. ({0}) Es ist bereits erwähnt worden: Wenn darauf hingewiesen wird, welche Tweets aus den Reihen der Fraktion der AfD abgesetzt werden – und das verdeutlicht noch mal, wie problematisch Sie sind –, dann empören Sie sich nicht über Ihren Kollegen, der die antisemitischen Tweets absetzt, nein, Sie empören sich darüber, dass darauf hingewiesen wird, dass antisemitische Tweets aus Ihren Reihen abgesetzt werden. Das zeigt das wahre Gesicht der AfD. Das zeigt, dass die AfD eben keine demokratische Partei ist. ({1}) Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, ich persönlich weiß nicht, mit welchen Erwartungen Sie nach Brüssel fahren. Aber angesichts des schwachen Beitrags, den Ihre Bundesregierung zur Lösung vieler Herausforderungen, vor denen die Europäische Union steht, leistet, kann ich Ihnen nur sagen: Ich erwarte von Ihrem Beitrag nicht besonders viel. – Wir haben ja eine ganze Reihe von Problemen: außenpolitische Krisen wie in Syrien mit dem völkerrechtswidrigen Angriff der Türkei, den Brexit, die Herausforderungen, die sich aus der Klimakrise ergeben. Für all dies bräuchten wir eine starke, eine handlungsfähige Europäische Union. Davon sind wir leider noch weit entfernt. Und, Frau Bundeskanzlerin, von Ihrer Regierung kommt viel zu wenig, um dies zu ändern. Frau Merkel, Sie haben hier zwar schöne Worte gefunden, geradezu eine Lyrik des Haushaltes vorgetragen, aber Ihre Bundesregierung blockiert und verhindert, dass die EU die Finanzmittel bekommt, die sie zur Lösung der Probleme braucht. ({2}) Deswegen sage ich: Hören Sie auf, hier schöne Worte zu finden, sondern beenden Sie endlich die Blockade. Frau Merkel, wir würden uns einfach sehr wünschen, dass Sie mit dazu beitragen, dass die Europäische Union außenpolitisch handlungsfähig wird. Die Europäische Union ist ja außenpolitisch auch deshalb nicht handlungsfähig, weil sie durch den Deal mit dem Autokraten Erdogan erpressbar ist. Inzwischen bemüht sich ja sogar Herr Seehofer darum – selbst Herr Seehofer! –, dass wir eine Verteilung der Geflüchteten in Europa hinbekommen. ({3}) Doch was macht die FDP, was macht Herr Lindner? Anstatt das zu unterstützen und damit die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union zu verbessern, greift Herr Lindner Herrn Seehofer von rechts an. ({4}) Das ist skandalös und zeigt, wie wenig die FDP die geopolitischen Herausforderungen begriffen hat. ({5}) Frau Merkel, was wirklich notwendig wäre, ist, dass Sie deutlich machen, dass der Angriff der Türkei in Nordsyrien völkerrechtswidrig ist, dass Sie sich endlich trauen, das zu sagen; denn schon Ihr Handeln bzw. Nichthandeln bezüglich Afrin hat die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass die Türkei wieder in syrische Kurdengebiete einmarschiert. Frau Merkel, Sie haben etwas zu den großen Herausforderungen, die sich aus der Klimakrise ergeben, gesagt. Sie haben gesagt, dass die Kommission handeln will und bis 2050 das Ziel der Klimaneutralität erreichen will. Sie haben aber nicht gesagt, ob die Bundesregierung das unterstützt. Ich erwarte, dass die Bundesregierung das unterstützt. Vor allem erwarte ich, dass Sie es unterstützen, dass die 2030-Ziele angeschärft werden; denn ein Anschärfen der 2030-Ziele ist notwendig, um das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 überhaupt zu erreichen. Frau Bundeskanzlerin, schauen wir uns einmal Ihr Klimapäckchen an: Mit diesem Klimapäckchen werden Sie nicht Ihre eigenen 2030-Ziele erreichen, damit werden Sie nicht das Pariser Klimaschutzabkommen erfüllen, und damit werden Sie ganz sicher auch keine angeschärften 2030-Ziele erreichen. Deswegen sage ich: Sorgen Sie endlich für wirksamen Klimaschutz. Was wir brauchen, ist eine Bundesregierung, die europapolitisch handlungsfähig ist, eine Bundesregierung, die sich endlich traut, klimapolitisch zu handeln, und nicht auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner verharrt. Vielen Dank. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Martin Schulz, SPD. ({0})

Martin Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004886, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine Damen und Herren! Am 17. Oktober 2018, also genau heute vor einem Jahr, hat der Deutsche Bundestag in der Debatte über die Regierungserklärung der Bundeskanzlerin zur Vorbereitung eines folgenden Europäischen Rates über den Brexit diskutiert und über einen Deal, der schon abgeschlossen war, von dem zu diesem Zeitpunkt die Premierministerin des Vereinigten Königreichs, Theresa May, sagte: The best deal we could get – der beste Deal, den wir bekommen konnten. Das war ein Deal, dem alle anderen 27 EU-Staaten zugestimmt hatten, darunter solche, die sehr skeptisch gegenüber der europäischen Integration sind, Polen zum Beispiel oder Ungarn. Warum war das damals so? Weil die Europäische Union und ihr Verhandlungsführer, Michel Barnier, den Briten in fast allen Punkten entgegengekommen waren. So viel zu dem Thema: Wie weit muss die Europäische Union Großbritannien entgegenkommen? Die Regierungschefin von Großbritannien, die damals die Verhandlungen führte, bezeichnete das als den besten Deal, den dieses Land bekommen kann. Sie ging dann zurück nach London und traf auf eine radikalisierte Gruppe ihrer eigenen Partei, die in Kombination mit den Ultranationalisten aus Nordirland nicht bereit war, diesen Deal zu akzeptieren. Der Anführer dieser Bewegung hieß: Boris Johnson. Dieser Mann ist heute Ministerpräsident. Wie können wir erwarten, dass wir mit dem einen fairen Deal hinbekommen? ({0}) Alles, was zurzeit abläuft mit diesen Leuten im britischen Unterhaus, muss betrachtet werden und nicht nur das, was in der Nacht verhandelt wird. Ich bin ziemlich sicher, dass die Staats- und Regierungschefs am Ende bereit sein werden, einen Kompromiss, der ganz nah bei dem ist, was Theresa May ausgehandelt hat, in die Abstimmung zu geben und dem zuzustimmen. Aber die Entscheidung wird am kommenden Samstag im Unterhaus fallen. Und die Leute, die dort sitzen, sind die Leute, die Boris Johnson in die Downing Street gebracht haben. Und Boris Johnson ging es vor einem Jahr nicht um die Europäische Union, dem ging es auch nicht um den Brexit, dem ging es um ein Machtspiel, ({1}) das er gewonnen hat. Jetzt sitzt er in der Downing Street. Jetzt ist es für die Bürgerinnen und Bürger in Großbritannien ebenso wie für die Bürgerinnen und Bürger in allen anderen Ländern der Europäischen Union zum Teil sehr schwer, nachzuvollziehen, was da abläuft, warum es eine Grenze geben oder keine geben soll, warum es Kontrollen in der Irischen See geben soll oder nicht. Darum wird es auch gehen. Aber es geht im Wesentlichen um etwas ganz anderes, und deshalb müssen wir das Augenmerk auf folgenden Umstand lenken: Er war noch nicht 14 Tage in der Downing Street, da hat er zu verstehen gegeben, was er will. – Boris Johnson will das Vereinigte Königreich zum Ableger der Interessen der Vereinigten Staaten von Amerika machen, vor den Toren der Europäischen Union. ({2}) Er will nicht, wie noch Theresa May, eine möglichst nahe Anbindung an die Europäische Union. ({3}) Boris Johnson hat ganz klar erklärt: Wir wollen mit den Vereinigten Staaten von Amerika eine Präferenzhandelspolitik machen, die sich gegen die Europäische Union richtet. ({4}) Deshalb sage ich: Man darf nicht am Ende, mitten in der Nacht, morgens um 4 Uhr – wir wissen ja, wie das läuft –, wenn keiner mehr die Augen offenhalten kann, sagen: Na, nun mach einen Kompromiss, damit wir das Ding vom Tisch kriegen. ({5}) Diesmal darf das nicht so gehen; denn, meine Damen und Herren, es geht um eines, um den Kernbereich des Bestandes des Binnenmarktes der Europäischen Union. ({6}) Man hat am Ende auch die Verpflichtung, Frau Bundeskanzlerin, auf Folgendes zu achten: Kompromissbereitschaft darf nicht zur Selbstaufgabe der eigenen Prinzipien führen. – Darum wird es in dieser Verhandlungsnacht gehen. ({7}) Die Politik dieses Mannes ist klar. Das ist der Ableger von Donald Trump in der Europäischen Union. ({8}) – Ja, dass die Methoden, die Trump und Johnson anwenden, Ihnen gefallen, das wundert mich nicht. Das ist der gleiche politische Tiefflug, der gleiche politische Flachkopf, ({9}) wie Sie ihn hier im Bundestag repräsentieren. Hören Sie doch auf! ({10})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Schulz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bystron?

Martin Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004886, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein. ({0}) Das ist der gleiche intellektuelle Tiefflug, ({1}) den wir in Europa erleben und die gleiche Methodik. Ohne jedes Beispiel ist, dass ein Regierungschef aus einer Telefonunterhaltung mit der Regierungschefin eines anderen Landes bewusst und gezielt Inhalte lanciert. Das hat ja schon Trump-Selenskyj-Qualität, was da abläuft. Warum wird das gemacht? Warum wird die Trump-Methode durch Johnson angewendet? Wenn es am Ende so sein könnte, dass die Europäische Union sagt: „Um unserer selbst willen werden wir nicht jedem Kompromiss zustimmen“, muss es bereits einen Schuldigen geben. Und wer soll der Schuldige sein? Natürlich die Bundeskanzlerin, natürlich der Macron. Hier wird schon vorweg ein „blame game“ gespielt. Das ist die Methode, mit der man Europa zerstört. Das ist die Methode, mit der man Vertrauen zerstört. Das ist die Methode, mit der man die diplomatischen Grundlagen, die man braucht, um in einer globalen Welt zu nachhaltigen Vereinbarungen zu kommen, zerstört. Das, Frau Merkel, dürfen Sie im Europäischen Rat nicht zulassen. ({2}) Im Wesentlichen geht es nämlich darum – das ist die Grenzfrage zwischen Irland und Großbritannien –: Bekommt Boris Johnson was er will, nämlich den ungehinderten Zugang zum größten und reichsten Binnenmarkt der Welt, dem europäischen, ohne gleichzeitig verpflichtet zu sein, die ökologischen Standards, die sozialen Standards, die steuerrechtlichen Standards dieses Binnenmarktes einzuhalten? Das würde für die Wirtschaft unseres Landes – kein Land in der EU ist auf diesen europäischen Binnenmarkt und sein Funktionieren mehr als die Bundesrepublik Deutschland angewiesen – bedeuten, dass unsere Betriebe, die die Ökostandards und die Sozialstandards einhalten, die anständig Steuern zahlen, erleben würden, dass wir zulassen, dass vor unserer Haustür eine Plattform für das Dumping jeder Art und eine Steueroase entstehen. Diese Wettbewerbsverzerrung dürfen wir unseren eigenen Unternehmen und ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nicht zumuten. Deshalb: Ja, wir wollen eine möglichst enge Anbindung Großbritanniens an die Europäische Union. Die Frage ist nur: Will Boris Johnson das noch, oder verfolgt er eine völlig andere Politik? ({3}) Darum wird es gehen. Deshalb wiederhole ich: Selbstbehauptung ist jetzt gefragt. Die Europäische Union ist Großbritannien weit entgegengekommen. Ich hoffe, dass es einen fairen Deal zwischen beiden gibt. Aber eins ist auch klar: Boris Johnson war jemand, der vom ersten Tag an in Verbindung mit seinem Herrenreiter Rees-Mogg und dessen Arroganz gegenüber jedem und allen, die nicht seiner Meinung sind, und schon gar gegenüber Europa bewiesen hat, dass er des Geistes Kind wie die rechte Seite dieses Hauses ist. In einer globalen Welt ist die Renationalisierung die falsche Antwort. Die Globalisierung braucht Regeln – sozial, ökologisch, demokratisch. Das Modell, das dafür steht, ist die Integration Europas. Vielen Dank. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Zu einer Zwischenbemerkung erteile ich das Wort dem Kollegen Bystron, AfD. ({0})

Petr Bystron (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004692, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Schulz, es ist unsäglich, wie Sie hier einen demokratisch gewählten Kollegen aus England diffamieren. Das ist ein Premierminister, ({0}) der von seinem Volk gewählt wurde, ({1}) damit er den Willen des Volkes vorbringt. Die Engländer haben sich in einem Volksentscheid entschieden, diese EU zu verlassen. Der wichtigste Grund für diese Entscheidung waren Bürokraten wie Sie in Brüssel. Die Menschen in England haben gesagt: Wir möchten nicht mehr von Brüssel aus regiert werden. ({2}) Also diffamieren Sie den Premierminister nicht dafür, dass er sich dafür einsetzt, was das englische Volk will. Das ist genau das, was Sie hier nicht tun. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Schulz, möchten Sie erwidern? – Ja. Herr Kollege Bystron, würden Sie während der Erwiderung bitte stehen bleiben. So ist es üblich. ({0}) – Wenn Sie einen Moment Ruhe bewahren, liebe Kolleginnen und Kollegen, dann kann Herr Bystron mich verstehen. Es ist bei uns im Bundestag üblich – es ist nicht im Grundgesetz vorgeschrieben –, dass man eine Antwort stehend entgegennimmt. ({1}) – Herr Schulz, aber nach den Regeln, die wir hier haben, machen wir es so, und wir belassen es jetzt auch dabei. Herr Kollege Schulz, jetzt haben Sie das Wort.

Martin Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004886, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die britische Regierung, Herr Bystron, wird nach anderen Regeln eingesetzt, als es in anderen Ländern der Fall ist; das nur zu Ihrer Aufklärung. Herr Johnson ist als Mitglied des Unterhauses gewählt worden, nicht als Regierungschef. Dazu ist er von der Queen ernannt worden. Nach meiner Einschätzung hat er im Unterhaus keine Mehrheit, was übrigens der Grund für die Schwierigkeiten bei den Verhandlungen ist. Ich hoffe, Sie haben dadurch jetzt ein bisschen mehr Einblick in die europäische Politik bekommen. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Alexander Dobrindt, CDU/CSU. ({0})

Alexander Dobrindt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003516, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ja, es ist doch richtig: Wir können nicht mit den Rezepten der Vergangenheit die Herausforderungen Europas meistern. Wer meint, er könnte es mit Renationalisierung schaffen, wer meint, er könnte es alleine, wer meint, er brauche auf der Welt niemand anderen außer sich selbst, der wird es nicht schaffen, in Zukunft Wohlstand in Europa zu sichern. Aber das ist unsere Aufgabe, die wir gemeinsam haben. ({0}) Darum hat Martin Schulz natürlich recht mit dem, was er sagt. ({1}) – Danke. Ich weiß, es ist ungewöhnlich, dass wir uns gegenseitig loben. Aber wenn wir diese Herausforderungen beschreiben, dann glaube ich auch, dass die neue Kommission und die neue Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hier den richtigen Takt vorgeben. Sie hat klar formuliert, dass eine der großen Herausforderungen ein klimaneutrales Europa ist. Lieber Christian Lindner, es ist gerade nicht so, dass wir damit einen nationalen Alleingang machen. Das Gegenteil ist der Fall: Wir bestimmen das Tempo mit in Europa. Das ist gerade bei den neuen Technologien unsere Aufgabe. Wir als Industrienation, als größte Wirtschaftskraft in Europa, als Exportweltmeister wollen doch auch zukünftig bei neuen, bei grünen Technologien die Erfolgreichen auf der Welt sein und nicht warten, bis andere etwas entwickeln. Deswegen ist es richtig, dass wir im Klimaschutz vorangehen und dafür sorgen, dass wir in der Zukunft die Ideen für den Weltmarkt produzieren. ({2}) Ja, 1 Billion Euro wird in den nächsten Jahren in Europa für Investitionen in die Zukunft bereitgestellt, übrigens auch bereitgestellt für die Sicherung unseres Kontinents und der Europäischen Union, gerade im Bereich des Grenzschutzes mit dem Ausbau von Frontex. Dazu gehört übrigens auch – das hat Ursula von der Leyen deutlich angemahnt – ein vielleicht neuer, auf jeden Fall respektvollerer Ton gegenüber unseren Nachbarstaaten in Mittel- und Osteuropa. Es sei mal daran erinnert: Gerade in diesem besonderen Jahr – 30 Jahre nach der Friedlichen Revolution – sollten wir uns schon gemeinsam darüber bewusst sein, was die Europäische Union für uns gemeinsam mit unseren osteuropäischen und mitteleuropäischen Nachbarn bedeutet. Meine Damen und Herren, es ist ein Glücksfall der Geschichte, dass es uns gelungen ist, Osteuropa und Mitteleuropa eine klare Perspektive in der Mitte Europas aufzuzeigen. Es ist ein großer Gewinn, dass wir heute so viele Gemeinsamkeiten mit Mittel- und Osteuropa haben. An der Stelle muss ich, sehr geehrter Herr Gauland, schon darauf hinweisen, dass Sie mit einer großen Leidenschaft über diejenigen reden, die Europa verlassen. Meine Damen und Herren, in der Vergangenheit haben diejenigen, die dieses Europa mit Leidenschaft gebaut haben und es nicht gespalten haben, dafür gesorgt, dass wir heute in Wohlstand und in Frieden mit unseren Nachbarn leben können. ({3}) An der Stelle kann ich Ihnen leider einen Hinweis auf die Tweets nicht ersparen, auf die mit Blick auf den Anschlag in Halle in Reden jetzt mehrmals Bezug genommen worden ist. Dass man angesichts dieses Anschlags in einem Tweet darüber spricht, dass Politiker „in … Synagogen rumlungern“, dass es Ihnen sehr geehrter Herr Gauland, nicht möglich ist, sich davon zu distanzieren und dafür zu sorgen, dass sowas auch Konsequenzen in Ihrer Fraktion hat, bedeutet, dass Sie sich ehrlicherweise sagen lassen müssen, dass es zunehmend unerträglich wird, dass Sie hier in diesem Parlament herumlungern. ({4}) Dass wir in diesem Europa jetzt wieder deutlich stärker darauf setzen, dass wir die großen Themen, die internationalen Themen bedienen, dass Ursula von der Leyen genau darüber spricht, dass es die großen Aufgaben einer zukünftigen Kommission sind, die erledigt werden müssen, und dass wir keine Kommission brauchen, die quasi als Nationalstaatskommission sich darum kümmert, weitere Kompetenzen nach innen zu entwickeln, das ist ein wichtiger Beitrag, wenn es darum geht, auch dafür zu sorgen, dass wir wieder mehr Zustimmung in der Öffentlichkeit für eine europäische Idee erzeugen. Dazu gehört, dass man auch gegenüber Irrungen und Wirrungen eine klare Absage formuliert. Deswegen, meine Damen und Herren, an all diejenigen, die glauben, man könnte in Europa eine europäische Arbeitslosenversicherung organisieren: Eine europäische Arbeitslosenversicherung, die zulasten der Sozialversicherungen in den Nationalstaaten geht, macht kein einziges Land stärker in Europa; die macht den Zusammenhalt schwächer in Europa, und das wollen wir nicht. ({5}) Wir wollen gemeinsam stärker werden und wachsen, und wir wollen in Europa nicht einseitig umverteilen. Natürlich hat das auch was mit dem Haushalt zu tun, der für die nächsten Jahre fixiert werden soll und über den jetzt gesprochen wird. Dieser Haushalt ist stark beeinträchtigt auch durch die Situation, dass wir vor einem Brexit stehen und dass wir England möglicherweise als Partner in der Europäischen Union verlieren. Ich will Ihnen hier klar sagen: Der Brexit ist einer der schmerzhaftesten Einschnitte in der Geschichte der europäischen Integration. Es ist schade, wenn wir England als engsten Partner in der EU verlieren, und deswegen geht es jetzt darum, nicht nur darüber zu reden: Wie kann denn ein geordneter Brexit ausschauen? Ja, klar, das ist besser als ein ungeordneter, aber, meine Damen und Herren, falsch bleibt er trotzdem. Deswegen müssen wir auch gerade darüber reden: Wie können wir eine engstmögliche Partnerschaft von England und Deutschland und Europa zukünftig organisieren? ({6}) Wir dürfen nicht nur mit dem Finger auf alle anderen zeigen und sagen: Out is out. – Nein, „Out is out“ darf nie unser Motto sein. Es geht darum: Wie bekommen wir größtmögliche Nähe auch zu England zukünftig in Europa organisiert? ({7}) Ich weiß, dass die Verhandlungen über den Finanzrahmen ausgesprochen schwierig werden, und wir wissen, dass wir in Europa neue Aufgaben haben, die wir finanzieren wollen. Aber wenn man neue Aufgaben finanziert, geht es am Schluss nicht nur darum: Wie kann man neues Geld beschaffen? Es geht vor allem auch darum: Wie kann man mit dem vorhandenen Geld neue Prioritäten setzen? Das ist jetzt auch die Herausforderung der Verhandlungen in Brüssel: In Europa Prioritäten setzen, um die Zukunft Europas und den Wohlstand für unseren Kontinent zu sichern. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dr. Franziska Brantner, Bündnis 90/Die Grünen, hat als Nächste das Wort. ({0})

Dr. Franziska Brantner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004255, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Gut, dass in die Brexit-Verhandlungen Bewegung kommt! Es ist ja ein spannendes Konstrukt, was wir da haben – manche würden sagen „abenteuerlich“ –: Rechtlich gilt das britische Gesetz, aber alle vereinbaren, dass sich niemand an das britische Gesetz hält, sondern dass stattdessen das europäische gilt. – Weil das so abenteuerlich ist, brauchen wir ganz glasklare Verträge und Abmachungen, die sicherstellen, dass Nordirland nicht zur Dumpingzone wird, dass es nicht die nächste große Steueroase innerhalb der Europäischen Union wird. Darauf, dies sicherzustellen, kommt es jetzt an. ({0}) Deswegen müssen wir genau hinschauen: Welche Binnenmarktregeln werden gelten? Der Binnenmarkt, das sind eben auch soziale Rechte, Arbeitnehmerschutz, Umweltrecht, Umweltschutz, Verbraucherschutz. Das bedeutet auch: Absprachen bei der Steuerpolitik. Da steckt der Teufel im Detail, und ich bitte diese Bundesregierung, nicht zuzustimmen, bevor das Detail geprüft wurde; denn am Ende ist der Binnenmarkt wie ein Fahrradschlauch: Wenn da auch nur ein Loch drin ist, ist das Fahrrad platt. – Wir müssen auf jedes kleine Löchlein aufpassen, damit am Ende nicht der Binnenmarkt kaputt ist. Diese Prinzipien dürfen wir nicht aufgeben. ({1}) Frau Merkel hat heute zum europäischen Haushalt gesprochen. Sie hat im ersten Satz gesagt: Die EU hat große neue Aufgaben zu finanzieren: Digitalisierung, Außenverteidigung, Klima. Im zweiten Satz hat sie gesagt: Es darf nirgends gekürzt werden, vor allen Dingen nicht in Ostdeutschland. Im dritten Satz hat sie gesagt: Es darf auch keinen Cent mehr kosten. – Adam Riese würde sagen: Das geht nicht. – Das passt nicht zusammen. Sie müssen sich schon entscheiden, und da können wir Ihnen einen klaren Rat geben: Europas Zukunft gibt es nicht zum Nulltarif. Nehmen Sie mehr Geld in die Hand! Es ist gut investiertes Geld. Wagen Sie endlich mehr Europa! ({2}) In Ihrem Koalitionsvertrag haben Sie es ja schon drinstehen. Setzen Sie das jetzt um! Es ist unsere Zukunft. Davon hängt so viel ab! Wir sehen, was in der Welt gerade los ist. Da ist es doch verrückt, jetzt an Europa zu sparen. Das ist doch das Falscheste, was man tun kann. Wir haben jetzt „50 Jahre Kanzlerschaft Willy Brandt“. Er hat gesagt: Mehr Demokratie wagen. Er hat außerdem gesagt: Wir machen auch mal die unangenehmen Dinge. – Gehen Sie doch mal in diese Tradition, liebe SPD! Sagen Sie mal Herrn Scholz: Etwas mehr Mut wagen für Europa, für Demokratie, und dafür vielleicht auch mal die schwarze Null infrage stellen! Ich danke Ihnen. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Detlef Seif, CDU/CSU, ist der nächste Redner. ({0})

Detlef Seif (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004152, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Get Brexit done! – Das war der Spruch auf dem Tory-Parteitag Anfang des Monats. Wir wollen endlich den Brexit vollziehen. – Und es gab frenetischen Applaus, wenn Politiker gesagt haben: Am 31. Oktober ist Schluss. Es folgt keine Verlängerung. Hier wird eine Dramaturgie aufgebaut, die Johnson dann auch mit seinem Angebot noch mal untermauert hat. Es handelte sich um das erste und einzige Angebot von Johnson vom 2. Oktober. Er sagte: Das ist mein letztes Angebot. Nur auf dieser Grundlage kann ein Abkommen geschlossen werden. Seit dem Referendum sind fast dreieinhalb Jahre verstrichen. Zwei Jahre haben die Briten verplempert. Und jetzt kommt Boris Johnson, setzt der EU die Pistole auf die Brust, baut mit seinem Chefberater eine Dramaturgie auf, die uns zwingen soll, im letzten Moment einem Abkommen zuzustimmen. Meine Damen und Herren, wichtig ist es aber, dass wir trotz dieser Taktik Johnsons nicht daran gehindert sein sollten, einen kühlen Kopf zu bewahren. Keine Verhandlungssituation dieser Welt darf dazu führen, dass wir unsere Prinzipien über Bord werfen und im Ergebnis damit der Europäischen Union Schaden zufügen. ({0}) Sicher, für beide Seiten steht viel auf dem Spiel, aber besonders für Großbritannien selbst: Politische Instabilität. Die werden in eine handfeste Rezession schlittern. Wir alle haben ein Interesse, dass so ein Ergebnis vermieden wird, aber wir dürfen nur einem Abkommen zustimmen, das die Integrität des Binnenmarkts wahrt. ({1}) Wenn, wie vorgeschlagen, Nordirland in einer Zollunion des Vereinigten Königreichs bleibt, gleichzeitig Binnenmarktregeln zur Anwendung kommen, aber keine Kontrollen auf der irischen Insel durchgeführt werden, übersteigt das zunächst mal die Fähigkeit, so einen Schritt nachzuvollziehen. Da ist höchste Sorgfalt erforderlich; sonst werfen wir unsere Prinzipien über Bord. ({2}) Es ist sehr bedauerlich – wir wollen das alle nicht –; aber wir verplempern eine Menge unserer Zeit mit dem Brexit-Verfahren und können uns daher nicht mit den wichtigsten Themen der Gegenwart beschäftigen. Der mehrjährige Finanzrahmen der Europäischen Union – er wurde mehrfach angesprochen – ist in den letzten Monaten deutlich zu kurz gekommen. Nach dem vollzogenen Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union ist eine finanzielle Lücke zu schließen. Alleine bei der Festlegung von 1 Prozent des Bruttonationaleinkommens als EU-Haushalt wird Deutschland jährlich mit über 10 Milliarden Euro mehr belastet werden. Da kann man einfordern – und dabei ist die Bundesregierung zu unterstützen – Sparsamkeit und Solidität in der Haushaltsführung. Bei dem jetzt vorgelegten Haushalt der Kommission mit einem Ansatz von 1,114 Prozent des Bruttonationaleinkommens hat man den Eindruck: Das ist die Blaupause der vergangenen Jahre – der Fraktionsvorsitzende hat es angedeutet. Es gibt keine neuen Ideen, keine Aufgabenkritik, keine Ausgabenkritik. Wenn Geld allein deshalb ausgegeben wird, weil es zur Verfügung gestellt wird, aber kein europäischer Mehrwert erkennbar ist, muss man sich die Frage stellen: Würde dieses Projekt in Angriff genommen, wenn eben keine Mittel zur Verfügung gestellt würden? Da ist ein deutliches Sparpotenzial. Hier können wir alle von der Kommission erwarten, dass das auch umgesetzt wird. ({3}) Vielen Dank! ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Jürgen Hardt, CDU/CSU. ({0})

Jürgen Hardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hatte 1992 an der Universität zu Köln im Wahlfach Politikwissenschaften die mündliche Prüfung zum politischen System Großbritanniens. Wenn ich in dieser Prüfung gesagt hätte, es sei auch in Großbritannien möglich, dass jemand Premierminister der Königin wird, der keine Mehrheit im Parlament hat, hätte man mich, glaube ich, hochkant aus der Prüfung rausgeschmissen. ({0}) Das zeigt, wie brisant die politische Situation in Großbritannien ist, und das lenkt, liebe Kolleginnen und Kollegen, den Scheinwerfer darauf, dass all das, was jetzt möglicherweise in den Nächten in Brüssel zwischen Boris Johnson, der EU-Kommission und den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union verhandelt wird, am Ende des Tages auch eine Mehrheit im britischen Unterhaus finden muss, genauso wie der Premierminister eine Mehrheit im britischen Unterhaus für die Regierungserklärung finden muss. Beides ist mit großen Fragezeichen versehen. Deswegen kann ich mir sogar vorstellen, dass man am Ende des Tages doch zu einem Punkt kommt, an dem beide Seiten vielleicht sagen: Wir müssen uns noch etwas mehr Zeit nehmen. – Zumindest gibt es Kolleginnen und Kollegen in Großbritannien, die wir übers Wochenende im Rahmen der NATO-PV getroffen haben und genau das für möglich halten. Ich möchte zweitens zum Thema Türkei/Nordsyrien etwas sagen. Es ist klar gesagt worden, dass wir den Einsatz der Türkei südlich der Grenze für völkerrechtswidrig halten, weil er durch den Artikel auf Selbstverteidigung aus unserer Sicht in dieser Form nicht gedeckt ist. Ich glaube aber – unabhängig der VN-Charta davon, was die Europäische Union dazu sagt –, dass es noch wichtiger ist, dass die NATO eine gemeinsame klare Sprache findet. Denn auch viele Anhänger Erdogans in der Türkei, Anhänger und Mitglieder der AKP würden es als kritisch ansehen, wenn ihr Präsident Streit mit der NATO provoziert und die Türkei möglicherweise sogar in ein sicherheitspolitisches Vakuum jenseits der NATO führt. Ich glaube, wenn von der NATO klare Signale kommen – dazu sind vielleicht die Verteidigungsminister in der Lage beim Treffen in der kommenden Woche und natürlich auch beim NATO-Gipfel Anfang Dezember –, könnte das tatsächlich in der Türkei vielleicht etwas bewegen. Ein dritter Punkt, den ich nennen will: Wir haben im zweiten Halbjahr 2020 die EU-Ratspräsidentschaft. Ich bin der Bundeskanzlerin dankbar, dass sie das Thema des zukünftigen EU-Haushalts für die nächsten sieben Jahre, der ja ab 2021 in Kraft tritt, genannt hat. Denn es wäre wirklich eine große Erleichterung für uns Deutsche, wenn das Schließen einer Vereinbarung über die mittelfristige Finanzplanung der EU nicht wieder auf den Schultern der deutschen Präsidentschaft im zweiten Halbjahr liegen würde, weil natürlich dann auch die Frage im Raum stünde: Na ja, kann Deutschland nicht über seinen Schatten springen und vielleicht das eine oder andere Finanzloch decken? – Es wäre deshalb sehr gut, wenn die Präsidentschaften, die der deutschen Präsidentschaft in der zweiten Hälfte des nächsten Jahres vorhergehen, an diesem Punkt eine Vorentscheidung bzw. gar eine Entscheidung treffen, die Deutschland davon entlastet, an dieser Stelle wieder der Ausputzer sein zu müssen. Ein letzter Punkt, den ich aus der Rede der Bundeskanzlerin hervorheben möchte – ich bin sehr dankbar, dass sie ihn genannt hat –: Die Europäische Union braucht mit Blick auf die Herausforderung China eine gemeinsame Strategie, die auch gemeinsam durchgehalten wird. Auch Deutschland hat mit China immer wieder wichtige Wirtschaftsgespräche geführt, ohne dass man die anderen EU-Staaten entsprechend miteinbezogen hat. Ich finde, wir als Europäische Union sollten zu einer gemeinsamen Vorgehensweise gegenüber dieser besonderen Form von Imperialismus, den die chinesische Regierung pflegt, kommen. Mit diesem „Smart Imperialism“ – so will ich das nennen – soll versucht werden, durch Wirtschaftskraft und die Vermengung von Wirtschaft und Politik in der Welt Einfluss zu nehmen; darauf müssen wir eine gemeinsame Antwort finden. Ich finde es gut, dass die Bundeskanzlerin gesagt hat: Wir brauchen eine EU-China-Politik, eine EU-China-Strategie. – Der Deutsche Bundestag sollte sich dann auch an der Entwicklung einer solchen Strategie durch entsprechende Debatten hier beteiligen. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über drei Entschließungsanträge der Fraktion Die Linke. Zunächst stimmen wir über den Entschließungsantrag auf der Drucksache 19/14108 ab. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist der Antrag bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen der anderen Fraktionen gegen die befürwortenden Stimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt. Dann kommen wir zur Abstimmung über den Entschließungsantrag auf der Drucksache 19/14110. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist der Antrag mit denselben Mehrheiten abgelehnt. Jetzt kommen wir zur Abstimmung über den Entschließungsantrag auf der Drucksache 19/14109. Wir stimmen auf Verlangen der Fraktion Die Linke über den Entschließungsantrag namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Alle Urnen sind offenbar vorschriftsmäßig besetzt. Ich eröffne die Abstimmung über den Entschließungsantrag.

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mich zuerst beim Bundestagspräsidenten für seine Worte heute bedanken, weil ich glaube, dass sie ein sehr wichtiges, auch geistiges Fundament für unsere Debatte heute sind. Ich kann ihm zustimmen – muss ihm leider zustimmen –, dass der Antisemitismus in Teilen unserer Gesellschaft verankert ist, ({0}) mit wachsender Bedeutung für die Sicherheitsbehörden, dass die Thematik Antisemitismus insbesondere in der rechtsextremistischen Szene ein bedeutendes Bindeglied darstellt, ebenfalls mit großen Herausforderungen für die Sicherheitsbehörden verbunden, und dass die Sicherheitslage, was den Antisemitismus, den Rechtsextremismus und den Rechtsterrorismus angeht, in unserem Lande sehr ernst ist. Wir dürfen andere Bereiche deshalb nicht aus dem Blick verlieren, aber ich weise seit Monaten darauf hin, dass wir in unserem Lande eine hohe Gefährdungslage auf diesem Feld haben. Das zu sehen, ist wichtig für unsere Debatte. Wir diskutieren nicht nur über dieses verabscheuungswürdige Verbrechen in Halle, sondern über eine Gesamtentwicklung in unserem Lande, übrigens auch mit durchaus beachtlichen internationalen Vernetzungen. Aus diesem Grunde möchte ich heute einige Punkte nennen – insgesamt sechs –, über die wir in der Koalition einig sind, dass wir sie jetzt zügig angehen, nach Möglichkeit schon in der nächsten Woche. Morgen habe ich die Innenminister der Bundesländer hier in Berlin zu Gast, um auch mit den Bundesländern diese Punkte zu besprechen. Ich nehme an, dass die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns auf diese Punkte verständigen, sehr, sehr hoch ist. Denn jetzt kommt es darauf an, dass wir nach dieser Betroffenheit, nach dieser Trauer, nach diesem Leid den Worten, die wir als Politiker gebraucht haben, auch wirklich Taten folgen lassen. Das ist jetzt die Aufgabe der Stunde. ({1}) Ich habe bereits in meiner früheren Verwendung als Ministerpräsident in Bayern immer wieder die Freude über das Glück zum Ausdruck gebracht, dass wir in vielen Städten und Gemeinden Deutschlands wieder blühendes jüdisches Leben haben. ({2}) Das war übrigens – das kann man heute gesichert sagen – das Hauptziel des Täters, nämlich – in seinem Sprachgebrauch – so viele Menschen, so viele Juden zu ermorden wie nur möglich. Und wenn die Tür der Synagoge ihn nicht daran gehindert hätte, dann hätten wir ein Blutbad erlebt. Daran kann es keinen Zweifel geben. Weil wir wieder blühendes jüdisches Leben haben, müssen wir – das ist mein erster Punkt – alles Menschenmögliche tun, um jüdische Einrichtungen in Deutschland durch Polizei und durch bauliche Maßnahmen besser zu schützen, als das heute der Fall ist. ({3}) Da gefällt mir auch nicht die Diskussion über die Frage, wer zuständig ist. Natürlich sind immer die Länder dafür zuständig, festzulegen, welche Schutzmaßnahmen wo ergriffen werden. Aber ich möchte mich morgen bemühen, dass wir zu einer gemeinschaftlichen Aktion von Bund und Ländern kommen, um diesen Schutz zu gewährleisten. Das Zweite ist: Die Sicherheitsbehörden arbeiten auch heute schon hoch motiviert und hoch qualifiziert an der Bekämpfung der antisemitischen Straftaten und aller anderen Alltagsvorfälle, die auch abscheulich sind. Sie sind sensibel und aufmerksam. Aber wir müssen sie – sowohl das Bundeskriminalamt als auch das Bundesamt für Verfassungsschutz – massiv organisatorisch und personell stärken. Dafür bitte ich das ganze Haus um Unterstützung bei dem Haushalt für das nächste Jahr, der jetzt ansteht. Wir können ja nicht so verfahren, dass wir zur Bekämpfung des Rechtsterrorismus mehr Personal einsetzen und die Organisationen stärken und deshalb woanders, wo auch Gefährdungen sind, Personal abbauen. Das Personal kann nur zusätzlich sein. Also so zu handeln, wie man es in der Verwaltung oft macht – wir stocken den einen Bereich auf, indem wir den anderen reduzieren –, wird hier nicht möglich sein. Ich habe mich selbst sehr in diese Zukunftskonzeption reingekniet. Wir brauchen für die Bekämpfung der rechtsextremen Szene die gleichen Einheiten, wie wir sie für die Bekämpfung des islamistischen Terrors über die Jahre aufgebaut haben. Und das geht nur mit zusätzlichem Personal, einigen Hundert Stellen. Es gibt große zusätzliche Aufgaben für die Behörden. Wir werden morgen mit den Vertretern der Bundesländer darüber reden, dass auch die Bundesländer in diese Richtung ihre Kapazitäten aufbauen und dass wir zu einer engsten Zusammenarbeit zwischen den Sicherheitsbehörden kommen. Die ganz große Herausforderung besteht darin, dass wir es nach jetzigem Erkenntnisstand mit frustrierten Einzeltätern zu tun haben, potenziellen Einzeltätern. Früher hat man eine Partei beobachtet, und wenn es keine Auffälligkeit gab, dann wurde nichts veranlasst. Im Unterschied dazu haben wir es heute mit frustrierten Einzeltätern zu tun, die außerhalb der Öffentlichkeit und ohne zunächst erkennbare Verbindungen zu irgendjemandem so einen Frust, so eine Gewaltbereitschaft aufbauen. Diesen einzelnen Personen und ihren Verbindungen in Deutschland, aber auch international auf die Schliche zu kommen, ist eine gewaltige neue Aufgabe für die Sicherheitsbehörden. Aber wenn wir glaubwürdig bleiben wollen gegenüber der Bevölkerung, müssen wir diesen schwierigen Weg gehen; er ist anspruchsvoll. Ich war in Halle. Dort hat ein junger Bürger in die ganze Stille hinein einen Satz gerufen, der für mich wie ein Stich ins Herz war: Ihr könnt uns nicht schützen! – Der Satz geht mir seit dem Zeitpunkt nicht mehr aus dem Kopf. Ich habe Verständnis für das Gefühl. Die ganze Stadt ist aufgewühlt; der Täter hat ja richtig gewütet, auf völlig unbeteiligte Passanten geschossen, sie bedroht. Und dieser junge Mann rief: Ihr könnt uns nicht beschützen! – Das ist für uns alle ein Auftrag: dass dieser Satz nicht mehr notwendig ist. ({4}) Deshalb: Wir wollen jetzt nicht einen Polizeistaat. Wir wollen starke Sicherheitsbehörden, die auf der Grundlage unseres Rechts unsere Bürger schützen. Das Dritte ist: Wir brauchen eine Meldepflicht für die Anbieter im Internet – Stichwort „Hassparolen“. Ich habe es in meiner ganzen politischen Laufbahn noch nie erlebt, dass, wie im Fall Lübke, über eine so lange Zeit das Opfer im Internet verhöhnt und der Täter gefeiert wird. Das ist die Situation in der Bundesrepublik Deutschland. ({5}) Deshalb brauchen wir eine Meldepflicht betreffend das Bundeskriminalamt für die Provider, für die Anbieter, immer dann, wenn Straftatbestände im Internet verwirklicht sind, damit diese Dinge dann auch strafrechtlich verfolgt werden können. ({6}) Die Justizministerin wird ja selber noch sprechen. Ich bin ihr sehr dankbar dafür, dass wir in dieser Grundhaltung übereinstimmen. Ich glaube, da können wir sehr viel erreichen. Wut und Hass sind immer die Vorstufe zu einer Gewalttat. Lieber Herr Gauland, Sie reden nach mir. Alexander Dobrindt hat das Beispiel des Tweets genannt, in dem es heißt, dass wir dort, wo die Menschen um ihr Leben gefürchtet haben, „rumlungern“. Ich war in der Synagoge, wo man die Kinder und die Frauen in einer Wohnung oberhalb der Synagoge in Sicherheit gebracht hat, weil man über den Bildschirm alles mitverfolgt hat. Ich fordere Sie einfach auf: Distanzieren Sie sich von solchen Äußerungen! ({7}) Wir prüfen viertens mit Hochdruck Vereinsverbote von rechtsextremistischen Vereinen. Wir machen dies auf dem Boden des Rechtsstaates, das heißt, wir brauchen auch die Zusammenstellung der entsprechenden Beweismittel. Aber glauben Sie mir: Wann immer es rechtsstaatlich möglich ist, werden wir solche Verbote aussprechen. Wir müssen fünftens das Waffenrecht und das Sprengstoffrecht in den Blick nehmen. Wir müssen viel stärker an jene heran, die Waffenbesitzkarten haben und gleichzeitig in rechtsextremen Vereinigungen sind. Und wir müssen bei der Ausstellung von neuen Waffenscheinen oder Waffenbesitzkarten sehr viel stärker hinschauen, ob diese Personen in Verbindung mit rechtsextremistischen oder terroristischen Vereinigungen stehen. Es kann nicht angehen, dass ein Auto – wie in diesem Fall – bis zum Dach mit Sprengmitteln beladen ist, dass ein Täter vier verschiedene Waffen dabeihat, dass er sich in Serie die Einzelteile der Waffen bestellt, obwohl der Besitz jedes Einzelteils nach dem geltenden Recht eine Waffenbesitzkarte voraussetzen würde, und dass wir dann sagen: Wir lassen beim Sprengstoffrecht und beim Waffenrecht alles so, wie es ist. – Wir müssen daran arbeiten. ({8}) Der letzte Punkt in diesem Sofortpaket, wenn ich es mal so nennen darf, ist die Prävention. Wir werden uns – das habe ich mit Frau Giffey vereinbart – mit Spezialisten auf diesem Feld aus ganz Deutschland und mit dem Zentralrat der Juden zusammensetzen. Wir haben viele Präventionsprogramme; wir führen sie auch fort. Trotzdem müssen wir auch hier schauen: Sind wir auf der Höhe der Zeit, um an die Menschen ranzukommen, von denen ich gerade sprach und die wir in unsere demokratische Gesellschaft zurückholen wollen? Das sind die sechs Punkte, die ich Ihnen für heute mitteilen möchte – auf dem Fundament, dass wir eine sehr ernste Lage haben, was den Rechtsextremismus in unserem Lande angeht. Das ist keine Panikmache, das belegt die Entwicklung der Straftaten. Das sehen Sie durch den Antisemitismus im Alltag. Und das sehen wir als Sicherheitsbehörden durch eine große Gewaltbereitschaft und eine hohe Waffenaffinität in dieser Szene. Ich bitte den Bundestag hier um Unterstützung. Wir brauchen da und dort die entsprechenden Finanzmittel und auch die rechtlichen Änderungen. Ich will Ihnen noch sagen: Ich habe mein ganzes politisches Leben auch in den Dienst der Bekämpfung von Rechtsextremismus gestellt. Als Ministerpräsident habe ich sehr dafür gesorgt, dass die Juden geschützt sind und ein blühendes Leben gedeihen kann. Ich gehörte zu den Ministerpräsidenten, die das NPD-Verbot an führender Stelle betrieben haben, weil ich mir Beweismaterialien angeschaut habe, nämlich die Schießübungen auf lebende Politiker am Wochenende durch solche Kräfte. Das alleine hätte für mich ausgereicht, um eine Organisation zu verbieten. Es ist eigenartig, aber es war so: Ich hatte exakt für den Tag des Anschlages zu einer Antisemitismuskonferenz in meinem Hause eingeladen. Sie musste natürlich abgesagt werden; wir werden sie zeitnah nachholen. Es ist einfach eine Grundüberzeugung von mir. Das wollte ich dem Parlament noch mitteilen. Wir alle sollten dafür kämpfen, dass Menschen unterschiedlicher Konfessionen, unterschiedlichen Glaubens in diesem Lande friedlich und sicher zusammenleben können. Wenn wir das, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, nicht gewährleisten können, dann geben wir die Grundlagen unserer freiheitlichen Grund- und Rechteordnung preis. ({9}) Die Bürger erwarten – das sagte ich bereits –, dass wir sie schützen. Ich wie auch alle Vertreter der Bundesregierung werden alles dafür tun, dass Juden in unserem Lande ohne Bedrohung und ohne Angst leben können. ({10}) Das verbirgt sich hinter dem Satz: Nie wieder! Nie wieder, meine Damen und Herren! ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Alexander Gauland für die AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Alexander Gauland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004724, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Bundesminister, solange ein Mitglied der Bundesregierung sagen kann, die AfD sei der politische Arm des Rechtsterrorismus, entschuldige ich mich hier für nichts. Sie müssten damit anfangen. ({0}) Meine Damen und Herren, dass in Deutschland im Jahre 2019 Juden in ihrem Gotteshaus Todesängste ausstehen müssen, ja, da gebe ich Ihnen recht, das ist ein ungeheurer Skandal. Ein Angriff auf eine Synagoge in Deutschland, das darf nicht sein. ({1}) Juden müssen mit Kippa und Davidstern durch deutsche Städte laufen können, ohne dass sie beschimpft und attackiert werden. ({2}) Wenn das nicht oder nur eingeschränkt möglich ist, hat sich dieses Land zu fragen, ob es noch zivilisiert ist. ({3}) Das müsste der Minimalkonsens sein. Wenn es aber einen Minimalkonsens gibt, dass so etwas nie wieder passieren darf, so herrscht bei der Bewertung der Ursachen jenes Amoklaufes ein gewaltiger Dissens. ({4}) Für alle Parteien außer uns scheint klar zu sein, dass wir ein sogenanntes Klima geschaffen haben, in dem solche Taten möglich sind. ({5}) Ich gestatte mir an dieser Stelle einmal die Frage, wer denn das Klima geschaffen hat, das den Anschlag vom Breitscheidplatz möglich gemacht hat. ({6}) Ist es nicht merkwürdig? Wenn ein Islamist tötet, werfen Sie uns vor, wir würden die Tat instrumentalisieren, wenn ein Rechtsextremist tötet, dann sind wir diejenigen, die das Klima geschaffen hätten, in dem solche Taten passieren. ({7}) Wir sind praktisch immer schuld. Das müssen Sie sich einmal überlegen. ({8}) Es gibt aber nicht nur ein nebulöses geistiges Klima, für das wir verantwortlich sein sollen, ({9}) sondern auch konkrete Zustände. Man kann nüchtern feststellen, dass es seit der Ausrufung der Willkommenskultur 2015 zu einer gewaltigen Radikalisierung und Spaltung der gesamten Gesellschaft gekommen ist. ({10}) Für diese allgemeine Radikalisierung haben jene die Ursache gesetzt, die in einem historisch beispiellosen Akt mehr als 1,5 Millionen unserer Kultur fremder Menschen ins Land gelassen haben. ({11}) Das alles mindert selbstredend in keiner Weise die Schuld des Banditen von Halle. ({12}) Aber nicht wir haben die Lage zu verantworten, in welcher sich unser Land befindet. Wir haben die Möglichkeit geschaffen, sich an der Wahlurne eine andere Politik zu wünschen. Eine solche machen wir auch. ({13}) Die beispiellose Hetze, mit der meine Partei in den vergangenen Tagen überzogen wurde, war der erwartbare Versuch, uns eine Mitschuld zu geben. ({14}) Meine Damen und Herren, wo war Ihre spontane Mahnwache nach dem Anschlag am Breitscheidplatz, wo übrigens auch Juden unter den Opfern waren? Ein Jahr lang haben Sie den Opfern weder persönlich noch schriftlich kondoliert. ({15}) Wo war die Mahnwache, als das jüdische Mädchen Susanna von einem sogenannten Flüchtling ermordet wurde? ({16}) Im Übrigen hielten Sie, Frau Bundeskanzlerin, Ihre Mahnwache in der Berliner Synagoge, in die wenige Tage zuvor der 23-jährige Mohamad M. versuchte, mit einem Messer bewaffnet einzudringen, „Allahu Akbar“ und „Fuck Israel“ rufend. ({17}) Mohamad M. ist längst wieder auf freiem Fuß. Sie hielten Ihre Mahnwache in einer Stadt, an deren zentralem Platz zwei arabische Rapper auftreten sollten, die in ihren Liedern von der Vernichtung Israels träumen. Erst nach vielen Protesten wurde das nicht gemacht. Ich frage mal den Herrn Außenminister: Gibt es einen triftigeren Grund, die Einreise zu verweigern, als die öffentliche Propaganda zur Vernichtung eines Landes? ({18}) Meine Damen und Herren, die selektive Betroffenheit erweckt den Eindruck, dass die Mahnwachen nicht jüdischen Opfern gelten, ({19}) sondern eher den passenden Tätern, wenn sie politisch in den Kram passen, um sie gegen uns in Stellung zu bringen. Da machen wir bestimmt nicht mit. ({20}) Wenn wir angeblich der politische Arm des Rechtsterrorismus im Parlament sind, wie das ein Staatsminister gesagt hat, dann wären Sie der politische Arm des islamistischen Terrors in diesem Land. ({21}) Denn während wir angeblich nur für irgendein Klima verantwortlich sind, sind Sie für reale Zustände verantwortlich, für den Import des muslimischen Antisemitismus. ({22}) Solange sich diese Bundesregierung nicht dafür entschuldigt, was hier gesagt worden ist, was der Bundesfinanzminister und was andere Mitglieder der Bundesregierung gesagt haben, bin ich nicht bereit, in irgendeiner Weise Kritik an meinem Freund Brandner zu üben. Das lassen Sie sich gesagt sein! ({23})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Bundesministerin Christine Lambrecht. ({0})

Christine Lambrecht (Minister:in)

Politiker ID: 11003167

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin sehr versucht, auf einige dieser kruden Ideen von eben einzugehen, ({0}) aber ich glaube, es wird der Sache nicht gerecht, wenn wir dieses Schuldzuschreiben, dieses Beschimpfen weiter fortsetzen. ({1}) Herr Gauland, das war eines Politikers des Deutschen Bundestages nicht würdig, was hier eben abgeliefert wurde. ({2}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, nicht erst seit meinem Amtsantritt als Justizministerin beschäftige ich mich mit der Frage, wie man Hass und Hetze im Alltag, in Diskussionen, in den Parlamenten und auch in der digitalen Welt bekämpfen kann. Wir müssen feststellen, dass Hass und Hetze immer öfter Taten folgen, schreckliche Taten, wie der Mord an Walter Lübcke und die Morde in Halle. Am letzten Dienstag haben auf Einladung des BMJV zahlreiche betroffene engagierte Demokratinnen und Demokraten darüber diskutiert, wie man den Nährboden, der sich immer weiter ausbreitet, bekämpfen, wie man ihn austrocknen kann. Der Berliner Rabbiner Teichtal hat bei dieser Gelegenheit beschrieben, wie es sich anfühlte, als er mit seinem Sohn nach einem Gottesdienst nach Hause wollte und auf diesem Weg bespuckt, bedroht und beleidigt wurde. ({3}) Die Anwesenden haben ihm dann zur Verabschiedung einen schönen Jom Kippur, ein friedliches Versöhnungsfest gewünscht. Ich hätte mir nicht vorstellen können – das war ein bitteres Gefühl –, einen Tag später von den schrecklichen Morden und Mordversuchen aus antisemitischen Gründen an diesem Versöhnungsfest in Halle zu hören. Ja, ich war und ich bin erschüttert, schockiert. Unsere Gedanken sind bei den Opfern und ihren Hinterbliebenen. Ich danke bei dieser Gelegenheit dem Opferbeauftragten der Bundesregierung, Dr. Edgar Franke, der sehr schnell direkte Hilfe und Unterstützung für die Opfer und ihre Hinterbliebenen organisiert hat. ({4}) Doch, liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere Betroffenheit darf uns nicht vom konsequenten Handeln abhalten. Wir haben es mit Rechtsterrorismus zu tun, aus meiner Sicht der aktuell größten Bedrohung unseres Gemeinwesens. ({5}) Gegen diese Bedrohung müssen wir auf allen Ebenen und mit aller Konsequenz vorgehen. Morde wie die in Halle geschehen nicht im Internet. Es wäre aber naiv, zu glauben, dass antisemitische und radikale Hetze im Netz nichts mit der Gewalt im realen Leben zu tun hätte. Wir müssen den Nährboden für Hass, Hetze und Gewalt austrocknen. Schwerste Beleidigungen und Bedrohungen hinzunehmen, würde zu einer weiteren Grenzverschiebung beitragen. Wenn wir – zu Recht – sagen, dass Meinungsfreiheit dort aufhört, wo Strafrecht beginnt, dann müssen wir das als Rechtsstaat auch durchsetzen – auch im Netz. ({6}) Deshalb müssen wir das Netzwerkdurchsetzungsgesetz verschärfen. Schon heute sind soziale Netzwerke verpflichtet, strafbare Beiträge zu sperren oder zu löschen. Doch das reicht nicht. Wir brauchen eine Pflicht, Morddrohungen und Volksverhetzungen den Strafverfolgungsbehörden zu melden. ({7}) Hetzern muss klar sein, dass sie sich nicht in der Anonymität des Netzes verstecken können, dass sie mit Verfolgung rechnen müssen und dass ihnen Strafen drohen. ({8}) Den Einwand, den ich zuweilen höre, dass ich so Strafverfolgung auf Private übertragen würde, kann und will ich nicht stehen lassen. Zur Bekämpfung von Geldwäsche und von Terrorismusfinanzierung sind auch heute schon private Banken verpflichtet, Verdachte an die FIU, die Financial Intelligence Unit, zu melden. Nach weiterer Prüfung werden diese Vorgänge, wenn sie strafrechtlich relevant sind, an die Ermittlungsbehörden weitergeleitet. ({9}) Was zur Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung schon heute möglich ist, das müssen wir auch gegen Volksverhetzung und gegen Morddrohungen möglich machen. ({10}) Die Ermittlungsbehörden können nur dann schnell handeln, wenn ihnen die notwendigen Informationen vorliegen. Das sind nun einmal die IP-Adressen. Nur so können die realen Personen hinter den widerlichen und strafbaren Posts ermittelt werden. ({11}) Deswegen werde ich Ihnen in der nächsten Woche einen ganz konkreten Vorschlag zu dieser Verschärfung vorstellen. Ich werde weiter eine Strafverschärfung hinsichtlich Beleidigungen vorschlagen, die in sozialen Medien begangen werden. Solche Beleidigungen erreichen ein viel größeres Publikum und sind auch aufgrund der vermeintlichen Anonymität im Netz deutlich aggressiver und persönlich abwertender. In dieser Woche diskutieren wir im Plenum über die Verschärfung des Waffenrechts; es steht auf der Tagesordnung. Die Vorschläge sind gut, aber mir gehen diese Vorschläge nicht weit genug. Unsere Waffenbehörden müssen eine Regelabfrage beim Verfassungsschutz durchführen können. Waffen gehören nicht in die Hände von Extremisten. Wir dürfen nicht erst warten, bis sie sie haben, und sie ihnen dann entziehen, sondern wir müssen vorher handeln. ({12}) Lassen Sie uns gemeinsam diese Verschärfung ins Waffenrecht aufnehmen. Die zahlreichen Gespräche mit Betroffenen von Hass und Hetze haben mir deutlich gemacht, dass es den Hetzern darum geht, diejenigen, die sich für Demokratie, Toleranz und unseren Rechtsstaat einsetzen, mundtot zu machen. Ich habe ganz oft gehört, dass man das nicht länger erträgt, dass man sich und seine Familie vor so etwas schützt und dass man sein Engagement für diese Gesellschaft deshalb einstellt. Das dürfen wir als wehrhafte Demokratie nicht zulassen. Diese Menschen sind die Stütze unserer Gesellschaft. ({13}) Wir müssen uns solidarisch hinter sie stellen. Wir müssen aber auch entsprechend handeln. Deswegen will ich § 188 StGB dahin gehend präzisieren, dass auch Kommunalpolitiker besser vor Verleumdung und übler Nachrede geschützt sind, also dass § 188 StGB in Zukunft auch für sie gilt. Wer § 188 StGB liest, könnte meinen, es wäre schon heute so. Durch Rechtsprechung ist es aber nicht so. Deswegen müssen wir uns nicht nur solidarisch erklären, sondern durch diese Verschärfung eben auch solidarisch handeln. ({14}) Trotz vieler Vorkommnisse und schrecklicher Taten in diesem Land bin ich immer noch davon überzeugt: Unsere Demokratie ist wehrhaft. Unser Rechtsstaat ist stark. Lassen Sie uns deswegen keine Scheindebatten führen, sondern dafür sorgen, dass wir mit aller Konsequenz gegen diejenigen vorgehen können, die diesen Rechtsstaat angreifen. Vielen Dank. ({15})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun Linda Teuteberg das Wort. ({0})

Linda Teuteberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004913, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wer ein Menschenleben rettet, dem wird es angerechnet, als würde er die ganze Welt retten. Und wer ein Menschenleben zu Unrecht auslöscht, dem wird es angerechnet, als hätte er die ganze Welt zerstört. Dass vielen Menschen dieses Zitat aus dem Talmud in kürzerer Fassung aus dem Film „Schindlers Liste“ bekannt ist, verweist auf die besondere Verantwortung, die gerade unser Land dafür hat, dass Jüdinnen und Juden in unserem Land sicher und frei leben können. ({0}) Um die schändliche Auslöschung von Menschenleben geht es bei der Tat von Halle. Deshalb sollten wir uns heute nicht verlieren in einem Klein-Klein, in Rabulistik über Weckrufe, Alarmzeichen und Zäsuren. Dass Antisemitismus kein neues Thema ist, dass er ein beschämender Teil des Alltags in unserem Land ist, ist für uns Freie Demokraten nicht neu und nicht überraschend. Allein: Das beruhigt nicht, das tröstet nicht. Denn es geht nicht um einen Fleiß- oder Überbietungswettbewerb darin, wer wann was gefragt, beantragt oder gesagt hat im Deutschen Bundestag und anderswo. Es geht um eine gemeinsame Verantwortung für ein hohes Gut – unsere Verantwortung dafür, dass jüdisches Leben in Deutschland sicher, frei und selbstbestimmt stattfinden kann und dass Jüdinnen und Juden selbst darauf vertrauen. ({1}) Was wird also dieser Verantwortung gerecht? Sicher nicht Reflexe, Aktionismus und Überbietungswettbewerbe. ({2}) Uns Freien Demokraten fällt da manches ein. Folgendes gehört nicht dazu: Gamer unter Generalverdacht zu stellen, altbekannte verdachtsunabhängige Überwachungsfantasien und Datensammelwut aus der Schublade zu ziehen oder auch einen Extremismus unter Verweis auf einen anderen zu relativieren, gar zu verharmlosen. ({3}) Wer mörderische Anschläge verhindern will, greift zu kurz und denkt zu pauschal, wenn er die Gamerszene unter Verdacht stellt. Nicht das Killerspiel macht Menschen zu Mördern. Genauso wenig reicht es, über irgendeine psychische Disposition von Tätern zu sprechen. ({4}) Wer das tut, kommt nicht zum Ziel: der Verhinderung von Gewalttaten. Der Ort, den wir suchen müssen, ist der, wo Menschen mit menschenverachtender Ideologie aufgeladen werden. Diese Orte sind nicht geheim; denn Ideologien will von Ideologen verbreitet werden. Hier ist die Wurzel der Gewalt. Die Orte der Verbreitung menschenverachtender Ideologie muss der Rechtsstaat viel intensiver ins Visier nehmen, egal ob sie im Internet, in Kameradschaften, in Parteien und damit verbundenen Organisationen oder anderswo stattfindet. Der Rechtsstaat sollte die Orte der Hasspredigten mit dem notwendigen Aufwand verfolgen und aufsuchen, damit den Brandstiftern das Handwerk gelegt werden kann. ({5}) Er muss dabei auch entschlossen zeigen, dass er sein Gewaltmonopol verteidigt, ob mit Vereinsverboten oder im Waffen- und Sprengstoffrecht. Das sollten wir ebenso besonnen wie entschlossen im Innenausschuss beraten. Es wird dafür aber nicht reichen, „Wir sind Rechtsstaat“ zu plakatieren, wie die Bundesregierung es jetzt tut. Das muss im Alltag spürbar sein. ({6}) Es darf eben nicht von der Stärke einer Synagogentür in unserem Land abhängen, ob Jüdinnen und Juden sich sicher fühlen können. Der freiheitliche Rechtsstaat muss den notwendigen Polizeischutz geben. Ja, wir brauchen hohe gemeinsame Standards, und Versäumnisse sind aufzuarbeiten. ({7}) Das ist so notwendig, so traurig und so unzureichend. Denn nicht nur aus praktischen Gründen wird es nicht reichen, auf Sicherheitstechnik und Polizei zu setzen. Denn was soll das zum Beispiel für Schulen und Sportvereine bedeuten? Wir müssen die gesellschaftlichen Türen vor Antisemitismus und menschenverachtendem Gedankengut fest verschließen, damit es nicht auf die realen Türen ankommt wie in Halle. ({8}) Dabei kommt Antisemitismus in vielen Formen und in vielen Gewändern daher. Er beschränkt sich nicht auf ein bestimmtes politisches oder gesellschaftliches Lager. Auffällig dabei ist, dass er regelmäßig Hand in Hand mit Verschwörungstheorien geht. Diese sind auch dieser Tage reichlich im Netz zu finden und auch anderswo zu hören. Sie begegnen uns übrigens auch in manchen außen- und wirtschaftspolitischen Debatten. Sie sind ein hilfloser Reflex auf die Komplexität moderner Gesellschaften und ihrer Herausforderungen. Die Wirklichkeit ist oft ziemlich banal. Das Böse übrigens auch, wie Hannah Arendt so eindrucksvoll beschrieben hat. Welchen Sinn kann also für aufgeklärte Menschen die Beschäftigung mit diesen verschiedenen Erscheinungsformen von Antisemitismus eigentlich haben? Allein den, dieses menschenverachtende Gedankengut zu erkennen und ihm entschieden entgegenzutreten, wo immer es uns begegnet, ({9}) auch und gerade dort, wo es geschmeidig, gefällig, vermeintlich harmlos daherkommt, und nicht etwa, um Relativierungen oder Abstufungen vorzunehmen. Denn klar ist: Jegliche Erscheinungsform von Antisemitismus ist vollkommen inakzeptabel. ({10}) Es wurde hier schon verschiedentlich angesprochen: Auch Reden sind Taten, und der Weg von Gedanken zu Taten ist oft nicht weit. Sprache ist wichtig und bezeichnend für die Debatten in einer Gesellschaft. Wenn wir also die Verantwortung, die gesellschaftlichen Türen für Antisemitismus und Rassismus zu verschließen, ernst nehmen, dann gilt auch: Bezeichnungen wie rechtsradikal, Nazi, rechtsextrem werden entwertet, und es führt zur Abstumpfung, wenn sie leichtfertig verwendet werden, nur um unliebsame Meinungen zu diffamieren. Sie werden so zur kleinen Münze. ({11}) Diese Worte müssen beschämen, und dafür dürfen sie nur selten verwendet werden. ({12}) Lassen Sie uns vielmehr gemeinsam dafür sorgen, dass sich wirkliche Rechtsextremisten nicht ungestört fühlen können in unserem Land. Gegen andere Feinde der offenen Gesellschaft zu sein, macht einen selbst noch nicht zum glaubwürdigen Verteidiger der offenen Gesellschaft. Dazu gehört mehr. Leider gibt es auch dazu in diesen Tagen viel Anschauungsmaterial. ({13}) Zur Verteidigung der offenen Gesellschaft vertreten wir Freie Demokraten einen ganzheitlichen Ansatz: Wir setzen auf die Verantwortung jeder und jedes Einzelnen im Alltag, wo immer ihm menschenverachtende Äußerungen und menschenverachtendes Verhalten begegnen, auf die Gesellschaft, wo wir Bildung und Begegnung zur Prävention brauchen, und auf den freiheitlichen Rechtsstaat, der sein Gewaltmonopol wahren und durchsetzen muss. Lassen Sie uns gemeinsam unserer Pflicht nachkommen, dafür zu sorgen, dass unsere Trauer und unsere Ankündigungen nicht als bloße Rituale und Lippenbekenntnisse wahrgenommen werden. Vielen Dank. ({14})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin Dr. Petra Sitte das Wort. ({0})

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Meine Damen und Herren! Ich komme aus Halle. Bis letzten Mittwoch habe ich, wie so viele in Halle, gedacht: Ein Anschlag bei uns? Nein, das ist ausgeschlossen. Wir haben in Halle gerade Oberbürgermeisterwahlen, und in diesen Tagen haben wir, wie andere auch, Wahlkampf gemacht. Ich stand mit Freunden und Unterstützern am Uniklinikum, als die Katastrophen-App der Stadt plötzlich Gefahr signalisiert hat. Es sollte Verletzte gegeben haben; es sollte Tote gegeben haben. Wie Sie sich denken können, waren wir in diesem Moment gelähmt; wir waren völlig fassungslos. Später hat sich dann gezeigt, dass es tatsächlich zwei wehrlose Opfer getroffen hatte: eine Frau, die in Halle von vielen gekannt wurde, sie war eine leidenschaftliche Autogrammsammlerin, und einen jungen Mann, der einfach nur Mittagessen war. Man fragt sich natürlich: Wie konnte das passieren, in Halle, in meiner Stadt? Wir haben eine lebendige, internationale Stadtgeschichte. Wir haben eine Kulturszene, die international ist. Wir haben die Universität, die Hochschulen. Wir haben eine lebendige, weltoffene Stadtgesellschaft. Und wir haben ein breites Bündnis „Halle gegen Rechts“. Und trotzdem: Es gibt auch in dieser Stadt dunkle, es gibt braune Seiten, die wir seit Jahren durchaus erfolgreich bekämpft haben. Wenn beispielsweise in Halle die Identitäre Bewegung marschieren wollte, deren Haus im Übrigen unweit der Synagoge liegt, dann kam sie genau bis vor die Haustür und keinen Schritt weiter. ({0}) Genau in diesem Haus hatte der Landtagsabgeordnete Tillschneider von der AfD jahrelang sein Wahlkreisbüro. Im Nachbarkreis, in Schnellroda, liegt das rechtsextreme Institut für Staatspolitik vom Vordenker der AfD Götz Kubitschek. ({1}) Da werden die rassistischen, antisemitischen Parolen der AfD bürgerlich ummantelt, und die ganze Führungsriege der AfD geht dort ein und aus; zuletzt Alice Weidel am 20. September. Dort wird vorgedacht und über das Netz verbreitet, was andere Rechtsextreme in die Tat umsetzen. Wenn AfD-Brandner twittert, warum vor Moscheen und Synagogen herumgelungert wird, wenn doch die Opfer Deutsche waren, dann verhöhnen Sie auf eine unglaubliche Weise die Opfer. ({2}) Meine Damen und Herren, dieser Mann gehört nicht in den Bundestag. ({3}) Dass in diesem Land wieder ein Klima von Angst und Ohnmacht herrscht, ist Ihrer Hetze und Ihrem Menschenhass zuzuschreiben. Wir Demokraten werden das nicht zulassen. ({4}) Die Synagoge war nicht nur an diesem Tag schutzlos, und das, obwohl der Innenminister und die zuständigen Behörden um die Gefahren gewusst haben müssen. Ich begreife auch bis heute nicht, wie der Innenminister des Landes die Ereignisse ohne den Hauch eines Selbstzweifels über eigenes Handeln bewerten kann. Das macht mich wütend. ({5}) Aber die Menschen sind mehr denn je zusammengerückt – nicht nur in Halle, sondern auch an vielen anderen Orten sind sie solidarisch zusammengerückt. Das haben die Gedenken an den Tagen danach beeindruckend gezeigt. Wir bieten auch weiter den Nazis unsere Stirn. ({6}) Dass das Engagement gegen Nazis in den Jahren zuvor immer wieder kriminalisiert, immer wieder diffamiert wurde, ist ein empörendes Versagen deutscher Politik. Wir haben Vereine und Initiativen, die seit Jahren aufklären, bilden, Opfer beraten, kurzum: die das leisten, was staatliche Einrichtungen und Behörden nicht getan haben. Diese Vereine müssen endlich dauerhaft unterstützt werden. Dazu gehört, dass die Bundesregierung endlich aufhört, die Mittel für Programme wie „Demokratie leben!“ zu kürzen. Stocken Sie diese endlich verlässlich auf! ({7}) – Ich wusste, dass das kommt. Genau das ist das Problem in diesem Land. ({8}) Dass hier der Innenminister als Erster spricht und in den Medien fast nur Innenpolitiker zu Wort kommen, führt mich dazu, folgende Schlussfolgerung hier noch einmal ausdrücklich zu ziehen: Es ist kein sicherheitspolitisches, es ist kein innenpolitisches Thema. Es ist ein gesellschaftspolitisches Thema. ({9}) Meine Damen und Herren, rechtsextreme Strategien, antisemitische Strategien und Strategen sind durchschaubar. Sie, ob getarnt als angebliche Demokraten oder offen rechtsextrem, wollen uns Angst machen durch Gewalt und Worte. ({10}) Sie wollen, dass wir uns zurückziehen. Sie wollen die Hoheit in unseren Köpfen und auf der Straße übernehmen. ({11}) Ich sage Ihnen: Sie werden sich täuschen. ({12}) Wir sind wach, wir bleiben wach, und wir werden das nicht zulassen. Die deutsche Geschichte hat gezeigt, was nach dem Schweigen kommt. Deshalb sage ich Ihnen ausdrücklich: Nie wieder Faschismus! ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Katrin Göring-Eckardt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Eine Woche ist vergangen, Tage voller Entsetzen und Trauer. Unsere Gedanken sind auch heute bei den Opfern, bei den Verletzten, bei den Angehörigen, insbesondere bei denen von Jana und Kevin, bei den Menschen, die in der Synagoge waren und um Haaresbreite einem furchtbaren Massaker entgangen sind, bei Izzet und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, in deren Imbiss ein Mensch erschossen worden ist, die vom Täter und von seinem rassistischen, antisemitischen Weltbild mitgemeint waren. Eine Woche – es könnten aber auch vier Wochen oder vier Jahre gewesen sein. Das Schlimme ist: Es könnte morgen wieder passieren. Ja, wir haben in Deutschland eine reale Terrorgefahr, nicht nur durch Islamisten, sondern auch durch Rechtsextreme, und der müssen wir begegnen, und zwar konsequent und nicht erst seit heute. ({0}) Wachen Sie auf, meine Damen und Herren! Eine junge Jüdin aus den USA, die an Jom Kippur in der Synagoge in Halle war, sagte am Sonntag der ARD: Schuldgefühle der Deutschen helfen uns nicht. Uns helfen Taten. – Heute hat Richard Schneider in einem Beitrag für „Zeit Online“ Folgendes gesagt: … ich will als Jude in meinem Alltag frei leben und atmen können. Es gab Zeiten, da hatte ich geglaubt, das sei möglich in Deutschland. Es war möglich. Heute ist es nicht mehr möglich. Er hat Deutschland, seine Heimat, verlassen. Ich finde, das ist kein Alarmsignal, kein Warnsignal, sondern das ist die Situation in unserem Land, der wir endlich, endlich mit Taten begegnen müssen, meine Damen und Herren. ({1}) Dazu gehört es, dass wir der Wahrheit mit Klarheit ins Auge blicken. Der NSU, der Mord an Walter Lübcke, mindestens 169 weitere Todesopfer rechtsextremer Gewalt seit 1990, etwa 1 600 antisemitische Straftaten im letzten Jahr von rechter Seite – das ist der Befund in unserem Land. Deswegen müssen Sie endlich der Realität ins Auge blicken und dürfen eben nicht mehr wegschauen – nicht bei den Sicherheitsbehörden, nicht bei Hass und Hetze, online und offline. Sie dürfen sich nicht wegducken bei der Stärkung der Demokratie und der Zivilgesellschaft. Das sind drei große Bereiche, und Sie müssen sich heute sagen lassen: Sie haben zu lange weggeschaut, Sie haben zu lange nicht oder nur halbherzig gehandelt. Deswegen sage ich Ihnen: Fangen Sie jetzt endlich an! Es ist der allerletzte Moment dafür. ({2}) Herr Seehofer, Sie haben uns hier sechs Punkte vorgelegt. Ich will zu einigen Stellung nehmen. Ihre Aussage, in der Sie von einem Einzeltäter sprechen, zeigt, dass Sie es wieder nur halbherzig angehen. Nein, der Täter hasste nicht allein. Völkische Siedler, Reichsbürger, Combat 18, die rechtsextremistische Szene – sie alle sind online und offline extrem vernetzt. Wir müssen doch jetzt genau hinschauen. Wir müssen herausfinden, in welchen Netzwerken er unterwegs war. ({3}) – Frau von Storch, schreien Sie ruhig herum. Das, was Ihr Fraktionsvorsitzender, Herr Gauland, sich heute geleistet hat, ist, sich hier hinzustellen und angesichts der Opfer von Halle und der Angst in der Synagoge in Halle, angesichts der Angst, ({4}) die in dieser Stadt und im ganzen Land bei Jüdinnen und Juden herrscht, ausgerechnet die AfD als Opfer darzustellen. Das ist wirklich eine Schande für dieses Land und dieses Parlament, meine Damen und Herren. ({5}) Wie kann es sein, dass unser Verfassungsschutz immer noch nicht genau weiß, wie viele potenzielle Gewalttäter wir auf der rechten Seite tatsächlich haben? 12 500 Rechtsextremisten gelten als gewaltbereit. Nur 43 sind als Gefährder eingestuft. Noch immer klappt die Zusammenarbeit zwischen Bund und Länder sowie Ländern und Ländern nicht. Ja, das ist eine echte Gefahr. Das Gemeinsame Extremismus- und Terrorabwehrzentrum hat noch immer keine Rechtsgrundlage. Ich bin froh, dass Sie jetzt über das Netzwerkdurchsetzungsgesetz reden, aber Sie müssen dann auch konsequent sein. Ich bin froh, dass Sie jetzt darüber reden, dass sich beim Waffenrecht etwas ändern muss. Natürlich! Der Täter hatte seit 2015 eine Waffe aus dem Darknet. ({6}) Ja, ein mutmaßlicher Helfer des Lübcke-Mörders ist ein verurteilter Rechtsextremist und legal Waffenbesitzer. Darüber müssen Sie sich doch klar sein. Machen Sie es nicht wieder nur halbherzig! Wir werden heute darüber diskutieren, aber ich bitte Sie: Seien Sie endlich konsequent – auch beim Waffenrecht. Das sind wir den Opfern schuldig; das ist nötig, meine Damen und Herren. ({7}) Wir können die Sicherheit von Jüdinnen und Juden in unserem Land und von anderen nicht allein einer Holztür überlassen. Lokalpolitikerinnen und Lokalpolitiker, Flüchtlingshelfer, Menschen, die sich im Rahmen von Aussteigerprogrammen engagieren – hier handeln Menschen. Wie sähe unsere Gesellschaft ohne ihr Engagement aus? Was erleben wir gleichzeitig? Solche Programme wie „Demokratie leben!“ – Frau Sitte hat darauf hingewiesen – sind immer wieder in Gefahr. Wir haben immer noch keine Anlaufstellen für Betroffene. Ich habe so ein bisschen das Gefühl, der Ernst der Lage ist immer noch nicht erkannt worden. Heute hat Frau Giffey wieder angekündigt, ein Demokratieförderungsgesetz zu machen. Wissen Sie, wann die Bundesregierung das das erste Mal angekündigt hat? Nach dem Anschlag vom Breitscheidplatz. Wie viele Jahre sind seitdem vergangen? Wir haben es immer noch nicht. Ich wiederhole meinen Appell: Handeln Sie jetzt wirklich konsequent und beherzt! ({8}) Wir brauchen es für den Zusammenhalt und die Sicherheit in unserer Gesellschaft. ({9}) Ja, zwischen den Tatorten und dem Zentrum der rechtsextremen Identitären Bewegung liegt nur ein Kilometer. Die Täter von Halle, die Identitären, sehen sich in einem Rassekrieg. Herr Kubitschek, Ihr geistiger Vater, tut das. ({10}) – Ich habe gesagt: Ihr geistiger Vater. – Wie viele von Ihnen – Frau Sitte hat darauf hingewiesen – sind in Schnellroda gewesen? ({11}) Wie viele von Ihnen glauben mit Herrn Höcke gemeinsam, dass man Teile des Volkskörpers abspalten muss? Wie viele von Ihnen versuchen, die Demokratie, das demokratische System in diesem Land, abzuschaffen? Das ist das, was Sie wollen. ({12}) Das ist das, wogegen wir aufstehen, weil wir an der Seite der Jüdinnen und Juden in unserem Land stehen, ({13}) weil wir an der Seite derjenigen stehen, die Opfer von Rassismus sind und die sich bedroht fühlen und weil wir dieses demokratische Land, diesen Rechtsstaat schützen werden, und zwar mit rechtsstaatlichen Mitteln. ({14}) Wir werden klarmachen, dass Sie keine Chance haben, dieses Land zu zerstören, meine Damen und Herren von der AfD. ({15})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Thorsten Frei für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Halle haben wir letzte Woche gesehen, was für eine tödliche Gefahr vom rechtsextremistischen Antisemitismus bei uns in Deutschland ausgeht. Es hätte dieses Hallensischen Fanals nicht bedurft, um zu erkennen, dass wir ein hohes Maß an Antisemitismus bei uns im Land haben und dass es dringend notwendig ist, mit aller Kraft, mit aller Entschlossenheit und Härte des Rechtsstaates dagegenzuarbeiten. Ich will an dieser Stelle und in dieser Debatte auch daran erinnern, dass wir im Deutschen Bundestag am 16. Januar 2018 ein großes Zeichen, eine starke Willensbekundung über Fraktionsgrenzen hinweg, gesetzt haben. CDU, CSU, SPD, FDP und Grüne haben gemeinsam einen Maßnahmenkatalog zur Bekämpfung des Antisemitismus und zur Antisemitismusprävention beschlossen. Das darf man nicht vergessen, wenn man an dieser Stelle über dieses Thema spricht. Wir haben damit ein Versprechen abgegeben, das ich gerne für unsere Fraktion an diesem Tag bekräftigen möchte. ({0}) Wir sind stolz und froh, dass jüdisches Leben in Deutschland nach dem Holocaust wieder möglich ist. Wir haben das Versprechen abgegeben, dass wir die Menschen schützen und dass wir alles dafür tun, dass unsere jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger sicher und frei in unserem Land leben können. ({1}) – Lieber Herr Hampel, Ihnen muss ich jetzt an dieser Stelle einfach sagen: Wissen Sie, Sie und Ihre Fraktion und Ihre Partei sind diejenigen, die an einer erinnerungspolitischen Kurskorrektur arbeiten. Mit dem, was Sie sagen, betreiben Sie Geschichtsrevisionismus. Sie verschieben rote Linien. ({2}) Sie sorgen dafür, dass Dinge denk- und sagbar sind, die es bisher nicht waren. Auch das befördert Antisemitismus bei uns im Land. Das muss in aller Deutlichkeit formuliert werden. ({3}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube, jetzt muss alles darauf gerichtet sein, zu überlegen, was wir tun können, um solche Attacken, solche versuchten Massaker in Zukunft zu verhindern. Ich finde es absolut unfair, an dieser Stelle so zu tun, als wären wir, diese Bundesregierung, und die Fraktionen, die diese Bundesregierung tragen, auf dem rechten Auge blind. Ich finde das nicht akzeptabel. ({4}) Lieber Herr Klingbeil, ich finde es auch gegenüber den Innenpolitikern Ihrer Fraktion nicht akzeptabel. Schauen wir uns an, was nach den NSU-Untersuchungsausschüssen passiert ist: 47 Empfehlungen, größtenteils umgesetzt! ({5}) Wir haben Gesetze verschärft und verändert. Wir haben zusätzliche Stellen geschaffen. – Das haben diese Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen gemacht. Deshalb kann man an der Stelle nicht davon sprechen, dass hier irgendjemand, der in diesem Haus Verantwortung trägt, auf dem rechten Auge blind wäre. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Frei, ich habe die Uhr angehalten. Gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung?

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gerne.

Dr. Christoph Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Kollege Frei, dass Sie die Frage zulassen. – Ich will Ihnen von einem Erlebnis berichten, das schon 20 Jahre her ist. Auf den Straßen Mecklenburg-Vorpommerns bin ich einmal mit einem amerikanischen Unternehmer unterwegs gewesen. Der wollte investieren, der hatte Millionen dabei. Als uns zwei Jugendliche in Nazi-T-Shirts entgegenkamen, hat er gesagt: In einem solchen Land kann ich nicht investieren. Dieselben Jugendlichen wären in Baden-Württemberg von der Straße heruntergepflügt worden. Das Problem ist also durchaus schon alt. Sehen Sie keine Versäumnisse des Innenministeriums oder des Innenministers, dass in dieser Frage nie aufgeräumt worden ist? ({0})

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Herr Kollege, es ist überhaupt keine Frage, dass wir in vielen Fällen besser werden können, und an diesem Punkt müssen wir auch weiterarbeiten. Genau so habe ich die Rede des Bundesinnenministers hier am Pult auch verstanden: dass er ganz konkrete Vorschläge gemacht hat, auch quantifiziert hat – nicht erst heute, sondern auch schon in den Wochen und Monaten zuvor –, was wir an zusätzlichen Kapazitäten, zusätzlichem Personal, zusätzlichen Mitteln, aber vor allen Dingen auch zusätzlichen gesetzlichen Möglichkeiten brauchen, um diesem Phänomen Herr zu werden. ({0}) – Ganz genau. Das ist ein wesentlicher Punkt. ({1}) Lassen Sie mich an dieser Stelle noch sagen: Ich war einigermaßen irritiert ob der Rede von Frau Göring-Eckardt; denn sie hat hier so getan, als würden wir irgendetwas nicht tun, obwohl wir die Möglichkeiten dazu hätten. Ich glaube, Sie haben sogar von „Wacht auf“ oder so etwas geredet. Ich habe dafür überhaupt kein Verständnis. ({2}) Denn es ist doch völlig klar, dass allein mehr Personal im Bereich des Bundesinnenministeriums nicht ausreichen wird. Wir brauchen auch die rechtlichen Instrumentarien dafür, damit man es richtig einsetzen kann. ({3}) Die Bundesjustizministerin hat genau diese Punkte erwähnt, die wir brauchen, damit das Personal auch wirksam eingesetzt werden kann. Deshalb müssen wir an dieser Stelle auch über Fragen diskutieren: Wie schaffen wir es, dass es keine schleichende Entwertung der Möglichkeiten des Verfassungsschutzes im Zeitalter der Digitalisierung gibt? Wir brauchen die Onlinedurchsuchung, die Quellentelekommunikationsüberwachung und vieles andere mehr. ({4}) Man kann nicht auf der einen Seite kritisieren, dass der Verfassungsschutz irgendwas nicht auf dem Schirm hat, und ihn andererseits blind und taub machen. ({5}) Das ist der Denkfehler, den die Grünen machen, die ursprünglich sogar vorhatten, den Verfassungsschutz zu zerschießen. So geht es nicht. Das ist an Unglaubwürdigkeit nicht zu überbieten. Herzlichen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Abgeordnete Beatrix von Storch für die AfD-Fraktion. ({0})

Beatrix Storch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004905, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Angriff auf die Synagoge in Halle und der folgende Doppelmord waren ein Akt des Terrors. Die Jüdische Gemeinde in Halle hat sich ausdrücklich gegen die politische Instrumentalisierung dieses Verbrechens gewandt. ({0}) Wer wie Sie alle jetzt trotzdem mit dem Finger auf die AfD zeigt, muss wissen, dass dann gleich drei Finger auf ihn zurückzeigen. ({1}) Gewaltbereite Neonazigruppen gibt es in der Bundesrepublik nicht erst seit gestern. ({2}) Es gibt sie seit Jahrzehnten. Dass sich diese Gruppierungen in Deutschland neben Islamisten, Linksextremisten und kriminellen Clans einnisten konnten, zeigt das Totalversagen der etablierten Parteien in der Innen- und Sicherheitspolitik. ({3}) Terroranschläge gegen Juden im Nachkriegsdeutschland haben eine lange und traurige Geschichte. 1969, am Jahrestag der Novemberpogrome, legte eine linksextreme Gruppe eine Bombe im jüdischen Gemeindehaus in West-Berlin, 1970 ermordeten arabische Terroristen bei den Olympischen Spielen in München elf israelische Sportler, ({4}) und 1976 entführten Mitglieder der linksextremen Revolutionären Zellen eine Passagiermaschine nach Entebbe. Dort trennten sie Juden von den Nichtjuden und behielten nur die Juden als Geiseln, um sie gegebenenfalls zu ermorden. Ich empfehle Ihnen das Buch das Historikers Jeffrey Herf „Unerklärte Kriege gegen Israel. Die DDR und die westdeutsche radikale Linke“. Daraus zitiere ich mit Erlaubnis der Präsidentin einen Satz: Diese Linksextremisten waren die ersten Deutschen seit dem Holocaust, die wehrlose Juden mit der Waffe bedrohten. – Linksextremisten und Rechtsextremisten sind siamesische Zwillinge, ({5}) und es gibt zwischen ihnen eine ganz große Klammer, nämlich ihren gemeinsamen Hass auf Israel und ihr Antisemitismus. Dieser Antisemitismus ist kein Randphänomen gewaltbereiter Extremisten. Er kommt aus der Mitte des linksliberalen Milieus, aus linksliberalen Leitmedien und aus dem linken Kulturbetrieb. ({6}) Die vergiften das gesellschaftliche Klima. Das ist der Boden, auf dem der Terror wächst. ({7}) Im „Spiegel“ schwadroniert Jakob Augstein über die jüdische Lobby, ohne die keiner US-Präsident werde, und darüber, dass Israel die ganze Welt am Gängelband führt. ({8}) Die „Süddeutsche Zeitung“ verbreitet antisemitische Karikaturen im Stil des „Stürmers“, die in jede NPD-Postille passen. Und in der „Süddeutschen“ hat der SPD-Mann Günter Grass, ehemaliger Angehöriger der Waffen-SS, Israel zum größten Feind des Weltfriedens erklärt. Anders als im Fall Thilo Sarrazin gab es dafür kein Parteiausschlussverfahren. ({9}) Ich stelle fest: Islamkritik ist für die SPD ein Tabu, Antisemitismus ist es nicht. Natürlich nicht! Für Sigmar Gabriel ({10}) war Israel ein Apartheitsstaat. Martin Schulz hat vor der Knesset die Lüge wiederholt, dass die Israelis die Palästinenser verdursten lassen. Bundespräsident Steinmeier gratuliert dem Iran zur Islamischen Revolution. Islamische Revolution heißt Vernichtung Israels. ({11}) Das linksliberale Establishment diffamiert den jüdischen Staat, befeuert den Antisemitismus und verharmlost den Islamismus. Der primitive, gewaltbereite Antisemitismus von Rechts- und Linksextremisten ist das hässliche Spiegelbild der linksliberalen Israelfeindschaft und des linksliberalen Antisemitismus. Sie zeigen mit dem Finger auf die AfD. Drei Finger zeigen auf Sie zurück. Vielen Dank. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Lars Klingbeil für die SPD-Fraktion. ({0})

Lars Klingbeil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003715, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als uns am Mittwoch die ersten Nachrichten aus Halle über Schüsse an einer Synagoge erreichten, war am Anfang die Hoffnung, dass niemand zu Schaden gekommen ist, die Hoffnung, dass es sich nicht um einen Vorfall handelt, der jüdisches Leben in Deutschland bedroht, die Hoffnung, dass es keine Tat ist, die politisch oder religiös motiviert ist. Diese Hoffnung hat sich im Laufe des Nachmittags leider zerschlagen, und wir alle mussten erleben, dass sich aufklärte, dass sich ein Nazi, ein Rechtsextremer mitten in Deutschland, mitten im Jahr 2019 aufmachte, jüdisches Leben in Deutschland auszulöschen, dass in einer Synagoge Todesangst entstand bei Menschen, die friedlich ihrem Glauben nachgehen wollen. Ich sage Ihnen: Es ist richtig, dass wir uns über diese Tat empören, dass wir hier gemeinsam feststellen, dass das nicht passieren darf. Aber wichtiger ist, dass wir deutlich machen, auch als politisch Verantwortliche: Jüdisches Leben in Deutschland muss geschützt werden. Die Verantwortung dafür müssen wir als politisch Verantwortliche tragen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Frau von Storch, Herr Gauland, ich habe mich gerade gefragt: Wie muss sich eigentlich jemand fühlen, der diese Todesangst in der Synagoge erlebt hat, der sie erleben musste, der von einer Tür geschützt wurde und der jetzt heute erlebt, wie Sie hier versuchen, diesen feigen Anschlag politisch zu instrumentalisieren? ({1}) Ich frage mich wirklich, wie man diese Dreistigkeit haben kann. Wir im Parlament haben häufig unterschiedliche Meinungen. Wir haben häufig Differenzen. Wir streiten über den Weg. Ich habe in den letzten Jahren großartige Kollegen in der Union, bei den Linken, in der FDP, bei den Grünen, natürlich in meiner Fraktion kennenlernen dürfen. Was uns eint, ist doch, dass wir gemeinsam die Demokratie stärken wollen, dass wir den Zusammenhalt stärken wollen. ({2}) Aber Sie tun das nicht. Sie spalten, und Sie hetzen, und Sie machen Politik auf dem Rücken von Minderheiten. Das ist unanständig, und das muss Ihnen auch in dieser Deutlichkeit gesagt werden. ({3}) Wir müssen über die Frage reden: Welche politischen Konsequenzen folgen aus Halle? Wichtig ist, dass wir uns erst einmal bewusst machen: Es gibt das Problem des Rechtsterrorismus hier in Deutschland. Es ist zu lange von zu vielen gesagt worden, dass es dieses Problem nicht gibt. NSU, Nordkreuz, Terrorlisten, der Mord an Walter Lübcke, das waren alles Anzeichen dafür. Es ist richtig, dass der Rechtsterrorismus jetzt auf der politischen Tagesordnung ganz oben steht. Herr Seehofer, ich will das sagen: Ich bin Ihnen dankbar für die Worte, die Sie heute hier im Parlament gefunden haben. Ich bin Christine Lambrecht dankbar dafür, dass sie erklärt hat: Der Kampf gegen Hass und Hetze im Netz muss jetzt verstärkt werden. – Das geschieht mit ausgewogenen Vorschlägen, wo wir natürlich die Plattformen in die Verantwortung nehmen. Ich bin Franziska Giffey dankbar dafür, dass sie sagt: Wir müssen diejenigen stärken, die sich seit Jahren in diesem Land gegen Hass und Hetze engagieren, die sich in vielen lokalen Initiativen als Künstlerin, als Künstler, als zivilgesellschaftliche Gruppen engagieren. – Die müssen wir stärken, und es ist an der Zeit, dass wir hier im Parlament ein Demokratiefördergesetz auf den Weg bringen, mit dem wir all den Menschen den Rücken stärken, die schon seit Jahren diese wertvolle Arbeit leisten. ({4}) Ich sage aber auch: Wenn wir hier im Deutschen Bundestag über Hass, Hetze, Rechtsextremismus und Spaltung reden, dann kommen wir nicht daran vorbei, auch über die AfD hier im Parlament zu reden. Sie sind die Partei, die am lautesten nach Anstand schreit und am wenigsten Anstand in solchen politischen Debatten hat, sehr geehrten Damen und Herren. ({5}) Sie sind die Partei, die versucht, aus einem solch furchtbaren Anschlag in Halle politischen Profit zu schlagen. Sie sind die Partei, die versucht, eine Spaltung in Deutschland weiter voranzutreiben. ({6}) – Ja, hören Sie sich diese Wahrheit an. Das müssen Sie hier im Parlament aushalten. Andere Fraktionen im Parlament versuchen, diese Gesellschaft zusammenzuhalten, und Sie versuchen, weiter zu spalten. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, egal ob es die Nazis auf der Straße, die Nazis im Netz oder die Brandstifter im Parlament sind, ich bin fest davon überzeugt: Die Mehrheit der Menschen in Deutschland kämpft für eine Demokratie, ist leidenschaftlich dabei, wenn es darum geht, unser Land und den Zusammenhalt zu stärken. Das sollten wir auch in diesen schwierigen Phasen mit Optimismus tun ({8}) und uns nicht von der schlechten Laune der Nazis anstecken lassen oder, wie es die Hamburger Band Kettcar gesagt hat, uns „von den verbitterten Idioten nicht verbittern lassen“. Vielen Dank. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Christoph Bernstiel für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Christoph Bernstiel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute vor einer Woche, ziemlich genau zu dieser Uhrzeit, machte sich ein Wahnsinniger nach Halle auf. Sein Ziel war, so viele Juden wie möglich zu töten. Selbst ein einziger getöteter Jude wäre für ihn ein Erfolg gewesen. Er traf eine Christin und einen HFC-Fan. Jana und Kevin – das waren ihre Namen. Seine Mordlust war nicht gestillt, er setzte seine Fahrt fort. Im benachbarten Wiedersdorf verletzte er ein Ehepaar mit Schüssen schwer. Es grenzt an ein Wunder, dass diese Menschen nicht auch getötet wurden. Durch einen selbstverursachten Verkehrsunfall wurde er schließlich überwältigt und in Gewahrsam genommen. Er hinterließ eine traumatisierte Gemeinde, eine traumatisierte Stadt und vielleicht sogar eine traumatisierte Nation. Ich selbst werde nie vergessen, wie es sich angefühlt hat, als mich gegen 12.40 Uhr eine SMS mit folgendem Inhalt erreicht hat: Amokalarm im Paulusviertel. Bisher eine getötete Person, Täter flüchtig. – Zu diesem Zeitpunkt hatte meine Familie gerade das Haus verlassen und befand sich keine 500 Meter vom Tatort entfernt. Im Laufe des Tages erreichten mich immer dramatischere Meldungen, von denen sich viele Gott sei Dank als falsch erwiesen. Auch zahlreiche Medienanfragen erreichten mich. Ich muss mit Bestürzung feststellen, dass einige Medien bereits über die Ursachen und die Hintergründe spekuliert haben, während circa 700 mutige Polizisten noch damit beschäftigt waren, unsere Stadt vor weiteren Anschlägen zu schützen. An dieser Stelle möchte ich allen Einsatzkräften, die in Halle unterwegs waren und sehr besonnen und mutig agiert haben, meinen tief empfundenen Dank aussprechen. ({0}) Wilde Spekulationen machten die Runde. Halle sei eine rechtsextreme Hochburg, die Hooliganszene trage eine Mitverantwortung, und die Behörden hätten in Halle viel zu lange weggeschaut, hieß es. Meine Damen und Herren, ich als Hallenser kann Ihnen sagen: Das ist Unsinn. Halle ist keine rechtsextreme Hochburg. Halle ist tolerant, weltoffen, lebendig, tapfer und mitfühlend. Und trotzdem kämpft auch diese Stadt mit dem Krebsgeschwür unserer Gesellschaft. Rechtsextremismus und Hass sind keine typischen Phänomene des Ostens. Die traurige Wahrheit ist, dass das, was in Halle geschehen ist, überall in Deutschland hätte geschehen können. Hass und Gewalt sind mit Vollgas auf dem Vormarsch zur Mitte unserer Gesellschaft. Die Strategie ist die gleiche wie seit 100 Jahren: Erst vergiftet man mit Worten die Köpfe und die Seelen der Bevölkerung, dann folgen Taten. Unser gemeinsames Ziel muss es daher sein, den Nährboden auszutrocknen, auf dem Hass gedeiht. ({1}) Genau deshalb müssen wir konsequenter gegen Hetze, Verleumdung und Mobbing vorgehen. Doch wer glaubt, dass Intoleranz und Gewalt dafür die richtigen Instrumente sind, der ist ein Narr. ({2}) Nur wer Liebe und Mitgefühl in seinem Herzen trägt, kann erkennen, wann Grenzen überschritten werden und wann es Zeit ist, zu handeln. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wurden genug Grenzen überschritten. Es ist nun an uns allen, zu zeigen, wie ernst wir es meinen, wenn wir sagen: Nie wieder! ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Karamba Diaby für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Karamba Diaby (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004259, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Meine Gedanken sind bei den Angehörigen und Freunden der Opfer des Anschlags in Halle. An jenem Tag fuhr ich mit der Straßenbahn zu meinem Bürgerbüro, das vom Paulusviertel nur fünf Minuten entfernt liegt. Meine Tochter rief mich später an und fragte: „Wo bist du, Papa? Du musst sofort nach Hause gehen. Es gibt eine Schießerei.“ Ich hörte die Angst aus ihrer Stimme. Überall waren Polizeisirenen zu hören. Ich war schockiert. Mein Team und ich haben uns im Büro eingeschlossen. Stunden später erfuhr ich, was passiert war. Ein von Hass und durch eine unmenschliche Ideologie getriebener Mensch wollte am höchsten jüdischen Feiertag, Jom Kippur, Menschen töten. Was ihn davon abhielt, war die fest verschlossene Tür der Synagoge. In seinem Wahn ermordete der Täter dann zwei völlig Unbeteiligte: vor der Synagoge eine Hallenserin und in einem Dönerimbiss einen gerade 20 Jahre alten Merseburger, der als Maler auf einer Baustelle in der Nähe arbeitete. Wir müssen jetzt handeln. Wir müssen aktiv werden. ({0}) Wir brauchen eine Stärkung der politischen Bildung und Medienbildung in Schulen und Jugendeinrichtungen. Wir brauchen eine bessere Präventionsarbeit. Und wir brauchen endlich ein Demokratiefördergesetz, das unsere Ministerin Franziska Giffey seit Längerem fordert. ({1}) Ich habe mich immer gefragt: Warum werden Organisationen nur von Jahr zu Jahr gefördert, wenn sie eine Daueraufgabe wie die Stärkung der Demokratie übernehmen? Wir brauchen eine dauerhafte Förderung, und zwar jetzt. ({2}) Wie Sie wissen, soll es Kürzungen bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes geben. Für mich steht fest: Wir brauchen hier keine Kürzungen, sondern mehr Investitionen. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, seit vergangenem Mittwoch ist Halle ruhiger, stiller geworden. Ich spüre ein starkes Bedürfnis nach Zusammenhalt und Zusammenstehen: beim Gedenkgottesdienst, bei der Lichterkette, bei Mahnwachen. Meine Damen und Herren, jüdisches Leben ist in Halle mit einer aktiven Zivil- und Stadtgesellschaft eng verbunden. Daran kann ein Terroranschlag nichts ändern. ({4}) Wir werden weiterhin gemeinsam mit der Jüdischen Gemeinde am Marsch des Lebens teilnehmen und ihn organisieren, am Jerusalemer Platz gemeinsam dem Pogromverbrechen von 1938 gedenken. Wir werden weiter jedes Jahr die Stolpersteine in unseren Straßen pflegen, und wir werden in den kommenden Wochen die Jüdischen Kulturtage in Halle feiern. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, am Wochenende werde ich wieder die Straßenbahn in Halle nehmen. Der Anschlag hat etwas geändert, doch eines bleibt bestehen: Die Gesellschaft lässt sich nicht spalten, die Hallenserinnen und Hallenser lassen sich nicht spalten. Wir lassen uns nicht einschüchtern. Wir werden zusammenhalten. Halle bleibt weltoffen. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Nadine Schön für die CDU/CSU Fraktion. ({0})

Nadine Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004116, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine Tat wie die in Halle macht uns alle betroffen, fassungslos und wütend. Menschen wurden ermordet, auf der Straße, beim Essenholen. Menschen sollten ermordet werden, weil sie Juden sind. Der Anschlag – das ist heute von zahlreichen Rednern gesagt worden – ist ein Anschlag auf uns alle. Nach der Fassungslosigkeit folgt die politische Debatte über die richtigen Schlussfolgerungen. Es sind drei Fragen, die uns umtreiben und auf die wir gemeinsam Antworten finden müssen – das wird allerdings nicht in wenigen Tagen gehen –: Was ist der Nährboden für extremistisches Gedankengut, was befördert es, und wie gehen wir damit um? Ich maße mir nicht an, in den wenigen Minuten meiner Rede sagen zu können, was der Nährboden für extremistisches Gedankengut ist. Aber Fakt ist, dass es politische Kräfte in diesem Land gibt, die auf komplexe politische Themen ganz einfache Antworten geben, die sich Sündenböcke suchen: Moslems, Zugewanderte, Juden, die Altparteien, das Staatsfernsehen. ({0}) Befördert wird diese Entwicklung durch eine zunehmende Verrohung der Sprache, fehlenden Respekt im Umgang miteinander und schnelle und leicht zugängliche Verbreitungswege, gerade im Netz. Schnell ist man in einer Community, einer Filterblase, wo alles, was nicht der eigenen Meinung entspricht, kaputtgemacht wird, wo Halbwahrheiten und aus dem Zusammenhang gerissene Sachverhalte für Empörung und Traffic sorgen. Es gibt zahlreiche Kräfte innerhalb des Landes und teilweise auch außerhalb des Landes, die dabei mitmischen. Wie gehen wir damit um? Mein Eindruck ist, dass in vielen Punkten, über die wir in den letzten Tagen diskutiert haben, die Diskussion nicht tief genug geht. Ich bin mir sicher, dass viele Diskussionen zu kurz springen und wir ganz viele Stellvertreterdebatten in den letzten Tagen geführt haben. Bei allem, was Sie, Herr Minister, richtig gesagt haben: Die Frage, ob man die Gamer-Community stärker beobachten müsse, ist abstrus. In Deutschland spielen 34 Millionen Menschen Games. Ja, der Extremist von Halle hat sich der Kommunikationskanäle von Gamern bedient, aber deshalb kann man nicht eine ganze Community unter Generalverdacht stellen. ({1}) Die Debatte über das Tragen von Waffen ist eine Stellvertreterdebatte, die nichts mit dem eigentlichen Thema zu tun hat. Bei allem Respekt: Auch die Diskussion über ein Demokratiefördergesetz ist viel zu kurz gesprungen. Was wir wirklich brauchen, sind bessere Einblicke in rechte Netzwerke, auch international, und politische Bildung, die nämlich elementare Voraussetzung ist, um die Werte unserer freiheitlichen-demokratischen Grundordnung zu verstehen und zu leben. Politische Bildung und eine gute demokratische Debattenkultur müssen schon in der Schule eingeübt werden. Wir brauchen auch gezielte Programme gegen Extremismus, Rechtsextremismus, Antisemitismus und Islamismus. Wir haben die Mittel für die Programme verdoppelt, fast verdreifacht. Von 2015 bis 2019 sind die Mittel, die wir für „Demokratie leben!“ einsetzen, von etwa 40 Millionen Euro auf über 100 Millionen Euro gestiegen. Da kann uns wirklich keiner vorwerfen, wir würden bei „Demokratie leben!“ sparen und wir würden die Mittel zurückfahren. Es ist richtig, dass wir den leichten Rückgang von 8 Millionen Euro im Vergleich zum letzten Jahr korrigieren. Auch ich habe mich gewundert, dass der Ansatz des Bundesfamilienministeriums nicht der gleiche ist wie beim letzten Mal. Wir werden die Mittel wieder auf Vorjahresniveau anheben. Das ist vereinbart. Dazu stehen wir. ({2}) Zur Debatte über ein Demokratiefördergesetz: Wer glaubt denn wirklich, dass wir Demokratie dadurch fördern, dass die Projekte künftig keine Anträge mehr stellen müssen? Wir brauchen gute Projekte. Wir brauchen gute Aussteigerprojekte. Darum geht es. Dafür müssen wir die Voraussetzungen schaffen. Eine Debatte über ein Demokratiefördergesetz ist eine reine Stellvertreterdebatte. Zum Schluss: Wir brauchen Plattformen, auf denen sich der politische Diskurs in demokratischer Art und Weise abspielt. Natürlich müssen die Plattformen ihrer Verantwortung gerecht werden. Hetzer, Hass und Extremismus vergiften die politische Debatte. Deshalb muss es für Nutzer einfache Wege geben, extremistische Inhalte zu melden. Plattformen müssen schnell reagieren, und der Staat muss die Täter zur Verantwortung ziehen. Mit dem NetzDG sind wir einen ganz wichtigen Schritt gegangen. Diesen müssen wir evaluieren und gegebenenfalls verbessern. „Verfolgen statt nur löschen“ ist die richtige Devise. Wir brauchen gesellschaftlichen Zusammenhalt, eine gute demokratische Debatte und ein konsequentes Vorgehen gegen die Feinde unserer freiheitlichen-demokratischen Ordnung. Extremismus darf in unserer Gesellschaft keinen Platz haben. ({3})

Karsten Hilse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004752, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Landsleute! Mit Genehmigung der Präsidentin beginne ich mit einem leicht gekürzten Zitat der Bundesregierung: Liebe Extinction Rebellion Berlin, wir hören euch! Wir kämpfen für dieselbe Sache … Hier wird eine Organisation hofiert, von der selbst Jutta Ditfurth, eine Mitgründerin der Grünen, sagt, sie sei eine religiöse-gewaltfreie esoterische Sekte, welche an die Apokalypse der baldigen Auslöschung der Menschheit glaubt, der man sich nicht anschließen sollte. An dem angeführten Zitat und an vielen anderen Aussagen der Bundesregierung und vor allem an ihrem Handeln sieht man eindeutig, dass sie sich mit Ökoterroristen jeglicher Couleur verbündet bzw. deren Aktivitäten wohlwollend zur Kenntnis nimmt. Sie sind nützliche Idioten der grünen Politik der Bundesregierung. Die einen nutzen diese nützlichen Idioten, um die eigenen Lobbyinteressen gegen den Widerstand Betroffener unter Inkaufnahme der Zerstörung unserer Flora und Fauna durchzusetzen, um das deutsche Volk weiter auszuplündern. ({0}) Andere sind Opportunisten, die sich nicht vom Fresstrog drängen lassen wollen und deshalb den Ideologen mehr oder weniger blind folgen. Für die dritte und gefährlichste Gruppe sind es nützliche Idioten, um, angetrieben von der grünen Klimasekte, die große Transformation, verheißungsvoll verpackt im Klimaschutzplan 2050, hin zu einer ökosozialistischen Diktatur voranzutreiben. Die ersten Schritte sind getan mit Einführung planwirtschaftlicher Vorgaben dort, wo soziale Marktwirtschaft das Credo sein sollte, mit der Einschränkung der Meinungsfreiheit, obwohl diese jedem Deutschen gemäß Artikel 5 Grundgesetz zugesichert wird, und mit religiös fanatischem Eifer statt Vernunft. ({1}) Policy Exchange publizierte 2019 einen Report über die Ideologie und Taktik der Extinction Rebellion. Demnach stehe man in der Führungsebene der Bewegung – an der ehemals konservativen CDU sieht man ja eindeutig, dass die Führungsebene entscheidend ist – für eine subversive Agenda, die in einem politischen Extremismus aus Anarchismus, Ökosozialismus und antikapitalistischem Ökologismus wurzelt. Wenn die Bundesregierung für dieselbe Sache kämpft: Gibt es dann hier bald Anarchismus, Ökosozialismus, gibt es dann bald die dritte sozialistische Diktatur auf deutschem Boden? Dieser Entwicklung stemmt sich die AfD mit aller Kraft entgegen. ({2}) Ich benutze nicht Worte wie „bis aufs Blut“ oder „bis aufs Messer bekämpfen“. Das überlasse ich den Scharfmachern von CDU/CSU. ({3}) Wir lehnen diese in weiten Teilen irrationale Politik der Bundesregierung ab und fordern in unserem Antrag, zu einer faktenbasierten Energie- und Umweltpolitik zurückzukehren. Die jetzige Energiepolitik fußt auf der Hypothese, dass der Mensch mit seinen CO2-Emissionen das Klima maßgeblich beeinflusst. Dafür gibt es trotz 30-jähriger intensiver und mit zig Milliarden gepamperter Forschung keinen einzigen wissenschaftlichen Beweis. ({4}) Die sogenannten Beweise stammen aus Computermodellen, deren Voraussagen immer weiter von den real gemessenen Daten abweichen. ({5}) – Schreien Sie ruhig, Frau Nissen, das kenne ich von Ihnen. ({6}) Aber selbst wenn die Theorie stimmte, würde Deutschland, wenn es innerhalb von Jahresfrist kein einziges Gramm CO2 mehr emittierte, die theoretische – theoretische! – Erderwärmung um nur 0,000653 Grad Celsius verringern. ({7}) Für diesen aberwitzig geringen Wert auch nur einen einzigen Cent auszugeben, ({8}) Flora und Fauna nachhaltig zu schädigen und Menschenleben durch einen unausweichlich werdenden Blackout zu gefährden, ist und bleibt ideologischer Unsinn. ({9}) Und wenn hier einige Politiker aufgrund der Tat eines Psychopathen, mit dem die AfD nichts, aber auch gar nichts zu tun hat, ({10}) die Beobachtung der AfD durch den Verfassungsschutz fordern, dann kann ich nur sagen, dass Sie alle hier – mit wenigen Ausnahmen – vom Verfassungsschutz beobachtet werden müssten, weil Sie die Zerstörung unserer wirtschaftlichen Grundlagen und von Teilen unserer Umwelt vorantreiben, die Freiheit des deutschen Volkes einschränken und auf dem Weg sind, durch einen grundlegenden Umbau unserer Gesellschaft die freiheitlich-demokratische Grundordnung auszuhebeln. Herr Haldenwang, übernehmen Sie bitte! Vielen Dank. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Dr. Anja Weisgerber für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Anja Weisgerber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004440, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Erst mal muss ich dazu sagen: Den Sachverhalt in Halle mit der Umwelt- und Klimapolitik unserer Fraktion in einen Topf zu werfen, das ist mehr als daneben! ({0}) Sehr geehrte Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Das Klimapaket, das vergangene Woche von der Bundesregierung beschlossen wurde, ist ein konstruktiver Schritt nach vorne, und viele sagen: Es ist deutlich besser als sein Ruf. – Ein solch weitgehendes Programm aus erstens Maßnahmen in allen Sektoren, zweitens einer CO2-Bepreisung und drittens einem regelmäßigen Monitoring hat es in der Form noch nie gegeben, auch nicht unter Rot-Grün. Das gilt es erst mal festzustellen. Klimaschutz darf aber auch nicht zu einer sozialen Frage werden, sondern muss zu einer Frage der Innovation und des Fortschritts werden. Und ich sage Ihnen: Die Kolleginnen und Kollegen der Opposition, die in der einen oder anderen Richtung anderer Meinung sind und kritisieren, sollen es doch erst mal besser machen, meine Damen und Herren. ({1}) Die Menschen in unserem Land erwarten von uns, dass wir Verantwortung übernehmen, und bei einer solch großen Herausforderung wie dem Klimawandel gilt es auch mal, parteiübergreifend konstruktiv in einem Bundesratsverfahren zusammenzuarbeiten. Dazu lade ich Sie ganz, ganz herzlich ein. Alles andere wäre auch verantwortungslos, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ({2}) und das sage ich auch an die Adresse der AfD. Interessant an der AfD-Fraktion ist nämlich auch, dass Sie sich selbst gar nicht mehr einig sind. Ihr Kollege Hollnagel räumte diese Woche gegenüber der „Welt“ ein, dass man einen Einfluss des Menschen auf den Klimawandel nicht leugnen kann ({3}) und CO2-Emissionen deshalb reduzieren sollte. Man höre und staune! ({4}) Er sagte damit, dass der Klimawandel zumindest auch menschengemacht ist. Das zeigt mir, dass zumindest einige in Ihrer Fraktion sich mit ihrer Rolle als einzige Fraktion, die nicht den Klimawandel, aber das Menschengemachtsein des Klimawandels leugnet, nicht mehr richtig wohlfühlen. Aber anstatt das einzugestehen, halten Sie einfach tapfer an Ihrer Position fest, und das verstehe ich an der Stelle nicht. Das Klimaschutzprogramm 2030 der Bundesregierung enthält über 60 Maßnahmen in allen Sektoren. Das Ziel ist, alle Gesetzentwürfe noch in diesem Jahr im Kabinett zu verabschieden. Das ist ambitioniert, aber machbar. Erst gestern hat das Kabinett wieder wichtige Maßnahmen verabschiedet, wie zum Beispiel die steuerliche Förderung der energetischen Gebäudesanierung, worüber ich mich an der Stelle wirklich sehr freue. Das ist ein Erfolg, und ich hoffe, dass der Bundesrat an der Stelle jetzt nachzieht, meine Damen und Herren. ({5}) Übrigens sind das alles Maßnahmen – diese über 60 Maßnahmen in allen Sektoren –, die zu großen Teilen auch von anderen Fraktionen hier im Haus gefordert wurden, und deswegen hoffe ich, dass wir zu einem konstruktiven Endergebnis kommen. Der Unterschied zu uns liegt allerdings darin, dass wir oft einen realistischeren Blick auf die Auswirkungen auf die Bürger haben. Wir schaffen zuerst Anreize, und im zweiten Schritt steigt dann der Preis deutlich an mit dem nationalen Zertifikatehandelssystem für Wärme und Verkehr. So haben die Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit, sich auf diese neue Situation einzustellen, bei ihren Käufen auch eine bewusste Entscheidung in Richtung klimafreundliche Technologie zu treffen. Und in einigen Jahren wird der Preis steigen und kann in einem Emissionshandel, bei dem sich der Preis am Markt bildet, auch deutlich ansteigen, auch auf die Höhe des von Wissenschaftlerseite geforderten Betrages für die Tonne CO2.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Weisgerber, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung aus der Grünenfraktion?

Dr. Anja Weisgerber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004440, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe noch 44 Sekunden und würde meine Rede gern erst zu Ende führen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ja, dann ist es vorbei.

Dr. Anja Weisgerber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004440, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Okay. – Wir schaffen erst Anreize, und in einem zweiten Schritt, wie gesagt, steigt der Preis an, und das ist unsere Antwort im Punkt Bepreisung. Wenn die AfD von der Aufgabe aller Klima- und Energieziele spricht, dann sage ich Ihnen ganz klar: Ja, Deutschland alleine kann das Klima der Welt nicht retten; daraus machen wir auch gar keinen Hehl. Deswegen ist die Arbeit von Gerd Müller, des Entwicklungshilfeministers, auch an der Stelle so wichtig. Und deswegen ist es auch so wichtig, dass wir bei den Weltklimakonferenzen immer wieder dafür kämpfen, dass die Staaten der Welt sich auch an die Klimaziele halten, die sie sich selbst gesteckt haben. ({0}) Da ist das Pariser Abkommen ein Riesenschritt nach vorn. Aber ich sage auch: Wir haben doch eine Verantwortung in der Welt. Wir müssen doch als Vorbild vorangehen und müssen zeigen, dass es gelingt, Klimaschutz und Wirtschaftswachstum nicht als Gegensätze zu begreifen, sondern auch als Chance für die Wirtschaft, sich auf die Entwicklung von Umweltinnovationen zu konzentrieren. ({1}) Dann kann Klimaschutz auch ein echtes Konjunkturprogramm sein. Das ist unser Ansatz.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Weisgerber, Sie können weitersprechen, tun das dann aber auf Kosten Ihrer Kollegen.

Dr. Anja Weisgerber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004440, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen herzlichen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Lukas Köhler für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Lukas Köhler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004786, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin Vater eines bald vierjährigen Sohnes, und natürlich möchte ich für ihn die Welt zu einem besseren Ort machen. Das ist ganz klar, und ich glaube, das ist auch ein Grund dafür, warum ich angefangen habe, Politik zu machen. Ich möchte ihn aber nicht für die heutige Debatte instrumentalisieren, weil er in einer Welt aufwachsen wird, die mit genügend Problemen zu kämpfen hat. Ich möchte eine andere Geschichte erzählen: Mein Sohn spielt sehr gerne ein Spiel: Er hält sich gern seine kleinen Händchen vors Gesicht und tut so, als ob die Welt um ihn herum nicht da wäre. Meine Damen und Herren, der AfD-Antrag spielt das gleiche Spiel. ({0}) Es ist hoch beeindruckend, dass Sie völlig ignorieren, dass es – selbst wenn Sie recht hätten – natürlich Klima-, Energie- und Umweltpolitik gibt und wir diese natürlich mitgestalten wollen. Sie geben mit Ihrem Antrag jeden Anspruch auf Gestaltungswillen ab. ({1}) Sie verstecken sich hinter Ihren Händen und ignorieren die aktuelle Debatte. Das, meine Damen und Herren, ist traurig. ({2}) Natürlich ist es richtig, dass wir aktuelle Klimapolitik sinnvoll ausgestalten müssen. Frau Weisgerber, Sie haben uns gerade eingeladen, mitzumachen. Wir warten immer noch auf die Einladung zum Klimakonsens. Wir haben hier schon tausend Vorschläge dazu eingebracht. Aber ein Klimakonsens ohne Angebot eines parlamentarischen Verfahrens ist ein Witz und ist kein Beitrag zur aktuellen Debatte. Es ist vor allen Dingen kein Bessermachen eines, so leid es mir tut, im Moment gescheiterten Klimapaketes. ({3}) Sie haben in Ihrer Rede davon gesprochen, Herr Hilse, dass die wirtschaftliche Grundordnung gefährdet sei. ({4}) Ich möchte Ihnen kurz den Zusammenhang der Finanzierung erklären: Wenn Sie Maßnahmen mit Geld finanzieren, dann verbrennt das Geld nicht. ({5}) Das ist kein Feuer, um CO2 zu erzeugen, sondern das sind Investitionen in Infrastruktur, in Technologien, in Zukunft, in Energieversorgung. Das nennt sich Politik. Das nennt sich Investition. Das ist kein Geldverbrennen, und das ist auch keine Gefährdung der wirtschaftlichen Grundordnung, sondern das ist Zukunftsinvestition. Man muss es nur richtig ausgestalten. Und da, liebe Bundesregierung, sehe ich bei Ihnen noch einiges an Fehlern.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Köhler, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Abgeordneten Hilse?

Dr. Lukas Köhler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004786, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Mit dem größten Vergnügen. ({0}) – Guter Punkt.

Karsten Hilse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004752, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Es zeichnet Sie aus, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Ich wollte bloß richtigstellen, dass ich nicht davon gesprochen habe, dass die wirtschaftliche Grundordnung zerstört wird, sondern gesagt habe, dass die wirtschaftlichen Grundlagen der Bundesrepublik Deutschland peu à peu durch die Klimaschutzmaßnahmen, die sogenannten Klimaschutzmaßnahmen, unterminiert, zerstört werden, wie auch immer man das nennen will. Ich war am Dienstag bei acatech. Dort habe ich niemanden von Ihnen gesehen. ({0}) – Entschuldigung, Herr Neumann, Sie habe ich gesehen. Alles klar. ({1}) Herr Spaht, einer der Präsidenten von acatech, sprach davon, dass die Warnsignale schon zu sehen sind, dass wir das zweite Quartal hintereinander ein Minuswirtschaftswachstum haben, also ein negatives Wirtschaftswachstum, dass wir bei den Exportnationen zurückgestuft wurden von Platz drei auf Platz sieben. Das heißt, am Horizont ist schon zu sehen, dass unsere wirtschaftlichen Grundlagen gefährdet sind. Auch die Ankündigung, circa 100 000 Arbeitsplätze in der Automobilindustrie abzubauen, zeigt, welche Auswirkungen das haben wird. ({2}) Ich wollte bloß, dass Sie zur Kenntnis nehmen, dass ich nicht davon gesprochen habe, dass die wirtschaftliche Grundordnung zerstört wird, sondern unsere wirtschaftlichen Grundlagen als Deutschland.

Dr. Lukas Köhler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004786, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Hilse, wenn ich auf Ihren Kommentar antworten darf: Sie sprechen von einer kommenden Rezession. Kommt eine? ({0}) Ja, das sehen wir. Kommt Sie wegen der Klimapolitik der Bundesregierung, ({1}) von der die Grünen behaupten, dass sie nicht existent ist? ({2}) Ich glaube, nicht. Ich glaube, sie kommt davon, dass wir Handelskriege haben, dass wir nicht mehr auf Freihandel, auf Innovation, auf Fortschritt, auf Zukunft setzen, sondern auf Protektionismus weltweit, auf die Reduktion unserer gemeinsamen internationalen, multilateralen Zusammenarbeit. Wir setzen auf die falschen Ziele. Und, ja: Macht die Bundesregierung alles richtig? Natürlich nicht. Müsste die Bundesregierung in Infrastruktur investieren? Natürlich. ({3}) Müsste die Bundesregierung dafür sorgen, dass der Netzausbau schneller vorwärtsgeht? Natürlich müsste die Bundesregierung dafür sorgen, dass wir den Strom, den wir produzieren – er ist im Moment volatil –, abspeichern können. Natürlich! Hat sie dazu Ideen? Weiß ich nicht. Hat sie angefangen, hat sie Ansätze? Ja, das sieht man. Aber das sind die Punkte, warum die wirtschaftliche Gesamtsituation schwächer wird – nicht die Frage der Klimapolitik. Ganz im Gegenteil: Wenn wir aufhören, die Klimapolitik mitzugestalten, auf europäischer Ebene und auch hier in Deutschland, dann werden wir Einbußen beim Fortschritt hinnehmen müssen, dann werden wir Arbeitsplätze verlieren. Gucken Sie sich doch das Thema „Sustainable Finance“ mal an – dabei geht es um die Frage, wie wir nachhaltig investieren –: Wenn wir jetzt aus der Debatte aussteigen, dann, liebe AfD, diskutieren wir nicht mehr darüber mit, wie in Deutschland investiert wird; dann macht das Frankreich. Wenn Sie aus der Debatte raus sind, dann ist Deutschland ganz kaputt. Und das wollen Sie ja wohl auch nicht. ({4}) Meine Damen und Herren, ich glaube, dass wir den Anspruch haben müssen, Klimapolitik auszugestalten. Ich glaube, dann kommen wir auch zu einem sinnvollen Weg. Wir haben unseren Plan vorgelegt. Es geht doch darum, Klimapolitik mit der Ausgestaltung von Klimapolitik zu machen. Es geht doch darum: Wir müssen das Budget, das uns der IPCC vorgibt, festlegen; und darüber hinaus darf nichts mehr ausgestoßen werden. Dieses Budget über ein Handelssystem zu verteilen, das ist – da ist sich die Wissenschaft einig – der beste Weg. Hat die Bundesregierung ein Handelssystem auf den Weg gebracht? Leider nicht. Sie hat sich für eine CO2-Steuer entschieden. Das ist der falsche Weg, meine Damen und Herren; aber es ist immerhin der Ansatz eines Weges, auch wenn er in die falsche Richtung führt. Lassen Sie mich noch ganz kurz darauf eingehen: Was wäre, wenn wir die Argumentation der AfD zumindest im Kern ernst nehmen würden? Was wäre, wenn wir sagen würden: „Mensch, es gibt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sagen, dass es den menschengemachten Klimawandel nicht gibt“? Dann ist das eine Debatte; das ist eine wissenschaftliche Debatte, die geführt wird, die in der Wissenschaft geführt wird. Aber, meine Damen und Herren, ich habe ja am Anfang meinen Sohn erwähnt. Diese wissenschaftliche Debatte zeigt doch nur, dass es kritische Stimmen innerhalb der Wissenschaft gibt. Aber die große Mehrheit ist davon überzeugt, dass es einen menschengemachten Klimawandel gibt. Da herrscht Konsens. Aber die Gefahr, dass wir nicht danach handeln, was diese große Mehrheit sagt, und wir dann, in 10, 20 Jahren, vor wirklichen Problemen stehen, die weder ich noch mein Sohn lösen können, diese Gefahr will ich nicht eingehen. Ich will nicht, dass mein Sohn in 20 Jahren zu mir sagt: Mensch, Papa, ihr habt doch damals gewusst, worum es geht. – Ich will nicht, dass mein Sohn sagt: Warum habt ihr damals nichts getan? Ihr hattet alle Möglichkeiten! ({5}) Das wäre ein Verrat an meinem Sohn. Diese Gefahr will ich nicht eingehen. Diese Gefahr ist mir zu groß. Deswegen lassen Sie uns sinnvolle Klimapolitik machen, und lassen Sie uns das anständig gestalten. Danke schön. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin Rita Schwarzelühr-Sutter. ({0})

Rita Schwarzelühr-Sutter (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003847

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in diesem Haus schon so oft über die Zusammenhänge in der Klimapolitik gesprochen, über die Ursachen des Klimawandels und den Klimaschutz. Manchmal hat man schon den Eindruck, dass bei vielen eine gewisse Beratungsresistenz da ist; man kann vielleicht auch sagen: Ignoranz von Fakten. Das fängt damit an, dass man sagt, dass wir im aktuellen Bericht des World Economic Forum auf Platz sieben gelandet sind, und sagt: Der Klimaschutz ist schuld, dass wir auf Platz sieben sind. – Lesen Sie doch wenigstens den Bericht. Darin steht nämlich nichts vom Klimaschutz, sondern da steht, dass wir bei der Digitalisierung aufholen müssen. Das meine ich: Bleiben Sie doch einfach mal bei der Sache, und bleiben Sie ehrlich. ({0}) Wir haben natürlich Verantwortung. Als Industrieland haben wir eine historische Verantwortung. Wir haben in den vergangenen Jahrzehnten, im vergangenen Jahrhundert als Industrieland unseren Anteil am weltweiten CO2-Ausstoß gehabt. Wenn man bei den Fakten bleiben will, kann man auch sagen: Wir sind weltweit auf Platz sechs bei den Treibhausgasemissionen. Natürlich erwächst daraus eine historische Verantwortung. Wir haben auch aktuell Verantwortung, nämlich, wie Herr Köhler sehr treffend gesagt hat, gegenüber unseren Kindern und Enkelkindern. Wir möchten, dass auch die nächste Generation ein gutes Leben hat, dass sie mindestens die gleichen guten Bedingungen hat wie wir. Wir sind nun mal die Generation, die es jetzt noch in der Hand hat. Abwarten wird teuer. Das können wir uns gar nicht leisten. Damit komme ich zu Folgendem: Wir haben auch eine Verantwortung für die Zukunft. Es ist unsere Pflicht, dafür zu sorgen, dass die Menschen in unserem Land eine lebenswerte Zukunft haben. Die Bundesregierung tut das mit dem Klimaschutzgesetz und mit dem Klimaschutzprogramm 2030. Wenn Sie dabei nicht mithelfen, enttäuschen Sie vielleicht nicht nur die Bundesregierung. Vielleicht enttäuschen Sie damit auch den einen oder anderen Wähler; denn die Wählerinnen und Wähler machen sich sehr wohl Gedanken und Sorgen. Sie fragen sich: Wie sieht es in Zukunft aus? Wie geht es tatsächlich weiter? Liebe Kolleginnen und Kollegen, man kann es wirklich nicht oft genug sagen: Klimaschutz ist Zukunftspolitik. Man muss die Chancen nutzen, die damit verbunden sind. Als hochentwickeltes Industrieland haben wir die besten Voraussetzungen, wegweisende Techniken zu entwickeln und weiter zu verbessern. Wir sind doch auch führend bei der Umwelttechnik. Wenn wir das nicht machen, wer soll das dann machen, und wer soll sich den Markt dafür erarbeiten? Ich finde, das sind doch beste Voraussetzungen, die wir nutzen sollten. ({1}) 197 Staaten weltweit haben das Pariser Klimaabkommen verabredet, auch mit Blick auf einen Leitmarkt für klimafreundliche Technologien. Ich glaube, besser kann man es gar nicht sagen: Wir haben Spitzentechnologien, und wir können die Welt hier schon ein bisschen besser machen. Wir müssen uns gemeinsam darum kümmern, dass wir wettbewerbsfähig bleiben. Natürlich haben die Menschen in Deutschland Angst: Wie geht es vor dem Hintergrund von Digitalisierung und Klimawandel weiter? Aber Angst hat noch nie geholfen. Herr Köhler hat gerade mit Blick auf die AfD seinen kleinen Sohn erwähnt, der sich im Spiel die Hände vor das Gesicht hält. Da fällt mir für die AfD das Bild mit den drei Affen ein: Nichts sehen, nichts hören und überhaupt nichts tun wollen! ({2}) Das ist ein Punkt, zu dem ich sage: Das ist keine Antwort auf die Herausforderungen, die die Menschen tatsächlich beschäftigen. Der Strukturwandel kommt – allein schon durch die Digitalisierung. Den Strukturwandel werden wir nicht dadurch bewältigen, dass wir nichts tun, sondern wir haben die Verantwortung, und diese Verantwortung übernehmen wir mit dem Klimaschutzgesetz, mit der Abschaffung des PV-Deckels, mit dem Kohleausstieg, den wir beschlossen haben. All das sind Punkte, die wir voranbringen. Dort investieren wir und zeigen: Wir wollen den Menschen vor Ort klarmachen, dass auch sie zu den Gewinnern dieses Transformationsprozesses gehören. Wir brauchen nicht diesen Alarmismus und diese Beängstigung, die Sie machen. ({3}) Ich will einfach noch mal sagen – um bei den Fakten zu bleiben –: Sie haben schon ein echtes Talent dafür, so zu tun, als ob tatsächlich wahr wäre, was einfach nicht stimmt. Gestern in der Regierungsbefragung hat Kollege Kraft tatsächlich behauptet, Deutschland sei das ärmste Land in Europa. ({4}) Haben Sie sich schon mal Statistiken zu Europa, zur EU angeguckt? Dann müssen Sie schon sagen, wer das höchste Bruttoinlandsprodukt hat – das ist Deutschland –, wer die niedrigste Arbeitslosigkeit hat: Das ist Deutschland. Das ist nur ein Beispiel dafür, wie Sie mit Fakten umgehen. ({5}) Ein anderes Beispiel aus Ihrer Dresdener Erklärung dafür, was Sie den Leuten einfach vormachen. Sie sagen: Mit Partitionierung und Transmutation lösen wir das Atommüllproblem. Jegliche Nation dieser Welt hat diese Technik bis jetzt noch nicht – ob ideologisch besetzt oder nicht – auf dem Schirm, noch nicht zur Verfügung. ({6}) Aber Sie geben den Menschen eine Beruhigungspille, und die Menschen werden sehen, dass sie, wenn sie Sie gewählt haben, sehr unschön aufwachen und sich in einem Zustand wiederfinden, in dem sie keine Zukunft haben. Deswegen stehen wir für Zukunft. Herzlichen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Bevor ich hier in der Redeliste weitergehe, ganz kurz zur Erläuterung meines Vorgehens. Ich habe eben eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung gar nicht aufgerufen, weil derjenige, der fragen will, in dieser Debatte noch redet. Wir werden das auch in der weiteren Debatte so handhaben. Ebenso bin ich gehalten, soweit das irgendwie geht, hier auf die vereinbarten Redezeiten nicht nur entsprechend zu achten, sondern gegebenenfalls auch bei nachfolgenden Rednerinnen und Rednern der Fraktionen diese zu verkürzen, wenn Redezeiten ihrer Fraktionskolleginnen und ‑kollegen zuvor überzogen wurden. Das Wort hat Lorenz Gösta Beutin für die Fraktion Die Linke. ({0})

Lorenz Gösta Beutin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004672, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Wenn man allein diesen Antrag der AfD nehmen würde und nicht sehen würde, dass der Antrag, jegliche Klimaschutzmaßnahmen zu stoppen, hier im Bundestag gestellt worden wäre, dann könnte man einfach weitergehen und darüber lachen. Doch da er hier gestellt worden ist, muss ich einmal fragen: Was sagen Sie denn den Menschen im globalen Süden, auf den Philippinen, die unter Taifunen leiden und ihre Heimat verlieren? Was sagen Sie den Menschen beispielsweise in Äthiopien, die unter Dürren und Überschwemmungen leiden, die fliehen müssen, weil sie und ihre Kinder vom Tod durch Hunger bedroht sind? Ich kann Ihnen etwas sagen: Es interessiert Sie einfach nicht, weil Sie auf Ihrer kleinen, erbärmlichen nationalistischen Insel leben – nichts anderes. ({0}) Sprechen wir also über den Antrag. Er enthält zwei populäre Irrtümer, und das macht es so wertvoll, hier im Bundestag einmal darüber zu sprechen. Erstens. Man geht von der These aus, Deutschland habe ja nur einen Anteil von 2 Prozent an den weltweiten CO2-Emissionen und deshalb sei das mit dem Klimaschutz ja alles gar nicht so notwendig. Da hilft ein bisschen einfache Mathematik. Wir gehen davon aus: Wir haben etwa 200 Staaten auf der Welt und 100 Prozent CO2-Emissionen; macht einen Durchschnitt von 0,5 Prozent pro Staat. Das heißt, der durchschnittliche Staat auf der Welt hätte einfach viermal so wenig Ursache wie Deutschland, sich um Klimaschutz zu kümmern. Nein, das ist der vollkommen falsche Ansatz. Schaut man nach Österreich: Österreich hat einen Anteil von 0,2 Prozent an den weltweiten Emissionen. Die Schweiz hat einen Anteil von 0,1 Prozent an den Emissionen. Das heißt, diese Länder könnten jetzt mächtig Kohlekraftwerke bauen. – So funktioniert internationale Solidarität nicht. So funktioniert Kooperation nicht. Das Pariser Klimaabkommen ist ein Abkommen der Staatengemeinschaft, und es besagt ganz klar: Jeder muss seinen Beitrag dazu leisten. Das ist der richtige Weg. ({1}) Zweiter Punkt – auch das wurde eben wieder gesagt –: Klimaschutz und Energiewende würden zur Deindustrialisierung beitragen. Nein, umgekehrt wird ein Schuh draus: Dadurch, dass die Energiewende ausgebremst wird, kriegen wir Probleme. Wir haben gesehen: In den vergangenen Jahren haben wir 80 000 Arbeitsplätze in der Photovoltaik verloren. Wir haben seit 2017 fast 40 000 Arbeitsplätze in der Windkraftbranche verloren. Das ist ein verheerender Trend, der dem Klimaschutz widerspricht. Das ist das Gegenteil von dem, was wir tatsächlich brauchen. Wir brauchen Investitionen und Aufbau unserer Industrie. ({2}) Oder schauen Sie in die Autobranche und auf die Zuliefererbetriebe. Weil diese Koalition es nicht auf die Reihe kriegt, das zukunftsfähig zu machen, werden wir auch dort Tausende von Arbeitsplätzen verlieren. Das heißt, die Energiewende ist nicht nur gesellschaftlich und klimapolitisch notwendig, sie ist auch sozialpolitisch notwendig, industriepolitisch notwendig und wirtschaftspolitisch notwendig. ({3}) Wenn man davon ausgeht, dass diese Irrtümer keine Irrtümer sind, kann man natürlich so einen Antrag stellen. Wenn man aber davon ausgeht, dass diese Irrtümer Irrtümer sind, muss man die Klimakatastrophe mit allen Mitteln bekämpfen. Was haben wir von dieser Bundesregierung nun vorgelegt bekommen? Wir haben vom Klimakabarett der Bundesregierung ein Klimapäckchen vorgelegt bekommen, von dem die Bundesregierung selbst von Beginn an gesagt hat: Es reicht nicht aus, um das Pariser Klimaabkommen einzuhalten, und es reicht vielleicht auch nicht aus, um die eigenen Klimaziele der Bundesregierung einzuhalten. – Sie haben also den Mut, mit einem Klimapäckchen anzutreten, das Ihren eigenen Maßstäben nicht gerecht wird, und das ist doch wahnsinnig. ({4}) Ich zitiere Ihnen etwas – hören Sie da mal genau zu, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und SPD –: Durch die gezielte Förderung von Gebäudesanierungen in Gebieten mit einkommensschwachen Haushalten sollten zusätzliche sozialverträgliche Sanierungen angereizt werden. – Das klingt jetzt erst mal nach einem Programm der Linken – das kann man vielleicht denken –, und das ist ja auch der richtige Weg in Zeiten des Mietenwahnsinns. Was ich zitiert habe, ist eine Passage aus dem ursprünglichen Entwurf des Klimapäckchens. Dies wäre genau der richtige Weg gewesen: Klimaschutz mit sozialer Gerechtigkeit zu verbinden. ({5}) Was macht die Bundesregierung? Im Entwurf, der am 20. September vorgelegt wurde, an dem Tag, wo 1,4 Millionen Menschen auf die Straße gingen, fehlt genau dieser Abschnitt. Herrn Altmaier haben wir gefragt, warum denn dieser Abschnitt fehlt, und er hat gesagt: Nun, die energetische Sanierung war nicht unsere Priorität. – Genau das ist das Problem. Echter Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit sind nicht Priorität dieser Bundesregierung. Das muss anders werden. ({6}) Wenn es um den Windkraftausbau geht: Ich empfehle Ihnen, einmal nach Sprakebüll im Kreis Nordfriesland zu schauen. Dort gibt es einen Windpark, zwei Solarparks, und die erneuerbare Wärme ist in genossenschaftlicher Hand. Wie machen die das? Ja, die Energie ist dort in Bürgerinnen- und Bürgerhand: 95 Prozent der Menschen sind an der Bürgerinnen- und Bürgerenergie beteiligt. Zusätzlich gibt es ein Carsharing mit E-Autos, das jedem Bürger der Gemeinde zur Verfügung steht. Es gibt kostenfreien Schwimmunterricht und Musikunterricht. Sogar ein Fahrradweg wurde gebaut, obwohl das Land Schleswig-Holstein gesagt hat: Dafür haben wir leider nicht das Geld. – Daraufhin hat man gesagt: Wir nehmen die Erträge der Windkraft und bauen diesen Radweg, der für uns einfach notwendig ist. – Wenn Sie durch die Gemeinde gehen und die Leute fragen: „Habt ihr denn Probleme mit der Windkraft?“ – wir hören ja, überall gibt es Probleme –, dann schauen sie einen entgeistert an, als wenn man von einem anderen Stern kommen würde. Genau das ist der richtige Weg, den wir brauchen. Hören Sie auf, die Energiewende an die Konzerne zu verscherbeln. Stärken Sie die Bürgerinnen- und Bürgerenergie. Stärken Sie die Genossenschaften. Stärken Sie die Kommunen und die Stadtwerke. Dann kann es mit der Energiewende klappen. Vielen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Oliver Krischer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Klaus Töpfer, Christdemokrat, der vor wenigen Wochen von Armin Laschet, Christdemokrat, Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen, mit der Laudatio der Bundeskanzlerin, bekanntlich Christdemokratin, den Staatspreis bekommen hat, hat einmal den schönen Satz gesagt: Das Erneuerbare-Energien-Gesetz war der größte Beitrag Deutschlands zur Entwicklung der Welt; denn wir haben dadurch Strom aus Wind und Sonne günstig gemacht. – Ich sage ganz klar: Klaus Töpfer hat völlig recht. Das ist die Basis von allem, über das wir hier reden. Wasserstoff, Elektromobilität, Klimaschutz, das alles ist nur machbar mit einem massiven Ausbau der erneuerbaren Energien. ({0}) Es ist schon, ehrlich gesagt, erstaunlich – um nicht zu sagen: völlig irre –, was da in Deutschland passiert. Während die Welt immer mehr in Erneuerbare investiert und ihr Anteil jedes Jahr weiter steigt, in allen Teilen der Welt, nehmen unsere Investitionen in die Erneuerbaren immer weiter ab. Es sieht ganz so aus, dass unser Anteil im nächsten Jahr, nachdem in diesem Jahr kaum Windenergieausbau stattgefunden hat, erstmals seit Beginn der 90er-Jahre, seit dem Stromeinspeisungsgesetz sogar zurückgehen wird, weil mehr Anlagen abgebaut als zugebaut werden. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik, und das ist das Gegenteil von Klimaschutz; das muss man an der Stelle ganz klar sagen. ({1}) Ich hätte mir gewünscht, dass es mit dem Klimapaket am 20. September wenigstens ein Signal gegeben hätte, dass es in eine andere Richtung geht. Aber bei den erneuerbaren Energien machen Sie das exakte Gegenteil. Sie setzen noch eine Botschaft dagegen und sagen: 1 000 Meter Pauschalabstand. – In dem Papier von Peter Altmaier zur Stärkung der Windenergie ist der erste und wichtigste Punkt das Ausbremsen der Windenergie durch einen Pauschalabstand. Meine Damen und Herren von der Union, von der Großen Koalition, es ist ein Skandal, dass das Regierungspolitik ist. ({2}) Ich finde es, ehrlich gesagt, ein Unding: Wir geben im Rahmen des Strukturwandels Milliarden in die Kohleregionen – darüber muss man reden –, und dann gibt es die Meldung, dass in Lauchhammer, in der Lausitz, 500 Arbeitsplätze in der Windenergieindustrie abgebaut werden. Da höre ich nicht den Aufschrei seitens der Regierung: Da müssen wir etwas tun. – Das ist das Ergebnis Ihrer Politik. Ich sage ganz klar: In der Zeit, in der Peter Altmaier Wirtschaftsminister ist, sind mehr Arbeitsplätze in der Erneuerbaren-Branche vernichtet worden, als der Kohlebereich überhaupt hat, und das ist ein absolutes Unding, meine Damen und Herren. ({3}) Das ist Ihre Politik. Die schadet nicht nur dem Klima, sondern deindustrialisiert Deutschland. ({4}) Wer Klimaschutz ernst nimmt, der muss die Erneuerbaren massiv ausbauen. Aber mit dem Klimapaket und Ihrer gesamten Politik legen Sie eine Verweigerungshaltung an den Tag. Ich hätte hier heute gerne über die Abschaffung des 52-GW-Deckels abgestimmt, in großem Konsens, Frau Weisgerber. Das haben Sie aber gestern im Wirtschaftsausschuss verhindert, weil Sie die Abstimmung nicht zugelassen haben. Lassen Sie uns endlich das gemeinsame Signal senden, dass wir mit dem Ausbau der Erneuerbaren vorangehen! Ihre Politik in Bezug auf das Klimapaket ist aber das exakte Gegenteil. Das muss hier ganz klar und deutlich werden. Danke schön. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Jens Koeppen. ({0})

Jens Koeppen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003789, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte auf den AfD-Antrag zurückkommen, auch wenn es mir manchmal schwerfällt. Im AfD-Antrag heißt es in der Überschrift „Echten Umweltschutz betreiben ... für eine faktenbasierte Klima- und Energiepolitik“. Dagegen kann man erst mal nichts haben. Aber, Herr Kollege Hilse, es fällt mir wirklich schwer, objektiv auf das einzugehen, was Sie in Ihrem Antrag abgelassen und auch hier mündlich vorgetragen haben; denn das ist schon schwer zu ertragen. Das ist wirklich nichts gewesen. ({0}) Ich sehe auch – das muss man ganz ehrlich sagen –, dass es gerade in diesem Bereich phasenweise zu emotional zugeht, dass wirklich zu wenig Fakten betrachtet werden und dass es auch nicht immer ergebnisorientiert zugeht. Das ist völlig klar. Aber ich habe Ihren Antrag einmal nach echtem Umweltschutz durchforstet. Absolute Fehlanzeige! Zu finden ist nichts davon, nur die altbekannte strittige Ablehnung von allen Maßnahmen im Bereich des Klima- und Umweltschutzes und die völlige Ignoranz gegenüber der Notwendigkeit, national überhaupt etwas zu machen. Das geht letztendlich einfach nicht. Ich bleibe bei Ihrem Antrag und nehme Ihre Argumente einmal auf: Erstens. Auch wenn Sie abstreiten, dass die massiven Umweltprobleme menschengemacht sind – das ist ja eine Position –, werden Sie doch nicht allen Ernstes leugnen, dass 7 Milliarden Menschen auf der Welt etwas mit Umwelt und Natur zu tun haben, und Deutschland gehört mit dazu. ({1}) – Das wissen Sie nicht; das ist klar. Das habe ich ja gesehen. ({2}) Zweitens. Auch wenn Sie keinerlei Notwendigkeit sehen, für eine Energiewende und für den Klimaschutz etwas zu tun, werden Sie doch nicht abstreiten, dass wir in irgendeiner Art und Weise mit Ressourcen effizient umgehen müssen. ({3}) Drittens. Wenn Sie alle Maßnahmen ablehnen, die das Zeitalter dieses Umdenkens einläuten, und alle Innovationen, die die Energieversorgung und die Industrieprozesse umweltschonender machen, ({4}) dann frage ich mich, welche Objektivität Sie hier an den Tag legen. Man könnte sich doch wenigstens darauf einigen, auch wenn Sie völlig andere Positionen haben. Aber nichts, gar nichts steht in Ihrem Antrag. Sie wollen die großen Energieversteher sein; Sie sind aber die Alles-Ablehner. Das ist einfach zu wenig. Sie sitzen nun einmal in allen Parlamenten und müssen auch Vorschläge machen. Keine Vorschläge zu machen, reicht nicht. Niemand hat gesagt, dass es hier einfach ist. Da müssen Sie endlich hin: Sie dürfen nicht nur alles ablehnen. Sie müssen auch Vorschläge machen. ({5}) Wer faktenbasierte Energie- und Klimapolitik einfordert, der muss auch Vorschläge machen. Mir gefällt die aufgeheizte Debatte in Deutschland auch nicht; das muss ich ganz ehrlich sagen. Manchmal ist es zu emotional, zu ideologisch. Manchmal gibt es zu viel Aktionismus und zu wenig Fakten; das ist klar. Mir sind die Probleme, die wir in diesem Bereich haben, nicht fremd. Daran muss man natürlich arbeiten. Ich nenne aus meiner Sicht einige Punkte: Erstens: das EEG. Eines ist klar: Wer den Klimaschutz ernst nimmt, der muss – Herr Krischer, da bin ich völlig anderer Meinung als Sie - ({6}) – das glaube ich auch, ja – ineffiziente Gesetze einmal angehen und schauen, wie man mit Gesetzen verfährt, die ihr Ziel erfüllt haben, also etwas auf den Markt gebracht haben, von dem nun genügend da ist, erneuerbare Energien. ({7}) Jetzt ist es teuer und ineffizient geworden. Deswegen brauchen wir eine Roadmap, eine Exit-Strategie für das EEG. ({8}) Das EEG hat wenig zu einer verlässlichen und bezahlbaren Energieversorgung beigetragen. Zweitens: der Emissionshandel. Wir brauchen dringend einen mengenbasierten CO2-Preis, der marktwirtschaftlich ermittelt wird ({9}) und der Innovationen in allen Sektoren anreizt. Wir haben, Herr Dr. Köhler, einen ersten zarten Ansatz im Programm vorgesehen. ({10}) Wir gehen stufenweise vor und wollen das ETS in allen Sektoren installieren. Übrigens: Das ETS – das wollte ich noch sagen – hat durch sein Vorhandensein die größte CO2-Reduktion überhaupt erreicht. ({11}) Das dritte Thema ist CCS. Wir dürfen bestimmte Technologien nicht ausschließen. Dazu gehört CCS. Die Reduktionsziele sind nur mit CCS und CCU, also Abspeichern und Nutzung, zu erreichen. ({12}) Ich verstehe nicht diejenigen, die den Klimaschutz wie eine Monstranz vor sich hertragen, diese Technologie aber verteufeln und Ängste in der Bevölkerung schüren. Meine Damen und Herren, das ist nicht legitim. ({13}) Wir brauchen einen offenen Umgang mit solchen Technologien. Es stehen spannende Debatten im Klimabereich an. Ich freue mich auf die Fakten und auf die vielen neuen Denkprozesse. Herr Dr. Köhler, ich lade Sie herzlich dazu ein. ({14})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die AfD-Fraktion hat das Wort der Kollege Dr. Rainer Kraft. ({0})

Dr. Rainer Kraft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004792, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Abgeordnete! Sehr geehrte Gäste! Frau Schwarzelühr-Sutter, ganz kurz zu Ihnen: Ich habe lediglich den „Stern“ zitiert, und der hat den Global Wealth Report zitiert, nach dem die Deutschen die armen Würstchen der EU sind. Also die Kritik bitte nicht an mich richten! Wenn das Fake News sind, dann richten Sie die Kritik bitte an den „Stern“ oder den Global Wealth Report. ({0}) Offensichtlich ist es der Traum der Bundesregierung, als energiepolitisches Beispiel für alle Welt in die Geschichte einzugehen. Meine Damen und Herren, Sie schaffen das; denn Ihre Politik ist ein abschreckendes Beispiel, ein Beispiel dafür, wie man es nicht macht. Die Klimaforschung und ihre Modelle sind ja in die Jahre gekommen. Man kann inzwischen die Prognosen der letzten Dekaden mit den tatsächlich beobachteten Werten vergleichen. Diese Überprüfung fällt für die Klimaforschung allerdings verheerend aus. Ein Vergleich der letzten 40 Jahre von 102 Klimamodellen mit den real eingetretenen Werten zeigt, dass die gemessenen Fakten weit unterhalb der prognostizierten Werte gelegen haben. Nur ein einziges Modell lag unter den echten Werten, alle anderen bis doppelt so hoch darüber. Dazu passt auch das Herumgeeiere um das verbleibende Carbon Budget. Der Assessment Report 5 bildet die Basis für das Pariser Klimaabkommen. Für das Jahr 2018 räumte uns dieser Bericht global nur noch 120 Gigatonnen CO2 ein, um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen. Der Special Report on Global Warming of 1.5 °C aus dem letzten Jahr hat dieses Budget in der gleichen Frage auf 420 Gigatonnen einfach mal so aufgeblasen. Das Budget wurde also mehr als verdreifacht. Und noch dazu räumt der Special Report vom letzten Jahr ein, dass diese Prognose mit einem Fehler von plus/minus 900 Gigatonnen behaftet ist. Das ist mehr als das Doppelte des Budgets in jede Richtung. Meine Damen und Herren, das ist keine Wissenschaft, das ist Klimavoodo! ({1}) Ich sage es Ihnen noch einmal ganz deutlich: Ihre Modelle der letzten Dekaden haben weit überhöhte Vorhersagen gemacht. Ihr Carbon Budget wird aufgebläht und ist dennoch mit einem dermaßen großen Fehler behaftet, dass es de facto wertlos ist. Und auf derartig unzuverlässige Prognose verwetten Sie die Zukunft unseres Landes, die Zukunft unserer Wirtschaft und das Wohlergeben von 80 Millionen Bürgern. Das ist kriminell! ({2}) Die Genauigkeit Ihrer Vorhersagen liegt also bei unter 10 Prozent. Das bedeutet: 90 Prozent der Modelle sind falsch. Wenn ich eine Münze werfe, dann habe ich zumindest eine 50-Prozent-Chance auf ein richtiges Ergebnis. Das ist fünfmal so viel wie die Modelle, auf die Sie sich hier alle berufen. Ich frage Sie daher: Würden Sie die Zukunft des Landes und Hunderte Milliarden Euro auf einen Münzwurf setzen, selbst wenn dieser Münzwurf eine um 500 Prozent bessere Chance auf Richtigkeit hat als die Modelle, denen Sie gläubigst anhängen? Sicher nicht. Was haben Sie denn bisher erreicht? Die CO2-Emissionen in Deutschland sind seit 1990 um rund 250 Megatonnen per annum, pro Jahr, gesunken, hauptsächlich zurückzuführen auf die Schließung von DDR-Industrieanlagen in den 90ern; denn seitdem ist in dieser Frage nicht mehr viel passiert. ({3}) – Das Wirtschaftswachstum hat damit nichts zu tun. Wir reden über CO2-Emissionen. Relativiert das irgendwas? ({4}) Die CO2-Emissionen sind global um circa 10 000 Megatonnen pro Jahr gestiegen. Das ist der zehnfache Jahresgesamtausstoß Deutschlands. Sie müssen also zehn Deutschlands zerstören, um bei den CO2-Emissionen allein die Zuwächse der Welt seit 1990 aufzufangen. Von einer Nettoeinsparung ist dabei noch nicht einmal die Rede. ({5}) Ihre Politik ist also nicht nur extrem teuer, sie verspielt nicht nur die Zukunft der jungen Generationen, sie ist auch völlig aussichtslos. ({6}) Und Sie wissen das. Sie wissen, dass Sie das Einsparziel 2030 genauso krachend verfehlen werden wie das Ziel 2020. Aber Sie wissen auch, dass es gar nicht um diese Ziele geht. Ihr Ziel ist es, den Bürger um immer mehr seines Geldes zu erleichtern. Sie drohen mit dem Weltuntergang und schüren eine Massenhysterie, damit es die Menschen akzeptieren, wenn ihnen zur Weltenrettung immer mehr von ihrem Besitz und ihrer Freiheit geraubt wird. Meine Damen und Herren, Sie werden unseren Antrag ablehnen, weil Sie politische Gaukler sind, ({7}) Gaukler, die unsere Bürger nach Strich und Faden ausnehmen. Aber wenn Sie den Bürgern erst einmal die Ersparnisse, die Arbeitsplätze und der jungen Generation die Zukunft genommen haben, dann werden die sich daran erinnern, wer ihnen das angetan hat, und Sie bei den kommenden Wahlen abstrafen, wie sie es schon in Sachsen und Brandenburg getan haben. Vielen Dank. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Dr. Nina Scheer das Wort. ({0})

Dr. Nina Scheer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004396, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrter Herr Präsident! Es wurde schon angesprochen, dass über die Jahrtausendwende in Deutschland eine Entwicklung eingesetzt hat, angetrieben von der SPD, damals in der Koalition mit den Grünen, die einen gigantischen Wirtschaftsmotor in Richtung Ausbau erneuerbarer Energie bedeutete, mit weltweiter Ausstrahlungswirkung. Wir haben inzwischen weltweit über 11 Millionen Beschäftigte im Bereich der erneuerbaren Energien. Das ist maßgeblich auf die hier im Bundestag verabschiedeten Gesetze zurückzuführen, insbesondere das EEG. ({0}) Insofern verstimmt es mich ein bisschen, Herr Koeppen, wenn Sie uns jetzt auf solche Abstellgleise wie die CCS-Technologie führen. Sie wissen genau, dass das hier im Bundestag behandelt wurde. Sie wissen genau, wie die Gesetzeslage ist. Das ist in Deutschland nicht mehrheitsfähig. Es ist auch nicht zielführend, in dieser Frage einen Rückwärtsgang einzulegen. ({1}) Es ist nicht das Gleis, das uns zu einem Ausbau der Erneuerbaren führt. Man muss ganz ehrlich sagen: In der Tat ist in den letzten Jahren die Kurve beim Ausbau der erneuerbaren Energien zurückgegangen. Das ist wirtschaftspolitisch natürlich nicht gut. ({2}) – Wenn Sie an der Stelle klatschen, Herr Hilse, dann zeigt das, dass Ihre Beobachtung auch in diese Richtung geht. Dann müssen Sie aber ehrlich mit sich sein und die Entwicklung in dieser Form eigentlich kritisieren, statt den Ausbau erneuerbarer Energien gänzlich abzulehnen. Es ist sehr widersprüchlich, wie Sie sich hier verhalten. ({3}) Wir müssen zusehen, dass es beim Ausbau der erneuerbaren Energien keine weiteren Hemmnisse gibt. Wir müssen also zum einen die Hemmnisse abbauen, die in den letzten Jahren in der Tat entstanden sind; zum anderen dürfen keine neuen hinzukommen. Teilweise geschieht das mit dem Klimaprogramm, das jetzt auf den Weg gebracht wird. Allerdings plädiere ich als Abgeordnete dafür, einmal an einem Tisch zusammenzukommen und weiter gehende Hemmnisse für die Erneuerbaren, deren Beseitigung offenkundig vonseiten des Koalitionspartners aufgehalten wird, schlichtweg zu beseitigen. ({4}) In Richtung AfD gesprochen: Ich denke, Sie müssen sich letztendlich entscheiden. Sie müssen sich entscheiden, ob Sie für bezahlbare Energie sind ({5}) – das geben Sie ja vor zu sein – oder ob Sie weiter lügen wollen. Es ist definitiv eine Lüge, wenn Sie behaupten, dass die erneuerbaren Energien teuer sind, und das wissen Sie. Also, Sie müssen sich schon entscheiden. ({6}) – Sie sind insofern die teuersten, als von Deutschland jedes Jahr 80 Milliarden Euro ausgegeben werden, nur um fossile Primärenergieressourcen zu importieren. ({7}) Davon ist noch keine Kilowattstunde Strom gewonnen. Es ist auch insofern teuer, als jährlich 57 Milliarden Euro über klimaschädliche Subventionen auf dem Steuerzahler lasten. Auch das verschweigen Sie immer. Es ist auch eine Lüge, dass die erneuerbaren Energien und die Energiewende eine Last für die Bevölkerung seien, weil an ihr Arbeitsplätze hängen. Sie wissen ganz genau – denn Sie lügen ja –, dass die Arbeitsplätze der Zukunft daran hängen ({8}) und dass allein die Automobilwirtschaft 19 Prozent der Exportwirtschaft ausmacht. Wenn wir zum Beispiel – selbst wenn wir den Anteil der Automobile im Verkehr senken – die Energiewende im Verkehr nicht hinbekommen, dann ist ein Riesenanteil der Exportnation Deutschland in einer verlassenen Industrie zu sehen. Sie müssen also die Energiewende auch für die bestehenden Industrien schleunigst hinbekommen, sonst vernichten Sie die Arbeitsplätze. ({9}) Ich fasse Ihren Antrag kurz zusammen: Ihr Versprechen an die Bevölkerung ist, dass Sie steigende Arbeitslosigkeit produzieren, ({10}) dass Sie die Vernichtung von Lebensgrundlagen provozieren, dass Sie Kriege um Öl provozieren; ({11}) denn es wird sicher weitere geben. Sie versprechen der Bevölkerung auch die Verschärfung von Fluchtursachen. – Ich habe in den wenigen Minuten versucht, eine kleine Übersetzungshilfe zu leisten; denn das sind die eigentlichen Versprechen Ihres Antrags. ({12})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Dr. Martin Neumann das Wort. ({0})

Prof. Dr. Martin Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie sehen es: Es geht mir im Moment gesundheitlich schlecht. Aber – da bin ich ganz ehrlich – der Energiewende und dem Klimaschutz in Deutschland geht es noch schlechter. Deshalb stehe ich heute hier an dieser Stelle. Ich möchte kurz auf den Antrag der AfD zurückkommen. Man kann ganz deutlich sehen, auch an den Formulierungen und Feststellungen, dass Opposition eben nicht gleich Opposition ist. Während wir uns konstruktiv Gedanken darüber machen, wie die Energiewende gelingen kann, nämlich durch Technologieoffenheit, durch Forschungsfreundlichkeit, durch mehr Bildung, durch Akzeptanz, geht es Ihnen, den Antragstellern, nur darum, den Ausknopf zu drücken. Wir wollen beim Klimaschutz Verantwortung tragen und zeigen ganz klar und deutlich, dass politische Verantwortung auch in der Opposition existiert. ({0}) Das bedeutet aber auch, dass wir die Klima- und Energiepolitik der Bundesregierung nicht in allen Punkten begrüßen. Das Klimapaket – darüber ist mehrfach gesprochen worden – ist nämlich ein Konglomerat ineffizienter und teurer Maßnahmen, ohne dass das Gesamtkonzept klar erkennbar ist. ({1}) Es fehlt das Management, es fehlt der Mut, und es fehlt auch die Ausrichtung auf das Ziel, CO2 einzusparen. Das Beispiel Automobilindustrie zeigt es ganz deutlich: Warum gelingt es denn nicht, das Thema E-Fuels endlich auf die Tagesordnung zu heben? Ich glaube, das wäre ein erster kleiner Schritt in die richtige Richtung. Die verkappte CO2-Steuer ist Murks. Sie ist teuer und nicht zielführend. Genau deshalb sagen wir auch, dass die Sektoren Gebäude und Verkehr in den europäischen Emissionshandel gehören. Dann stellt sich auch die Frage des Preises durch die EEG-Umlage nicht mehr, die letztendlich ja die Verbraucher und die Wirtschaft belastet. ({2}) Es geht, meine Damen und Herren, darum, endlich die Chancen zu nutzen, die diese Energiewende innehat. Es geht darum, neue Umwelttechnologien zu entwickeln und diese Technologien in andere Länder zu exportieren. Technologieoffenheit, Forschung und Innovation mit dem Ziel, CO2-Emissionen zu senken, das ist die Botschaft des Tages, und genau daran müssen wir uns orientieren. ({3}) Wir wollen die sogenannten Innovationsausschreibungen, wo wir die Erzeuger mit den Verbrauchern verbinden und auch Wettbewerb und Marktorientierung haben; denn nur damit kommen wir tatsächlich zum Ziel. Und, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen Mut, wir brauchen „German Mut“. Deshalb noch einmal die Bemerkung an die Bundesregierung: Das, was hier im Moment vorliegt, ist das Gegenteil davon. Da müssen wir ran. Den Antrag der AfD lehnen wir natürlich ab. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Julia Verlinden, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Julia Verlinden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004429, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nicht, dass es unbedingt noch eines weiteren Beweises bedurft hätte; aber mit diesem Antrag zur Klimapolitik zeigt die Fraktion der AfD wieder einmal, wie ewig gestrig sie hier auftritt. Sie von der AfD wollen moderne Industrien und nachhaltige Geschäftsmodelle vernichten. Sie wollen die Effizienzbranche einstampfen. Sie wollen Herstellern, Handwerkern und Wartungsunternehmen, die für die Solar- und Windenergiebranche arbeiten, ihre Arbeitsplätze nehmen. Das sind Hunderttausende Arbeitsplätze, die auf Dauer Wohlstand und Beschäftigung sichern könnten. ({0}) Was Sie hier machen, ist rückwärtsgewandt, ({1}) ist wirtschaftsfeindlich, ist in hohem Maße klimafeindlich. Statt auf Zukunftsenergien und Zukunftstechnologien zu setzen, wollen Sie an der Kohle festhalten, einer Technologie aus der Frühzeit der Industrialisierung. ({2}) Dabei ist die Kohlewirtschaft nicht nur äußerst klimafeindlich, sie hat auch aus wirtschaftlichen Erwägungen überhaupt keine Zukunft mehr. Doch Sie von der AfD wollen den Strukturwandel blockieren, Sie wollen die Modernisierung der Regionen verhindern, ({3}) und Sie wollen Menschen, die heute noch von der Kohle leben, eine echte Zukunftsperspektive verweigern. Das werden wir nicht zulassen! ({4}) Was in diesem Antrag der AfD steht, bedeutet: Sie wollen auch weiterhin den Menschen in der Lausitz und im Rheinischen Revier ihre Dörfer wegnehmen und ihre Heimat dem Kohlebagger zum Fraß vorwerfen. Sie wollen auch weiterhin die Gewässer in den Kohleregionen mit den Folgeprodukten des Kohleabbaus verschmutzen. Sie wollen die Luft weiter mit Quecksilber und anderen Schadstoffen aus den Kohleschloten verpesten. So sieht in Wirklichkeit Ihre Heimatliebe aus. Das ist erschütternd! ({5}) In der Klima- und Umweltpolitik setzen Sie von der AfD auf stupiden Nationalismus, wo kluge internationale Lösungen notwendig sind. Denn nur mit internationaler Kooperation können wir globale Probleme lösen, indem jedes Land seinen Beitrag leistet. Doch solche Abkommen sind Ihnen offenbar gar nichts wert. Sie verlangen in Ihrem Antrag, alle internationalen Verträge zu kündigen. Das zeigt ungeschminkt Ihre nationalistische Haltung, und das zeigt, dass Sie einfach nicht klarkommen mit dem Gedanken einer gemeinsamen Welt, einer Welt der Vereinten Nationen. ({6}) So bleibt Ihr ganzer Antrag heute der traurige Versuch, ein weiteres Thema zu finden, mit dem Sie die Gesellschaft spalten, bei dem Sie Hetze und Hass verbreiten können gegen Menschen, die sich für eine lebenswerte Zukunft einsetzen und dabei auch an andere denken. Aber, meine Damen und Herren, das wird Ihnen von der AfD nicht gelingen; denn zuletzt waren 1,4 Millionen Menschen in ganz Deutschland für den Klimaschutz auf der Straße. Die große Mehrheit weiß, dass wir beim Klimaschutz schnell vorankommen müssen, und darüber bin ich verdammt froh. Deshalb werden Sie von der AfD mit Ihrem beschämenden Versuch kläglich scheitern, hier eine Politik gegen die Zukunftschancen aller zu machen, gegen die Zukunftschancen unserer Kinder und Enkel. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die CDU/CSU-Fraktion hat als Nächstes das Wort der Kollege Oliver Grundmann. ({0})

Oliver Grundmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004283, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Letzte Woche waren Herbstferien in Niedersachsen. Meine Familie ist nach Berlin gekommen. Wir haben uns einige schöne Tage gemacht, und am ersten Tag bin ich wieder auf meiner hauseigenen Joggingstrecke unterwegs gewesen, unter anderem auch hier im Regierungsviertel. Da kam ich dann plötzlich in dieses Rebellenlager. Ich hatte noch keine Zeitung gelesen, weil ich vorher im Ausland war. Was ich da erlebt habe, waren Duftstäbchen, abgesperrte rituelle Bereiche, und auch ansonsten war es da ziemlich skurril. Ich habe gemerkt: Die leben auf einem vollkommen anderen Stern. Jetzt, sieben Tage später hier in Berlin, habe ich gestern den Antrag der AfD in die Hände bekommen. Da habe ich gemerkt, dass auch Sie mit Ihren Formulierungen auf einem vollkommen anderen Stern leben. ({0}) Herr Gauland, ich muss Ihnen sagen: Ich freue mich, dass Sie gerade wieder ins Plenum gekommen sind; ({1}) denn dieser Antrag zu einem so zentralen und wichtigen Thema, der uns hier vorgelegt wurde, ist absolutes Kauderwelsch. Der erste Satz geht über zwölf Zeilen. Ich weiß nicht, wie viele Gliedsätze da drin sind; ich musste den Satz fünfmal lesen, um ihn zu verstehen. ({2}) Sie als die „Hüter“ der deutschen Sprache sollten sich schämen, uns hier einen solchen Antrag vorzulegen. ({3}) Das ist wirklich skandalös. Das betrifft zwar nur die äußere Form, aber dafür kann ich hier ganz klar die Note „ungenügend“ geben. ({4}) Jetzt aber zum Inhalt. Erstens versteht eh keiner, was Sie damit wollen, ({5}) wahrscheinlich nicht einmal die Mitglieder Ihrer eigenen Fraktion. ({6}) Zweitens, Herr Hilse, widersprechen Sie sich damit selber. ({7}) In der letzten Sitzungswoche haben Sie sich hier als die Erfinder der synthetischen Kraftstoffe hingestellt, als diejenigen, die angeblich den ersten Antrag dazu geschrieben hätten. Auf der anderen Seite ist jede Form des Klimaschutzes des Teufels. ({8}) Anders kann ich jedenfalls folgende Formulierung in Ihrem Antrag nicht verstehen – Zitat –: … „Klimaschutz“ ist fast immer das genaue Gegenteil von Umweltschutz. ({9}) Solche kruden Thesen stehen im gesamten Antrag. Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Ich bin jemand, der immer gerne inhaltlich-sachlich diskutiert und sich einer sachlichen Diskussion auch nicht verschließen will. Ich will auch, dass darüber wissenschaftsbasiert diskutiert wird. Aber wir brauchen immer eine sachliche Grundlage. Natürlich haben es die Franzosen mit ihren Kernkraftwerken ein Stück weit leichter, die Klimaziele zu erreichen, ({10}) und klar haben auch die Schweden ein leichteres Spiel mit ihrer Wasserkraft; das will ich überhaupt nicht in Abrede stellen. Aber wir haben etwas unglaublich Wertvolles, etwas Kostbareres ({11}) als Stauseen, Uranstäbe oder vielleicht auch als Kohlereviere. Wir haben nämlich Wissen und Technologien für CO2-neutrale Kraftstoffe, für Wasserstoff, für Biomethan, für synthetische Kraftstoffe, für neue Antriebskonzepte, für Brennstoffzellen, für E-Mobilität und vieles mehr, was dort entwickelt wird. Da ist eine solche Dynamik, eine richtige Wucht drin. Vor zwei Jahren hätte es im Grunde niemand für möglich gehalten, dass wir diesen Weg, diese Strecke hier beschreiten würden. ({12}) Ich glaube, da sind wir wirklich auf einem sehr guten Weg. ({13}) In der nächsten Sitzungswoche haben wir Ocean Energy zu Gast im Küstenkreis der Union, ein Unternehmen, das grünen Wasserstoff mit Schiffen ortsungebunden auf hoher See für 4 bis 5 Cent je Kilowattstunde produzieren will. Dahinter stehen auch namhafte Unternehmen und wissenschaftliche Einrichtungen. Das ist eine Vision. Wenn so etwas klappt, wäre das eine tolle Sache. In der darauffolgenden Woche wird sich ein Reallabor mit CO2-neutralen Kraftstoffen vorstellen, übrigens eines der größten Chemieunternehmen bei uns in Norddeutschland. Wenn es vor vielen Jahren nach den Grünen gegangen wäre, dann würde es die schon gar nicht mehr geben. Das ist ein tolles innovatives Unternehmen. Dort werden wir vom Staatssekretär Feicht besucht, der zu uns in den Wahlkreis kommt. Dann werden wir ihm diese Projektierung vorstellen und ihm zeigen, wie ein großer Energy Hub für Norddeutschland, eine nationale Drehscheibe der Energiezukunft Deutschlands, entstehen wird, mit den besten Voraussetzungen für LNG, Wasserstoff, synthetische Kraftstoffe. Da haben wir wirklich einen Schatz mit 50 000 Tonnen Wasserstoff. Da sind wir gut dabei. Viele Unternehmen – Rolls-Royce, MTU, MAN oder andere Unternehmen aus der maritimen Branchen – waren schon bei uns im Küstenkreis und haben innovative Antriebskonzepte und sogar Vorstellungen für große Methanisierungsanlagen für Afrika. Damit könnten wir den Kontinent stabilisieren und saubere Kraftstoffe für Europa herstellen. Unsere Unternehmen sind einfach schon viel weiter. Mit Ihren rückwärtsgewandten Anträgen gefährden Sie im Grunde die Zukunft für unsere Wirtschaft. Sie bedeuten nämlich das Gegenteil von Planungssicherheit. Deswegen auch mein klarer Appell: Ihre Argumentation ist inkonsequent, so wie der gesamte Antrag. Wir wollen nach vorne schauen, Sie nach hinten. Wir bauen keine gallischen Dörfer wie Sie. Wir bauen auf die Zukunft, die Wirtschaft und auf unseren Mittelstand. Da sind wir auf gutem Wege. Danke schön. ({14})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Klaus Mindrup. ({0})

Klaus Mindrup (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004354, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin fest davon überzeugt, dass Klimaschutz, sozialer und wirtschaftlicher Fortschritt zusammen möglich sind, und zwar ganz anders, als die AfD das hier vorgetragen hat. Ich kann das auch aus eigenem Erleben sagen und belegen. Wir haben vor 19 Jahren unsere Wohnanlage in Berlin gekauft. Wir haben eine Genossenschaft gegründet, die Bremer Höhe. Damals gab es Ofenheizungen, die Häuser waren klimaschädlich. Wir haben uns gefragt: Wie machen wir das? Wie bekommen wir eine soziale Sanierung hin? – Dann haben wir gesagt: Wir machen ein Quartierskonzept. Wir machen Blockheizkraftwerke. Wir machen Photovoltaik. – Und wir haben das geschafft und sind sehr weit vorangekommen. In diesem Jahr haben wir noch einmal überlegt: Wie können wir ein Stück weitergehen? Gibt es im Augenblick eine Alternative zu Erdgas? – Die gibt es noch nicht. Dann haben wir gesagt, wir können etwas anderes Sinnvolles machen: Wir investieren jetzt Geld, und zwar freiwillig, in Biogasanlagen in Nepal mit Atmosfair, sodass wir unsere Klimabilanz weiter verbessern. – Das geht also. Wir sanieren gerade ein Dorf in Brandenburg. Es wird immer gesagt: Im ländlichen Raum kann das nicht funktionieren. – Wir machen das im Dorf Hobrechtsfelde. Wir setzen da beim Bau auf Holz. Also, man bekommt das alles bezahlbar und sozial hin. Wir sichern Arbeitsplätze im Handwerk, wir sichern Arbeitsplätze in der Industrie. Dieses Märchen, das die AfD hier zeichnet – wir würden Deutschland deindustrialisieren –, ist absoluter Unsinn. ({0}) Ich bin mir ganz sicher: Wir können die Regeln für die Bürgerenergie verbessern. Das Wichtigste war, dass der 52-Gigawatt-Deckel jetzt fallen wird, weil Photovoltaik und Bürgerenergie Hand in Hand gehen. ({1}) – Der wird natürlich fallen, wenn ich jetzt den Zwischenruf von Frau Kollegin Verlinden höre. – Aber Gesetze zu machen, geht nach und nach. Wir machen das. Sie können sich auch darauf verlassen: Das Klimaschutzgesetz kommt. Das habe ich Ihnen hier angekündigt, dann kommt es auch. Wir werden auch den 52-Gigawatt-Deckel fallen sehen, und zwar bald. ({2}) Jetzt muss ich noch einmal kurz mit den Grünen reden. Ich werde immer kritisiert, dass ich Ihren ehemaligen Staatssekretär Baake hier so kritisiere. Warum mache ich das denn? Weil von Herrn Baake die Eigenerzeugung denunziert wurde. ({3}) Der Spruch, dass die Eigenerzeugung Entsolidarisierung und Deindustrialisierung ist, hat uns doch über Jahre zurückgeworfen. Ist denn die Photovoltaikanlage auf dem Dach unserer Genossenschaft eine Entsolidarisierung? Quatsch! Das ist eine Solidarisierung mit den Arbeitskräften, die sie hergestellt haben. Das ist eine Solidarisierung mit zukünftigen Generationen. Und das Blockheizkraftwerk im Keller fördert die Industrie. Wir müssen doch aus diesen alten Kämpfen herauskommen. Wir müssen die Bürgerenergie voranbringen. ({4}) Das schafft zukunftsfähige Arbeitsplätze, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das Kabinett hat doch auch gute Ansätze: ({5}) die serielle Sanierung mit PV, die Quartiersansätze und – ganz wichtig – die Förderung von Wasserstoff. Wasserstoff ist eine Zukunftstechnologie für die Lausitz. Wasserstoff geht natürlich nur zusammen mit erneuerbaren Energien, also mit Windenergie an dieser Stelle und mit Bürgerenergie in Bezug auf die Windenergie. Das müssen wir zusammendenken. ({6}) Innerhalb der nächsten zehn Jahre kann unsere Genossenschaft zukünftig mit Windgas heizen, und dann sind wir zu 100 Prozent klimaneutral. Das ist doch Fortschritt. Lassen Sie uns diesen Weg gemeinsam gehen. Der Klimakonsens muss ein Konsens für Bürgerenergie sein. Dazu lade ich Sie herzlich ein. Danke schön. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege Mindrup. – Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Mark Helfrich, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Mark Helfrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004298, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eines wird beim Lesen des AfD-Antrages, mit dem die Aufgabe aller Klimaschutz- und Energiewendeziele gefordert wird, ganz klar: Die AfD ist die einzige Partei im Deutschen Bundestag, die den menschengemachten Klimawandel leugnet. ({0}) Das ist erschreckend in Zeiten, in denen das Eis der Polkappen und Gletscher immer schneller an Masse verliert und in denen die Zahl der Tropenstürme dramatisch zunimmt. ({1}) Aber wir müssen gar nicht so sehr in die Ferne schauen. Das Nahe liegt Ihnen ja vermutlich näher. Es reicht bereits ein Blick in unsere Heimat. Der deutsche Wald stirbt, ({2}) und auch die Landwirtschaft ächzt unter Hitze und Wassermangel. ({3}) Die AfD fordert in ihrem Antrag die Rückkehr zu einer faktenbasierten Klima- und Energiepolitik. Gerne doch! Sie sagen, der Klimawandel ist nicht menschengemacht. Fakt ist: 99 Prozent der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ({4}) sagen, dass der gegenwärtige Klimawandel sehr wohl von Menschen verursacht ist. Da fragt man sich: Wer ist hier der klimapolitische Geisterfahrer? ({5}) Ihre nächste These – es wird noch grotesker, hören Sie einmal zu! –: ({6}) Die Sonne ist schuld an der Erderwärmung. ({7}) Ich bin ja schon einmal froh, dass Sie die Erderwärmung nicht leugnen; denn laut der Weltorganisation für Meteorologie gehen die letzten fünf Jahre in die Geschichte ein, nämlich als die heißesten fünf Jahre, die jemals gemessen wurden. ({8}) Fakt ist auch – da ist sich die Wissenschaft wiederum einig –: Die Sonne ist nicht für den Temperaturanstieg der vergangenen 50 Jahre verantwortlich. Niemand hat da oben an der Heizung gedreht. Der Temperaturanstieg ist auf den verstärkten Treibhauseffekt durch die Zunahme von Kohlendioxid in der Atmosphäre zurückzuführen. ({9}) Jetzt kann man sich so wie Herr Gauland hinstellen und sagen, dass Deutschland nur für 2 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich ist. ({10}) Ja, das stimmt. ({11}) Aber Fakt ist auch, dass wir Deutschen pro Kopf immer noch mehr CO2 ausstoßen als die Chinesen. ({12}) – Hören Sie einmal die Gesamtpassage an, dann können Sie immer noch maulen! – Wenn sich alle Länder, die weniger als Deutschland emittieren, auf dasselbe Gauland’sche Scheinargument berufen, könnte der internationale Klimaschutz einpacken. ({13}) Für 40 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen gäbe es diese billige Entschuldigung, nichts unternehmen zu müssen. ({14}) Richtig ist, dass wir die Welt nicht alleine retten können. Das schaffen wir nur gemeinsam. ({15}) Deswegen haben sich 2015 in Paris 197 Länder auf ein globales Klimaschutzabkommen geeinigt. ({16}) Deshalb gibt es auch die gemeinsamen europäischen Energie- und Klimaschutzziele. Auch wenn Sie von der AfD das nicht nachvollziehen können: Wir von der Union bekennen uns zu den nationalen, europäischen und internationalen Klimazielen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland hat als Industrienation eine Vorbildfunktion in der internationalen Klimapolitik. Wir werden sehr genau beobachtet. Deutschland muss zeigen, dass es in einem Industrieland möglich ist, Wirtschaftswachstum, Energiewende und engagierten Klimaschutz gleichzeitig zu erreichen. Wir erleben zunehmend, dass ein scheinbarer Zielkonflikt zwischen Umweltschutz und Klimaschutz aufgemacht wird. Der Titel des AfD-Antrags ist ja der explizite Beleg dafür. Auch wenn man sieht, wie unser Naturschutz und unser Planungsrecht Investitionen in Klimaschutz behindern, verzögern und verteuern, könnte man auf die Idee kommen, dass Klimaschutz und Umweltschutz Gegensätze sind. Nein, sind sie natürlich nicht. Investitionen in erneuerbare Energien, Stromnetze oder bei der Bahn dienen dem Umwelt- und am Ende sogar dem Artenschutz. Herr Kollege Krischer, Sie wissen sehr wohl, dass es nicht Herr Altmaier oder die GroKo waren, die dafür sorgen, dass Windprojekte in Deutschland in großem Umfang scheitern. ({17}) Es ist vielmehr das Problem, dass in den Bundesländern keine Flächen zur Verfügung stehen, und es ist das Problem, dass sich das Instrumentarium, das Sie seit Jahren sehr geschickt für Ihre Politik, Infrastruktur zu verhindern, nutzen, jetzt leider auch gegen die Infrastruktur der Energiewende wendet. ({18}) Deshalb müssen insbesondere die Kolleginnen und Kollegen von den Grünen Farbe bekennen, welche Prioritäten beim Umwelt- und Klimaschutz denn gelten sollen. Wir müssen hier schnellstmöglich nachjustieren, damit wir echten Umweltschutz und Klimaschutz hinbekommen. Meine Damen und Herren, Klimaschutz und Energiepolitik brauchen ehrgeizige Ziele, erfüllbare Vorgaben, Realismus und Akzeptanz. Der Antrag der AfD, die Klimaschutz- und Energiewendeziele aufzugeben, entspricht einer kompletten Kapitulation vor der Realität und ist im Übrigen verantwortungslos gegenüber unseren Kindern und Enkelkindern. ({19}) Ich sage: Nicht mit uns! Herzlichen Dank. ({20})

Cem Özdemir (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002746, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Verkehrsminister Scheuer! Liebe Gäste! Als Verkehrsminister Scheuer in der letzten Woche davon sprach – ich darf zitieren –, Opfer einer „bösartigen Kampagne“ zu sein, dachte ich zuerst, er meint die CSU-Wahlkampagne von 2013 der Herren Dobrindt und Seehofer zur Ausländermaut. Aber, lieber Herr Scheuer, die Opferrolle steht Ihnen nicht. Mit der voreiligen Unterzeichnung der Mautverträge und vor allem mit Ihrem Unwillen zur Aufklärung gegenüber den Bürgern und gegenüber diesem Parlament haben Sie die vielleicht teuerste Bierzeltidee der Welt zu Ihrem ganz persönlichen Mautdesaster gemacht. ({0}) Ich gebe zu, auch ich bin gerne in Bierzelten, zumal in Bayern, unterwegs, aber ich würde niemals auf die Idee kommen, alles, was ich im Bierzelt sage, eins zu eins in einen Gesetzestext des Deutschen Bundestages zu gießen. Darauf muss man wirklich erst einmal kommen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CSU! Angesichts der Klimakrise und der ökonomischen Lage ist es gerade jetzt unabdingbar, dass wir gemeinsam um die Verkehrspolitik ringen. Große Sorge macht mir dabei allerdings die Art und Weise, mit der sich aktuell manche hier ideologisch gegen Innovation und Fortschritt aufbäumen und dabei auch noch Applaus von ganz rechts, von den Populisten und Fanatikern einfahren. Auch das Verhältnis zur Wissenschaft muss hier dringend geklärt werden. Den Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages haben Sie verhöhnt; wir alle haben noch die Worte in den Ohren. Es wäre besser gewesen, Sie hätten auf ihn gehört, den Steuerzahlern wäre viel Geld erspart geblieben. ({1}) Übrigens, Ihr Parteifreund Karl-Theodor von und zu Guttenberg wusste noch: Auf den Wissenschaftlichen Dienst ist Verlass. ({2}) Auch beim Klimaschutz im Bereich Verkehr ignorieren Sie leider die Wissenschaft. Statt auf die Verkehrswende setzen Sie auf das Prinzip Hoffnung. Statt die Dieselsubventionen langsam abzubauen, fördern Sie Diesel weiterhin mit 8 Milliarden Euro pro Jahr. Von Schöpfungsbewahrung ist in der CSU-Verkehrspolitik nichts zu sehen. Dagegen legen Sie einen quasireligiösen Eifer beim Thema Tempolimit an den Tag, anstatt endlich dafür zu sorgen, dass wir sofort und umsonst Klimagase einsparen, indem wir endlich den deutschen Sonderweg beim Thema Tempolimit beenden. ({3}) Meine Damen, meine Herren, die Mehrheit der Bevölkerung möchte ein Tempolimit, die Kirchen wollen es, die Polizei will es. Hören Sie zumindest auf die deutsche Polizei. Aber auch in diesem Punkt hinken Sie dem technischen Fortschritt hinterher. Alle, die sich mit dem Thema beschäftigen, wissen: Wenn das automatisierte Fahren kommt, dann kommt natürlich auch das Tempolimit. Glaubt denn jemand ernsthaft, dass Autos mit 250 Sachen auf der einen und 130 Sachen auf der anderen Spur fahren werden? Die Zeit der Drängler mit Lichthupe wird dann vorbei sein. Sie verteidigen eine Verkehrspolitik von vorgestern. ({4}) Herr Minister, Sie kosten dem Steuerzahler zu viel Geld. Sie stehen dem Klimaschutz im Weg. Sie stehen dem Fortschritt im Weg. Herr Minister, Sie sind das personifizierte Standortrisiko für die deutsche Autoindustrie und für unser Land. Wer nicht mit der Zeit geht, der geht mit der Zeit. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Kollege Michael Donth für die CDU/CSU-Fraktion ist der nächste Redner. ({0})

Michael Donth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004262, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute ein ganzes Sammelsurium an Anträgen zu diesem Tagesordnungspunkt, die alle irgendwie mit Verkehr zu tun haben. Ich konzentriere mich daher auf den Antrag der Linken zu Stuttgart 21. ({0}) Wissen Sie, was die Kolleginnen und Kollegen der Linken mit Kaiser Wilhelm II. gemeinsam haben? Nein, ich meine nicht, dass beide von gestern sind, sondern ich meine die antiquierte Denkweise, die hinter Anträgen wie dem heute debattierten „Für eine bessere Bahn – Ausstieg und Umstieg bei Stuttgart 21“ steckt. Es ist dieselbe Denkweise wie die des Kaisers, der gesagt haben soll: Ich glaube an das Pferd. Das Automobil ist nur eine vorübergehende Erscheinung. Im wahrsten Sinne des Wortes hatte der Kaiser aufs falsche Pferd gesetzt. Genau das liest man auch aus Ihrem Antrag heraus. Meine Damen und Herren, wenn man beispielsweise im Zukunftsbündnis Schiene darüber redet, die Bahn schneller, pünktlicher und innovativer zu machen – das sind dringend notwendige Steigerungen des jetzigen Zustands im Schienenverkehr, richtig –, dann muss man doch auch an dem jetzigen Zustand, an der jetzigen Infrastruktur etwas ändern, etwas verbessern. ({1}) Dann kann ich doch nicht einfach frei nach Kaiser Wilhelm II. an einem Kopfbahnhof festhalten, dessen Leistungsfähigkeit von Bahnexperten bereits seit den 1970er-Jahren infrage gestellt wird. ({2}) Warum, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, wollen Sie diese Verbesserungen denn bitte weiter sabotieren? ({3}) In Ihrem Antrag behaupten Sie, es ginge Ihnen um den Klimaschutz. Falsch! Auch wenn man falsche Behauptungen gebetsmühlenartig aufstellt, werden sie dadurch keinen Deut wahrer. Fakt ist: Der Durchgangsbahnhof besitzt mehr Kapazität als der heutige Kopfbahnhof. Fakt ist: Gleisflächen – ein Schotterfriedhof von über 100 Hektar mitten in der Stadt – werden frei, ein neues grünes Quartier entsteht mitten in der Landeshauptstadt mit ihrer bekannten Luftreinheitsproblematik. Fakt ist: Durch kürzere Fahrzeiten werden mehr Personen auf den Zug umsteigen. Damit entsteht ausreichend Raum für eine moderne, ökologisch nachhaltige Stadtentwicklung. Und das nennen Sie dann klimaschädlich! Ihr nächstes vermeintliches Argument ist der Deutschland-Takt. Aber auch das ist falsch! Wie soll bei einem Sackbahnhof, der bereits jetzt an seiner Kapazitätsgrenze ist und der nach Expertise der Gutachter, der Fachleute, die das Konzept Deutschland-Takt ausgearbeitet haben, ungeeignet ist, ein Halbstundentakt auf so vielen Verbindungen wie möglich gewährleistet werden? Andersherum wird ein Schuh draus: Nur mit dem Durchgangsbahnhof wird der Deutschland-Takt in und für Stuttgart überhaupt erst möglich. Wir wollen möglichst viele Züge auf die Schiene bringen, und wir wollen die Zahl der Fahrgäste verdoppeln; ich glaube, darin sind wir uns zumindest einig. Aber deshalb kann es nicht sein, dass Züge 10 oder 20 Minuten im Bahnhof auf die Ausfahrt warten müssen, weil ein anderer Zug in dieser Zeit das gesamte Gleisfeld überqueren muss; so ist es seither Usus in Stuttgart. Die Züge müssen auf ausreichend ausgebauten Strecken fahren und die Fahrgäste schnell, noch schneller als bisher an ihr Ziel bringen. Das ist es nämlich, was die Attraktivität des Schienenverkehrs ausmacht und was dann die Fahrgastzahlen erhöht. Das Projekt „Stuttgart 21“, das ja bekanntermaßen durch einen Volksentscheid demokratisch legitimiert ist, ist der richtige Weg hin zu einer schnelleren, zu einer pünktlicheren und deutschlandweit vertakteten innovativeren Bahn. Für das Projekt haben Bauarbeiter und Ingenieure wirklich herausragende Arbeit geleistet und in wenigen Jahren bereits knapp 110 der notwendigen 120 Kilometer an Tunneln gebohrt. Wir haben zusätzlich das Projekt „Digitale Schiene“ auf den Weg gebracht und werden in Stuttgart mit als erstem Knoten die Kapazität durch die innovative digitale Steuerungstechnik weiter erhöhen. Die Zugreisenden in Stuttgart sehen jeden Tag, wie unter ihnen ein neuer Bahnhof entsteht, wie Kelchstütze um Kelchstütze gegossen wird. Kurz gesagt: Die Diskussion über das Ob und Wie, die Ihrem Antrag zugrunde liegt, ist von vorgestern.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.

Michael Donth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004262, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja. – Sie müssen nun endlich auch akzeptieren: Stuttgart 21 wird gebaut, hat Baufortschritt. Steigen Sie endlich von dem toten Gaul ab, den Sie hier immer noch reiten. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion der AfD hat das Wort der Kollege Wolfgang Wiehle. ({0})

Wolfgang Wiehle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004933, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Zum wiederholten Male diskutieren wir die sogenannte Verkehrswende. Dieser Begriff ziert die Überschrift des führenden Antrags dieser Debatte. Verkehrswende wird immer mehr zum Schlüsselwort für die Umverteilung von Milliarden Euro zu dem Zwecke, die Bürger dieses Landes nach der Gedankenwelt der Grünen und Linken umzuerziehen. ({0}) Die Entscheidung, welches Verkehrsmittel man für seine täglichen Wege benutzt, soll immer mehr der Staat übernehmen. Die AfD will diese Freiheit beim Bürger belassen und lehnt eine solche ideologische Verkehrswende daher kategorisch ab. ({1}) Die Formulierung der Texte ist verräterisch. Der Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/1359 ist aus dem letzten Jahr. Dort steht schon in der ersten Zeile das Wort „Stickoxide“. Ist das nicht inzwischen längst kalter Kaffee? Jetzt schreiben die Grünen das Wort „Klima“ gleich in die Überschrift. Man erkennt das Muster: Jedes Jahr hat sein neues Umweltthema, das in hysterischer Weise hochgepeitscht wird. ({2}) Die Begründung wechselt, die politische Zielsetzung bleibt immer die gleiche. Eine Riesenumverteilung verbirgt sich im Antrag der Linksfraktion zum sogenannten Nulltarif im öffentlichen Nahverkehr. Busse und Bahnen fahren ja nicht von selbst. Personal muss bezahlt werden, Fahrzeuge müssen gekauft und gewartet werden. Wenn es keine Fahrgelder mehr gibt, müssen es die Bürger über ihre Steuern berappen, zum Beispiel auch die, die auf dem Land wohnen und gar keinen guten öffentlichen Nahverkehr haben. ({3}) Die Grünen wollen ihren Verkehrswendeantrag allen Ernstes mit der Behauptung verkaufen, er bringe mehr Mobilität. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wie soll das funktionieren, wenn Sie durch drastische Preiserhöhungen den Kraftstoff teurer machen wollen, wenn Sie den Straßenbau bremsen und damit die Staus immer länger werden lassen und wenn Sie bald den Verbrennungsmotor für Neuwagen verbieten wollen? Eines ist richtig: In die Eisenbahn muss mehr investiert werden, und zwar gezielt dort, wo sie großen Nutzen bringt, zum Beispiel im Nahverkehr und bei schnellen Städteverbindungen. ({4}) Aber sie wird die Straße nicht als Verkehrsträger Nummer eins ersetzen können. Eine große Bahninvestition ist das Projekt „Stuttgart 21“. Der Aufwand dafür ist in sträflicher Weise unterschätzt worden. Aber ein Baustopp, wie er heute wieder gefordert wird, ist nicht mehr sinnvoll, sondern er würde dem Desaster noch die Krone aufsetzen. ({5}) Das hat eine Expertenanhörung schon auf dem Stand von 2018 eindeutig ergeben. Natürlich kann man über den Verbleib von Gleisen an der Oberfläche nachdenken, aber in der Gesamtsicht kann die AfD-Fraktion diesen Antrag der Kollegen von den Linken nicht unterstützen. ({6}) Ich fasse zusammen: Eine ideologische Verkehrswende kostet Milliarden und bringt nicht mehr, sondern weniger Mobilität. Durch Steuererhöhungen und politische Gängelung wird der Wohlstand vermindert, werden Hunderttausende Arbeitsplätze gefährdet und wird die Freiheit im täglichen Leben eingeschränkt. Das ist für unser Land der falsche Weg. Deshalb wird sich die AfD einer solchen Politik immer entgegenstellen. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Arno Klare. ({0})

Arno Klare (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004329, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich beziehe mich in meinen Ausführungen in erster Linie auf den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen „Klimapaket neu auflegen …“. Den restlichen Titel können Sie selber lesen. Über dem Antrag stehen die Namen derer, die den Antrag gestellt haben, zum Beispiel Stephan Kühn (Dresden), Cem Özdemir, Oliver Krischer, Matthias Gastel, Stefan Gelbhaar, Daniela Wagner. Ich kenne sie alle aus dem Verkehrsausschuss als Menschen, mit denen man durchaus einen Diskurs führen kann. ({0}) Bei Ihnen, Herr Krischer, habe ich manchmal, wenn Sie hier vorne stehen, einen anderen Eindruck. ({1}) Aber in aller Regel stimmt das. Ich befasse mich also mit diesem Antrag. Der erste Satz beginnt wie folgt: „Mit ihrem kraftlosen Klimapaket ...“ ({2}) Ich habe mir überlegt, dass ja vielleicht etwas dran ist, dass es also in der Tat kraftlos ist. Wenn ich aber daran denke, dass in diesem Klimapaket zum Beispiel steht, dass wir bei der Kohleverstromung die jetzt installierten Leistungen in Höhe von 40,3 Gigawatt bis zum Jahre 2030 auf 17 reduzieren werden, also 60 Prozent dieser installierten Leistung und damit grundlastfähige Leistung abschalten werden, plus 2022 noch einmal 10 Gigawatt herausnehmen werden, nämlich den Atomstrom, halte ich das, was wir tun, gar nicht mehr für so kraftlos, sondern eher für mutig. ({3}) Sie schreiben weiter, dass die geplante CO2-Bepreisung wirkungslos sei. Erste Bemerkung dazu: Die Vermeidungskosten in der Mobilität liegen nicht bei 45 Euro oder 50 Euro, sondern bei knapp 400 Euro pro Tonne. Das heißt, sie bleiben sowieso darunter. Der Preis, den wir im Jahre 2024 bereits haben werden, ist schon nahe bei den von Ihnen geforderten 40 Euro, nämlich bei 35 Euro pro Tonne CO2. In der mittelfristigen Finanzplanung sind das 19 Milliarden Euro, die wir einnehmen. Da sind wir noch gar nicht beim höchsten Preis. Wir entziehen sozusagen der Volkswirtschaft 19 Milliarden Euro, um sie als Reinvestition wieder hineinzubringen. Auch das ist nicht kraftlos und mutlos, sondern, wie ich finde, durchaus angemessen. ({4}) Schauen wir uns die anderen Bereiche an, um die es geht. Sie schreiben, dass wir in alternative Antriebe und Kraftstoffe investieren müssen. Das tun wir. In dem Bericht der Kohlekommission, in dem die Investition von 40 Milliarden Euro vorgeschlagen wird, sind zahlreiche Projekte aufgelistet, bei denen es um Wasserstofftechnologie geht, also um genau das, was Sie wollen, was wir gemeinsam wollen, nämlich das Investment in erneuerbare Kraftstoffe. ({5}) Genau das steht dort drin, unterlegt mit 40 Milliarden Euro. Da sagen Sie, das sei mutlos und kraftlos? ({6}) Das ist das Gegenteil davon. Wenn ich in die Industrie schaue, dann sehe ich, dass sie ähnlich handelt. H2Stahl zum Beispiel – ich weiß nicht, ob Sie es kennen – ist ein H2-Projekt von thyssenkrupp in Hamborn. Es gibt noch weitere 18 Projekte, die über die RED II als Reallabore laufen. Sie alle zielen in genau diese Richtung und werden mit Geld aus dem Deutschen Bundestag, das wir bewilligt haben, finanziert. ({7}) Das ist nicht kraftlos, das ist nicht mutlos. Das, was wir tun, macht keine Industrienation außer uns in der Welt. Keine! ({8}) Das ist ein großes Projekt. Wir sind Beispiel und Benchmark für die Welt. Ich sage Ihnen einen letzten Satz: Wir werden damit gewinnen, ökologisch und ökonomisch. ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Oliver Luksic. ({0})

Oliver Luksic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004102, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute eine ganze Reihe an Anträgen vorliegen. Erlauben Sie mir zu den Anträgen der FDP und auch zu denen der Grünen Stellung zu nehmen. Wir machen Vorschläge, wie es mit dem hochautomatisierten autonomen Fahren vorangehen kann. Minister Scheuer hat ja angekündigt, dazu Vorschläge laut den Vereinbarungen im Koalitionsvertrag zu unterbreiten, die leider nicht kommen. Also, man merkt: Er ist ein bisschen gelähmt wegen der Pkw-Maut-Debatte. Auf der anderen Seite haben wir eine Reihe an Vorschlägen aus dem Raum der Grünen, überschrieben mit dem Wort „Verkehrswende“. Wende heißt ja: Umdrehen nach hinten. ({0}) Es geht da immer um Verbote, Bürokratisieren, Reglementieren, Verteuern. Lieber Kollege Özdemir, Sie haben ja zu Recht gesagt, dass wir eine aufgeheizte Debatte haben; das ist auch wirklich ein Problem. Das liegt aber auch an manchem Beitrag der Grünen. Ich halte zum Beispiel die Forderung nach einem SUV-Verbot angesichts eines tragischen Unfalls für schwierig. Auch den ständigen Vergleich von Autos mit Waffen finde ich so nicht in Ordnung. ({1}) Es sind übrigens vor allem Senioren, die gerne SUVs nutzen. Gerade dann, wenn es so einen Unfall gibt, sollte man das nicht instrumentalisieren für einen solchen Vergleich. In unserem Antrag zum autonomen Fahren zeigen wir auf, was auf nationaler, europäischer und UNECE-Ebene getan werden muss, um in den Bereichen der Verkehrssicherheit, der Innovation nach vorne zu kommen, damit wir in Deutschland tatsächlich Innovationsführer bleiben. Das ist wirklich wichtig, auch für den Automobilstandort. ({2}) Deswegen sind diese Vorschläge, glaube ich, gut und richtig und stellen das Gegenteil von dem dar, was die Anträge der Grünen beinhalten. Wir haben Vertrauen in Fortschritt, in Innovation, in den mündigen Bürger. Das ist das Gegenteil der ständigen Bürokratisierung und Bevormundung, zum Beispiel durch Tempolimits. Sie haben kein Vertrauen in den mündigen Bürger. Das ist der Unterschied. ({3}) Ich glaube, Sie haben auch die aktuelle Gesetzeslage nicht auf dem Schirm; denn laut § 6 des Straßenverkehrsgesetzes haben wir ja eine situative Richtgeschwindigkeit. Das heißt, man muss angepasst an die Verkehrs- und Wetterlage fahren; also bei schlechtem Wetter und dichtem Verkehr ist es nicht erlaubt, schneller als 130 km/h zu fahren. Man ist bei Unfällen dann automatisch in der Mithaftung. Es ist doch ganz klar, dass diese Gesetzeslage gut und richtig ist. Das zeigt uns auch der Blick auf die Zahlen. Die Zahlen sind ganz eindeutig. Das Problem, das wir haben, sind die Landstraßen, aber eben nicht die Bundesstraßen, die mit Abstand die sichersten Straßen in Deutschland sind, auch im europäischen Vergleich. Wo Sie immer den Vergleich mit anderen Ländern wählen, möchte ich bezüglich der Energie- und Klimapolitik anmerken: Es steigt weltweit kein anderes Land zeitgleich aus Kohle und Kernkraft aus. – Insofern hinkt also der Vergleich. Vor allem gibt es im Vergleich zu europäischen Nachbarländern mit Tempolimit in Deutschland weit weniger Verkehrstote. ({4}) Das Problem sind die Landstraßen. Die deutschen Autobahnen sind sicherer als alle anderen in Europa. Deswegen gehen Sie da am Thema vorbei. ({5}) Das sind die Fakten. ({6}) – Die Zahlen gehen zum Glück weiter runter. ({7}) Wir können auch gerne darüber reden, Geschwindigkeit dort situativ zu begrenzen, wo es Probleme gibt. Das Problem ist, Sie reden immer – nicht nur hier – von Verboten: SUV, Tempolimit. Der Benziner, der Diesel sollen verboten werden, der Nachtflug, der Billigflug, der Kurzstreckenflug sollen verboten werden, die Gasheizung, die Ölheizung, die Plastiktüte, der Luftballon, die Energydrinks. Alles soll verteuert werden: das Reisen, die Mobilität, das Fliegen, der Strom, das Fleisch. Wenn es Ihnen wirklich um die Wissenschaft geht, dann müssten Sie beim Thema Globuli vielleicht eine andere, eine weniger esoterische Meinung einnehmen. ({8}) Auch bei den Themen Gentechnik und Atomkraft sind die Grünen ja auch nicht gerade die Spitze der Aufklärung. Es ist also ganz klar: Wir müssen auf technische Innovationen setzen, Vertrauen in den Bürger haben und dürfen nicht von einer Wende nach hinten reden. Das bringt uns nämlich nicht nach vorne. Vielen Dank. ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion Die Linke hat das Wort nun die Kollegin Sabine Leidig. ({0})

Sabine Leidig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004089, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste! „Wald statt Asphalt“ – unter diesem schönen Motto haben junge Leute in meiner hessischen Heimat gerade Bäume besetzt als Protest gegen den Ausbau der A 49, für den die Fläche von 150 Fußballfeldern Wald gerodet werden soll. Der Widerstand wird in der Bevölkerung breit unterstützt. Und das ist gut so. In diesem Land sind in den vergangenen 30 Jahren 250 000 Kilometer neue Straßen gebaut worden ({0}) von Bund, Ländern und Kommunen. Das ist mehr als genug. ({1}) Die sogenannte Fahrleistung von Lastwagen ist von 30 auf 70 Milliarden Kilometer pro Jahr angeschwollen, der Autoverkehr von 400 auf 650 Milliarden Kilometer: Ein wahnsinniges Verkehrswachstum auf der Straße. Damit muss endlich Schluss sein. ({2}) Dieser Verkehr untergräbt die Lebensgrundlagen der Menschheit. ({3}) Eigentlich ist völlig klar, was passieren muss: Neben dem Ausstieg aus fossiler Energie brauchen wir eine Verkehrswende mit autofreien Innenstädten, mehr Platz für Radfahrerinnen und Fußgänger, ÖPNV und Bahn für alle. ({4}) Wir legen hier ein Konzept vor für den flächendeckenden öffentlichen Nahverkehr zum Nulltarif: Schrittweise zunächst für die am meisten belasteten Städte, für Schülerinnen und Auszubildende, bald für alle. Nicht einmal ein Fitzelchen dieser Idee taucht im Klimapaket der Bundesregierung auf. Dabei wäre es ein Leichtes, das nötige Geld dafür aufzubringen. Wir müssen nur endlich die vielen Milliarden Euro Subventionen für Diesel und Dienstwagen umverteilen, und zwar auf den öffentlichen Nahverkehr. ({5}) Darin stimmen wir auch mit den Grünen überein und auch darin, die Bahn endlich in großen Schritten zu stärken und in der Fläche als umweltfreundliche Alternative zum Straßenverkehr auszubauen. Für uns heißt Elektromobilität in erster Linie übrigens Zug und Straßenbahn. Wir teilen aber nicht den Glauben der Grünen an den Markt und den CO2-Preis. Warum? Weil die Macht der Konzerne nicht angegriffen wird. Bei der IAA in diesem Jahr gab es die größten Proteste gegen die Politik der Autokonzerne. Die Bundeskanzlerin sagt, dass Staat und Autoindustrie enger zusammenarbeiten müssen. Dabei ist genau das der Grund, weshalb im Verkehrssektor die Emissionen nicht sinken. ({6}) Als in den 1970er-Jahren unsere Wälder vom sauren Regen zerstört wurden, hat man nicht den Schwefel verteuert, sondern die Industrie zu Rauchgasentschwefelungsanlagen verpflichtet. Und das hat gewirkt. Als Ende der 80er-Jahre das Ozonloch überhandgenommen hat, hat nicht ein FCKW-Preis die Wende gebracht, sondern das Verbot dieser zerstörerischen Substanz. Und jetzt muss über das Verbot von Kurzstreckenflügen geredet werden und nicht über 5,50 Euro mehr fürs Flugticket. Damit retten wir das Klima nicht. ({7}) Wir müssen endlich aufhören, so weiterzumachen. ({8}) Das gilt übrigens auch für Stuttgart 21. Wir dürfen nicht zulassen, dass eine gut funktionierende Schieneninfrastruktur verkleinert und die Krise der Bahn vergrößert wird – für 10 Milliarden Euro. ({9}) Auch hier gibt es Alternativen, ({10}) Umstieg 21 zum Beispiel. Wir müssen alle zusammen den Mut aufbringen, Fehler einzugestehen und falsche Entscheidungen zu revidieren. Es ist Zeit für eine ganz andere, eine sozial-ökologische und demokratische Verkehrspolitik, um das Klima zu retten. ({11})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Gero Storjohann. ({0})

Gero Storjohann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003643, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben heute viele Anträge zu beraten. Ich möchte mich auf den Antrag zum allgemeinen Tempolimit von 130 km/h, das die Grünen wieder in die Debatte eingeführt haben, konzentrieren. Die Klimapolitik fordert es förmlich heraus, dass wir darüber sprechen. Die älteren Kollegen wissen: 2013 haben wir das zuletzt gemacht. Da haben wir uns über ein Tempolimit von 120 km/h, 130 km/h gestritten bzw. darüber, ob alles so bleiben soll, wie es ist. Die Grünen bringen viele Argumente vor. Ich möchte auf den letzten Satz aufmerksam machen: Es ist „eine konsequente Geschwindigkeitskontrolle“ vonnöten, um die Ziele zu erreichen, die sie sich davon erhoffen. Das bedeutet eine Totalüberwachung unserer Autobahnen. ({0}) Wir schaffen es nicht mal, die Geschwindigkeit in Tempo-30-Zonen zu überwachen – das fordern Eltern ja ein – bzw. die Leute anzuhalten, dass sie sich daran halten. Wir schaffen es nicht auf den Landstraßen. Wir schaffen es nirgends. Wir schaffen es nur sporadisch. ({1}) Insofern ist der Ansatz, ein Tempolimit von 130 km/h auf Autobahnen einzuführen und es dann überwachen zu lassen, zu hinterfragen. ({2}) Dann stellt sich die Frage, ob sich die Menschen freiwillig daran halten. Wir haben seit vielen Jahren, seit 1978, die Richtgeschwindigkeit von 130 km/h. Und die Versicherungen legen höchsten Wert darauf. Wenn man sich schneller bewegt und einen Unfall verursacht oder in einen Unfall verwickelt wird, dann hat man eine gewisse Mitschuld; die liegt bei 20 Prozent oder höher. Insofern gibt es schon Regeln, an die sich die Menschen halten müssen. Es gibt ja auch Untersuchungen, die mithilfe von Werten der Messstellen die durchschnittliche Geschwindigkeit auf Autobahnen ermittelt haben. Sie liegt bei 116 bzw. 117 km/h. Jetzt kommen wir zu der Frage von Cem Özedmir, die lautete, ob wir auch diejenigen, die die Lichthupe anwenden, endlich mal zu fassen kriegen, da sie andere Menschen vielleicht stören oder verunsichern. ({3}) – Das ist schon klar. – Das war die Frage. Wir reden aber auch über Klimaschutz. Wir reden darüber, wo überall wir CO2 einsparen könnten. Wir bekommen viele Briefe, in denen von 5 Millionen Tonnen die Rede ist. Seriöse Berechnungen sprechen eher von 1,8 Millionen Tonnen. Was nachher dabei herauskommt, wissen wir nicht. Klar ist aber: Das ist kein entscheidender Anteil. Der Verkehr hat insgesamt einen Anteil am CO2-Ausstoß von 900 Millionen Tonnen. Diesen wollen wir erheblich reduzieren. Es stellt sich da die Frage, ob 1 oder 2 Millionen Tonnen dabei wesentlich ins Gewicht fallen oder nicht. ({4}) Ein weiterer Aspekt ist die Verkehrssicherheit. Autobahnen – das wissen wir – sind die sichersten Straßen in unserem Land. In Ihrem Antrag schreiben Sie, dass ein Tempolimit sinnvoll wäre. Sie vergleichen dabei unser Straßensystem mit europäischen Straßen. Innerhalb des deutschen Straßensystems haben wir kein Problem. Das deutsche Autobahnsystem ist auf hohe Geschwindigkeiten, nämlich auf 130 bis 150 km/h, ausgelegt. Das ist nicht mit dem in Zypern vergleichbar, wo Sie 100 km/h fahren dürfen, jeder aber 120 km/h fährt, weil er weiß, dass er sowieso nicht kontrolliert wird. ({5}) – Herr Krischer, alles gut! Wenn Sie sich aufregen, liege ich richtig. Da freue ich mich immer. ({6}) Nun gibt es ja auch noch die Länderkompetenz. In Schleswig-Holstein hatten wir mal ein generelles Tempolimit von 120 km/h auf Autobahnen. Das ist wieder aufgehoben worden. ({7}) Ich habe mal geguckt, wie das in Baden-Württemberg ist. Mein alter Kumpel Winni Hermann von den Grünen ist dort zurzeit Verkehrsminister. Es gibt nicht eine einzige Initiative in Baden-Württemberg, ein generelles allgemeines Tempolimit auf Autobahnen einzurichten. ({8}) Insofern: Cem Özdemir hat hier eine bewundernswerte Rede gehalten – hätte eigentlich für den Fraktionsvorsitz reichen müssen, hat aber nicht. ({9}) Wir arbeiten gern mit Ihnen im Verkehrsausschuss zusammen. Aber wie gesagt: Ein allgemeines Tempolimit findet nicht die Zustimmung der Unionsfraktion. Wir werden Ihren Antrag deshalb ablehnen müssen. ({10}) Ein Wort noch zu dem Antrag, der gestern gekommen ist – gestern! – und die Tagesordnung auch bestimmt. Wie heißt es dort? „Verkehrswende für eine klimafreundliche Mobilität“. Was Sie vergessen haben, ist – den ersten Satz haben Sie ja auch nicht selbst geschrieben, wie eben schon von Arno Klare festgestellt wurde –: Sie haben den Radverkehr in diesem Antrag nicht aufgeführt. Null. ({11}) Das kann passieren; auch das verzeihe ich Ihnen. Wie gesagt: Bei der namentlichen Abstimmung müssen Sie mit der roten Karte abstimmen. ({12})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die AfD-Fraktion hat nun das Wort der Kollege Dr. Dirk Spaniel. ({0})

Dr. Dirk Spaniel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004899, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Heute haben wir hier im Plenum die Gelegenheit, über eine Vielzahl von Anträgen zu diskutieren, die einen guten Überblick über die aktuelle Debatte in der Verkehrspolitik geben. Wir wissen, dass ein Großteil der arbeitenden Bevölkerung in diesem Land täglich auf das Auto angewiesen ist und mit massiven Stauproblemen zu kämpfen hat. Als Verkehrspolitiker sehe ich mich verpflichtet, diesen Menschen mit zielgerichteter Politik den Alltag zu erleichtern. ({0}) Seit Monaten fahren die Grünen mit Anträgen und öffentlichen Statements eine massive Kampagne gegen den Autofahrer. ({1}) Immer wieder ist das vorrangige Ziel, den Radverkehr auszubauen und Autofahrer als Klima- oder Stausündenböcke darzustellen. Sie täuschen die Menschen in diesem Land mit dem Lügenmärchen von einer Zukunft mit ausgebautem ÖPNV und Fahrradnutzung. Dafür haben Sie einen schönen Namen erfunden. Er lautet: Verkehrswende. Sie von der CDU bzw. von der Regierung haben sich so an die Grünen angebiedert, ({2}) dass man davon ausgehen muss, dass Sie dieses Verkehrswendemärchen mittlerweile selber glauben. ({3}) Über 85 Prozent des Verkehrs in diesem Land ist Pkw-Verkehr. ({4}) – Hören Sie zu! Dann lernen Sie etwas. – Es gibt gar kein Konzept, diesen Verkehrsanteil signifikant zu verändern. Es gibt auch gar keinen Wunsch der Bevölkerung danach. Sie haben dafür überhaupt kein Mandat. ({5}) Sie sollen den Wählerwillen erfüllen. Punkt, aus! ({6}) Und der Wählerwille heißt: Lasst uns an einer staufreien Infrastruktur arbeiten. – Die einzige Partei, die diesen Wählerwillen umsetzen will, ist die AfD. ({7}) Ein weiteres Beispiel für den fast schon manischen Kampf der Linksgrünen gegen das Auto ist die Forderung nach einem generellen Tempolimit von 130 Kilometern pro Stunde. Studien und Zahlen scheinen Sie dabei wenig zu interessieren. Bei einem generellen Tempolimit von 130 km/h würden eventuell nicht mal 0,5 Prozent CO2 eingespart werden. Das sagt sogar das Verkehrsministerium. ({8}) Auch Studien zu Unfällen belegen, dass Streckenabschnitte mit Geschwindigkeitsbegrenzungen keineswegs sicherer sind, ganz im Gegenteil. Und weil Sie immer das Ausland zitieren, sage ich Ihnen: Industrieländer, die ein drastisches Tempolimit haben, zum Beispiel die USA oder Norwegen, haben achtmal mehr Inlandsflugverkehr als Deutschland. ({9}) Die Konsequenz eines Tempolimits sind also nicht der Nachtbus, das Lastenfahrrad oder die Bahn, ({10}) sondern die Konsequenz des Tempolimits ist das Flugzeug. ({11}) Was für eine Überraschung! Aber das wollen Sie ja verbieten, ist ja klar. Deutschland muss endlich wieder ein Vorreiter für das Automobil werden, gerne auch für das autonom fahrende Automobil. ({12}) Ein Großteil unseres Wohlstands wird in der Automobilbranche erwirtschaftet. Egal wie stark wir die Bahn oder die Infrastruktur für das Fahrrad ausbauen, in einem modernen Industriestaat ist das Automobil in absehbarer Zeit völlig unersetzbar. Das sagen alle Studien dieser Welt. ({13}) Gut, an die glauben Sie eh nicht. Wir müssen unsere Verkehrs- und Infrastrukturpolitik an die Realität anpassen. ({14}) Wir werden diesen Weg weitergehen. Wir werden Ihre realitätsverweigernden Anträge alle ablehnen. Die AfD ist die einzige Partei, die in diesem Land für die Interessen der Autofahrer eintritt, und das wird so bleiben. Vielen Dank. ({15})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Martin Burkert. ({0})

Martin Burkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003744, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste! Ich freue mich erst mal, dass wir heute über die Verkehrswende sprechen. Es liegen viele Anträge vor. Als Berichterstatter der SPD-Fraktion für den Schienenverkehr werde ich – wen wundert’s? – über die Bahn reden. Da haben wir erstens – das wurde heute noch gar nicht genannt – die Senkung des Umsatzsteuersatzes auf Bahntickets für den Schienenfernverkehr, die ja jetzt vom Bundeskabinett als Teil des Klimapaketes beschlossen wurde. ({0}) Endlich wurden damit falsche Anreize im Wettbewerb zwischen den Verkehrsträgern korrigiert. ({1}) Bahnfahren wird im Fernverkehr günstiger. Flugreisen werden teurer. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist ganz im Sinne des Klimaschutzes. Die Senkung der Mehrwertsteuer kann – so rechnet man – für bis zu 5 Millionen mehr Fahrgäste im Schienenfernverkehr sorgen. Die Formel lautet zunächst einmal: günstigere Zugtickets – mehr Fahrgäste. Die zweite Formel lautet: Besseres Angebot – mehr Fahrgäste. Das beste Beispiel dafür ist sicher die Schnellverbindung zwischen München und Berlin. Schon im ersten Jahr hat die Bahn das Flugzeug auf dieser Strecke als Marktführer abgelöst. Aus meiner Heimatstadt Nürnberg fliegt heute nichts mehr nach Berlin; das ist eine Konsequenz. ({2}) Die Deutsche Bahn hat verkündet, sofort bis zu 30 neue Züge für den Fernverkehr zu bestellen, sodass täglich 13 000 zusätzliche Plätze angeboten werden können. Bis aber die neuen Züge bereitstehen, bleibt es schwierig; auch das will ich sagen. Angesichts der derzeitigen Situation, die Sie und wir oftmals erleben, möchte ich mich heute bei den Eisenbahnerinnen und Eisenbahnern bedanken, ({3}) die nämlich jeden Tag dafür sorgen, dass die Kundinnen und Kunden noch einigermaßen zufrieden sind. Fehler wurden anderswo gemacht, nämlich im Management, und das schon vor langer Zeit. ({4}) Wenn wir es jetzt schaffen, den Anteil des Personenverkehrs bis zum Jahr 2030 zu verdoppeln und den Güterverkehr auf der Schiene im selben Zeitraum erheblich ansteigen zu lassen, so könnte alleine die Schiene 15 bis 20 Millionen Tonnen CO2 einsparen. Deswegen sage ich: Nur mit der Schiene können wir die Klimaziele erreichen. ({5}) Schon heute fährt sie über 90 Prozent ihrer Transportleistung elektrisch. 57 Prozent des Bahnstroms wurden 2018 in Deutschland aus erneuerbaren Energien erzeugt, und unsere Bundesumweltministerin Svenja Schulze hat klargemacht, dass die im Klimapaket vereinbarten Maßnahmen noch nicht abschließend sind. Weitere Schritte werden und müssen folgen. Mehr Verkehr auf der Schiene geht nur, wenn auch die Kapazitäten vorhanden sind. Deshalb muss das Bestandsnetz grundlegend in Ordnung gebracht werden, und deshalb ist auch die finanzielle Ausstattung der LuFV, um die wir ja ringen, so wichtig. Mit dem Klimapaket wurde auch vereinbart, dass wir ausreichend finanzielle Vorsorge treffen, um die Schiene mit dem Infrastrukturfonds zukunftsfähig zu machen. Mit 3 Milliarden Euro werden wir die zehn am meisten frequentierten Verkehrsknotenpunkte und Strecken ausbauen und die Schiene, wie im Koalitionsvertrag vereinbart, elektrifizieren. Bis 2030 soll der Deutschland-Takt umgesetzt und damit die Grundlage für die Verdoppelung der Fahrgastzahlen und des Schienengüterverkehrs gelegt werden. Der Schiene muss also höchste Priorität eingeräumt werden. Das haben wir ja hier im Deutschen Bundestag auch so beschlossen. Meine letzten Sätze gelten Stuttgart 21. Ich habe ja prognostiziert, dass wir das Thema alle halbe Jahre haben, lieber Kollege Donth. Das wird hier noch öfter der Fall sein. Ich will nur drei Punkte sagen: Erstens. Die Deutsche Bahn AG ist im Zeit- und Budgetrahmen. ({6}) Zweitens. Die Bundes- und Landesmittel sind gedeckelt.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, bitte kommen Sie zum Ende.

Martin Burkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003744, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Drittens. Der Zeitpunkt für einen Ausstieg ist längst überschritten, und das wissen Sie auch. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion der FDP hat das Wort die Kollegin Daniela Kluckert. ({0})

Daniela Kluckert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004784, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute geht es hier in der Debatte um Sicherheit und Klimaschutz im Verkehr. Bei der politischen Linken ist schon seit einer geraumen Zeit der Etatismus wieder in Mode gekommen. Heute geht es um das wirkungslose Tempo 130 oder andere Kulturkämpfe gegen das Auto. In der deutschen Automobilindustrie sind 1,8 Millionen Arbeitsplätze verankert, und Tausende Unternehmen im ganzen Land sind von ihr abhängig. Wer sich heute über den Zustand in diesem Land Sorgen macht, der sollte sich mal Gedanken darüber machen, ({0}) was denn hier los wäre in der Gesellschaft und in unserer Demokratie, wenn diese Arbeitsplätze, wenn diese Unternehmen tatsächlich auf dem Spiel stehen. ({1}) Die Automobilindustrie ist bei uns Garant für Wohlstand und eben auch für Innovationen – Innovationen, die wir gerade für den Klimaschutz brauchen. Man nehme nur mal die Potenziale der Digitalisierung der Mobilität der Zukunft. Digitale Verkehrslenkung macht die Städte sauberer, weil schon 30 Prozent des Verkehrs bei der Suche nach Parkplätzen entsteht. Autonomes Fahren ist höchst effizient und deutlich sicherer als das, was wir jetzt haben. Das betrifft den Individualverkehr genauso wie den ÖPNV. Der On-Demand-Verkehr kann gerade im ländlichen Raum leere Busse ersetzen und hier tatsächlich eine Revolution im ÖPNV voranbringen. Das sind innovative Beiträge für den Klimaschutz, die die FDP hier fordert. ({2}) Und wo sind eigentlich die CDU, die CSU? Der Minister hat schon vor einem Jahr versprochen, dass wir endlich einen Gesetzentwurf zum autonomen Fahren bekommen. Auf dem Tisch liegt gar nichts. Die CDU, die CSU sind gelähmt, oder ihnen fehlen die Kraft und die Ideen. ({3}) Die FDP fordert Klimaschutz durch Wohlstand, durch Innovationen. Deswegen haben wir diese Woche als Smart-Germany-Woche ausgerufen. Wir wollen einen innovativen Rechtsrahmen zum Ausprobieren. Wir wollen ein Datenrecht, das auch zur Mobilität passt und das auch Chancen eröffnet. Und am Ende wollen wir natürlich – ganz wichtig – ein sicheres und stabiles Mobilfunknetz; denn ohne das werden keine Innovationen auf die Straße kommen. ({4}) Klimaschutz geht eben nur mit der Automobilindustrie und auf gar keinen Fall gegen die Automobilindustrie. ({5}) Alles andere hätte dramatische Folgen für die Innovationen, aber eben auch für die Arbeitsplätze. Und es sind nicht nur die deutschen Arbeitsplätze, die hier in Gefahr sind. Es sind genauso die in Rumänien, es sind die in Brasilien. ({6}) Innovationen bringen uns nach vorne, meine Damen und Herren. Das wollen wir von der FDP stärken. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Kollegin Ingrid Remmers. ({0})

Ingrid Remmers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004134, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörende! Außer der AfD wissen inzwischen alle, dass die fortschreitende Klimaerwärmung ein Umdenken erfordert: In Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. ({0}) Was aber macht unsere Bundesregierung? Sie schnürt ein Klimapäckchen, das in keiner Weise den aktuellen Herausforderungen entspricht. Als Linke kämpfen wir für Klimagerechtigkeit. ({1}) Was heißt das im Verkehr? Das heißt vor allem, die Menschen zum Umstieg auf klimafreundliche Verkehrsmittel zu bewegen und dabei niemanden von Mobilität auszuschließen. Sie aber trauen sich in Ihrem Klimapäckchen nur Minierhöhungen der Spritpreise zu. Das milliardenschwere Dieselprivileg wollen Sie aber erhalten. Wofür eigentlich, wenn doch sowieso ein Wechsel des Antriebs ansteht und ja auch bereits angelaufen ist? An den Bereich Straßenbau wollen Sie gar nicht heran. Wir brauchen dringend ein Umsteuern der Investitionen weg von der Straße hin zur Schiene. ({2}) Dabei müsste zunächst mal der Bundesverkehrswegeplan gestoppt werden, der den Bau von immer neuen Straßen noch bis 2030 festschreibt. Dieser Plan ist auch längst von der Realität überholt und damit retro. ({3}) Doch nicht mal ein Tempolimit trauen Sie sich zu. Ein Tempolimit ist eine schnelle, einfache, wirkungsvolle und kostenlose Maßnahme zur Verbrauchsminderung und zur Erhöhung der Verkehrssicherheit. Sie dagegen zeigen nur, dass Sie gar nichts verstanden haben. ({4}) Sie wollen offenbar weiter mit Vollgas in die Klimakrise rasen. ({5}) Ebenso fehlt Ihnen auch die klare Perspektive dafür, dass wir kleinere, leichtere und verbrauchsärmere Fahrzeuge brauchen. Wir können es uns doch nicht leisten, die knappen erneuerbaren Energien in Elektro-SUV zu verballern. ({6}) Und sorgen Sie endlich für die nötige Infrastruktur für E-Fahrzeuge sowie für die Änderung des Wohneigentums- und Mietrechts, die Sie schon längst versprochen haben. Dann kann auch 2030 endlich Schluss sein mit dem Verbrennungsmotor. ({7}) Kolleginnen und Kollegen, diese Große Koalition hat abgewirtschaftet, auch in dieser Frage. Sie verspielen die Zukunft unseres Landes, weil sich die Klimakrise weiter vertieft, weil Sie es nicht schaffen, der Autoindustrie und dem Mobilitätssektor die notwendigen Perspektiven zu geben, und weil Sie die Menschen in den abgehängten Regionen ohne Perspektive sitzen lassen und Hundertausende von guten Arbeitsplätzen gefährden. Ihre Politik wird verheerende Strukturbrüche zur Folge haben. ({8}) Herr Scheuer, Sie und mit Ihnen diese Bundesregierung haben angesichts dieser Klimakrise und ihrer Ergebnisse einfach fertig. Treten Sie endlich zurück. Das ist längst überfällig. ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort der Kollege Stephan Kühn. ({0})

Stephan Kühn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004085, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nie war der gesellschaftliche Rückhalt für wirksamen Klimaschutz größer, und nie war der Handlungsdruck, endlich was zu tun, größer. ({0}) Trotzdem fehlt der Großen Koalition der Mut für wirksamen Klimaschutz. Mit dem Klimaschutzpaket verabschiedet sich diese Bundesregierung von dem Pariser Klimaschutzabkommen. ({1}) Und das ist beschämend. ({2}) Es ist nicht alles falsch, lieber Arno Klare, was im Klimapaket drinsteht. ({3}) Aber es reicht eben nicht. Eine Ansammlung von Förderprogrammen wirkt nicht, solange klimaschädliche Subventionen nicht abgebaut werden. ({4}) In den letzten zehn Jahren haben sich die Subventionen für Dieselkraftstoffe auf zusammen 76,5 Milliarden Euro summiert, während in der gleichen Zeit lediglich 5 Milliarden Euro in alternative Antriebe und Kraftstoffe investiert wurden. Das ist weder technologieoffen, noch sorgt es für Vorfahrt für neue Technologien, die wir ja eigentlich alle wollen. ({5}) Der geplante CO2-Preis für Diesel und Benzin liegt unterhalb der täglichen Schwankungsbreite an den Tankstellen. So werden Alternativen jedenfalls nicht gefördert. Richtig wäre es gewesen, für fossile Kraftstoffe mit einem deutlich höheren CO2-Preis zu starten und die Einnahmen den Bürgerinnen und Bürgern über ein Energiegeld und über eine Senkung der Stromsteuer vollständig auszuzahlen. ({6}) Davon würden auch Menschen mit kleinem Geldbeutel profitieren und übrigens auch diejenigen, die auf keine Pendlerpauschale zurückgreifen können. Klar ist aber auch: Es ist nicht damit getan, nur Antriebe auszutauschen und mehr Elektroautos auf die Straße zu bringen. Verkehrswende heißt auch, Verkehr auf Bus und Bahn und auf das Fahrrad zu verlagern und das Angebot dort deutlich auszubauen. ({7}) Der Verkehrsminister baut aber lieber weiter Straßen, als ob es keine Klimakrise gäbe. In den letzten zwei Jahren ist der Straßenbauetat um 50 Prozent gestiegen. Man stärkt aber nicht die Schiene, indem man Straßen baut. Bis 2030 sollen die Fahrgastzahlen der Bahn verdoppelt werden. Ein gutes Ziel, aber dafür müssten die Investitionen für Aus- und Neubau auch verdoppelt werden. ({8}) 3 Milliarden Euro bräuchten wir, 1,6 Milliarden Euro stehen im Haushalt. Das ist die Realität. Der Verkehrsminister hat zusätzliche 900 Millionen Euro für die Förderung des Radverkehrs angekündigt. Schaut man in den Ergänzungshaushalt zum Klimapaket, so stehen dort lediglich 31 Millionen Euro. Übrigens, Herr Kollege Storjohann, in unserem Antrag steht in den Forderungspunkten 3 und 10 sehr wohl etwas zum Thema Radverkehr. Lesen Sie einmal nach. ({9}) Der Minister jedenfalls ist Tabellenführer beim Ankündigen, doch beim Umsetzen bewegt er sich in der Abstiegszone. Die Kanzlerin hat ihm gestern das vollste Vertrauen ausgesprochen. Er ist also ein Minister auf Abruf. ({10}) Wir werden gemeinsam mit ihm den Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum Pkw-Mautskandal bearbeiten. Ich sage Ihnen: Sie haben interessante Wissenslücken. Sie haben uns als Opposition vorgeworfen, dass wir immer die Maut kritisiert hätten, aber nicht das Vergabeverfahren. Ich empfehle die Lektüre des Protokolls der Sitzung des Verkehrsausschusses vom 7. November letzten Jahres, in der wir eine Selbstbefassung zu den Vergabeverträgen gemacht haben und – übrigens fraktionsübergreifend – auf die Problematik hingewiesen haben.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.

Stephan Kühn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004085, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sie haben einige Erinnerungslücken. Ich empfehle Ihnen, diese Erinnerungslücken zu füllen; denn im Untersuchungsausschuss sagen Sie unter Eid aus. Genau dazu werden wir Sie befragen. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Karl Holmeier. ({0})

Karl Holmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004059, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beraten heute über einen großen Strauß von Anträgen der Opposition. Wir müssen sie alle ablehnen, weil sie einerseits zu weit gehen und andererseits zu kurz springen. ({0}) Diese ideologischen Debatten über 100 Prozent Elektromobilität und Tempo 130 auf Autobahnen bringen doch nichts. Wir sägen mit diesen Debatten den Baum ab, auf dem wir sitzen, ({1}) bevor neue Bäume in Form von alternativen Kraftstoffen gewachsen sind. ({2}) Wenn die neuen Bäume – alternative Kraftstoffe wie synthetische Kraftstoffe, Erdgas, CNG, LNG, ({3}) Wasserstoff und auch Elektromobilität – gewachsen sind, können wir, wie beim Obstbaum, die alten Bäume – Diesel und Benzin – zurückschneiden und ersetzen. Die Zeit dazu, meine Damen und Herren, ist noch nicht da. ({4}) Darum setze ich mich in meinem Wahlkreis dafür ein, alternative Kraftstoffe auf den Weg zu bringen. ({5}) In der vergangenen Woche hatte ich die Gelegenheit, an der Wiedereröffnung der einzigen Erdgastankstelle in unserer Kreisstadt Schwandorf teilzunehmen. Warum Wiedereröffnung? Weil die Tankstelle nach einem Defekt zunächst stillgelegt und abgebaut werden sollte. Erst durch viele Gespräche hat der Betreiber die Sanierung und Wiedereröffnung beschlossen. Dafür bedanke ich mich. Warum erzähle ich Ihnen das, meine Damen und Herren? ({6}) Erdgas in Form von LNG und CNG ist derzeit für schwere Nutzfahrzeuge und auch für Pkw eine verfügbare und klimafreundliche Alternative. ({7}) Die Erdgastankstelle in Schwandorf ist damit ein Baustein für eine klimafreundliche Mobilität. Weitere Tankstellen in der Oberpfalz werden folgen. Auch synthetischer Diesel ist eine Alternative. Wir müssen auch ihn in den Markt bringen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich frage Sie: Was ist klimafreundliche Mobilität? Elektromobilität ja, aber nicht nur allein. Der Grundgedanke des Antrags, Elektromobilität auf die Überholspur zu bringen, ist ja richtig. Ja, Elektromobilität muss gefördert werden. Da stimmen wir überein. Aber Elektromobilität ist nur ein Teil dieser zukunftsfähigen und klimafreundlichen Mobilität. Wir brauchen verschiedene klimafreundliche Antriebe und Kraftstoffe für verschiedene Anwendungsbereiche. Unser Ziel, meine Damen und Herren, muss doch sein, jedem in Zukunft Mobilität zu ermöglichen. Unser Ziel muss sein, dass sich jeder auch in Zukunft Mobilität leisten kann. Mobilität sichert unsere Freiheit, und Mobilität sichert unseren Wohlstand. ({8}) Das gilt für die Großstadt wie für den ländlichen Raum. Deshalb setzen wir von der Union auf Technologieoffenheit. Dabei spielt Erdgas in der Zukunft eine wichtige Rolle.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage einer Kollegin von der Fraktion Die Linke?

Karl Holmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004059, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Sabine Leidig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004089, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Kollege Holmeier, ich möchte Sie fragen, ob Sie sich mit den Entwicklungen in der Bevölkerung zum Thema Verkehrswende beschäftigen. ({0}) Es gibt die Studie „Umweltbewusstsein in Deutschland“, die vom Umweltministerium seit vielen Jahren mit großer Qualität erstellt wird. In diesem Jahr wurde eine sehr interessante Veränderung veröffentlicht. Es sind 2 000 Menschen qualifiziert befragt worden, was ihnen bei der Entwicklung des Verkehrs in Zukunft am Allerwichtigsten ist. Nur 10 Prozent stimmen Ihrer Auffassung zu, dass wirtschaftliche Entwicklung und Wettbewerbsfähigkeit das Wichtigste sind. ({1}) 40 Prozent sagen: Vor allem geht es darum, Wege kostengünstig und bequem zurückzulegen. – Das würden wir alle annehmen. Aber 50 Prozent sagen, sie wollen vor allem Umwelt und Klima möglichst wenig belasten. ({2}) Ich finde, es wird höchste Zeit, dass auch die Koalitionsparteien eine irre Politik in diese Richtung verändern. ({3})

Karl Holmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004059, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich stimme mit dem Ziel überein, dass sich jeder in Zukunft Mobilität leisten kann, vor allem im ländlichen Raum. Das muss unsere Aufgabe in der Politik sein. ({0}) Im Klimaschutzprogramm, meine Damen und Herren, haben wir uns auf die Förderung von weiteren Alternativen verständigt. Ich möchte an dieser Stelle unserem Verkehrsminister Andreas Scheuer einen herzlichen Dank aussprechen für seine guten und wichtigen Initiativen und Vorschläge im Bereich des Klimapakets. Vielen Dank, Herr Minister. ({1}) Biokraftstoffe, strombasierte Kraftstoffe und Wasserstoff sind ein bestimmter Teil. Fortschrittliche Biokraftstoffe können wir den derzeitigen Kraftstoffen wie Erdgas ohne Weiteres beifügen. Der Anteil am Kraftstoffmix kann schrittweise erhöht werden. Wir können Biokraftstoffe aus Abfällen und Resten wie zum Beispiel aus Gülle oder aus Stroh gewinnen. Strombasierte Kraftstoffe, kurz E-Fuels, sind eine weitere Alternative. Mit E-Fuels haben wir eine Möglichkeit, sauberen und nachhaltig erzeugten Strom als Kraftstoff zu nutzen. Dies hat eine ganze Reihe von Vorteilen. Wir können Energie auf diesem Weg speichern und transportieren. Wasserstoff als dritter, aber sicher bedeutendster alternativer Kraftstoff der Zukunft besitzt die gleichen Vorteile. Gerade das Speichern von Energie wird immer bedeutender. Wasserstoff und E-Fuels sind dafür eine Lösung. Deswegen wollen wir die Rahmenbedingungen für die industrielle Herstellung beider Kraftstoffe verbessern. Meine Damen und Herren, wir brauchen die alternativen Kraftstoffe, aber nicht als Gegenentwurf zur Elektromobilität, sondern als Ergänzung. Deshalb ist es richtig, dass wir im Lastwagenbereich die LNG-Nutzung mit bestimmten Mautbefreiungen auf den Weg gebracht haben. Wichtig ist, den Infrastrukturausbau für die Verteilung der Kraftstoffe zu unterstützen. Ich freue mich deshalb über jede Tankstelle mit alternativen Kraftstoffen in meiner Heimat und in Deutschland. Ein paar Worte noch zum Tempo 130 auf Autobahnen.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, Ihre Zeit ist abgelaufen.

Karl Holmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004059, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Zur Forderung von Tempo 130 auf Autobahnen möchte ich nur sagen: eine ideologische Forderung. Wir haben die sichersten und besten Autobahnen auf der Welt und werden sie weiter verbessern. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, lehnen Sie diesen Antrag und alle weiteren Anträge der Opposition ab. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Kollege Mathias Stein hat das Wort für die SPD Fraktion. ({0})

Mathias Stein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004904, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Klimaschutz im Verkehr ist eine Mammutaufgabe, und deshalb bin ich froh, dass alle demokratischen Parteien hier im Haus bereit sind, sich dieser Mammutaufgabe zu stellen. Wir streiten nicht mehr um das Ob, sondern wir streiten um das Wie. Wie der Kollege Martin Burkert ausgeführt hat, setzen wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten auf einen starken, bezahlbaren Schienenverkehr. Mein Kollege Klare hat bereits die Bedeutung von alternativen Antrieben herausgestellt und auch deutlich gemacht, dass wir mit dem Klimapaket durchaus mutig und kraftvoll sind. ({0}) Was mir bisher bei der Verkehrswende noch zu kurz kommt, ist die Binnenschifffahrt und ihr Beitrag zum Klimaschutz im Güterverkehr. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben bisher einen Anteil der Binnenschifffahrt im Güterverkehr von 8 Prozent. Wenn wir den auf 12 Prozent steigern, dann können wir 2 Millionen Tonnen CO2 sparen. ({2}) Jedes Binnenschiff holt 150 Lkws von der Straße. Wenn man 150 Lkws hintereinander aufreiht, dann entspricht das 3 Kilometern Straßenverkehr. ({3}) Mit mehr Binnenschifffahrt haben wir weniger Stau und weniger CO2-Ausstoß. Wir werden im Bereich der Binnenschifffahrt auch in Infrastruktur investieren. Wir werden in alternative Antriebe investieren. Wir werden in die Schleusen investieren. Und ganz wichtig: Wir werden auch in mehr Personal investieren. ({4}) Aber das eigentliche Herzstück der Verkehrswende ist aus meiner Sicht das Fahrrad. Wir werden den Fahrradverkehr in den nächsten zehn Jahren – auch das ist Bestandteil des Klimapakets – vervierfachen. 50 Prozent aller Autofahrten sind kürzer als 5 Kilometer. Einen Großteil dieser Fahrten können wir leicht mit dem Fahrrad zurücklegen. Über 10 Millionen Tonnen CO2 können wir so einsparen. ({5}) Wir sorgen dafür, dass das auch passiert: mit einer Straßenverkehrs-Ordnung, die den Radverkehr attraktiver und sicherer macht, und mit kräftigen Investitionen in Infrastruktur. Liebe Kolleginnen und Kollegen, so viel Geld gab es für den Radverkehr aus dem Bundeshaushalt noch nie. Mit dem Klimapaket werden wir in den nächsten Jahren mehr als 1 Milliarde Euro in gute Rahmenbedingungen für den Radverkehr investieren. Meine Damen und Herren, mehr Bahn, mehr saubere Antriebe, mehr Schifffahrt, mehr Radverkehr – schreiten wir voran für mehr Klimaschutz und Lebensqualität. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Kollege Felix Schreiner ist der nächste Redner für die CDU/CSU Fraktion. ({0})

Felix Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004883, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Auf den ersten Blick wirken die vorliegenden Anträge wild zusammengewürfelt: Schienenverkehr, Elektromobilität, die Änderungen im Umsatzsteuer- und im Personenbeförderungsgesetz. Aber auf den zweiten Blick erkennen wir alle: Es geht in dieser Debatte vor allem um eines, nämlich um den Klimaschutz und darum, wie wir unsere Ziele bei diesem wichtigen Thema erreichen. Ich glaube, die Debatte hat eines gezeigt, nämlich dass wir einen breiten Maßnahmenmix brauchen; denn während viele Sektoren ihre Ziele seit 1990 schon erreicht haben, ist es im Bereich des Verkehrs so, dass wir aufgrund des Verkehrswachstums unsere erreichten Fortschritte, zum Beispiel bei der Motoreneffizienz, nicht so darstellen können. Deshalb besteht ohne Zweifel großer Handlungsbedarf. Doch weder werden wir die CO2-Emissionen allein mit der Elektromobilität senken können, noch werden wir sie mit den 86 Milliarden Euro für die Bahn senken können. Ich denke, eines ist heute klar geworden: Wir brauchen einen technologieoffenen Maßnahmenmix. Deshalb ist es richtig, dass wir bereits zu Beginn dieses Jahres mit der NPM, der Nationalen Plattform „Zukunft der Mobilität“, die Andreas Scheuer als Bundesverkehrsminister ins Leben gerufen hat, die Grundlage dafür geschaffen haben. Herr Özdemir, Sie sind übrigens regelmäßig bei den Treffen dabei. ({0}) Ich habe gedacht, Sie loben das Ganze heute. Es wurde nämlich bereits ein Maßnahmenbündel vorgestellt, das jetzt die Grundlage für das Klimaschutzprogramm 2030 ist. ({1}) Über 50 detaillierte Maßnahmen befinden sich teilweise in der Umsetzung. ({2}) Aber zur Wahrheit gehört auch: Wir müssen uns in diesem Parlament in den kommenden Wochen weiter mit einzelnen Maßnahmen beschäftigen. Dazu gehört eine nationale Wasserstoffstrategie. Heute Mittag übergibt unser Verkehrsminister übrigens Millionen Förderbescheide, ich meine: Förderbescheide in Millionenhöhe, für genau diesen Bereich. ({3}) Es gehört dazu, dass wir an das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz, GVFG, rangehen und eine Novellierung vornehmen. Die Länder warten darauf. Wir machen das Hand in Hand. Übrigens – da komme ich schon wieder auf meine Freunde bei den Grünen in Baden-Württemberg zu sprechen –: Winne Hermann lobt das ganze Verfahren. Nur Sie stellen sich hierhin und tun so, als ob nichts passieren würde. ({4}) Kurzum, die Debatte hat eines gezeigt: Die Maßnahmen liegen auf dem Tisch. Jetzt müssen wir über die Umsetzung sprechen. Wenn wir 55 Millionen Tonnen CO2 bis zum Jahr 2030 einsparen wollen, dann müssen wir zum Beispiel auch über das reden, was man gestern im Kabinett entschieden hat. Man hat sich für den Einstieg in die CO2-Bepreisung entschieden. Das ist richtig. Aber man hat auch die Mehrwertsteuersenkung für die Bahntickets im Fernverkehr beschlossen. Das ist ein wichtiges Signal an die Bürgerinnen und Bürger da draußen: Ab dem 1. Januar 2020 wird das Bahnfahren günstiger, es wird attraktiver, und das ist ein toller Beitrag zum Klimaschutz in diesem Land. ({5}) Zu den Bedenken von den Grünen und der FDP: Man kann in der Berliner Blase leicht über neue Mobilitätsformen reden, die wir auch sehr unterstützen. Aber wenn Sie glauben, dass der E-Scooter die Antwort für die Menschen im ländlichen Raum ist, um schneller zum Einkaufen zu kommen, dann irren Sie sich. Bei mir zu Hause im Schwarzwald wären Sie mit der Einstellung längst verhungert. Das ist auch die Wahrheit. ({6}) – Genau. Damit komme ich zu den Kollegen von der AfD. Wissen Sie, ich habe selten so wenige Ideen oder Konzepte gehört wie von Ihnen in der heutigen Debatte. Es wurden von den übrigen Oppositionsparteien acht Änderungsanträge eingereicht. ({7}) Das ist ordentlich. Dafür ist der Deutsche Bundestag da. Darüber muss man diskutieren. Sie von der AfD stellen sich hierhin und kritisieren die Koalitionsfraktionen in Grund und Boden, bringen aber keine einzige Idee, keinen einzigen Antrag ein, aus dem hervorgeht, was man für den Klimaschutz tun könnte. Wenn Sie meinen, dass das ein Beitrag ist, dann kann ich Ihnen auch nicht weiterhelfen, sehr geehrte Damen und Herren. ({8}) Wir haben Maßnahmen auf den Weg gebracht. Jetzt geht es um die Umsetzung. Es zeichnet gute Parlamentarier aus, dass wir für einen breiten Konsens in der Bevölkerung sorgen und dass wir in den kommenden Wochen und Monaten, wenn es um einige konkrete Gesetzesänderungen gehen wird, in diesem Haus miteinander und nicht gegeneinander an den Lösungen arbeiten. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

So, die letzte Rednerin ist die Kollegin Kirsten Lühmann, SPD. ({0}) Liebe Kollegen, wenn Sie der Kollegin jetzt noch zuhören würden, wäre ich Ihnen dankbar.

Kirsten Lühmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004101, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum Thema „Tempo 130 auf Autobahnen“ ist viel gesagt: weniger Tote, weniger Schwerverletzte, weniger CO2, und das in erheblich höherem Maße, als das bei einigen Vorschlägen aus dem Verkehrsministerium der Fall ist. ({0}) Aus diesem Grund haben wir in den letzten Wochen versucht, unseren Koalitionspartner davon zu überzeugen, seine Meinung hierzu zu ändern. Es ist uns nicht gelungen. Das ist traurig. ({1}) Infolge dessen wird ein Großteil unserer Fraktion gegen den Antrag der Grünen stimmen, und zwar nicht aus inhaltlichen Gründen, sondern – das wissen Sie ganz genau – allein aus Vertragstreue zu dieser Koalition. ({2}) Aber ich frage mich natürlich, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen: Wenn Sie wirklich ernst meinen, was Sie hier beantragen, warum machen Sie das hier und nicht in dem Gremium, das die notwendigen Gesetzesänderungen beschließen muss, nämlich im Bundesrat? ({3}) Was ist dort mit den Ländern Baden-Württemberg, Hessen und Schleswig-Holstein? Warum kommt von da kein Antrag? Da gehört er hin. ({4}) Wir werden hier heute den Antrag abschließen, aber garantiert nicht das Thema. Nächstes Jahr werden wir das Verkehrssicherheitsprogramm beschließen, und die SPD wird dieses Thema wieder aufs Tapet heben. Wenn wir dann Unterstützung aus dem Bundesrat bekämen, würde uns das sehr helfen. Darauf bin ich gespannt. Danke schön. ({5})

Stephan Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004678, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit einigen Tagen hat die Angelegenheit um einen Re-Tweet von mir eine Intensität entfaltet, die ich am Anfang und noch bis vor Kurzem so nicht absehen konnte. Es geht um die Geschichte, die auch heute einige Male zur Sprache kam, im Zusammenhang mit dem Attentat von Halle und einem Re-Tweet, den ich zu Äußerungen gemacht habe, die ich inhaltlich von Anfang an nicht geteilt habe. ({0}) – Jetzt können Sie gern darüber lachen, aber wenn Sie von mir eine Entschuldigung verlangen, sollten Sie mich auch ausreden lassen. Hinterher können Sie dann sagen, Sie glauben mir sowieso nicht. Also: Es hat eine Intensität entfaltet, die ich am Anfang so nicht sehen konnte. Wir haben es heute noch einmal intensiv im Ältestenrat besprochen, und danach hatte ich die Möglichkeit, mich noch zehn, fünfzehn Minuten mit dem Bundestagspräsidenten auszutauschen, der mir vor Augen führte, welche Probleme auch in der Außenwirkung dieser Re-Tweet von mir – den ich, wie gesagt, inhaltlich nie geteilt habe – verursacht hat. Deshalb möchte ich hier klarstellen, dass das, was inhaltlich in dem Re-Tweet stand, nicht ansatzweise von mir geteilt wird und auch nie geteilt wurde und dass ich bedaure, dass es so aufgefasst wurde, und ich mich dafür entschuldige, wenn sich Menschen durch den Re-Tweet von mir angegriffen oder schlecht behandelt gefühlt haben sollten. Es war mir wichtig, das noch einmal zu sagen. Es tut mir leid, diesen Tweet mit diesen Folgen re-tweetet zu haben. Vielen Dank. ({1})

Daniela Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004079, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass wir heute erneut über das Thema Ostrenten sprechen; denn das ist einfach ein sehr wichtiges Thema. Ich finde es gut, dass wir auch jetzt wieder eine ganze Stunde Zeit haben. Ich gebe aber auch zu: Ich hätte bessere Anträge besser gefunden. Mit der Qualität der Anträge bin ich nicht ganz so zufrieden. ({0}) Letzte Sitzungswoche habe ich mich an dieser Stelle ausführlich zum Thema Rentenangleichung eingelassen. Ich bleibe dabei: Der Antrag der Linken erweckt leider den Eindruck, als wäre hier nichts passiert. Das ist aber nicht der Fall. Die Bundesregierung hat gehandelt. Die Rentenangleichung wird stattfinden. Sicher, es wäre besser gewesen, das früher zu beschließen. ({1}) Und Ihr Vorschlag zum Thema Hochwertung ist und bleibt absurd. ({2}) Ich will aber auch sagen: Natürlich ist und bleibt das Thema Rentenangleichung ein sehr wichtiges Thema. Erst letzte Woche hat mich eine Bürgerin darauf angesprochen. Es ging eigentlich um etwas anderes, aber sie musste ihre persönliche Geschichte dann doch loswerden. Ihre Erwerbsbiografie verlief erst im Osten, dann lange Zeit in Westdeutschland, wo sie mehr Geld für die gleiche Arbeit bekam. Dann ist sie in Rente gegangen. Sie ist zurückgegangen zu ihren Kindern nach Ostdeutschland. Was ist dann passiert? Sie bekam einen Brief von der Rentenversicherung, mit dem ihre Rente angepasst wurde. Sie hat dann eine niedrigere Rente bekommen. Das hat sie wie ein Schlag getroffen, nicht so sehr wegen des Geldes, sondern wegen der Frage der Anerkennung ihrer Lebensleistung. Ich will mich heute auf die Rentengruppen konzentrieren, die durch die Rentenüberleitung benachteiligt wurden. Ich muss zugeben, dass ich mich auch diesbezüglich ein bisschen über den Antrag der Linken ärgere, ({3}) weil mir das Thema so wichtig ist und weil ich da wirklich etwas erreichen will, insbesondere für diese Gruppen. Ich glaube, dass hier im Kern ein gesellschaftlicher Konsens zu erreichen ist, eine Befriedung; ich habe das hier schon das eine oder andere Mal ausgeführt. Ich denke, dass eine abschließende, befriedende Lösung in greifbarer Nähe ist. ({4}) Wenn ich mir Ihren Antrag anschaue, dann muss ich feststellen, dass sehr viele Betroffenengruppen schon weiter sind als Die Linke. Ganz viele Gruppen – die Reichsbahner, die in der DDR geschiedenen Frauen, die Bergleute aus der Braunkohleveredelung, die Chemiker und Physiker, die Postler, die bildenden Künstler, die Leistungssportler und die Krankenschwestern – sind bereit, über eine abschließende Lösung außerhalb des Rentenrechts zu reden. ({5}) Ich muss sagen: Diesen Menschen zolle ich riesengroßen Respekt, weil sie sagen: Wir rücken ab von unserer großen Forderung, im Rentenrecht recht zu bekommen. Wir wollen eine Befriedung. Wir wollen eine abschließende Fondslösung, eine Anerkennung, eine Entschädigung außerhalb des Rentenrechts. – Großen Respekt für diesen Schritt! ({6}) Aber die Linken fordern weiterhin eine Änderung des AAÜG. ({7}) – Na ja, wir reden ja gerade über Ihren Antrag. Ich sage gleich etwas zur Bundesregierung. ({8}) – Sie sagen aber nicht: „Legen Sie mal was vor“, sondern Sie sagen: Legen Sie mal etwas vor, wie man das im AAÜG ändern kann. ({9}) – Das steht da nicht drin. Das wäre nämlich mein Wunsch an Die Linke. Meine Wünsche sind ja nicht unerfüllbar. Was ich mir von der Linken wünsche, ist, nicht die Forderung nach einer Lösung im Rentenrecht zu stellen, ({10}) sondern anzuerkennen, dass die Betroffenen selbst sagen: Wir wollen das abschließend klären; wir anerkennen, dass eine rentenrechtliche Lösung nicht möglich ist, ohne neue Ungerechtigkeiten zu schaffen. Deswegen gehen wir den Weg einer Lösung außerhalb des Rentenrechts, einer politischen Lösung. – Wenn selbst die Betroffenengruppen das hinbekommen, dann wird es doch auch für Die Linke möglich sein, diesen Schritt mitzugehen. Das ist mein Wunsch. Mir geht es hier wirklich um einen breiten parlamentarischen und gesellschaftlichen Konsens. Das ist mein Wunsch an Die Linke. ({11}) – Ich habe mehr als 4 aufgezählt. ({12}) Lass uns doch mal darüber reden. Ihr bleibt bei euren alten Positionen und glaubt, damit würdet ihr die Welt erklären. Das macht ihr aber gerade nicht. Ihr erklärt nämlich gerade nicht, wie ihr das im Rentenrecht hinbekommen wollt, und zwar ohne Widersprüchlichkeiten zwischen ostdeutschen Gruppen. ({13}) Ihr geht auch nicht auf die Frage ein, ob das wirklich gerecht regelbar ist ohne Ungerechtigkeiten zwischen Ost- und Westdeutschland. Ihr geht nicht auf die Frage ein, wer das eigentlich bezahlen soll, und auch nicht auf die Frage, wie man die westdeutschen Kolleginnen und Kollegen dazu bekommt, selbst die der Linken, wenn es darauf ankommt, zuzustimmen. All die Fragen klärt ihr nicht. ({14}) Ihr merkt, dass ich da emotional werde. Ich finde, ihr seid auf dem Holzweg. Es wäre gut, hier eine gesellschaftliche und eine parlamentarische Lösung hinzubekommen. ({15}) Seit vielen Jahren sagen wir: Wir wollen eine Fondslösung. – Ich freue mich, dass es bei den Gruppen Bewegung gibt. Diese Bewegung wünsche ich mir auch bei den Linken. Im Kern geht es mir bei der Angleichung der Rentengruppen und der Angleichung zwischen Ost und West aber vor allen Dingen um eins: um die Anerkennung von Lebensleistungen. So viel man auch über die GroKo meckern kann, beim Thema Angleichung haben wir einiges auf den Weg gebracht. Wir kriegen das mit den Rentengruppen hin; da bin ich sicher. Und, lieber Koalitionspartner, eine echte Grundrente außerhalb der Grundsicherung werden wir doch wohl auch noch hinbekommen. Das wäre jedenfalls etwas, womit wir uns wieder Respekt in der Bevölkerung erarbeiten könnten. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({16})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Daniela Kolbe. – Nächste Rednerin: Ulrike Schielke-Ziesing für die AfD-Fraktion. ({0})

Ulrike Schielke-Ziesing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004873, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Verehrte Bürger! Vor rund drei Wochen haben wir schon einmal, bei der ersten Lesung, über dieses Thema hier im Plenum gesprochen. Die Fraktion der Linken hat einen weiteren Antrag zu ihrem ersten Antrag gestellt, den wir zwar interessant finden, aber dem wir in dieser Form nicht zustimmen können. An sich ist es eine Schande, dass Sie wieder ein so wichtiges Thema für Ihren Wahlkampf missbrauchen. ({0}) In der Überschrift Ihres Antrags klingen Sie noch kämpferisch: „DDR-Renten bewilligen – Ostdeutsche Lebensleistungen anerkennen“. – Toll, würde sich jeder Bürger denken. Schauen wir dann aber auf die konkreten Forderungen, dann heißt es lediglich: Für das Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz seien bis zum 3. Oktober 2020 geeignete Regelungen vorzulegen, die alle in der DDR erworbenen Rentenansprüche gerecht anerkennen. Ja, was heißt das denn genau? Im ersten Teil haben Sie den Istzustand ja korrekt beschrieben, und dann besteht Ihre Forderung aus diesem einen Satz. Das ist uns zu wenig. Die Bundesregierung schafft es ja noch nicht einmal, den Härtefallfonds aufzusetzen, den sie im Koalitionsvertrag festgelegt hat. Wie soll sie denn bei Ihrer unspezifischen Forderung tätig werden? Wir helfen Ihnen jedoch gerne, damit den Menschen in Ostdeutschland auch wirklich geholfen werden kann. Daher stellen wir hier einen eigenen Antrag. Bei der in den 1990er-Jahren erfolgten Rentenüberleitung von Ost- in Westrenten ist es zu Ungerechtigkeiten gekommen. Im DDR-Rentensystem gab es unzählige spezifische Regelungen für verschiedene Berufsgruppen, die nur teilweise von Ost- in Westrente übergeleitet wurden. Dies führte zu Härtefällen und wird von vielen Betroffenen als ungerecht empfunden. Nun ist es fast ein Ding der Unmöglichkeit, fast 30 Jahre nach der Wende für einzelne Berufsgruppen rückwirkend eine Anpassung der Rentenüberleitung vorzunehmen. Hier aber nichts zu machen und zu hoffen, dass sich diese Probleme durch Zeitablauf regeln, das kann es auch nicht sein. Wir wollen mit unserem Antrag einen anderen Weg gehen. Wir wollen über Einmalzahlungen, deren Höhe sich aus der Dauer der Betriebszugehörigkeit ergibt, diese Ansprüche abfinden. Wir schlagen hier 400 Euro je Jahr der Betriebszugehörigkeit vor. Das wären dann beispielsweise bei einem Reichsbahner bei einer Betriebszugehörigkeit von 20 Jahren 8 000 Euro einmalige Abfindung. ({1}) Diese Abfindungen sollen steuer- und beitragsfrei gestellt werden. Wir plädieren für eine Fondslösung außerhalb des Sozialgesetzbuches VI und legen auch fest, dass der Fonds vom Bund und den neuen Bundesländern aus Steuern finanziert werden muss. Das bedeutet, dass die ostdeutschen Länder gemeinsam mit dem Bund aktiv an einer praktikablen Lösung arbeiten und damit den ehemaligen ostdeutschen Arbeitnehmern auch ihre Würde zurückgeben können. Wir Ostdeutschen wollen nicht einfach nur dabei zuschauen, wie jemand unsere Situation verbessert, nein, wir wollen unsere Situation auch aktiv mitgestalten. Weiterhin wollen wir Verbesserungen für ehemalige DDR-Flüchtlinge erreichen. Wir wollen denjenigen, die seinerzeit einen Feststellungsbescheid nach dem Fremdrentenrecht erhalten haben, diese Rentenberechnung auch zubilligen. ({2}) Im Interesse eines gesellschaftsübergreifenden Rechtsfriedens ist 30 Jahre nach der Wende auch eine Lösung für diese ehemaligen DDR-Flüchtlinge geboten. Vielleicht kann die Bundesregierung diesmal das einhalten, was sie einmal versprochen hat. Dem stehen übrigens auch keine rechtlichen Hindernisse entgegen. Die Bundesregierung muss hier nur handeln. ({3}) Verehrte Bürger und Zuhörer, die Wiedervereinigung begann vor rund 30 Jahren und ist bis heute nicht vollkommen abgeschlossen. Wir haben uns von einer Diktatur befreit und mussten feststellen, dass alles, was die Menschen in Ostdeutschland geleistet haben, auf einmal wertlos war. Wir mussten uns an ein neues System anpassen und hatten wenige Möglichkeiten, es mitzugestalten. Die erste Erfahrung vieler Ostdeutscher mit Einigkeit und Recht und Freiheit war leider die Arbeitslosigkeit. Das Ergebnis sehen wir heute in Form von niedrigen Renten für viele der heutigen ostdeutschen Rentner. Die fehlende Überleitung von Rentenanwartschaften aus DDR-Sonderversorgungssystemen kam dann noch hinzu. Hier wollen wir mit unserem Antrag einen Ausgleich schaffen. Das Umsetzungsdatum für unseren Antrag ist kein Zufall: Am 3. Oktober 2020 begehen wir 30 Jahre deutsche Einheit. Wir meinen, dass dies ein sehr gutes Datum ist, um diese lange währende Ungerechtigkeit bei der Rentenanpassung ein für alle Mal zu beenden und damit auch in diesem Punkt die Wende zu vollenden. Vielen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kollegin Schielke-Ziesing. – Bevor ich Frau Schimke aufrufe, möchte ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung bekannt geben. Es geht um die namentliche Abstimmung über die Beschlussempfehlung zum Antrag von Bündnis 90/Die Grünen „Allgemeine Höchstgeschwindigkeit von 130 km/h auf Bundesautobahnen einführen“, Drucksachen 19/9948 und 19/14000. Abgegebene Stimmkarten 631. Mit Ja haben gestimmt 498, mit Nein haben gestimmt 126 Kolleginnen und Kollegen, Enthaltungen 7. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 631; davon ja: 498 nein: 126 enthalten: 7 Ja CDU/CSU Dr. Michael von Abercron Stephan Albani Philipp Amthor Peter Aumer Dorothee Bär Thomas Bareiß Norbert Barthle Maik Beermann Manfred Behrens (Börde) Veronika Bellmann Sybille Benning Dr. André Berghegger Melanie Bernstein Christoph Bernstiel Peter Beyer Marc Biadacz Steffen Bilger Peter Bleser Norbert Brackmann Michael Brand (Fulda) Dr. Reinhard Brandl Silvia Breher Sebastian Brehm Heike Brehmer Ralph Brinkhaus Gitta Connemann Astrid Damerow Alexander Dobrindt Michael Donth Marie-Luise Dött Hansjörg Durz Thomas Erndl Hermann Färber Enak Ferlemann Dr. Maria Flachsbarth Thorsten Frei Dr. Astrid Freudenstein Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) Hans-Joachim Fuchtel Ingo Gädechens Dr. Thomas Gebhart Alois Gerig Eberhard Gienger Eckhard Gnodtke Ursula Groden-Kranich Hermann Gröhe Klaus-Dieter Gröhler Michael Grosse-Brömer Astrid Grotelüschen Markus Grübel Manfred Grund Oliver Grundmann Monika Grütters Fritz Güntzler Olav Gutting Christian Haase Florian Hahn Jürgen Hardt Matthias Hauer Mark Hauptmann Dr. Matthias Heider Mechthild Heil Thomas Heilmann Frank Heinrich (Chemnitz) Mark Helfrich Rudolf Henke Michael Hennrich Marc Henrichmann Ansgar Heveling Christian Hirte Dr. Heribert Hirte Alexander Hoffmann Karl Holmeier Erich Irlstorfer Hans-Jürgen Irmer Thomas Jarzombek Andreas Jung Ingmar Jung Alois Karl Anja Karliczek Torbjörn Kartes Volker Kauder Dr. Stefan Kaufmann Ronja Kemmer Roderich Kiesewetter Michael Kießling Dr. Georg Kippels Volkmar Klein Axel Knoerig Jens Koeppen Markus Koob Carsten Körber Alexander Krauß Gunther Krichbaum Rüdiger Kruse Michael Kuffer Dr. Roy Kühne Dr. Dr. h. c. Karl A. Lamers Andreas G. Lämmel Katharina Landgraf Ulrich Lange Dr. Silke Launert Jens Lehmann Paul Lehrieder Dr. Katja Leikert Antje Lezius Andrea Lindholz Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Nikolas Löbel Bernhard Loos Dr. Jan-Marco Luczak Daniela Ludwig Karin Maag Yvonne Magwas Dr. Thomas de Maizière Gisela Manderla Dr. Astrid Mannes Matern von Marschall Andreas Mattfeldt Dr. Michael Meister Jan Metzler Dr. h. c. (Univ Kyiv) Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Dietrich Monstadt Karsten Möring Elisabeth Motschmann Axel Müller Sepp Müller Carsten Müller (Braunschweig) Stefan Müller (Erlangen) Dr. Andreas Nick Petra Nicolaisen Michaela Noll Florian Oßner Josef Oster Henning Otte Ingrid Pahlmann Sylvia Pantel Dr. Joachim Pfeiffer Stephan Pilsinger Dr. Christoph Ploß Eckhard Pols Thomas Rachel Kerstin Radomski Alexander Radwan Alois Rainer Dr. Peter Ramsauer Eckhardt Rehberg Lothar Riebsamen Josef Rief Johannes Röring Stefan Rouenhoff Erwin Rüddel Albert Rupprecht Stefan Sauer Anita Schäfer (Saalstadt) Dr. Wolfgang Schäuble Andreas Scheuer Jana Schimke Tankred Schipanski Dr. Claudia Schmidtke Patrick Schnieder Nadine Schön Felix Schreiner Dr. Klaus-Peter Schulze Uwe Schummer Armin Schuster (Weil am Rhein) Torsten Schweiger Detlef Seif Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Thomas Silberhorn Björn Simon Tino Sorge Jens Spahn Katrin Staffler Dr. Wolfgang Stefinger Albert Stegemann Andreas Steier Peter Stein (Rostock) Sebastian Steineke Johannes Steiniger Dieter Stier Gero Storjohann Stephan Stracke Max Straubinger Dr. Peter Tauber Hans-Jürgen Thies Alexander Throm Dr. Dietlind Tiemann Antje Tillmann Markus Uhl Dr. Volker Ullrich Oswin Veith Kerstin Vieregge Volkmar Vogel (Kleinsaara) Christoph de Vries Dr. Johann David Wadephul Marco Wanderwitz Nina Warken Kai Wegner Albert H. Weiler Marcus Weinberg (Hamburg) Dr. Anja Weisgerber Peter Weiß (Emmendingen) Ingo Wellenreuther Marian Wendt Kai Whittaker Annette Widmann-Mauz Bettina Margarethe Wiesmann Klaus-Peter Willsch Elisabeth Winkelmeier-Becker Oliver Wittke Emmi Zeulner Paul Ziemiak SPD Niels Annen Ingrid Arndt-Brauer Heike Baehrens Ulrike Bahr Doris Barnett Dr. Matthias Bartke Sören Bartol Bärbel Bas Lothar Binding (Heidelberg) Leni Breymaier Dr. Karl-Heinz Brunner Katrin Budde Martin Burkert Dr. Lars Castellucci Bernhard Daldrup Dr. Daniela De Ridder Dr. Karamba Diaby Esther Dilcher Sabine Dittmar Dr. Wiebke Esdar Saskia Esken Yasmin Fahimi Dr. Johannes Fechner Dr. Fritz Felgentreu Dr. Edgar Franke Ulrich Freese Dagmar Freitag Angelika Glöckner Timon Gremmels Kerstin Griese Michael Groß Uli Grötsch Bettina Hagedorn Rita Hagl-Kehl Dirk Heidenblut Hubertus Heil (Peine) Gabriela Heinrich Marcus Held Wolfgang Hellmich Gustav Herzog Gabriele Hiller-Ohm Thomas Hitschler Dr. Eva Högl Frank Junge Josip Juratovic Thomas Jurk Oliver Kaczmarek Johannes Kahrs Elisabeth Kaiser Ralf Kapschack Gabriele Katzmarek Arno Klare Lars Klingbeil Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe Anette Kramme Christine Lambrecht Christian Lange (Backnang) Helge Lindh Isabel Mackensen Caren Marks Katja Mast Christoph Matschie Dr. Matthias Miersch Klaus Mindrup Susanne Mittag Falko Mohrs Claudia Moll Siemtje Möller Bettina Müller Detlef Müller (Chemnitz) Michelle Müntefering Dr. Rolf Mützenich Dietmar Nietan Ulli Nissen Josephine Ortleb Mahmut Özdemir (Duisburg) Aydan Özoğuz Christian Petry Detlev Pilger Sabine Poschmann Florian Post Dr. Sascha Raabe Martin Rabanus Andreas Rimkus Sönke Rix Dennis Rohde Dr. Martin Rosemann René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Susann Rüthrich Bernd Rützel Sarah Ryglewski Axel Schäfer (Bochum) Udo Schiefner Dr. Nils Schmid Uwe Schmidt Ulla Schmidt (Aachen) Dagmar Schmidt (Wetzlar) Carsten Schneider (Erfurt) Johannes Schraps Michael Schrodi Dr. Manja Schüle Ursula Schulte Martin Schulz Swen Schulz (Spandau) Frank Schwabe Andreas Schwarz Rita Schwarzelühr-Sutter Rainer Spiering Mathias Stein Kerstin Tack Claudia Tausend Markus Töns Carsten Träger Ute Vogt Marja-Liisa Völlers Dirk Vöpel Bernd Westphal Dagmar Ziegler Stefan Zierke Dr. Jens Zimmermann AfD Dr. Bernd Baumann Marc Bernhard Andreas Bleck Peter Boehringer Stephan Brandner Jürgen Braun Marcus Bühl Matthias Büttner Petr Bystron Tino Chrupalla Joana Cotar Dr. Gottfried Curio Siegbert Droese Thomas Ehrhorn Berengar Elsner von Gronow Dr. Michael Espendiller Peter Felser Dietmar Friedhoff Dr. Anton Friesen Markus Frohnmaier Dr. Götz Frömming Dr. Alexander Gauland Albrecht Glaser Franziska Gminder Armin-Paulus Hampel Mariana Iris Harder-Kühnel Verena Hartmann Dr. Roland Hartwig Jochen Haug Martin Hebner Udo Theodor Hemmelgarn Waldemar Herdt Lars Herrmann Martin Hess Dr. Heiko Heßenkemper Karsten Hilse Nicole Höchst Martin Hohmann Dr. Bruno Hollnagel Leif-Erik Holm Johannes Huber Fabian Jacobi Jens Kestner Stefan Keuter Norbert Kleinwächter Enrico Komning Jörn König Steffen Kotré Dr. Rainer Kraft Rüdiger Lucassen Frank Magnitz Jens Maier Dr. Lothar Maier Dr. Birgit Malsack-Winkemann Corinna Miazga Andreas Mrosek Hansjörg Müller Volker Münz Sebastian Münzenmaier Christoph Neumann Jan Ralf Nolte Ulrich Oehme Gerold Otten Tobias Matthias Peterka Paul Viktor Podolay Jürgen Pohl Stephan Protschka Martin Reichardt Martin Erwin Renner Roman Johannes Reusch Ulrike Schielke-Ziesing Dr. Robby Schlund Jörg Schneider Uwe Schulz Thomas Seitz Martin Sichert Detlev Spangenberg Dr. Dirk Spaniel René Springer Beatrix von Storch Dr. Alice Weidel Dr. Harald Weyel Wolfgang Wiehle Dr. Heiko Wildberg Dr. Christian Wirth Uwe Witt FDP Grigorios Aggelidis Renata Alt Christine Aschenberg-Dugnus Nicole Bauer Jens Beeck Dr. Jens Brandenburg (Rhein-Neckar) Mario Brandenburg (Südpfalz) Dr. Marco Buschmann Karlheinz Busen Carl-Julius Cronenberg Britta Katharina Dassler Bijan Djir-Sarai Christian Dürr Hartmut Ebbing Dr. Marcus Faber Daniel Föst Otto Fricke Thomas Hacker Peter Heidt Katrin Helling-Plahr Markus Herbrand Torsten Herbst Manuel Höferlin Dr. Christoph Hoffmann Reinhard Houben Ulla Ihnen Olaf In der Beek Dr. Christian Jung Karsten Klein Dr. Marcel Klinge Daniela Kluckert Pascal Kober Dr. Lukas Köhler Carina Konrad Wolfgang Kubicki Konstantin Kuhle Alexander Kulitz Alexander Graf Lambsdorff Ulrich Lechte Christian Lindner Michael Georg Link (Heilbronn) Oliver Luksic Dr. Jürgen Martens Christoph Meyer Alexander Müller Roman Müller-Böhm Frank Müller-Rosentritt Dr. Martin Neumann (Lausitz) Hagen Reinhold Bernd Reuther Dr. Stefan Ruppert Dr. h. c. Thomas Sattelberger Christian Sauter Frank Schäffler Dr. Wieland Schinnenburg Matthias Seestern-Pauly Frank Sitta Judith Skudelny Dr. Hermann Otto Solms Bettina Stark-Watzinger Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann Benjamin Strasser Katja Suding Linda Teuteberg Michael Theurer Stephan Thomae Manfred Todtenhausen Dr. Florian Toncar Dr. Andrew Ullmann Gerald Ullrich Johannes Vogel (Olpe) Sandra Weeser Nicole Westig Katharina Willkomm Nein CDU/CSU Dr. Andreas Lenz Wilfried Oellers SPD Hilde Mattheis Johann Saathoff DIE LINKE Doris Achelwilm Gökay Akbulut Simone Barrientos Lorenz Gösta Beutin Heidrun Bluhm-Förster Michel Brandt Christine Buchholz Dr. Birke Bull-Bischoff Fabio De Masi Anke Domscheit-Berg Susanne Ferschl Nicole Gohlke Dr. Gregor Gysi Dr. André Hahn Heike Hänsel Matthias Höhn Andrej Hunko Ulla Jelpke Kerstin Kassner Dr. Achim Kessler Katja Kipping Jan Korte Caren Lay Sabine Leidig Ralph Lenkert Michael Leutert Stefan Liebich Dr. Gesine Lötzsch Thomas Lutze Pascal Meiser Amira Mohamed Ali Cornelia Möhring Niema Movassat Norbert Müller (Potsdam) Zaklin Nastic Dr. Alexander S. Neu Thomas Nord Petra Pau Sören Pellmann Victor Perli Tobias Pflüger Ingrid Remmers Martina Renner Bernd Riexinger Eva-Maria Schreiber Dr. Petra Sitte Helin Evrim Sommer Kersten Steinke Friedrich Straetmanns Dr. Kirsten Tackmann Jessica Tatti Alexander Ulrich Kathrin Vogler Andreas Wagner Harald Weinberg Katrin Werner Hubertus Zdebel Pia Zimmermann Sabine Zimmermann (Zwickau) BÜ NDNIS 90/ DIE GR ÜNEN Luise Amtsberg Lisa Badum Annalena Baerbock Margarete Bause Dr. Danyal Bayaz Canan Bayram Dr. Franziska Brantner Agnieszka Brugger Dr. Anna Christmann Ekin Deligöz Katja Dörner Katharina Dröge Harald Ebner Matthias Gastel Kai Gehring Stefan Gelbhaar Katrin Göring-Eckardt Erhard Grundl Anja Hajduk Britta Haßelmann Dr. Bettina Hoffmann Ottmar von Holtz Dr. Kirsten Kappert-Gonther Uwe Kekeritz Katja Keul Sven-Christian Kindler Maria Klein-Schmeink Sylvia Kotting-Uhl Oliver Krischer Stephan Kühn (Dresden) Christian Kühn (Tübingen) Renate Künast Markus Kurth Monika Lazar Sven Lehmann Steffi Lemke Dr. Tobias Lindner Dr. Irene Mihalic Claudia Müller Beate Müller-Gemmeke Dr. Konstantin von Notz Omid Nouripour Friedrich Ostendorff Cem Özdemir Filiz Polat Tabea Rößner Claudia Roth (Augsburg) Dr. Manuela Rottmann Corinna Rüffer Manuel Sarrazin Ulle Schauws Dr. Frithjof Schmidt Stefan Schmidt Kordula Schulz-Asche Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn Margit Stumpp Markus Tressel Jürgen Trittin Dr. Julia Verlinden Daniela Wagner Beate Walter-Rosenheimer Gerhard Zickenheiner Fraktionslos Marco Bülow Enthalten CDU/CSU Martin Patzelt Dr. Matthias Zimmer SPD Elvan Korkmaz-Emre Kirsten Lühmann Martina Stamm-Fibich DIE LINKE Matthias W. Birkwald Klaus Ernst Abgeordnete, die sich wegen gesetzlichen Mutterschutzes für ihre Abwesenheit entschuldigt haben, sind in der Liste der entschuldigten Abgeordneten (Anlage 1) aufgeführt. Nächste Rednerin: Jana Schimke für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Jana Schimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004398, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Vorschläge, über die wir heute hier wieder diskutieren, die Besonderheiten des DDR-Rentenrechts durch nachträgliche Veränderungen im heutigen Rentenrecht zu überwinden, zu verändern, werden immer mit denselben Argumenten bedient: Man verdiene im Osten weniger; ({0}) es sei alles furchtbar ungerecht; wir hätten ganz schlimme Zustände in den neuen Bundesländern. – Das ist das, was mich immer wieder aufregt. Ich habe eine Bitte an die Kollegen, insbesondere von den Linken, die hier solche Vorschläge auch immer wieder anbringen: Machen Sie doch den Osten nicht immer so schlecht. ({1}) Wir sind im 30. Jahr der deutschen Einheit. Wir sind im 30. Jahr des Mauerfalls, und es hat sich wirklich eine Menge getan; ({2}) aber keiner redet darüber. Das möchte ich heute mal tun, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Was können wir denn sagen? Was haben wir denn anzubieten? Das kann ich Ihnen sagen: In 2018 sind die Löhne in den neuen Bundesländern erneut stärker gestiegen als im Westen. Die Lohnlücke zwischen Ost und West, auf die Sie sich immer wieder berufen, die Sie hier immer wieder anbringen, wird ebenfalls kontinuierlich kleiner. 2017 betrug sie noch 19 Prozent; jetzt sind es 16 Prozent. Ich finde es schon bemerkenswert, dass solche Zahlen erreicht werden. ({4}) Auch gibt es immer wieder eine unredliche Debatte mit der Behauptung, in der Tarifpolitik gebe es unglaubliche Unterschiede; das sei alles furchtbar ungerecht. Wie sieht es denn aus in der Tarifpolitik? Die Tarifsteigerungen in den neuen Bundesländern waren mit 3,3 Prozent in diesem Jahr höher als im Westen; da waren es nämlich nur 3 Prozent. ({5}) Auch die Angleichung der Tariflöhne schreitet voran. Wir haben eine Vielzahl von Branchen, in denen die Löhne bereits heute angeglichen sind. In diesen Branchen gibt es einen einheitlichen Mindestlohn in Ost und West. ({6}) Dazu gehört zum Beispiel der Bau, dazu gehören die Gerüstbauer, dazu gehört auch die Aus- und Weiterbildung, und dazu gehören viele andere Bereiche. Da haben wir bereits die Lohn- und Tarifeinheit in Ost und in West. Meine Damen und Herren, was gibt es sonst noch zu sagen? Ich würde gerne mit einer immer wieder getätigten falschen Aussage aufräumen: Die gesetzliche Rente, die Menschen in Ostdeutschland bekommen, ist im Schnitt höher als in den alten Bundesländern. Das muss an dieser Stelle auch mal gesagt werden. Die durchschnittliche gesetzliche Rente liegt mit 1 100 Euro höher als in Westdeutschland; da bezieht man im Schnitt 1 067 Euro gesetzliche Rente. Frauen in den neuen Bundesländern bekommen im Schnitt 918 Euro, im Westen 628 Euro. Woran liegt das? Daran, dass wir eine ganz andere Erwerbsgeschichte haben, -

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin – –

Jana Schimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004398, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

– weil die Menschen in den neuen Bundesländern lange und mehr gearbeitet haben, und das zahlt sich aus.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin – –

Jana Schimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004398, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich möchte bitte meine Rede fortsetzen.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Dann sagen Sie Nein.

Jana Schimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004398, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Entschuldigung. Ich möchte bitte meine Ausführungen fortführen. Was an dieser Stelle auch mal gesagt werden muss: Für 1 000 in einem Monat verdiente Euro bekommt man in den ostdeutschen Bundesländern eine höhere Rente als in den westdeutschen Bundesländern. Das ist Ausdruck der gesamtdeutschen Solidarleistung, ({0}) die hier seit vielen Jahren stattfindet. Aber was ist die Ursache dafür, dass wir dennoch über Unterschiede – die räume ich ja durchaus ein – reden? Die Ursache liegt darin, dass wir im Osten eben eine andere Vorsorgestruktur als im Westen haben. Wir haben im Osten weniger betriebliche Altersvorsorge. Die Menschen betreiben nicht so viel private Vorsorge, und das führt natürlich unterm Strich dazu, dass am Ende dann im Gesamten weniger herauskommt. Was ist die Lösung? Was braucht man? Was muss man vorschlagen? Das kann ich Ihnen sagen. Einiges haben wir schon gemacht: Wir haben mit dem Betriebsrentenstärkungsgesetz eine ganze Reihe getan, um in der zweiten Säule für Verbesserungen zu sorgen. Wir wollen was in der dritten Säule machen. Wir wollen die private Vorsorge weiter stärken. Das ist unser Ziel. Wir stärken auch die Förderung von Eigentumsbildung. Das Baukindergeld ist eine ganz wichtige Maßnahme, um Vorsorge auch im Bereich der Eigentumsbildung zu fördern. Wir haben Anreize gesetzt, um länger zu arbeiten. Meine Damen und Herren, last, but not least, wir sorgen dafür, dass es unserer Wirtschaft weiterhin gut geht; denn das ist die grundlegende Voraussetzung dafür, dass wir in Deutschland ein funktionierendes soziales Sicherungsnetz haben. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Jana Schimke. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Johannes Vogel. ({0})

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Herausforderung, über die wir heute reden – die Schwierigkeiten und auch Härten im Rentenüberleitungsprozess nach 1990 –, war nicht einfach. Aber man muss zur politischen Ehrlichkeit sagen – das ist etwas, was wir in der ersten Lesung von Ihnen ganz anders gehört haben, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, was wir auch in der Ausschussberatung und in jeder Beratung über dieses Thema immer anders gehört haben –: Die Ursachen für diese Herausforderungen, Härten und Probleme liegen nicht nach 1990, sondern die liegen vor 1990, ({0}) nämlich im völligen wirtschaftlichen Zusammenbruch der DDR und der Vernichtung des Altersvorsorgesystems der Bürgerinnen und Bürger, die eine Zeit in der ehemaligen DDR gelebt haben. Dass es überhaupt gelungen ist, diese große Aufgabe einer Zusammenführung von zwei Sozialsystemen zu schaffen, das ist einer gemeinsamen Leistung der Menschen in Ost und West zu verdanken, bei besonderer Leistung der Menschen in Ostdeutschland. Wie ist das gelungen? Zum einen indem man die Einzahlungen in die Rentenversicherung der Bürgerinnen und Bürger im östlichen Teil unseres Landes höhergewertet hat als in Westdeutschland und zum anderen indem man mit Blick auf die reale wirtschaftliche Entwicklung und die Lohnentwicklung den Rentenwert, der die Rentenhöhe in jedem Jahr bemisst, niedriger angesetzt hat. Was wir jetzt machen und was ich für richtig halte, und zwar auf Entscheidung der Großen Koalition in der letzten Legislaturperiode – das ist einer der wenigen Punkte, bei dem man Ihre Rentenpolitik mal loben kann, liebe Kolleginnen und Kollegen –, ist, dass das angeglichen wird. Das ist für eine ganze Erwachsenengeneration nach der Wiedervereinigung natürlich richtig, weil es endlich einheitliche Verhältnisse in unserem Land schafft. ({1}) Aber was Sie vorschlagen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, ist nicht eine Angleichung. Sie schlagen vor, dass nur das eine angeglichen wird. Wenn man bei einer Waage aber nur auf der einen Seite das Gewicht verändert, dann schafft man keine Gleichbehandlung, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, sondern das ist schlicht eines, nämlich unfair, und deshalb ist das, was Sie vorschlagen, falsch. ({2}) Was Sie konkret wollen, ist, dass künftig zwar der Rentenwert gleich ist, aber dass die Einzahlungen eines gut verdienenden Ingenieurs in Dresden mehr wert sind als die einer Krankenpflegerin in Duisburg. ({3}) Sie überwinden keine Spaltung; Sie schaffen neue Spaltung, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, und das ist die falsche Politik. ({4}) Worum es hier geht, das kann man, glaube ich, nicht nur an der Unausgegorenheit dieses Antrags erkennen, sondern das kann man auch daran erkennen, dass Sie diesen Antrag in der letzten Sitzungswoche eingebracht haben, ihn durchgepeitscht haben, ohne Anhörung, die Sie sonst für jeden Ihrer Anträge wollen, ({5}) und ihn heute zur Abstimmung vorlegen. Komischerweise haben Sie auch Ihre Wahlkampf-Evergreens noch in den Antrag gepackt: gesetzlicher Mindestlohn in irgendwelcher Höhe, absurdes Verbot der Zeitarbeit. ({6}) All das lässt bei jedem Kollegen und jeder Kollegin in jeder anderen Fraktion nur den Eindruck entstehen, dass es nur um eines geht: um den Landtagswahlkampf in Thüringen. Die Menschen in unserem Land, auch und gerade in Thüringen, haben eine seriösere Rentenpolitik verdient als das, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken. ({7}) Richtig ist, dass wir dafür sorgen müssen, dass das Lohngefälle in unserem Land überwunden wird. Das gibt es aber doch längst nicht mehr nur zwischen Ost und West, sondern das gibt es auch zwischen Frankfurt am Main und der Eifel genauso wie zwischen Jena und der Uckermark. Da müssten wir ansetzen, liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Beispiel durch Freiheitszonen, wie wir Freie Demokraten das vorschlagen. ({8}) In Ostdeutschland haben wir längst tolle Regionen, wo es wirtschaftlich großartig läuft: Leipzig, Jena, Ilmenau. Wir sollten dafür sorgen, dass es auch in den ländlichen Regionen in Ostdeutschland besser läuft. Um diese Politik sollten wir uns kümmern. Ihr Antrag leistet leider keinen Beitrag dazu. Vielen Dank. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Johannes Vogel. – Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Matthias Höhn. ({0})

Matthias Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004759, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist nun schon eine ganze Menge gesagt worden; darauf will ich gern reagieren. Ich fange mal mit dem Punkt „Wahlkampf“ an; das ist von mehreren angesprochen worden. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn Sie noch nicht so lange im Bundestag sind – das bin ich auch nicht –, können Sie es nachlesen. Sie werden finden, dass meine Fraktion seit mittlerweile fast 30 Jahren regelmäßig immer wieder Anträge zu diesem Thema stellt. ({0}) Es ist uns herzlich egal, ob gerade Wahlkampf ist oder nicht. Sie wissen sehr genau, wie viel wir dazu vorgelegt haben, wie viel Sie dazu vorgelegt haben, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Ich komme zu dem Redebeitrag von Frau Kolbe. Liebe Kollegin, Sie haben die Qualität der Anträge bemängelt. Ich will zu Beginn bemängeln, dass wir nach über 25 Jahren hier immer noch darüber reden müssen, dass es Ungerechtigkeiten bei der Rentenüberleitung gibt, liebe Kollegin Kolbe. ({2}) Wenn Ihnen der Antrag zu kurz ist, nicht detailliert genug ist, liebe Kollegin Kolbe: ({3}) Auf dem Tisch des Kollegen Birkwald liegen die ganzen Konzepte und Broschüren. Wir können Ihnen alle gern noch mal zuschicken. Sie kennen das alles. Was ich erwarte, liebe Kollegin Kolbe, sind weniger sozusagen warme Worte von diesem Pult seitens der Koalition. Ich erwarte, dass Sie endlich mal zur Sache kommen und etwas entscheiden. ({4}) Sie haben hier all die betroffenen Gruppen aufgezählt: die geschiedenen Frauen, die Ingenieure, die Leute in der Bergbauveredelung usw. usf. Jetzt komme ich zu Ihrem nächsten Argument. Ich finde es schon zynisch, ({5}) dass Sie sich im Jahr 2019 hierhinstellen und darauf abheben, dass ein Teil dieser Gruppen jetzt, nach so vielen Jahren, bereit ist, eine Lösung außerhalb des Rentenrechts in Betracht zu ziehen, und uns vorwerfen, dass wir diesen Schritt noch nicht gegangen sind. Liebe Kollegin Kolbe, nach fast 30 Jahren sind die Leute vielleicht müde und sagen: Gut, dann nehmen wir eben eine andere Lösung; aber wir wollen eine Lösung. – Sie haben bis heute überhaupt noch keine Lösung vorgelegt, Frau Kolbe; das ist das Problem. ({6}) Das Einzige, was wir von Ihnen kennen – das kennen wir aus dem Koalitionsvertrag –, ist der Härtefallfonds. Nun gut. Was dabei konkret herauskommt, wissen wir bis heute nicht; Sie haben dazu auch heute wieder nichts gesagt. Was im Koalitionsvertrag dazu steht – das ist das Einzige, worauf ich mich beziehen kann –, ist komplett unzureichend. Sie beziehen sich dort auch nur auf einen Teil der Betroffenen, nämlich auf die, die in der Grundsicherung oder in Grundsicherungsnähe sind. Nur, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wenn wir über die Überleitung von DDR-Renten reden, reden wir nicht über Almosen, sondern über Gerechtigkeit, und deswegen ist das keine adäquate Lösung. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Matthias Höhn. – Nächster Redner: für Bündnis 90/Die Grünen Markus Kurth. ({0})

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Höhn, das mögen viele von den verschiedenen Gruppen in der DDR, die in einem sogenannten Zusatzversorgungssystem waren, subjektiv so empfinden und wahrnehmen; Rechtsansprüche in dem Sinne, wie Sie suggerieren, bestehen gleichwohl nicht, und das liegt an der Art und Weise, wie die Vereinigung vollzogen worden ist. ({0}) Es war ein Beitritt – das bedauern wir sehr; wir wollten eine neue Verfassung –; das heißt, die DDR hat aufgehört zu existieren und mit ihr sämtliche Rentengesetze und andere Gesetze. ({1}) Das heißt aber natürlich nicht – das will ich auch mal klarstellen, damit das niemand in den falschen Hals kriegt –, dass wir bei bestimmten Gruppen innerhalb dieser Zusatzversorgungssysteme nicht trotzdem eine politische Entscheidung treffen können und auch sollten, nämlich dort, wo es bestimmte Härten gibt. Meine Fraktion hat ebenfalls Anträge gestellt, zum Beispiel im Falle der Balletttänzerinnen, der besonders schlimm betroffenen Arbeiter in der Braunkohleveredelung, der Krankenschwestern, der in der DDR geschiedenen Frauen und anderer Gruppen, also dort, wo sozusagen politisch begründbare Ansprüche sind. – Das nur mal zur systematischen Klarstellung, ({2}) weil Sie immer wieder den Eindruck zu erwecken versuchen, es seien Menschen betrogen worden oder, wie Sie in Ihrem Antrag schreiben, gedemütigt worden. Das ist definitiv falsch. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kurth, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung von Frau Lötzsch?

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Aber gern. Bitte schön.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Frage oder Bemerkung zulassen. – Wenn ich mich recht entsinne, war der Beitritt nach Artikel 23 etwas, was viele scharf kritisiert haben, und zwar genau aus den Gründen, die Sie gerade beschrieben haben, nämlich dass für viele Menschen nicht die Rechte gewährleistet wurden. Helfen Sie mir doch mal auf die Sprünge! Wenn ich mich recht entsinne, waren große Teile Ihrer politischen Formation, zumindest damals im Gebiet der DDR, dafür, dass kein Beitritt erfolgt – es gab die Demonstrationen „Kein Anschluss unter dieser Nummer“ –, sondern dass eine Zusammenführung nach Artikel 146 der gerechtere Weg ist. Darum frage ich Sie: Warum verteidigen Sie jetzt den Beitritt nach Artikel 23, wenn es doch eine viel bessere und gerechtere Lösung gegeben hätte? ({0})

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich glaube, Frau Lötzsch, da gibt es insofern ein gewisses Missverständnis, als ich den Beitritt nach Artikel 23 GG nicht verteidigt, sondern nur erklärt habe, dass er sich so vollzogen hat, mit ebendieser weitreichenden Folge, dass das DDR-Rentenrecht dadurch quasi ausradiert worden ist, ({0}) wie viele andere rechtliche Vorschriften im Übrigen auch. Meine Partei – da erinnere ich mich noch ganz genau –, die damals westdeutschen Grünen, haben sich für eine neue Verfassung entschieden. Ich glaube, es ging um Artikel 146 des Grundgesetzes, oder, Frau Präsidentin? ({1}) – Artikel 146 stimmt. Auch Bündnis 90, der andere Teil unserer Partei, mit dem wir ja zusammengewachsen sind, wollte eine neue Verfassung. Der Beitritt nach Artikel 23 hat gerade auch Bündnis 90, die ostdeutschen Bündnis 90/Die Grünen, quasi untergepflügt. Die ganze Bürgerrechtsbewegung ist mit ihren Anliegen gar nicht wirklich zum Zuge gekommen, weil auf den Montagsdemos im Frühjahr plötzlich der Slogan laut wurde: Kommt die D-Mark, bleiben wir; kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr. – Daran kann ich mich noch ganz genau erinnern. Ich habe nämlich damals in Berlin gewohnt und mich in Ost wie in West bewegt. Den ganzen Prozess habe ich aus nächster Nähe erfahren. Ich habe auch bei vielen dafür geworben, dass man sich mit dem Ganzen Zeit lässt, dass man die Wirtschafts- und Währungsunion nicht übers Knie bricht, nicht eins zu eins. Auch die Treuhand habe ich von Anfang an absolut kritisch gesehen. Es hätte natürlich vieles anders, besser laufen können.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Jetzt kommen wir wieder zur Rente zurück. ({0})

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme wieder zur Rente. Mir war nur wichtig, das zu erklären und die historische Wahrheit noch mal geradezuziehen. ({0}) Da wir gerade bei der Vergangenheit sind: Herr Kollege Vogel hat ganz zu Recht den ökonomischen Ausgangspunkt benannt. Da möchte ich Christa Luft zitieren. Das ist die letzte Wirtschaftsministerin der SED-geführten Regierung Modrow gewesen. ({1}) Sie hat letztes Jahr ein sehr interessantes Interview gegeben und gesagt, dass die Überzentralisierung elend war. Sie spricht von Umweltsünden, Ersatzteilproblemen, nicht funktionierendem Materialfluss. Sie sagt: Dann kam ʼ72 diese elendigliche Enteignung der restlichen kleinen und mittelständischen privaten Unternehmen. Das hat viel Produktivität, Flexibilität und Motivation gekostet. … So gibt es eine ganze Reihe von Dingen, die dazu führten, dass die Produktivität immer weiter abfiel. ({2}) Das hat Christa Luft gesagt. Damit wird auch klar, dass wir es mit einem langgreifenden Strukturwandelprozess zu tun haben, so wie in Pirmasens, wie im Saarland, wie im Ruhrgebiet, wie in Bremerhaven. Das erklärt die Lohnungleichheit. Sie war zu Anfang so krass, dass die Höherwertung durchaus berechtigt war. Aber jetzt sind wir 30 Jahre weiter. Innerhalb der Länder der früheren DDR gibt es eine sehr differenzierte Landschaft. Wer das übrigens auch verstanden hat, ist Bodo Ramelow, der ja eine tolle rot-rot-grüne Regierung anführt. ({3}) Er sagt in einem Interview vor ein paar Wochen: Ungleiche Lebensverhältnisse sind im Übrigen kein reines Ost-West-Problem, sondern ein Problem benachteiligter Regionen insgesamt. Die gibt es im Osten und im Westen. Das ist der entscheidende Punkt. ({4}) Deswegen ist, wenn man die Rentenwerte in Ost und West angeglichen hat, die Höherwertung nicht mehr gerechtfertigt. Ich finde, er gibt uns in dem Interview noch einen ganz interessanten Satz mit. Er sagt nämlich: … Förderung darf keine Subventionierung des Abstands sein, sondern muss eine Investition in den Aufholprozess sein. Das heißt, es ist eine aktive, vorwärtsgerichtete Perspektive. Ihre Perspektive ist demgegenüber rückwärtsgerichtet. ({5}) Sie versuchen mit einer Demütigungsrhetorik, die überhaupt nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat, Leute aufzuwiegeln; anders kann man das kaum sehen. ({6}) Diese Rhetorik ist – in der Tat – auch faktisch falsch. Jedes Jahr fließen rund 30 Milliarden Euro zusätzlich an ostdeutsche Rentnerinnen und Rentner über den Transfer von der westdeutschen in die ostdeutsche Rentenkasse. Das ist eine Tatsache. Das ist eine Solidarleistung. Das ist seit vielen Jahren so der Fall. Das ist auch gut, und das ist okay. ({7}) – Das hört auch nicht auf, weil die Ungleichheiten ökonomischer Art, beim Beschäftigungsstand usw. bestehen bleiben, auch wenn die Höherwertung eines Tages nicht mehr da ist. Ich finde, dass man diese Solidarleistung auch würdigen muss. Mit Ihrer Demütigungsrhetorik ziehen Sie diese Solidarleistung aber in den Dreck. Das finde ich nicht in Ordnung. ({8}) – Mir ruft gerade der Kollege Matthias Birkwald zu, es gebe keine Demütigungsrhetorik. Dann lesen Sie mal Ihren eigenen Antrag. ({9}) Da steht der Satz drin: Diese Demütigung muss aufhören. – Das haben Sie selbst geschrieben. Behaupten Sie nicht das Falsche. ({10}) Ein weiterer Punkt ist: Dort, wo wir Regelungen haben – es wurde schon von Frau Schimke genannt, der ich sonst selten zustimme –, beispielsweise bei den Tarifverträgen, bei den Löhnen, haben wir die Ost-West-Angleichung quasi schon vollzogen. Da kann man natürlich jammern und schimpfen und sagen: Die Tarifbindung ist in Ostdeutschland zu niedrig. – Und genau das stimmt auch. Sie ist zu niedrig. Deswegen brauchen wir eine erleichterte Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen. ({11}) Das wäre der richtige Weg und nicht der, irgendwie über die Rentenversicherung nachzutarocken. Ich bin wie Bodo Ramelow dafür, dass man in den Aufholprozess, in den Aufbau investiert, anstatt rückwärtsgewandt Abstände zu subventionieren. Ich glaube auch: Nur so gewinnt man Wahlen in Ostdeutschland. Vielen Dank. ({12})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Markus Kurth. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Ralf Kapschack. ({0})

Ralf Kapschack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004321, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Zuschauer! Ich habe mich vor ein paar Tagen zusammen mit Daniela Kolbe, Peter Weiß und Albert Weiler mit Vertretern von Männern und Frauen getroffen, die sich durch die deutsche Einheit in ihrer Altersversorgung benachteiligt fühlen – Menschen, deren Zusagen aus der DDR sich plötzlich in Luft aufgelöst haben, Menschen, für die in der DDR andere Regeln galten als zur gleichen Zeit in Westdeutschland. Das sind ehemalige Reichsbahner, das sind in der DDR geschiedene Frauen, das sind Beschäftigte in der Chemieindustrie, ehemalige Leistungssportler usw. usw. Das macht klar – das ist, glaube ich, unbestritten –: Auch 30 Jahre nach der deutschen Einheit gibt es noch eine Reihe von Problemen, auch bei der Rente. Aber klar ist auch: 30 Jahre nach der deutschen Einheit kann man auch sagen: Wir haben eine Menge geschaffen und geschafft, auch bei der Rente. ({0}) Was die genannten Gruppen angeht: Im November werden Bund und Länder einen Vorschlag machen, wie man da helfen kann. Das haben wir im Koalitionsvertrag so verabredet, und dann machen wir das auch so. Dafür brauchen wir keine Aufforderung, von keiner Seite. Es gibt also ganz konkret etwas zu tun. Allerdings: Allgemein von einer Benachteiligung der Menschen in den neuen Bundesländern zu reden, ist nicht nur falsch, sondern es ist auch politisch gefährlich. ({1}) Denn diese Grundmelodie – die findet sich auch im Antrag der Linken – nutzt nur denen, die dieses Land spalten wollen. Bei aller Kritik: Das, glaube ich, wollt ihr nicht. Ich komme aus dem Ruhrgebiet und kann deshalb, glaube ich, ganz gut nachempfinden, was Strukturwandel bedeutet. Ich kann auch gut nachempfinden, welche Leistung die Menschen in den neuen Bundesländern nach der Wende vollbracht haben. Viele von ihnen mussten sich neu erfinden, den Beruf wechseln, mit Arbeitslosigkeit umgehen, die Heimat verlassen, weil keine Arbeit mehr da war. Das sind Umbrüche, die auch heute noch dazu führen, dass die Renten und Löhne hinter dem Westniveau liegen. Das bestreitet ja niemand ernsthaft. Es ist auch so, dass für einen Großteil der Bürgerinnen und Bürger im Osten die gesetzliche Rente das Haupteinkommen im Alter ist. Deshalb ist es gut, dass spätestens ab 2025 die Renten in ganz Deutschland gleich berechnet werden. ({2}) Nun sagt Die Linke – Matthias, hör zu! –: Alles gut und schön. Aber erstens geht es nicht schnell genug, und zweitens gibt es nach wie vor erhebliche Unterschiede bei den Löhnen. Deshalb müsse es auf absehbare Zeit dabei bleiben, dass Rentenbeiträge im Osten anders, nämlich besser beurteilt und behandelt werden als im Westen. – Das geht nicht! ({3}) Deshalb werden wir euren Antrag auch ablehnen. Denn es gibt auch zwischen anderen Landesteilen und innerhalb von Landesteilen erhebliche Lohnunterschiede. Trotzdem kommt niemand auf die Idee, regional unterschiedliche Rentensysteme einzufordern, zum Beispiel in Niederbayern – davon hat uns Max Straubinger in der Ausschusssitzung erzählt – oder in Schleswig-Holstein. Ihre Forderung würde neue Ungerechtigkeiten schaffen. Das wollen wir nicht. Gleiches Rentenrecht in Deutschland heißt gleiche Kriterien, gleiche Rentenwerte im ganzen Land. Die Unterschiede im Lohnniveau haben in erster Linie etwas mit Wirtschaftsstruktur, mit mangelnder Tarifbindung und niedrigen Löhnen zu tun. Wir sind überzeugt, dass gute Löhne, starke Tarifbindung und sichere Arbeitsplätze die beste Grundlage für eine gute Rente sind. ({4}) Es ist natürlich richtig, dass eine gute Arbeitsmarktpolitik denjenigen, die bereits in Rente sind oder kurz vor der Rente stehen, nicht mehr hilft. Deshalb streiten wir vehement für eine Grundrente, ({5}) und zwar ohne eine Bedürftigkeitsprüfung, so wie wir sie von der Grundsicherung kennen. Das verstehen wir unter Anerkennung von Lebensleistung. Unsere Grundrente würde vielen Rentnern und vor allem Rentnerinnen in den neuen Bundesländern helfen; denn wer jahrelang gearbeitet hat, der muss das Gefühl haben, eine Rente zu bekommen, die er oder sie sich selber erarbeitet hat, und kein Almosen. ({6}) Das gilt überall: in Ost wie in West. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Ralf Kapschack. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Jürgen Pohl. ({0})

Jürgen Pohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004856, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kollegen! Damen und Herren an den TV-Geräten! Thema heute: Ost- und Westrente, eine Debatte, die für die etablierten Parteien eigentlich peinlich sein muss. Für unsere Mitmenschen im Osten ist es entwürdigend, dass wir schon wieder hier stehen und über die Ostrente diskutieren müssen. Gerade Sie hier im Parlament und in der Regierung haben es in den letzten 30 Jahren nicht für nötig gehalten, die bestehenden Ungerechtigkeiten zu beseitigen. Sie haben zwar die Angleichung der Renten für das Jahr 2024 beschlossen – 34 Jahre nach der Wiedervereinigung; das sind sechs Jahre mehr, als die Mauer stand –, andererseits schaffen Sie den Höherwertungsfaktor ab. Frau Kollegin Schimke, der Verdienstabstand besteht immer noch. Wir haben den Sachverhalt, dass es Berufsgruppen gibt, in denen Facharbeiter im Osten weniger verdienen als die Hilfsarbeiter im Westen. ({0}) Das heißt, ohne diesen Höherwertungsfaktor haben wir eine Armutsrente im Osten, auf Dauer eine Rente zweiter Klasse für Deutsche zweiter Klasse in Mitteldeutschland. Das werden wir kriegen. ({1}) Es drängt sich einem der Eindruck auf, dass die Alten vor allen Dingen im Osten von der Politik als überflüssiger Ballast angesehen werden. Ich sage Ihnen: Unsere Alten sind kein Kostenfaktor. Wir müssen endlich denen Achtung entgegenbringen, die dieses vereinte Land aufgebaut haben. Würde im Alter lässt sich nicht mit Geld aufwiegen; das ist klar. Aber ohne Geld lässt sich auch nicht in Würde altern. Das müssen Sie sich merken. ({2}) Es muss in einem der reichsten Länder der Welt möglich sein, dass denen Respekt gezollt wird, die ihn auch verdienen. ({3}) Wir führen wie arme Krämerseelen erbärmliche Debatten um ein paar Euro und schicken unsere Rentner zur Tafel. Gratulation! ({4}) Die Argumentation, die Sie bringen, ist folgende: Die Rentenkassen sind leer, das Geld ist knapp. – Meine lieben Kollegen, das Geld ist nicht knapp; es wird nur nicht richtig verteilt. Es kommt nicht bei denen an, die es verdient haben. ({5}) Ich kann Ihnen gerne sagen, wo das Geld ausgegeben wird, das eigentlich unseren ostdeutschen Rentnern zusteht. ({6}) – Genau: bei der illegalen Einwanderung! ({7}) Dort werden jedes Jahr aufs Neue Milliarden versenkt, die keinen erkennbaren Nutzen für unser Gemeinwohl bringen. ({8}) Stattdessen führen wir Diskussionen über die Kosten der Rentenangleichung, als ginge es hier um irgendwelche Zuschüsse zu einem Rentnertreff. Ich kann Ihnen versichern, liebe Kollegen: Der Buhmann sind Sie bei den Ostrentnern schon lange! Wir haben für die Rentner ein Konzept vorgelegt, ({9}) mit dem wir die Ungleichheiten bei der Rentenumstellung mit einer Fondslösung beseitigen. Liebe Rentner an den TV-Geräten, ich sage Ihnen eines: Alle Parteien, von den Linken bis zu den Liberalen, haben diese gerechte Lösung unisono abgelehnt. Und warum? Weil sie von uns kam? Nein. Weil sie überhaupt kein Interesse haben, das Elend bei den Ostrentnern auszugleichen. Danke schön. ({10})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Nächster Redner: Frank Heinrich für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Frank Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004054, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie von den Linken bemängeln regelmäßig, wie es auch Kollegin Kolbe gesagt hat, ({0}) dass die Rentenüberleitung nicht ausreichend sei und nicht sämtliche Besonderheiten des DDR-Rechts abdecke. Ich habe laut genickt, samt meinen Händen, als Herr Vogel in seiner Rede sagte, dass es tatsächlich verdächtig ist, dass diese Anträge so kurz vor der Wahl in Thüringen kommen. Das sollten die Wählerinnen und Wähler in Thüringen auch wissen, zumal Thüringen in der Statistik zur Rente mit am besten abschneidet. Die Inhalte der heutigen Anträge haben wir schon öfter besprochen; Ihr Antrag von der AfD ist dazugekommen. Seit 1992 – ich habe in der letzten Sitzungswoche diesen Dreisprung angesprochen: wo kommen wir her, wo stehen wir, und wo gehen wir hin? – war das Thema immer wieder Gegenstand parlamentarischer Anträge und Anhörungen von Sachverständigen. Es ist nichts Neues dabei, nichts gravierend Neues. Im Ergebnis sind die Anträge immer gleich. Forderungen nach einer Nachbesserung der Rentenüberleitung lassen sich aber nicht herleiten, wie höchstrichterlich vom Bundessozialgericht und vom Bundesverfassungsgericht bestätigt wurde. Von unserer Seite ist immer wieder gesagt worden – einige Vorredner haben es auch gesagt –: Es geht um Dankbarkeit für das bisher Erreichte; meine Kollegin Schimke hat es gesagt. Darüber, über das seit 1990 Erreichte, können wir doch bitte auch einmal reden; immerhin feiern wir jetzt zu mehreren Anlässen 30 Jahre Mauerfall. In der DDR erworbene Versicherungszeiten wurden mit Stichtag 1. Januar 1992 in die gesamtdeutsche Rentenversicherung überführt. Das Renten-Überleitungsgesetz sollte dafür sorgen, dass die Renten in den neuen Bundesländern nach den gleichen Grundsätzen berechnet werden wie die Renten in den alten Bundesländern. Dann waren da die 27 Zusatz- und 4 Versorgungsysteme; ein sehr komplexes Mobile, wenn man sich das einmal so vorstellen will, das über das Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz in die Rentenversicherung überführt wurde. Jetzt gibt es das gleiche Rentenrecht in Ost und West. Mit dem Rentenüberleitungs-Abschlussgesetz vom 17. Juli 2017 haben wir festgelegt, dass die Rentenwerte schrittweise bis spätestens 1. Juli 2024 – Sie haben es gerade angesprochen, Herr Pohl – vereinheitlicht werden, und parallel dazu entfällt zum 1. Januar des darauffolgenden Jahres auch die Hochwertung der Löhne. ({1}) Das ist ein sehr langwieriger, mathematisch komplexer Prozess – wie bei einem Mobile. Aber mathematisch gibt es eben zwei Anteile in dieser Gleichung: Nehmen wir die eine Hälfte weg, dann fällt der Konsens in sich zusammen. Die Abschaffung der Hochwertung der Löhne im Osten funktioniert nicht ohne die andere Seite. Das schafft neue Ungerechtigkeiten und birgt sozialen Sprengstoff. Einer meiner Kollegen hat es gerade gesagt: Wir können doch nicht erwarten, dass wir mit den Kollegen aus dem Westen eine Mehrheit bekommen, wenn auf einmal neue Ungerechtigkeiten zuungunsten bestimmter Gruppen im Westen entstehen. Eine neue, enorme Steuerlast entsteht. Das nehmen Sie in Kauf. Eine Steuerfinanzierung ist auch das Einzige, was Ihnen einfällt, wenn es um Finanzierung und um die Frage der Absicherung geht. Und natürlich – auch die Grünen haben das immer wieder formuliert – gibt es nicht nur den Ost-West-Unterschied, es gibt auch den Nord-Süd- und den Stadt-Land-Unterschied. Diese Unterschiede lassen sich nicht einfach durch Pauschalität aufheben. ({2}) Die Rentenüberleitung war und ist eine großartige Leistung, nein, ich behaupte, die wahrscheinlich größte sozialpolitische Leistung der deutschen Einheit. ({3}) Letzter Punkt. Ich möchte kurz auf Ihren Antrag von der AfD und die Lösung eingehen, die Sie vorschlagen. Sie wissen, dass auch wir als Union über bestimmte Härtefallgruppen diskutiert haben. Der Knackpunkt ist das Äquivalenzprinzip. Ihr Vorschlag mit den Einmalzahlungen ist allerdings sehr grob. Da soll die Bemessungsgrundlage die Betriebszugehörigkeit sein; es ist die Rede von mindestens 400 Euro pro Jahr. Beispielhaft haben Sie 7 Gruppen genannt – Sie reden immer von 17 Gruppen –: Hochschullehrer, Ärzte, Ingenieure, Lehrer, Künstler und Wissenschaftler. Ihr Antrag fußt letztlich ausgerechnet auf den Berufsgruppen – das ist die Frage nach den Kriterien; was ist da letztlich der Rahmen? –, die im Regelfall schon jetzt nicht geringe Renten bekommen. Es wird der Eindruck erweckt, dass das ein großzügiger Umgang mit Steuermitteln ist, und das ist ähnlich wie bei den Linken. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frank Heinrich. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Gerald Ullrich. ({0})

Gerald Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004923, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Stellen Sie sich einmal vor: Sie kommen nach Hause, und Ihr Haus steht in Flammen. Sie möchten mit dem Löschen beginnen, aber die Feuerwehr, die auch schon da ist, hält Sie fest. Sie müssen zuschauen, wie Ihr Haus abbrennt. Und hinterher kriegen Sie noch eine Rechnung von der Feuerwehr dafür, dass Sie zugucken durften. – Genau das, meine Damen und Herren, ist bei den Enteignungen in den 70er-Jahren in der DDR passiert. ({0}) Diese Gruppe von Menschen haben Sie noch nicht einmal angesprochen. Auch wenn Sie 32 Gruppen bilden würden, wäre diese Gruppe nicht dabei; das garantiere ich Ihnen. Dass es diese Gruppe gab, ist der Grund dafür, dass im Herbst 1989 die Wirtschaft der DDR den Herztod erlitten hat, während die Führung der DDR schon lange den Hirntod erlitten hatte; das können Sie mir glauben. ({1}) Die Sozialsysteme brachen zusammen wie ein Schneeballsystem. Sie bekamen keine neue Nahrung, weil unser Geld auf der Welt nichts wert war. Der Einzige, der uns jemals einen Kredit gegeben hat, war der Herr Strauß, und dafür mussten wir, Gott sei Dank, unsere Selbstschussanlagen abbauen. Noch einmal einen herzlichen Dank nach Bayern dafür. ({2}) Es ist doch heutzutage ein Treppenwitz der Geschichte, dass genau die Nachfolgeorganisation derjenigen, die für diese Misere verantwortlich sind und die diese leeren Versprechungen gemacht haben, heute von diesem Parlament erwartet, dass wir deren leere Versprechungen erfüllen sollen. Beim besten Willen, meine Damen und Herren, das geht einen großen Schritt zu weit. ({3}) Die Lebensleistung der DDR-Bürger war in der Tat groß, und es ist immer wieder erstaunlich, dass sie trotz und nicht wegen des alten DDR-Regimes überhaupt möglich war. Eine Lösung, die ich vorzuschlagen hätte, hängt mit dem Härtefallfonds zusammen: Warum geben Sie uns nicht endlich die Kontonummern von Ihren alten SED-Genossen, ({4}) auf denen Sie das SED-Vermögen bis heute verstecken? ({5}) Das wäre mal ein guter Grundstock, den wir nehmen könnten, um den Härtefallfonds für die Leute, die es wirklich betrifft, aufzulegen und den Leuten im Härtefall auch zu helfen. Sie sind schuld an diesen Härtefallen, meine Damen und Herren. ({6}) Erstaunt bin ich über den Antrag der AfD. Herr Pohl, in Thüringen weiß man nichts von diesem Antrag – ganz ehrlich –, weil Herr Höcke nämlich Herrn Aust beauftragt hat, ein völlig anderes Rentenkonzept, das 100 Prozent konträr zu Ihrem ist, in die Welt zu setzen. ({7}) Im Osten spielt die AfD schon lange keine Rolle mehr. Im Osten spielt der Flügel des Herrn Höcke eine Rolle. Ich bin gespannt, welche Maßnahmen Sie hier in diesem Hause in Zukunft noch machen wollen, wenn Herr Höcke erst mal Ihren Laden übernommen hat. Darauf freue ich mich schon, das wird lustig; das kann ich Ihnen garantieren. ({8}) Sie wollen eine Fondsrente, und Herr Aust möchte gerne eine Staatsbürgerrente haben. Das sind die großen Unterschiede. ({9}) Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit, meine Damen und Herren. ({10})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke, Gerald Ullrich. – Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Matthias W. Birkwald. ({0})

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ja, Herr Vogel, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Rentnerinnen und Rentner gehören grundsätzlich zu den Gewinnern der deutschen Einheit, ({0}) trotz aller Fehler bei der Rentenüberleitung. Aber: Wer nach dem Mauerfall in Ostdeutschland geboren wurde, wird nach geltendem Recht auch in den nächsten 30 Jahren eine niedrigere Rente für die gleiche Lebensleistung erhalten, und das ist ungerecht. Das akzeptiert die Linke nicht. ({1}) Union und SPD sagen ja, das liege an den niedrigen Löhnen. Genau. Darum ist die Linke die einzige Fraktion im Deutschen Bundestag, die einen gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 12 Euro in Ost und West fordert. ({2}) Und: Wir Linken sind die einzige Fraktion im Deutschen Bundestag, die für ein Rentenniveau in Höhe von 53 Prozent kämpft. ({3}) Und: Die Linksfraktion ist die einzige Fraktion im Bundestag, die den Sumpf des Niedriglohnsektors vollständig austrocknen will. Und ja, die Linke ist die einzige Fraktion im Bundestag, die ostdeutsche Löhne bei der Rentenberechnung so lange weiter auf das westdeutsche Niveau umrechnen will, bis die Löhne in den neuen Bundesländern durchschnittlich genauso hoch sind wie in den alten Bundesländern. ({4}) Meine Damen und Herren, 30 Jahre nach dem Mauerfall liegen die Löhne im Osten immer noch 17,9 Prozent unter denen im Westen. Da sage ich: Das ist inakzeptabel. ({5}) Wir brauchen gleiche Löhne für gleiche und gleichwertige Arbeit und gleiche Renten für gleiche Lebensleistungen. ({6}) Oder kürzer: Die Lohnmauer muss weg! ({7}) Die Rentenwerte in Ost und West anzugleichen, ist ein großer Erfolg. Aber es gibt keinen Grund, die Umrechnung der Löhne bis 2025 abzuschaffen, wie Union und SPD das beschlossen haben; denn in Ostdeutschland schuften doppelt so viele Menschen im Niedriglohnsektor wie in Westdeutschland. ({8}) Sie sagen, Frau Kolbe, mit der Umrechnung müsse jetzt Schluss sein; denn sonst erhielte eine ostdeutsche Facharbeiterin mit 3 000 Euro Bruttolohn mehr Rente als eine westdeutsche Fachkraft mit 3 000 Euro Bruttolohn. Viele Menschen im Osten können von 3 000 Euro brutto nur träumen, meine Damen und Herren. ({9}) In Wirklichkeit erhält die ostdeutsche Fachkraft mit einem vergleichbaren Beruf nur 2 490 Euro brutto und eben nicht 3 000 Euro wie die westdeutsche Fachkraft. Das ist euer aller Rechenfehler. ({10}) Meine Damen und Herren, solange das Lohnniveau in dem alten Bundesland mit dem niedrigsten durchschnittlichen Einkommen – das ist Schleswig-Holstein – noch deutlich über dem neuen Bundesland mit dem höchsten Durchschnittseinkommen liegt – das ist Sachsen –, so lange brauchen wir noch die Umrechnung. Deswegen ist die Umrechnung völlig richtig. ({11}) Die Umrechnung ist eben keine Höherwertung und auch keine Hochwertung. Sie sorgt vielmehr dafür, dass jemand, der in Erfurt 45 Jahre lang Haare schneidet, am Ende eine vergleichbare Rente erhält wie jemand, der in meiner Heimatstadt Köln 45 Jahre lang Haare geschnitten hat. Die Umrechnung ist ein hervorragendes Werkzeug; denn mit jedem Angleichungsschritt bei den Löhnen schmilzt sie ab. Sie löst sich von selbst auf, wenn Sie endlich Ihr Versprechen einhalten. Also: Sie muss so lange erhalten bleiben, bis sich etwas ändert in Dresden und im Eichsfeld. Am besten bald. Herzlichen Dank. ({12})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Matthias W. Birkwald. – Nächster Redner: Albert Weiler für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Albert Weiler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004439, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren auf der Tribüne und vor den Bildschirmen! Ich danke Gott, dass ich hier an dieser Stelle etwas öffentlich sagen darf, was mir am Herzen liegt, auch wenn es in dem Falle nicht direkt zum Thema gehört. Dennoch werde ich es tun. Als ich vor etwa drei Wochen an dieser Stelle eine Kippa getragen habe, war das ein klares Bekenntnis für das friedliche Zusammenleben mit unseren jüdischen Mitmenschen. Der fremdenfeindliche Anschlag in Halle hat leider gezeigt, dass Antisemitismus und Fremdenhass immer noch tiefe Wurzeln in Deutschland haben. Lassen Sie mich bitte dem schon Gesagten noch etwas hinzufügen. Als Demokraten dürfen wir Fremdenfeindlichkeit in Deutschland keinen Fußbreit Platz lassen. ({0}) Judenhass muss durch Aufklärung und Sensibilisierung in Deutschland noch konsequenter bekämpft werden. Strafen, meine Damen und Herren, reichen dazu nicht aus. Ich habe dazu alle Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten angeschrieben und appelliere hier noch einmal, dieses Thema bereits in den Grundschulen und weiterführenden Schulen zum Pflichtinhalt zu machen und auch den Religionsunterricht nicht ausfallen zu lassen, wie das zum Beispiel in Thüringen gang und gäbe ist.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege, wir sind jetzt aber bei der Rentendebatte. Ich möchte Sie daran erinnern.

Albert Weiler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004439, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, dazu komme ich gleich. – Mein Sohn hat viele Jahre lang keinen Religionsunterricht bekommen. Ich bin überzeugt, dass wir eine Pflicht haben, die Kinder in Deutschland über das Judentum aufzuklären, aber auch über das Christentum, das aus dem Judentum erwachsen ist. Ich hoffe sehr – damit will ich dann auch zum Thema kommen –,

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Ja, bitte.

Albert Weiler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004439, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

– dass wir uns gemeinsam dazu entschließen, uns dem Hass in unserem Land und überall in der Welt zu stellen. Meine Damen und Herren, zum Thema. Seit vielen Jahren setze ich mich für diejenigen ein, die im Rahmen des Rentenüberleitungsgesetzes benachteiligt worden sind. Es war mir sehr wichtig, und es ist mir mit meinen Kollegen auch gelungen, für Betroffene in der Grundsicherung eine Härtefallfondslösung im Koalitionsvertrag festzuhalten. Das ist an die AfD und an die Linken adressiert, die das jetzt, glaube ich, bestreiten. Dieser Härtefallfonds ist auf dem Weg. Aktuell erarbeitet eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe konkrete Lösungsvorschläge, die noch in diesem Jahr vorgestellt werden sollen. Bereits in dieser Woche habe ich gemeinsam mit meinen Kollegen Peter Weiß, Daniela Kolbe und Ralf Kapschack mit Vertretern des runden Tisches zusammengesessen und über Lösungsvorschläge diskutiert. Dabei ist das herausgekommen, was hier von der Linken bestritten wird: Wir waren uns darin einig, dass die Anerkennung der Lebensleistung das Ziel sein soll und dass wir in der Lage sein sollten, dies umzusetzen. Fest steht auch, dass sich die Bundesländer bei der Ausgestaltung des Härtefallfonds finanziell beteiligen müssen. Damit nehme ich gerade auch die Landesregierungen mit Beteiligung der Linken in die Pflicht, die an dieser Stelle zeigen können, dass es ihnen tatsächlich um das Wohl der Menschen geht und nicht um Sozialpopulismus kurz vor der Thüringen-Wahl. Denn gerade Ihr Antrag ist ein bunter Mix allgemeiner sozialpolitischer Forderungen, die ohne Konzept und ohne Finanzierungsvorschläge aufgelistet werden und nichts anderes als realitätsferne Wahlversprechungen sind. ({0}) Meine Damen und Herren, Ihr Plan ist so durchschaubar, dass hoffentlich niemand darauf hereinfallen wird. Die vorliegenden Anträge der Linken und der AfD zeigen, dass Links und Rechts sich nicht zu schade sind, rentenpolitische Fragen für eine Spaltung Deutschlands auszunutzen. Hier sollen Jung gegen Alt und Ost gegen West ausgespielt werden. Das riecht förmlich nach einer Griechenland-Koalition von Links und Rechts, das heißt einer Koalition zwischen AfD und Linken. ({1}) Ich bin sehr gespannt auf Thüringen. Meine Damen und Herren, bei diesem Spiel machen wir nicht mit. Wir wollen Verlässlichkeit. Der Härtefallfonds wird bereits ausgearbeitet, die Rentenangleichung ist schon lange beschlossen, und deswegen lehnen wir Ihre Anträge ab. Vielen Dank. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kollege Weiler. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Christoph Matschie. ({0})

Christoph Matschie (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nachdem hier schon viele Argumente hin- und hergegangen sind, will ich ein paar grundsätzliche Dinge sagen. Sowohl die Linke als auch die AfD versuchen hier, den Eindruck zu erwecken, als seien sie die beiden Parteien, die für die Renteneinheit in Deutschland sorgen. Das ist komplett falsch, meine Damen und Herren. ({0}) Die Rentenangleichung ist längst beschlossene Sache. Sie ist 2017 beschlossen worden, auf Drängen der SPD, aber gemeinsam in einer Koalition. Es ist auch kein Geheimnis, dass die SPD sich eine schnellere Angleichung gewünscht hätte. Wir hatten damals 2020 im Blick. Darauf haben wir uns nicht einigen können, aber die Rentenangleichung läuft, und die Rentnerinnen und Rentner im Osten Deutschlands bekommen jedes Jahr eine größere Rentenerhöhung als im Westen. Dafür hat die SPD gemeinsam mit der Koalition gesorgt. ({1}) Man kann zwar immer darüber lamentieren – so wie die Linke das wieder getan hat –, was alles noch nicht gemacht worden ist, und mit einem Stapel von Konzepten und Papieren winken. Aber am Ende zählt ja die Realität. ({2}) Für Sie will ich es mal mit Brecht sagen. Vielleicht verstehen Sie es dann. Von Brecht stammt der schöne Vers: Und weil der Mensch ein Mensch ist, drum braucht er was zu essen, bitte sehr! Es macht ihn ein Geschwätz nicht satt, das schafft kein Essen her. Genau so ist das auch bei der Rente, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({3}) Am Ende, Herr Birkwald, kommt es doch nicht darauf an, wer den schönsten, aber einen unrealistischen Antrag stellt. Am Ende kommt es darauf an, dass die Rentnerinnen und Rentner mehr im Portemonnaie haben, und dafür haben SPD und Union gemeinsam gesorgt. ({4}) Und wir arbeiten weiter an dem Thema. Denn jeder, der sich mit der Rente beschäftigt, weiß: Es gibt Sorgen. Es gibt Menschen mit sehr niedrigen Renten. Es gibt Menschen in den neuen Bundesländern, die sich im Rentensystem ungerecht behandelt fühlen. Deshalb gibt es eine Arbeitsgruppe. Bundesminister Heil hat sich dieses Themas angenommen. Auch Frau Kolbe hat eben schon etwas dazu gesagt. Es wird in Kürze Vorschläge geben, wie wir mit diesen offenen Fragen umgehen, und dann können wir das inhaltlich diskutieren. Was mir und der SPD aber noch wichtiger ist, ist die Tatsache, dass es sehr viele Menschen gibt, die nur über sehr niedrige Renten verfügen. Das ist ein Problem, das besonders im Osten Deutschlands auftritt, weil hier in den 90er- und auch in den 2000er-Jahren die Löhne deutlich niedriger waren, weil Menschen oft arbeitslos bzw. in Maßnahmen waren und deswegen nur niedrige Rentenansprüche erworben haben. Deshalb ist es uns wichtig, dass wir im Rentensystem diese niedrigen Renten aufwerten. Wir wollen die Grundrente, und zwar ohne Bedürftigkeitsprüfung. Ich bin sicher, wir werden bei der Grundrente gemeinsam etwas hinbekommen. ({5}) Es geht nicht um Almosen, wenn wir keine Bedürftigkeitsprüfung wollen, sondern hier geht es um erworbene Rentenansprüche, die nur deshalb niedriger sind, weil die Verdienste niedriger waren, und die aufgewertet werden sollen. ({6}) Ich hoffe, wir bekommen mit CDU und CSU am Ende eine gemeinsame Regelung hin, von der möglichst viele Menschen profitieren. Ich verstehe bis heute nicht, werte Kolleginnen und Kollegen, warum Sie die Zahl derjenigen, die davon profitieren können, so sehr eingrenzen wollen. Es sind Millionen von Rentnerinnen und Rentnern, die diese Aufstockung, die Grundrente brauchen. Lassen Sie uns deshalb endlich einen vernünftigen Kompromiss machen, und zwar ohne Bedürftigkeitsprüfung. ({7}) Am Ende aber – damit komme ich zum Schluss – werden wahrscheinlich, wenn wir eine Lösung hinbekommen haben, die Linken und vielleicht auch die AfD dann wieder rufen: Das ist alles viel zu wenig! Das reicht nicht aus! – Was mich dann aber interessiert, ist, dass viele Menschen mehr Geld im Portemonnaie haben, und das wird so sein. ({8}) Denn darum geht es: nicht besser reden, sondern besser machen, Herr Kollege! ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Christoph Matschie. – Der letzte Redner in dieser sehr lebendigen Debatte: Max Straubinger für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir bringen heute eine Debatte zum Abschluss, die wir ob der immerwährenden Anträge der Linkenfraktion jedes Jahr oder vielleicht sogar jedes halbe Jahr wieder führen, jetzt gepaart und zusätzlich mit untermauert von der AfD-Fraktion. Da zeigt sich also: Links und rechts haben dahingehend die gleiche Qualität, zu urteilen bzw. zu polemisieren und die Unzufriedenheit mancher Menschen hier letztendlich als Politik darstellen zu wollen. ({0}) Deshalb ist am Ende dieser Debatte zuerst festzustellen: Die Rentenüberleitung ist ein großer Erfolg für die Menschen in Ostdeutschland. Denn damit haben sie neben der Freiheit, die sie mit der Wiedervereinigung erlangt haben, auch eine verlässliche Rente bekommen, mit der sich die Rentnerinnen und Rentner mehr leisten können als mit früheren Ostmarkrenten, mit denen das persönliche Lebensgefühl möglicherweise nicht ganz so großartig untermauert werden konnte. Das ist ja der große Gewinn für die ältere Generation im Osten Deutschlands, verehrte Damen und Herren. ({1}) Das Zweite ist, dass es bei der Rentenüberleitung darum ging, Beitragsleistungen nach westdeutschem Recht zugrunde zu legen und entsprechend zu bewerten, statt nach irgendwelchen imaginären sonstigen Vorstellungen oder Versprechungen vorzugehen, die auch im DDR-Recht nicht mit Beitragsleistungen untermauert waren, sondern die aufgrund bestimmter Vereinbarungen getroffen worden sind. Das kann ja keine Grundlage für ein neues Rentenrecht sein. Das bedeutet letztendlich, dass die Rentenüberleitung auch unter dem Gesichtspunkt der gerichtlichen Überprüfung als rechtens anerkannt worden ist. Das reicht manchen vielleicht nicht aus; das kann ich zugestehen. Allerdings möchte ich durchaus sagen: Bevor es in Westdeutschland einen Rentenausgleich für geschiedene Frauen gab, haben wir auch da nicht im Nachhinein ausgeglichen. Auch das muss man leider Gottes hier feststellen. Ich muss feststellen: Wir haben in Ostdeutschland wie in Westdeutschland letztendlich die gleiche Ungerechtigkeit, und das kann man so nicht ausgleichen. Man muss es vielleicht auch für das Rechtsempfinden der Menschen entsprechend darstellen, dass es der Rechtsentwicklung mit geschuldet ist, wo sie sich positiv für die Betroffenen ausgewirkt hat. Das sollte man hier natürlich auch anerkennen. Ich bin aber schon über den Antrag der AfD überrascht, die sich bisher auf überhaupt keine Rentenpolitik einigen konnte. Die einen wollen nur noch ein Kapitalsystem, andere wollen alles verstaatlicht haben. Sie sollten sich erst einmal Gedanken machen, was Sie in der Rentenpolitik machen wollen. Deshalb ist all das, was hier getätigt werden soll, völlig unzureichend. ({2}) Ein Letztes noch. Die Kollegen der SPD, der Herr Kapschack und der Herr Matschie, haben beide einer Grundrente, und zwar in höchstmöglicher Form, das Wort geredet. Die Frau Kollegin Schimke hat dargestellt, dass die Renten in Ostdeutschland bei den Männern wie bei den Frauen durchschnittlich höher sind als die Renten in Westdeutschland. ({3}) Ihrer Meinung nach begründet das dann eine Grundrente, die besonders den Menschen im Osten eine Hilfestellung geben soll. Wie hoch soll denn dann hinterher die Grundrente sein? Das muss ich die Kollegen fragen. Ich muss sagen: Sie wecken Erwartungen, die in keinster Weise erfüllbar sind. Das ist hier zu bemängeln. Ich halte daran fest, was wir im Koalitionsvertrag hierzu niedergelegt haben, dass nämlich die Menschen, die 35 Jahre und mehr in die Rente eingezahlt haben, dann, wenn sie auf Grundsicherung angewiesen sind, 10 Prozent mehr erhalten sollen. Das ist unsere Vereinbarung. Diese können wir morgen umsetzen. Dann wird auch die Lebensleistung derer, die langjährig eingezahlt haben, belohnt werden. Da bitte ich unseren Koalitionspartner, das sehr schnell zu erledigen. Dann haben wir auch diesen Teil der Koalitionsvereinbarung umgesetzt. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({4})

Steffi Lemke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002720, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Verehrte Frau Präsidentin! Vielen Dank für diese Gelegenheit. Ich muss mich für meine Fraktion dafür entschuldigen, dass uns im ersten Verfahren über die Federführung ein Abstimmungsfehler unterlaufen ist und wir auch da schon für die Überweisung an den Finanzausschuss waren. – Vielen Dank, dass ich das richtigstellen darf. ({0})

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich weiß nicht, ob Sie das schon einmal erlebt haben – ich glaube, das geht vielen Menschen so –: Ich kam im Februar ganz unverhofft in die Situation, dass ich auch einmal Homeoffice machen durfte. Ehrlich gesagt, war es eine Situation, die viele kennen, die kleine Kinder haben: Meine Tochter war krank und konnte nicht in die Kita; sie hatte Fieber. Ich habe dann erlebt, dass Homeoffice nicht so romantisch ist, wie es in einigen Diskussionen im politischen Raum manchmal erscheint. Wir hatten auf der anderen Seite viele Telefonate und Akten zu bearbeiten, wie das halt so ist. Ich gebe zu, ich war ein bisschen gestresst. Noch etwas mehr gestresst war ich aber, weil ich – wir wohnen in einem großen Haus – dann wie viele Menschen erlebte, dass gefühlt einmal die Stunde die Türglocke ging und jemand ein Paket abgeben wollte. Das war an dem Tag eine ganze Menge. Ich will damit Folgendes sagen: Ich habe erst später eine Zahl gelesen, die verdeutlicht, wie diese Branche in den letzten Jahren boomt. Im Bereich von Paketzustell-, Express- und Kurierdiensten sind im vergangenen Jahr in diesem Land mit über 80 Millionen Einwohnern sage und schreibe 3,5 Milliarden Sendungen auf den Weg gebracht worden. Die Branche boomt vor allen Dingen infolge des Onlinehandels, weil viele Menschen im Internet bestellen; das ist bequem. Aber es ist in der Regel nicht so, dass die Pakete dann von Flugdrohnen in die Häuser gebracht werden, sondern von Paketboten. Und weil viele große Paketbringdienste das mit ihrem Personal nicht mehr bewältigen, sind sie dazu übergegangen, Subunternehmer zu beauftragen. Das, meine Damen und Herren, ist an sich nicht schlimm. Schlimm ist aber, dass diese Konstruktion von Sub-Sub-Subunternehmern missbraucht wird, um Arbeitnehmerrechte in Deutschland auszuhebeln und Sozialversicherungsbeiträge zu hinterziehen. Das werden wir nicht länger zulassen. ({0}) Deshalb haben wir über die Ergebnisse der Kontrollen, über die uns der Zoll informiert hat, in der Koalition beraten und entschieden, dass wir das Prinzip der Generalunternehmerhaftung auch auf die Paketzustell-, Express- und Kurierbranche beziehen werden. Das ist ein probates Mittel. Es hat sich bewährt – wie seit vielen Jahren in der Bauindustrie –, weil es dazu verhilft, dass sich Generalauftragnehmer überlegen, wen sie sich als Subunternehmer aussuchen, da sie im Zweifelsfall für die Sozialversicherungsbeiträge ihrer Subunternehmer einstehen müssen, wenn die nicht eintreibbar sind. Und das hat Folgen für die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten. Meine Damen und Herren, wir reden über Menschen, die jeden Tag hart arbeiten, die Pakete schleppen, die sich anstrengen und die anständige Löhne, Arbeitsbedingungen und den sozialen Schutz unserer Gesellschaft verdient haben. Da werden wir Recht und Gesetz durchsetzen. Das ist der Ansatz dieser Bundesregierung. ({1}) Dieses Gesetz wird helfen, so wie es inzwischen im Baubereich hilft; das sagen die Bauindustrie, das Bauhandwerk, die IG Bau sowieso. Wir haben diesen Ansatz seit einigen Jahren auch in der fleischverarbeitenden Industrie, und auch in diesem Bereich werden wir es durchsetzen. Ich weiß, dass das Recht das eine ist. Dafür, es durchzusetzen, braucht es aber noch etwas anderes. Dieses Gesetz passt zu dem Gesetz zur Schwarzarbeitsbekämpfung, das mein Kollege, der Bundesfinanzminister Olaf Scholz, auf den Weg gebracht hat. Wir brauchen nämlich auch die entsprechenden Kontrollen und die Mittel für die Finanzkontrolle Schwarzarbeit beim Zoll. Wir brauchen auch das entsprechende Personal. Die Durchsetzung von Recht und Gesetz ist das, was wir erreichen wollen. ({2}) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend sagen: Meine Bitte ist, das Gesetz, das wir heute einbringen, im parlamentarischen Verfahren gründlich, aber auch zügig zu beraten, damit es zum anstehenden Weihnachtsgeschäft schon gilt. In etwa zehn Wochen ist Weihnachten, und wir wissen, dass das Paketaufkommen nun zunimmt. Wir müssen den Beschäftigten in Deutschland deutlich machen, dass wir Ausbeutung nicht zulassen. Auch im Zeitalter des Onlinehandels und der Digitalisierung darf niemand Digitalisierung in Deutschland mit Ausbeutung verwechseln. Daher sorgen wir auch mit diesem Gesetz dafür, dass Recht und Ordnung am Arbeitsmarkt gelten. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Minister. – Der nächste Redner für die AfD-Fraktion: Der Kollege Jürgen Pohl. ({0})

Jürgen Pohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004856, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Werte Kollegen! Liebe Damen und Herren auf den Rängen und Zuhause! Der Minister hat es schon gesagt: Kaum eine Branche ist in den letzten Jahren so rasant gewachsen wie die Kurierbranche, eine Branche, die unter extremem Konkurrenzdruck steht. In dieser Branche sind Leiharbeit, Werkverträge sowie Scheinselbstständigkeit an der Tagesordnung. Und warum? Weil die Damen und Herren von den Sozialdemokraten, der ehemaligen Arbeiterpartei unter Schröder, überhaupt erst den Grundstein dafür gelegt haben, nämlich mit der Agenda 2010. Diese Agenda war das Fundament für den Niedergang der sozialen Marktwirtschaft in der Paketbranche. ({0}) Ein viel zu niedriger Mindestlohn und prekäre Beschäftigungsverhältnisse sind hier an der Tagesordnung, verursacht durch eine neoliberale Wirtschaftspolitik, ({1}) bei der der Mensch auf der Strecke geblieben ist. ({2}) – Ach hören Sie doch auf mit Sozialismus! Der Mensch steht im Mittelpunkt und nicht das Paket, mein Herr. Es ist doch die Frage, wo wir stehen wollen. ({3}) Wenn alles ständig verfügbar sein soll zu einem Preis, der anständige Löhne von Anfang an ausschließt, wenn kostenlose Lieferungen und Retouren eingeplant sind, wie soll dann eine vernünftige Kalkulation möglich sein, in der angemessene Löhne berücksichtigt werden? Das müssen Sie klären! ({4}) Diese kostenlosen Retouren sind nur möglich, wenn der volle Kostendruck bis nach unten, an den Zusteller durchgereicht wird. Das ist eine Wirtschaftskultur, die Leistungen zum Nulltarif anbietet. Dies führt unweigerlich zu einer Unternehmenskultur, in der der kleine Mann nichts mehr Wert ist. Sie sind keine Partei für den kleinen Mann. Wir als AfD, als neue Volkspartei stehen dafür ein. ({5}) Wenn wir uns die Angelegenheit ansehen, dann stellen wir fest, dass das letztlich mit der Abschaffung des Postmonopols anfing, was zur Folge hatte, dass Firmen wie die PIN AG vor Einführung des Mindestlohns die Briefzusteller für knapp unter 8 Euro auf die Straße schickten. ({6}) Danach kamen mit der Einführung der Arbeitnehmerfreizügigkeit Kolonnen von Ausländern und Drittstaatlern in die EU, die ihre Fachkenntnisse für einen kümmerlichen Lohn anbieten. Wenn bei mir – das ist tatsächlich passiert – am Samstagabend um halb neun noch der Paketbote klingelt, dann ist das krank. Früher gab es solche Hektik um Weihnachten herum. Heute ist das normaler brutaler Alltag für diese unterbezahlten Arbeitnehmer. ({7}) Das ist Ausdruck eines krassen Missverhältnisses zwischen Kundenrechten und Arbeitnehmerpflichten. ({8}) Aber jetzt, wo uns die ganze Sache um die Ohren fliegt, wird schnell ein Gesetz gestrickt, um den kleinen Mann ruhig zu stellen. Wir brauchen kein neues schlechtes Gesetz, wir brauchen mehr Kontrolle.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege.

Jürgen Pohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004856, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Eine Zwischenfrage möchte ich auch nicht. Danke. – Mit diesem Gesetz wird nämlich nichts an den Löhnen geändert. Es führt nur dazu, dass die Menschen mit Armutslohn später eine Armutsrente bekommen. Diese Menschen, diese Zusteller werden im Rentenalter noch Pakete zustellen müssen, weil sie in Armut sind und, wenn die FDP etwas zu sagen hat, in Armut bleiben werden. ({0}) Dieses Gesetz wird nichts richten. Wir müssen das Übel an der Wurzel packen. Wir müssen überlegen, ob die Marktmacht der in diesem Bereich vorhandenen Generalauftraggeber tatsächlich so bestehen bleiben kann. Was hier beschlossen werden soll, ist ein zahnloser Papiertiger ohne effektive Kontrolle. Erst werden hehre Absichten verkündet, um diese Absichten dann durch die Hintertür wieder aufzuheben. Sie wollen ein Beispiel haben? Das Beispiel gebe ich Ihnen: Der Auftraggeber soll dafür Sorge tragen, dass die SV-Beiträge abgeführt werden. Das ist gut gemeint, Herr Minister Heil. Das Problem ist aber: Wenn ich mich durch Präqualifikation oder eine Unbedenklichkeitsbescheinigung exkulpieren kann, bleibt alles beim Alten, dann passiert gar nichts. Diejenigen, die für solche Verhältnisse verantwortlich sind und Geld verdienen, die müssen in der Verantwortung stehen. ({1}) Bisher ist das reine Flickschusterei. Das Gesetz würde lediglich den Niedriglohn, der in diesem Bereich bezahlt wird, legalisieren. Humane Arbeitsverhältnisse in einer sozialen Marktwirtschaft sehen für uns in der AfD anders aus. Was hier beschlossen werden soll, ist das finanzielle Aus der kleinen Paketboten zugunsten von Amazon und Zalando. Das soll so wohl nicht sein. Dankeschön. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Punktlandung, sehr gut. ({0}) Die nächste Rednerin: die Kollegin Gisela Manderla, CDU/CSU-Fraktion. ({1}) Wenn jetzt alle ihre Redezeit einhalten, schaffen wir es vielleicht doch, die Sitzung vor 5.15 Uhr zu beenden.

Gisela Manderla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004348, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegen und Kolleginnen! Ich werde versuchen, die Redezeit einzuhalten. – Mit dem Gesetz zur Einführung einer Nachunternehmerhaftung in der Kurier-, Express- und Paketbranche wollen wir Missstände beheben, die sich in den vergangenen Jahren in diesem Bereich aufgrund der starken Wachstumszahlen ergeben haben. Meine Damen und Herren, wir haben es uns mit diesem Gesetzentwurf nicht leicht gemacht; denn es betrifft viele Beteiligte, viele Akteure in der Branche. Die nordrhein-westfälische Landesregierung hat auf Initiative von Arbeits- und Sozialminister Karl-Josef Laumann bereits 2018 die Arbeitsschutzaktion „Fairer Versandhandel“ auf den Weg gebracht. Wir als CDU haben diese Missstände schon seit längerer Zeit im Blick und frühzeitig gehandelt, liebe Kollegen und Kolleginnen. ({0}) Die Umsätze im deutschen Onlinehandel haben sich in den letzten zehn Jahren mehr als vervierfacht. Minister Heil hat es schon gesagt: Im vergangenen Jahr gab es 3,5 Milliarden Kurier-, Express- und Paketsendungen. Das sind 5 Prozent mehr als 2017. Vom zunehmenden Onlinehandel profitieren viele Branchen. Auch der stationäre Einzelhandel ergänzt seine Angebote teilweise in Richtung Versandhandel, um wettbewerbsfähig zu bleiben. In den vergangenen Jahren aber hat sich gezeigt, dass es auch zahlreiche Menschen gibt, die zwar an dieser positiven Entwicklung durch ihre Arbeitskraft mitwirken, aber nicht in gleichem Maße von ihr profitieren. Mehr noch, einige Beschäftigte in der Branche leiden unter diesem Wachstum. Manche Paketdienste haben einen Teil ihrer Aufträge an Subunternehmer abgegeben, wo es in Teilen – ich betone: in Teilen – der Branche zu deutlichen Verstößen gegen das Arbeitszeit- und das Mindestlohngesetz sowie zu Sozialleistungs- und Sozialversicherungsbetrug kam. Das ist in einer sozialen Marktwirtschaft so nicht hinnehmbar, liebe Kollegen und Kolleginnen. ({1}) Eine bundesweite Razzia des Zolls am 8. Februar 2019 hat gezeigt, dass jedes sechste überprüfte Beschäftigungsverhältnis tendenziell als kritisch einzustufen ist. Ich möchte einmal Papst Leo XIII zitieren, der in seiner großen Sozialenzyklika „Rerum novarum“ aus dem Jahr 1891 schreibt: Dem Arbeiter den ihm gebührenden Verdienst vorzuenthalten, ist eine Sünde, die zum Himmel schreit. ({2}) Soziale Marktwirtschaft kann nur funktionieren, wenn alle am Wertschöpfungsprozess Beteiligten auch den ihnen zustehenden Anteil erhalten. Neben dem Lohnanspruch gehören dazu in Deutschland auch die Sozialversicherungspflicht und die damit verbundenen Leistungsansprüche von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen. Genau aus diesem Grund gibt es schon jetzt in allen Branchen zur Absicherung des Mindestlohnanspruchs eine Haftung des Auftraggebers, der einen Subunternehmer beauftragt. Deshalb haften bereits nach geltendem Recht Paketdienstleister, die Pakete von Subunternehmern zustellen lassen, gegenüber den Arbeitnehmern der Subunternehmer für möglicherweise nicht erfüllte Mindestlohnansprüche. Hier und heute reden wir über die Frage, ob wir eine solche Generalunternehmerhaftung auch für ausstehende Sozialversicherungsbeiträge in der Paketbranche einführen wollen. Wie schon gesagt wurde: Vergleichbare Regelungen gibt es in der Fleischwirtschaft und der Baubranche. Lassen Sie mich hier eines klarstellen: Wir reden hier nicht über ein neues Rechtsinstitut, sondern über eine Regelung, die beim Anspruch auf Mindestlohn geltendes Recht ist und die es in Bezug auf Sozialversicherungsbeiträge bereits in zwei Branchen gibt. In der Baubranche hat sich dieses Instrument wirklich bewährt. Es ist allerdings unabdingbar, dass der Zoll deutlich verstärkte Kontrollen durchführt. Deshalb ist es wichtig, dass wir den Zoll personell deutlich aufgestockt haben und damit die Möglichkeiten zur Kontrolle sehr stark verbessert haben. Meine Damen und Herren, der vorliegende Gesetzentwurf ist, glaube ich, rundum eine gute Sache. Ich hoffe auf gute Beratungen und auf Ihre Zustimmung. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner: Carl-Julius Cronenberg, FDP-Fraktion. ({0})

Carl Julius Cronenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004697, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Spätestens mit der Schwerpunktkontrolle des Zolls im Februar hat sich bestätigt, was wir schon lange befürchtet haben. Es wurden zahlreiche Missstände aufgedeckt, Missstände, die gegen geltendes Recht verstoßen; das wurde von den Vorrednern bereits angesprochen. Es kam zu Verstößen gegen das Mindestlohngesetz und das Arbeitszeitgesetz, zu Sozialversicherungsbetrug, Schwarzarbeit usw. usf. Herr Heil, Sie haben bereits im März diesen Missständen den Kampf angesagt. Das war gut und richtig so. Nun, nach einem halben Jahr, schlagen Sie dem Haus ein neues Gesetz vor. Ich hätte mir gewünscht – ich denke, die Bürgerinnen und Bürger erwarten das auch zu Recht –, dass der Staat zunächst alles daransetzt, die Gesetze, die wir haben, durchzusetzen, bevor er neue schreibt. ({0}) Der vorliegende Entwurf beschränkt sich keinesfalls auf den kritischen Bereich der Paketzustellung. Vielmehr adressieren Sie im Gesetzestext ausdrücklich alle Unternehmen im Speditions-, Logistik- und Transportgewerbe. Unbestritten, auf der letzten Meile herrschen mitunter inakzeptable Zustände. Das rechtfertigt aber nicht, dass Sie eine ganze Branche mit über 600 000 Beschäftigten unter Generalverdacht stellen, sozusagen in toto in Sippenhaft nehmen. ({1}) Damit treffen Sie auch Tausende von redlichen Speditionsunternehmen, die Tag für Tag die komplexen Lieferketten unserer Wirtschaft mit Waren versorgen. ({2}) Der Geltungsbereich ist entweder unscharf oder zu weit gefasst. Beides ist unzulässig. ({3}) Die Branche funktioniert übrigens seit über 100 Jahren hochgradig arbeitsteilig. Jeder Transport wird vom Spediteur organisiert und vom Frachtführer gefahren. Jedes Branchenunternehmen entscheidet selbst, welchen Teil des Jobs es selbst übernimmt und welchen Teil es Vertragspartnern übergibt. Diese Arbeitsteilung ergibt Tag für Tag Millionen von einzelnen Vertragsverhältnissen. Das ist, wie gesagt, im Handelsgesetzbuch seit über 100 Jahren so angelegt. Es drängt sich so ein bisschen der Verdacht auf, dass sich das Arbeitsministerium mit den normalen Abläufen der Branche nicht so richtig beschäftigt hat. Für mich jedenfalls sieht Zielgenauigkeit anders aus. ({4}) Das Ministerium schlägt das Instrument der Nachunternehmerhaftung vor. Wozu führt das? Zigtausende ehrliche Unternehmen werden Unbedenklichkeitsbescheinigungen beantragen und verwalten müssen. Diejenigen, die teils mit krimineller Energie zu Missbrauch anstiften oder ihn selbst betreiben, schicken die Paketboten in die Selbstständigkeit. ({5}) Hat der Bote mehrere Auftraggeber, treffen nicht einmal die Kriterien der Scheinselbstständigkeit zu, und Paketboten und Behörden und wir alle schauen weiter in die Röhre. Die Ehrlichen werden mit mehr Bürokratie belastet. Die Übeltäter treiben Zusteller in prekäre Selbstständigkeit. So setzt man Fehlanreize. Das können Sie nicht ernsthaft wollen. ({6}) Wer nicht in der Lage ist, gute Gesetze durchzusetzen, wer am Ende die Unternehmen einer ganzen Branche, die sich mit überwältigender Mehrheit an Recht und Gesetz halten, in Haftung nimmt, der stellt doch sich und seiner Politik am Ende ein Armutszeugnis aus, der kapituliert vor denen, die er vorgibt bekämpfen zu wollen. ({7}) Da sind die Grünen und die Linken konsequenter, die mit massiven Einschränkungen der Vertragsfreiheit und auch der Tarifautonomie die gesamte Branche an planwirtschaftliche Ketten legen wollen. Das ist nicht unser Programm. ({8}) Eine kurze Schlussbemerkung kann ich Ihnen, Herr Minister, nicht ersparen. Sie haben sich sieben Monate Zeit gelassen, einen Gesetzentwurf vorzulegen. Dem Parlament werden jedoch nur drei Tage Zeit gelassen, die Sachverständigenanhörung auszuwerten und die Ergebnisse dann im Ausschuss und im Plenum zu debattieren. Ein respektvoller Umgang mit dem Parlament sieht für mich anders aus. Da müssen sich Bürgerinnen und Bürger doch fragen, ob es der Bundesregierung am Ende mehr um die Beruhigung der politischen Großwetterlage geht als um die gute Absicht, Paketboten zu schützen. ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege Pascal Meiser. ({0})

Pascal Meiser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004819, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Geschäft mit der Auslieferung von Paketen boomt, und das nicht nur in Weihnachtszeiten. Doch bei den Beschäftigten, den Paketbotinnen und Paketboten, kommt von diesem Boom kaum etwas an. Mehr noch – wir haben es schon gehört –: Viele von denen, die Tag für Tag unzählige Pakete bis an die Haustüren schleppen, werden auch noch schamlos ausgebeutet, häufig zulasten ihrer Gesundheit. Ich finde, das ist ein unhaltbarer Zustand. ({0}) Auch massive Verstöße gegen geltendes Arbeits- und Sozialrecht sind inzwischen umfangreich dokumentiert. Selbst das „Handelsblatt“ bezeichnete die Paketbranche als „Hort der Gesetzlosen“. Wer selbst einmal mit Betroffenen geredet hat, weiß, dass diese Zustände System haben. Gezielt lagern große Paketdienstleister die Paketzustellung an Subunternehmen, ja an ganze Subunternehmerketten aus, die sich teilweise über halb Europa erstrecken. Hermes und GLS arbeiten sogar fast ausschließlich mit Subunternehmen. Systematisch befreien sie sich so von jeglicher sozialer Verantwortung für ihre Paketboten und von der Verantwortung für die Einhaltung geltenden Arbeits- und Sozialrechts, natürlich wohl wissend, welche Schweinereien bei ihren Subunternehmern so laufen, um Kosten und Löhne zu drücken. Genau weil das alles System hat, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es in der Tat ein längst überfälliger Schritt, die großen Paketunternehmen in die Pflicht zu nehmen und dafür haften zu lassen, wenn ihre Subunternehmer keine Sozialversicherungsbeiträge zahlen. ({1}) Der dazu vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung enthält allerdings völlig überflüssigerweise erhebliche Schlupflöcher. Nehmen Sie die Haftungsausschlüsse für Subunternehmer, die in der Vergangenheit ordnungsgemäß Sozialversicherungsbeiträge abgeführt haben. Diese Ausschlüsse öffnen doch Tür und Tor für Missbrauch. Oder nehmen Sie die Dokumentation der geleisteten Arbeitszeit. Für etwaige Kontrollen ist sie unverzichtbar. Aber anders als zum Beispiel in den Regelungen für die Fleischbranche, die schon erwähnt wurden, an deren Vorbild sich Ihr Entwurf auch sonst orientiert, ist hierzu für die Paketbranche nichts vorgesehen, und das, obwohl dies selbst der Bundesrat in seiner Stellungnahme ausdrücklich fordert. Ich sage Ihnen: Arbeitszeiten müssen endlich verlässlich dokumentiert werden. Nur so können die bestehenden Regelungen in der Praxis kontrolliert werden, ({2}) und nur so können unbezahlte Mehrarbeit und Lohnraub verhindert und bestehende Ansprüche vor Gesetz durchgesetzt werden. Wie erklären Sie den Paketbotinnen und Paketboten eigentlich, dass das Gesetz bis Ende 2025 zeitlich befristet werden soll – eine Befristung, die bekanntlich im Referentenentwurf des Arbeitsministeriums so noch ausdrücklich abgelehnt wurde? Glauben Sie etwa ernsthaft, die Probleme der Branche hätten sich in fünf Jahren erledigt? Das ist doch absurd. ({3}) Klar ist zudem: Damit die Nachunternehmerhaftung tatsächlich greift, braucht es ein engmaschiges Kontrollnetz und ausreichend Personal bei den zuständigen Behörden. Deshalb sorgen Sie endlich für ausreichend Personal bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit! Das, was bisher geplant ist, reicht doch hinten und vorne nicht aus. ({4}) Aber auch die bestgemachte Nachunternehmerhaftung wird für sich genommen nur ein Tropfen auf dem heißen Stein bleiben; denn die unterschlagenen Sozialversicherungsbeiträge sind nur die Spitze des Eisbergs an Problemen in der Branche. Diese Probleme baden nicht nur die Paketbotinnen und Paketboten aus. Fehlerhafte Zustellungen und verlorengegangene Sendungen sind vielerorts an der Tagesordnung und zeigen, wie sich die Qualität der Zustellungen für die Kundinnen und Kunden in den letzten Jahren verschlechtert hat. Ich sage Ihnen: Das Problem in der Branche ist inzwischen so groß, dass es einer umfassenden Regulierung der Paketbranche bedarf. Dazu gehört auch, dafür zu sorgen, dass nicht jeder einfach so mir nichts, dir nichts ein Paketunternehmen anmelden und Pakete ausliefern kann. Die Erlaubnis zur Auslieferung von Paketen muss, wie es bei der Briefpost der Fall ist, an das Vorliegen einer qualifizierten Lizenz gekoppelt werden, ({5}) so wie es übrigens auch die Gewerkschaft Verdi fordert. Wir als Linke haben dazu in unserem Antrag umfassende Vorschläge gemacht. Wenn Sie im weiteren Gesetzgebungsprozess noch ein wenig bei uns abschreiben wollen – nur zu! Die Kundinnen und Kunden würden es Ihnen danken und die Paketbotinnen und Paketboten sowieso. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort die Kollegin Beate Müller-Gemmeke. ({0})

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Minister! Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste! In Deutschland werden jedes Jahr – es wurde schon gesagt – weit mehr als 3 Milliarden Pakete zugestellt. Über die Pakete wissen die Unternehmen alles: wann sie tatsächlich zugestellt werden, wo sie sich gerade befinden. Wie viele Zustellerinnen und Zusteller unter ihrem Firmenlogo unterwegs sind, das wissen viele Paketdienste aber nicht; denn nur zwei große Unternehmen arbeiten in der Paketzustellung noch mit eigenen Beschäftigten. Die anderen setzen auf Subunternehmen, und was daraus entsteht, ist bekannt: Scheinselbstständigkeit, Leiharbeit, Arbeit auf Abruf, teilweise katastrophale Arbeitsbedingungen, Lohndumping. Der harte Wettbewerb in dieser Branche geht voll und ganz zulasten der Beschäftigten, und damit muss Schluss sein. ({0}) Deshalb begrüßen auch wir ausdrücklich die Nachunternehmerhaftung für Sozialversicherungsbeiträge. Wir fordern das schon lange; denn die großen Paketunternehmen müssen Verantwortung übernehmen. Die Nachunternehmerhaftung ist für uns aber nur ein erster kleiner Schritt in die richtige Richtung, und deshalb fordern wir heute mit einem eigenen Antrag noch weitere konkrete Maßnahmen. Erstens. Die Nachunternehmerhaftung funktioniert nur mit flächendeckenden Kontrollen, und das muss besser laufen als in der Fleischbranche. Kaum gab es in der Fleischbranche die Nachunternehmerhaftung, haben sich die Kontrollen dort halbiert. Damit ist das Gesetz ins Leere gelaufen, und das darf sich bei der Paketbranche auf gar keinen Fall wiederholen. ({1}) Die Kontrollen müssen verstärkt werden. Dazu braucht die Finanzkontrolle Schwarzarbeit nicht nur Planstellen, vielmehr müssen die Stellen endlich auch besetzt werden. ({2}) Zweitens. Die Arbeitszeit muss lückenlos dokumentiert werden, und zwar an dem Tag, an dem gearbeitet wird, und nicht erst sieben Tage später. Wenn jede Paketbewegung in Echtzeit nachvollzogen werden kann, dann wird doch auch die Dokumentation der Arbeitszeit kein Problem sein. Diese lückenlose Dokumentation ist notwendig; denn nur so sind die Kontrollen auch tatsächlich effektiv. ({3}) Drittens. Ganz wichtig: Die Beschäftigten brauchen mehr Unterstützung. Bei der Nachunternehmerhaftung geht es ja nur um die Sozialversicherungsbeiträge. Den nichtbezahlten Lohn müssen die Beschäftigten weiterhin individuell einklagen, und das ist ein steiniger Weg. Deshalb fordern wir einen kollektiven Rechtsschutz, ein Verbandsklagerecht; denn wir dürfen die Menschen nicht alleinlassen. ({4}) Wir haben noch drei weitere Forderungen – die kann ich nur ganz kurz in Stichworten ansprechen –: Die Entsenderichtlinie muss endlich umgesetzt werden, damit Tarifverträge mit ganzen Entgeltgittern allgemeinverbindlich erklärt werden können und dann auch für Subunternehmen aus dem Ausland gelten. Scheinselbstständigkeit muss konsequent verhindert werden. Und wir brauchen Equal Pay in der Leiharbeit, und zwar ab dem ersten Tag. ({5}) Das ist alles notwendig; denn das eigentliche Problem ist doch viel größer. Das Problem ist, dass verantwortungsvolle Unternehmen mit eigenen Belegschaften im Nachteil sind, weil die anderen an Subunternehmerketten geben und damit die Preise drücken, und zwar auf Kosten der Beschäftigten. Das müssen wir ändern. Hier ist die Nachunternehmerhaftung, wie gesagt, ein erster Schritt – dem werden wir auch zustimmen –, aber es müssen weitere Maßnahmen folgen. Das Ziel muss sein, dass Paketdienste wieder eigene, bei ihnen angestellte Zustellerinnen und Zusteller beschäftigen, und zwar sozialversicherungspflichtig und, liebe FDP, natürlich auch tariflich bezahlt. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Uwe Schummer. ({0})

Uwe Schummer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003631, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren! Ich hatte die Freude, noch vor dieser Debatte mit Karl-Josef Laumann – Herr Kollege Cronenberg, Gruß aus Nordrhein-Westfalen! – zu telefonieren. Es gibt eine Initiative des Landes NRW für den Bundesrat, mit der im Grunde das, was hier diskutiert wird, die Generalunternehmerhaftung, massiv unterstützt wird und sogar noch weiter ausformuliert wird. Da wäre es hilfreich, wenn die FDP in Berlin nicht so redet und in Düsseldorf völlig anders. ({0}) Da müssen Sie sich schon ein bisschen einigen. Da ist, glaube ich, die Position für die Generalunternehmerhaftung ziemlich eindeutig. Ich erinnere mich noch an eine interessante Talkshow bei Plasberg. Da waren der Herr Heil und auch der geschätzte Kollege Lambsdorff. Auf die Frage, was denn da zu tun ist, antwortete der Kollege Lambsdorff: Wir Liberalen sind für Wettbewerb, und weil wir für Wettbewerb sind, wollen wir die Akzeptanz, und deshalb ist es richtig, solche Instrumente zu nutzen. Ich denke, dass wir miteinander Vertreter der sozialen Marktwirtschaft sind. Ich habe noch erlebt, wie die Postreform 1989 durchgeführt wurde, in meiner Funktion damals im CDA-Bundesvorstand. Das Geschäftsmodell dieser Postreform, der Dreiteilung damals, war nicht Wildwest, das Geschäftsmodell war soziale Marktwirtschaft, in der der Staat eine Funktion hat: Er ist Anwalt der Schwachen, er ist Hüter des Gemeinwohls, und er ist Schiedsrichter im Wettbewerb. Wenn im Wettbewerb etwas schiefläuft, dann hat der Staat sich entsprechend einzusetzen. Bei verschiedenen Kontrollen, beispielsweise in Nordrhein-Westfalen, hat man festgestellt, dass 48 Prozent der kontrollierten Fahrer von Subunternehmen vier und mehr Verstöße hatten. Sobald ein Verstoß vorhanden ist, ist offenkundig die Seriosität des Subunternehmens nicht so, dass alles andere glatt läuft. Deshalb ist die Koordination von verschiedenen Kontrollen wichtig. Bei einer Razzia in Hamburg hat man festgestellt, dass bei über 60 Prozent der kontrollierten Mitarbeiter von Subunternehmen im Paketzustelldienst ein Verdacht auf illegale Beschäftigung und Sozialbetrug besteht. Bei Razzien in Thüringen hat man festgestellt, und zwar bei Subunternehmen, die für den Götterboten arbeiten, dass mit Mitarbeitern aus Moldawien gearbeitet wurde, die mit rumänischen Pässen, über mafiöse Strukturen gefälscht, ins Land gekommen sind. Es gibt eine Anzeige von einem Unternehmen in russischer Sprache für Osteuropa, um Paketdienstleister, ‑zubringer anzuwerben: mit polnischem Visum, Erwerbstätigkeit in Deutschland. – Das ist eine Form von Schleuserei. Wenn wir feststellen, dass der mittlere Bruttolohn bei den Paketzustellern in den letzten zehn Jahren um 15 Prozent gesunken ist, während bei anderen im Wirtschaftsbereich dieser mittlere Bruttolohn um 24 Prozent gestiegen ist, dann ist offenkundig Gefahr im Verzug, und da ist der Staat im Sinne der sozialen Marktwirtschaft gefordert. Von daher sehen wir das Instrument, die Generalunternehmerhaftung, als ein richtiges an. Auch der Bundesverband der Kurier-Express-Post-Dienste mit 750 mittelständischen Unternehmen, die dort organisiert sind, unterstützt uns in dieser Frage. Soziale Marktwirtschaft ist nicht die Schutzmacht von Täuschern und Tricksern. Wir wollen die Einzelnen, die täuschen und tricksen, erwischen, und wir wollen den Wettbewerb wieder anständig organisieren, damit die Akzeptanz, wie das Herr Lambsdorff sehr richtig gesagt hat, in der Bevölkerung wieder steigt. Man kann die Arbeit delegieren – das ist unsere Botschaft –, aber nicht die Verantwortung für anständige und faire Arbeitsverhältnisse. Im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart: „Sozialbetrug und Sozialdumping darf es auf unseren Straßen nicht geben.“ Wir brauchen klare Regelungen der Haftung entlang der Logistikkette. – Und das machen wir. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. – Der nächste Redner: für die SPD-Fraktion der Kollege Bernd Rützel. ({0})

Bernd Rützel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004392, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! In gut zwei Monaten ist Weihnachten. Ganz besonders viele Menschen bestellen im Internet ganz viele Geschenke, und noch viel mehr Menschen müssen dann unterwegs sein, nämlich 500 000 jeden Tag, um diese Pakete zu uns an die Haustür zu bringen. Im ganzen Jahr sind sonst ungefähr 250 000 Menschen jeden Tag unterwegs. Diese Branche brummt. Sie ist richtig explodiert. Keiner weiß mehr, wie man die 3,5 Milliarden Pakete – das sind 46 Pakete für jeden Einzelnen, vom Baby bis zum Opa –, die pro Jahr im Durchschnitt unterwegs sind, an die Frau und an den Mann bringt. Dieser Druck wird oft an die Subunternehmer weitergegeben. Es herrscht ein gnadenloser Druck in dieser Branche. Die Subunternehmer, die da umhersausen und im Februar wohl auch an der Haustür unseres Arbeitsministers geklingelt haben – ein Homeoffice ist immer etwas Gutes; das kommt dann dabei heraus –, haben im wahrsten Sinne des Wortes ihr Päckchen zu tragen. Wir haben das erfolgreich schon in der Baubranche und in der Fleischwirtschaft gemacht; das ist heute angeklungen. Wir werden die Nachunternehmerhaftung auch in der Paketbranche einführen, weil wir die Paketboten schützen, weil wir für Beitragsehrlichkeit sorgen und weil wir damit einen fairen Wettbewerb auf den Weg bringen wollen. Die Kontrollen des Zolls haben es gezeigt: Der Mindestlohn wird unterschritten. Zahlreiche Fälle von illegaler Beschäftigung gibt es. Die Sozialbeiträge werden nicht gezahlt. – Diese ganze Branche hat ein dickes Problem. Einige Paketdienste arbeiten fast ausschließlich mit Subunternehmern. Aktuell diktieren die Generalunternehmer mit Dumpingpreisen die Bedingungen für die Nachunternehmer, und denen bleibt oft nichts anderes übrig, wenn sie die Aufträge erhalten wollen, als das in Form schlechter Arbeits- und Sozialbedingungen weiterzugeben. Da werden und da dürfen wir nicht länger zuschauen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Kollege Cronenberg, ich schätze Sie sehr, aber nach dem, was Sie heute hier gesagt haben ({1}) – Sie sprachen von Generalverdacht und Sippenhaft –, ({2}) sollten Sie noch einmal nachlesen. Wir werden die Spreu vom Weizen trennen; denn die seriösen Unternehmer sind diejenigen, die wir stärken, die wir schützen wollen. Das sind diejenigen, die ordentlich arbeiten. Die können sich dadurch, dass sie seriöse Subunternehmer beauftragen – jetzt sind wir schon im Detail: Präqualifizierung, Unbedenklichkeitsbescheinigung –, von viel Bürokratie entlasten, und das ist auch gut so. Deswegen ist das das genaue Gegenteil von Generalverdacht, und es ist das Gegenteil von Sippenhaft. Wir wollen die schwarzen Schafe in dieser Branche erreichen. Das werden wir. Wir werden die Paketboten schützen. Wir werden für fairen Wettbewerb sorgen. Wir werden den Sozialbetrug – niemand will, dass es den gibt – einschränken und abschaffen. Wir müssen das schnell tun, liebe Kolleginnen und Kollegen; denn ruckzuck ist wieder Weihnachten. Das kommt immer überraschend. Die Paketbotinnen und ‑boten sollen in diesem Jahr auf ein gutes Weihnachtsfest blicken können. Deswegen machen wir das. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Stephan Stracke, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Stephan Stracke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004169, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als Union stehen wir für Fairness am Arbeitsmarkt und das Funktionieren der Sozialsysteme. Soziale Marktwirtschaft bedeutet fairen Wettbewerb und faire Arbeit. Einen Wildwuchs auf dem Arbeitsmarkt lehnen wir ab. Wir wollen keinen Wettbewerb um die billigsten Hände. Wir wollen keinen Wettbewerb auf dem Rücken der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sondern wir wollen einen, der auf guten Arbeitsbedingungen beruht und natürlich auch die gesetzlichen Regelungen einhält. Wichtigstes Mittel und Instrument des Staates, diese Regeln sicherzustellen, sind Kontrollen. Gerade in Branchen, in denen Arbeitnehmerrechte unter Druck geraten, setzen wir auf mehr und intensive Kontrollen. Dafür ist die Finanzkontrolle Schwarzarbeit zuständig. Wir versetzen sie in die Lage, dass sie ihre Aufgaben erfüllen kann. Deshalb haben wir im Sommer einen deutlichen Personalaufwuchs mit einer mittelfristigen Verdopplung der Stellen auf 13 500 beschlossen. Eine personell gut ausgestattete Finanzkontrolle Schwarzarbeit ist zentral, um gegen Lohndumping und Missbrauch vorzugehen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Anfang Februar 2019 hat eine bundesweite Schwerpunktprüfung der Finanzkontrolle in der Kurier-, Express- und Paketbranche stattgefunden. Die Auffälligkeiten bei den Prüfungen hat das Bundesarbeitsministerium als so gewichtig angesehen, dass es bei der Nachunternehmerhaftung eine Neubewertung vorgenommen hat. So hat die Parlamentarische Staatssekretärin Anne Kramme aus dem Bundesarbeitsministerium auf eine parlamentarische Anfrage aus dem Dezember schriftlich erklärt – ich zitiere –: Die Effekte einer etwaigen Einführung einer Generalunternehmerhaftung in der Paketbranche auch für Sozialversicherungsbeiträge lassen sich nicht prognostizieren. Bundesarbeitsminister Heil hat diese Bewertung keine drei Monate später kassiert. Er hat nun den Vorschlag der Ausdehnung der Nachunternehmerhaftung auf die Sozialversicherungsbeiträge für die Paketzustellung unterbreitet. Diese Nachunternehmerhaftung ist im Bereich der Bauwirtschaft unbestritten und trägt mit dazu bei, dass schwarze Schafe aus dem Markt geworfen werden. Das war das zentrale Motiv, warum wir als Union gesagt haben: Wir übertragen diesen Gedanken auch auf die Fleischwirtschaft; auch hier sind die Ergebnisse gut. Nun kommt eine Haftungsregelung auch für die Paketzustellung, allerdings mit einem gesetzlichen Verfalldatum versehen. Innerhalb von sechs Jahren wollen wir prüfen, ob das neue Instrument tatsächlich einen wirksamen Beitrag für mehr Fairness auf dem Arbeitsmarkt für Paketboten bietet. Die Nachunternehmerhaftung ist für uns Teil eines Gesamtkompromisses, auch mit Blick auf die von Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier durchgesetzte erhebliche Bürokratieentlastung für die Wirtschaft, insbesondere für kleine und mittelständische Unternehmen. Das zeigt: Bürokratieentlastung und fairer Wettbewerb sind uns wichtig, damit unternehmerisches Handeln gelingen kann, es erfolgreich bleibt und Arbeitnehmerrechte gesichert bleiben. Deshalb beschreiten wir diesen Weg. ({0})

Reinhard Houben (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004763, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Deutschlands Industrie ist in der Rezession. Das ist der eindeutige Befund der Gemeinschaftsdiagnose der Wirtschaftsforschungsinstitute von Anfang Oktober. Die industrielle Produktion verläuft bereits seit gut anderthalb Jahren nicht gut. Der Auftragseingang ist dramatisch eingebrochen; dennoch handelt die Bundesregierung nicht. Die mittelstands- und wettbewerbsfeindliche Industriestrategie 2030 ist das Einzige, was Wirtschaftsminister Peter Altmaier für die deutsche Industrie bislang zustande gebracht hat. Mittlerweile hat aber die Unionsfraktion die Strategie kassiert. Das Misstrauen gegenüber dem eigenen Parteifreund scheint sehr groß zu sein. Trotz dieser Nachhilfe: Für den Minister schafft es die Koalition nicht, Maßnahmen für die Industrie umzusetzen. Peter Altmaier kann es offensichtlich nicht, die Unionsfraktion darf es nicht, und die SPD möchte es nicht. ({0}) Diese Passivität der Koalition gefährdet die Zukunft der deutschen Industrie. Wir sind der festen Überzeugung, dass wir jetzt die deutsche Industrie dabei unterstützen müssen, auch in Zukunft weltweit spitze zu sein. Das geht aber nicht durch Eingriffe in den Wettbewerb oder die Subventionierung spezifischer Projekte. Wir müssen vielmehr dafür sorgen, dass die deutsche Industrie auch nach der vierten industriellen Revolution vorneweg geht, statt hinterherzulaufen. ({1}) Industrie 4.0 ist kein Zukunftskonzept mehr, sondern an vielen Stellen bereits Realität. ({2}) Die intelligente Vernetzung von Maschinen und Prozessen birgt unglaubliche Chancen für die Industrie, um Entwicklung, Produktion, Vertrieb, Nutzung und Wartung zu optimieren, aber auch zu flexibilisieren. ({3}) Es ist noch nicht entschieden, meine Damen und Herren, welche Unternehmen und Volkswirtschaften am Ende am meisten profitieren werden. Unser Antrag zeigt die entscheidenden Maßnahmen auf, die ergriffen werden müssen, damit die deutsche Industrie in Zukunft erfolgreich ist. Vielen von Ihnen wird OPC UA nichts sagen. Das ist auch nicht weiter schlimm. Aber das ist ein offener Schnittstellenstandard, der Maschinen befähigt, ihre Produktion digital zu vernetzen, unabhängig, von welchem Hersteller die Maschinen stammen. Er hilft, die Entwicklung der Industrie 4.0 deutlich zu beschleunigen. Dieser Standard wurde maßgeblich in Deutschland entwickelt. Wir müssen dafür sorgen, dass dieser Standard weltweit gilt, damit deutsche Unternehmen weiterhin weltweit führend sein können. ({4}) Industrieunternehmen arbeiten bei der Entwicklung der Standards international zusammen; Kooperationen fehlt aber häufig die nötige Rechtssicherheit. Unternehmen geraten so in den Konflikt mit Wettbewerbs- oder Kartellrecht. Daher brauchen wir Klarheit durch eine europäische Gruppenfreistellungsverordnung für die Zusammenarbeit. Auch das heutige Haftungsrecht kann mit der Digitalisierung nicht mithalten. Wir brauchen ein neues KI-Haftungsrecht, das Industrie anzieht und den Markt nicht belastet, ({5}) aber Geschädigte angemessen kompensiert. – Jetzt dürft ihr klatschen. ({6}) Mir ist auch klar, dass gleich wieder kritisiert wird, dass wir für eine Flexibilisierung im Arbeitsrecht streiten. Wer aber glaubt, mit dem Arbeitsrecht des 20. Jahrhunderts die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts lösen zu können, verbaut die Chancen für mehr Beschäftigung und Wohlstand. ({7}) Die Regelungen für Arbeits- und Ruhezeiten müssen flexibilisiert sein. Wir sagen andererseits aber auch klar: Eine Ausweitung der Wochenarbeitszeit wollen wir ausdrücklich nicht. Wir wollen, dass die Industrie in Deutschland in der Lage ist, weltweite Innovationen voranzutreiben und davon zu profitieren. Technischen Revolutionen begegnet man dadurch, dass man ihre Chancen begreift und nutzt, statt sich vor ihnen zu verstecken. Vielen Dank. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Nächste ist Kollege Axel Knoerig, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Axel Knoerig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004073, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die FDP hat in dieser Woche gleich drei Anträge zum Thema Smart Germany vorgelegt. Dieser Antrag hier hat das Ziel, Deutschland als Leitmarkt für Industrie 4.0 zu etablieren. Ja, meine Damen und Herren: Die Grundlagen dafür haben wir doch schon längst gelegt. Bereits 2011 haben wir, CDU/CSU und FDP, als Zukunftsprojekt im Rahmen der Hightech-Strategie im Grunde genommen die Plattform Industrie 4.0 beschlossen. Seitdem haben wir – mit Blick zur SPD – vielfältige Maßnahmen getroffen, die die Digitalisierung unterstützen. Im Mittelpunkt steht dabei die Plattform Industrie 4.0, ein bundesweites Netzwerk aus Wirtschaft, Wissenschaft, Gewerkschaften und Politik. Diese gibt Handlungsempfehlungen und Impulse, damit Industrie 4.0 auf breiter Basis in den Unternehmungen angewandt wird. Dazu gehört natürlich auch die Vernetzung auf internationaler Ebene mit Partnern und Unternehmen. Das alles kommt doch dem Mittelstand zugute; denn digitale Produktionsverfahren bieten gerade den kleinen und mittleren Unternehmen große Chancen. ({0}) Viele von ihnen waren bislang noch zu zögerlich bei der Einführung digitaler Prozesse. Eine neue Umfrage des Digitalverbands Bitkom zeigt aber: Drei von vier Unternehmen sehen sich inzwischen auf dem Weg in die Industrie 4.0. Das haben wir auch auf der Hannover-Messe im April gesehen. Wenn ich „wir“ sage, meine ich unseren Ausschuss, den Wirtschaftsausschuss. Wir waren am Stand der Plattform Industrie 4.0; auch die FDP war mit dabei. Da haben die Firmen deutlich gemacht, wie gut wir bei Industrie 4.0 aufgestellt sind. Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, wir müssen nicht, wie Sie es fordern, mehr „passende Rahmenbedingungen dafür … schaffen, dass Deutschland vom digitalen Wandel der Industrie langfristig profitiert“. Das haben wir bereits. ({1}) Dadurch haben wir enorme Fortschritte gemacht – mit smarten Fabriken, Cloud-Computing, neuen Geschäftsmodellen und Dienstleistungen. Das bestätigen auch die aktuellen Zahlen des Bundeswirtschaftsministeriums: 40 Milliarden Euro wollen die Unternehmen jährlich bis 2020 in die Industrie 4.0 investieren. Das beschert unserer Wirtschaft ein zusätzliches Wachstum in Höhe von 153 Milliarden Euro. ({2}) Meine Damen und Herren, die Treiber der Digitalisierung sind vor allem klassische Wirtschaftsbranchen: die Maschinen- und Anlagenindustrie, die Elektroindustrie, die chemische Industrie und die Gesundheitswirtschaft. So ist Deutschland weiter die Nummer eins bei Fabrikausstattung und Produktionstechnik. Wie sichern wir die Leitmärkte? Das ist doch die zentrale Frage. Und: Wie können wir diese noch weiter ausbauen? Diese grundlegenden Fragen zum Großen und Ganzen stellt die FDP gar nicht erst. Stattdessen geht ihr Antrag direkt ins Kleingedruckte und listet unzählige Details auf. Das Bundeswirtschaftsministerium hat die Federführung für Industrie 4.0 auch in der neu ausgerichteten Hightech-Strategie 2025. Wir fördern die Leitmärkte von Industrie 4.0 auf umfassende Weise: Auf der Angebotsseite unterstützen wir die Leitbranchen über die sogenannte öffentliche Beschaffung, etwa indem wir Fuhrparks von Behörden mit Elektrofahrzeugen ausstatten. Außerdem verbessern wir den Marktzugang durch Investitionsförderung und staatlich geförderte Marketingstrategien. Auf der Nachfrageseite stärken wir die Leitmärkte über die Programm- und Projektförderung. Und in Kooperation mit dem Bundesforschungsministerium werden neue Produktionstechnologien und Werkstoffinnovationen gefördert. Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, was mich besonders irritiert an Ihrem Antrag, ist die Forderung unter Punkt 7 a. Sie wollen die Novelle der Außenwirtschaftsverordnung von Dezember 2018 rückgängig machen. ({3}) Damit schaden Sie aber doch vor allem dem Mittelstand. Ziel der Novelle war es ja, Direktinvestitionen ausländischer Geldgeber in deutsche Firmen besser zu kontrollieren; denn chinesische Konglomerate sind hier als Einzelfirmen aufgetreten, um in großem Stil Unternehmen aufzukaufen. Dem haben wir, denke ich, zu Recht einen Riegel vorgeschoben, indem wir die Investitionsprüfung transparenter gemacht haben. ({4}) Investoren müssen jetzt ihre Firmendaten umfassend offenlegen. Damit haben verdeckte Monopolisten keinen Zugang mehr zu unseren Märkten. Und das ist kein Protektionismus, wie uns die FDP vorwirft, sondern dient vielmehr dem Schutz des freien und fairen Wettbewerbs. Unsere Außenwirtschaftspolitik ist verantwortungsvoll und sehr wohl auch vorausschauend. Meine Damen und Herren, 15 Millionen Arbeitsplätze hängen direkt und indirekt von der Industrieproduktion ab. Auch für die Beschäftigten entstehen mit Industrie 4.0 neue Perspektiven. Jetzt komme ich auf etwas, was Sie, Herr Houben, schon gesagt haben: Sie setzen sich lediglich mit der Flexibilisierung der Arbeit auseinander. Ich sage hier als stellvertretender Vorsitzender der Arbeitnehmergruppe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ganz klar: Wir müssen Industrie 4.0 als ganzheitliche Aufgabe begreifen. Das heißt für die Unternehmen – gerade auch mit Blick auf die Fachkräftesicherung –: Qualifizierung, innerbetriebliche Mitbestimmung; wir brauchen in Teilen auch eine neue Führungskultur. Das ist entsprechend zu überdenken. Meine Damen und Herren, um Deutschland eine Spitzenposition auf den Leitmärkten zu sichern, brauchen wir aber vor allem eins – das ist Unternehmergeist. Hier hat die FDP recht mit ihrer Forderung – ich will sie heute ja nicht nur schelten; das ist durchweg ein positiver Punkt –, dass Wirtschaft als Unterrichtsfach verbessert werden sollte. Wir müssen junge Menschen schon in der Schule, in der Ausbildung und im Studium für das Unternehmertun begeistern. ({5}) Ich habe gerade an einer Universität in Kanada gesehen, wie Selbstständigkeit das Studienziel sein kann – und nicht das Ausfüllen von Bewerbungsbögen. Auch die Digitalisierung braucht, wie jede große Innovationswelle, tatkräftige selbstständige Unternehmer. Wir müssen daher an einer neuen Gründerkultur arbeiten, damit junge Leute Freude an Unternehmensgründungen haben. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege. – Der nächste Redner: für die AfD-Fraktion der Kollege Tino Chrupalla. ({0})

Tino Chrupalla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004695, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Landsleute! Der Antrag der FDP fordert die Bundesregierung dazu auf, die Chancen der Digitalisierung zu ergreifen, um Deutschlands Führungsrolle im Bereich Industrie 4.0 zu sichern. Deutschland soll „Smart Germany“ werden. Die deutsche Industrie ist aktuell mit 22,7 Prozent an der deutschen Bruttowertschöpfung beteiligt. Bevor wir sie auf ganz neue Füße stellen, hätte ich allerdings gern noch ein paar Fragen dazu gestellt. Erstens. Man muss kein Prophet sein, um absehen zu können, dass der Stromverbrauch mit der Digitalisierung enorm ansteigen wird. Wo soll dieser Strom herkommen? Und was ist an dieser Entwicklung nachhaltig? Ist das jetzt Fortschritt oder fortschreitender Stromverbrauch? Dazu lese ich in Ihrem Antrag nichts. Die Bundesregierung hat dazu ja leider auch noch keine Zahlen. Zweitens. Was wird aus den Arbeitsplätzen, die durch die Digitalisierung wegfallen? Sie betonen hier die Chancen der Digitalisierung. Wir lesen ja auch in sämtlichen Regierungspapieren immer nur von Chancen. Aber was ist eigentlich mit den Risiken? Josef Kaeser von Siemens hat schon vor drei Jahren davor gewarnt, dass neun von zehn Menschen bei der Digitalisierung verlieren werden. Nur einer von zehn Menschen wird profitieren. ({0}) Kaeser sprach damals sogar von möglichen sozialen Unruhen. Das klingt für mich erst mal nicht besonders smart. ({1}) Auch aus handwerkspolitischer Perspektive kommen mir einige Bedenken. In Studien des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung liest man, dass vor allem Handwerksberufe wie Fleischer, Bäcker und Textilberufe ein hohes Substituierbarkeitspotenzial aufweisen. Auf gut Deutsch: Diese Tätigkeiten können auch von Maschinen übernommen werden. Da fragt man sich: Warum sollen wir diese Entwicklung auch noch mit Steuergeld beschleunigen? Wie wollen Sie den Bürgern erklären, dass sie auch noch dafür bezahlen sollen, dass der Staat Roboter subventioniert, die ihre Arbeitsplätze ersetzen, zumal in strukturschwachen Regionen? Ich möchte die FDP auch mal grundsätzlich fragen, welche Qualität diese smarten Arbeitsplätze haben werden, die Sie hier generieren wollen, und wer für solche Berufe überhaupt geeignet ist. Das geht jetzt in den Bereich Arbeitspsychologie; aber das sind doch ganz wichtige Fragen. Wenn wir unser Land so gestalten wollen, dass hier alle gut und gerne leben wollen, dann sollte man sich diese Fragen schon mal stellen. Im Gegensatz zu vielen Menschen mit Bürojobs machen die Handwerker, die ich kenne, ihren Beruf sehr gerne. Ein Bäcker hat mir neulich mit leuchtenden Augen erzählt, wie sehr er seinen Beruf liebt. Und ausgerechnet die Tätigkeit des Bäckers wird in der genannten Studie für zu 100 Prozent ersetzbar erklärt. Und wenn ich als Malermeister nur noch Drohnen lenke, die für mich das Haus streichen, dann hat das mit Handwerk sicherlich nichts mehr zu tun. ({2}) Noch eine Frage, die unsere Bürger sicherlich brennend interessiert: Wozu brauchen wir eigentlich die vielen Fachkräfte aus dem Ausland, wenn hier in den nächsten Jahrzehnten sowieso 40 bis 70 Prozent der Arbeitsplätze wegbrechen? ({3}) Natürlich sollen auch abgelegene Orte einen Internetanschluss und Mobilfunkempfang haben – keine Frage. Aber bei Ihrer Antragsserie hier gewinnt man den Eindruck, dass Sie ganz Deutschland in ein Silicon Valley verwandeln wollen. Da frage ich mich, ob das erstrebenswert ist. Auf ihrer Delegationsreise hat die Enquete-Kommission KI ja erfahren, dass die Arbeitsbedingungen dort alles andere als ideal sind und dass die Überlebensdauer von Start-ups auch sehr kurz ist. Das kann ich zum Beispiel von Meisterbetrieben hierzulande nicht sagen. Die sind recht stabil, und es besteht weiterhin eine große Nachfrage. Drittens. Sie fordern die Regierung in Ihrem Antrag auf, für Datensicherheit zu sorgen. Da muss ich wirklich sagen: Mit Verlaub, das ist natürlich völlig naiv und utopisch. Kein Netzwerk ist sicher, egal wie viel Aufwand Sie auch betreiben wollen. Nicht mal hier im Bundestag sind wir sicher, trotz aller Sicherheitsvorkehrungen. Wir haben es doch auch erst neulich hier erlebt. Vor allen Dingen in den letzten Jahren gab es mehrere Hackerangriffe auf Krankenhäuser, auf Stahlwerke, auf Überwachungskameras. Viele Fälle sind uns nicht mal bekannt. Wenn wir uns von ausländischen Technologien abhängig machen, die so leicht angreifbar sind, sind wir weder digital noch sonst irgendwie souverän, ({4}) ganz zu schweigen von der inneren Sicherheit, die durch die zunehmende Vereinzelung junger Menschen, die sich in virtuelle Welten flüchten, auch gefährdet ist. ({5}) Apropos „smart“. Wie kommt es eigentlich, dass Sie hier ständig englischsprachige Begriffe verwenden, wenn es darum geht, wie wir unser Leben und unsere Zukunft hier in Deutschland gestalten wollen? Sind Sie nicht willens oder nicht in der Lage, eigene nationale Konzepte zu entwickeln, die zu unserer Kultur und zu unserer Gesellschaft passen? ({6}) Finden Sie, dass diese Vorgehensweise einer ehemaligen Kulturnation vom Range Deutschlands gerecht wird? ({7}) Wir verwehren uns dem Fortschritt übrigens genauso wenig wie Herr Kaeser. Aber es gibt diese offenen Fragen, und die sind alles andere als unerheblich. Solange diese Fragen nicht geklärt sind, lehnt die AfD-Fraktion diese Anträge ab. Vielen Dank. ({8})

Falko Mohrs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004824, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was haben wir eben in der Aussprache gelernt, Herr Chrupalla? Die AfD hat offensichtlich nicht nur ein Gesellschafts- und Menschenbild von 1930, sondern auch ein Wirtschaftsbild von 1930. Mehr ist dazu nicht zu sagen. ({0}) Wir haben auch gelernt – und das ist gut –, dass Ihre Kandidaten wieder nicht gewählt wurden. Vielen Dank an das Haus an dieser Stelle. ({1}) Kommen wir zum Antrag: Toller Titel, ({2}) hoher Anspruch, keine Hilfe. So würde ich den Antrag am Ende zusammenfassen. Er zeigt auch die Inkonsistenz von dem, was Sie hier eigentlich fordern. Erinnern wir uns einmal an die gestrige Sitzung des Wirtschaftsausschusses: Da mussten wir feststellen, dass Sie einen Antrag nach dem anderen vorgelegt haben, um die Mittel im Innovationsbereich herabzusetzen, wahrscheinlich einmal quer durch die Bank, immer mit der Begründung, da sei ja in der Vergangenheit zu wenig abgeflossen. Wer Innovationspolitik mit dem Blick nach hinten machen will, der sollte an dieser Stelle wirklich nicht versuchen, zukunftsgerichtete Anträge zu formulieren. Dass Sie in Ihrem Antrag schreiben, Sie wollten den Mittelstand stärken, aber genau die Mittel für ihn kürzen wollen, ist schon etwas schwierig. ({3}) Dann recyceln Sie mal wieder Ihre Idee der Freiheitszonen. Diesmal sollen es digitale sein. Wir haben uns daran gewöhnt. Ansonsten wollen Sie vor jeder Landtagswahl eine Freiheitszone da einführen, wo gerade gewählt wird. In Wahrheit geht es Ihnen immer darum, eine Spirale nach unten bei den Sozialstandards durchzuführen. Ich habe es Ihnen mehrfach gesagt: Das ist mit uns nicht zu machen. ({4}) Ihr Antrag ist ein bisschen kompasslos. Das wundert mich nicht unbedingt; Sie haben damals ja noch nicht mal den Weg nach Jamaika gefunden. Vielleicht haben Sie deswegen auch die Phantomschmerzen. Aber, wie gesagt, der Antrag hilft uns nicht weiter. ({5}) Wenn wir über Industrie 4.0 sprechen, ist festzuhalten, dass das ja quasi eine deutsche Erfindung ist. Wir haben immer gesagt: Wir wollen bei der Innovation unserer Industrie darauf setzen, dass wir eine gute, eine starke Industrie haben, die sich weiterentwickelt. Also das Gute behalten, das Gute weiterentwickeln, das Gute fördern, und daraus wird auch gute Zukunft. Also Aufbauen auf unseren Stärken, Vernetzung in Echtzeit – darum geht es doch bei Industrie 4.0. Deswegen ist es wichtig, dass wir als Bundesregierung in dem Bereich von Innovationen und Zukunftspolitik Dinge vorgelegt haben. Wir arbeiten beispielsweise an der Forschungsförderung; da werden die Beratungen jetzt auch intensiviert werden. Wir arbeiten im Bereich der digitalen Ökosysteme intensiv daran, wie wir die Bedingungen für Start-ups verbessern können. Wir arbeiten mit unserem Zentralen Innovationsprogramm Mittelstand daran, dass die Innovationen auch in die Industrie gebracht werden. Wir arbeiten beispielsweise bei der Frage der Qualifizierung von Fachkräften daran, wie wir es über die gesamte Bildungsbiografie schaffen – und zwar angefangen von der Digitalisierung in der Schule über die Berufsausbildung, über das Studium, aber auch mit Dingen wie dem Qualifizierungschancengesetz –, die Qualifizierung der Fachkräfte auf dem neuesten Stand zu halten. Das, meine Damen und Herren, ist wirklich zukunftsweisende Industriepolitik. Damit werden Grundlagen dafür gelegt, dass wir es schaffen, unsere Stärken der Industrie zu nutzen, auszubauen und in eine wirklich digitale Zukunft zu führen. Sie fordern ja – ich nenne es noch mal kurz zur Einordnung – in Ihrem Antrag auch, dass sämtliche Einnahmen der Frequenzversteigerung nur noch für die digitale Infrastruktur ausgegeben werden sollen. Damit schwächen Sie beispielsweise den DigitalPakt Schule und nehmen einem wichtigen Bildungsbereich Gelder weg, der aber eben diese Gelder für Innovation und Digitalisierung braucht. Unsere Vorstellung ist eine andere. ({6}) Wir wollen die Infrastruktur ausbauen. Wir haben im 5G-Bereich unsere Modellregionen. Wir haben in Wolfsburg eine, und ich hoffe, dass wir im ländlichen Raum, beispielsweise in Helmstedt, eine bekommen. So gestalten wir Zukunft, und zwar statt mit Ihren Elfenbeinanträgen mit wirklicher Praxisorientierung. Herzlichen Dank, meine Damen und Herren. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Kollege Alexander Ulrich ist der Nächste für die Fraktion Die Linke. ({0})

Alexander Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003858, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Industrie in Deutschland steht wahrlich vor großen Herausforderungen. Wir haben eine abschwächende Konjunktur. Wir haben Handelsschwierigkeiten, die die Industrie bemerkt. Wir haben Veränderungen durch die zukünftige Entwicklung der Automobilindustrie. Wir haben im Stahlbereich Probleme. Wir haben die Klimafrage, die zu vielen Unsicherheiten in einem sehr wichtigen Industriezweig führt, an dem sehr viele Arbeitsplätze hängen. Man kann sagen, dass die deutsche Industrie systemrelevant ist für das, was in Deutschland passiert. Deshalb, glaube ich, ist es dringend notwendig, mehr als in der Vergangenheit über Industriepolitik zu reden und Industriepolitik auch wieder zu betreiben. Das, was die Bundesregierung bisher angeboten hat, ist wahrlich zu wenig. Es gibt zwar ein Papier des Wirtschaftsministers, der aber noch nicht einmal die Zustimmung von seiner eigenen Fraktion bekommt. Seitdem ist zu wenig passiert. Wir als Linke sagen deutlich: Wir brauchen gerade in dieser unsicheren Zeit einen aktiven Staat, der Industriepolitik tatsächlich auch umsetzt – durch Maßnahmen, durch Investitionen in den sozialökologischen Umbau, durch Investitionen in Forschung, Entwicklung und Innovation. Dafür muss auch die schwarze Null infrage gestellt werden. ({0}) Anders als die FDP, die mit ihrem Antrag wieder mal nur Unternehmensinteressen verfolgt, sagen wir als Linke: Gegen technischen Fortschritt wollen wir uns gar nicht wehren. Technischer Fortschritt macht Sinn. – Wir sagen aber deutlich: Technischer Fortschritt muss auch zu sozialem Fortschritt führen. Das, was in der Industrie passiert, die Sprünge, die in der Produktivität gemacht werden können, dürfen nicht nur einseitig bei den Unternehmen, bei den Aktionären landen, sondern sie müssen auch einen Mehrwert haben für die Beschäftigten in Form von Qualifizierung, in Form von höheren Einkommen und möglicherweise auch in Form von weniger Arbeitszeit. ({1}) Interessant ist Ihr Antrag deshalb auch aus dieser Perspektive, weil Sie eigentlich immer fordern – auch im Ausschuss bei den Abstimmungen; mein Vorredner hat auf die gestrige Sitzung hingewiesen –: Der Staat soll sich aus der Industriepolitik raushalten. – Jetzt legen Sie als FDP einen großen Antrag vor und sagen wie immer, der Markt werde schon alles regeln. Wir sagen deutlich: Der Markt wird in der Zukunft sicherlich nicht alles regeln. Deshalb brauchen wir gerade den Staat und auch eine Bundesregierung, die aktiver wird, als es in der Vergangenheit der Fall war. ({2}) Aber was machen Sie natürlich wieder? Wofür die FDP einen aktiven Staat will – dafür benutzen Sie auch dieses Thema wieder –, ist der Abbau von Arbeitnehmerrechten. Sie wollen an das Arbeitszeitgesetz und an die Ruhezeiten. Sie wollen im Prinzip, dass der Beschäftigte in der digitalen Welt rund um die Uhr erreichbar ist. Wir sagen: Hände weg vom Arbeitszeitgesetz! ({3}) Das jetzige Arbeitszeitgesetz ist auch in der digitalen Welt anwendbar. Wenn es um Fachkräfte geht, wird immer wieder der Fachkräftemangel herbeigeredet und gesagt, dass wir auch Zuwanderung in den Arbeitsmarkt brauchen. Alles gut und schön, aber ich sage Ihnen ganz ehrlich: Wer gute Fachkräfte will, muss auch in der digitalen Arbeitswelt dafür sorgen, dass diese Arbeitsplätze von guter Arbeit geprägt sind, von Mitbestimmung geprägt sind und von Tarifverträgen geprägt sind. Wenn man das vorweist, findet man auch in der digitalen Welt gute Fachkräfte. ({4}) Ich komme zum Schluss. Sie werden mit Ihrem Antrag in diesem Hohen Haus wahrscheinlich keine Mehrheit finden, ({5}) auch weil er ein Sammelsurium ist, eigentlich nichts aussagt. Wir werden sehen, ob Sie den Antrag im Ausschuss noch zur Disposition stellen und ob wir es dort überhaupt diskutieren. Aber noch einmal, liebe FDP: Ich glaube, Sie müssen sich entscheiden, ob der Markt alles regeln soll oder ob wir einen aktiven Staat brauchen. ({6}) Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Wir müssten eigentlich als Opposition gemeinsam diese schwache Bundesregierung antreiben. Denn industriepolitisch kommt von Herrn Altmaier viel zu wenig, und auch von der Bundesregierung und aus den Koalitionsfraktionen kommt viel zu wenig. Wir brauchen mehr Investitionen, wir brauchen mehr allgemeinverbindliche Tarifverträge, wir brauchen auch viel mehr gute Arbeit und eine Ausweitung der Mitbestimmung über das Betriebsverfassungsgesetz. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Kollege Dieter Janecek ist der nächste Redner für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dieter Janecek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004312, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Herr Chrupalla, ich habe gerade im Internet über eine Suchmaschine, die es auch auf Deutsch gibt, nachgeschaut, ob die AfD sich mal zum Thema „Smart City“ verhalten hat. Das hat sie diverse Male getan. Herr Brandner hat sich dafür eingesetzt, die Landtagsfraktion in Schleswig-Holstein hat sich dafür eingesetzt. Kommen Sie also ein bisschen runter mit der Emotion bei der Verwendung solcher Begriffe! Wenn Sie Joe Kaeser zitieren, dann sollten Sie auch zitieren, dass er sagte: Die AfD ist ein Risiko für den Standort Deutschland. – Das ist ein Zitat von ihm. ({0}) Sie haben ihn mehrfach zitiert. Insofern Glückwunsch zu dieser Konnotation, die Sie herstellen konnten. Jetzt komme ich zu Ihnen, Herr Houben: Smart Germany, Smart Cities, Smart Home, Smart Automotives – die FDP will gerne smart schreiben; das ist auch okay. ({1}) Die Frage ist, ob dann auch die Anträge smart – oder ich würde sagen: schlau – sind. Ich sage Ihnen vorweg: Es gibt eine ganze Reihe von Forderungen in diesem Antrag, bei denen wir mit Ihnen übereinstimmen. Das gilt beispielsweise für die Schwerpunktsetzung auf die Standardisierung und die Forderungen, auf europäischer Ebene Rahmenbedingungen zu schaffen, das Thema „Künstliche Intelligenz“ voranzutreiben und die Forschungsförderung auf den Mittelstand und die kleinen Unternehmen auszudehnen. Aber beim Innovationsbegriff gibt es Unterschiede zwischen uns. Ich glaube nicht, dass allein Digitalisierung der wesentliche Fortschritt ist, sondern das kann sie nur sein, wenn sie in ein anderes Thema eingeordnet wird, nämlich die Ressourcenschonung, die Energiewende, also letztlich in die Frage, wie wir klimaschonend wirtschaften können. Das haben Sie in Ihrem Antrag, der immerhin acht Seiten umfasst, nicht erwähnt, und die Frage ist, warum Sie das nicht erwähnt haben. Denn man könnte auch auf den Gedanken kommen – und das wäre in den letzten Wochen auch eine Möglichkeit für die Bundesregierung gewesen –, zu sagen: Zusammen mit einer sehr innovativen ökologischen Rahmenpolitik, mit der Wirtschaftspolitik und der Digitalisierung machen wir Industrie 4.0 zu einem Leitthema und helfen damit, dass wir bei ressourcenschonenden Technologien an die Weltspitze kommen. Das fehlt aber in Ihrem Antrag. ({2}) Ausgerechnet Herr Chrupalla hat auf das Thema Energie hingewiesen. Aber ich glaube, der Kontext war etwas anders als bei uns Grünen. Seine Idee war sinngemäß, als Antidigitalisierungspartei zu sagen: Wozu brauchen wir eigentlich Digitalisierung? Gerade in Bezug auf den ländlichen Raum ist das, finde ich, eine seltsame Ansicht, die Sie da vertreten. ({3}) Sie versuchen ja immer, für den kleinen Mann einzutreten. Wollen Sie also Ihren Leuten vor Ort sagen, dass man keinen Breitbandausbau und keine digitale Infrastruktur braucht? Das ist nicht die Lösung, aber die Frage, wie wir den steigenden Energiebedarf in Zukunft decken können, ist ja relevant, ({4}) und auch diese Frage muss man beantworten, wie übrigens auch eine weitere Frage. Wenn wir Prognosen zufolge im Jahr 2021 durch die Digitalisierung 50 Milliarden Endgeräte haben, dann reden wir auch in metallurgischer Hinsicht – Stichwort „Seltene Erden“ – über eine ganze Menge an neuen Ressourcen, die wir brauchen werden. Wir müssen uns auch fragen, wie wir das verträglich hinbekommen. Denn wir haben bereits eine Klimakrise, und wir wollen sie nicht durch die Digitalisierung verschärfen. Wir wollen Digitalisierung, Industrie 4.0 dafür nutzen, um zu Lösungen zu kommen. ({5}) Ein Punkt, in dem wir mit Ihnen einig sind, Herr Houben, ist das Thema IT-Sicherheit. Hier sorgt leider der Vorratsdatenspeicherminister Horst Seehofer dafür, dass wir bei der Ende-zu-Ende-Verschlüsselung nicht vorankommen. Ich glaube, es wäre eine Standardsetzung, die wir brauchen könnten, dass wir in Deutschland sichere Infrastrukturen schaffen und sagen: Wir wollen auch beim Vertrauensschutz die Nummer eins sein. Das haben Sie richtig formuliert. Beim Thema „europäische Cloud“ ist Herr Altmaier mit Gaia-X nach vorne gegangen. Ich weiß noch nicht, was das ist, aber es klingt erst mal besser als der KI-Airbus, den er sonst immer vorangeschoben hat. ({6}) Ich glaube, selbst in der SPD gibt es da leichte Zustimmung, auch wenn sie nur verschämt ist. Die Frage wird einfach sein: Kommen wir in der deutschen Wirtschaft und der deutschen Industrie aus den Datensilos heraus, und schaffen wir es, zu Kooperationen zu kommen, am besten auf einer treuhänderisch fairen Basis? Denn ich glaube, man kann das nicht dem Markt alleine überlassen, sonst machen die Amazons dieser Welt das Geschäft. Das machen sie zurzeit ohnedies schon. Von der Qualität her, muss man sagen, sind sie da momentan führend. Aber unsere Aufgabe muss es sein – und da unterstützen wir Sie auch bei Ihrem Anliegen –, dieses Thema auf die Ebene zu heben, dass wir selber führend sind. Und wenn wir Klimakrise und Digitalisierung zusammen denken, dann wird etwas daraus. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. – Der nächste Redner: der Kollege Hansjörg Durz, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Hansjörg Durz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004264, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen von der FDP, zu Beginn möchte ich Sie erst mal loben. Denn gleich zweimal in Ihrem Antrag darf ich lesen, dass Ihre Forderungen allenfalls im Rahmen der verfügbaren Haushaltsmittel umgesetzt werden sollen. Diese Unterstützung für die schwarze Null freut mich, und die staatsmännische Verantwortung, die Sie damit zeigen, umso mehr. Denn den vorangegangenen Anträgen Ihrer Fraktion durfte ich stets entnehmen, dass Sie Ihre Ideen und Förderungen im Bereich der Digitalwirtschaft mit Geldern aus dem Verkauf der Staatsanteile an Post und Telekom finanzieren wollen. Ich gratuliere Ihnen, dass ein Umdenken stattgefunden hat. Schön, dass Sie unser Tafelsilber nicht mehr verscherbeln wollen. ({0}) Und weil loben viel mehr Spaß macht, als nur zu kritisieren, will ich damit gleich weitermachen. Denn die Ideen und Vorschläge Ihres Antrags können sich in der Tat sehen lassen. Mehr noch: Viele davon klingen sogar richtig gut – so gut, dass sich dem geneigten Leser die Frage stellt, ob sie nicht schon mal irgendwo gehört wurden. Woran mag das liegen? Vielleicht daran, dass kaum eines der Projekte, die Teil dieses Maßnahmenpotpourris sind, wirklich neu oder gar innovativ ist. Das merkt man allein schon an den Formulierungen: Wer eine umfassende Innovationsoffensive fordert und gleich danach mit Worten wie stärken, nachbessern, ausweiten und verstetigen um sich schmeißt, der muss zugeben, dass er vieles, was diese Bundesregierung macht, zumindest im Grundsatz aus tiefstem Herzen begrüßt. ({1}) Beim Blick auf die einzelnen Maßnahmen wird das umso klarer. Beispiel Nummer eins: Die FDP fordert eine transparente Erfolgskontrolle zur Hightech-Strategie. Transparenz ist gut, Erfolgskontrolle auch. Ich bin sicher, dass Sie sich bei dieser Forderung ein Beispiel an einem anderen Projekt der Bundesregierung genommen haben. Denn ein im Internet zugängliches Dashboard wird die Abarbeitung der Umsetzungsstrategie sichtbar und nachvollziehbar machen, und zwar jeden einzelnen der über 500 Umsetzungsschritte der Digitalisierung. Es ist in der Tat überlegenswert, dieses von der Bundesregierung entwickelte Instrument auf andere Bereiche zu übertragen. Wir sehen: Die FDP zeichnet nach, was die Bundesregierung vorgelegt hat. ({2}) Beispiel Nummer zwei: Die FDP wünscht sich Experimentierräume, damit sich Innovationen entfalten können. Diese sind nicht nur in der neuen Blockchain-Strategie enthalten, sondern die Bundesregierung hat bereits im Juli dieses Jahres ein Handbuch für die Etablierung von Reallaboren veröffentlicht, das jeder Region, jeder Kommune, jedem Bürger und sogar der FDP zur Verfügung steht. Auch hier lernen wir: Die FDP will, was die Bundesregierung macht. ({3}) Beispiel Nummer drei. Die FDP bittet in ihrem Antrag darum, dass die Bedürfnisse der Industrie beim Ausbau digitaler Infrastruktur besonders berücksichtigt werden. Mit Blick auf die Auktion der 5G-Frequenzen darf ich feststellen: Genau das tun wir. Indem wir lokale Frequenzen eigens für Unternehmen reserviert haben, geben wir als eines der ganz wenigen Länder auf der Welt Firmen die Möglichkeit, eigene 5G-Netze aufzubauen. Hier gilt: Während die FDP noch fordert, setzt die Regierung bereits um. ({4}) Beispiel Nummer vier. Die FDP will, dass Europa seine digitale Souveränität erhält. In bestimmten Bereichen würde ich sagen: Wir müssen sie erst einmal wieder schaffen. Dass ein europäisches Angebot an Cloud-Anbietern nötig ist, kann ich nur bekräftigen.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Reinhard Houben?

Hansjörg Durz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004264, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Können wir am Ende machen. Ich will das gedanklich zu Ende bringen. Wir sind gerade bei dem Thema Cloud-Anbieter. Gaia-X wurde erwähnt. Falls Ihnen das noch nicht bekannt ist, ist das kein Problem. Ich bin mir sicher, dass Peter Altmaier Ihnen bei der Vorstellung des Projekts Ende dieses Monats auf dem Digitalgipfel der Bundesregierung ein paar Plätze in den vordersten Reihen reservieren wird. Beispiel Nummer fünf. Die FDP hat die Idee, die Datenschutz-Grundverordnung unter die Lupe zu nehmen. Sie fordert die Bundesregierung auf, zu prüfen, inwiefern die Datenschutzregeln innovationshemmend wirken. Ich kann Ihnen sagen: Das wird diese Regierung tun, allein schon deshalb, weil sie mit europäischen Partnern an der Revision der Datenschutz-Grundverordnung im Jahr 2020 arbeitet. Im Übrigen haben wir darüber hinaus im Rahmen der Kommission Wettbewerbsrecht 4.0 bereits Gedanken eingebracht zu Modellen, die zwei Dinge zugleich schaffen, nämlich mehr Transparenz für Datenemittenten und mehr Möglichkeiten für Unternehmen, an Daten zu kommen. Dieses Modell des Datentreuhändertums scheint der FDP neu zu sein; in ihrem Antrag kommt es zumindest nicht vor. Während die FDP also noch dieses entdecken muss, entwickeln wir die Idee weiter. Liebe Kollegen der FDP, alles in allem ist Ihr Antrag von einer Innovationskraft geprägt, die mit der Chinas vergleichbar ist – jedoch nicht des heutigen Chinas, sondern der Volksrepublik von vor zwanzig Jahren; damals war das Plagiieren das Einzige, worin die Chinesen wirklich gut waren. So ist auch dieser Antrag in weiten Teilen bloß eine Kopie, eine bloße Wiedergabe der Politik dieser Koalition. Danke. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Reinhard Houben.

Reinhard Houben (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004763, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Danke schön, Herr Präsident. – Herr Durz, Herr Knoerig, Sie haben uns jetzt breit erzählt, wie wunderbar die Situation der deutschen Industrie im Moment ist. Herr Ulrich hat dazu ja entsprechende Worte gefunden. Konkret möchte ich nachfragen. Ja, in unserem Papier sind einige Dinge drin, die auch von der Bundesregierung adressiert worden sind. Sie nennen zum Beispiel ganz konkret die Vergabe der 5G-Frequenzen für Unternehmen. Stimmen Sie mir zu, dass es ein Problem ist für die aktuellen Interessenten dieser 5G-Frequenzen, dass sich die Ministerien Wirtschaft und Finanzen über die Höhe der jeweiligen Gebühren für die Vergabe dieser 5G-Frequenzen streiten und sich nicht einigen können? Halten Sie das nicht für eine Maßnahme, die ganz konkret der deutschen Industrie schadet?

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Kollege Durz, Sie können antworten, müssen aber nicht. ({0})

Hansjörg Durz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004264, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Houben, vielen Dank für die Frage. Zunächst: Es sind nicht wenige Punkte, sondern ich habe nur wenige Punkte aufzählen können im Rahmen der Zeit, die übereinstimmen mit den Maßnahmen, die bereits von der Bundesregierung auf den Weg gebracht wurden. Zu vielen der Punkte, die Sie aufgeführt haben, hat die Bundesregierung bereits etwas auf den Weg gebracht. Es ist auch nicht so, dass hier alles nur rosig dargestellt wurde, sondern es wurde an vielen Punkten gesagt: Wir müssen da besser vorankommen. Gaia-X ist ja ein Thema, das vorangebracht wird. Was konkret das Thema Vergabe der lokalen Frequenzen angeht: Da gibt es diese Diskussion, und da bin ich mir sicher, dass innerhalb der Bundesregierung eine Lösung gefunden werden wird, die dazu führt, dass die Unternehmen in Deutschland tatsächlich auch wirtschaftlich vertretbar diese Frequenzen nutzen können und dann eigene lokale Netze aufbauen können. Wir sind eines der ganz wenigen Länder auf der Welt, die tatsächlich diese lokalen Netze zur Verfügung stellen. Das ist, denke ich, wirklich eine hervorragende Leistung. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner: der Kollege Dr. Jens Zimmermann, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Jens Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004603, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das ist eine bekannte Staffel, die mittlerweile quasi als Fortsetzung kommt: smarte Überschriften für schlanke Anträge. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP – es sind keine Kolleginnen von Ihnen da, also: liebe Kollegen –, Sie kommen diese Woche mit einer ganzen Reihe von Anträgen, alles unter einer großen Überschrift. Das ist erst einmal eine gute Idee. Ich habe mich gefragt: Wie schaffen Sie es eigentlich – wer ist da so fleißig? –, so viele Anträge zu produzieren? Haben Sie quasi ein internes Digitalministerium? ({1}) Aber man stellt bei Ihren Anträgen immer wieder fest: Alles schon mal da gewesen, nicht wirklich viel Neues drin, im Prinzip immer nur ein neuer Mix aus bekannten Forderungen. Ich will aber auch sagen: Ganz viele Forderungen sind dabei, denen wir uns auch anschließen, viele vernünftige Forderungen sind mit drin. ({2}) – Da können Sie sich gerne selbst beklatschen. – Aber wir wollen ja hier vorankommen. Deswegen hilft es nichts, wenn wir alle vier Wochen die gleichen Anträge nur mit einer neuen Überschrift von Ihnen präsentiert bekommen. Weil Sie das Thema Frequenzen angesprochen haben: Da ist Ihr Antrag irgendwie widersprüchlich. Auf der einen Seite dürfen diese Frequenzauktionen um Gottes Willen nicht zu viel erlösen. Gleichzeitig haben Sie jede Menge Vorschläge, wofür die Erlöse ausgegeben werden sollen, vor allem – das ist Ihr einziger Vortrag zum Thema Breitbandinfrastruktur – möchten Sie, dass Gutscheine verteilt werden. Das ist ein System, das es gibt; aber das ist jetzt auch nicht wirklich ein Durchbruch. Eigentlich wollen Sie ja gar nicht, dass mit den Auktionen Geld eingenommen wird. Man muss natürlich auch sagen: Die Erlöse der Frequenzauktion fließen in den Digitalpakt. Wo investieren wir? Das geht doch komplett in die Infrastruktur. Sie werden mir zustimmen, dass digitale Infrastruktur in den Schulen genau im Sinne Ihres Antrags ist, meine Damen und Herren von der FDP. ({3}) Sie müssen sich anschauen, was die Bundesregierung und die Fraktionen schon gemeinsam auf den Weg gebracht haben mit der KI-Strategie, mit der Umsetzungsstrategie Digitalisierung, mit der Blockchain-Strategie. Sie sprechen zu Recht das Thema Fachkräfteweiterbildung an. Aber eine Lösung, was eigentlich getan werden soll, präsentieren Sie in Ihrem Antrag nicht. Wir haben Hubertus Heil in der Debatte zuvor gehört: Wir haben eine Nationale Weiterbildungsstrategie. Wir arbeiten an dem Arbeit-von-morgen-Gesetz, das genau die wirtschaftlich schwierige Situation adressiert und die Frage stellt: Wie können wir da für die Digitalisierung etwas herausholen, nämlich zusätzliche Fachkräfte? Das alles machen diese Bundesregierung und die Koalition bereits, und das geht, muss ich wirklich sagen, weiter als alles das, was in Ihrem Antrag steht, meine Damen und Herren von der FDP. ({4}) Worüber ich mich wirklich gewundert habe: In Ihrem Antrag stehen viele handwerklich vernünftige Dinge, aber wir reden doch über Industrie 4.0, und bei Industrie 4.0 sind der Kern der ganzen Geschichte die Daten, der Umgang mit den Daten. Ja, Sie haben etwa über Schnittstellen und über Standards geschrieben; aber das ist ja so klein, das ist ja mikroskopisch in diesem Antrag. Dabei sind Daten doch der Kern der Sache. Entscheidend dafür, ob wir bei Industrie 4.0 erfolgreich sind, ist doch, dass wir den großen Datenschatz, den vor allem der Mittelstand in Deutschland aktuell hat, gemeinsam heben. Einfach nur in einen Antrag zu schreiben, wir müssen die DSGVO schleifen, ({5}) das ist irgendwie schachbrettartig, meine Damen und Herren von der FDP. Wenn ich mir also Ihren Antrag anschaue, dann muss ich sagen: Ich freue mich schon auf die Debatte morgen; da kommt ja noch mal ein ganzer Stoß von Anträgen von Ihnen. Ich hoffe, dass die KI, die bei Ihnen die Anträge zusammenstellt, da ein bisschen kreativer war. Für die SPD kann ich ganz klar sagen: Es ist wichtig, dass wir diesen Wandel in der Industriegesellschaft fair gestalten und dass wir ihn auch im Sinne der Beschäftigten gestalten. Davon, meine Damen und Herren von der FDP, ist in Ihrem Antrag erst recht nichts zu sehen. Herzlichen Dank. ({6})

Klaus Peter Willsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003264, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Liebe Zuschauer, auch an den Bildschirmen! Heute also beraten wir in erster Lesung über das Dritte Bürokratieentlastungsgesetz. Was lange währt, wird irgendwann gut, sagt ja der Volksmund. Wir hätten uns noch ein bisschen mehr gewünscht; aber das, was wir erreicht haben, ist ein gutes Stück des Weges. Wenn der Staat regulierend eingreift, wenn er Bürokratie aufbaut – wir haben ja keinen Mangel an Verwaltung oder Bürokratie, sondern eher ein Übermaß –, dann ist er rechenschaftspflichtig und muss sagen, warum er das tut. Die Regulierung muss einen Mehrwert haben, der über das Kujonieren der Bürger hinausgeht; sie muss wirklich sinnvoll sein. Wir haben uns das deshalb im Koalitionsvertrag vorgenommen. Wir wussten: Es wird ein harter Weg. Wenn man übermäßige Regulierung und Bürokratie abbauen will, ist es oft so, dass sich zwar grundsätzlich alle einig sind, aber sich dennoch Widerstand aufbaut, nicht nur von den Menschen, die die Paragrafen sozusagen verkörpern, weil sie selbst darin ihren Lebenszweck sehen, diese oder jene Statistik zu führen, sondern häufig auch von uns aus der Politik; denn bei Evaluierungen von Vorhaben muss man natürlich Daten erheben. Es ist für mich ein Faszinosum, dass ich in etwa gleichem Umfang einerseits von Bürgern angesprochen werde, die sagen: „Das kann doch nicht sein, dass das nicht geregelt ist, dass es hier so und da anders ist. Das müsst ihr doch mal regeln“, und andererseits von Bürgern gefragt werde: Muss man das denn auch noch regeln? Ist das nicht zu viel? Haben wir nicht zu viel an Regulierung? Wir glauben, wir haben zu viel, und wollen das, was möglich ist, in dieser Koalition möglich machen. Wir haben den Gesetzentwurf auf dem Tisch. Ich will dem Bundeswirtschaftsministerium, das das Thema mit frischem Wind angegangen ist, ganz herzlich danken, nicht nur dem Minister, sondern auch den vielen Rädchen auf der Arbeitsebene rund um Frau Dr. Kollmann und ihrem Team. Was wir erreicht haben, kann sich sehen lassen. Immerhin entlasten wir die Wirtschaft um gut 1,1 Milliarden Euro. Wie gesagt, das eine oder andere, das wir jetzt nicht konsentieren können, muss man dann eben im Bürokratieentlastungsgesetz IV machen. Das bleibt sicher eine Aufgabe. „Schluss mit der Zettelwirtschaft!“, so könnte man den Gesetzentwurf überschreiben. Wir haben zunächst die Digitalisierung des gelben Zettels, der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, auf den Weg gebracht und damit eine erhebliche Entlastung für Wirtschaft wie auch für die Bürger geschaffen. Mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz von Jens Spahn haben wir bereits zum 1. Januar 2021 ein elektronisches Verfahren zur Übermittlung der Arbeitsunfähigkeitsdaten durch die Ärzte an die Krankenkassen eingeführt. Das wollen wir jetzt mit dem BEG III erweitern. Die Krankenkassen müssen eine Krankmeldung zum Abruf für die Arbeitgeber erzeugen. Wer krank ist, muss also in Zukunft weder einen gelben Zettel bei seiner Krankenkasse noch bei seinem Arbeitgeber einreichen. Es läuft alles digital im Hintergrund. Wer die Grippe hat, kann direkt nach dem Arztbesuch nach Hause gehen und muss nicht erst noch zur Post. Das ist ein Fortschritt, den wir an dieser Stelle erreichen. Wir reden von 77 Millionen gelben Zetteln, die es in Zukunft nicht mehr braucht. Das alleine entlastet die Bürger sowie die Wirtschaft jeweils um eine halbe Milliarde Euro. Das ist eine stolze Summe. Ich glaube, jeder hat schon einmal die folgende Situation erlebt – unser tourismuspolitischer Sprecher, Paul Lehrieder, wird nachher noch mehr darüber sagen –: Übernachtung im Hotel – man muss erst mal einen Meldezettel ausfüllen und warten, bis man dran ist. Das Hotel muss den Zettel ein Jahr lang aufbewahren, ihn dann aber aus Datenschutzgründen zuverlässig vernichten und, und, und. Ich bin Horst Seehofer dankbar, dass wir hier einen wesentlichen Schritt ins 21. Jahrhundert machen konnten. Wir werden das Verfahren mit der Digitalisierung deutlich vereinfachen und die bislang notwendigen circa 150 Millionen Meldescheine pro Jahr damit überflüssig machen. ({0}) „Schluss mit der Zettelwirtschaft!“ hätte ich persönlich auch gerne bei den Aufbewahrungsfristen im Steuer- und Handelsrecht gesagt. Aber da konnten wir trotz Steilvorlage vom Bundesrat noch keine Übereinstimmung erzielen. Die Verkürzung der Frist bei der Aufbewahrung von zehn auf acht Jahre würde den Fiskus nur 200 Millionen Euro kosten, aber die Wirtschaft um 1,7 Milliarden Euro entlasten. Dass wir das liegen lassen, kann ich nicht verstehen. Mein Appell geht an die Kollegen in der Koalition, dass wir darüber noch einmal intensiv nachdenken; denn das ist ein Hebel, den man heutzutage nicht mehr an vielen Ecken findet, um eine solche Entlastung auf den Weg zu bringen. Was wir geschafft haben, ist, die Frist für die Vorhaltung von Datenverarbeitungssystemen für steuerliche Zwecke von zehn auf fünf Jahre zu verkürzen. Da hat sich auch schon so mancher gefragt, weshalb man denn ständig seinen alten, eigentlich nicht mehr genutzten Computer updaten muss, nur damit die Finanzverwaltung glücklich ist. Da haben wir jetzt zumindest eine Halbierung der Frist, und man kann nach Ablauf der Frist die Daten auf einem USB-Stick speichern und die Sache damit erledigen. Eine echte Erfolgsgeschichte ist – um das als letzten Punkt hervorzuheben – die gemeinsame Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Bereinigung und Reduzierung von Statistikpflichten. Da ist wirklich gut gearbeitet worden. Es hat sich gezeigt – das habe ich eben schon angedeutet –: Für jede Statistik – sie ist immerhin mal eingeführt worden – gibt es irgendeinen Grund. Man will beispielsweise wissen, wie viel Zuwachs es im Baumbestand gibt und was in Thüringen anders ist als in Hessen oder in Sachsen. Es gibt immer Ausforschungswünsche und Bedarf, Dinge zu wissen. Aber was uns am meisten stört – das geht auch mir persönlich so –, ist, wenn man von verschiedenen Dienststellen ständig das Gleiche gefragt wird und immer wieder das gleiche blöde Formular ausfüllen muss, in das man zum wiederholten Male seine Kinder eintragen muss – bei mir sind es fünf; es dauert deshalb besonders lange. Man fragt sich dann schon, warum sie einem nicht den Datenbestand, den sie eh schon haben, vorgedruckt zuschicken können. Als ich gefragt wurde, ob alle meine Kinder noch bei mir wohnen – meine Kleine war damals drei Jahre alt –, habe ich mir gedacht, ich müsste eigentlich mal zurückschreiben: Nee, sie ist gestern ausgezogen. ({1}) Da greift man sich wirklich manchmal an den Kopf, wenn man solche Erlebnisse hat. Wir haben mit der Registermodernisierung, mit dem Basisregister, das angelegt werden soll, einen wesentlichen Schritt auf dem Weg zum Once-Only-Prinzip gemacht, also dass Bürger und Unternehmen nur an einer Stelle ihre Daten abgeben müssen. Die Behörden können dann untereinander darauf zugreifen; damit werden Mehrfachabfragen erspart. Der Bundesrat hat uns in seine Stellungnahme noch ein paar schöne Dinge hineingeschrieben, die wir uns noch einmal sorgfältig anschauen sollten, Frau Kollegin Poschmann. Er hat gesagt, wir sollten die Grenze für die geringwertigen Wirtschaftsgüter von 800 auf 1 000 Euro anheben. Das ist etwas, was Menschen schnell merken, was die Spürbarkeit von Gesetzgebungsprozessen erhöht.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, die Zeit ist knapp.

Klaus Peter Willsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003264, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich sehe es. – Zum Schluss weise ich auf die DSGVO hin. Die Europäische Kommission hat uns bescheinigt, –,

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Das können Sie im Ausschuss alles beraten.

Klaus Peter Willsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003264, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

– dass wir da „Gold Plating“ betreiben. Wir sollten auch noch einmal darüber nachdenken, ob wir hier nicht eine gefälligere und für die Menschen leichter handhabbare Lösung hinkriegen. Vielen Dank für die Geduld. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die AfD-Fraktion hat das Wort der Kollege Steffen Kotré. ({0})

Steffen Kotré (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004791, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Aufwuchs an Bürokratie ist leider nie geringer geworden, auch mit den vorangegangenen Bürokratieentlastungsgesetzen nicht. Immer dann, wenn ein solches Gesetz kam, ist die Bürokratie ein bisschen gesunken, gleichzeitig kamen aber andere Maßnahmen, die die Bürokratie wieder um ein Vielfaches aufgebaut haben. Ich erinnere an die Dokumentations- und Auskunftspflichten zum Mindestlohn ({0}) oder zum Beispiel an die Energieeinsparverordnung. Herr Willsch, Sie sagen, Sie hätten sich mehr gewünscht. Das kann ich ausdrücklich unterschreiben. Wir hätten uns auch mehr gewünscht, sehr viel mehr. Das ist jetzt nichts Falsches, was die Bundesregierung hier vorgelegt hat; aber es ist enttäuschend, weil es zu wenig ist, ({1}) es nicht tiefgreifend ist und es nur bei Reförmchen bleibt und es eben keine Reformen sind. ({2}) Nehmen wir uns die einzelnen Themen vor. Die Regelungen im deutschen Baurecht sind mittlerweile total ausgeufert. Nachweispflichten schießen wie Pilze aus dem Boden, man muss Sachverständige hinzuziehen. Bund, Länder und Kommunen schaffen immer mehr Auflagen und erhöhen die Abgaben. Auch die technischen Anforderungen steigen. Klima- und der Energiesparwahn tun ihr Übriges. Infolgedessen ist unser Land ein Stück weit unsozialer geworden. Die Kosten für die eigengenutzte Immobilie haben sich gegenüber dem durchschnittlich zur Verfügung stehenden Einkommen deutlich erhöht. Damit verhindert die Bundesregierung die Schaffung von Wohneigentum. Das verstößt gegen das Sozialstaatsprinzip im Grundgesetz. ({3}) Schauen wir uns andere Themenfelder, zum Beispiel das Steuerrecht, an. Gerade die Regelungen im Steuerrecht sind ausufernd. Es stellt sich zum Beispiel die Frage, warum denn die Gewerbesteuer noch nicht abgeschafft ist. Ihre Funktion kann doch die Einkommensteuer sehr gut mit übernehmen. Warum leisten wir uns die Gewerbesteuer noch als einen deutschen Sonderweg? Andere Staaten haben sie schon längst abgeschafft. Stichwort: „EU“. Von der EU kommt in Sachen Bürokratie nichts Gutes. Die EU-Gesetzgebungsmaschinerie spuckt andauernd neue Verordnungen und Richtlinien aus. Mittelständlern fehlen einfach die Kapazitäten und auch die Expertise, um den Anforderungen entsprechend nachzukommen. Diverse Informations- und Dokumentationspflichten in vielen Themenbereichen ufern aus. Das betrifft zum Beispiel das Kaufrecht, das Verbraucherrecht oder das Umweltrecht, um nur einige zu nennen. Für diesen Papierkram muss immer mehr Arbeitszeit aufgewendet werden. Im Zusammenhang mit der EU möchte ich auch die Ökodesign-Richtlinie nennen, mit der uns vorgeschrieben werden soll, bestimmte Produkte nicht mehr zu kaufen. Wir müssen die Axt radikal an die Wurzel der Bürokratie legen, meine Damen und Herren ({4}) Hochgradig lästig sind auch Forderungen in Bezug auf die sogenannte Diversity-Policy. Unternehmen müssen Erklärungen zu Vielfalt abgeben. Das bedeutet nichts anderes als die Einführung von Quoten. Jede Quotenregelung ist aber eine Quotenregelung zu viel. Quotenregelungen haben zur Folge, dass derjenige, der aufgrund der Quote weichen muss, diskriminiert wird. Leistung und Fähigkeit sollten im Vordergrund stehen, nicht eine irrelevante Eigenschaft. Ein ganz wichtiger Punkt betrifft die Ausgestaltung von Planungs- und Genehmigungsverfahren. Das hören wir ständig. Es passiert aber einfach nichts. Planungs- und Genehmigungsverfahren müssen endlich verkürzt werden. Großflughäfen können nur noch in China oder anderswo gebaut werden, aber nicht mehr in Deutschland. Das ist leider so. Wir sind auf das Niveau eines Entwicklungslandes zurückgefallen, meine Damen und Herren. ({5}) Stichwort: „Erhebung von statistischen Daten“. Wenn der Staat von einem Unternehmen die Herausgabe statistischer Daten verlangt, soll er dafür gefälligst zahlen. Das heißt, wir schlagen vor, dass beispielsweise eine DIN-A4-Seite, auf der ein Unternehmen Auskünfte an den Staat, an staatliche Behörden übermittelt, 5 Euro kostet. Diese Summe deckt zwar nicht die Verwaltungskosten des Unternehmens, zeigt aber dem Staat, den Verwaltungen, dass Bürokratie die Unternehmen Geld kostet. Die Verwaltungen müssten in Zukunft sorgsam überlegen, welche Daten sie eigentlich brauchen. Eine solche Regelung würde das Verantwortungsbewusstsein der Verwaltungen stärken. Das sind innovative Methoden, von denen wir noch viel mehr haben müssten. Ich nenne einen Punkt, der bereits angesprochen wurde. Ich frage mich: Warum muss ich bei verschiedenen Behörden immer die gleichen Angaben machen? Wann kommen wir dazu, dass bestimmte Daten nur einmal angegeben werden müssen? Das ist dringend notwendig. Der Datenschutz ist überreguliert. Allein die Datenschutz-Grundverordnung macht den Betrieben erhebliche Schwierigkeiten. Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz ist völlig überflüssig. Wir haben genug Strafgesetze. Weg damit! Es ist mir an dieser Stelle leider nicht vergönnt, noch weiter in die Tiefe zu gehen.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Das stimmt.

Steffen Kotré (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004791, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Das Thema ist so umfassend; man müsste eigentlich noch weiter ins Detail gehen. Ich hoffe, dass die Bundesregierung an diesem Thema dranbleibt und weiter nachlegt. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion hat das Wort die Kollegin Sabine Poschmann. ({0})

Sabine Poschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004377, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein Satz zu Herrn Kotré: Dass Vielfalt nicht Ihr Ding bzw. das der AfD ist, brauchen Sie wirklich nicht zu betonen; das wissen wir alle. ({0}) Jetzt zum Thema Bürokratieabbau: Kürzlich besuchte ich ein mittelständisches Unternehmen in meinem Wahlkreis. Der Inhaber des Unternehmens zeigte mir seinen Aktenschrank, gefüllt mit viel Papier, und fragte mich: Ist das denn alles notwendig? – Andererseits war ich bei einer Zeitschrift zu Gast, die einen Artikel zum Thema „Strategien, wie man den Mindestlohn auf legale Art umgehen kann“ veröffentlicht hat. An diesen beiden Beispielen sehen wir doch, dass wir auf der einen Seite manches regeln, sogar nachregeln müssen, um Menschen zu schützen. Auf der anderen Seite dürfen wir aber die Wirtschaft und die Bürgerinnen und Bürger nicht lähmen. Wir wissen auch, dass sich manches verselbstständigt bzw. mit der Zeit überholt ist. Deshalb haben wir uns selbst diszipliniert. Wir haben 2015 die „One-in, one-out“-Regelung eingeführt und dafür gesorgt, dass wir, wenn wir ein neues Gesetz erlassen, bürokratische Belastungen nur in dem Maße einführen dürfen, wie bisherige bürokratische Belastungen abgebaut werden. Dass das gut funktioniert, wird vom Normenkontrollrat überwacht. Wir können dabei also nicht tricksen, sondern es wird geschaut, ob wir Regulierungen abschaffen. Ich finde, diese Regelung sollte es auch auf europäischer Ebene geben. Wir sollten auf europäischer Ebene eine „One-in, one-out“-Regelung schaffen und einen Normenkontrollrat einrichten. Frau von der Leyen kann das gerne in Angriff nehmen. ({1}) Wir wollen aber mehr als den Status quo. Deshalb bringen wir schon das Dritte Bürokratieentlastungsgesetz auf den Weg. Der wesentliche Bestandteil dieses Gesetzes ist die Digitalisierung. Ich denke, damit kommen wir einen großen Schritt voran. Ich danke den Ministern Scholz und Heil für zwei gute Vorschläge, die in dieses Gesetz Eingang fanden. Dabei geht es einmal um die Digitalisierung von Krankmeldungen; der gelbe Schein entfällt zukünftig. Außerdem geht es um das Register für Unternehmensstandards, in das sich Unternehmen nun nur einmal eintragen müssen. Alle Ministerien können darauf zugreifen. Der dritte wichtige Punkt geht nicht auf einen Vorschlag aus den beiden genannten Ministerien zurück. Die Initiative stammt aus dem Innenministerium. Er betrifft die Möglichkeit der digitalen Meldung von Hotelübernachtungen. Auch hierbei entfällt der Papierkram zukünftig. Hinzu kommen 14 Einzelmaßnahmen. Insgesamt sorgen wir damit für eine jährliche Entlastung der Unternehmen um 1,1 Milliarden Euro. Ich denke, das kann sich durchaus sehen lassen. ({2}) Was mit uns Sozialdemokraten allerdings nicht geht, ist ein Aufweichen der Aufschreibung beim Mindestlohn. ({3}) Über 1 Million Beschäftigte bekommen heute immer noch nicht den ihnen zustehenden Mindestlohn. Die Aufweichung der Aufschreibung würde Kontrollen erschweren. Ich finde, ein Umgehen des Mindestlohns darf bei uns kein Kavaliersdelikt sein, sondern muss eine strafbare Handlung bleiben und als solche auch wahrgenommen werden. ({4}) Deshalb muss das genauso bekämpft werden wie Schwarzarbeit; denn das schadet unserer Gesellschaft. Gestern hatte ich ein Treffen mit Vertretern des DGB. Ich fand folgende Idee ganz amüsant: Der DGB könnte sofort – jetzt kommt es – auf den Mindestlohn und auf die Mindestausbildungsvergütung verzichten, wenn wir in diesem Land 100 Prozent Tarifbindung hätten. ({5}) So einfach ist das, muss man sagen. Die Tarifvertragsparteien und vor allem die Innungen sind also aufgefordert, wieder an einen Tisch zurückzukehren. Auch ich hätte natürlich weitere Vorschläge für das Bürokratieentlastungsgesetz, die das Leben der Bürgerinnen und Bürger, aber auch den Alltag der Unternehmen erleichtern könnten. Ich denke da zum Beispiel an die Vereinfachung von Anträgen. Es kann nicht sein, dass man beinahe ein Professor sein muss, um Anträge ausfüllen zu können. Ich denke auch an die Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren. Ich finde, wenn wir den Strukturwandel in überschaubarer Zeit erfolgreich gestalten und Fortschritte beispielsweise beim sozialen Wohnungsbau erzielen wollen, müssen wir Strukturen verschlanken. ({6}) Ein weiterer Bereich betrifft sowohl den Bund als auch die Länder. Deutschland ist Exportweltmeister. Auf der anderen Seite aber gibt es 16 Bundesländer mit zum Teil 16 verschiedenen Regelungen. Ich nenne als ganz einfaches Beispiel den Rauchmelder. Es gibt in den Ländern unterschiedliche Pflichten, ab wann Rauchmelder eingebaut werden müssen oder von wem die Wartung übernommen werden muss. Ich finde, das muss nicht sein. Es muss aber auch nicht alles ins Bürokratieentlastungsgesetz III. Das Finanzministerium digitalisiert gerade den Bereich Zoll, also auch hier Entlastung. Wir müssen also dranbleiben, auch bei neuen Gesetzen Zurückhaltung üben. Im Ruhrgebiet sagt man dazu: So rum wird ein Schuh draus. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. – Der nächste Redner: der Kollege Michael Theurer, FDP-Fraktion. ({0})

Michael Theurer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004914, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Meine Herren Vizepräsidenten! Sehr geehrte, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein Blick auf die Regierungsbank zeigt, welche Bedeutung, welche Priorität die Bundesregierung dem Bürokratieabbau einräumt: Keine! Nicht einmal jedes Ministerium ist hier vertreten und von Titularministerin Staatsministerin Grütters abgesehen sind keine Ressortminister anwesend, wenn ich das aus dem Augenwinkel richtig sehe. Meine Damen und Herren, Bürokratie ist wie eine Hecke. Sie wächst von alleine und muss gelegentlich auf Stock gesetzt werden. Wer heute die Herbstprognose des Bundeswirtschaftsministeriums für die deutsche Wirtschaft anschaut, der muss ja in Sorge sein über den Abschwung. Wir stehen nicht an der Schwelle zu einer Rezession, wir sind mittendrin. Da wäre es an der Zeit und richtig, jetzt gegenzusteuern und die Bürgerinnen und Bürger, die Industrie, die Wirtschaft, insbesondere die kleinen und mittleren Betriebe, die Selbstständigen, die Handwerker, wirklich kraftvoll von Bürokratie zu entlasten. ({0}) Wir haben einen eigenen Antrag eingebracht, der all die Dinge aufzählt, die gemacht werden könnten. Der Gesetzentwurf der Regierung kommt spät. Schon zu Beginn des Jahres haben wir beantragt, dass das BEG III endlich kommt. Die Expertenanhörung ist ein Jahr her. Da hätte mehr passieren können, da hätte mehr passieren müssen. Nachdem führende Wirtschaftsforscher ja jetzt öffentlich staatliche Investitionen fordern und, sehr geehrte Frau Staatssekretärin Ryglewski, auch der Bundesfinanzminister öffentliche Investitionen fordert, sage ich: Nehmen Sie doch mal den Bürokratieabbau als eine Investition in die Leistungsfähigkeit der Verwaltung und der deutschen Wirtschaft. Damit könnte man den Menschen sofort helfen. ({1}) Das vorliegende Gesetz der Bundesregierung müsste im Sprachgebrauch der Bundesregierung aber Tropfen-auf-den-heißen-Stein-Gesetz oder „Kleines-Entlastungsgesetz“ heißen. ({2}) Die meisten enthaltenen Maßnahmen sind ja richtig, wie zum Beispiel die Abschaffung des gelben Krankmeldungsscheins. Allerdings wird das Ganze nur sehr halbherzig angegangen. Sehr geehrter Herr Kollege Durz, Plagiat: Da hat die Regierung Dinge aufgegriffen, die schon lange in FDP-Anträgen drinstehen. ({3}) Zu wenig und zu spät, meine Damen und Herren! Es fehlt die Verkürzung der Aufbewahrungsfristen für steuerrelevante Unterlagen. Es fehlt die Garantie zeitnaher Betriebsprüfungen. Es fehlt eine qualitative und quantitative Weiterentwicklung des Ansatzes „One in, one out“ zu „One in, two out“, und es fehlen zentrale Anlaufstellen für Unternehmensgründungen. Die Digitalisierung der Register ist zwar angesprochen, aber sie ist nicht etatisiert, und sie ist nicht Bestandteil dieses Gesetzes. ({4}) Da kann ich nur sagen: Zu wenig, zu spät! Da ist zu klein gedacht. Wir sollten größer denken. Die Handlungsbedarfe, meine Damen und Herren, hat ja auch Herr Altmaier erkannt – zumindest teilweise. Aber er ist wohl beim Bürokratieabbau im Kabinett genauso umgefallen wie bei der kompletten Abschaffung des Soli. Die wird großspurig eingefordert, aber es wird nicht geliefert, meine Damen und Herren. ({5}) Ankündigungen, Herr Minister Altmaier, reichen nicht aus. Die Entlastung muss beherzt angegangen werden. Am Tag, an dem das Bürokratieentlastungsgesetz III in Kraft tritt, wird bereits das Bürokratieentlastungsgesetz IV notwendig sein. ({6}) Wir fordern an dieser Stelle, dass dringend ein neues Bürokratieentlastungsgesetz auf den Weg gebracht wird; denn das, was Sie hier vorlegen, reicht nicht aus, um die deutsche Wirtschaft aus der Rezession zu holen. Wir wollen die deutsche Wirtschaft aus der Rezession holen. Wir wollen Freiräume schaffen für die Unternehmen, damit sie wieder Arbeitsplätze und Wohlstand sichern können. Vielen Dank. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Theurer. – Als Nächster hat das Wort für die Fraktion Die Linke der Kollege Bernd Riexinger. ({0})

Bernd Riexinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004865, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Im vorliegenden Entwurf erklärt die Bundesregierung den Bürokratieabbau – ich zitiere – zum „Schlüsselthema“ und zum „Kernbestandteil der Mittelstandspolitik“. Ist Ihnen das nicht etwas peinlich angesichts der Konjunkturprognose, die Sie heute veröffentlicht haben? Die aktuelle wirtschaftliche Lage betrachten völlig zu Recht viele Beschäftigte mit Sorge. ({0}) Der Stand der Kurzarbeit ist so hoch wie in der Rezession 2012/2013. Jedes achte Unternehmen im verarbeitenden Gewerbe erwartet in den kommenden Monaten Kurzarbeit. Anstatt Bürokratieabbau als Schlüsselthema breitzutreten, sollte die Bundesregierung glaubwürdige und brauchbare Konzepte vorlegen, wie Arbeitsplätze gesichert werden können. ({1}) Abseits der aktuellen konjunkturellen Lage führen Klimakrise, Digitalisierung und globale Handelskonflikte zu großen Umbrüchen in der Wirtschaft. Das deutsche Exportmodell erweist sich als krisenanfällig und kann nicht einfach so fortgesetzt werden. Allein durch die Umstellung auf Elektromobilität sind in der Automobilindustrie rund 100 000 Arbeitsplätze bedroht. Dies betrifft vor allem mittelständische Zulieferer, zum Beispiel die, die heute Teile für Vergaser herstellen, die künftig in Elektroautos nicht mehr gebraucht werden, oder mittelständische Maschinenbauer. Oft haben diese Unternehmen nicht genügend Kapital, neue Produkte zu entwickeln. Ihre Existenz ist bedroht. Viele Beschäftigte fragen sich zu Recht, ob es ihren Arbeitsplatz und ihren Beruf in fünf oder zehn Jahren noch geben wird und was aus ihnen werden soll, wenn dem nicht so ist. Darauf verdienen die Menschen eine Antwort, und es ist nicht akzeptabel, dass die Bundesregierung hier weitgehend konzeptionslos ist. ({2}) Diesen Mittelständlern und ihren Beschäftigten ist weder mit der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsmeldung noch mit der Erleichterung bei der Vorhaltung von Datenverarbeitungssystemen für steuerliche Zwecke wirklich geholfen. Hier ist aktive Struktur- und Industriepolitik gefordert. ({3}) Wir schlagen zum Beispiel vor, einen Zukunftsfonds einzurichten, der mit 20 Milliarden Euro im Jahr die Transformation gerade der mittelständischen Betriebe ermöglicht. Es geht nämlich um den Erhalt und die Schaffung zukunftsfähiger Arbeitsplätze. ({4}) Es ist an der Zeit, die konjunkturellen Probleme und die strukturellen wirtschaftspolitischen Herausforderungen zusammen anzugehen. Die Bundesregierung muss dringend umsteuern. Der Bund muss mehr in den Ausbau der öffentlichen Infrastruktur investieren, in Bildung, Gesundheit, öffentlichen Personennahverkehr und den Bau von bezahlbaren Wohnungen. ({5}) Statt weiter an dem Dogma der schwarzen Null festzuhalten, muss mit kräftigen Investitionen der Weg zu einer CO2-freien Wirtschaft eingeschlagen werden. Kein Beschäftigter soll sich zwischen Arbeitsplatz und Klimaschutz entscheiden müssen. ({6}) Die Bundesregierung macht den Fehler, abzuwarten, bis sich die konjunkturellen Probleme der vorrangig exportabhängigen Branchen in die gesamte Wirtschaft reingefressen haben. Jetzt muss gehandelt werden. Bringen Sie öffentliche Investitionen auf den Weg für den dringend notwendigen sozial-ökologischen Umbau. Das würde mittelständischen Betrieben, vor allem den Beschäftigten, -

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Bernd Riexinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004865, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

– deutlich mehr helfen als das bisschen Bürokratieabbau, das Sie hier vorgelegt haben. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Claudia Müller, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Claudia Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004830, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Berg kreißte und gebar eine Maus. Das passt leider auch auf diesen Gesetzentwurf. Erst mit großer zeitlicher Verzögerung im Vergleich zu Ihren Ankündigungen und dann plötzlich mit größter Eile vorgestellt, ist der ganze Vorgang vom Misstrauen der Koalitionäre untereinander geprägt. Es gibt hier eine Parallelität in den Abläufen bezüglich des vorletzten Tagesordnungspunktes, dem Gesetzentwurf zum Schutz der Paketbotinnen und Paketboten. Genau diese Kopplung bestimmt das Timing Ihrer Vorgehensweise. Inhalte und übliche Verfahren wurden und werden beiseitegewischt. Nicht nur die Dreitagesfrist, die die Verbände für ihre Stellungnahmen hatten, ist zu kritisieren, sondern auch der Ablauf, den wir nächste Woche sehen werden: Montag die Anhörung, Mittwoch die Behandlung im Ausschuss, und am Donnerstag soll das Ganze dann verabschiedet werden. Das macht vor allen Dingen eines deutlich, nämlich dass Sie nicht gedenken, aus den Anhörungen Hinweise und Anregungen von den Expertinnen und Experten aufzunehmen. Es geht darum, den Gesetzentwurf schnell durchzubringen und immer in Parallelität mit dem Gesetzesvorhaben zur Nachunternehmerhaftung. Ganz ehrlich: Das hat dieses Thema nicht verdient. Erst ewig Zeit lassen und dann diese Eile, das ist dessen nicht würdig. ({0}) Diesem Vorgehen ist auch geschuldet, dass viele gute Vorschläge – nicht nur von uns, sondern von verschiedensten Gremien – den Weg nicht in dieses Gesetz geschafft haben. Nehmen wir zum Beispiel die Abschaffung der Poolabschreibung durch eine Erhöhung der Grenze für die Sofortabschreibung geringwertiger Wirtschaftsgüter auf 1 000 Euro. Das hätte eine tatsächliche Entlastung gebracht und ist übrigens eine Forderung des Bundesrates. Das findet sich leider nicht so in Ihrem Gesetzentwurf wieder. Auch die Höhe der Istbesteuerung wird nicht angefasst. Hier fordert der Bundesrat die Anhebung auf mindestens 600 000 Euro; denn das wäre eine Angleichung an die Buchführungsgrenze. Daran gehen Sie nicht. Wir Grüne haben sogar vorgeschlagen, hier deutlich weiter zu gehen, und haben eine Vervierfachung der jetzigen Summe auf 2 Millionen Euro gefordert. Das hieße, dass insbesondere kleinere Unternehmen mit einem jährlichen Umsatz von bis zu 2 Millionen Euro die Umsatzsteuer erst abführen müssen, wenn sie die Einnahmen tatsächlich haben. Das wäre auch für diese Unternehmen eine Entlastung. ({1}) Schauen wir uns einmal ein paar Punkte an, für die Sie sich besonders feiern: die Digitalisierung der Meldepflicht in Hotels. Grundsätzlich ist Digitalisierung schön, aber nicht immer bedeutet Digitalisierung auch tatsächliche Entlastung. Warum nicht diese Form der Meldepflicht komplett abschaffen? ({2}) Andere europäische Länder sind da deutlich weiter. In diese Richtung können und sollten wir auch gehen. Ein weiterer Punkt: die digitale Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Sie schließen hier eine Lücke – das ist sehr sinnvoll –, die sonst 2021 durch den Gesetzentwurf des Gesundheitsministeriums entstehen würde, der beinhaltet, dass die Ärzte ab 2021 die Bescheinigung digital an die Krankenkassen übermitteln sollen. Dass diese dann an die Arbeitgeber weitergegeben werden soll, ist durchaus eine sinnvolle Idee und klingt nach einer Selbstverständlichkeit. Das wird zum Teil schon praktiziert, zum Beispiel durch die AOK in Bayern. Es ist also nicht besonders innovativ, sondern Sie sind bei diesem Punkt eher etwas spät dran. Dafür ist er nicht ausgearbeitet genug. Die Entlastung wird auch nicht so groß sein, wie Sie es momentan prognostizieren. Das alles gilt nur für die gesetzliche Versicherung. Das heißt, wir werden hier ein doppeltes System bekommen: einmal für die gesetzlichen und einmal für die privaten Versicherungen. Sie können mich jetzt überraschen und ankündigen, dass Sie eine Bürgerversicherung einführen wollen, das bezweifle ich an dieser Stelle aber sehr stark. ({3}) Ganz ehrlich: Die Eile ist hier unnötig; denn Sie haben bis 2021 Zeit. Ein letzter Punkt. Beim Thema Basisregister kündigen Sie in diesem Gesetzentwurf ein zukünftiges Gesetz an, also in einem Gesetz ein Gesetz.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Claudia Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004830, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme gleich zum Schluss.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Ja.

Claudia Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004830, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Was dieses Gesetz vor allen Dingen ist, ist die Ankündigung des Bürokratieentlastungsgesetzes IV, das wir dann hoffentlich in ein paar Jahren sehen werden. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Paul Lehrieder, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich muss zunächst einmal Herrn Theurer ansprechen. Sie sind der Auffassung: Das Gesetz, das wir jetzt vorlegen, ist zu wenig, zu klein, zu wenig ambitioniert. Herr Theurer, am 19. November 2017 hatten Sie es in der Hand, sich selber in die Regierung zu begeben, um uns nicht als Opposition zu kritisieren, sondern um mit Gestaltungswillen voranzugehen. ({0}) Dieser Phantomschmerz der abgebrochenen Koalitionsverhandlungen steckt Ihnen heute noch in den Knochen, und den hört man bei fast jeder Rede der FDP heraus. Herr Theurer, es ist schade. Hätten Sie bei uns mitgemacht, dann hätten wir eine Koalition, in der wir Ihre Ideen in diese Richtung aufgreifen können. ({1}) Jetzt haben wir mit der Sozialdemokratie eine Lebensabschnittsgefährtin, mit der wir ein gutes Gesetz auf den Weg gebracht haben: das dritte Bürokratieentlastungsgesetz. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen: Wenn ich in einer Rede über Bürokratieabbau spreche, dann gähnen die Leute, sie sind gelangweilt. Das glaubt uns draußen niemand mehr. In diesem Fall haben wir endlich einmal einen Gesetzentwurf, bei dem wir mit Bürokratieabbau Ernst machen. ({2}) Als tourismuspolitischer Sprecher unserer Fraktion möchte ich mich natürlich schwerpunktmäßig auf den Bereich Hotelübernachtungen kaprizieren und genau dieses Detail erläutern und auch Frau Müller ein paar erklärende Worte mitgeben, damit sie weiß, warum eine Registrierung von Hotelgästen überhaupt noch sinnvoll und erforderlich ist. ({3}) – Ich komme gleich dazu, keine Angst. Meine Damen und Herren, wir alle kennen die bisherige Praxis nur zu gut. Bei jeder Übernachtung wird uns an der Rezeption ein Meldeformular gegeben, das umständlich ausgefüllt und unterschrieben werden muss. Das ist bisher gesetzlich vorgeschrieben. Die Meldescheine müssen von den Betrieben ab dem Tag der Anreise ein Jahr aufbewahrt und dann innerhalb von drei Monaten nach Ablauf der Aufbewahrungsfrist vernichtet werden. Ohne ausgefüllten Meldeschein bekommen wir keinen Schlüssel für das Zimmer oder keine Zimmerkarte, auch wenn die Anreise lang und ermüdend war und wir einfach nur ins Zimmer gehen möchten. Selbst wenn wir online gebucht haben, müssen wir am Empfang warten und die übermittelten Daten noch einmal schriftlich bestätigen. Bis vor wenigen Jahren mussten wir sogar auch noch zwingend unsere persönlichen Daten handschriftlich auf dem Meldeschein eintragen. Dies haben wir – die Koalition – bereits mit dem am 1. November 2015 in Kraft getretenen Bundesmeldegesetz abgeschafft, mit dem die Hotelmeldepflicht schon erheblich vereinfacht wurde. Seitdem können Beherbergungsbetriebe diese Daten, wenn sie bei der Buchung bereits übermittelt wurden oder bekannt sind, vorab auf dem Meldeschein für uns eintragen, und wir müssen nur noch unterschreiben. Das ist schon eine deutliche Entlastung. ({4}) Aber diese Unterschrift verursacht immer noch einen enormen Aufwand und erhebliche Kosten. Ich bitte Sie, sich diese Zahlen zu merken: Pro Jahr fallen in Deutschland circa 150 Millionen Meldescheine an. Das vorgeschriebene papierhafte Meldeverfahren verursacht in den Betrieben durch Anschaffung, Handling, Lagerung und anschließende Vernichtung eine Kostenbelastung von rund 100 Millionen Euro jährlich. Angesichts der zunehmenden Digitalisierung bedeutet das für die Branche nicht nur eine erhebliche bürokratische Belastung, sondern auch eine deutliche Einschränkung der Servicequalität beim Reisen, für die Hotelgäste zu Recht immer weniger Verständnis aufbringen. Wir haben schon seit einiger Zeit nach einer Lösung gesucht, mit der Betriebe und Gäste entlastet werden können. Das war vor allem deshalb nicht ganz einfach, weil die Hotelmeldepflicht, Frau Müller, auch der Gefahrenabwehr und der Strafverfolgung dient. Selbst bei einer falschen Identitätsangabe können auf handschriftlich ausgefüllten Meldescheinen Anhaltspunkte für die Identifizierung von Personen bereitgestellt werden, etwa durch DNA-relevante Spuren. Ich darf mich sehr herzlich bei den beiden beteiligten Ministerien bedanken, zunächst beim Innenminister Horst Seehofer und seinem Staatssekretär Marco Wanderwitz, mit dem wir im Vorfeld diese Frage kontrovers und sehr lange diskutiert haben, aber auch herzlichen Dank an Wirtschaftsminister Peter Altmaier und seinen Staatssekretär und Tourismusbeauftragten der Bundesregierung Thomas Bareiß. Das Zusammenwirken der beteiligten Ministerien hat super geklappt. Auch denen haben wir es zu verdanken, dass wir diese Entlastung hinbekommen konnten. Herzlichen Dank. ({5}) Insbesondere angesichts einer zunehmenden Nutzung von privaten Übernachtungsangeboten im Rahmen der sogenannten Sharing Economy, für die die Meldepflicht und damit diese Vorschrift nicht gilt, verliert die handschriftliche Unterzeichnung von Meldescheinen an Bedeutung. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll nun eine Option für ein digitales Meldeverfahren eingeführt werden, bei dem die eigenhändige Unterschrift durch andere, sichere Verfahren ersetzt wird. Dies soll in Verbindung mit den Vorgaben der Zahlungsdiensterichtlinie zur starken Kundenauthentifizierung oder den elektronischen Funktionen des Personalausweises erfolgen. Gleichzeitig wird sichergestellt, dass das bisherige papierhafte Meldeverfahren auch zukünftig von den Beherbergungsbetrieben beibehalten werden kann und keine Verpflichtung zur Investition in digitale Infrastrukturen oder Softwarelösungen besteht. Dies ist eine deutlich bessere Lösung als etwa die gänzliche Abschaffung der Hotelmeldepflicht, wie sie von den Grünen – Kollegin Müller hat es gesagt – gefordert wird; denn wir brauchen natürlich die statistischen Daten, wer wo wie lange übernachtet. So ist es zum Beispiel für die Infrastrukturplanung von Städten und Gemeinden unverzichtbar, dass die Gästeübernachtungen in Hotels und Pensionen erfasst werden. Auch hier geht es um Planung und vorbereitende Tätigkeiten. Diese Informationen nicht mehr bereitzustellen, wäre unverantwortlich und weltfremd. Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, Bürokratieabbau ist und bleibt ein Kernbereich, der in dieser Koalition gut aufgehoben ist. Vor allem der Mittelstand, der aufgrund begrenzter finanzieller und sachlicher Ressourcen in besonderer Weise von regulatorischen Vorhaben betroffen ist, kann entlastet werden. Frau Kollegin Poschmann, Sie hatten es angesprochen: Wir müssen weiter dranbleiben. Da bin ich voll bei Ihnen. Ich könnte mir gut eine langfristige Flexibilisierung der Arbeitszeit im Bereich der Gastronomie vorstellen. Der DEHOGA wünscht mehr Flexibilität beim Einsatz von Fachkräften, ohne den Arbeitnehmerschutz zu vernachlässigen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, Sie haben Ihre Redezeit deutlich überschritten.

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielleicht können wir uns darüber verständigen. Herr Präsident, ich bin gerade einmal 17 Sekunden über der Zeit. Ich hoffe, dass Sie bei jedem Kollegen so streng sind wie bei mir. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend. Herzlichen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Sie waren schon 20 Sekunden über Ihrer Zeit. Wenn wir das bei jedem Redner zulassen, wird aus 5.25 Uhr 9 Uhr. Dann können wir durchtagen. Als letzte Rednerin hat die Kollegin Gabriele Hiller-Ohm von der SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Bürokratieentlastungsgesetz werden wir zeitraubende, teure und nervige bürokratische Vorgänge mit großer Freude in die Vergangenheit katapultieren. Es wurden bereits viele Aspekte des vorliegenden Gesetzentwurfes erwähnt. Meine geschätzte Kollegin Sabine Poschmann hat die Erfolge und Ziele der SPD sehr gut dargestellt. Danke schön. ({0}) Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, da ich nun das letzte Wort als Rednerin in dieser Debatte habe, lasse ich es mir nicht nehmen, für einen positiven Ausklang zu sorgen. Ich bin Tourismuspolitikerin. Deshalb freue ich mich sehr, dass mit diesem Gesetz die Tourismusbranche deutlich entlastet werden wird; ({1}) denn wir werden das nervige Hotelmeldeverfahren vereinfachen. Wir haben es schon gehört – wir wissen es eigentlich alle –: Wer heute in einem Hotel oder einer Ferienwohnung übernachten will, muss – das ist doch etwas umständlich – ein Formular ausfüllen und unterschreiben. Wir meinen, dass das nicht mehr in unsere Zeit passt. Daher werden wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf das Meldeverfahren an die digitale Zeit anpassen. ({2}) Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, ist dies in Ihrer Regierungszeit nicht gelungen. Ich finde, deshalb sollten Sie sich mit Kritik besser zurückhalten. ({3}) Wir kommen mit unserer Initiative übrigens auch einem dringenden Wunsch der Tourismusbranche nach; denn die handschriftlichen Notizen sind nicht nur zeitaufwendig, sie verschlingen obendrein große Mengen von Papier. Pro Jahr werden etwa 150 Millionen Hotelmeldescheine beschrieben. Das sind so viele Zettel, dass man sie einmal um die halbe Welt wickeln könnte, wenn man sie aneinander kleben würde – und das jedes Jahr. Die Hotels sind obendrein noch verpflichtet, den Papierwust ein Jahr lang aufzubewahren. Damit, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, machen wir jetzt Schluss. ({4}) Alle Meldescheine dürfen jetzt in digitaler Form gespeichert werden. Nun liegt es an den Hotel- und Übernachtungsbetrieben, den Sprung in das digitale Zeitalter zu wagen und den digitalen Meldeschein in ihren Betrieben einzuführen. Ich bin mir sicher, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass das viele Betriebe aufgreifen werden; denn damit lässt sich richtig viel Geld einsparen, insgesamt rund 100 Millionen Euro pro Jahr. Meine Damen und Herren, nicht nur die Betriebe können aufatmen. Frohe Botschaft auch für die Gäste: Mit dem digitalen Meldeschein wird das Einchecken ins Hotel endlich so entspannt wie der Urlaub selbst. So sieht Bürokratieabbau aus. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Damit schließe ich die Aussprache.

Prof. Monika Grütters (Gast)

Politiker ID: 11003761

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Geschichte wiederholt sich nicht, aber wir können aus ihr lernen. Mit diesem Satz beginnt das Büchlein „Über Tyrannei“ des amerikanischen Historikers Timothy Snyder. Aus den Erfahrungen der europäischen Geschichte destilliert er „Zwanzig Lektionen für den Widerstand“ gegen Demagogen und Autokraten – für Bürgerinnen und Bürger, die das weltweite Erstarken populistischer Demokratieverächter mit Sorge beobachten. Die Geschichte – heißt es darin - ermöglicht es uns, Muster zu erkennen und Urteile zu fällen. … Geschichte erlaubt uns, verantwortlich zu sein … Zweifellos sind es vor allem die bitteren Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, die für ein verantwortungsbewusstes „Wehret den Anfängen“ gleichermaßen Motivation und Argumente liefern. Doch was uns erlaubt, Handlungsspielräume zu erkennen und Gefühle der Ohnmacht zu überwinden, ist die Erinnerung an demokratische Sternstunden und Hoffnungsträger, an Momente also, in denen demokratische Werte den Sieg davongetragen haben, und an Menschen, deren Mut, Zuversicht und Weitsicht diesen Siegen den Weg geebnet haben. In diesem Sinne begrüße ich den Antrag der Koalitionsfraktionen, Orte der Freiheit und Demokratie stärker ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Diese Orte brauchen und verdienen mehr Respekt und mehr Raum in unserem Selbstverständnis: ({0}) als gleichermaßen mahnende und motivierende Erinnerung, dass Demokratie kein Geschenk ist, sondern eine Errungenschaft, kein ständiger Besitz, sondern stetes Bemühen. In diesem Sinne fördert der Bund Museen und Gedenkstätten, die Zeugnis ablegen vom Ringen um Freiheit und Demokratie, wie beispielsweise die Stiftung Hambacher Schloss, das Deutsche Historische Museum oder auch die Politikergedenkstiftungen des Bundes. Darüber hinaus wird die Bundesregierung eine Förderkonzeption für die Orte der Freiheit und Demokratie in Deutschland vorlegen. Mein Haus erarbeitet derzeit Vorschläge, sowohl für mögliche institutionelle Förderungen als auch für Projekte. Ich bin sehr dankbar für das sehr breite zivilgesellschaftliche Engagement in diesem Bereich, etwa im Rahmen der AG „Orte der Demokratiegeschichte“. ({1}) Dem berechtigten Anliegen, die lange Geschichte des Ringens um Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Demokratie stärker im öffentlichen Bewusstsein zu verankern, wäre allerdings nicht gedient, wenn der Eindruck entstünde, dass damit das Gewicht des Gedenkens an den Holocaust und an die Opfer totalitärer Diktaturen relativiert werden könnte. An der Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes halten wir deshalb fest, um den Blick zu schärfen für Entwicklungen, die einst zu Krieg und Vernichtung, zu Gewalt und Unterdrückung geführt haben. Nicht zuletzt der entsetzliche, antisemitisch motivierte Terroranschlag in Halle zeigt, wie bitter notwendig dies ist und bleibt. ({2}) Deutschland, meine Damen und Herren, verdankt seine heutige Identität und sein mittlerweile wieder sehr hohes Ansehen in der Welt zweifellos auch seiner schonungslosen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Zu Recht sind wir vorsichtig, wenn es darum geht, stolz und selbstbewusst auf die eigene Geschichte zurückzuschauen. Doch es stärkt die Kräfte der Zivilgesellschaft und damit auch die Wehrhaftigkeit unserer Demokratie, wenn wir die Chance haben, nicht nur am Ringen mit der Vergangenheit zu reifen, sondern auch im Bewusstsein der eigenen Freiheitstraditionen zu wachsen. Arbeiten wir also gemeinsam daran, dass auch die Sternstunden deutscher Demokratiegeschichte ihren angemessenen Platz in unserem Selbstverständnis finden. Vielen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Ministerin. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Marc Jongen, AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Marc Jongen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004768, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Frau Staatsministerin Grütters! Sehr geehrte Abgeordnete! Der Antrag der Regierungskoalition erinnert an 100 Jahre Weimarer Reichsverfassung, die erste demokratische Verfassung auf deutschem Boden, auf die wir stolz sein können, meine Damen und Herren. Die Weimarer Reichsverfassung war viel besser, als ihr Ruf es lange gewesen ist. Die Weimarer Republik ist nicht wegen, sondern trotz ihrer Verfassung gescheitert. Diese Position setzt sich unter Historikern immer mehr durch, und es ist gut, wenn das jetzt Eingang in unsere nationale Erinnerungskultur findet. ({0}) Neben dem Parlament wurde damals übrigens auch der Reichspräsident – vergleichbar dem Bundespräsidenten – direkt vom Volk gewählt. Außerdem gab es Volksabstimmungen auf nationaler Ebene. Das sind Instrumente demokratischer Mitbestimmung, die wir dringend wiedereinführen sollten, meine Damen und Herren. ({1}) Ich darf bei dieser Gelegenheit erwähnen: Die AfD-Fraktion bedarf der Nachhilfe durch Ihren Antrag nicht. Wir haben unseren Fraktionssaal hier mit sieben Gemälden zur deutschen Freiheits- und Demokratiegeschichte ausgestattet, und eines davon bezieht sich auf die Weimarer Reichsverfassung. Andere Bilder zeigen das Hambacher Fest und die erste Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche 1848, Ereignisse, die Sie im Antrag zu Recht als wichtige Vorstufen zur Weimarer Verfassung erwähnen. Sehr gerne würden wir dem Antrag also zustimmen, und doch können wir uns nur enthalten, und ich will Ihnen erklären, warum: ({2}) Das liegt daran, dass Sie das Erinnern an Weimar mit einem völlig falschen und auch sehr gefährlichen politischen Narrativ verbinden: In der Weimarer Republik habe es zu wenig Demokraten gegeben, das habe es den Extremisten von links und vor allem dann von rechts ermöglicht, die Demokratie zu beseitigen. – Das ist nicht ganz falsch, aber allzu simpel; sei’s drum! – Aber heute – so lautet Ihre völlig abstruse Parallele – gebe es eine ähnlich gelagerte Bedrohung der Demokratie, und die bösen Rechtspopulisten, namentlich die AfD, seien in der Rolle der damaligen Extremisten. ({3}) Meine Damen und Herren, eine größere Infamie und Pervertierung der Wahrheit ist kaum vorstellbar. Die Alternative für Deutschland hat sich gegründet, um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, die heute aus ganz anderen Gründen in Gefahr sind, zu schützen und, wo nötig, wiederherzustellen. ({4}) Wenn Sie schon nach Parallelen zu Weimar suchen wollen, dann fassen Sie sich an die eigene Nase, und schauen Sie auf die unselige Tradition der Notstandsverordnungen und der Ermächtigungsgesetze, mit denen Parlamentarismus und Demokratie damals immer mehr ausgehebelt worden sind. ({5}) Sie haben hier im Deutschen Bundestag am 29. Juni 2012 die Einrichtung des ESM-Schirms, des Euro-Rettungsschirms, mit Zweidrittelmehrheit beschlossen ({6}) und damit die Finanzhoheit des deutschen Parlaments de facto abgetreten an eine demokratisch nicht legitimierte Monsterbehörde in Brüssel. ({7}) Oder denken Sie an die Septembertage 2015, als Bundeskanzlerin Merkel das Recht, auch das Verfassungsrecht, brach ({8}) und Hunderttausende ohne weitere Kontrolle einreisen ließ unter dem Vorwand des Asylansuchens. ({9}) Das hat mit Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nichts mehr zu tun, meine Damen und Herren. ({10}) Und dann hilft es auch nichts, an sogenannten Orten der Demokratie an die Weimarer Reichsverfassung zu erinnern, wie es Ihr Antrag vorsieht. Es drängt sich vielmehr der Eindruck auf, Sie schaffen hier Museen der Demokratie genau in dem Maße, wie Sie die reale Demokratie immer weiter aushöhlen. Und weil Sie sich immer so gern – von linksradikal ganz außen bis linksliberal von der FDP – hier die demokratischen Fraktionen nennen: ({11}) Demokratie zeigt sich nicht in Blockbildung und Wagenburgmentalität. Demokratie zeigt sich im Aushalten von Differenzen und zivilisiertem Streit. Dass die AfD als Rechtsstaatspartei ({12}) heute im Bundestag sitzt, ist ein Beweis dafür, dass unsere Demokratie eben noch lebt und die Bürger nicht wie in der Weimarer Republik schon resigniert haben und sich extremistischen Kräften überlassen. ({13}) Sie fordern unter anderem, den Weimarer Republik e.V. in die Förderung des Bundes zu übernehmen. Man öffnet die Website dieses Vereins und findet ganz oben die Ankündigung zu einer Podiumsdiskussion über die Weimarer Republik in der geschichtspolitischen Debatte. ({14}) Darin ist – ich zitiere – von der Herausforderung durch heutige Nationalisten, Rechtspopulisten, Faschisten und Rechtsextreme die Rede, ({15}) und wir wissen natürlich genau, wer mit den Rechtspopulisten gemeint ist: niemand anders als unsere Rechtsstaatspartei AfD. ({16}) Hier wird nicht die Demokratie verteidigt. Hier wird Geschichtspolitik missbraucht zur Unterdrückung einer freien und offenen Debatte über zentrale Fragen der Demokratie in unserem Land. ({17}) Es wundert vor diesem Hintergrund nicht – ich komme zum Schluss –, dass Sie uns hier im Bundestag untersagen wollen, unseren Fraktionssaal offiziell „Saal Paulskirche“ zu nennen. ({18}) Sie wollen eben nicht sichtbar werden lassen, dass die AfD wie keine andere Partei Demokratie und Rechtsstaatlichkeit hochhält in diesem Land. Lassen Sie ab von diesen diffamierenden Narrativen! Ehren Sie Demokratie und Rechtsstaat in Ihrem Handeln genauso, wie Sie es in Ihren schönen Worten in dem Antrag tun, dann stimmen wir gerne zu. – So nicht. Vielen Dank. ({19})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächste Rednerin hat das Wort für die SPD-Fraktion die Kollegin Katrin Budde. ({0})

Katrin Budde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004686, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das letzte Jahrhundert war das Jahrhundert der Ideologien, das stimmt. Aber das letzte Jahrhundert war auch das Jahrhundert der Demokratie; denn ohne dieses Jahrhundert könnten wir bestimmte Jubiläen, die ganz wichtig sind für unsere Geschichte und für die heutige Demokratie, heute gar nicht feiern. Da sind 100 Jahre Weimarer Reichsverfassung. Da sind 100 Jahre Frauenwahlrecht, 80 Jahre Grundgesetz, 30 Jahre Friedliche Revolution, 29 Jahre deutsche Einheit, um nur einige zu nennen. Aber auch seit dem letzten Jahrhundert wissen wir, dass Demokratie nicht selbstverständlich ist, nicht unangreifbar ist, dass sie anstrengend ist, und dass Demokratie eben nicht heißt: Ich bekomme automatisch Recht. Denn es wird in der Demokratie mit Mehrheit entschieden, nachdem diskutiert wurde, nachdem Argumente ausgetauscht und abgewogen wurden, nachdem Kompromisse gefunden wurden. Die Demokratie garantiert eines, und das ist ganz wichtig: Sie garantiert die Unantastbarkeit der Menschenwürde, die Freiheit der Person, die unverletzlich ist, die Gleichheit vor dem Recht, die Gleichberechtigung, die Unverletzlichkeit der Wohnung, die Religionsfreiheit, Versammlungs- und Meinungsfreiheit, das Briefgeheimnis, Freiheit von Kunst, Wissenschaft und Lehre, die Freizügigkeit und die Berufsfreiheit. – Es klingt doch gut, wenn man so aufzählt, was der Wert von Demokratie ist, und welche Chancen darin stecken. Und dass das zu verteidigen ist, darin sind wir uns hier garantiert einig. ({0}) Die Weimarer Reichsverfassung hat damals ja nicht nur das parlamentarische System und die Grundrechte des Einzelnen geregelt, sondern eben auch das Gemeinschaftsleben. Und damals sahen es die Verfassungsmütter und ‑väter als notwendig an, dass zum Beispiel jedem Schüler bei Beendigung des Schulbesuchs ein Abdruck der Verfassung ausgehändigt wurde. Das regt vielleicht zum Lesen an und ist, glaube ich, eine kleine, aber gute Idee, die sich auch in diesem Antrag wiederfindet. Dass Weimar nach knapp 15 Jahren gescheitert ist, war nicht Schuld der Verfassung. Deutschland hat zum einen unter den Kriegsfolgen gelitten, und es gab – ja – zu wenige überzeugte Demokratinnen und Demokraten, und das ist nicht zu simpel gedacht, sondern ist die bittere und böse Wahrheit. Aber Demokratie ist wichtig. Sie garantiert Frieden und Freiheit, Mitsprache und Sicherheit, und auch dafür haben wir im Herbst 1989 gekämpft; denn Freiheit und Demokratie waren für uns nicht Alltag und nicht selbstverständlich. Auch heute, im wiedervereinten Deutschland nach 29 Jahren ist Demokratie keine Selbstverständlichkeit. Das darf sie auch nicht sein; denn sie lebt und sie muss gelebt werden. Wir müssen weiter jeden Tag an jedem Ort, wo wir stehen, für sie kämpfen. Wir müssen sie verteidigen, müssen sie vor ihren Feinden schützen. Und ja, in diesen Zeiten antidemokratischer, nationalistischer, extremistischer Bestrebungen ist es umso wichtiger und umso nötiger, das Wissen über unsere Demokratie zu stärken und ihre Vorteile systematisch zu erklären. Das ist die Voraussetzung, das ist die Herausforderung, vor der wir als Demokratinnen und Demokraten tagtäglich stehen. Vor ihr stehen wir auch in diesem Hause – ich brauche auf die Vorgängerrede nicht einzugehen, sie spricht für sich. ({1}) Demokratieförderung und Extremismusprävention gibt es heute schon, es gibt zahlreiche Projekte und Bundesprogramme – das ist gut – und ehrenamtliches Engagement. Es ist gut, wenn wir die Orte der deutschen Demokratiegeschichte, authentische Orte, an denen man erleben, sehen und fühlen kann, was und wie positiv Demokratie ist, zusätzlich stärken. Es ist gut, wenn wir nicht nur das Scheitern dieser Demokratie, sondern auch das Positive und die Möglichkeiten der Demokratie herausstellen. ({2}) Es ist Krieg und keiner geht hin – das ist ein Spruch, den wir, glaube ich, gerne hören. Es ist Demokratie und keiner macht mit – das darf aber nie passieren; denn das könnte tödlich sein. Lassen Sie uns deshalb daran arbeiten, die Demokratie weiter zu stärken. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Budde. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Stefan Ruppert, FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Stefan Ruppert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004140, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Hugo Preuß, ein linksliberaler Staatsrechtler, ein Jude, der im Kaiserreich unter Antisemitismus gelitten hatte, war maßgeblicher Verfasser der Weimarer Reichsverfassung. Er wusste, dass er auf dem Boden von übertriebenem Nationalismus, von Erstem Weltkrieg, von Millionen Toten mit anderen, mit Sozialdemokraten, Zentrumspolitikern und Liberalen, eine Verfassung schuf, die es schwer haben würde. Er wusste, dass eine Verfassung allein eine Demokratie nie würde garantieren können. Und trotzdem: Wenn man die Debatten um die Weimarer Reichsverfassung und ihre Entstehung liest, dann liest man etwas vom Glanz, von der Hoffnung, von der Zuversicht, die Demokraten 1918 und 1919 hatten und in diese Verfassung setzten. Schon bald wurde diese Verfassung von denjenigen, die den Ersten Weltkrieg maßgeblich mitverantwortet haben, von Nationalisten, von Monarchisten und von Menschen, die glaubten, dass die Meinung des anderen nicht zu tolerieren sei, in den Dreck gezogen und diskreditiert. Schon bald mussten Sozialdemokraten, Liberale, Zentrumspolitiker und andere feststellen, dass ihr Rückhalt in der Bevölkerung schwand. Und doch ist das Narrativ, das wir über drei, vier Jahrzehnte in der Bundesrepublik Deutschland hatten, die Weimarer Reichsverfassung sei ob ihrer Konstruktionsmängel gescheitert, ein falsches Narrativ. Eine Demokratie ohne Demokraten kann nicht funktionieren. Deswegen sollten wir immer, auch heute, darauf drängen, die Mitte dieses Hauses stark zu machen und sie gegen die Ränder zu verteidigen. ({0}) Ich finde den Inhalt des Antrags gut. Er postuliert eine positive Erinnerungskultur. Wir können auch mal Gemeinsamkeiten haben. Ich hätte es noch besser gefunden, wenn wir ihn gemeinsam erarbeitet hätten, wenn man uns gefragt hätte, ob wir mittun wollen, ob wir daran mitwirken wollen, anstatt ihn zu einem exklusiven, koalitionären Dokument zu machen. Ich glaube einfach, es gibt mehr Gemeinsamkeiten, die wir nach vorne stellen sollten. ({1}) – Mit Ihnen meinetwegen auch, gerne. Eine Gemeinsamkeit will ich noch nennen. Unser Religionsverfassungsrecht hat man damals Staatskirchenrecht genannt und es ist bis heute geltendes Recht und Teil unseres Grundgesetzes. Das ist ein sehr modernes Religionsverfassungsrecht – Weimar lebt in unserer Verfassungsordnung fort –; es garantiert, dass jeder Mensch seinen eigenen Glauben, auch seinen Nichtglauben leben kann, und zwar im Rahmen einer verfassungsmäßigen Ordnung. Das war schon 1919 viel moderner als ein strikter Laizismus, der heute nach Kopplungen, nach Foren sucht, wo Religiosität und Staatlichkeit ins Gespräch kommen. Ein ganz hochmoderner Teil unserer heutigen Verfassung ist also das Religionsverfassungsrecht. Das sollten wir meiner Meinung nach offensiv bekennen und verteidigen. ({2}) Ein dritter und letzter Gedanke. Wenn ich höre, dass von 100 Deutschen, die gefragt werden, was sie an Deutschland toll finden, 93 Prozent angeben, dass sie das Grundgesetz toll finden, aber nur ungefähr 50 Prozent, dass sie den Bundestag toll finden, ({3}) dann denke ich: Ist das nicht ein alarmierendes Signal? Es herrscht ein Verständnis von der Verfassung vor, nach dem diese sozusagen per se der Garant einer verfassungsmäßigen Ordnung sei. Aber eine Verfassung muss Freiheitsräume erst schaffen. Diese Freiheitsräume müssen genutzt werden und von Demokraten gestärkt werden. Der Pluralismus in einem Land ist Voraussetzung einer starken Demokratie und nicht die Verfassung. Die garantiert nur, dass die Demokratie gelebt werden kann, und schafft ihr Raum. In diesem Sinne brauchen wir Demokraten für das Grundgesetz. Die Weimarer Reichsverfassung hatte davon leider deutlich zu wenige, vor allem am Ende ihrer Geltung. Vielen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Ruppert. – Als nächste Rednerin spricht zu uns Simone Barrientos, Fraktion Die Linke. ({0})

Simone Barrientos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004660, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Es ist gut, dass es diesen Antrag gibt, und auch die darin enthaltenen Forderungen sind nicht falsch. Erlauben Sie mir trotzdem, auf die Schwächen einzugehen. Warum wir uns erinnern müssen und wollen, das wissen wir. Wir tun das, wir müssen das tun, damit wir Fehler nicht wiederholen. So ist es zwar richtig, dass, wie im Antrag formuliert, die positiven Aspekte der Weimarer Verfassung im Gedenken herausgehoben werden sollen, erinnern müssen wir uns aber auch, um das Scheitern der Weimarer Republik zu begreifen; denn nur daraus lernen wir. Im Antrag heißt es – ich zitiere –, dass die Weimarer Republik letztlich – wir hörten das schon – vor allem am Mangel an überzeugten Demokratinnen und Demokraten scheiterte. Aber das greift zu kurz. Zum Scheitern trug auch die Spaltung der Arbeiterbewegung bei. Ja, die KPD hatte daran einen großen Anteil, aber eben auch die SPD. Zum Scheitern führten vor allem schon zu Beginn der Weimarer Republik die verhängnisvollen Bündnisse von bürgerlichen und monarchistischen Eliten mit militanten Freicorps und schließlich mit den Nazis. ({0}) – Mit Ihnen rede ich nicht, Herr Gauland, ({1}) mit jemandem, der „Vogelschiss“ sagt, rede ich nicht, mit Rechten rede ich nicht, mit Neonazis rede ich nicht, mit Faschisten rede ich nicht. ({2}) Halten Sie sich da raus! Sie verstehen davon eh nichts. Bemerkenswert ist übrigens, dass in Ihrem Antrag mit keinem Wort die Novemberrevolution erwähnt wird. Die hat doch überhaupt erst dazu geführt, dass die Hohenzollern abdanken mussten. Die Novemberrevolution hat die Weimarer Verfassung doch überhaupt erst möglich gemacht. Die Ursache des Scheiterns lag aber auch – da kommt man nicht dran vorbei – in der Verfassung selbst. Sie enthielt zwar vieles, was uns heute wertvoll ist, auch vieles, was wir heute als selbstverständlich empfinden. Viele Dinge wurden schon genannt: Wahlrecht, Frauenwahlrecht, Achtstundentag, Mutterschutz, Betriebsrätegesetz, Pressefreiheit und vieles, vieles mehr. Fakt ist aber auch, dass sich an der sozialen Ungerechtigkeit nichts änderte. Der Kaiser dankte ab; aber die alten Eliten blieben am Ruder. ({3}) Und in der Verfassung wurde mit der starken Stellung des Reichspräsidenten eine Art Minikaiser etabliert, der das Parlament auflösen und ohne parlamentarische Mehrheiten mithilfe von Notverordnungen regieren konnte. Wohin das führte, wissen wir hier alle. ({4}) Damit das Erinnern einen Sinn hat, müssen wir anerkennen, dass das Scheitern der Weimarer Republik entscheidend mit ihrem Entstehen zu tun hatte. Die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht steht exemplarisch für den rechten Terror schon zu Beginn der Weimarer Republik. Dieser Antrag, dieses Thema hätte es wirklich verdient, im Kulturausschuss mit Sachverständigen debattiert zu werden. Wir bitten Sie deshalb, dem Vorschlag auf Überweisung in den Ausschuss zuzustimmen. Bei einer Sofortabstimmung wird sich meine Fraktion enthalten müssen; denn die wichtigste Lehre aus dem Scheitern der ersten deutschen parlamentarischen Republik ist, dass man sich verbünden muss gegen rechts. Mein Kollege von der FDP, der vor mir gesprochen hat, sieht das genauso; das finde ich gut. Gerade in diesen Zeiten des rechten Terrors wäre es richtig gewesen, diesen Antrag gemeinsam mit allen demokratischen Fraktionen einzubringen. Das wäre ein gutes Zeichen gewesen. Diese Chance wurde vertan. ({5}) Das führt den im Antrag formulierten Anspruch leider ad absurdum. Eine Schlussbemerkung muss ich mir erlauben: Im Antrag heißt es – ich zitiere –: Die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes hatten das Privileg, sich an der Weimarer Reichsverfassung orientieren zu können, und wägten gleichzeitig ab, welche Normen übernommen, verändert oder verworfen werden sollten. Auch in der Zeit zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung wurde eine Verfassung entworfen. Auch bei diesem Entwurf wurde abgewogen, welche Normen übernommen, verändert oder verworfen werden sollten. Stellen Sie sich vor, wir hätten zumindest Teile ins Grundgesetz übernommen oder gar eine gemeinsame Verfassung für dieses Land geschrieben.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Simone Barrientos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004660, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielleicht wäre es dann heute besser bestellt um dieses Land. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Erhard Grundl, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Erhard Grundl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004733, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Abgeordnete von CDU/CSU und SPD! In Ihrem Antrag steht einiges, was ich gerne unterschreibe. Selbstbewusst Orte der Entstehung von Demokratie und Freiheit zu würdigen, ist heute wichtiger denn je. Diese Orte vergegenwärtigen uns die Errungenschaften der ersten deutschen Demokratie. Sie rufen uns aber auch schmerzhaft ins Bewusstsein: Demokratien können scheitern. Weimar ist gescheitert, weil eine Demokratie – ich wiederhole es gerne – Demokratinnen und Demokraten braucht, und sie fehlten in Weimar. Entscheidend für uns heute ist es, das Scheitern der Weimarer Republik zu begreifen, ({0}) zu verstehen, wie rechter Extremismus in einem demokratischen Rahmen so stark werden konnte, dass die nationalsozialistischen Verbrechen möglich wurden. Es geht dabei nicht, wie Sie im Antrag schreiben, um Angriffe rechtsradikaler und linksradikaler Gruppierungen. Es geht um das Erstarken von Rechtsextremismus mit seiner menschenverachtenden Ideologie. Es geht um die Machtergreifung durch die NSDAP. Es geht um singuläre Menschheitsverbrechen, für die Deutsche verantwortlich sind. Die Gleichsetzung, die Sie in Ihrem Antrag vornehmen, wonach radikale Linke wie extreme Rechte gleichermaßen die gesellschaftlichen Ränder des Hufeisens besetzten, verharmlost das, wofür die Rechte steht. ({1}) Es verharmlost die gegen Menschenleben gerichtete Gewalt militanter Nazis damals und heute. ({2}) Gerade nach den Morden und dem versuchten Massenmord in der Synagoge von Halle ist klar: Wir können diese Verharmlosung nicht mehr hinnehmen. ({3}) Diese Gleichsetzung ist nicht nur historischer Unfug; sie ist darüber hinaus der Kern des durchschaubaren Schmierentheaters, das die Rechtsradikalen und ihre Spießgesellen aufführen, ({4}) besonders die, die hier im Bundestag „höcken“. ({5}) Streichen Sie diese Verharmlosung aus Ihrem Antrag; dann könnten wir zustimmen. ({6}) Meine Damen und Herren, die Weimarer Vordenker der Demokratie sollten wir ehren. Wir dürfen aber nicht vergessen: Die Weimarer Verfassung hatte ihre schönsten Momente auf Papier. Es herrschte nach wie vor der von Heinrich Mann so klug charakterisierte Untertanengeist, der das deutsche Bürgertum prägte, und den der Autor Jörg Mielczarek so beschreibt: „… Kriecherei gegenüber allem Mächtigen und Starken, unerbittliche Brutalität gegenüber Schwächeren und Untergebenen …“ Dieser Ungeist wurde zum Wegbereiter für die brutale Verfolgung und Ermordung von Minderheiten, sozial Benachteiligten und Andersdenkenden im Nationalsozialismus. Mit einer Vorstellung von Gleichheit und der Sozialethik einer demokratisch verfassten Gesellschaft, wie wir sie heute leben können, hatte das sehr wenig zu tun. Die Geschichte der Weimarer Verfassung führt uns vor allem eines vor Augen: dass die Demokratie nicht schläfrig werden darf, dass wir uns jederzeit gegen menschenverachtende Undemokraten zur Wehr setzen müssen, dass es mit den als Biedermännern getarnten „Brandner-Stiftern“ niemals eine Händereichung geben darf – auf keiner politischen Ebene, ({7}) dass wir die Umschreibung und Verfälschung unserer Geschichte nicht hinnehmen dürfen, ganz egal, ob der Versuch von Vogelschisstheoretikern ({8}) oder von den Nachfahren der Steigbügelhalter des Nationalsozialismus, wie es die Hohenzollern waren, unternommen wird. Unser Auftrag heute ist es, das Demokratieversprechen des Grundgesetzes zu erfüllen – ein Auftrag, der Demokratinnen und Demokraten erfordert, damals wie heute. Ich danke Ihnen. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Volker Kauder, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Volker Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001074, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Regierungskoalition legt heute einen Antrag vor, der natürlich etwas zur Weimarer Reichsverfassung sagt – auch aus Anlass des Jubiläums –, der aber auch darüber hinausgeht. Was ich bei den allermeisten Vorrednern eben nicht gehört habe – ich bedauere das –, ist, dass wir nicht bei der Würdigung der Weimarer Reichsverfassung stehen bleiben dürfen, sondern dass wir aus Weimar lernen müssen – nicht nur können –, was wir für die Demokratie in heutiger Zeit zu tun haben. Ich bin dankbar, dass von vielen heute festgestellt worden ist, dass die Weimarer Republik trotz der Weimarer Verfassung – und nicht wegen der Weimarer Verfassung – gescheitert ist. Es ist aber auch richtig, dass die Väter und Mütter des Grundgesetzes aus der Weimarer Verfassung Gutes, sehr Gutes, übernommen, aber Problematisches nicht übernommen haben – aus gutem Grund. Wenn wir heute über die Weimarer Verfassung reden, dann machen wir ja keinen historischen Verfassungskonvent, sondern wir fragen: Was brauchen wir daraus für die heutige Zeit? Eine der wichtigsten Erkenntnisse, die leider Gottes noch gar nicht so alt ist, sondern eher in der neueren Geschichtswissenschaft formuliert worden ist – die aber völlig richtig ist: Die Weimarer Republik war natürlich durch Nazis gefährdet. Aber sie ist nicht dadurch gescheitert, sondern sie ist gescheitert, weil zu wenig aufrechte Demokratinnen und Demokraten für diese Weimarer Verfassung eingetreten sind. ({0}) Deswegen ist die wichtige Position, die wir heute darlegen: Wir müssen etwas für das Bewusstsein tun, dass Demokratie nicht einfach da ist, sondern immer wieder aufs Neue gegen Herausforderungen, aber auch gegen Gleichgültigkeit erworben werden muss. Wenn wir jetzt darüber reden, wie wir Orte des Gedenkens, der Freiheit, der Demokratie fördern wollen, dann vergessen wir dabei nicht, welch dunkle Stunden aus dieser Weimarer Republik über unser Land gekommen sind. Die dunkelste Stunde überhaupt war die, die wir mit dem Holocaust und dem Nationalsozialismus hatten. Es hat eben damit begonnen, dass zu wenige sich für diese Demokratie eingesetzt haben und dass zu viele bereit waren –, darin sehe ich die Parallele zur heutigen Zeit, auch hier im Deutschen Bundestag –, diese Weimarer Verfassung und dieses zarte Pflänzchen der Demokratie kaputtzumachen, lächerlich zu machen. Mancher Satz, den ich auch heute höre –, da ist von „Systempresse“ und vielem anderen die Rede –, ist damals von der Rechten formuliert worden –, so wie heute auch. ({1}) Das hat die Weimarer Republik kaputtgemacht, meine sehr verehrten Damen und Herren. Deshalb sagen wir: Wir wollen uns an diese dunklen Stunden erinnern; das darf nie wieder passieren. Zur gleichen Zeit wollen wir aber auch einen Beitrag zur Stärkung des demokratischen Bewusstseins, vor allem auch bei unserer Jugend, leisten, in einer Zeit, in der es welche gibt, die genau dieses nicht wollen. Jetzt kann man natürlich sagen: Hättet ihr uns mitgenommen! Hättet ihr uns daran beteiligt! ({2}) Ich sage: Schauen Sie sich den Antrag an. Wir fordern die Bundesregierung auf, ein Konzept vorzulegen, eine Struktur vorzulegen. Wir sagen, dass wir dafür 10 Millionen Euro im Jahr zur Verfügung stellen. Wenn das Konzept der Bundesregierung vorliegt, dann müssen wir es auch noch miteinander besprechen und diskutieren. Das können wir doch dann gemeinsam machen. ({3}) – Ja klar, das können Sie immer. Ich halte mein Wort immer. Dann ist noch Folgendes dazu zu sagen: Ich bin der Meinung, dass wir jetzt darüber abstimmen müssen. Es ist etwas ganz Neues, dass der Bundestag sagt: Wir wollen 10 Millionen Euro für dieses Konzept zur Verfügung stellen. – Jetzt sind die Haushaltsplanberatungen, und ich möchte mit dem beschlossenen Antrag die Forderung nach Bereitstellung dieser 10 Millionen Euro noch in die Bereinigungssitzung bringen. Deswegen muss dieser Antrag jetzt beschlossen werden, und dafür bitte ich um Ihre Zustimmung. Geben wir ein Zeichen, dass es über die Koalition hinaus bei den allermeisten in diesem Bundestag ein klares Signal für Demokratie gibt. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächster Redner hat der Kollege Carsten Schneider, SPD-Fraktion, das Wort. ({0})

Carsten Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003218, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Volker Kauder, vielen Dank für diese engagierte Rede, auch für die Zusammenarbeit bei der Erarbeitung dieses Antrags. Warum machen wir den? Zum einen, in der Tat, um die Orte der Demokratiegeschichte, die Orte der Freiheitsbewegung in Deutschland zu würdigen. Nicht immer nur die negativen oder die dunklen Seiten der Geschichte, auch die positiven, die hellen Seiten, auf die wir stolz sein können, wollen wir würdigen und erlebbar machen. Das ist die Paulskirche. Das ist das Hambacher Schloss. Das ist natürlich auch Weimar, die Weimarer Republik als Symbol, als Synonym für die erste freiheitliche demokratische Grundordnung und Verfassung in Deutschland. Es ordnet sich ein in die 100-Jahr-Feier, die wir in diesem Jahr in Weimar selbst hatten, am 6. Februar, in die Rede des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier hier im Deutschen Bundestag für die Stärkung unserer Demokratie. Ich glaube, dass der Bundestag sich diese Veränderung des Geschichtsbildes zu eigen macht und das nicht nur vom Scheitern her betrachtet, sondern auch von den Ursachen her. Das hat hier während der Debatte eine Rolle gespielt. Und ja, es ist richtig: Es gab zu wenig Demokraten. – In manchen Teilen kann man sagen: Vielleicht ist es auch heute noch so. Auch die heutige Demokratie ist gefährdet. Sie ist nicht für ewig bestimmt, sondern sie lebt von etwas. Um das Böckenförde-Diktum zu zitieren: Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Die müssen wir Bürgerinnen und Bürger selbst jederzeit schaffen. Das Scheitern der Weimarer Republik, die Gewalt, die Morde sollten uns Mahnung sein, in der Demokratie der heutigen Zeit dies für immer zu verhindern. ({0}) Erstens. In der heutigen Zeit nehmen das Vertrauen in die Demokratie und das Verständnis für demokratische Prozesse ab. Immer mehr Menschen suchen einfache Antworten. Das zeigt zum Beispiel erschreckend die neue Shell-Jugendstudie. Viele junge Menschen fühlen sich von der Politik nicht verstanden und übernehmen in Teilen auch die Argumentationsmuster von Populisten. Zweitens. Es wächst bei uns die Ungleichheit zwischen Arm und Reich, zwischen Stadt und Land, zwischen Weltoffenen und Heimatverbundenen. Es ist ein materieller und ein kultureller Riss, der durch unsere Gesellschaft geht – ähnlich wie wir das heute Morgen bei der Regierungserklärung zum Europäischen Rat, bei der Brexit-Debatte mit Blick auf die Entscheidung des britischen Volkes hatten: auch dort eine klare Spaltung der Gesellschaft. Drittens. Wir haben hier im Bundestag eine rechtsextremistische Partei, deren Vertreter von Umsturz fabulieren, davon, das Parteiensystem abzuschaffen, von Systemparteien und Systempresse reden. Das, meine Damen und Herren, zeigt uns nur, dass wir die Demokratie und unsere Freiheit, unseren Rechtsstaat verteidigen müssen, dass er nicht selbstverständlich ist, dass wir um die Köpfe der Menschen jeden Tag kämpfen müssen, und dass nichts von selber kommt. ({1}) Aus diesem Grund bitten wir heute um die Abstimmung. Wir wollen das klare Bekenntnis des Bundestages, auch als Bindung für uns selbst: Wir wollen in den nächsten Jahren 10 Millionen Euro pro Jahr für die Stätten der Demokratie, der Freiheitsgeschichte zur Verfügung stellen. – Und ja, die Kolleginnen und Kollegen werden im Kulturausschuss bei der Erarbeitung des Konzepts eingebunden; Frau Staatsministerin Grütters hat das gesagt. Ich halte es für notwendig, diese für unseren Staat elementaren Voraussetzungen auch als Bilder, als historische Punkte zu fördern und sie nicht nur kommunalen Einrichtungen zu überlassen. Das ist eine Verpflichtung des Bundes und des Bundestages. Ich finde, wir müssen dem auch gerecht werden. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Schneider. – Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich dem Kollegen Michael Frieser, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({0})

Michael Frieser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004034, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke schön. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Dieses Berlin war schon vor 100 Jahren ein besonderes Pflaster, etwas unruhig, mit der einen oder anderen politischen Mine versehen und durchaus widersprüchlich. Da hat sich in 100 Jahren nicht sehr viel verändert. Das war der Ausgangspunkt dafür, dass man nach Weimar ging. Man war der Auffassung: Dieses Pflaster ist tatsächlich noch nicht reif für eine solche Versammlung. Wir gedenken nicht nur der Verfassung selber; wir gedenken auch „100 Jahre Ebert-Rede“. Ich wollte schon am Anfang des Jahres manchmal sagen: Liebe SPD, sei stolz auf diesen Mann und diese Rede, die sehr modern war, nicht nur deshalb, weil er die Welt nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs fast angefleht hat, Deutschland einen Weg zurück zu bahnen, sondern auch wegen seiner Bemerkungen: Die Revolution war nicht der Grund für das Scheitern. Die Revolution war nicht der Grund für den Zustand Deutschlands. Es war ein monarchistisches Deutschland, und davon hat sich ein Volk selbst befreit. ({0}) Diese Parallelen halte ich für äußerst interessant, weil sie in das hineinführen, was wir schon aus Bezügen von 1849 kennen, also die elementaren Grundrechte. Wir hatten damals schon, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die Versammlungsfreiheit und die Meinungsfreiheit als Schutzrechte des Individuums vor dem Staat. Das macht diese Verfassung so modern. Ich will es heute um Gottes willen nicht zu genau nehmen, aber man muss schon auch mal etwas sagen dürfen. Die Schwäche der Verfassung, die Ermächtigung, sei das Problem gewesen, hört man immer mal. Nein, Ebert hat die Weimarer Republik jahrelang stabilisieren können, weil er in der Lage war, die Macht so zu händeln, dass sie sich wirklich konzentrieren ließ. Weimar ist nicht an seiner Verfassung gescheitert. Das hören wir heute nicht zum ersten Mal. Wenn eine Verfassung nicht auch von den Menschen gelebt wird, akzeptiert wird, verteidigt wird, kann sie noch so gut sein, kann sie noch so tolle Rechte als Schutzrechte vor dem Staat haben, die zu einer Selbstverständlichkeit einladen – diese Verfassung, dieser Staat, diese Gesellschaft kann dann nicht überleben. Das ist die Parallele zu heute, nämlich dass der Staat eigentlich immer nur als derjenige angesehen wird, der zu versorgen hätte, der etwas zur Verfügung stellen müsste, der die Gewähr dafür übernehmen müsste, dass es dem Land, den Menschen gut geht. Ja, das ist in der Tat so, aber selbstverständlich ist das nicht. Unser Antrag schafft zumindest die Eingangspforte, um am Bewusstsein zu arbeiten. Das Bewusstsein ist das Entscheidende; denn Bewusstsein stellt sich nicht von allein ein. „Erinnerungskultur“ mag für den einen oder anderen heutzutage fast schon ein etwas angestaubter Begriff sein. Aber das Bilden von Bewusstsein ist etwas, wozu der Mensch, wozu eine Gesellschaft lange braucht. Verloren geht das Bewusstsein dafür, was man an seiner Verfassung, an seinen Rechten, an seinen Abwehrrechten gegenüber dem Staat hat, schnell. Das ist genau die Angst, die mich umtreibt, wenn wir diese Demokratie im Grunde auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten zur Verfügung stellen, wenn jeder sie verächtlich machen kann, so tun kann, als würde er ihr vertrauen und ihr eine gute Zukunft wünschen, aber in Wahrheit die Axt an die Wurzeln dessen legt, was diese Verfassung und dieses Land wirklich ausmacht. Dagegen gilt es als Demokraten aufzustehen. ({1}) Deshalb kann ich nur sagen, meine sehr verehrten Damen und Herren: Wir wissen seit Platon: Auch eine Demokratie setzt die Vernunft der Gesellschaft und der Bürger voraus. – Kämpfen wir dafür, dass diese Vernunft im demokratischen Sinne wächst! Vielen Dank. ({2})

Tabea Rößner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004138, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! An dieser Stelle erklärt Ihnen ja gerne der Kollege Amthor die Verfassung. Aber: Er muss wohl noch etwas an seiner Didaktik feilen. Gefruchtet hat es bislang jedenfalls nicht in allen Reihen des Parlaments. Dann müssten wir uns nicht immer wieder unqualifizierte Äußerungen zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk anhören. Wenn der zum Beispiel als „Staatsfunk“ oder „Lügenpresse“ beschimpft wird, ist das für mich als Medienpolitikerin und Journalistin schier unerträglich. ({0}) Wer hier wie Herr Gauland oder Frau von Storch von einem steuerfinanzierten Rundfunk träumt, hat es einfach nicht verstanden. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der AfD-Fraktion?

Tabea Rößner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004138, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein, ich habe ja noch nicht einmal angefangen. – Die von der Verfassung geforderte Staatsferne ergibt sich gerade daraus, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk eben nicht von den Launen des Finanzministers abhängt. Deshalb wird er über eine Abgabe direkt von den Bürgerinnen und Bürgern finanziert. Ein Staatsrundfunk am Gängelband des Finanzministers ist schlichtweg verfassungswidrig. ({0}) Ihre Schwierigkeiten mit der Unabhängigkeit der Öffentlich-Rechtlichen eint Sie mit autoritären Regimen. Das zeigt: Demokratie und unabhängige Medien bedingen sich gegenseitig. ({1}) Wo keine Demokratie, da keine freie Presse; wo keine freie Presse, da keine Demokratie: Aus diesem Gedanken und als Lehre aus der Zeit des Nationalsozialismus ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk 1945 eingeführt worden. Wer heute gar seine Abschaffung fordert – so wie Herr Brandner –, der hat es auf unsere Demokratie abgesehen, und das dürfen wir nicht zulassen. ({2}) Dabei kommt die AfD in den von Ihnen als „gleichgeschaltet“ oder „linksgrün“ geschmähten Medien ziemlich oft zu Wort. Die Opferrolle, in die Sie sich so gerne begeben, kauft Ihnen höchstens Ihre eigene Filterblase ab. ({3}) Wenn Sie beim Klima an Kevin Kühnert scheitern, ist aber nicht Herr Lanz schuld, und wenn Sie zur Rente nichts zu sagen haben, nicht Frau Illner oder Frau Will. ({4}) Die Wahrheit ist doch: Sie reden von Unabhängigkeit, aber Sie wollen Propaganda. Sie reden von Meinungsfreiheit, aber Sie verbreiten Hass und Hetze. ({5}) Und Sie faseln von Staatsfunk, ertragen aber einfach keine Fakten. ({6}) Wissen Sie: Meine Oma hat immer gesagt: Wer schreit, der hat unrecht. ({7}) Es braucht den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, und zwar mehr denn je - ({8}) als unabhängigen Wegweiser im Informationsdschungel mit besonderen Anforderungen an Qualität und journalistischer Sorgfalt, staatsfern und gruppenfern und frei von marktwirtschaftlichen Zwängen. Genau deshalb müssen wir für ihn kämpfen. ({9}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei allem Bekenntnis zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk: Es ist höchste Zeit für eine Reform. Wenn der „Weltspiegel“ dem Sport weichen muss, wenn Dokumentationen nur noch im Nachtprogramm laufen, wenn Kultursender zu reinen Musikabspielwellen werden sollen, dann müssen wir uns im Sinne der Zuschauerinnen und Zuschauer Gedanken machen – und zwar jetzt. Wir müssen bei aller Unabhängigkeit deutlich machen, was diese Gesellschaft von ihrem öffentlich-rechtlichen Rundfunk erwartet. Dann können wir gerne darüber reden, was das kostet. Aber in dieser Reihenfolge; alles andere ist Unsinn. ({10})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Tabea Rößner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004138, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Und da freue ich mich ausgesprochen, dass die FDP ihre bisherige Position überarbeitet hat und sich gegen eine Indexierung ausspricht. Wir haben einen umfangreichen Antrag erarbeitet, damit wir über diese zentralen Fragen breit diskutieren.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, bitte.

Tabea Rößner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004138, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir brauchen eine öffentliche Debatte. Deshalb schlagen wir eine Expertenkommission vor. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, ich habe Ihnen gerade das Wort entzogen. ({0}) Sie sind 40 Sekunden über der Zeit, und ich bitte Sie jetzt, Platz zu nehmen. – Es hört Sie keiner mehr; ich habe Ihnen das Mikrofon abgestellt. ({1}) Frau Kollegin, bitte, oder sollen Sie begleitet werden? ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die AfD-Fraktion hat um eine Kurzintervention gebeten, der ich nicht stattgebe, weil die AfD noch vollständige Redezeit hat und Sie an der Sachdebatte teilnehmen können. Das gilt nicht nur für die AfD, sondern grundsätzlich. Als Nächstes hat für die CDU/CSU-Fraktion die Kollegin Gitta Connemann das Wort. ({3})

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

„Hier ist RIAS Berlin – eine freie Stimme der freien Welt!“ Diesen Satz kannten Millionen von Hörern. Ab 1946 wurde in West-Berlin gesendet, aber auch im Osten gehört – heimlich, unter hohem Risiko. RIAS informierte über die Grenzen hinweg. RIAS stärkte den Widerstand gegen die kommunistische Diktatur. Auch RIAS hat zum Sturz der Mauer beigetragen. Dies zeigt: Demokratie braucht freie Berichterstattung. ({0}) Und es zeigt: Für Menschen in Unfreiheit sind freie Medien eine Quelle der Hoffnung. Wir, die CDU/CSU, bekennen uns zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Er steht für Meinungsfreiheit, für Informationsfreiheit. Zur Wahrheit gehört: Diese ist weltweit in Gefahr. Dabei denke ich zum Beispiel an Russland. Dort gibt es brutale Zensur. Das bekommt gerade unser Auslandssender, die Deutsche Welle, zu spüren. Ihr droht der Entzug der Sendeerlaubnis wegen eines Tweets. Russen werden dafür sogar zu Lagerhaft verurteilt. Kritik ist in Russland eben unerwünscht. ({1}) Demokratie geht anders. Deshalb ist für uns der öffentlich-rechtliche Rundfunk existenziell. Fakt ist: Rundfunklandschaft und Nutzerverhalten haben sich verändert. Digitalisierung ist hier nur ein Stichwort. Hierauf müssen die Öffentlich-Rechtlichen reagieren können. Dafür brauchen sie das erforderliche Handwerkszeug. Für faire Regeln rund um das Internet wurde aktuell der Rundfunkstaatsvertrag angepasst. Hier gibt es allerdings sicherlich noch Handlungsbedarf seitens der Länder. Das Handwerk muss aber auch verantwortungsvoll eingesetzt werden, auch außerhalb des Internets. Wer Kommentar und Bericht vermengt, riskiert seine Glaubwürdigkeit. ({2}) Moderatoren sollen Politik kritisch begleiten, aber nicht Politik machen. Fakt ist: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk wird wie nie zuvor attackiert und diffamiert als „Staatsfunk“, „Systemmedien“, „Propagandasender“. So soll seine Glaubwürdigkeit unterminiert werden. Das ist perfide. Wer so agiert, legt die Axt an eine Wurzel unserer Demokratie. ({3}) Sie braucht unabhängigen Journalismus. Fakt ist: Die Öffentlich-Rechtlichen bieten Angriffsfläche. Das Privileg der Gebührenfinanzierung basiert auf einem Auftrag. Es ist zu sorgen für Information, Bildung, Beratung, Unterhaltung und insbesondere Kultur – für Meinungsvielfalt. Schon die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Kultur in Deutschland“ sah Defizite, von der Transparenz über die Programmgestaltung bis zur Fairness von Beschäftigungsverhältnissen. Nicht jeder Hinweis wurde aufgegriffen. Das sieht man am Programm heute: ({4}) „Sturm der Liebe“, „Rote Rosen“, „In aller Freundschaft“. ({5}) An Unterhaltung fehlt es bei der ARD nicht. Bildung gab es gerade um 19.45 Uhr für fünf Minuten bei „Wissen vor acht“ zum Thema „Ist Tiefkühlgemüse ungesund?“. Das ZDF kommt um 0.40 Uhr mit „aspekte extra“ von der Frankfurter Buchmesse seinem Kulturauftrag nach. So bitte nicht! ({6}) Kultur gehört nicht in die Nacht oder den Spartenkanal und ist mehr als Event. Einschaltquoten und Klickzahlen sind kein Maßstab für Qualität und Relevanz. Ohne diese wird auf Dauer die Frage nach der Berechtigung der Gebührenfinanzierung gestellt. Fakt ist: Politik darf kein Programmgestalter sein. Die Anstalten müssen selbst entscheiden können, welche Angebote sie Zuschauern, Hörern und Nutzern im Fernsehen, Radio und Internet unterbreiten. Im Gegenzug müssen sie ihren Auftrag erfüllen. Das braucht Aufsicht. Für mich persönlich gehört das derzeitige System aber auf den Prüfstand. Einige dieser Punkte klingen in den vorliegen Anträgen an. Beide haben nur ein grundsätzliches Problem: den Adressaten. Der Bund ist nicht für den Rundfunkstaatsvertrag zuständig. Dieser wird einzig und allein zwischen den Ländern geschlossen. Der Bund trägt nur einen Sender: die Deutsche Welle. Diese wird von uns in diesem Jahr ganz bewusst gestärkt; denn sie ist unsere freie Stimme für eine freie Welt. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Connemann. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Martin Erwin Renner, AfD-Fraktion. ({0})

Martin Erwin Renner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004862, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Grüß Gott, Herr Präsident! Sehr verehrte Damen! Sehr geehrte Herren! Liebe Zuschauer! Es sind nur noch wenige da. – Ich freue mich wirklich sehr, dass wir heute über die vorliegenden Anträge zum Thema „öffentlich-rechtlicher Rundfunk“ sprechen – sicher nicht wegen der Inhalte, aber doch, weil es dringend notwendig ist, dass in diesem Parlament über das Thema „öffentlich-rechtlicher Rundfunk“ gesprochen wird. Bündnis 90/Die Grünen möchten seinen Bestand und seine Weiterentwicklung sichern, die FDP möchte ihn zukunftsfest machen und seine gesellschaftliche Akzeptanz erhöhen. Schon die Titel sind bezeichnend, der Inhalt noch viel mehr. Die Grünen fordern, was Grüne eben immer so fordern: Diversität, Quoten, Plattformen für ideologische Absurditäten, die außer ihnen kaum jemand täglich sehen und hören möchte, für die der Bürger aber zahlen soll. ({0}) – Jawohl. – Die Grünen haben weder die Demokratie noch die Rundfunk- und Medienfreiheit in ihren grundsätzlichen Strukturen und ihren Voraussetzungen jemals richtig verstanden. ({1}) Ich denke, das sind einfach Kobolde für die Grünen. ({2}) Zum Antrag der FDP. Meinen Sie nicht, dass der unabhängige und staatsferne öffentlich-rechtliche Rundfunk in erster Linie selber für seine gesellschaftliche Akzeptanz verantwortlich ist? ({3}) Sie haben hier zwar einige der vielen Probleme erkannt, verleugnen aber die Ursachen. Fragen Sie doch erst einmal, warum wir denn überhaupt eine so ausgesprochen große Medienkrise in unserem Land haben. Wir erleben heute eine Symbiose, eine gegenseitige Abhängigkeit von Politik und Medien zu allfälligem gegenseitigem Nutzen. Der Bürger sieht sich einem schier erdrückenden politmedialen Komplex gegenüber, der ihn unentwegt mit voller gleichgeschalteter Lautstärke beschallt, einer Lautstärke, die keinen Widerspruch zum Gesagten, zum Dargestellten mehr zulässt. Dieser politmediale Komplex mit seiner allgegenwärtigen politischen Korrektheit schränkt den Korridor des Denk- und Sagbaren, aber auch den Korridor der freien und unabhängigen Informationsgewinnung für den Bürger in unerträglicher Weise ein. Die Medien und insbesondere der öffentlich-rechtliche Rundfunk transportieren keine alternativen politischen Sichtweisen mehr. Sie verkünden fast ausschließlich nur noch Botschaften, die den Machtinteressen der Regierenden oder der gierig regieren Wollenden dienlich scheinen. ({4}) Früher hieß es, die Medien seien die vierte Gewalt in unserer Demokratie und damit die Kontrolleure der politischen Macht. Und heute? Heute sind die Medien zu Herolden, zu Lautsprechern, zu Meinungsverstärkern der politisch Mächtigen geworden. Kritische Berichterstattung, alternative Sichtweisen, neutralen, ideologiefreien Journalismus findet man zumeist nur noch im benachbarten Ausland - ({5}) Sie kennen das aus der Geschichte –, wie in den unseligsten Zeiten: damals bei der BBC und später dann im sogenannten Westfernsehen. Alle diese Entwicklungen bleiben dem Bürger nicht verborgen. Jetzt soll die öffentliche Meinungsbildung noch unverhohlener, noch drastischer beeinflusst und gelenkt werden und dann auch noch ausgestattet werden mit Zukunftsgarantien für die Perpetuierung des heute schon unerträglichen und immer schlimmer werdenden Zustands. Dem Bürger sollen seine Mündigkeit und die Fähigkeit zur Bildung einer eigenen Meinung vom übergriffigen Nanny-Staat noch weiter abgesprochen und entzogen werden, und dann wird er sogar noch gezwungen, für die vorgekauten Meinungen und die eigene Entmündigung Gebühren zu zahlen. Und das soll die gesellschaftliche Akzeptanz des öffentlich-rechtlichen Rundfunks befördern? Wohl kaum. In unserer noch sogenannten Demokratie, in der ein privates Zusammenkommen zum Kaffeetrinken mit dem Vorsitzenden der größten Oppositionspartei zum Verlust der beruflichen Existenz des hessischen Filmförderchefs führte, wo bleibt denn da der weiträumige mediale Aufarbeitungsansatz des angeblich so staatsfernen und unabhängigen öffentlich-rechtlichen Rundfunks? Meine Damen und Herren, das Thema der vorgelegten Anträge ist richtig; der Zeitpunkt ist lange überfällig. Doch die hier aufgezeigte Stoßrichtung ist grundverkehrt. Die Probleme sind weitaus komplexer. Ganz sicher ist, dass die Organisation und der Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks grundlegend infrage gestellt gehören. ({6}) Der öffentlich-rechtliche Rundfunk bedarf einer strukturellen und entideologisierenden Reform. Und ganz sicher sollte diese nicht wieder durch die Etablierung einer Expertenkommission geschehen, einmal mehr bestehend aus staatsgeldgierigen Geschwätzwissenschaftlern aus dem internationalsozialistischen One-World-Phantasma-Spektrum. Vielmehr muss ein solches Gremium zur Reformfindung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ganz zwingend aus den Mitgliedern dieses Parlaments zusammengestellt werden, inklusive der Parlamentarier der Landesparlamente, -

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Martin Erwin Renner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004862, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

– weil es um den Fortbestand unserer Demokratie geht. ({0}) Sie werden in Kürze Vorschläge zu diesem Thema von uns präsentiert bekommen. Pax vobiscum! ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Bei Ihnen war ich diesmal großzügig; Sie waren nämlich 40 Sekunden drüber. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Martin Rabanus, SPD-Fraktion. ({0})

Martin Rabanus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004381, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es gut – insofern danke ich auch der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der FDP-Fraktion –, dass wir das Thema öffentlich-rechtlicher Rundfunk und seine Bedeutung in der dualen Medienordnung heute Abend hier anhand der vorliegenden Anträge diskutieren und besprechen können. Da will ich in aller Klarheit unmissverständlich sagen: Die SPD steht nicht nur zur dualen Medienordnung, sondern auch zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({0}) Er hat in der Tat mehr denn je die Aufgabe, zu einer pluralen Meinungsbildung in der Bevölkerung beizutragen. Er steht für Meinungsvielfalt und für Ideologiefreiheit. Er steht gerade in einer Zeit, in der die Verfügbarkeit von Informationen über elektronische Medien größer und größer wird, dafür, gegen Fake News, gegen Desinformation – von welcher Seite auch immer – und gegen Populismus angehen zu können. Das ist in der Tat von zentraler Bedeutung für unsere Demokratie, für unser funktionierendes demokratisches Gemeinwesen. Was an dem Antrag der Grünen gut ist – wenn ich das, liebe Kollegen, einmal so werten darf –, ist, dass Sie das im Grunde ja genauso sehen. Das muss uns Demokraten aus meiner Sicht in der Tat auszeichnen. Dass ich nicht jede einzelne Ihrer Forderungen für meine Fraktion oder auch für die Koalition querschreiben würde, gehört zum demokratischen Diskurs. Was ich für maßgeblicher halte – da kann ich an bereits vorgetragene Kritik anschließen –, ist, dass in Ihrem Antrag die Bundesebene in geradezu maßregelnder Form auf die Länderkompetenz einwirken soll. Das halte ich – vorsichtig formuliert – für schwierig. Denn tatsächlich liegt die Verantwortung für die Medienpolitik in Deutschland aus gutem Grund bei den Ländern, und dort liegt sie auch gut. Das kann man sehen, wenn man sich anschaut, wie die Abstimmungsprozesse zwischen den Ländern funktionieren. Unter dem Vorsitzland Rheinland-Pfalz wird in der Rundfunkkommission der Länder jetzt der Medienstaatsvertrag beraten, der den Rundfunkbegriff erweitert und modernisiert und sich erstmals auch der Aufgabe stellt, die großen Gatekeeper im Internet in eine Regulierung aufzunehmen – ich nenne einmal das Stichwort „Plattformen intermediärer Videostreaming-Dienste“. Das ist gut, und das ist richtig so. Die Länder erfüllen ihre Aufgabe, und wir können den Dialog zwischen den Ländern und dem Bund weiter organisieren und befördern. Wenn wir das gemeinsam tun, dann finde ich das tatsächlich ganz großartig. Die Vorschläge der FDP sind für meine Fraktion – so will ich es einmal sagen – doch zu klein. Sie zielen eher darauf ab, den Funktionsauftrag der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und der Sender auf eine minimale Basis zu beschränken. Das wird den Herausforderungen aus unserer Sicht nicht gerecht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, abschließend möchte ich sagen: Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und eine vielfältige und freie Medienlandschaft sind konstitutiv für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist für mich so etwas wie die Achillessehne derselben: ({1}) elementar für die Funktionsweise, für die Beweglichkeit des Gesamtsystems. Ich weiß im Moment sehr wohl, wovon ich rede, wie es ist, wenn das mit der Achillessehne nicht mehr so funktioniert, wie es soll. ({2}) In diesem Sinne: Lassen Sie uns dafür werben und dafür streiten, dass die Stabilität und die Funktionsfähigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks erhalten bleiben. Mit Ihnen darüber im Ausschuss zu diskutieren, darauf freue ich mich. Herzlichen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. Wir haben Ihrem Handicap hier ausreichend Rechnung getragen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf Sie von einem Zwischenstand unterrichten – dieses Haus ist doch lernfähig –: Wir haben es bis jetzt durch die vielfältigen Reden, die bereits jetzt zu Protokoll gegeben worden sind, geschafft, das Ende der Verweildauer auf 2.50 Uhr zu reduzieren. Das ist immer noch ein Ansporn, sich daran zu beteiligen, dass es auch noch früher werden kann. Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Thomas Hacker, FDP-Fraktion. ({0})

Thomas Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004734, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erinnern Sie sich: Kein Sonntag ohne „Tatort“, jeden Abend schaut die Familie gemeinsam Nachrichten, „heute“ beim ZDF oder die „Tagesschau“ bei ARD. Über Jahrzehnte war der öffentlich-rechtliche Rundfunk der häufigste Gast in den Wohnzimmern der Republik. „War“, meine Damen und Herren; denn private Rundfunksender ergänzen die Programme, und die digitale Revolution verändert die Mediennutzung und das Medienverhalten der Gesellschaft in atemberaubendem Tempo. Information und Unterhaltung sind im Internet durch Sky, Netflix, Amazon Prime – und wie die Anbieter alle heißen mögen – jederzeit verfügbar und werden jederzeit genutzt. Kaum einer der jüngeren Generation sitzt Punkt 20 Uhr daheim im Wohnzimmer auf der Couch. Lineares Fernsehen, meine Damen und Herren, konsumieren heute überwiegend nur noch Personen über 60 Jahre. Gleichzeitig verschwindet das Vertrauen der Menschen in Medien. Ist eine Nachricht glaubwürdig, oder sind es doch nur Fake News, die gerade verbreitet werden? Immer mehr Akteure versuchen, Einfluss zu nehmen, versuchen, Menschen durch direkte Ansprache zu beeinflussen, versuchen, ihre oft abstrusen Botschaften unter das Volk zu bringen. Populismus scheint hier ein leichtes Geschäft zu sein. Das, meine Damen und Herren, sind die Herausforderungen, die wir angehen müssen. Wir Freie Demokraten wollen diese Herausforderung angehen. ({0}) Wir Freie Demokraten bekennen uns zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk und wollen ihn gerade deshalb fit für die Zukunft machen. Wir wollen einen starken öffentlichen Rundfunk, der durch Qualität überzeugt. Wir wollen einen öffentlichen Rundfunk, der sich auf seine Kernaufgaben konzentriert, der sich auf die Bereiche Information, Bildung und Kultur fokussiert und damit Vertrauen und Glaubwürdigkeit bei den Bürgern zurückgewinnt. ({1}) Und wir wollen das Programm digitaler und online besser verfügbar machen. Ja, wir Freie Demokraten sind davon überzeugt, dass der begonnene Strukturwandel beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk noch nicht ausreicht, um den Herausforderungen der Zukunft zu begegnen. Denkverbote darf es nicht geben. Brauchen wir tatsächlich zwei nationale Sender? Können vielleicht noch weitere Länderanstalten enger zusammenarbeiten oder gar fusionieren? Ist es tatsächlich notwendig, wenn es doch staatlich garantierte Beitragseinnahmen gibt, zusätzlich noch Werbung und Sponsoring zu verkaufen? Und wie sieht es mit den horrenden Preisen für Großereignisse in Unterhaltung und Sport aus? Der Antrag der Grünen beschäftigt sich vor allem mit der digitalen Agenda des öffentlichen Rundfunks. Das ist richtig und wichtig. Aber lässt sich allein damit schon die Zukunft meistern?

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Hacker, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der AfD-Fraktion?

Thomas Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004734, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Können wir am Schluss machen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Nein, am Schluss kann man keine Zwischenfrage mehr stellen.

Thomas Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004734, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Dann sollen sie eine Kurzintervention machen. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Okay. Also: Sie wollen sie nicht zulassen.

Thomas Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004734, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein. – Es ist richtig und wichtig, die digitale Agenda ins Zentrum zu setzen; aber es reicht eben nicht aus. Wir, liebe Kollegen von den Grünen, sehen den öffentlichen Rundfunk als einen Akteur in einer pluralistischen Medienlandschaft – gleichberechtigt mit privaten Anbietern, nicht bevorzugt. Meine Damen und Herren, wenn es uns gelingt, den Rundfunkauftrag neu und fokussiert zu fassen und den Strukturanpassungsprozess im öffentlichen Rundfunk engagiert und konsequent fortzuführen, dann haben wir auch die Chance, auf das leidige Thema „Erhöhung der Rundfunkbeiträge“ die richtige Antwort zu geben. Die Beiträge können dann dauerhaft und deutlich gesenkt werden. Die einfache, aber schlechte Lösung der permanenten Beitragserhöhung durch die Indexierung ist dann hinfällig. ({0}) Lieber Kollege Rabanus, die FDP im Deutschen Bundestag hat Vertrauen in die Arbeit ihrer Landtagsfraktionen, in die Länderkompetenzen. Wir arbeiten eng zusammen, nehmen Impulse aus den Ländern auf und entwickeln sie gemeinsam weiter. Genau deswegen stelle ich mir die Arbeit, wenn wir über die Zukunft des öffentlichen Rundfunks reden, so vor: Bund und Länder gemeinsam, Impulse aus der Gesellschaft aufnehmen und weiterentwickeln. Dazu sind wir Freie Demokraten bereit, und dazu laden wir auch ein. Herzlichen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Hacker. – Als nächste Rednerin erhält das Wort die Kollegin Doris Achelwilm, Fraktion Die Linke. ({0})

Doris Achelwilm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004651, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Anwesende! So schlimm sieht es mit der Akzeptanz des Öffentlich-Rechtlichen tatsächlich nicht aus. 83 Prozent der in Deutschland Befragten geben laut einer aktuellen Umfrage von Infratest an, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk für sie unverzichtbar ist. ({0}) In allen Altersgruppen genießt er breite Unterstützung und mehr Glaubwürdigkeit als die Privaten. Daran zeigt sich, dass viele Beschäftigte bei ARD, ZDF und Deutschlandfunk wichtige wertgeschätzte Arbeit leisten. ({1}) Uns kommt bei der aktuell recht breiten Debatte um den öffentlich-rechtlichen Rundfunk doch noch einiges zu kurz. Die Situation gut ausgebildeter Mitarbeiter und Journalisten und Journalistinnen, die jeden Tag das inhaltliche Programm stemmen, gehört sicherlich dazu. Ein besonderes Augenmerk liegt für die Linke auf den Arbeitsbedingungen der vielen sogenannten festen Freien, ohne die der öffentlich-rechtliche Rundfunk gar nicht mehr laufen würde. Dass sie sozialversicherungsrechtliche Nachteile haben und ihr Berufsleben nur bedingt planen können, kann nicht zufriedenstellen. Hier müssen die zuständigen Länder zusammen mit Freienvertretung und Personalräten erreichen, dass prekäre Arbeit wieder zurückgedrängt statt ausgeweitet wird. ({2}) Gleichstellung und Diversität in den Redaktionen und vor der Kamera sind ebenfalls Themen, die höher hängen müssen. Der Nachholbedarf ist bekannt. Wenn jenseits solcher Aufgaben die Zukunft des Öffentlich-Rechtlichen bei der FDP vor allem dann doch auch in Sparmaßnahmen und schlanken Strukturen gesehen wird, geht das an zentralen Bedarfen vorbei und macht auch etwas hellhörig. Wir sind nicht für Zusammenführungen und Zusammenlegungen von Anstalten. ({3}) Die föderale Senderlandschaft und auch die kleinen Anstalten gehören nämlich mit ihren regionalen Arbeits- und Entwicklungsbedingungen und crossmedialen Vorzeigeproduktionen mindestens erhalten und unterstützt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk kommt in einer veränderten Medienlandschaft tatsächlich eine besondere Verantwortung zu, die er noch nicht ganz auslotet. Es ist bei allen Klärungsbedarfen enorm wichtig, ihn zu haben, gerade jetzt. Er sollte sich selbstbewusst um die Rolle bemühen, überzeugender Gegenpol zu Fake-News-Blasen, Desinformation und flacher Klick- und Quotenorientierung zu sein. In diesem Sinne erwarte ich übrigens auch von ARD-Talkshows, dass Beiträge, die Antisemitismus relativieren, klar eingeordnet und nicht einfach so stehen gelassen werden. ({4}) Zum technischen Wandel. Digitalisierung, neue Endgeräte und Nutzungsgewohnheiten bedeuten, dass es für den Öffentlich-Rechtlichen auch neue Rahmenbedingungen durch die Politik braucht. Um die regulatorischen Herausforderungen wurde sich jahrelang, auch hier im Hause, zu wenig gekümmert. Eine zentrale Frage ist tatsächlich – da stimmen wir zu –: Wie gehen wir mit Plattformen wie YouTube und Facebook um, die bislang weitgehend außerhalb der Medienpolitik operieren? Hier braucht es endlich zeitgemäße Konzepte, wie zum Beispiel den Angang einer gemeinsamen öffentlich-rechtlichen Mediathek, Algorithmentransparenz, gerade auch für die privatwirtschaftlichen Plattformen. Der Öffentlich-Rechtliche muss sich sichtbar im Netz präsentieren können. Statt Sendeanstalten mit Obergrenzen für Text – Stichwort „Presseähnlichkeit im digitalen Raum“ – unnötig zu gängeln, wäre es an der Zeit, Internetriesen wie Apple, Google, Amazon, Facebook zu kontrollieren, die genauso wenig Steuern zahlen, wie sie Verantwortung für Hetze im Netz übernehmen. ({5}) Bei Fragen zur Ausgestaltung des Rundfunkbeitrages – immer ein hitziges Thema – fehlt uns sozusagen deutlich soziale Kompetenz. Jedes Jahr gibt es dreieinhalb Millionen Mahn- und Vollstreckungsverfahren beim Beitragsservice. Dieser unschöne und unnötige Aufwand ließe sich deutlich reduzieren, wenn die Rundfunkbeiträge von den Menschen, die etwa im BAföG- oder SGB-II-Bezug auf Antrag befreit sind, als Verwaltungsakt staatlich kompensiert würden. So ein Modell, das auch laut Wissenschaftlichem Dienst die Staatsferne nicht berührt, könnte die Beitragshöhe stabilisieren und dafür sorgen, dass die Sendeanstalten für die nächsten Jahre Planungssicherheit haben. Wir hoffen, dass über solche Ansätze gründlicher nachgedacht wird. Vielen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Christoph Bernstiel, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Christoph Bernstiel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe noch anwesende Gäste! Ich bin ein großer Fan des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Sendungen wie „Leschs Kosmos“, „nano“, ZDFneo, aber auch Programmformate wie „extra 3“ und „Die Anstalt“ gehören dazu. Was man zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk auch sagen muss: Er scheint ja sehr gut zu funktionieren; das zeigt die Debatte hier. Lieber Herr Renner, Sie haben sich vorhin so köstlich darüber beschwert, dass Sie durch die Medien angeblich diskreditiert würden. Sie haben gesagt: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist ein Vasall der Regierung. ({0}) Ich kann Ihnen als Angehöriger einer Regierungspartei sagen: Wir sehen das ganz anders. – Wenn Sie jetzt die Debatte hier verfolgt haben, dann haben Sie festgestellt, dass eigentlich jeder irgendwie etwas zu kritisieren hat und sich vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk ein Stück weit nicht richtig behandelt fühlt. Das zeigt doch: Das System funktioniert. Genau das ist seine Aufgabe, nämlich keinen besonders herauszugreifen, sondern alle gleichmäßig zu kritisieren. Das ist doch ein gutes Zeichen, meine lieben Damen und Herren. ({1}) Aber es gibt natürlich auch Dinge, die zu kritisieren sind. Ich danke ausdrücklich den Kollegen von den Grünen und auch von der FDP dafür, dass sie eine sehr schöne Auflistung gemacht haben – das kann jeder nachlesen –, welche Punkte tatsächlich zu kritisieren sind und welche Dinge in Zukunft besser laufen müssen. Ich möchte noch einen Punkt herausgreifen: Das ist die Frage des Budgets und der Finanzierung. Die Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten hat bereits angekündigt, dass sie im nächsten Jahr eine Erhöhung von 3 Milliarden Euro möchte. Dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk steht ein Budget von ungefähr 8 Milliarden Euro zur Verfügung. Jetzt kann man sagen: Das ist sehr viel Geld. – Ja, das ist auch sehr viel Geld. Ich möchte dieser Zahl eine andere Zahl gegenüberstellen, da genau dieser öffentlich-rechtliche Rundfunk diese andere Zahl kritisiert hat. Da ging es um die Finanzierung des Deutschen Bundestages. Der Bundestag sei zu groß und zu teuer; darüber können wir diskutieren. Aber das komplette Budget des Deutschen Bundestages beträgt ungefähr 973 Millionen Euro. Das heißt, nicht einmal ein Achtel dessen, was dem kompletten öffentlich-rechtlichen Rundfunk zur Verfügung steht. Im nächsten Jahr sollen wir ernsthaft darüber diskutieren, dass zu dem Budget des öffentlich-rechtlichen Rundfunks noch einmal 3 Milliarden Euro hinzukommen sollen. Damit wären wir bei 11 Milliarden Euro gegenüber ungefähr 973 Millionen Euro für den Deutschen Bundestag. Da muss ich Ihnen sagen: An diesem Verhältnis kann etwas nicht stimmen. Da müssen wir sehr genau, natürlich in Absprache mit unseren Ländern, darüber diskutieren: Können wir diesen öffentlich-rechtlichen Rundfunk moderner und effizienter gestalten? Können wir über Fragen reden wie: Ist die Quote wirklich das ausschlaggebende Kriterium? Wie viel Konkurrenz gibt es eigentlich zu den privaten Medien? Wann kommen die wirklich relevanten Dinge in die Hauptsendezeiten? Das alles sind Punkte, die wir diskutieren müssen. Aber – das ist der Grund, warum wir Ihren Anträgen nicht zustimmen können –: Das müssen wir in den Ländern diskutieren; das wurde hier schon angesprochen. Aber ich bin gerne bereit, den Kollegen auch in den Rundfunkanstalten Ihre Anregungen vorzutragen. – Damit haben wir, sehr geehrter Herr Präsident, 50 Sekunden Redezeit gespart. ({2}) Herzlichen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Ich will das mit der Bemerkung begleiten, dass der Deutsche Bundestag sein Geld wert ist. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächster Redner hat das Wort der Kollege Helge Lindh, SPD-Fraktion. ({1})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie haben 50 Sekunden Redezeit gespart, Herr Bernstiel. ({0}) – Für Frau Motschmann. Das ist wunderbar. Für mich wäre es aber auch sinnvoll gewesen. Trotzdem wären das nicht unbedingt 50 Sekunden mehr Wahrheit, sondern eher 50 Sekunden, die ich nutzen muss, um Sie in einem Punkt zu kritisieren. Wir sind uns im Grundsätzlichen einig. Aber ich erlaube mir am Anfang doch die Bemerkung: ob es wirklich angebracht ist, den Wunsch nach einer Etatsteigerung und Budgetfragen des öffentlichen Rundfunks mit dem Etat des Bundestages zu vergleichen, um dann aus unserer Sicht, also als diejenigen, die ja selber die Betroffenen sind, darüber zu richten, dass das zu viel sei. Ich halte das für etwas problematisch. Ich wünsche mir einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der sehr gut ausgestattet ist, der exzellente Arbeitsbedingungen hat. Es ist meine geringste Sorge, dass dieser öffentliche Rundfunk besser ausgestattet sein könnte als der Bundestag. Ich glaube, diesen Zustand werden wir leicht überleben. ({1}) Wir haben in der SPD-Fraktion einen leichten Wettbewerb: Der Kollege Rabanus hat mit seiner Achillesferse vorgelegt und dann auch noch zu Recht davon gesprochen, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk so was wie die Achillesferse des Mediensystems und der Informationslandschaft sei. Sie sehen es mir nicht an, aber nehmen Sie jetzt an, ich stünde mit gebrochenem Herzen vor Ihnen. ({2}) Ich steigere das Ganze noch und sage: Tatsächlich – das meine ich bitterernst – ist dieser öffentlich-rechtliche Rundfunk, der gegenwärtig aus vielen Ecken angegriffen wird, ohne Zweifel so etwas wie die Herzkammer des Zugangs zu Bildung und Information in diesem Land. Ich möchte Ihnen auch ein Beispiel nennen – für die AfD-Fraktion wäre das besonders hilfreich, geradezu ein Bildungserlebnis –: die Medienplattform funk. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, im Rahmen des Öffentlich-Rechtlichen gerade die Zielgruppe der 14- bis 29-Jährigen zu erreichen. In dieser sehr wertvollen Plattform findet sich unter anderem eine Sendereihe namens „Jäger & Sammler“. Einer der Moderatoren ist Tarik Tesfu. Er hat aus Sicht der Feinde des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und der Freunde des Rechtspopulismus etwas ganz Schlimmes gemacht: Er wagt es, schwul, schwarz und Feminist zu sein, und auch, sich gegen Faschismus einzusetzen. Das Ergebnis seines Auftretens, das mutig und ein Beispiel ist für die Qualität des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, ist, dass er bergeweise Drohungen, sogar Morddrohungen erhält und andere höchst unappetitliche Erfahrungen machen musste. ({3}) Kaum hatte ich mit ihm ein Interview geführt, konnte ich selber die sehr unerfreuliche Erfahrung einer Morddrohung und der Aussetzung eines Kopfgeldes machen. Gerade diese Erfahrung von Tarik Tesfu und anderen sollte uns, glaube ich, Grund genug sein, alles zu tun, um diesen öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu stärken. ({4}) Deshalb ist es bei allem Respekt vor der liberalen Medienpolitik aus meiner Sicht kein Kriterium, dass diese öffentlich-rechtliche Struktur besonders schlank und effizient sein muss. Das klingt mir ein bisschen zu sehr nach neoliberaler Folklore. Auch die Idee, wir bräuchten eine nationale Rundfunkanstalt und möglichst weniger Sender, ist eher so was wie ein Minimalismus, den wir uns nicht leisten können. Wir müssen uns auf diesem Gebiet Maximalismus leisten. ({5}) Die Debatte, zum Beispiel um den Klimaschutz, zeigt, dass es nicht immer gut ist, allein vom Nutzer her zu denken und zu fragen: Wie bringen wir das mit seinem Verhalten in Einklang? Wie teuer ist das? Vielmehr müssen wir uns das Ganze systemisch angucken. Deshalb brauchen wir zum Beispiel beim Klimaschutz einen ganz starken öffentlichen Personennahverkehr. Wir brauchen auch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk; denn dieser ist nichts anderes als der öffentliche Personennahverkehr zu Information, zu Bildung und auch zu Unterhaltung, gerade für diejenigen, die nicht die Möglichkeit haben, durch Elternhaus oder anderes solche Zugänge automatisch zu bekommen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Lindh. – Als letzte Rednerin erhält das Wort für einen Vierminutenbeitrag die Kollegin Elisabeth Motschmann, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Elisabeth Motschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004357, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Plus 50 Sekunden! – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die 26 Forderungen und Punkte in dem Antrag der FDP sowie die 18 in dem der Grünen sind gut gemeint, aber falsch adressiert. Nicht wir, der Bundestag, sondern die Bundesländer sind zuständig. Diese Zuständigkeit hat sich in 70 Jahren bewährt. Deshalb wollen wir sie auch nicht ändern. Aber wir nehmen die Wünsche der Opposition natürlich gerne entgegen und stellen uns der Diskussion. Gerade in Zeiten zunehmender Desinformation, von Propaganda und Hass im Netz ist eine unabhängige Berichterstattung sehr, sehr wertvoll und wichtig. Das Medienangebot in Deutschland ist eines der qualitativ hochwertigsten und vielfältigsten der Welt – dank des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sowie der privaten Medien; auch das sei hier gesagt. Das duale System hat sich bewährt. Diese vielfältige Medienlandschaft müssen wir erhalten und schützen. – Ich habe mir nicht träumen lassen, dass wir das irgendwann mal so formulieren müssen. Dennoch wird über die Legitimation des öffentlich-rechtlichen Rundfunks derzeit verstärkt diskutiert: Sind die Gebühren zu hoch? Brauchen wir den öffentlich-rechtlichen Rundfunk im digitalen Zeitalter überhaupt noch? Diese Fragen sind legitim; denn sie werden von etwa einem Drittel der Deutschen gestellt. Allerdings gibt es immer häufiger polemische, haltlose Kritik. Mit Vorwürfen wie „Staatsfunk“, „Lügenpresse“ oder „Fake News“ wird man ARD und ZDF in keinster Weise gerecht. Wer das Vertrauen – und das sage ich in Richtung AfD – in unsere öffentlich-rechtlichen Medien zerstört, der zerstört Demokratie. ({0}) Deshalb fordere ich Sie auch hier auf: Hört endlich auf mit den substanzlosen Angriffen auf die öffentlich-rechtlichen Medien! ({1}) – Denken Sie lieber mal darüber nach, dass eben diese Medien demokratische Werte vermitteln, dass sie überparteilich sein müssen, dass sie Kultur und Information, Bildung und Unterhaltung gewährleisten müssen, damit wir dieses breite Programmangebot haben. Ich habe erstens den Wunsch, dass nicht nur Einschaltquoten das Programm bestimmen, ich habe zweitens den Wunsch, dass programmankündigende Trailer weniger Gewalt enthalten – Werbung mit brutalen Szenen ist nicht verantwortbar und garantiert im Übrigen auch keine höheren Einschaltquoten –, und drittens habe ich den Wunsch – diesen Wunsch verstehen Sie alle, und er liegt mir sehr am Herzen –, dass es mehr Frauen vor der Kamera gibt. ({2}) Das Bemühen der Sender erkenne ich an. Bis zum Alter von Mitte 30 ist das Verhältnis von Frauen und Männern vor der Kamera ausgeglichen. Super! Aber ab einem Alter von 35 bricht der Graben auf. Je älter sie werden, desto weniger sind Frauen im Fernsehen vertreten, und das ist nicht in Ordnung. ({3}) Ab 50 Jahren ist nur noch ein Viertel der Protagonisten weiblich; bei 59 Jahren endet die Statistik. Ich komme da also gar nicht mehr vor. ({4}) In den Talkshows und Nachrichtensendungen beträgt der Anteil der Expertinnen nur 21 Prozent, und das reicht nicht. ({5}) Es reicht mir jetzt langsam, dass wir das immer wieder sagen müssen. Danke schön. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Motschmann. – Mit diesem dringenden Appell für mehr Frauen, auch für mehr gestandene Frauen im Fernsehen beende ich die Debatte. ({0})

Kerstin Griese (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003440

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir wollen das Bundesteilhabegesetz und damit die Politik für Menschen mit Behinderungen und für mehr Inklusion weiterentwickeln. Bei dem hier vorliegenden SGB-IX-/SGB-XII-Änderungsgesetz geht es neben einigen technischen und redaktionellen Korrekturen auch um einige wichtige Punkte, damit das Bundesteilhabegesetz zukunftsfest und belastbar ausgerichtet ist. Damit das Bundesteilhabegesetz zum 1. Januar 2020 gut und problemlos in Kraft treten kann, haben wir hier mit einem Änderungsantrag folgende Änderung vorgenommen: Ab 1. Januar 2020 werden die Fachleistungen der Eingliederungshilfe und die existenzsichernden Leistungen getrennt ausgezahlt. Dafür müssen die Träger der Sozialhilfe und der Eingliederungshilfe ihre bisherigen Verfahren umstellen. Leistungsberechtigte Personen erhalten ihre Rente nun vollständig auf ihr eigenes Konto – zum Monatsende, wie das bei Renten üblich ist. Damit alle Menschen mit Behinderungen aber schon Anfang Januar für ihren Lebensunterhalt aufkommen können, muss ihnen ihr Bedarf für den Lebensunterhalt zu Beginn dieses Monats in voller Höhe zur Verfügung stehen. Das wird jetzt durch einen Änderungsantrag sichergestellt. Damit wird Anfang Januar 2020 kein Abzug von der Grundsicherung aufgrund der erst Ende Januar zufließenden Rente stattfinden. Der Bund übernimmt für diese einmalige Umstellung die Kosten. Mit dem Bundesteilhabegesetz stärken wir die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen erheblich. Wir holen die Menschen mit Behinderungen in die Mitte unserer Gesellschaft; denn da gehören sie auch hin. Das Bundesteilhabegesetz umzusetzen, ist ein langer Prozess. Es ist ein lernendes Gesetz, und diese Reform tritt in drei Stufen in Kraft. Zwei Etappen haben wir bereits genommen, die dritte und wohl bedeutendste Stufe steht uns jetzt unmittelbar bevor, die Reform der Eingliederungshilfe zum 1. Januar 2020. Das heißt: Die Betroffenen können in Zukunft selbst entscheiden, welche Leistungen der Eingliederungshilfe sie von wem in Anspruch nehmen. Diese Entscheidungen können jetzt nicht mehr über die Köpfe der Menschen mit Behinderungen hinweg getroffen werden. Damit schaffen wir mehr Selbstbestimmung. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine weitere Änderung, die wir umsetzen, ist ein höherer Freibetrag für erwerbstätige blinde Menschen, der bisher nur galt, wenn daneben Leistungen der Hilfe zur Pflege oder der Eingliederungshilfe bezogen wurden. Mit dem Änderungsantrag wird nun klargestellt, dass dieser privilegierte Freibetrag auch für diejenigen gilt, die ausschließlich Leistungen der Blindenhilfe erhalten. Auch das ist also eine Verbesserung. Meine Damen und Herren, das Bundesteilhabegesetz war die große sozialpolitische Reform, die wir in der letzten Legislaturperiode beschlossen haben. Deshalb möchte ich bei dieser Gelegenheit daran erinnern, dass zum 1. Januar kommenden Jahres weitere wesentliche Verbesserungen bei der Einkommens- und Vermögensanrechnung in der Eingliederungshilfe in Kraft treten. Das ist ein echter Meilenstein für Menschen mit Behinderungen; denn die Einkommensanrechnung wird deutlich verbessert, und die von vielen als sogenanntes Heiratsverbot angesehene Anrechnung des Partnereinkommens wird abgeschafft. Zudem erhöhen wir die Vermögensfreigrenze deutlich auf 50 000 Euro. Deshalb: Ein echter Meilenstein für Menschen mit Behinderungen. ({1}) Was mir ganz wichtig ist: Damit fördern und unterstützen wir auch die Erwerbstätigkeit und Erwerbsfähigkeit von Menschen mit Behinderungen, die im Alltag ja oftmals wesentlich mehr leisten müssen und mehr Probleme haben als Menschen, die keine Beeinträchtigung haben. Ich sage an dieser Stelle vielen Dank an alle Beteiligten, die dabei mitgeholfen haben, dass wir nun mit diesem SGB-IX-/SGB-XII-Änderungsgesetz auch die letzten Hürden abbauen können, damit die nächste Stufe des Bundesteilhabegesetzes am 1. Januar 2020 gut in Kraft treten kann. Mein Dank gilt besonders dem Deutschen Verein, der die Umsetzungsbegleitung maßgeblich und federführend organisiert hat, und gilt den Verbänden und Vertretungen von Menschen mit Behinderungen, die immer beteiligt waren. Ich danke auch den Berichterstatterinnen und Berichterstattern im Bundestag für ihre Arbeit und bitte Sie herzlich um Zustimmung zu diesem Gesetz. Vielen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Uwe Witt, AfD-Fraktion. ({0})

Uwe Witt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004937, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste des Hohen Hauses! Im Jahr 2018 gab es laut Mikrozensus 3,1 Millionen Menschen mit Behinderung im Alter zwischen 15 und 65 Jahren. Um diesen Menschen zu helfen und ihnen eine selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen, debattieren wir heute hier. Geplant ist, dass für jeden Menschen mit Behinderung zukünftig ein sogenannter Teilhabeplan erstellt werden soll. Hieraus werden dann alle verfügbaren Leistungen in zwei Hilfearten unterteilt und – auch das wird neu sein – getrennt voneinander finanziert. Das heißt, zukünftig wird zwischen der Hilfe zum Lebensunterhalt und den Fachleistungen zum Bewältigen des Lebens bei freier Wahl der Wohnform unterschieden. Welche Unterstützung dabei ein Mensch mit Behinderung erfährt, soll zukünftig also vom persönlichen Bedarf abhängen. Bei Menschen mit Behinderungen in Wohngruppen etwa sollen die reinen Wohnkosten nunmehr akribisch von den Leistungen zur Eingliederungshilfe getrennt werden. Diese akribische Trennung kann sich in der Praxis problematisch auf die beteiligten Personenkreise auswirken, da ganz neue Instrumente der Bedarfserhebung im Teilhabe- und Gesamtplanverfahren geschaffen werden. Laut einer Studie des Wirtschaftsprüfungsunternehmens Curacon gibt es bei den Trägern der Eingliederungshilfe extreme Vorbehalte und Verunsicherungen, und zwar durch zu spät verabschiedete Ausführungsgesetze, ausstehende Landesrahmenverträge, hohe Aufwände im Vorbereitungsprozess und Zweifel an der Erreichung der gesetzlichen Ziele des Bundesteilhabegesetzes. Aus diesen Gründen müssen wir hier dafür Sorge tragen, dass sich der eigentliche Ansatz, mehr Teilhabe für Menschen mit Behinderung, durch die Einführung und die geplanten Änderungen im SGB IX und im SGB XII nicht ins Gegenteil verkehrt. Bereits bei der Anhörung am Montag haben mehrere Sachverständige diverse Umsetzungsprobleme benannt und Ihnen auch Verbesserungsvorschläge gemacht. Zu Recht wurde kritisiert, dass Deutschland die Behindertenrechtskonvention nicht zielgerecht umsetzt. Zusätzlich haben Sie mit dem Bundesteilhabegesetz ein Bürokratiemonster geschaffen, anstatt Leistungen für Menschen mit Behinderung individuell und fallbezogen unkompliziert bewilligen zu können. ({0}) Leider haben Sie auch im Bereich der Teilhabe im Arbeitsleben zu kurz geworfen. Seit 2015 kritisiert der Fachausschuss der UN, wie sich in einigen Bereichen das Leben von Menschen mit Behinderung in Deutschland entwickelt hat. Für den Bereich „Arbeit und Beschäftigung“ kritisierte der UN-Fachausschuss insbesondere finanzielle Fehlanreize, die Menschen mit Behinderungen am Eintritt oder Übergang in den allgemeinen Arbeitsmarkt hindern, und den Umstand, dass Behindertenwerkstätten weder auf den Übergang zum allgemeinen Arbeitsmarkt vorbereiten noch diesen Übergang fördern. Der Ausschuss der UN empfiehlt weiterhin, durch entsprechende Vorschriften wirksam einen inklusiven, mit dem Übereinkommen in Einklang stehenden Arbeitsmarkt durch folgende Maßnahmen zu schaffen: durch Beschäftigungsmöglichkeiten an zugänglichen Arbeitsplätzen, insbesondere für Frauen mit Behinderung, durch die sukzessive Abschaffung der Behindertenwerkstätten durch Ausstiegsstrategien und Zeitpläne sowie durch Anreize für die Beschäftigung bei öffentlichen und privaten Arbeitgebern im allgemeinen Arbeitsmarkt. Liebe Kollegen, die Anhörung am Montag hat deutlich gemacht, dass Sie gerade im Bereich der Teilhabe am Arbeitsleben deutliche Verbesserungen schaffen müssen, auch und gerade was den Übergang von einer Behindertenwerkstatt in den ersten Arbeitsmarkt betrifft. Hier bedarf es einer guten und individuellen Beratung; denn die Teilhabe am Arbeitsleben ist ein wichtiger Faktor, damit Menschen mit Behinderung trotz ihrer Behinderung am Leben teilhaben können. ({1}) Begrüßenswert wäre es, wenn noch mehr Unternehmen schwerbehinderte Menschen ausbilden und individuell fördern. Daher haben wir als AfD die Einführung eines Bonussystems für Arbeitgeber gefordert, die über der gesetzlichen Quote schwerbehinderte Menschen beschäftigen. Das weckt Interesse an individuellen Fördermöglichkeiten, auch bei den 37 000 Unternehmen in Deutschland, die keinen Menschen mit Behinderung beschäftigen. ({2}) Wir alle müssen gemeinsam in diesem Hohen Hause weitere Anstrengungen unternehmen, damit Deutschland die Einhaltung der Behindertenrechtskonvention, welche sie im Jahr 2009 unterschrieben hat, erreicht. Diese Verpflichtung gegenüber den Menschen mit Behinderung sollte dementsprechend auch so umgesetzt werden. Herr Präsident, ich komme zum Schluss. Bei dem vorliegenden Gesetzentwurf ist festzuhalten: Die Bundesregierung nimmt einige wichtige Korrekturen vor, die aber leider nicht weit genug gehen. Auch durch das kurze Zeitfenster bis zum Inkrafttreten der neuen Regelungen bleibt abzuwarten, inwieweit die Umsetzung bis 1. Januar 2020 auf Länderebene überhaupt gelingen kann. Vielen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Die Präsidentin bedankt sich. Danke schön, Uwe Witt. Guten Abend, liebe Kolleginnen und Kollegen, zur nächsten Runde. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Wilfried Oellers. ({0})

Wilfried Oellers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004365, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren auf den Zuschauerrängen! Wir beraten heute ein Änderungsgesetz zu den Sozialbüchern XII und IX. Dies sind Konsequenzen aus dem Bundesteilhabegesetz, das wir in der letzten Legislaturperiode verabschiedet haben und das für Menschen mit einer Beeinträchtigung vielfältige Verbesserungen mit sich gebracht hat. Bei einem solch großen Gesetzesvorhaben, das wir hier gestemmt haben, kann es natürlich sein – und das ist leider Gottes eingetreten –, dass es im Rahmen der gesetzlichen Formulierungen Unklarheiten und Widersprüche gibt. Durch dieses Änderungsgesetz werden entsprechende Korrekturen vorgenommen, die sich vornehmlich auf redaktionelle Dinge beschränken. Ich bin in meiner Rede im Rahmen der ersten Lesung darauf eingegangen und darf darauf verweisen. Ausdrücklich eingehen möchte ich auf die Änderungsanträge, die wir Ihnen vorgelegt haben und für die wir um Zustimmung bitten. Eine ganz wichtige und vor allen Dingen dringliche Regelung bezieht sich auf die Nichtanrechnung der Renten, um Zahlungslücken für den Monat Januar 2020 zu vermeiden; es geht um § 140 SGB XII. Frau Staatssekretärin Griese ist schon sehr ausführlich auf die Umstände eingegangen. Aufgrund des Systemwechsels, den wir jetzt anstreben, hin zur Trennung von Eingliederungshilfen und existenzsichernden Leistungen, kommt es zu dieser Problematik bei der Anrechenbarkeit und zur Anrechnungslücke. Hier würden wir sehenden Auges in die Situation geraten, dass die Menschen, die von dieser Anrechnungsthematik betroffen sind, für den Monat Januar einen Einnahmeausfall hätten und so ihr tägliches Leben nicht finanzieren könnten. Das können wir natürlich nicht hinnehmen. Hier ist dringender Handlungsbedarf geboten. Deswegen planen wir die einmalige Aussetzung der Anrechnung für den Monat Januar 2020. Die Kosten werden vom Bund übernommen. In die Übergangsregelung – das ist auch ganz wichtig, weil man da noch einmal nachjustieren musste – sind alle Betroffenen einbezogen, sodass im Ergebnis jeder Leistungsberechtigte von dieser positiven Regelung profitieren kann. Ein weiterer Punkt – die Staatssekretärin hat es schon angesprochen – ist die Ausweitung und Klarstellung bei der Einkommensfreiheit für erwerbstätige Blinde nach § 82 Absatz 6 SGB XII. Die bisherige Regelung besagt, dass von diesem privilegierten Freibetrag nur erwerbstätig Leistungsberechtigte profitieren können. Personen, die „nur“ ein Blindengeld erhalten, aber keine weiteren Einkünfte haben, profitieren von diesem Freibetrag nicht. Das ist eine Ungleichbehandlung. Hier wollen wir Abhilfe schaffen. Deswegen erfolgt auch hier eine entsprechende Anpassung. Darüber hinaus werden wir bei der Ermittlung von Bedarfssätzen im Hinblick auf die durchschnittlichen Warmmieten Konkretisierungen vornehmen, unter welchen Rahmenbedingungen hier die entsprechenden Vergleichszahlen heranzuziehen sind. Als weiteren Punkt möchte ich die Ergänzungen in § 45 Satz 3 SGB XII erwähnen. Auch das ist eine Änderung in Folge des Bundesteilhabegesetzes, damit auch im Teilhabeplanverfahren die Feststellung der Dauerhaftigkeit einer vollen Erwerbsminderungsrente erfolgen kann. Wir werden mit diesem Gesetzentwurf, den wir heute hoffentlich mit Ihrer Zustimmung verabschieden werden, nicht aufhören, tätig zu sein. Mit dem sich schon im parlamentarischen Verfahren befindlichen Angehörigen-Entlastungsgesetz werden wir weitere Verbesserungen für Menschen mit einer Beeinträchtigung vornehmen. Ich möchte hier schon einmal das Budget für Ausbildung ankündigen und insbesondere auch die Entlastung von Angehörigen. Weil in meiner Vorrede die Werkstätten für Menschen mit Behinderung kritisiert worden sind, möchte ich die letzten Sekunden dazu nutzen, eine Lanze für sie zu brechen. Auch wenn die UN-Behindertenrechtskonvention vermeintlich davon ausgeht, dass diese Einrichtungen nicht tunlich sind, sage ich Ihnen für meine Fraktion ganz deutlich, dass wir ohne diese Einrichtungen nicht auskommen. Herzlichen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Wilfried Oellers. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Jens Beeck. ({0})

Jens Beeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004666, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Hochverehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste des Hauses! Frau Staatssekretärin Griese, mit dem vorliegenden Reparaturgesetz werden überfällige Nachjustierungen im Bundesteilhabegesetz vorgenommen, die aber mit Abstand nicht ausreichen. Frau Griese, wenn Sie sagen, damit würden die letzten Hürden abgeräumt, um zu einer erfolgreichen Implementierung zum 1. Januar 2020 zu kommen, dann weiß ich, weil ich Sie hoch schätze und respektiere, dass Sie das selbst nicht geglaubt haben. ({0}) Wir Freien Demokraten schlagen vor, die Integration von Menschen mit Behinderung in den ersten Arbeitsmarkt zu verbessern, indem wir die Kopplung an § 18 Absatz 1 SGB IV, die dazu führt, dass der sogenannte Minderleistungsausgleich nur auf Mindestlohnniveau erfolgen kann, endlich aufheben; ({1}) Das hemmt nämlich insbesondere bei Menschen mit hoher Qualifikation, die zum Teil ihre Behinderung erst nach langer Erwerbstätigkeit erfahren haben, die Integration in den Arbeitsmarkt und stigmatisiert die Leistung dieser Menschen, die eben deutlich mehr leisten können. ({2}) Wir müssen gerade für Menschen mit psychischen Erkrankungen mehr tun. Dazu ist das Instrument der anderen Leistungsanbieter eingeführt worden, das, unabhängig davon, Herr Oellers, wie man zu Werkstätten für Menschen mit Behinderungen steht, flexibler und schneller am Markt auch für kleinere und spezifischere Gruppen mit deren Bedarfen operieren soll. Wenn das funktionieren soll, müsste man sie auf der einen Seite von zu viel Bürokratie entlasten und auf der anderen Seite mindestens bei der Privilegierung etwa im Bereich der Ausgleichsabgabe gleichstellen. Die GroKo macht mit diesem Gesetzentwurf den genau gegenteiligen Schritt und entzieht dieses Privileg den anderen Leistungsanbietern endgültig. Auch das ist ein völlig falscher Weg, den die GroKo an dieser Stelle geht. ({3}) Im Gegenzug fehlt in diesem Gesetz eigentlich alles an materiellen Verbesserungen; da ist gar nicht viel drin. Etliches versäumen Sie hier. Und das, was Sie machen, machen Sie viel zu spät; denn, wie wir schon gesagt haben, zum 1. Januar 2020 ändert sich Dramatisches. Für die Familien, für die Betroffenen, für die Leistungserbringer und auch für die Kostenträger sind ganz viele Fragen nach wie vor offen. Das betrifft insbesondere die eben nicht sehr personenzentrierte Trennung von Fachleistungen der Eingliederungshilfe zu Leistungen zum Lebensunterhalt. Sie haben zugelassen, dass Quadratmeter und Flächen in den Einrichtungen dem SGB-XII-Bereich und dem SGB-IX-Bereich aufwendig zugeordnet werden mussten, um jetzt, zehn Wochen bevor das Gesetz in Kraft tritt, zu sagen: Es ist vielleicht gar nicht so nötig gewesen, diese Zehntausenden von Stunden zu investieren, weil wir jetzt sagen: Oberhalb der 125-Prozent-Grenze werden die Fachleistungen von der Eingliederungshilfe übernommen. – Das hätte man viel früher machen können. Dann hätten die Einrichtungen die Chance gehabt, sich früher auf das einzustellen, was zum 1. Januar 2020 erfolgt. Es geht aber noch weiter. Nachdem Sie zugelassen haben, dass man Einkauf und Zubereitung von Mittagessen unterschiedlich bewerten muss, kommt mit dem Gesetz für die Elektromobilität – früher hieß es Jahressteuergesetz – noch eine möglicherweise teilweise Umsatzbesteuerung des Mittagessens in den Einrichtungen hinzu. Das soll Personenzentriertheit sein? Ich kann Ihnen nur sagen: Das versteht niemand. ({4}) Sie hätten sich handlungsfähig zeigen können, indem Sie das, was in umfassenden Änderungsanträgen im Ausschuss von den Freien Demokraten, von den Grünen, von den Linken eingebracht worden ist, in den Gesetzentwurf aufgenommen hätten, um zu einer besseren Integration zum 1. Januar 2020 beizutragen. Das versäumen Sie hier leider. Umgekehrt holen Sie die Regelung zur drohenden Zahlungslücke, die Sie aus dem Entwurf herausgenommen und in das Angehörigen-Entlastungsgesetz gepackt haben, jetzt wieder zurück. Das ist mit Verlaub, Frau Staatssekretärin Griese, Chaos und keine strukturierte Tätigkeit zum Wohle der Menschen mit Behinderung. Das hilft am Ende nicht. Frau Präsidentin, ich komme zum Ende. Das Reparaturgesetz, das Sie jetzt selbst so nennen, bleibt unzureichend. Zehn Wochen vor dem Jahreswechsel ist das ein Gesetzentwurf der verpassten Gelegenheiten. Deswegen ist er auch nicht zustimmungsfähig. Vielen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Jens Beeck. – Nächster Redner in der Debatte: Sören Pellmann für die Fraktion Die Linke. ({0})

Sören Pellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte ich vorab sagen: Die Anhörung am Montag hat erneut deutlich gezeigt, welche gravierenden Mängel insbesondere bei der Beteiligung von Menschen mit Behinderungen in Gesetzentwürfen noch immer vorliegen. Eine Anhörungsfrist von zehn Tagen ist eben deutlich zu wenig. ({0}) Zweiter Kritikpunkt in Bezug auf die Anhörungen. Wenn man mit Interessenvertreterinnen und Interessenvertretern spricht, wird man gespiegelt bekommen, dass es nicht einmal möglich ist, dass der Deutsche Bundestag Dokumente, die in diesen Anhörungen verwendet werden, barrierefrei zur Verfügung stellt. So viel zur UN-BRK. ({1}) Auch das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist für uns ein deutlicher Rückschritt und ein Verstoß gegen die UN-Behindertenrechtskonvention, insbesondere wenn es um Partizipation geht. Ich habe dazu bei der Bundesregierung angefragt und erhoffe mir in der nächsten Woche eine Antwort, wie denn die Bundesregierung zukünftig bei Anhörungen mit der barrierefreien Verfügbarkeit von Dokumenten umgehen wird. Nun aber zu den heute hier zu beratenden Anträgen und zum Gesetzentwurf. Die verpflichtende Beschäftigungsquote wurde gesenkt. Man hat gehofft, dass die Wirtschaft selbst die Initiative ergreift und mehr Menschen mit Behinderungen beschäftigt. Der Beschluss, die Schwerbehindertenausgleichsabgabe abzusenken, feierte vor wenigen Tagen im Übrigen 19. Geburtstag. Ich bin in den Katakomben des Deutschen Bundestages gewesen, im Keller, und habe im Archiv gekramt. Da gibt es eine Drucksache mit der Nummer 14/3799. Sie ist schon einige Jahre alt; sie stammt aus dem Jahr 2000. Damals hieß der Bundeskanzler Gerhard Schröder. Es ging um den Gesetzentwurf der Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter“. Ich zitiere daraus: Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll die Chancengleichheit schwerbehinderter Menschen im Arbeits- und Berufsleben verbessert und die Arbeitslosigkeit schnellstmöglich und nachhaltig abgebaut werden. Um einen Anreiz für die Wirtschaft zu schaffen, senkte man die Schwerbehindertenausgleichsabgabe von 6 auf 5 Prozent. Das ist fast 20 Jahre her. Wenn man sich die Unterlagen zur Anhörung zum damaligen Gesetzentwurf anschaut, stellt man fest, dass zwei Angehörte hervorstechen. Das ist zum einen der Deutsche Gewerkschaftsbund. Er sprach damals schon, vor fast 20 Jahren, davon, dass die Höhe der Ausgleichsabgabe deutlich zu gering berechnet sei und man, wenn man die Quote absenkt, schauen müsse, ob das tatsächlich Wirkung entfaltet. Man hat gehofft, dass es innerhalb eines Jahres zur Evaluierung kommt. Und die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände – auch sie ist damals angehört worden – hat ausgeführt, dass man gegen Sanktionen, Pflichtquoten und eine Ausgleichsabgabe sei und die Leistungsfähigkeit von Behinderten – so hieß es damals noch – generell infrage stelle. ({2}) Wenn man sich die Arbeitslosenquote bei Menschen mit Behinderungen anschaut, wird man feststellen, dass diese, gemessen an der Zahl der Betroffenen, deutlich erhöht ist. Menschen mit Behinderung sind länger arbeitssuchend als Menschen ohne Behinderung. Wollen wir diese Benachteiligungen weiter dulden? ({3}) Wollen wir diese Menschen allein der freien Wirtschaft überlassen? Die Linke sagt klar Nein. ({4}) Auch das Wegducken vor der Wirtschaft muss endlich ein Ende haben. Deswegen hat die Linke vorgeschlagen, die Ausgleichsabgabe deutlich zu erhöhen; denn nur eine Erhöhung schafft für die Wirtschaft Anreiz und Verpflichtung, damit tatsächlich mehr Menschen mit Schwerbehinderung eingestellt werden. ({5}) Ein zweiter Punkt, auf den ich schon eingegangen bin, ist die Anhebung der Ausgleichsabgabe auf die ursprüngliche Höhe von 6 Prozent. Auch das hat in der Anhörung am Montag eine Rolle gespielt. Wenn man sich die tatsächlichen Arbeitslosenstatistiken, und zwar die ungeschönten, anschaut, stellt man fest: Das ist kein Hexenwerk. Lassen Sie uns in diesem Sinne gemeinsam wirken. Vielen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Sören Pellmann. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Corinna Rüffer. ({0})

Corinna Rüffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004390, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Demokratinnen und Demokraten! Wir stellen uns jetzt einmal vor, wir hätten einen behinderten Menschen vor uns, einen jungen Menschen, vielleicht 25 Jahre alt, der mit der Bitte zur Bundesagentur für Arbeit geht: Ich möchte in einem ganz normalen Unternehmen beschäftigt werden. – Wir stellen uns dann vor, was ihm geantwortet wird. Das ist nicht etwa: „Welche Unterstützung brauchen Sie denn, um dieses Ziel zu erreichen?“, sondern: „Warum gehen Sie denn nicht in eine Werkstatt?“ Das ist, liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Zustand, den wir so nicht akzeptieren können. Ich glaube, wir sind uns an der Stelle auch alle einig, dass so etwas nicht passieren darf. ({0}) Ich muss Ihnen aber leider sagen – es waren ja nicht alle, die heute Abend anwesend sind, am Montag bei der Anhörung –: Dort sind uns solche Geschichten erzählt worden. Jeder, der in diesem Bereich arbeitet, weiß, dass es oft vorkommt, dass Leute dahin gehend beraten werden, eine Arbeit in den Werkstätten aufzunehmen. Ich erinnere noch einmal daran, wozu das Bundesteilhabegesetz auch gedacht war, was der Anspruch, was die Erwartung war und was wir auch erwarten konnten, dass nämlich die Arbeitsmarktsituation von Menschen mit Behinderung in diesem Land tatsächlich verbessert wird. Wir können heute, nachdem das Gesetz doch einige Jahre alt ist, konstatieren, dass es leider keine solche Wirkung erzielt hat. Die Bundesregierung leistet mit dem, was sie heute an Nachbesserungen vorlegt, dazu auch keinen wesentlichen Beitrag. Wir müssen sagen: Das ist wieder einmal deutlich zu kurz gesprungen. ({1}) Schauen wir uns die Situation in Deutschland an, und bleiben wir beim Thema Arbeit: Es arbeiten immer mehr Menschen in Werkstätten und eben nicht weniger, wie es eigentlich der Anspruch dieser Bundesrepublik sein müsste. Das bedeutet, dass diese Menschen für sehr wenig Geld arbeiten – im Durchschnitt für 200 Euro pro Monat – und dass sie mit sehr wenigen Perspektiven arbeiten; denn weniger als 1 Prozent der Menschen, die in diesen Werkstätten beschäftigt sind, bekommen jemals die Chance, da wieder raus auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu kommen. Mit dem Bundesteilhabegesetz sollten Alternativen zur Arbeit in Werkstätten geschaffen werden. Es wurde endlich eine bundesgesetzliche Regelung für das sogenannte Budget für Arbeit umgesetzt. Für diejenigen, die es nicht wissen: Das ist dazu gedacht, dass Leute, die vielleicht ein bisschen langsamer arbeiten, einen Lohnkostenzuschuss bekommen, damit sie auf dem normalen Arbeitsmarkt einen Arbeitsplatz finden. Das ist ein super Gedanke. Man kann das auch perfekt umsetzen. Aber die Bundesregierung hat es leider so geregelt, dass wir heute in der Situation sind, dass es faktisch nicht mehr Budgets gibt als vor der Einführung auf bundesweiter Ebene. Dieses Instrument funktioniert so nicht, es fliegt so nicht. Wir brauchen an der Stelle ganz dringend Nachbesserungen, um Leuten Perspektiven zu geben, die im Moment in Werkstätten sind. ({2}) Wir haben ein anderes Instrument, das im Bundesteilhabegesetz angelegt ist, die sogenannten anderen Leistungsanbieter. Auch dieses Instrument war dazu gedacht, Alternativen zur Werkstatt zu ermöglichen. Man hat explizit gesagt: Diese Alternativen sollen möglichst betriebsnah organisiert sein, und sie sollen sich von Werkstätten in diesem Sinne auch total unterscheiden. – Jetzt stellen wir aber fest – auch wieder bei der Anhörung am Montag; aber die Fachkundigen unter uns wussten das –: Es gibt in ganz Deutschland, in der gesamten Bundesrepublik 14 andere Leistungsanbieter. Das ist unglaublich. Und die müssen dann auch noch nach Kriterien arbeiten, die denen der Werkstätten ähneln, sodass sie sozusagen gar keine andere Leistung erbringen können. Ein Sachverständiger hat gesagt: Die Idee der anderen Leistungsanbieter ist gut. Die gesetzliche Ausformulierung scheint mir blamabel zu sein. – Man könnte hier stundenlang weiterreden.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Nein, ganz sicher nicht.

Corinna Rüffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004390, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ganz sicher nicht. – Meine Zeit geht jetzt leider zu Ende. Liebe Leute, wir sehen: Wir haben so viel zu tun in diesem Bereich, dass wir heute Abend nicht einmal einen Anfang gemacht haben. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Corinna Rüffer. – Der nächste Redner, Torbjörn Kartes, gibt seine Rede zu Protokoll. Dann ist die nächste Liverednerin Angelika Glöckner für die SPD-Fraktion. ({0})

Angelika Glöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte noch einmal auf „zehn Jahre UN-Behindertenrechtskonvention“ zurückkommen. Diese zehn Jahre stehen – das können wir jetzt feststellen, entgegen allem, was wir gehört haben – für mehr Barrierefreiheit, für mehr Selbstbestimmung, für mehr Inklusion. Darauf – das sage ich ganz deutlich – wollen wir uns nicht ausruhen. Wir wollen und wir werden die Situation von Menschen mit Behinderungen Stück um Stück verbessern. Das ist der Anspruch der SPD-Fraktion, und das werden wir genau so verwirklichen. ({0}) Ich bin auch deshalb sehr froh, dass wir heute Abend ganz konkret das SGB IX-/SGB XII-Änderungsgesetz vorlegen. Natürlich machen wir damit einen ganz wichtigen Schritt nach vorne; denn bei diesem Änderungsgesetz geht es im Kern um mehr Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. Ich will an drei Punkten konkret aufzeigen, was damit gemeint ist. Erstens. Wir lösen das Eingliederungshilferecht aus dem Fürsorgerecht heraus als einen eigenen Teil des Eingliederungshilferechtes und unterstreichen damit deutlich, dass Leistungsberechtigte eben nicht als Bittsteller zum Amt kommen, sondern auf Augenhöhe ihre Anträge stellen können. ({1}) Zweitens. Die Höhe der Leistung bestimmt sich künftig nicht danach, in welcher Wohnform die Menschen leben, sondern nach ihrem persönlichen, individuellen Bedarf. Der Mensch und sein persönlicher Bedarf treten in den Vordergrund und in den Blickpunkt. Drittens. Für die Menschen mit Behinderungen bedeutet dieses Gesetz ganz konkret, dass sie ab dem 1. Januar 2020 Leistungen erhalten werden, unabhängig davon, ob sie ambulant, teilstationär oder stationär untergebracht sind und in solchen Einrichtungen leben. Sie können selbstständig wählen, wo sie wohnen, wie sie wohnen. Das ist ein ganz großer Gewinn für die Menschen in dieser Personengruppe. Was ich auch sagen will: Sie bekommen nicht länger einen Pauschbetrag, sondern ein eigenes Bankkonto. Das ist alles ganz entscheidend für mehr Selbstbestimmung, für ein Mehr an selbstbestimmtem Leben. ({2}) Mit dem heutigen Beschluss – das wurde mehrfach gesagt – nehmen wir die Reformstufe zur Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes auf, eine der größten sozialen Reformen in den letzten Jahrzehnten, und sorgen dafür, dass die dritte Reformstufe störungsfrei in Kraft treten kann. Ich möchte noch einen Gedanken ausführen, der hier mehrfach geäußert wurde: Wir stellen auch klar, dass sogenannte andere Leistungsanbieter eben nicht gleichgesetzt werden mit anerkannten Werkstätten für Menschen mit Behinderungen. Die Vorzüge, die Werkstätten haben, nämlich dass Betriebe ihre Aufträge auf ihre Ausgleichsabgabe anrechnen lassen können oder dass öffentliche Auftraggeber vorzugsweise an die Werkstätten ihre Aufträge vergeben, sollen nicht auch für die anderen Leistungsanbieter gelten. ({3}) Wir wollen, dass die Werkstätten nicht in ihrer Landschaft vergrößert werden. Vielmehr ist es die Intention des Gesetzes, dafür Sorge zu tragen, dass die Menschen näher an den Arbeitsmarkt herankommen. ({4}) Das ist eine Chance für die Menschen, aus den Werkstätten herauszukommen. Der Antrag der FDP konterkariert genau diesen Gedanken. Deswegen kann man ihn in der logischen Folge nur ablehnen. ({5}) Ich möchte noch sagen – meine Zeit ist leider schon bald um –: ({6}) Ja, es ist viel getan worden, und wir werden noch viel tun. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie sehr, diesem Gesetz und den Änderungsanträgen der Koalition zuzustimmen. Es ist ein gutes Gesetz. Es lohnt sich. Vielen Dank. ({7})

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Stellen wir uns vor, es wäre in diesen Wochen Bundestagswahl. Dann würde bei Zugrundelegung der heutigen demoskopischen Verhältnisse ein Bundestag von mehr als 800 Abgeordneten entstehen. Das Bundeswahlgesetz sieht eine Sollzahl von lediglich 598 Mandaten vor. Die eine Hälfte dieser Mandate soll durch die Wahl von Direktkandidaten besetzt werden, die zweite Hälfte wird durch die Bewerber auf den Landeslisten besetzt, und zwar so, dass jeder Partei so viele Sitze zugesprochen werden, wie es ihrem Zweitstimmenergebnis entspricht. Bei der Zuteilung der Listenbewerber werden jedem Wahlvorschlag die bereits errungenen Direktmandate angerechnet. Dies führt zu dem Problem, dass eine Partei, die mehr Direktmandate gewonnen hat, als ihr über die Verhältniswahlstimmen zustehen, sogenannte Überhangmandate erhält. Um dem Prinzip der Verhältniswahl Rechnung zu tragen, werden sodann sogenannte Ausgleichsmandate zusätzlich vergeben. Bekanntlich haben wir derzeit 709 Abgeordnete. So sinnvoll die Verknüpfung einer Verhältniswahl mit Elementen einer direkten Persönlichkeitswahl ist, so unbefriedigend ist die geschilderte Situation. Ein Zustand, der seit Jahren von vielen klugen und weniger klugen Menschen beklagt wird. Verdienstvollerweise hat der Herr Bundestagspräsident kurz nach der Konstituierung des jetzigen Bundestages eine Kommission mit Vertretern aller Parteien einberufen, welche Lösungsvorschläge erarbeiten sollte. Bedauerlicherweise ist es auch nach 14 Monaten Beratung nicht gelungen, eine Lösung zu ermitteln. Seit dem Frühjahr 2019 hat es keinen Fortgang in dieser Sache gegeben, obwohl der Zeitpunkt der nächsten Bundestagswahl immer näher rückt. Zitat: In Sorge um das Ansehen der Demokratie appellieren wir deshalb an den Deutschen Bundestag, die Reform des Bundestagswahlgesetzes alsbald in Angriff zu nehmen. Dieses Zitat entstammt einem Brief von hundert Staatsrechtslehrern und Staatsrechtslehrerinnen, der am 20. September der Öffentlichkeit bekannt gegeben worden ist, wenngleich mit eher schwachem medialen Echo. Da die AfD bereits in der Schäuble-Kommission einen eigenen Vorschlag vorgelegt hatte, der das geschilderte Problem einer angemessenen Lösung zuführt, sehen wir uns nun veranlasst, diesen auch im Parlament einzubringen. Es geht um die angemessene Größe des Deutschen Bundestages und nicht zuletzt um eine Menge Geld. Die AfD strebt, wie schon in ihrem Grundsatzprogramm 2016 beschlossen, einen Bundestag mit weniger als 500 Sitzen an. Das von uns vorgeschlagene Modell lässt auch beliebige andere Größenordnungen zu. Es soll beim Prinzip des Verhältniswahlrechts mit personaler Komponente bleiben. Dabei soll das System der Wahl von Direktkandidaten so ausgestaltet werden, dass Überhang- und Ausgleichsmandate nicht mehr entstehen. Erreicht wird dies dadurch, dass bei unveränderten Wahlkreisen in jedem Bundesland nur so viele Direktbewerber zum Zuge kommen, wie der jeweiligen Partei Sitze nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen. Dieses Ziel wird dadurch erreicht, dass die Zahl der Direktmandate pro Bundesland und Wahlvorschlag auf die Zahl der durch die Zweitstimme errungenen Mandate begrenzt wird. Demokratietheoretisch ist eine solche Vorgehensweise nicht zu beanstanden und wird bereits seit vielen Jahren in süddeutschen Bundesländern bei den Landtagswahlen praktiziert. ({0}) Der Neuzuschnitt aller Wahlkreise, der bei anderen Reformvorschlägen erforderlich ist – wir werden dazu gleich Entsprechendes hören –, entfällt bei diesem Vorschlag. Es ist einzuräumen, dass bei dem vorgeschlagenen Wahlmodus in einigen Wahlkreisen kein Direktmandat entsteht. Irgendwo muss das Wunder geleistet werden. ({1}) – Er gewinnt eben nicht. Er hat eine Voraussetzung nicht erfüllt, um zu gewinnen. – Diese Einbuße an direkter Demokratie gleichen wir dadurch aus, dass das Zweitstimmenverfahren als offene Listenwahl ausgestaltet wird. Dabei soll jeder Wähler mehrere Stimmen bekommen, mit denen er einzelne Bewerber ankreuzt und damit Einfluss auf die Reihenfolge der Bewerber auf der Landesliste nehmen kann. Eine hoch demokratietheoretisch attraktive Situation. Das Problem unseres Bundestagswahlsystems, direktdemokratische Elemente mit dem Prinzip der Verhältniswahl in Einklang zu bringen, ohne die Kontrolle über die Größe des Parlaments zu verlieren, könnte durch unseren Vorschlag gelöst werden, und dies alles noch in dieser Legislaturperiode, meine Damen und Herren. – Ich komme gleich zum Ende. Die echte Reform in dieser Zeit würde das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit unserer Demokratie bei einer breiten Mehrheit der Wähler stärken. Ansonsten ist nicht zu erkennen, dass wir bis Ende der Legislaturperiode überhaupt eine Lösung haben. Dann können Sie sich vorstellen, was das alles bedeutet. Herzlichen Dank. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Albrecht Glaser. – Nächster Redner für die CDU/CSU Fraktion: Ansgar Heveling. ({0})

Ansgar Heveling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004056, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wahlrecht gehört unzweifelhaft zum öffentlichen Recht, aber als ich gestern erstmalig die Forderung aus dem Antrag der AfD-Fraktion las, dachte ich zuerst an eine zivilrechtliche Vorschrift – § 275 BGB: Der Anspruch auf Leistung ist ausgeschlossen, soweit diese für den Schuldner oder für jedermann unmöglich ist. Genau das machen Sie, Kolleginnen und Kollegen von der AfD: Sie fordern etwas Unmögliches ein. Sie folgen mit dem vorliegenden Antrag wieder einmal Ihrem üblichen Schema: Erstens haben wir keine Ahnung von der Sache, aber es könnte populär sein, auf das Thema aufzuspringen. ({0}) Zweitens haben wir weiter keine Ahnung von der Sache, aber ein paar wüste Behauptungen werden wir schon zusammenquirlen können. ({1}) Drittens. Wir haben noch immer keine Ahnung von der Sache, aber irgendwie merken wir, dass das hinten und vorne nicht klappt, also sollen sich andere darum kümmern, in diesem Fall die Bundesregierung. ({2}) Et voilà, alles ein bisschen herumrühren, und fertig ist der Antrag der AfD. ({3}) Dabei haben Sie sich schon den falschen Adressaten ausgesucht. Das Wahlrecht wird traditionell durch Gesetzentwürfe aus der Mitte des Parlaments geregelt. ({4}) Der Deutsche Bundestag fordert nicht die Bundesregierung auf, einen Gesetzentwurf zum Wahlrecht vorzulegen, sondern legt selbst einen Gesetzentwurf vor. ({5}) – Na, es ist also „antidemokratisch“, wenn aus der Mitte des Parlaments etwas kommt? Ich glaube, das erklärt vieles. Die Mitte des Parlaments ist ja nun das Demokratischste, was es geben kann. – Wir alle, auch wir von der Union, wollen eine Verkleinerung oder zumindest ein weiteres Anwachsen des Parlaments verhindern. Der Antrag der AfD liefert hierzu allerdings keinen konstruktiven Beitrag. Er missachtet den sogenannten Satz vom Widerspruch und damit die Axiome der traditionellen Logik: Zwei einander in derselben Hinsicht widersprechende Aussagen können nicht zugleich zutreffen. ({6}) Sie fordern einerseits, das personalisierte Verhältniswahlrecht beizubehalten. Gleichzeitig wollen Sie andererseits die Zahl der Mitglieder des Bundestages auf maximal 598 Mitglieder deckeln, und das wollen Sie zudem bei Beibehaltung der derzeitigen Anzahl von 299 Wahlkreisen erreichen. Leider, meine sehr geehrten Damen und Herren von der AfD, verraten Sie uns nicht, wie alle diese sich widersprechenden Ziele zusammen erreicht werden sollen. ({7}) Gerade weil diese Ziele im Widerspruch zueinander stehen, können sie nicht ohne Weiteres gemeinsam erreicht werden. Das aber ist doch die Herausforderung, vor der wir stehen: ({8}) Welche Ziele sind wir bereit zu durchbrechen? Bei Ihrem untauglichen Versuch werfen Sie ganz nebenbei einen ehernen und in § 4 Absatz 4 Satz 2 des Bundeswahlgesetzes geregelten Grundsatz über Bord: In Wahlkreisen errungene Sitze verbleiben einer Partei in jedem Fall. – Das wird hier aktuell von keiner Fraktion – außer von Ihnen – angezweifelt. Nach Ihren Vorstellungen ist im Ergebnis nicht mehr jeder Wahlkreis mit einem direkt gewählten Abgeordneten im Bundestag vertreten. Wenn das personalisierte Verhältniswahlrecht beibehalten werden soll, dann ist es nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts schlicht unmöglich, den Bundestag auf 598 Mitglieder im Maximum zu deckeln. Wenn Sie suggerieren, das sei möglich, dann streuen Sie der Bevölkerung Sand in die Augen. Deswegen artikulieren Sie dieses Ziel auch gar nicht in einem Gesetzentwurf, sondern Sie fordern andere mit einem Antrag zum Handeln auf. ({9}) Was bleibt, ist die dringende Frage nach einer echten Reform unseres Wahlrechts. Dazu muss man zuerst die Ziele für eine Neugestaltung des Wahlrechts festlegen. Wenn man eine fest definierte Größe des Bundestages erreichen will, stehen einem eigentlich nur drei Wege offen: ({10}) ein reines Mehrheitswahlrecht, ein reines Verhältniswahlrecht oder ein echtes Zweistimmenwahlrecht, das Erst- und Zweitstimme streng trennt. Will man dagegen im System der personalisierten Verhältniswahl bleiben, muss man akzeptieren, dass es keine fest definierte Größe geben kann, allenfalls eine Regelgröße kann angestrebt werden. Für eine Annäherung an eine Regelgröße gibt es dann drei Stellschrauben: die Zahl der Wahlkreise, etwaige Durchbrechungen des strengen Proportionalitätsprinzips bei den Zweitstimmen oder eine Abschaffung der Mindestsitzzahl der Länder. Wirklich wirksam sind allerdings nur Kombinationen aus mindestens zwei der Instrumente. Sie, meine Damen und Herren von der AfD, setzen stattdessen auf Unmögliches. Das aber ist im Wahlrecht ebenso wie im Zivilrecht ausgeschlossen. Vielen Dank. ({11})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Ansgar Heveling. – Zur Klarstellung: Die Debattendauer geht bis in die frühen Morgenstunden, deswegen lasse ich keine Zwischenfragen und keine Kurzinterventionen mehr zu. Auch wenn es nicht um Ihre Gesundheit geht, es geht um die Gesundheit unserer Parlamentsassistenten und ‑assistentinnen und unserer Protokollantinnen. ({0}) Sonst hätten wir andere Regelungen finden müssen. Der nächste Redner ist Dr. Stefan Ruppert für die FDP-Fraktion. ({1})

Dr. Stefan Ruppert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004140, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Seit 1848 mühen sich Parlamentarier darum, eigene Regeln für ihre Wahl durchzusetzen. Sie haben das gegen Fürsten versucht zu erstreiten. Sie haben sich Gedanken gemacht, wie ein Parlament gewählt wird. Sie von der AfD sitzen seit zwei Jahren in diesem Parlament und seit zwei Jahre höre ich: „Danke, Merkel“, „Merkel ist an allem schuld“, „Seehofer ist schuld“, und heute sagen Sie: „Wir kriegen nichts hin, und wir wollen eine Bundesregierung, die eine parlamentarische Aufgabe für uns übernimmt“, nur weil Sie nicht in der Lage waren, ein Gesetz zu schreiben? Das ist schon sehr bemerkenswert. ({0}) Man kann sich schon fragen, ob es nicht totale Arbeitsverweigerung ist, wenn eine Fraktion sagt: „Wir müssen ein Problem angehen“, aber keinen einzigen Beitrag dazu leistet und keinen Gesetzentwurf vorlegt, wie Sie das hier heute tun. ({1}) Das Problem ist aber zu ernst; denn der Bundestag ist in der Tat viel zu groß. Das hat nicht nur etwas mit Geld zu tun, sondern auch mit Arbeitsfähigkeit, mit der Würde der konzentrierten Arbeit eines Parlaments. Wir müssen dahinkommen, dass der Bundestag wieder kleiner wird. Deswegen haben die Grünen, die Linken und die FDP einen Gesetzentwurf erarbeitet. Das ist übrigens monatelange Arbeit. Da sind Mitarbeiter und Abgeordnete, die sich jede Regelung, jede Kommentierung ansehen. Das ist eine Aufgabe, der Sie sich überhaupt nicht unterzogen haben. ({2}) Wir haben einen entsprechenden Gesetzentwurf erarbeitet. Wir sagen nicht, dass wir den Stein der Weisen gefunden haben, aber wir sagen, wir erreichen das Ziel: Der Bundestag muss kleiner werden, um arbeitsfähig zu sein, und das können Sie eben nur, wenn Sie – wenn Sie im bestehenden System bleiben wollen – die Zahl der Wahlkreise verringern. ({3}) Nun sind wir als Vertreter kleinerer Parteien etwas gewohnt, was Sie noch nicht so gut kennen. Wir betreuen nämlich fünf, sechs oder sieben Wahlkreise. ({4}) Wir reisen viele Hundert Kilometer durchs Land und kümmern uns. Bei mir sind es sechs, bei anderen sind es sieben Wahlkreise. Sie haben in der Regel einen oder zwei. Ich sage nicht, dass es gut ist, wenn ein Wahlkreis zu groß wird, aber es ist eben nicht so, dass die Demokratie in sich zusammensinkt, wenn es plötzlich weniger Wahlkreise in Deutschland gibt. ({5}) Wenn man die Menschen fragen würde: „Was ist schlimmer: 10 Prozent größere Wahlkreise zu haben oder 800 Abgeordnete im Parlament sitzen zu haben?“, dann würden viele antworten: Wir wollen einen kleineren Bundestag. ({6}) Deswegen muss man solche Fragen immer fair miteinander besprechen. Wir haben einen Vorschlag gemacht, mit dem statt 80 Kolleginnen und Kollegen meiner Fraktion heute nur 71 hier wären oder nur 59 Grüne oder nur 61 Linke; das wäre zumindest im ersten Fall ein deutlicher Verlust. ({7}) Aber es ist eben so: Wer das Parlament verkleinern will, der darf nicht nur bei den anderen anfangen, sondern der muss bei sich selbst anfangen. ({8}) Deswegen ist es so inakzeptabel, dass es eine Fraktion im Deutschen Bundestag gibt, die nur Vorschläge gemacht hat, die ihre eigene Zahl an Abgeordneten erhöht und die Zahl der Abgeordneten anderer verringert und die dadurch die Verkleinerung des Bundestages blockiert, und das ist die Unionsfraktion. ({9}) Diese Blockadehaltung müssen Sie aufgeben. Die müssen Sie dringend aufgeben, weil das Vertrauen in die parlamentarische Demokratie wegen Ihrer Blockadehaltung sonst sinkt. Sie haben die Mitarbeiterpauschale erhöht, Sie haben die Parteifinanzierung erhöht, Sie haben die Stiftungsfinanzierung und die Fraktionsfinanzierung erhöht. ({10}) Sie haben das Ergebnis demokratischer Wahlen damit ein Stück wieder nivelliert. ({11}) Aber das ist nicht das Ergebnis. Man muss Wahlen auch in Zukunft gewinnen, um mehr Abgeordnete zu bekommen, und darf nicht am Reißbrett agieren. Deswegen freuen wir uns auf die positiven Signale der SPD. Bitte geben Sie Ihre Blockadehaltung endlich auf, damit wir wieder zu einer besseren und kleineren Zusammensetzung des Deutschen Bundestages kommen! Vielen Dank. ({12})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Stefan Ruppert. – Nächster Redner: Mahmut Özdemir für die SPD-Fraktion. ({0})

Mahmut Özdemir (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004368, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Ich könnte den Antrag kurz zusammenfassen: widersprüchlich, wirr und unfähig. Man kann an dieser Debatte heute sehen, was eigentlich passiert, wenn man über die gemeinsame Geschäftsgrundlage in diesem Haus, in unserer Demokratie, reden will und sich dann im Klein-Klein verliert. Wenn jede Partei, jede Fraktion anfängt, eigene Gesetzentwürfe vorzulegen, ist das nicht gut für unsere gemeinsame Geschäftsgrundlage hier in diesem Land. ({0}) Sehr geehrte Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden als SPD-Fraktion in dieser Wahlperiode gern die Schritte zu einem zeitgemäßen Wahlrecht gehen. Als Sozialdemokraten werden wir es allerdings nicht zulassen, dass einzelne Parteien auf den eigenen Vorteil bedacht sind. ({1}) Wir werden es nicht zulassen, dass eine Fraktion allein in diesem Haus blockiert, liebe CDU/CSU. ({2}) Dennoch bin ich der festen Überzeugung, dass wir hier und heute insgesamt als Parteien und Fraktionen, die wir hier in diesem Bundestag vertreten sind, auch Verantwortung für alle Parteien da draußen tragen, die einen Sitz im Deutschen Bundestag anstreben. Das Wahlrecht zu ändern, bedeutet, in höchst eigener Angelegenheit als Deutscher Bundestag zu entscheiden. Deshalb ist es handwerklich – das haben auch meine Vorrednerinnen und Vorredner gesagt, liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD-Fraktion – völlig untauglich und peinlich, auf die Bundesregierung zu verweisen und zu sagen: Schreibt uns da einmal etwas auf, was wir beschließen können! – Das wird einem Parlamentarier einfach nicht gerecht. ({3}) Es ist unsere Aufgabe, es ist unsere Pflicht als Parlamentarier, ein Wahlrecht vorzuschlagen und am Ende einen über Parteigrenzen hinweg einvernehmlichen Vorschlag zu beschließen. Alles andere zeugt von einem aus meiner Sicht sehr fragwürdigen Demokratieverständnis; denn bei der gemeinsamen Geschäftsgrundlage – das habe ich eingangs gesagt – zu einer Wahl sollte das Einvernehmen über Parteigrenzen hinweg auch hergestellt werden. Deshalb sollten wir uns um ein anständiges Verfahren kümmern, bevor wir alle gemeinsam unsere Inhalte einbringen. Deshalb mahne ich auch: In eigener Angelegenheit zu entscheiden, muss einem noch strengeren Rechtfertigungsmaßstab genügen. Die Haltung der Parteien muss sich lückenlos und verständlich der Bewertung im Lichte der Öffentlichkeit stellen und hinterfragt werden können. Jede Fraktion muss das Mittel benennen, mit dem sie den Zweck erreichen will, dem Anwachsen des Bundestages bremsend, stoppend oder gar zurückdrängend Einhalt zu gebieten. Ich denke auch, dass es viel weniger die sich erhöhende Mitgliederzahl des Deutschen Bundestages ist, die die Gemüter erregt, sondern vielmehr die Tatsache, dass wir gar nicht mehr in der Lage sind, unser Wahlrecht in drei Sätzen zusammenzufassen und den Wählerinnen und Wählern am Infostand zu erklären. ({4}) Auf offener Bühne wird sich dann zeigen, wer sich dem Zweck verpflichtet sieht und wem die Sicherung der eigenen Pfründe wichtiger ist. Deshalb bin ich sehr dafür, dass wir ein Verfahren vereinbaren, das den Prozess für die Menschen in diesem Land nachvollziehbar macht, statt Anträge zu stellen und Verwirrung zu stiften. Ich warne allerdings auch davor, Ziele mit Selbstzwecken zu verwechseln. Sich mit der leicht dahergebrüllten Begründung, der Bundestag sei zu groß und zu teuer, einen Selbstzweck zu schaffen und dann in einen Antrag zu gießen, ist für sich genommen respektlos. Die Wählerinnen und Wähler haben sich schließlich frei entschieden. Das Wahlverhalten und die Auswirkung auf unser Wahlrecht und die Mitgliederzahl des Bundestages sind Ergebnis des Wählerwillens, und deshalb sollte man auch Respekt zeigen. ({5}) Dass der Deutsche Bundestag aktuell 709 Abgeordnete zählt, darf uns dabei nicht gleichgültig sein. Für sich genommen ist es aber auch kein Grund zur Besorgnis. Aber ein nicht mehr nachvollziehbares System von Überhangmandaten, die wiederum einen Ausgleich auslösen, der verfassungsrechtlich erstritten worden ist, hat die Grenzen der Akzeptanz in der Öffentlichkeit, denke ich, hinreichend ausgereizt. ({6}) Es verhält sich so wie mit einem Antriebsstrang, bei dem Motor und Getriebe harmonieren müssen: Es muss ein ausgewogenes Verhältnis von demokratischer Kraft des Wahlvolkes und parlamentarischer Umsetzung des Wählerwillens hergestellt werden. Ziel und eben nicht Zweck des Wahlrechtes ist es, das Wahlergebnis bei jeder Bundestagswahl bestmöglich in eine tatsächliche Mandatsverteilung umzusetzen, ohne dabei das System von Personenwahl in den Wahlkreisen und Landeslisten aus dem Gleichgewicht zu bringen. Jede Umdrehung unseres Demokratiemotors muss also eine Kraftaufnahme in jedem Rädchen und jeder Welle des Bundestagsgetriebes gewährleisten. ({7}) Folglich ist es das Ziel eines guten Wahlrechts, einen gerechten Ausgleich zu finden. Jede bei der Bundestagswahl abgegebene Stimme muss die gleichwertige Chance erhalten, die Zusammensetzung dieses Bundestages zu beeinflussen. Und ich betone: Auch die Stimmen, die sich in der konkreten Zusammensetzung nicht widerspiegeln, oder die Stimmen, die der erfolglose Direktkandidat oder die Direktkandidatin erhielten, werden von unserem Wahlrecht nicht unter den Tisch gekehrt. Das alles hat Vorrang für mich, noch bevor wir über die Größe des Bundestages reden. ({8}) Das Bundeswahlrecht zum Gegenstand der Debatte zu machen, halte ich dennoch für richtig. Wir haben als Sozialdemokraten klare Ideen zur umfassenden Veränderung des Wahlrechts. Das Direktmandat und die Verhältniswahl wollen wir möglichst als paritätische Einheit schützen. Die Direktmandate haben einen Verfassungsauftrag für uns. Sie sind der Garant für die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in diesem Land, und das Verhältniswahlrecht hebt diesen Verfassungsauftrag wiederum von Anfang an in einen gemeinsamen Verantwortungsrahmen. Meine Fraktion und auch ich persönlich halten allerdings gleichermaßen die Herstellung von echter Gleichberechtigung und Parität im Wahlrecht für einen weiteren wichtigen Gesichtspunkt. ({9}) Genauso sehen wir die Notwendigkeit, über das Wahlalter und die Absenkung des Wahlalters gemeinsam zu diskutieren. Im Ergebnis: Wir Sozialdemokraten lehnen diesen Antrag der AfD-Fraktion ab, weil er falsche Zwecke verfolgt. Wir wollen eine einvernehmliche Wahlreform in diesem Hause in einem nachvollziehbaren Verfahren, bei dem sich alle Fraktionen bekennen müssen, unter der sachverständigen Bewertung der Auswirkungen jedes einzelnen Vorschlags auf die Größe des Bundestages. Vor allem muss das Ganze für die Menschen im Land vom Einwurf ihrer Stimme bis hin zur Sitzzuteilung hier heute im Hause nachvollziehbar sein, und zwar, ohne dass sie Begriffe wie Divisorverfahren mit Standardrundung oder Sainte-Laguë-Verfahren googeln oder nachschlagen müssen. Das ist ein Wahlrecht, das die Menschen wollen, eines, das sie verstehen, eines, das sie nachvollziehen können und wo sie sehen können: Wie kommt meine Stimme zu dem Vertreter, der am Ende des Tages meine Interessen im Deutschen Bundestag vertreten soll? Dafür sollten wir uns einsetzen in einem anständigen, offenen und transparenten Verfahren, wo alle sich bekennen müssen und sich alle auch der Wertung stellen müssen, was ihr Vorschlag der eigenen Fraktion am Ende des Tages in der Konsequenz, in der Auswirkung, in der Ummünzung in Mandate hier im Hause auch bedeutet. ({10}) Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche uns allen noch einen schönen Abend. ({11})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Mahmut Özdemir. – Nächster Redner für die Fraktion Die Linke: Friedrich Straetmanns. ({0})

Friedrich Straetmanns (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004907, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Glaser, Sie waren wie ich Teil der Wahlrechtskommission und haben uns dort unter anderem ein Wahlrecht von Mitte des 19. Jahrhunderts als großen Wurf vorgestellt. Im November 2018, also vor rund elf Monaten, haben Sie uns dann im Prinzip genau diesen Vorschlag hier bereits präsentiert. Sie haben es in elf Monaten nicht geschafft, Ihre Ideen in Form eines Gesetzentwurfs auszuarbeiten. ({0}) Ohne weitere Bearbeitung legen Sie Ihren Vorschlag nun erneut – weniger als 48 Stunden bevor er hier im Plenum diskutiert wird – vor. Das ist unkollegial und wird der wichtigen Sache, die die Wahlrechtsreform zweifelsohne darstellt, in keiner Form gerecht. ({1}) Dass eine Verringerung der Mandate dringend notwendig ist, da sind wir uns einig. Aber Ihr Vorschlag, dass wir die Direktmandate mit den schlechtesten Ergebnissen verfallen lassen sollen, ist hanebüchen und hätte schlimme Folgen. Er entspricht aber perfekt Ihrem Politikverständnis: Der „glorreiche“ Wahlsieger wird mit Macht belohnt, während der „schmachvolle“, nur knappe Wahlsieger in einem umkämpften Wahlkreis auf der Strecke bleibt. Haben Sie mal darüber nachgedacht, dass direkt gewählte Abgeordnete vor allem auch integrierend in ihrem Wahlkreis wirken sollen und dass es dann mit sehr großer Wahrscheinlichkeit die engen, heterogenen Wahlkreise sind, bei denen diese Integrationsrolle unbesetzt bleibt? Und was ist mit den dort abgegebenen Stimmen, die Sie nonchalant unter den Tisch fallen lassen? Oder entspricht das genau Ihrem Kalkül, die Stimmung weiter hochkochen zu lassen und da Zwietracht zu säen, wo der Boden am fruchtbarsten ist? Was glauben Sie denn, was passiert, wenn beispielsweise eine Stromtrasse entweder durch den einen oder den anderen Wahlkreis verlaufen soll und einer der beiden Wahlkreise über keinen direkt gewählten Abgeordneten verfügt, der sich mit Vehemenz in die Verhandlungen einbringt? Was meinen Sie, wo die Trasse dann mit großer Wahrscheinlichkeit verlaufen wird und wie es dann um die von Ihnen in Ihrem Antrag immer wieder so scheinheilig ins Feld geführte Demokratiezufriedenheit in diesem Wahlkreis so bestellt sein wird? Ich glaube nicht, dass der von Ihnen an anderer Stelle mal wieder bemühte, angeblich so einheitliche Volkswille den konkreten Nachteil übertünchen wird. ({2}) Nicht grundsätzlich falsch finde ich das Element Ihres Vorschlages, dass innerhalb der Parteilisten Reihungen durch die Wählerinnen und Wähler beim Urnengang vorgenommen werden können. Innerhalb Ihres Vorschlages sind die Folgen jedoch fatal, weshalb er in diesem Zusammenhang abzulehnen ist. Neben der ohnehin schon stark von der Person geprägten Erststimme würden Sie auch bei der Zweitstimme der Persönlichkeit mehr Gewicht geben, wodurch Inhalte immer weiter in den Hintergrund rücken. Das schadet aber unserer Demokratie, die ja an erster Stelle ein Wettstreit von Ideen sein soll. ({3}) Zuletzt möchte ich auf Ihre Kritik an dem von meiner Kollegin Haßelmann, meinem Kollegen Ruppert und mir vorgestellten Vorschlag eingehen. Wir halten eine Absenkung auf rund 630 Mandate für durchaus substanziell. Das sind fast 80 weniger als aktuell und circa 190 weniger als das, was aktuell an Prognosen immer wieder im Raum steht. Warum Ihr Vorschlag von 598 Sitzen, also etwas weniger, akzeptabler sein soll als unserer, erschließt sich mir keineswegs. Zuletzt zur Wahlkreisgröße – das ist bereits angesprochen worden –: Es ist völlig richtig, dass unser gemeinsamer Vorschlag die Vergrößerung einiger Wahlkreise zur Folge hätte. Aber das ist immer noch besser, als einige Wahlkreise zu Verlierern zu stempeln, die gar keine Direktmandate mehr erhalten. ({4}) Und wissen Sie, mein Wahlkreis und mein Betreuungswahlkreis, in denen ich an fast jedem Wochenende und in den sitzungsfreien Wochen unterwegs bin – fast ausschließlich mit Bahn und Rad –, ist ganz Ostwestfalen-Lippe, und das ist noch einmal ein ganzes Stück größer als der größte Wahlkreis, den wir aktuell kennen. Ich würde es mir weniger aufwendig wünschen – aber es geht! Deshalb finde ich, ist unser konkreter Vorschlag eine wichtige Diskussionsbasis, während Sie sich im Ungefähren verlieren. Ihr Vorschlag taugt noch nicht einmal, um eine ernsthafte Debatte über das Wahlrecht zu führen. Vielen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Friedrich Straetmanns. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Britta Haßelmann. ({0})

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine Wahlrechtsreform ist zwingend notwendig. Dass dabei die AfD nicht gebraucht wird und dass sie auch nicht in der Lage ist, konzeptionell und inhaltlich einen wie auch immer gearteten Beitrag zu leisten, sehen wir am vorliegenden Antrag. ({0}) Ganz kurz zum Antrag: Handwerklich ist er schlecht, die Rechtslage ist stümperhaft recherchiert, und inkonsequent ist er auch noch. Handwerklich schlecht ist er deshalb, meine Damen und Herren, weil es sich um das originäre Recht eines Parlamentes, eines souveränen Parlamentes handelt, mit dem Wahlrecht über die Grundsätze der Wahlen, des Zustandekommens dieses Parlamentes, selbst zu entscheiden und selbst dazu einen Vorschlag vorzulegen. Dazu ist die AfD ganz offenkundig nicht in der Lage und sucht Hilfe bei der Bundesregierung. Wie ärmlich! ({1}) Zweiter Punkt. Die Rechtslage ist stümperhaft recherchiert. Im zweiten Punkt unter II. Ihres Antrags fordern Sie, sicherzustellen, dass die in § 1 … BWahlG … festgelegte Regelgröße des Deutschen Bundestages von 598 Abgeordneten unterschritten oder zumindest eingehalten wird. Meine Damen und Herren, eine Unterschreitung der Größe von 598 Abgeordneten sieht das Gesetz gar nicht vor. Noch nicht mal in der Lage, richtig zu zitieren! Meine Damen und Herren, die Frage, welche Regelgröße der AfD vorschwebt, bleibt ein Rätsel. Darüber wird sich ausgeschwiegen. Es könnte unpopulär sein, sich dazu zu positionieren. Punkt drei: Inkonsequenz des Antrags. Meine Damen und Herren, vorhin wurde schon die ein Jahr tagende Wahlrechtskommission angesprochen. In dieser Wahlrechtskommission habe ich mich ungefähr jeden zweiten Mittwoch mit den Äußerungen des Wahlrechtsexperten der AfD-Fraktion beschäftigt, der sich für ein Präferenzwahlsystem aussprach. Wir sollten gedanklich Anleihe nehmen entweder bei Australien oder bei Malta, ({2}) und wir sollten auf jeden Fall zu einem Präferenzwahlsystem kommen. Meine Damen und Herren, braucht es noch irgendeines Beweises, weshalb wir uns nicht weiter mit den Vorschlägen, die Sie schon in der Wahlrechtskommission geäußert haben, befassen sollten? Ich glaube, eines solchen Beweises braucht es wirklich nicht. ({3}) Kümmern Sie sich ruhig weiter darum, mit Herrn Glaser theoretische Diskussionen über Präferenzwahlsysteme oder was auch immer zu führen, aber lassen Sie uns, meine Damen und Herren, endlich hier im Deutschen Bundestag die notwendige Wahlrechtsreform auf den Weg bringen. Wir brauchen eine Wahlrechtsreform. Sie ist zwingend notwendig. Unsere parlamentarische Demokratie ist von unschätzbarem Wert. Wir brauchen dafür Akzeptanz, und wir brauchen die Fortführung des personalisierten Verhältniswahlrechts. Dazu braucht es aber hier im Bundestag eine Mehrheit für eine Verkleinerung des Bundestages. Und da muss die Union aus meiner Sicht ihre Blockade endlich aufgeben, und der Wahrheit mal ins Auge sehen, meine Damen und Herren. ({4}) Wer 29 Prozent der Stimmen erzielt, kann auch nur für 29 Prozent in den Deutschen Bundestag einziehen. Das ist der Grund, weshalb Sie an dieser Stelle so aufjaulen und die Wahlrechtsreform blockieren. Sie wollen einfach nicht wahrhaben, dass Sie von dem personalisierten Verhältniswahlrecht, das wir im Moment haben, viel stärker profitieren, als wenn man einfach einen Deckel auf die Höchstzahl machen würde, nämlich 630. Sie alle wissen, dass das Modell, das Sie vorgeschlagen haben, Sie außerordentlich privilegiert hätte: 27 Mandate über dem Zweitstimmenergebnis der Union. Das, meine Damen und Herren, ist mit uns nicht zu machen. ({5}) Das verzerrt das Zweitstimmenergebnis. Das würde bedeuten, dass nicht mehr jede Stimme gleich viel wert ist. Deshalb sage ich Ihnen: Lösen Sie die Blockade auf. Hören Sie auf mit der Mähr, wir wären alle bevorteilt und Sie wären benachteiligt. Jede Fraktion ist proportional betroffen. Das ist so.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Und der SPD kann ich nur raten, sich endlich mal zu positionieren. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Britta Haßelmann. – Nächster Redner: Michael Frieser für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michael Frieser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004034, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das war wirklich ein eingesprungener Haßelmann: Man betont das personalisierte Verhältniswahlrecht, um sofort in der nächsten Volte ungerührt davon zu reden, dass man gern mal die Wahlkreise opfert und die Axt an die Wurzel der direkten Demokratie in diesem Hause anlegen möchte, und dann am Ende des Tages darüber hinwegzutäuschen, dass auch die Grünen überproportional von genau dieser Rechtsprechung – Proporzherbeiführung auf Bundesebene – profitiert haben. Das ist die Wahrheit und nichts anderes. ({0}) Jetzt dürfen wir bitte wenigstens den Versuch unternehmen, die Prioritäten, die wir seit 2012 im deutschen Wahlrecht haben, etwas zu ordnen: Es sollten alle Landesteile vertreten sein, der Erfolgswert der abgegebenen Stimmen sollte zu einem ungefähren Gleichgewicht führen, der Proporz auf Bundesebene sollte gewahrt bleiben, das sogenannte negative Stimmengewicht sollte vermieden werden. Jeder, der hier sitzt, und jeder, der sich mit diesem Thema ein bisschen beschäftigt hat, weiß ganz genau, dass diese Änderungen eingeflossen sind. Das wurde übrigens zusammen mit den Grünen und der FDP beschlossen. Man hat ja immer den Eindruck, dass dieses Wahlrecht entweder zufällig irgendwoher kam oder plötzlich vor der Haustür lag. ({1}) Nein, dieser Deutsche Bundestag hat das tatsächlich auch mit Ihren Stimmen beschlossen. ({2}) Deshalb müssen wir mal wieder zurück. Es ist so: Die Arbeitsfähigkeit dieses Parlaments steht tatsächlich im Ruf. Wir wissen das. Natürlich kann man sagen: 709 Abgeordnete, gemessen an der Tatsache, dass wir keine zweite Kammer haben, ist noch keine Katastrophe. Aber ungebremstes Wachstum, das ist das, wovor wir tatsächlich Achtung haben müssen. Da kann der AfD-Antrag selbstverständlich überhaupt nicht helfen. Jetzt wird es wirklich krude. Der letzte Satz in der Begründung, wir könnten ein bisschen im bestehenden Recht etwas drehen und dann ließe sich einfachgesetzlich jedes Problem an dieser Stelle beseitigen, ist entweder Humbug, was ganz besonders schlimm wäre, oder vorsätzlich Unwahrheit, was noch wesentlich schlimmer wäre. Deshalb kann ich nur sagen: Die Unionsseite hat fünf Modelle angeboten. ({3}) Als CSU-Mann darf ich einmal sagen: Wir haben auch von dieser tatsächlichen Wahlreform überhaupt nicht profitiert. ({4}) Deshalb kann man natürlich an dieser Stelle auch kein Wahlsystem vorlegen, von dem so etwas ausgeht. ({5}) Sie wissen, Frau Haßelmann: Im bestehenden System lässt sich das Wahlrecht nur ändern, wenn Sie den Mut zu einem echten Zweistimmenwahlrecht haben. Schon heute ist es so, dass in diesem Deutschen Bundestag 40 Prozent der Abgeordneten mit einem Direktmandat sitzen und dass 60 Prozent der Abgeordneten über eine Liste eingezogen sind. Die Lösung, die bei Ihrem Vorschlag herauskommt, ist: Streichen wir die Direktmandate weg, damit sich dieses Verhältnis noch ein Stückchen hin zum Falschen, also weg vom personalisierten Verhältniswahlrecht, entwickelt. Das kann nicht die Wahrheit sein. ({6}) Der Schuldige ist sehr schnell ausgemacht: Tötet das Überhangmandat! Sie wissen, jedes Überhangmandat ist auch ein Listenmandat. Deshalb ist die entscheidende Botschaft für uns schon die, dass wir mal deutlich machen müssen: Was will man denn am Ende des Tages? Natürlich geht es um die Repräsentation. Natürlich geht es um die entscheidende Frage, dass dieses Land in den einzelnen Landesteilen auch wirklich ordentlich direkt legitimiert ist von unten. Das ist die Aufgabe. Das einfache Zerschlagen von Wahlkreisen wird am Ende des Tages dabei nicht helfen. Wovor haben Sie denn eigentlich Angst? Vor dem deutschen Wähler? Es ist doch kein Naturgesetz, dass entweder die Union oder die SPD Direktmandate gewinnt. Schauen Sie sich die Karten mal an. Die entscheidende Botschaft kann nur darin bestehen, dass wir aufpassen müssen, dass man bei einem personalisierten Verhältniswahlrecht tatsächlich in der Lage ist, dieses Land auch weiterhin so zu führen, wie wir es für richtig empfinden, nämlich in Direktmandaten und mit Mandaten, beruhend auf Landeslisten. Das können wir, wie ich meine, natürlich nur miteinander machen; aber wenn Sie diese Linie derartig verletzen und verlassen, dann wird ein Konsens in der Tat sehr, sehr schwierig. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Michael Frieser. – Letzter Redner in der Debatte: Philipp Amthor für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Philipp Amthor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004656, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch wenn das jetzt hier anders behauptet wird, muss doch eines mal klar sein: Auch für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist unumstößlich: Wir wollen, dass der Bundestag verkleinert wird. Wir kennen auch die Stimmen aus der Bevölkerung zu diesem Thema. ({0}) Ich sage Ihnen auch ganz persönlich: Ja, ich nehme das ernst, und es ist auch richtig, dass uns 100 deutsche Staatsrechtsprofessoren davor warnen, den Eindruck zu erwecken, dass uns das eigene Hemd näher ist als der Rock des Gemeinwohls. Aber auch wenn wir uns darin einig sind, muss doch auch mal eines klar sein: Der Populismus, den Sie hier von rechts nach links vertreten haben, den machen wir nicht mit. ({1}) Zum AfD-Vorschlag ist ja schon einiges gesagt worden – immerhin. Der Antrag ist ja ziemlich paradox; aber er enthält ja eine richtige Überlegung – das muss man sagen –: Sie sagen einerseits, Sie wollten die Zahl der 299 Wahlkreise nicht reduzieren – das wollen wir auch nicht –, und Sie sagen andererseits, Sie wollten das personelle Element bei der Verhältniswahl stärken; das ist auch richtig. Aber – das hat der Kollege Heveling ausgeführt – die Vorschläge, die Sie machen, werden dem überhaupt nicht gerecht. Denn wenn man Ihren Vorschlag umsetzt, bei Direktmandaten eine Kappungsgrenze zu ziehen, dann führt das dazu – um es pointiert zu sagen –, dass Wahlkreise existieren, die im Bundestag gar keine Abgeordneten haben. Doch Wahlkreise ohne Abgeordnete, das macht keinen Sinn. Deswegen ist Ihr Vorschlag falsch und kein Beitrag für eine Lösung in dieser wichtigen Diskussion, meine Damen und Herren. ({2}) Wir müssen mal schauen: Wo liegt hier eigentlich das Problem? Wir haben von der Opposition jetzt einiges gegen die Direktmandate gehört. Aber nicht die 299 direktdemokratischen Wahlkreismandate sind das Problem, sondern das Problem liegt ganz woanders. Das können wir uns ganz einfach vor Augen führen, wenn wir uns mit einfacher Arithmetik mal die Zahlen anschauen: Das Bundeswahlgesetz geht von 598 Abgeordneten aus, paritätisch 299 Wahlkreisabgeordnete, 299 Listenabgeordnete. Wie hat sich das in der Realität entwickelt? Seit der Jahrtausendwende – 2002, 2005, 2009, 2013 und 2017 – haben wir immer 299 Direktmandate gehabt. Die Anzahl der Listenmandate ist hingegen explodiert: 304, 315, 323, 332 und jetzt 410 Listenmandate. ({3}) Da wird doch selbst dem Langsamsten aus der Opposition klar: Das Problem liegt nicht bei den Direktmandaten, sondern bei den Listenmandaten, meine Damen und Herren. ({4}) Ich muss dann doch etwas sagen, was Sie sich vielleicht nicht vorstellen können – es geht darum, dass Sie behaupten, das Festhalten an den Direktmandaten begünstige einseitig die Union –: ({5}) Es ist nicht gesetzlich vorgeschrieben, dass die Union die Direktmandate gewinnt. Wenn Sie sich anstrengen, gelingt Ihnen das vielleicht auch, meine Damen und Herren. ({6}) Wir werden also dafür arbeiten, dass das nicht passiert. Es geht nun darum, dass das Problem die Listenmandate sind. Ich will Ihnen einmal auch demokratiepraktisch die Größe des Problems vor Augen führen. Wenn ich in meinen Wahlkreis im Osten Mecklenburg-Vorpommerns schaue, dann sehe ich schon heute eine Größe, die das 1,926-Fache des Saarlandes umfasst. Nichts gegen die saarländischen Kollegen, aber angesichts von Wahlkreisen, die jetzt schon doppelt so groß wie das Saarland sind, erweisen Sie der Demokratie einen Bärendienst, wenn Sie die Wahlkreise noch größer machen wollen, meine Damen und Herren. Das finden wir nicht richtig. ({7}) 299 Wahlkreise heißt 299-mal Basisdemokratie. Das heißt Verantwortlichkeit gegenüber den Bürgern vor Ort und nicht gegenüber irgendwelchen Hinterzimmern, wo Sie Ihre Landeslisten ausklüngeln. ({8}) Deswegen setzen wir auf die Verantwortung vor den Bürgern. Wenn Sie die Direktmandate angehen, lösen Sie nicht das Größenproblem des Bundestages. Sie machen ihn nicht demokratischer, und deswegen wollen wir die Listenmandate angehen, meine Damen und Herren. Das ist der richtige Weg für die Diskussion. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Philipp Amthor. – Ich schließe die Aussprache.

Christian Lange (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003168

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Viele Kinder haben heute einen unbeschränkten Internetzugang. Sie nutzen soziale Medien und die vielfältigen anderen Kommunikationsmöglichkeiten im Netz. Das Internet bietet ihnen Chancen, sich zu entfalten und zu lernen. Zugleich sind Kinder im Netz aber auch besonderen Gefahren ausgesetzt. Täter nutzen die Anonymität des Internets zur ungestörten Kontaktaufnahme. Dabei geben sie sich nicht selten als Kinder oder Jugendliche aus. Ihre jungen Opfer sind oft unerfahren, neugierig und nicht in der Lage, gefährliche Situationen zu erkennen. Vor diesem Hintergrund haben wir im Jahr 2003 das Cybergrooming unter Strafe gestellt, also das gezielte Ansprechen von Kindern im Internet mit dem Ziel der Anbahnung sexueller Kontakte. Der Straftatbestand greift allerdings nicht, wenn der Täter lediglich glaubt, auf ein Kind einzuwirken, tatsächlich aber mit einem Erwachsenen kommuniziert, zum Beispiel mit einem wachsamen Elternteil oder einem Polizeibeamten. Das wollen wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nunmehr ändern. Denn die Strafbarkeit darf nicht davon abhängen, ob die kontaktierte Person den Vorstellungen des Täters entsprechend tatsächlich ein Kind ist oder nicht. Wir wollen deshalb eine Versuchsstrafbarkeit beim Cybergrooming einführen, um auch diese Fälle strafrechtlich zu erfassen und Täter nicht straflos davonkommen oder sogar weitermachen zu lassen. Damit setzen wir zugleich eine Vereinbarung aus dem Koalitionsvertrag um. Darüber hinaus, liebe Kolleginnen und Kollegen, soll der im Jahr 2016 neu eingeführte Straftatbestand der sexuellen Belästigung geändert werden. Er soll künftig nur noch von schwereren Sexualdelikten und nicht mehr von sonstigen Delikten mit schwererer Strafandrohung verdrängt werden. Die Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung soll stets im Schuldspruch zum Ausdruck kommen. Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat damit einen ausgewogenen Entwurf vorgelegt, der bestehende Strafbarkeitslücken schließt, ohne dabei über das Ziel hinauszuschießen. Dabei möchte ich mit Blick auf die Einführung der Versuchsstrafbarkeit beim Cybergrooming noch einmal betonen: Es handelt sich bei dem betroffenen Tatbestand um ein Gefährdungsdelikt. Er stellt schon in seiner aktuellen Fassung strafwürdige Vorbereitungshandlungen als vollendete Tat unter Strafe. Gerade deshalb haben wir in unserem Entwurf gezielt die für die Praxis bedeutsamen Fälle der sogenannten – in Anführungszeichen – „Scheinkinder“ herausgegriffen und nicht zusätzlich auch eine zeitliche Vorverlagerung der Strafbarkeit vorgesehen. Ich darf Sie deshalb um Unterstützung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung bitten. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Christian Lange. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Roman Reusch. ({0})

Roman Johannes Reusch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004863, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die AfD-Fraktion begrüßt ausdrücklich den Vorstoß der Bundesregierung. Es ist gut, wenn die Ermittlungsmöglichkeiten der Polizei verbessert werden, insbesondere auf diesem Feld. Ob die Angriffe des Bundesrats gegen die gefundene rechtliche Konstruktion zutreffen oder nicht, werden wir im Ausschuss sicherlich klären; dafür ist hier nicht der Ort. Was man aber auf jeden Fall tun sollte, ist, dem Anliegen des Bundesrates hinsichtlich der Änderung des § 184b StGB zu folgen; denn das ist eine absolute Parallelproblematik. Auch dort hat die Polizei nach geltendem Recht weniger Möglichkeiten, als sie bräuchte, um solche Sittenstrolche zu überführen. ({0}) Deswegen möchte ich anregen, dass die Regierungsfraktionen sich das zu eigen machen, einen kleinen Änderungsantrag schreiben und das aufnehmen. Dann hätten wir zwei Lücken auf einmal geschlossen, und das wäre gut. Ich freue mich auf die Diskussion im Ausschuss. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Roman Reusch. – Nächster Redner: Thorsten Frei für die CDU/CSU-Fraktion. ({0}) – Das stimmt. Er hat Zeit eingespart. Danke schön. – Herr Frei, jetzt machen Sie es nach! ({1})

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir freuen uns sehr, dass die Bundesregierung diesen Gesetzentwurf nunmehr vorgelegt hat, um beim Cybergrooming auch den untauglichen Versuch strafbar zu machen. Ich glaube, dass es ein wichtiger und notwendiger Schritt ist, um Strafbarkeitslücken zu schließen. In der Tat ist es aber auch so, dass wir uns Gedanken machen müssen, ob dieser Schritt schon ausreichend ist oder ob wir weitere Schritte benötigen, um den Anforderungen gerecht zu werden. Das Cybergrooming, also das gezielte Ansprechen von Kindern im Internet zum Zwecke der Anbahnung von sexuellen Kontakten, ist etwas, was zutiefst verabscheuungswürdig ist. Wir haben das heute in § 176 StGB bereits geregelt, nicht aber den Fall, dass am anderen Computer, am anderen Ende der Leitung sozusagen, Eltern, Ermittler, Polizisten oder andere sitzen. Man muss sich einmal vorstellen, was das in Wahrheit bedeutet. Das kann man an einem Fall sehen, der sich in Hessen im Herbst 2012 abgespielt hat. Da haben sich Ermittlerteams auf einer Plattform, die hauptsächlich von Kindern genutzt wird, in Fake Accounts als zwei zwölfjährige Mädchen ausgegeben, und innerhalb kürzester Zeit haben etwa 400 Erwachsene, in der Regel Männer, versucht, sich diesen zu nähern, und zwar mit sexuell eindeutigen Bemerkungen. Wenn man sich einmal anschaut, was da für Dinge zur Sprache gekommen sind, nämlich dass sich die vermeintlichen Mädchen vor der Webcam ausziehen sollten, dass die Erwachsenen selber angeboten haben, sich zu entblößen, dass sie zu sexuellen Handlungen verleiten wollten, dann ist augenfällig, dass an dieser Stelle etwas getan werden muss, dass wir hier eine Strafbarkeitslücke haben, dass wir alles unternehmen sollten, diese zu schließen und damit das Internet für die Kinder ein Stück weit sicherer zu machen. ({0}) Ich möchte an dieser Stelle aber auch darauf hinweisen, dass wir uns, wenn wir uns diesen schmalen Entwurf des § 176 Absatz 6 StGB anschauen, überlegen müssen, ob wir die Wertungswidersprüche vollständig auflösen. Da ist in der Tat die Frage, warum beispielsweise das Zeigen von pornografischen Filmen oder Bildern weniger strafwürdig sein soll als anzügliche Chats, die ja unter diese Regelungen fallen. ({1}) Es stellt sich auch die Frage, warum beispielsweise der ganz normale Versuch im Bereich des § 176 StGB, also wenn sozusagen nur aus technischen Gründen die Übertragung der Bild- oder Filmnachrichten, der Chats, scheitert, nicht gleichermaßen strafwürdig ist. Das ist ein Punkt, über den wir uns im parlamentarischen Verfahren noch Gedanken machen sollten. Was wir an vielen Stellen auch sehen – deswegen möchte ich diesen Punkt hier ansprechen –: Ermittler müssen auch in die Lage versetzt werden, solchen kriminellen Tätergruppen tatsächlich beizukommen. Vieles, was sich im sogenannten Darknet abspielt, findet in geschlossenen Foren statt, in die man nur dann hineinkommt, wenn man sich selber durch das Hochladen pornografischer Schriften strafbar macht. Deswegen sollten wir schauen, ob wir Möglichkeiten finden, dass Polizisten, dass Ermittler in das Darknet vorstoßen können, ohne sich selber strafbar zu machen, indem sie sich im Zweifel mit Material, das technisch und computergeneriert erstellt ist, in diesen Bereichen Zugang verschaffen. Ich finde, wir sollten alles Mögliche tun, um sicherzustellen, dass wir Strafbarkeitslücken in diesem Bereich schließen, dass wir das Internet für Kinder sicherer machen und dass wir denen auf die Schliche kommen, die Kinder missbrauchen, malträtieren, in schlimme Zustände bringen, die häufig ein Leben lang andauern. Ich glaube, dass es wirklich den Ehrgeiz lohnt, in den parlamentarischen Beratungen zu schauen, wie wir den Gesetzentwurf, der ein wichtiger und ein guter Schritt in die richtige Richtung ist, noch besser machen können. Vielen Dank. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Thorsten Frei. – Nächster Redner: Stephan Thomae für die FDP-Fraktion. ({0})

Stephan Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004175, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist ein Grundsatz des deutschen Rechtes, dass reine Vorbereitungshandlungen für eine Straftat straffrei bleiben sollen. Warum? Die Tat ist ja noch nicht einmal bis zum Versuchsstadium gediehen. Der Zeitpunkt des „Jetzt geht es auch los“ ist nicht erreicht. Die Tat ist von der Vollendung der Rechtsgutverletzung einfach noch zu weit entfernt. Deswegen sind reine Vorbereitungshandlungen nach deutschem Strafrechtsgrundsatz straffrei. Es gibt ein paar Ausnahmen im Strafrecht, zum Beispiel im Fall von Terrorismus. Es gibt eine Ausnahme auch bei Staatsschutzdelikten und seit 2015 auch beim Straftatbestand des Cybergroomings, § 176 Absatz 4 Nummer 3 des Strafgesetzbuches. Hier werden auch Einwirkungshandlungen, also der Versuch, etwas einzuleiten, damit am Ende eine sexuelle Handlung, also eine Straftat, zustande kommt, unter Strafbarkeit gestellt. Also nicht die sexuelle Handlung als solche ist strafbar, sondern die Vorbereitung einer sexuellen Handlung. Das ist eine Ausnahme im deutschen Strafrecht. Hier ist die Einwirkung als Vorbereitungshandlung strafbar, auch wenn es zu der eigentlichen Rechtsgutverletzung gar nicht kommt. Meine Damen und Herren, auch wir sehen Cybergrooming natürlich als großes Problem an, gar keine Frage. Aber was macht die Regierung hier? Die erste Vorverlagerung, die geschieht, nämlich dass die Einwirkungshandlung, die Vorbereitung strafbar wird, wird sozusagen noch einmal verschärft, indem Sie sagen: Schon der untaugliche Versuch soll strafbar werden. Moralisch ist das gut nachvollziehbar. Aber wenn nun am anderen Ende eben ein Agent Provocateur, ein Tatprovokateur, also ein Erwachsener, sitzt, dann bedeutet das: Wir verlagern die Strafbarkeit noch mal einen weiteren Schritt nach vorne. Das erscheint auf den ersten Blick zwar intuitiv und sinnvoll. Aber das heißt: Sie legen noch mal eine Schippe drauf. Sie wollen dies sogar auch dann unter Strafe stellen, wenn der Täter irrigerweise annimmt, am anderen Ende sitze ein Kind oder ein Jugendlicher. Also nicht nur die Vorbereitungshandlung zu einer Vollendung der Straftat, sondern auch der untaugliche Versuch zu einer solchen Vorbereitungshandlung soll strafbar werden. Das ist dogmatisch extrem weitgehend, und es ist so kompliziert, wie ich es darstelle. ({0}) Deswegen sind wir der Meinung, dass man sehr gut überlegen sollte, ob wirklich der Zweck jedes Mittel heiligt oder ob es nicht dabei bleiben sollte, dass wir solche Tatprovokationen als nicht strafbar ansehen. Sie erfinden gerne neue Befugnisse und neue Straftatbestände. Auch wenn das intuitiv nachvollziehbar sein mag: Wir sollten es bei der Dogmatik belassen, dass Vorbereitungshandlungen nach Möglichkeit nicht strafbar sein sollten, weil sie von der eigentlichen Rechtsgutverletzung einfach noch zu weit entfernt sind. Vielen Dank. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Stephan Thomae. – Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Niema Movassat.

Niema Movassat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004114, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir reden über einen Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Cybergrooming-Tatbestandes. Cybergrooming meint, dass erwachsene Männer versuchen, in Chaträumen und sozialen Medien auf unter 14-Jährige einzuwirken, um sie zu sexuellen Handlungen zu überreden. Es handelt sich um die Vorbereitung zum sexuellen Missbrauch. Das ist zum Glück gemäß § 176 Absatz 4 Nummer 3a Strafgesetzbuch strafbar. Es handelt sich um einen Tatbestand, der im Vorfeld einer Rechtsgutverletzung liegt. Es muss also nicht erst zum Missbrauch kommen. Es reicht die Absicht des Täters, diese durch Einwirkung auf die Minderjährige erreichen zu wollen. Faktisch handelt es sich um ein Versuchsdelikt. Die Strafandrohung ist gut und sinnvoll, weil sie eine generalpräventive Wirkung hat. Sie soll verhindern, dass es zum sexuellen Missbrauch kommt. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung, den wir hier diskutieren, missachtet aber den Sinn und Zweck des Strafrechts. Um was geht es? Die Bundesregierung will beim Cybergrooming zusätzlich den sogenannten „untauglichen Versuch“ strafbar machen. Es geht um den Fall, bei dem der Erwachsene denkt, im Chat sitze ihm eine Minderjährige gegenüber. In Wirklichkeit ist es aber etwa ein Polizist, der sich als minderjährig im Chat ausgibt, um potenzielle Täter zu locken. Bisher ist der Erwachsene in diesen Fällen nicht zu bestrafen, weil es weder ein Kind noch die Selbstbestimmung des Kindes gibt, die § 176 Strafgesetzbuch schützt. Thomas Fischer, ehemaliger Richter am Bundesgerichtshof, schrieb im „Spiegel“ treffend, dass mit dem Änderungsvorschlag der Bundesregierung der „Versuch des Versuchs“ strafbar wird. Denn die jetzige Regelung betrifft ja, wie gesagt, de facto schon ein Versuchsdelikt. Eine Rechtsgutverletzung ist nicht notwendig, es muss also niemandem etwas passiert sein. Wenn nun Vorfeldhandlungen strafbar werden, etwa der Versuch, überhaupt Minderjährige zu finden, auf die man im Chat einwirken kann, dann wird die Vorbereitung der Vorbereitung bereits strafbar. Was die Bundesregierung mit ihrem Gesetzentwurf vorgelegt hat, ist eine deutliche Vorverlagerung der Strafbarkeit, die in dieser Form das Strafrecht bisher nicht kennt. Deshalb sehen wir als Linke das sehr kritisch. ({0}) Und es gibt ja eine Lösung: Für Dinge, die im Vorfeld einer Rechtsgutverletzung liegen, ist das polizeiliche Gefahrenabwehrrecht da. Diejenigen Erwachsenen, die denken, sie würden auf ein Kind einwirken, obwohl sie in Wirklichkeit zum Beispiel mit einem Polizisten chatten, sind gefährlich. Damit ist das Polizeirecht anwendbar. Dieses soll Gefahren für Rechtsgüter im Voraus abwehren. Es gibt viele Mittel im Polizeirecht: Gefährderansprache, Überwachungsmaßnahmen. Denkbar ist auch, dass man beim Verdacht auf Straftaten – und der Verdacht liegt nahe, wenn ein Erwachsener eine angeblich Minderjährige anspricht – über die StPO eine Wohnraumdurchsuchung durchführt. Man kann Computer und Handy durchleuchten. Man kann also dem potenziellen Täter mit der heutigen Rechtslage schon zeigen: Wir haben dich im Visier, und wir kriegen dich, wenn du eine Straftat begehst. – Was wir aber nicht brauchen, ist eine immer weitere Vorverlagerung des Strafrechts in den Bereich des polizeirechtlichen Gefahrenabwehrrechts. ({1}) Lassen Sie mich noch einen zweiten kurzen Punkt anführen. Durch den Gesetzentwurf der Bundesregierung wird der Einsatz von staatlichen Lockvögeln weiter normalisiert. Denn nach dieser Änderung ist schon strafbar, wer einen Kontakt mit einem Lockvogel anbahnt. Als Linke halten wir den Einsatz von staatlichen Lockvögeln eines Rechtsstaats für unwürdig. Jedenfalls muss der Rahmen, in dem staatliche Lockvögel agieren dürfen, wesentlich detaillierter geregelt werden. Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, in ihren Stellungnahmen haben der Deutsche Anwaltverein und der Kriminalpolitische Kreis, ein Zusammenschluss mehrerer Strafrechtsprofessoren, wie ich finde, mit sehr überzeugenden Argumenten Ihren Gesetzentwurf kritisiert. Es wäre sehr gut, wenn Sie diese Kritik ernst nehmen würden. Danke schön. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Niema Movassat. – Nächste Rednerin: Canan Bayram für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Canan Bayram (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004665, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die digitale Welt birgt für Kinder und Jugendliche verschiedenste Gefahren. Dazu gehören unbeabsichtigte Vertrags- und Urheberrechtsverletzungen ebenso wie eigenes strafrechtlich relevantes Verhalten, vor allem aber die Gefahr, selbst Opfer einer Straftat zu werden. Kinder und Jugendliche sind besonders gefährdet, Opfer von Hate Speech, Cybergrooming oder sexueller Gewalt zu werden. Effektiver Schutz vor sexuellem Missbrauch von Kindern braucht mehr als den wohlfeilen Ruf nach mehr Strafrecht. Zentral ist die Erhöhung des Entdeckungsrisikos für Straftäter – also mehr Personal und Technik bei der Gefahrenabwehr und Strafverfolgung ({0}) und mehr Aktivität für Prävention auf allen Ebenen, im Netz und in der Bildung. ({1}) Daran mangelt es vielfach. Das führt dazu, dass sich Straftäter im Netz sicher fühlen, keine Angst haben, entdeckt und verurteilt zu werden. Notwendig ist aber nicht nur eine bessere Ausstattung der Polizei, sondern auch eine koordinierte Vernetzung aller kinderschutzrelevanten Akteure. Darauf kommt es an, meine Damen und Herren. ({2}) Beim einschlägigen Strafrecht muss die Bundesregierung über die bisherigen Änderungen hinaus die Reform von Gesetzen mit Blick auf Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung endlich systematisch angehen. Hierfür liegt seit Mitte 2017 ein Bericht der dazu vom Bundesjustizministerium eingesetzten Reformkommission vor, der nicht länger in der Schublade verbleiben darf. Beim sogenannten Cybergrooming ist die Bedeutung des einschlägigen Straftatbestandes nach den Verurteilungszahlen gering. Denn kommt es zu keinem Treffen mit dem Kind, bestehen Beweisprobleme. Kommt es zu einem Treffen, ist bereits der Hauptstraftatbestand des sexuellen Missbrauchs erfüllt. Das Dunkelfeld aber ist nach allseitiger Einschätzung sehr hoch, und darum müssen wir uns kümmern. ({3}) Gerade deshalb hätte sich das Bundesjustizministerium vor allem mit den bestehenden Möglichkeiten der Gefahrenabwehr und mit Ermittlungsmaßnahmen beim untauglichen Versuch des sogenannten Cybergroomings auseinandersetzen müssen, etwa mit Ermittlungsmaßnahmen wie der Durchsuchung und Beschlagnahme aufgrund eines Anfangsverdachts des Missbrauchs, weil nach kriminalistischer Erfahrung von den Verdächtigen vielfach weitere einschlägige Straftaten begangen werden. Dazu zählt auch die Gefährderansprache; der Kollege hat das hier schon angeführt. Da hätte man Maßnahmen ergreifen können oder könnte sie ergreifen, ohne den Tatbestand zu ändern. Sexueller Missbrauch von Kindern wird nach § 176  Absätze 1 bis 3 StGB mit Freiheitsstrafe von 6 Monaten bis zu 10 Jahren, in schweren Fällen mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft. Diese Strafbarkeit wollen Sie jetzt vorverlagern, und wegen dieser Vorverlagerung wollen Sie eine ausdrückliche Strafbarkeit des Versuchs dieser Vorbereitungshandlung einführen. Wir finden das deswegen falsch, weil es rechtsstaatlich gar keinen Grund dafür gibt. Wir sind der Auffassung, dass die Entwurfsverfasser sich zwar bemüht haben, keine generelle Versuchsstrafbarkeit zu schaffen, sondern die Versuchsstrafbarkeit allein auf den genannten Fall des untauglichen Versuchs zu beschränken, aber auch das ist danebengegangen. Fazit: ein auch handwerklich holpriger Gesetzentwurf. Wir setzen daher darauf, dass wir das in der Anhörung im Ausschuss am 6. November korrigieren können. Danke schön. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Canan Bayram. – Nächste Rednerin: Elisabeth Winkelmeier-Becker für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Elisabeth Winkelmeier-Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003865, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Beim Cybergrooming geht es um zwei Dinge. Zum einen geht es um den Befund, dass Kinder viel zu oft mit sexualisierten Inhalten oder sogar mit Übergriffen konfrontiert werden. Sie brauchen einen Schutzraum, und den müssen wir liefern, wir Erwachsene, wir als Staat. Der andere Punkt ist: Das Internet hat viele Regeln verändert. Es schafft neue Möglichkeiten des Zugangs, und es schafft den Deckmantel der Anonymität. Unter diesem Deckmantel der Anonymität tun eben viele Menschen etwas, was sie unter ihrem Klarnamen nicht tun würden. Das ist beim Cybergrooming der Fall, aber das Phänomen haben wir auch in einem anderen Zusammenhang des Öfteren gesehen: bei Hass und Hetze im Netz; auch das wurde heute hier diskutiert. Beim Cybergrooming kommt beides zusammen, wenn Erwachsene diese neuen technischen Möglichkeiten nutzen, um sich direkt an den Eltern vorbei Zugang zum Kind zu verschaffen, mit dem Ziel, ein reales Treffen zu verabreden und dann letztendlich auch einen sexuellen Übergriff zu begehen. Die Frage, wie das technisch geht, ist ganz einfach zu beantworten: Fast jedes größere Kind hat mittlerweile ein internetfähiges Smartphone, und viele Spiele haben eine Chatfunktion, durch die es Tätern ermöglicht wird, direkt den Kontakt herzustellen. Die Zahlen belegen, dass das häufiger vorkommt, als wir uns das vorstellen mögen. Der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs geht davon aus, dass schon über 15 Prozent der Kinder bis 14 Jahre im Netz solche ungewollten Konfrontationen erlebt haben. Und wir wissen aus Gesprächen mit Praktikern, dass das von vielen Tätern in der beschriebenen Art und Weise genutzt wird. Ein Beispiel aus Hessen: Ermittler haben innerhalb von nur acht Tagen fast 400 solcher Fälle aufgedeckt. Auch aus Nordrhein-Westfalen gibt es dazu Schilderungen. Cybergrooming, also die Anbahnung des Kontaktes zu Kindern im Netz, ist strafbar. Aber das Problem ist: Wenn der Täter mit einem Kind chattet, dann wird das häufig nicht aufgeklärt. Das Kind schämt sich, es geht nicht zu seinen Eltern. Wir haben also ein großes Dunkelfeld. Wenn hingegen anstelle des Kindes ein Ermittler oder ein Elternteil am anderen Ende der Leitung sitzt, dann ist das nach heutiger Rechtslage nicht strafbar. Der bloße Versuch ist nicht strafbar, und das heißt: Obwohl wir wissen, dass es einen Täter gibt, der sich vorgenommen hat, ein Kind zu täuschen, der zu dem Kind Kontakt aufbauen will, der letztendlich übergriffig werden will, gibt es keine Handhabe gegen ihn. Mit dem Gesetzentwurf, der heute eingebracht wird, wollen wir diesen untauglichen Versuch gezielt unter Strafe stellen, um den Ermittlungs- und Verfolgungsdruck zu erhöhen und schon zu einem frühen Zeitpunkt einschreiten zu können, zu dem das eben heute noch nicht möglich ist. ({0}) Es ist richtig, dass damit die Strafbarkeit vorverlagert wird, aber es gibt dafür einen guten Grund; denn jedes Zuwarten würde das Kind zusätzlich gefährden, und das wollen wir verhindern. ({1}) Es geht darum, möglichst effektiv gegen Täter, die so etwas tun wollen, vorzugehen, und es geht auch darum, das Kind schon vor der sexualisierten Kommunikation, die dem ja vorausgeht, zu schützen; denn auch das ist schon belastend. Es verwirrt das Kind und setzt es unter Druck. ({2}) Wir wollen diese Lücke endlich schließen. Mit Heiko Maas haben wir schon darüber diskutiert – er hat es nicht aufgegriffen. Auch Ministerin Barley hat es liegen lassen. Wir haben es aber im Koalitionsvertrag vereinbart und sind froh, dass wir es jetzt endlich aufgreifen. Wir würden gerne weitere Schritte folgen lassen, um dem Schutz der Kinder vor sexuellen Übergriffen noch mehr Gewicht zu geben.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Elisabeth Winkelmeier-Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003865, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber ich denke, wir haben mit diesem Gesetzentwurf einen guten Vorschlag vorliegen. Wir werden versuchen, ihn auch mit den Anregungen aus dem Bundesrat noch weiter zu verbessern. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Elisabeth Winkelmeier-Becker. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Dr. Johannes Fechner. ({0})

Dr. Johannes Fechner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004270, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tribünen! Die Polizeiliche Kriminalstatistik 2018 zeigt eine ganz schreckliche Zahl: Über 14 000 Ermittlungsverfahren wurden wegen sexueller Gewalttaten gegen Kinder in Deutschland eingeleitet. Das sind schreckliche Zahlen; denn dahinter verbergen sich schlimme Schicksale von Kindern, die ihr Leben lang durch diese schlimmen Straftaten traumatisiert sind. Deswegen: Lassen Sie uns gemeinsam mehr gegen Kindesmissbrauch und sexuelle Gewalt gegen Kinder tun, meine sehr geehrten Damen und Herren! ({0}) Für uns in der SPD ist eine zentrale Maßnahme, dafür mehr Personal bei der Justiz und bei der Polizei zu schaffen. Das hat heute noch keiner gesagt; aber für uns ist das eines der wichtigsten Handlungsfelder, um gegen Kindesmissbrauch vorzugehen. Auch deshalb haben wir zusammen mit den Ländern den Pakt für den Rechtsstaat geschlossen und haben gesagt: Wir wollen 2 000 neue Stellen bei den Staatsanwaltschaften und den Gerichten schaffen. – Dafür haben wir viel Geld ausgegeben, aber das ist gut angelegtes Geld; denn wir sind der Meinung: Wenn es um sexuelle Gewalt, gerade gegen Kinder, geht, dann darf deren Bekämpfung nicht am Geld scheitern, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Wir wollen auch das Strafrecht verbessern. Speziell mit dem vorliegenden Gesetzentwurf stellen wir den Versuch des Cybergroomings unter Strafe. Das heißt, es ist schon strafbar, wenn der Täter irrig glaubt, auf ein Kind einzuwirken, in Wirklichkeit jedoch mit einem Erwachsenen kommuniziert. Cybergrooming ist eine ganz besonders perfide Masche; denn die Straftäter nutzen die Anonymität des Internets gezielt aus, um mit Kindern und Jugendlichen in Kontakt zu kommen. Scheinbar harmlos, tatsächlich aber doch mit eindeutigen Absichten des sexuellen Missbrauchs, nehmen sie über dieses sogenannte Cybergrooming Kontakt zu Kindern auf. Für die Kinder ist oft nicht erkennbar, dass sie in Gefahr sind, wenn sie scheinbar harmlos in Onlinechats von vermeintlich Gleichaltrigen kontaktiert werden. Deshalb wollen wir die Kinder durch dieses Gesetz besser schützen. Ja, das führt zu einer Vorverlagerung der Strafbarkeit, aber wir glauben, dass es angesichts des immer weiter zunehmenden Ausmaßes an Kinderpornografie und Gefahren für die Kinder erforderlich ist, dass zukünftig eben auch derjenige bestraft wird, der irrig glaubt, ein Kind anzusprechen, es aber tatsächlich mit einem Erwachsenen zu tun hat. Denn damit zeigt der Täter doch, dass er gefährlich ist. Dadurch zeigt sich eine abstrakte Gefahr für die Kinder, und das ist für uns der Grund, hier tätig zu werden und die Strafbarkeit auszuweiten. So etwas können wir nicht hinnehmen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Wir präzisieren den Straftatbestand der sexuellen Belästigung, und auch dadurch schaffen wir einen besseren strafrechtlichen Schutz; denn nach geltendem Recht wird der Strafrahmen der sexuellen Belästigung nur dann angewandt, der Täter also nur dann deswegen bestraft, wenn seine Tat nicht schon nach einem anderen Straftatbestand mit schwerer Strafe bedroht ist. Begeht also ein Täter etwa eine Körperverletzung und eine sexuelle Belästigung gleichzeitig, ist die Rechtslage im Moment so, dass er nicht wegen sexueller Belästigung bestraft werden kann, dass diese Tat also nicht im Schuldspruch berücksichtigt werden kann. Häufig empfinden Opfer doch gerade die sexuelle Belästigung als schwerwiegender, sind eher dadurch traumatisiert als beispielsweise durch die Körperverletzung. Deswegen stellen wir mit diesem Gesetz klar, dass eine Bestrafung wegen sexueller Belästigung nur dann ausscheidet, wenn die Tat schon nach einem anderen Straftatbestand strafbar ist, der auch die sexuelle Selbstbestimmung schützt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen weiter gegen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung vorgehen. Das müssen wir in erster Linie machen, indem wir die Sicherheitsbehörden stärken: mehr Personal bei den Jugendämtern, bei der Polizei und auch bei der Justiz. Aber wir müssen auch zu Verbesserungen im Strafgesetzbuch kommen. Wir können es nicht hinnehmen, dass weiterhin so viele Kinder misshandelt werden. Dem dient dieses Gesetz. Stimmen wir ihm zu! Vielen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Fechner. – Letzter Redner in dieser Debatte: Alexander Hoffmann für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Alexander Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004304, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! In den 90er-Jahren musste sich ein Sexualstraftäter, der mit Kindern, mit Jugendlichen zum Zwecke der sexuellen Kontaktaufnahme anbandeln wollte, dem realen Leben stellen. Er musste sich aufhalten an Schulen, an Kinderspielplätzen. Er musste Gesicht zeigen, und dabei hatte er das Risiko, entdeckt zu werden. Heute, im Zeitalter des Internets, eröffnen sich für einen solchen Sexualstraftäter ganz neue Möglichkeiten. Unter dem Schutz der vermeintlichen Anonymität findet heute Cybergrooming tragischerweise in deutschen Kinder- und Jugendzimmern jeden Abend hundertfach, ja tausendfach statt. Erwachsene Täter, meist Männer, geben sich als vertrauenswürdig und/oder minderjährig aus. Sie erschleichen Vertrauen. Das Ziel ist letztendlich die Schaffung eines Vertrauensverhältnisses, das am Schluss in sexuellen Kontakt einmünden soll. Das erreicht man entweder durch ein Livetreffen oder am Schluss durch die Erpressung. Das ist eine echte Masche; das ist heute hier noch überhaupt nicht angeklungen. Die Situation ist so problematisch, dass der Cyberkriminologe Thomas-Gabriel Rüdiger von der Fachhochschule für Polizei in Brandenburg – Frau Präsidentin, ich zitiere – folgenden Satz gesagt hat: Ich … gehe davon aus, dass im Prinzip heutzutage kaum ein Kind im digitalen Raum aufwachsen kann, das nicht in irgendeiner Form mit so einem Sexualtäter konfrontiert wird. Das muss man sich mit Blick auf die heutige Realität mal auf der Zunge zergehen lassen. Wir schließen mit diesem Gesetzentwurf heute eine Lücke. Kommt es bei einem Kontakt mit einem verdeckten Ermittler, der auf einer Schülerplattform als, sagen wir mal, „Lisa12“ unterwegs ist, zu eindeutig strafbaren Handlungen bis hin zur Übermittlung von pornografischen Schriften, ist das bis heute nicht strafbar. Die Praxis – auch das ist mir bei der FDP, bei den Grünen und bei den Linken viel zu wenig rübergekommen – sagt uns ganz eindeutig: Wenn wir diese Täter dingfest machen wollen, dann nützen nicht zehn Kriminologen mehr, dann nützen nicht zehn Kriminalbeamte mehr, sondern dann brauchen wir einen Straftatbestand, weil der Täter sonst ungeschoren davonkommt. ({0}) Wir als Union haben diese Thematik für uns eigentlich schon seit fünf Jahren im Blick. Mit Heiko Maas war das leider überhaupt nicht umzusetzen. Wir haben in der letzten Legislaturperiode immerhin noch ein Fachgespräch machen können. Auch da waren die Rückmeldungen aus der Praxis erschreckend eindeutig. Es war für uns ein Erfolg, dass wir das Thema in den Koalitionsvertrag reinverhandeln konnten. Wir fanden es sehr schade, dass unter Justizministerin Katarina Barley da zunächst einmal überhaupt nichts passiert ist. Als dann im „Spiegel“ stand, dass die Union einmal die Woche nachgefragt hat, was mit dem Referentenentwurf ist, dass ich als Berichterstatter schon angeboten hatte, den Entwurf im Notfall selbst zu schreiben, weil er so komplex nicht zu sein scheint, hat der Entwurf just acht Tage später das Licht der Welt erblickt. Ich freue mich, liebe Kolleginnen und Kollegen, auf das parlamentarische Verfahren. Ich sage Ihnen: Wenn wir die Risiken des Netzes für Kinder reduzieren wollen, wenn wir Kinderpornografie im Netz effektiv beenden und bekämpfen wollen, dann sollten wir uns im parlamentarischen Verfahren über weitere Dinge Gedanken machen. Wir sollten uns überlegen, ob wir zu einer Strafbarkeit von Plattformbetreibern im Darknet kommen, ob wir wie in den USA eine Meldepflicht für Internetprovider etablieren können, wenn sie, auch zufälligerweise, Kinderpornografie auf ihren Servern feststellen. Wir sollten uns Gedanken machen, wie wir für Ermittler Zugang auf Kinderpornografieplattformen im Darknet schaffen, zum Beispiel mit computergeneriertem Material. Da gibt es schon einen Vorstoß im Bundesrat.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege Hoffmann, Ihre Redezeit.

Alexander Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004304, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Für all das sollten wir das parlamentarische Verfahren nutzen.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Und Sie sollten zum Ende kommen.

Alexander Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004304, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dafür wäre ich Ihnen sehr dankbar. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Katja Suding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004910, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Digitalisierung und künstliche Intelligenz erleichtern heute schon unser Leben. Suchmaschinen geben Auskünfte in Bruchteilen von Sekunden. In der Landwirtschaft spart künstliche Intelligenz Fläche, Dünger und Pflanzenschutzmittel. Und in der Medizin erkennt KI Tumore und Herzinfarkte, rettet also Leben. Ein solches Smart Germany kann aber noch viel mehr. Dazu bringen wir als FDP-Fraktion in dieser Sitzungswoche 25 Anträge in den Deutschen Bundestag ein; denn wir brauchen und wir wollen unbedingt ein solches Update für Deutschland. ({0}) Der uns hier vorliegende Antrag befasst sich mit künstlicher Intelligenz an den Schulen; denn auch an den Schulen kann künstliche Intelligenz durch Learning Analytics eine ganze Menge bewirken. Interaktive Schulbücher erfassen den Lernfortschritt. Sie werten Wissenslücken aus und schlagen passgenaue Übungen vor. Algorithmen erkennen, ob ein Schüler besser im Frontalunterricht, in Gruppenarbeit oder mit einem Video lernt. Auch die Gefahr, ein Lernziel zu verfehlen, erkennt die künstliche Intelligenz frühzeitig, sodass Lehrer und Schüler leichter gegensteuern können. Das mag für manchen wie Science-Fiction klingen, ist aber längst Realität – nur nicht an deutschen Schulen, und genau das müssen wir verändern. ({1}) Auch in Deutschland wollen viele Lehrer anfallende Lerndaten nutzen, um ihre Schüler besser zu unterrichten. Aber sobald sich ein Lehrer absichern will, dass er die Daten auch rechtskonform einsetzt, beginnt für ihn ein Hürdenlauf in der Dunkelkammer. Die Fallstricke erkennt er erst, wenn es zu spät ist, wenn er gestolpert ist. Denn schon für den Einsatz eines digitalen Vokabeltrainers braucht ein Lehrer Einverständniserklärungen aller Eltern und auch der Schüler, sobald sie älter als 16 Jahre sind. Manche müssen 120-seitige Datenschutzerklärungen unterzeichnen ohne Rechtsbeistand. Wieder andere werden vom Datenschutzbeauftragten erst dann gestoppt, wenn die digitalen Lernmittel längst eingesetzt werden. Wir brauchen endlich Klarheit darüber, was erlaubt ist und was nicht, meine Damen und Herren. ({2}) Das Ausland macht uns übrigens längst vor, wie die Nutzung von Lerndaten die Unterrichtsqualität verbessert. Dafür brauchen wir auch in Deutschland klare Standards, welche Lerndaten wie, wofür und wie lange erhoben und genutzt werden dürfen. Klare Standards geben allen Betroffenen Sicherheit. Die Schüler wissen, dass der Ausrutscher in Mathe kein Problem bei der Bewerbung für ein späteres Studium wird. Die Lehrkräfte wissen, welches interaktive Schulbuch sie einsetzen dürfen und welches eben nicht. Und die Entwickler wissen, welche Vorgaben ihre Software erfüllen muss. Von klaren Regeln haben also alle was, meine Damen und Herren. ({3}) Wir müssen darüber hinaus die Lehrkräfte unterstützen; denn mit ihnen steht und fällt die Nutzung von Lerndaten. Einige Lehrer sind als KI-Pioniere an den Schulen unterwegs; ihr Wissen haben sie sich selbst angeeignet. Wir müssen aber allen Lehrern, und zwar schon im Lehramtsstudium und auch in Fortbildungen, vermitteln, wie sie ihren Unterricht mithilfe von Daten verbessern können und wie sie ihre pädagogischen Konzepte dadurch unterstützen können. Als Bund haben wir genug Möglichkeiten, gemeinsam mit den Ländern die Nutzung und den Schutz von Lerndaten zu fördern. Die müssen wir nutzen. Das Thema „smarte Datennutzung“ gehört in die Qualitätsoffensive Lehrerbildung. Fördern wir doch entsprechende Forschungsprojekte! Und nutzen wir die Möglichkeiten des neuen Artikel 104c Grundgesetz! Frau Karliczek ist bei dieser wichtigen Debatte nicht hier. Ich fordere sie aber an dieser Stelle noch mal auf: Die Verhandlungen über einen Digitalpakt 2.0 müssen jetzt endlich beginnen. ({4}) Wenn wir Learning Analytics an unseren Schulen fördern und dem einen klaren Rahmen setzen, dann stärken wir die Bildung unserer Kinder und dann schützen wir gleichzeitig ihre Lerndaten. Das und nicht weniger haben unsere Schülerinnen und Schüler verdient: weltbeste Bildung. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Suding. Das war vorbildlich: Sie haben die Redezeit eingehalten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie haben gesehen, die Sitzungsleitung hat gewechselt. Da wir es nach 23 Uhr haben, gelten folgende Regelungen: Zwischenfragen und Interventionen werden nicht mehr zugelassen. Die Redezeiten werden exakt eingehalten. Nach einmaliger Aufforderung von mir werden binnen zehn Sekunden die Mikrofone ausgeschaltet. Das erlaubt § 35 Absatz 3 der Geschäftsordnung nicht nur, das schreibt sie sozusagen vor, und daran wollen wir uns jetzt halten – damit da keine Missverständnisse entstehen. ({0}) Auch appelliere ich noch mal an die Bereitschaft von einigen Kolleginnen und Kollegen, die ich sehr schätze – insbesondere auch aus meiner eigenen Fraktion –, darüber nachzudenken, ob sie ihre Reden wirklich halten müssen. Denn um diese Uhrzeit kann es manchmal sinnvoller sein, sie zu Protokoll zu geben, als sie zu halten. ({1}) Als Nächster hat das Wort der Kollege Andreas Steier, CDU/CSU-Fraktion. ({2})

Andreas Steier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004903, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident, auch ich werde mich bemühen, die fünf Minuten einzuhalten. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren an den Bildschirmen! ({0}) Wir besprechen heute drei Anträge der FDP zum Thema „Weiterbildung und Lernen bei KI“ und zum Thema „Quantencomputer“, wozu Frau Suding eben nichts ausgeführt hat. Mit Letzterem möchte ich heute beginnen. Beim Thema Quantencomputer halte ich den Antrag bzw. die Herleitung der FDP für sehr interessant, weil sie mich ein bisschen an meinen Sohn erinnert. Der ist jetzt im fünften Schuljahr und kam jüngst vor ein paar Tagen zu mir und sagte: Papa, ich weiß jetzt, wie ein Computer rechnet. – Er hatte gerade das binäre Zahlensystem in der Schule durchgenommen. Um aber zu verstehen, wie ein Quantencomputer rechnet, da muss man schon in die Oberstufe gehen und in die Physik hineingehen, da muss man sich mit der Schrödinger-Gleichung auseinandergesetzt haben. Dann versteht man, dass kein Entweder-oder existiert, sondern es auch Dinge gibt, die zwischen Entweder und Oder liegen. Von daher, liebe Kollegen der FDP: Es wäre interessant gewesen, wenn Sie in diesem Antrag etwas Neues geschrieben hätten, vielleicht Physik als Pflichtfach bis zum Abitur; dann hätte dieser Antrag etwas Neues gebracht. ({1}) Zu Quantencomputern und Quantentechnologie hat die Bundesregierung in der letzten Legislaturperiode schon einige Programme aufgerufen. Sie haben schon gelobt, dass Deutschland in der Verschlüsselung bereits einen guten Ruf hat. Von daher sind wir da schon auf einem guten Weg gewesen. Die Förderprogramme zeigen auch Wirkung. Wir haben in der Quantenkryptografie und in der Postquantenkryptografie gute Programme angestoßen; entsprechend ist Deutschland da in der Welt sehr gut etabliert. Um diese Dinge auch weiter zu fördern – denn das Problem ist ja nicht nur das Verstehen, sondern auch das Umsetzen einer neuen Technologie –, haben wir hier bereits 2018 ein neues Programm angestoßen. Wir geben über 650 Millionen Euro für diese neue Technologie aus. Das ist gut investiertes Geld; das hält den Standort Deutschland auch an der Spitze. Von daher sind wir da auf einem guten Weg und lehnen deshalb den ersten Antrag der FDP-Fraktion ab. In den beiden anderen Anträgen geht es um Lernen und Weiterbildung in der KI, um junge Menschen und auch Menschen, die schon im Berufsleben sind, entsprechend weiterzuqualifizieren. Es ist richtig, dass unsere Gesellschaft da natürlich Möglichkeiten finden und auch Unterstützung geben muss, gerade junge Leute in diesem Bereich weiterzubilden, und dass wir die digitale Ausbildung auch hier voranbringen. Genau da setzt unser DigitalPakt an: diese Kenntnisse auch in den Schulen einzuführen. ({2}) Aber wenn ich mir das konkret anschaue – gerade auch in Rheinland-Pfalz –, dann muss ich feststellen: Der Bund investiert zwar Geld in die Schulen, indem er die Ausstattung finanziert, aber in der Umsetzung sieht man Dinge, die ich nicht zielführend finde. Zum Beispiel redet man im Wissenschaftsausschuss in Rheinland-Pfalz nur über digitale Medienkompetenzen. Da ist mehr gefordert, auch in Ihrem Sinne, damit wir die Gesellschaft entsprechend weiterbringen können. Da fordere ich auch, dass man Programmieren möglichst früh in der Schule ansetzt, weil jemand, der programmieren kann, weiß, wie Ursache-Wirkung-Folgen in einem Computerprogramm entstehen. So jemand weiß dann auch, wie man künstliche Intelligenz weiterentwickelt. Herr Röspel, wir sind in der Enquete-Kommission „Künstliche Intelligenz“ in der neuen Projektgruppe 4 damit befasst, die Themen Arbeit, Bildung und Schule zu behandeln. In Projektgruppe 4 sind wir gefordert, nicht nur das Thema Arbeit zentral zu belegen, sondern auch das Thema Bildung/Weiterbildung in dem Kontext mit guten Forderungen zu belegen. ({3}) In dieser Projektgruppe sollten wir uns auch darüber Gedanken machen, wie wir Deutschland weiterentwickeln können. Die Ergebnisse dieser Projektgruppe, die in die Bildung, Weiterbildung, Forschung und auch in die Arbeitswelt hineinstrahlen, sollten wir gemeinsam nutzen und sie auch gemeinsam ausarbeiten. Ich fordere alle Fraktionen auf, daran mitzuwirken, dass wir ein gutes Ergebnis finden. In diesem Sinne freue ich mich auf die Debatte in den weiterführenden Ausschüssen über das Thema. Wir werden da weiter mitdiskutieren. Ich darf meinen Kolleginnen danken, die leider heute ihre Reden zu Protokoll gegeben haben, Dietlind Tiemann und Ronja Kemmer; die beiden werden die Bildungsthemen natürlich weiter betreuen. Ich freue mich auch, dass ich hier im Bundestag mal Erwin Schrödinger an führender Stelle erwähnen durfte. Von daher vielen Dank; ich freue mich schon auf die weitere Diskussion. Vielen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Michael Espendiller, AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Michael Espendiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004711, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Danke. – Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Zuschauer auf den Tribünen und bei YouTube! Die Magentas: 2013 aus dem Bundestag geflogen, 2017 medienwirksam abgelehnt, in die Regierung zu gehen, seitdem bemühte Opposition und penetrante Besserwisser. ({0}) In dem ersten Machwerk der FDP, das heute auf der Tagesordnung steht, findet man Vorschläge zur Förderung von Learning Analytics und künstlicher Intelligenz in der Schule. Worum geht es dabei konkret? Die FDP will bundesweit von allen Schulen, von allen Schülern und von allen Lehrern sogenannte Lerndaten erheben – die totale Erfassung! Diese Daten sollen dann ganz zentral in der Schul-Cloud gespeichert werden. Die Lehrer werden dadurch zu Marionetten von Lernsoftware mit künstlicher Intelligenz degradiert. Die FDP will uns außerdem erzählen, dass das im Ausland längst alles gang und gäbe ist. Und on top wollen uns die Magentas dann auch noch verkaufen, dass dadurch das Bildungssystem besser wird. ({1}) Liebe FDP, Sie verlieren in Ihrem Digitalisierungswahn wie immer das große Ganze völlig aus dem Blick. ({2}) Wenn dieser Antrag von Ihnen zur Realität wird, dann haben wir den gläsernen Schüler. Die gesamte Schullaufbahn jedes einzelnen Schülers soll gespeichert und zentral erfasst werden. Aber was ist der oberste Grundsatz beim Datenschutz? Dass man Daten gar nicht erst erhebt. Mit Ihrer Datensammlung ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis ein vergeigtes Diktat aus der dritten Klasse später einmal darüber entscheidet, ob man den heiß begehrten Traumjob im Erwachsenenalter bekommt oder nicht. ({3}) Ihnen ist das total egal. Unsere Schulen sind heute schon regelrechte Brennpunkte. Schüler, Lehrer und Eltern entfremden sich zunehmend voneinander. Und Sie wollen jetzt unausgereifte Konzepte zur künstlichen Intelligenz in den Unterricht einbauen. Ich kann mir das schon vorstellen: Der Lehrer sagt „Hü!“, die KI sagt „Hott!“. Super, Sie machen damit die Klassenzimmer in diesem Land zum bildungspolitischen Krisengebiet. ({4}) Ich kann mich an dieser Stelle nur wiederholen: Kriegen wir erst mal unsere normalen Bildungsinhalte – Lesen, Schreiben, Rechnen – richtig hin! ({5}) Wir müssen die Schüler fit machen für den Arbeitsmarkt oder das Studium. Die FDP will hier nur optimierte Fachidioten mit Tablet haben. ({6}) Bei Learning Analytics haben wir ein ganz grundsätzliches Problem: Von den Schülern werden Messdaten erhoben. Wenn ich aber etwas messen will, brauche ich objektive Kriterien. Einfach gesagt: Ich kann messen und speichern, dass der kleine Peter 92 von 100 Punkten im Mathetest hatte. Aber ich kann nicht messen, dass Peter ein richtig guter Schulfreund für seine Mitschüler ist. Ich kann nicht messen, ob er hilfsbereit ist, und ich kann nicht messen, ob er „Prometheus“ so vorträgt, dass man eine Gänsehaut bekommt. Learning Analytics reduziert unsere Schüler und auch Lehrkräfte auf reine Datenlieferanten. Alle erzeugen Daten. Lehrer sollen ihren Unterricht mit Cloud-Tools planen und in einer zentralen Cloud speichern, auf die weiß Gott wer nachher Zugriff hat. Wie weit sind wir dann eigentlich noch davon entfernt, lediglich Wirte einer allmächtigen Datenmatrix zu sein? ({7}) Das ist nicht unsere Welt, und das ist auch nicht mein Bildungsideal. Wir in der AfD vertreten das Bildungsideal von Humboldt: Schüler sollen mündige Erwachsene werden, die ganzheitlich gebildet sind. Deswegen werden wir Ihren Antrag ablehnen. Der Digitalfetisch der FDP führt uns dann auch noch zum Thema Quantencomputer und Datensicherheit. Quantencomputer sind der Theorie nach in der Lage, in Sekunden oder Minuten komplexe Rechenoperationen auszuführen, für die die heutigen Supercomputer Jahre oder Jahrzehnte brauchen. Mit einem funktionstüchtigen Quantencomputer wären alle heute gängigen Verschlüsselungstechniken kinderleicht zu knacken. Aber wie ist denn der aktuelle Forschungsstand? Momentan ist sich die Fachwelt noch nicht ganz sicher, ob der Beweis für die sogenannte Quantensouveränität bereits erbracht wurde oder nicht. Aber die FDP weiß es offenbar mal wieder besser ({8}) und sieht gleich Nachholbedarf bei der Bundesregierung. Was Sie komplett vergessen: Das Bundesforschungsministerium hat schon ein Forschungsprogramm zur Postquantenkryptografie. Das haben Sie nicht gelernt. Bloß weil einer Ihrer Referenten in irgendeinem Tech-Blog etwas Cooles gelesen hat, müssen Sie hier noch lange keinen Antrag stellen. ({9}) Abschließend dann noch zu dem Antrag der FDP zu einem Onlinekurs zur künstlichen Intelligenz nach finnischem Vorbild. Ich habe mir das angesehen. Die Finnen haben ja privatwirtschaftlich so einen Kurs aufgesetzt. Das ist eine gute Idee. Den ins Deutsche übersetzen zu lassen, dafür sind wir auch. Sachen auf Deutsch finden wir von der AfD grundsätzlich gut. ({10}) Ihr Antrag geht aber auch hier viel zu weit und dreht auch wieder hart an der Bürokratieschraube. „Privat vor Staat“: Das hatten Sie früher mal bei sich im Programm – heute leider nicht mehr. Danke für die Aufmerksamkeit. ({11})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Espendiller. – Als nächster Redner hat für die SPD-Fraktion der Kollege René Röspel das Wort. ({0})

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir behandeln jetzt seit einigen Tagen eine ganze Reihe von Anträgen der FDP unter dem Stichwort „Smart Germany“, gleich zwei vom Vortag, und insgesamt sind es, glaube ich, 25 Anträge. ({0}) Ich finde, man hätte da einiges zusammenfassen können; das wäre sicherlich kompakter möglich gewesen. Aber ich glaube, darum geht es Ihnen gar nicht, sondern es geht Ihnen um Profilierung in der Opposition. Das mag okay sein. Aber ich hatte beim Lesen ein bisschen den Eindruck, Sie haben da irgendeinen Fleißigen – es mag auch künstliche Intelligenz sein –, ({1}) auf den Sie angewiesen sind in dieser Frage, der sich mal Studien anguckt, Ergebnisse von Thinktanks, und dann das, was man mal so als Forderung in den Deutschen Bundestag einbringen kann, einfach in diese Anträge reinschreibt. Ich glaube, das ist nicht so richtig gute Oppositionsarbeit, auch wenn vieles davon sicherlich lesenswert und auch durchaus nachdenkenswert ist. ({2}) Wir haben aber an Ihrem Antrag zur Quantentechnologie gesehen, dass da auch Scheuklappen im Spiel sind. Denn diesen Antrag hatten wir im Ausschuss schon sehr ausführlich behandelt, und dabei kam ziemlich deutlich heraus, was die Bundesregierung schon alles macht: Seit 2015 wird an Kryptografieverfahren gearbeitet, von 2018 bis 2022 werden mehr als 650 Millionen Euro für dieses Thema verausgabt. Alle, die in der Ausschusssitzung dabei waren, haben merken können, dass es einen Aha-Effekt bei der FDP gab, als man gesehen hat, was alles von dem Antrag und den Forderungen, die die FDP darin erhebt, eigentlich schon umgesetzt wird. Vielleicht wäre es deswegen sinnvoll, nicht nur mal schnell aufzuschreiben, was andere für sinnvoll halten oder denken, sondern auch wirklich zu schauen, wie das bislang umgesetzt wird. ({3}) Der zweite Antrag, auf den ich mich jetzt in der Nacht in aller Kürze beziehen will, betrifft KI und Schule. Auch in diesem Antrag steht eine Menge, worüber man sich Gedanken machen kann und muss. Deswegen finde ich es bedauerlich, wie wir mit solchen essenziellen Fragen wie dem Umgang mit den Daten von Schülern und Schülerinnen umgehen. Deswegen haben wir doch alle gemeinschaftlich vor etwa fast genau einem Jahr eine Enquete-Kommission eingerichtet: um uns mit genau solchen Fragen interfraktionell auseinanderzusetzen und dem Gesetzgeber möglichst gute Empfehlungen zu geben. Ich finde, da hätte die FDP vielleicht mal an sich halten und sich in diesen Prozess einreihen können, den wir ja gerade sehr intensiv begehen, und sie hätte sich erst mal Gedanken machen sollen: Macht es eigentlich Sinn, so etwas in der Schule oder in anderen Bereichen anzuwenden? Aber gut, Sie wollten sich, glaube ich, in der Opposition profilieren. Dann springe ich einfach mal von der Opposition zur Regierungsarbeit der FDP. Ich wohne in Nordrhein-Westfalen; darüber bin ich ganz froh. Da gibt es die FDP in Zusammenarbeit innerhalb einer Koalition. ({4}) – Nein, andere Kriterien spielen eine Rolle dafür, weshalb ich froh bin. – In Nordrhein-Westfalen regiert eine schwarz-gelbe Koalition. Da besetzt die FDP die Ministerien für Schule, Kinder, Familie, Wirtschaft und Digitales. ({5}) Ich bin auch Vater von fast drei schulpflichtigen Kindern, und ich kann Ihnen sagen: Nicht einmal ein Bruchteil der Forderungen, die die FDP in ihrem Antrag gestellt hat – übrigens an den Bund gerichtet, der gar nicht originär zuständig ist, Frau Suding; die Länder sind doch zuständig –, nichts von dem, was Sie vom Bund fordern und was eigentlich von den Ländern zu erfüllen ist, wird in Nordrhein-Westfalen von Ihren Ministern auf den Weg gebracht. ({6}) Also kann das nur Profilierung in der Opposition hier sein. Da, wo Sie regieren, kriegen Sie es nicht hin. Sie kriegen es nicht hin. ({7}) Ich will zum Schluss sagen: Es kann nicht am Geld liegen, dass Sie es in Nordrhein-Westfalen nicht hinkriegen. Denn dank der SPD haben wir in der letzten Koalition erreicht, dass Nordrhein-Westfalen über den Länderfinanzausgleich 1,1 Milliarden Euro mehr bekommt und dass Nordrhein-Westfalen über den DigitalPakt Schule, den die SPD auf den Weg gebracht hat, 1 Milliarde Euro zur Verfügung gestellt bekommt. Also, liebe FDP: Sie können keine Opposition, und da, wo Sie in Verantwortung sind, versagen Sie leider gnadenlos. ({8}) Das tut mir weh für die Schüler, aber es ist leider so. Deswegen: Profilieren Sie sich gerne weiter in der Opposition. Wir werden Sie an Ihrem Handeln messen. Vielen Dank. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Die Kollegin Dr. Birke Bull-Bischoff, Fraktion Die Linke, hat ihre Rede zu Protokoll gegeben; hervorragend. Die Kollegin Margit Stumpp, Bündnis 90/Die Grünen, ist die nächste Rednerin. ({0})

Margit Stumpp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004909, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident, man bekommt ja fast schon ein schlechtes Gewissen, wenn man nächtens hier spricht. ({0}) So sollte es eigentlich nicht sein im Parlamentarismus. Sehr geehrter Herr Präsident! Noch anwesende Damen und Herren! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen der FDP! Ihr Antrag enthält ja wichtige und richtige Punkte. Klare Standards für Software und Datenschutz, Aufklärung, zeitgemäße Lehrerbildung, europäische Clouds, verbindlicher Rechtsrahmen, Datensouveränität – alles Essentials der Digitalisierung in Schulen, dringend notwendig, aber an sich nichts Neues. Und das ist der Punkt: Beim Lesen Ihres Antrags drängte sich mir zunehmend der Eindruck auf, Digitalisierung – gestern in aller Munde – reicht heute nicht mehr. Das neue Buzzword ist KI, und deswegen muss KI diese Woche in jedem Antrag der FDP vorkommen, Sinnhaftigkeit second. Unter dem Schlagwort „Learning Analytics“ folgt die FDP einem neoliberalen Gespenst namens Bildungsökonomie. Der Ansatz, durch Mechanisierung, Automatisierung und Vereinheitlichung das Lernen effizienter zu machen, ist uralt und immer wieder gescheitert. Das hat Gründe. Lernerfolg ist eben nicht ein Ergebnis automatisierter Prozesse, und das Ziel von Lernen ist nicht Messbarkeit. Es geht vielmehr um Persönlichkeitsentwicklung und Verständnis. ({1}) Diese elementaren menschlichen Entwicklungs- und Lernprozesse werden mittels der schwachen KI kaum zu erfassen sein. Dazu müssten Kinder ständig elektronisch und vollüberwacht lernen. Chinesische Verhältnisse im Klassenzimmer: Wollen Sie das wirklich? Lernerfolg ist abhängig von menschlichem Miteinander im sozialen Raum, also vom Schul- und Lernklima. Das ist wissenschaftlich gesicherte Erkenntnis, die als wesentliche Faktoren für gelingende Bildung die Beziehung zur Lehrkraft und in Deutschland leider immer noch die soziale Herkunft benennt. Das heißt, wir haben in unserem Bildungssystem doch ganz andere und deutlich wichtigere Herausforderungen als einen unzureichenden Einsatz von KI. Vielleicht meinen Sie aber doch nur Lernprogramme, die beim Erreichen eines bestimmten Kenntnisstands das nächste Level freischalten – sei es beim Vokabellernen oder beim Bruchrechnen – und den Lernstand speichern. Das ist keine schwache KI, das ist schlicht linear. Aber selbst bei solchen digitalen Lernmitteln gibt es, auch wenn Sie etwas anderes suggerieren, international keine wissenschaftlich gesicherten Erkenntnisse darüber, ob und unter welchen Umständen der Einsatz zu besserem Lernerfolg führt. Forschung zu Einsatz und Ergebnissen von Learning Analytics fehlt ganz. Hochwertige Trainingsdaten und Transparenz der Algorithmen? Fehlanzeige! Bei jeglicher Forschung und jeglichen Standards wollen Sie Learning Analytics umgehend etablieren. Damit bleiben Sie Ihrer Linie treu, jetzt halt: KI first, Digitalisierung second, Standards third, Bedenken fourth or fifth or whatever. Die Reihenfolge ist im Grundsatz verkehrt, im Hinblick auf Bildungs- und Zukunftschancen von Kindern geradezu ein Frevel. ({2}) Dabei ist offensichtlich: Damit Schulen bessere Bildungsergebnisse erzielen, müssen wir zuerst die Lernbedingungen verbessern und vor allem die Lehrenden stärken. Das ist den vielen Herausforderungen geschuldet, denen sich Lehrkräfte in unserer modernen Gesellschaft zu stellen haben: Globalisierung, Digitalisierung, Heterogenität, Inklusion. Gerade zu Letzterem, der Inklusion, verlieren Sie in Ihrem Antrag übrigens keine Silbe. Dafür stehen Effizienzgewinne im Vordergrund. Unser Bildungsverständnis ist ein grundlegend anderes. Für gute Bildung und nicht nur dort gilt bei uns Grünen der Grundsatz: Natürliche Intelligenz first, KI second. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Stumpp. Sie müssen kein schlechtes Gewissen haben, wenn Sie hier reden. Das ist in diesem Hause so üblich: dass man ohne Gewissen redet. ({0}) Die Kollegin Ronja Kemmer, CDU/CSU-Fraktion, die Kollegin Marja-Liisa Völlers, SPD-Fraktion, und die Kollegin Dr. Dietlind Tiemann, CDU/CSU-Fraktion, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben. Damit schließe ich die Aussprache.

Stephan Mayer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003589

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Die Bundesregierung hat Ihnen den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Waffengesetzes vorgelegt. Mit diesem Gesetzentwurf setzen wir insbesondere die EU-Feuerwaffenrichtlinie aus dem Jahr 2017 um. Diese EU-Feuerwaffenrichtlinie ist entstanden im Lichte der schrecklichen Terroranschläge insbesondere in Paris und in Brüssel. Mit diesem Gesetzentwurf nehmen wir eine Eins-zu-eins-Umsetzung der EU-Feuerwaffenrichtlinie vor. Um eines klar zum Ausdruck zu bringen: Dieser Gesetzentwurf zur dritten Novelle des Waffengesetzes richtet sich schwerpunktmäßig gegen Terroristen, schwerpunktmäßig gegen Kriminelle; es soll die illegale Beschaffung von Waffen deutlich erschwert werden. Dieser Gesetzentwurf richtet sich nicht gegen Legalwaffenbesitzer, insbesondere nicht gegen unbescholtene Schützen, Jäger, Waffensammler, Waffenhändler. Wir nehmen selektiv Verschärfungen am Waffengesetz vor, beispielsweise um es den Sicherheitsbehörden zu erleichtern, den Lebenszyklus einer Waffe besser nachzuvollziehen. Deshalb werden die Kennzeichnungspflichten für Waffen oder auch für wesentliche Bestandteile von Waffen erweitert. Wir sind gerade dabei, mit den Ländern ein Nationales Waffenregister II zu schaffen, in das diese Kennzeichnungen und Dokumentationen entsprechend aufgenommen werden. Daneben geht es darum, dass wir beispielsweise bestimmte Magazingrößen verbieten – auch in Umsetzung der EU-Feuerwaffenrichtlinie –, wenn deren Benutzung nicht erforderlich ist zur Jagd oder auch zum sportlichen Schießen. Ein weiterer wichtiger Punkt sind Bereiche, in denen sich in der Vergangenheit gezeigt hat, dass Waffen in falsche Hände geraten. Dazu gehört beispielsweise, dass ursprünglich erlaubnisfreie Salutwaffen umgebaut werden. Wir regeln dies derart, dass erlaubnisfreie Salutwaffen in Zukunft entweder erlaubnispflichtig oder auch in Teilen verboten werden. Darüber hinaus führen wir für bisher erlaubnisfreie sogenannte Dekowaffen eine Registrier- und Kennzeichnungspflicht ein. Ein sehr wichtiger Punkt ist aus meiner Sicht, dass es uns mit den gefundenen gesetzlichen Regelungen gelungen ist, für die betroffenen Schützen, insbesondere die Sportschützen, sehr verträgliche Lösungen zu schaffen, was den Nachweis des Bedürfnisses anbelangt. Wir haben festgelegt, dass jemand, der zehn Jahre aktives Mitglied in einem Schützenverein ist und damit auch deutlich unter Beweis gestellt hat, dass er nachhaltig dem Schützensport nachgeht, dann außen vor ist, was die Bedürfnisprüfung anbelangt. Ich erachte dies als einen sehr wichtigen Fortschritt, gerade auch gegenüber den fast 2 Millionen Sportschützinnen und Sportschützen in Deutschland. ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir nehmen an bestimmten Stellen auch Entbürokratisierungsmaßnahmen vor. Beispielsweise schaffen wir Rechtsklarheit dahin gehend, dass Schalldämpfer erlaubnisfrei erworben und besessen werden dürfen, also ohne zusätzliche, gesonderte Erlaubnis. Auch was die Ausreichung von Nachtsichtgeräten anbelangt – insbesondere zur Bejagung des Schwarzwildes und zur Bekämpfung der Afrikanischen Schweinepest –, wird es in Zukunft waffenrechtlich erleichtert, diese dann auch für die jagdliche Benutzung zu verwenden. Ein dritter Punkt im Bereich Entbürokratisierung ist, dass wir die Händler und auch die Hersteller von Waffen von dem teilweise sehr komplizierten Führen von Waffenbüchern entbinden. Dieses händische Führen der Waffenbücher wird in Zukunft durch die elektronische Eingabe in das von mir schon erwähnte Nationale Waffenregister digital ersetzt. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich bin der Überzeugung, dass dieser Gesetzentwurf insgesamt eine ausgewogene Lösung ist. Ich weiß, dass es an der einen oder anderen Stelle insbesondere im Bereich der Betroffenenkreise die Befürchtung gibt, dass wir die Schützen und Jäger über Gebühr traktieren und drangsalieren. Ich möchte aber abschließend noch einmal darauf hinweisen: Wir sind aus meiner Sicht trotz des Umstandes, dass das deutsche Waffenrecht heute schon eines der schärfsten Waffenrechte in Europa ist, verpflichtet, noch mehr dafür zu tun, um zu verhindern, dass Waffen in falsche Hände geraten, insbesondere dass Terroristen oder Hochkriminelle sich auf relativ einfachem Weg illegal Waffen beschaffen können. Ich bin der festen Überzeugung, dieser Gesetzentwurf ist wohlaustariert. Er kann an der einen oder anderen Stelle natürlich noch verbessert werden. Das obliegt jetzt dem Parlament. Ich darf die Kolleginnen und Kollegen abschließend aber ganz herzlich bitten, diese Verhandlungen, diese Gespräche zeitnah zu führen, weil wir insbesondere, was die Vorgaben der Umsetzung der EU-Feuerwaffenrichtlinie anbelangt, hier auch unter gewissen zeitlichen Vorgaben stehen. Ich freue mich auf intensive, seriöse und detailreiche, aber hoffentlich dann auch zeitnahe Verhandlungen gemeinsam mit dem Parlament. Danke für die Aufmerksamkeit. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Nächster Redner ist der Kollege Martin Hess, AfD-Fraktion. ({0})

Martin Hess (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004749, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Wir haben in Deutschland sehr strenge waffenrechtliche Bestimmungen. Dennoch gelingt es Extremisten und Terroristen, Anschläge mit illegalen Schusswaffen zu begehen. ({0}) Dies liegt ganz einfach daran, dass sich solche Subjekte nicht an geltendes Recht halten. Deshalb ist eines klar: Unser Problem ist nicht ein zu laxes Waffengesetz; unser Problem ist, dass in unserem Land Terroristen und Extremisten und der illegale Waffenhandel immer noch nicht effektiv bekämpft werden. ({1}) Die Verantwortung hierfür tragen alleine Sie, die Altparteien. Sie sind es, die im Bund und in den Ländern Ihre Sicherheitspolitik umsetzen. ({2}) Die Verantwortlichkeit für dieses massive Versagen in der Terror- und Extremismusbekämpfung allen Ernstes der AfD in die Schuhe schieben zu wollen, wie Sie das heute in Bezug auf das Verbrechen in Halle ohne Unterlass getan haben, das ist nicht nur wahrheitswidrig, es ist niederträchtig und es ist schäbig. ({3}) Fakt ist: Wir müssen Terroristen und Extremisten effektiv bekämpfen. Dies darf aber nicht zu blindem Aktionismus führen. Wir dürfen vor allem keine Gesetzesänderungen beschließen, die keinerlei Sicherheitsgewinn bringen, aber unbescholtene Bürger massiv in ihren Freiheitsrechten beeinträchtigen. Genau das tut die Bundesregierung mit ihrem Gesetzentwurf aber, und genau deshalb wird sich meine Fraktion dem entschlossen entgegenstellen. ({4}) Sie wollen den illegalen Zugang zu Schusswaffen und die Nutzung legaler Schusswaffen für Terroranschläge erschweren. Genau das werden Sie aber nicht erreichen; denn Terroristen lassen sich von keinem noch so scharfen Waffengesetz davon abhalten, sich Waffen illegal zu beschaffen oder selbst herzustellen. Auch der Täter von Halle hat ja die bei der Tat eingesetzten Waffen selbst gebaut. Damit ist doch bewiesen: Ihre Waffenrechtsverschärfungen hätten Halle nicht verhindert. Stattdessen trifft es rechtstreue Sportschützen und andere Legalwaffenbesitzer, und das tragen wir nicht mit. ({5}) Auf aktuelle Herausforderungen wie den illegalen Waffenhandel über das Darknet oder 3-D-Drucker zur Eigenproduktion von Schusswaffen hat Ihr Entwurf keine Antwort. Stattdessen enthält er Regelungen, die keinerlei Sicherheitsgewinn bringen, aber mit einem hohem Kosten- und Verwaltungsaufwand verbunden sind, und trotz Überregulierung erzielen Sie keine Rechtssicherheit. Solche Regelungen sind nicht nur nutzlos, sondern gängeln auch unsere ohnehin schon am stärksten kontrollierten und gesetzestreuen Sportschützen. Ich will das an zwei Beispielen klarmachen: Sie haben bereits in der Vergangenheit wiederholt die Bedürfnisprüfung verschärft. Jetzt müssen Legalwaffenbesitzer eine abermals verschärfte Bedürfnisprüfung über sich ergehen lassen – und das wesentlich häufiger als früher. Das stellt einen Generalverdacht gegenüber 3 Millionen Sportschützen dar, und das ist mit uns nicht zu machen. ({6}) Sie erklären Magazine ab einer bestimmten Ladekapazität kurzerhand zu verbotenen Gegenständen. Dabei schaffen Sie aber weder Ausnahmeregelungen für international anerkannte Sportdisziplinen noch sorgen Sie für besitzerfreundliche Regelungen für Magazine, die sich in Kurz- und Langwaffen verwenden lassen. So geraten Sportschützen in die Situation, sich strafbar zu machen, wenn sie ein legal erworbenes Magazin in einer legalen Waffe benutzen. Wir nennen das Kriminalisierung von rechtstreuen Bürgern, und das lassen wir nicht zu. ({7}) Beide Vorgaben der EU-Feuerwaffenrichtlinie, auf die ich mich gerade bezogen habe, sind in anderen EU-Staaten im Sinne und Interesse der Waffenbesitzer umgesetzt worden. Sie hingegen haben den Gesetzentwurf wesentlich restriktiver ausgelegt, als Sie das müssten, und damit stellen Sie für jeden klar und erkennbar Ihr Misstrauen gegenüber gesetzestreuen Bürgern dar, womit Sie diese in die Nähe von Extremisten und Terroristen stellen. So kann und darf man nicht mit Sportschützen umgehen. Und deshalb: Schluss mit dieser Verbotskultur! ({8}) Wer wirklich Sicherheit schaffen will, der sorgt dafür, dass endlich effektive Maßnahmen gegen Terroristen und Extremisten getroffen werden, der verhindert, dass Terrorkämpfer nach Deutschland zurückkehren, die an vollautomatischen Waffen ausgebildet wurden und Menschen ermordet haben, der sorgt endlich für eine Bundeszuständigkeit bei der Terrorbekämpfung und der wendet den Gefährdergewahrsam konsequent an, um diese tickenden Zeitbomben zu entschärfen. Das wäre ein wirklicher Sicherheitsgewinn. Sie sind aber offensichtlich nicht willens, die tatsächlichen Sicherheitsprobleme in unserem Land zu lösen. Solange es in diesem Land möglich ist, dass islamische Hochzeitskorsos, bei denen mit großkalibrigen Waffen geschossen wird, durch die Gegend fahren, ohne dass der Staat dies unterbindet, so lange sind Verschärfungen des Waffenrechts, die nur rechtstreue Bürger betreffen, der blanke Hohn. ({9}) Um es kurz und knapp zu fassen: Bekämpfen Sie endlich effektiv Antisemitismus und Terrorismus in Deutschland, und hören Sie auf, Sportschützen, Waffensammler und Jäger zu drangsalieren! Abschließend noch einige Sätze zum Antrag der Grünen: Nach Ihrem Krieg gegen die Autofahrer scheinen jetzt die Sportschützen an der Reihe zu sein. Ihr Ziel ist ganz offensichtlich einzig und allein die Vernichtung der Schützentradition in Deutschland.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.

Martin Hess (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004749, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich kann Ihnen aber versichern: Damit werden Sie genauso scheitern wie mit Ihrem Tempolimit von 130 auf Autobahnen. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Als Nächster hat das Wort erneut der Kollege Helge Lindh, SPD-Fraktion. ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss Ihnen fast danken, Herr Hess; denn Sie haben gezeigt, dass eine Grundlinie meiner Ausführungen richtig ist. ({0}) Ich wollte nämlich ins Zentrum meiner Rede stellen – und das werde ich auch tun –, dass wir ernsthaft mit dieser Thematik umgehen müssen und dass es wichtig ist, dass wir es endlich schaffen, von jeder Form der Instrumentalisierung abzusehen und dem Thema gerecht zu werden, gerade angesichts der Ereignisse der letzten Monate. Sie dagegen haben ein blendendes Beispiel dafür abgegeben, auf welche infame Weise man dieses Thema instrumentalisieren kann und dass man sich auf schäbigste Art und Weise als Herold von Jägern und Sportschützen darstellen kann. Diese sind aber klug genug, auf einen solchen Herold gerne zu verzichten. ({1}) Sie haben eben wieder – und Sie entblöden sich ja nicht, das jedes Mal zu machen – die Altparteien angeklagt und dargestellt, wir würden mit einer Verschärfung des Waffenrechts die falschen Maßnahmen einleiten. Ich sage Ihnen mal, was hier eine sinnvolle Maßnahme Ihrerseits wäre, um Extremismus und Gewalttaten von rechtsradikalen Bürgern dieses Landes zu minimieren: Ein Beitrag wäre, wenn Sie solche Reden wie die, die Sie eben gehalten haben, künftig nicht mehr halten würden. Ein anderer Beitrag wäre, wenn Sie Herrn Brandner, Vorsitzender des Rechtsausschusses in diesem Bundestag, nach seinem unsäglichen Tweet nach Halle aus Ihrer Fraktion und Partei ausschließen würden. Das wäre ein Beitrag gegen Extremismus und Gewalt in diesem Land. ({2}) Ich halte es für richtig, ernsthaft und mit Nüchternheit sowie Ehrlichkeit über die Hintergründe dieses Waffengesetzes zu sprechen. Es gibt eine Vorgabe durch die EU-Waffenrichtlinie. Diese gebietet uns, im Lichte – nein, ich muss sagen: im Schatten – der schrecklichen Ereignisse von Paris Verschärfungen vorzunehmen; Herr Mayer hat das eben schon umfassend geschildert. Wir können auch nicht einfach herumstehen. Es ist überfällig, dass wir handeln. Gleichzeitig – und das meine ich eben mit einer Nichtinstrumentalisierung – dürfen wir keinen Generalverdacht gegenüber Sportschützen, Jägern und Waffensammlern erheben, und genau das tun wir auch nicht. Wir wägen genau ab, auch in Bezug auf das jeweilige Bedürfnis, und sorgen dafür, dass die Praktikabilität des Sportschützentums, des Jagens und des Sammelns nicht maßlos eingeschränkt wird, und gleichzeitig bedenken wir, dass wir der Sicherheit gerecht werden müssen. Gerade bei so einem sensiblen Thema wie Waffen gilt: in dubio pro securitate. ({3}) Wir müssen im Zweifel die Sicherheit ins Zentrum stellen. Nach dem, was wir im Zusammenhang mit Walter Lübcke erlebt haben, und nach der Situation, die wir jetzt in Halle erlebt haben – ein randvoll mit Waffen und Sprengstoff beladener Wagen –, kann doch wirklich niemand ernsthaft davon sprechen, dass es keinen Bedarf gibt, beim Waffenrecht Verschärfungen vorzunehmen. Wer das tut, handelt fahrlässig. ({4}) Wir müssen uns auch fragen – da schließe ich uns alle ein –, ob wir in der Vergangenheit vielleicht nicht schon früher hätten handeln müssen. Das entlässt uns aber nicht aus der Pflicht, jetzt zu handeln. ({5}) – Herr Hess, auch wenn Sie noch so schreien, wird diese Wirklichkeit dadurch nicht geleugnet werden. – Es gibt so etwas wie ein „Vetorecht der Wirklichkeit“, und dieser Wirklichkeit sind wir verpflichtet. Deshalb ist es richtig und notwendig, dass wir auch Dinge wie die Regelabfrage werden umsetzen müssen. Es ist eine dringende Notwendigkeit, dass Menschen, die verfassungsrechtlich auffällig sind und beobachtet werden, keinen Zugang zu Waffen haben. Das dient dem Schutz der gesamten Bevölkerung. ({6}) Deshalb halte ich es für sehr richtig, dass die Justizministerin eine Rückwirkung anstrebt. Es kann nicht sein, dass Extremisten in diesem Land, zum Beispiel Reichsbürger und andere, massenhaft Waffen sammeln. Das ist nicht im Sinne des Gesetzgebers, und das ist auch nicht im Sinne von Sportschützen, Jägern und Sammlern, die aufrechte Bürger sind. ({7}) Deswegen werden wir jetzt im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens alles Notwendige in Bezug auf die Regelabfrage, auf Fragen zu erhöhter Sicherheit, zu der Eindämmung illegaler Waffen und zu der Umwandlung von Dekowaffen und legalen Waffen in gefährliche, illegale Waffen angehen und diese Umwandlung beschränken. Gleichzeitig sprechen wir keinen Generalverdacht gegenüber Sportschützen aus. Wir achten darauf, dass die Umsetzung des Bedürfnisnachweises – und genau das wird geschehen – verhältnismäßig und auch praktikabel erfolgt. Herr Mayer, Sie haben ja noch mal dazu aufgefordert, dass wir im Verfahren noch Verbesserungen erreichen. Zum Beispiel müssen wir auch in Bezug auf das Jagen mit Nachtsichtgeräten – mein Kollege Post und ich sind da in engen Gesprächen – Vernunft walten lassen und kluge Regelungen finden. Ein anderes Beispiel ist die Situation der Sachverständigen; denn wir brauchen aus unserer Sicht dringend mehr Schießstandsachverständige in diesem Land. ({8}) Da wir erlebt haben, dass in Paris – damit komme ich zum Schluss meiner Ausführungen – aus einer Dekowaffe eine Mordwaffe wurde, und da wir erlebt haben, dass in München Ähnliches mit einer Theaterwaffe geschah – ich sehe die Mordtat im OEZ in München in einer Linie mit anderen Taten, die wir schrecklicherweise miterleben mussten –, gebietet es die Verantwortung für uns alle, gerade in Fragen des Waffenrechtes nicht die eine gegen die andere Gruppe auszuspielen, wie es die AfD macht, und sich nicht als vermeintliche Verteidiger von Sportschützen zu gebärden, sondern im Sinne genau dieser Legalwaffenbesitzer dafür zu sorgen, dass die Waffen nicht in die falschen Hände kommen. Es kann nicht sein, dass wir es zulassen, dass sich hier Extremisten munitionieren; denn die sind mit der rechtsradikalen Propaganda, die ich mir auch heute in diesem Haus wieder viel zu oft anhören musste, schon genug munitioniert. Vielen Dank. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Als Nächster hat nun das Wort der Kollege Konstantin Kuhle, FDP-Fraktion. ({0})

Konstantin Kuhle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004796, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der vergangenen Woche hat ein schrecklicher antisemitischer und rechtsextremer Terroranschlag in Halle an der Saale in Sachsen-Anhalt stattgefunden. Die Gründe, warum bei diesem Anschlag nicht mehr Menschen zu Tode gekommen oder verletzt worden sind, sind die Stabilität der Synagogentür, aber auch die Strenge des deutschen Waffenrechtes gewesen. Deswegen ist es richtig, dass das deutsche Waffenrecht streng ist. Das deutsche Waffenrecht muss auch streng bleiben, und wir sollten uns in diesem Hause einig sein, dass gefährliche Schusswaffen nicht in die Hände gewaltbereiter Extremisten gehören. ({0}) Dazu muss man aber sagen: Wenn jemand die freiheitlich-demokratische Grundordnung ablehnt, dann ist es nach geltendem Waffenrecht heute schon möglich, ihm entweder gar keine waffenrechtliche Erlaubnis zu geben oder ihm die waffenrechtliche Erlaubnis zu entziehen. ({1}) Es ist schon heute so, dass der Großteil der Gefahr von illegalen Schusswaffen und nicht von den Besitzerinnen und Besitzern legaler Waffen ausgeht. Deswegen muss man sehr genau darauf achten, dass eine Gesetzesverschärfung, die jetzt von der SPD im Ausschussverfahren vorgeschlagen wird, am Ende nicht dazu führt, dass diejenigen, die dafür bezahlen müssen, die Sportschützen, die Jäger und die übrigen Waffenbesitzer sind, die legal über Waffen verfügen. Sie dürfen durch diese Gesetzesinitiative nicht unter Generalverdacht gestellt werden – auch nicht, nachdem diese Intitiative im Ausschuss behandelt wurde. ({2}) Lieber Staatssekretär Mayer, Sie haben ja dargestellt, dass der Gesetzentwurf nicht perfekt ist und dass wir im Ausschuss noch die eine oder andere Änderung daran vornehmen können. Was ich aber nicht akzeptiere, ist, dass Sie sagen, dass wir uns damit beeilen müssen; denn die Umsetzungsfrist der EU-Feuerwaffenrichtlinie ist schon Ende letzten Jahres ausgelaufen. Wenn Sie den Gesetzentwurf schneller vorgelegt hätten, dann könnten wir im Ausschussverfahren auch sorgfältiger sein. ({3}) Dass jetzt das Parlament ausbaden soll, dass die Bundesregierung hier über Gebühr umsetzt, ist nicht zu akzeptieren. Deswegen werden wir uns bemühen, das Ganze sorgfältig zu machen. ({4}) Warum wird bei der Bedürfnisprüfung eine Schippe draufgelegt, die die EU-Feuerwaffenrichtlinie nicht verlangt? Warum wird Chaos bei den Magazingrößen geschaffen? Warum wird Chaos bei den Magazinteilen geschaffen? Warum werden die Umsetzungsspielräume, die wir haben, bei den Waffensammlern, bei den Waffenhändlern nicht genutzt? Warum verpassen Sie die Chance, beim Nationalen Waffenregister für eine Vereinfachung und für eine Digitalisierung zu sorgen? Das wären wirkliche Schritte, die dazu führen würden, dass man diese EU-Feuerwaffenrichtlinie eins zu eins umsetzt und nicht eine Schippe drauflegt, wie es die Bundesregierung mit diesem Gesetzentwurf leider macht. ({5}) Meine Damen und Herren, lassen Sie uns daran arbeiten, dass Extremisten nicht in den Besitz von Schusswaffen kommen. Lassen Sie uns die Kommunikation zwischen dem Verfassungsschutz und der Waffenbehörde verbessern. Aber lassen Sie uns nicht diejenigen dafür bezahlen und unter Generalverdacht stellen, die redlicherweise als rechtschaffene Bürger – weil es ihr Beruf ist, weil es ihr Ehrenamt ist, weil sie eine besondere Prüfung gemacht haben – im Besitz legaler Schusswaffen sind. Das wäre genau der falsche Weg, und das wäre ein falsches Signal. So ist dieser Gesetzentwurf deswegen nicht zustimmungsfähig. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Herr Kollege Kuhle. – Die Kollegin Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke, hat ihre Rede zu Protokoll gegeben. Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Dr. Irene Mihalic. ({0})

Dr. Irene Mihalic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004353, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Es wird immer wieder gesagt, dass Deutschland eines der schärfsten Waffengesetze überhaupt habe. Aber was nützt denn das schärfste Waffenrecht, wenn es uns eben nicht davor schützt, dass Waffen in die falschen Hände gelangen? Der Gesetzentwurf der Bundesregierung greift daher massiv zu kurz. Denn eines ist ja ganz klar: Sie können schon lange niemandem mehr erklären, weshalb es nicht längst gängige Praxis ist, dass Waffenbehörden Erkenntnisse des Verfassungsschutzes so berücksichtigen können, dass sich das gesamte gewaltbereite rechte Spektrum eben nicht legal bewaffnen kann. ({0}) Auch die Innenministerkonferenz hat ja längst erkannt, dass wir eine gesetzliche Grundlage brauchen, mit der dafür gesorgt wird, dass schon allein die Mitgliedschaft in einer verfassungsfeindlichen Vereinigung zur waffenrechtlichen Unzuverlässigkeit führt. In der Vorlage der Bundesregierung, über die wir heute sprechen, findet sich dazu aber leider nichts. Dabei ist doch lange bekannt, dass insbesondere viele Personen aus dem sogenannten Reichsbürgerspektrum – das ist ja hier auch schon angeklungen – ganz legal über eine erhebliche Zahl scharfer Schusswaffen verfügen. Das wurde ja nicht zuletzt durch die tödlichen Schüsse eines Reichsbürgers auf einen Polizisten in Georgensgmünd besonders deutlich, und auch Markus H., der der Beihilfe zum Mord an Walter Lübcke verdächtigt wird, soll laut Presseberichten eine Waffenbesitzkarte gehabt haben. Auch aus dem NSU-Kontext wissen wir, dass zahlreiche Rechtsextremisten ganz legal Schusswaffen besitzen. Wir sehen also: Das bisherige System funktioniert nicht. Das müssen wir dringend ändern. ({1}) Die Erkenntnisse über die hohe Waffenaffinität in der rechten Szene machen diese, aber auch weitere Korrekturen am deutschen Waffenrecht besonders dringend. Dazu haben wir in unserem Antrag ja auch Vorschläge gemacht. So muss zum Beispiel die Möglichkeit, den Zugang zu Waffen und Munition im Rahmen einer Verurteilung konsequent einzuschränken, verstärkt in den Blick genommen werden. Auch die eben von mir genannten Vorschläge zur Zuverlässigkeitsprüfung sollten aufgegriffen werden; denn – jetzt mal im Ernst – wir reden hier im Zusammenhang mit Sportschützen ja nicht über Bälle oder Tennisschläger, sondern über im Kern tödliche Werkzeuge, meine Damen und Herren. ({2}) Deswegen besteht hier ja auch Handlungsbedarf. Darüber hinaus muss die Bundesregierung endlich den Mut finden, bei Schusswaffengewalt auch statistisch genauer hinzuschauen. Als einzige Statistik in diesem Bereich erfasst die Polizeiliche Kriminalstatistik nur, ob bei einer Straftat mit einer Waffe gedroht oder mit einer Waffe geschossen worden ist. Nicht mal die Zahl der Opfer wird staatlicherseits gezählt. Deswegen brauchen wir endlich eine valide Opferstatistik. Wir wollen aber auch wissen, was für Waffen für welche Straftaten verwendet werden – und möglichst auch, woher diese Waffen stammen. ({3}) Das wäre der richtige Ansatz, damit wir bei nächster Gelegenheit über ein Waffenrechtsänderungsgesetz sprechen können, das tatsächlich mehr für die Sicherheit aller Menschen in diesem Land leistet. ({4}) Die jetzt vorgenommene Umsetzung der EU-Feuerwaffenrichtlinie leistet höchstens einen sehr kleinen Schritt in diese Richtung, und selbst dabei stand die Bundesregierung in der Europäischen Union bisher hart auf der Bremse. Ich will an dieser Stelle nur mal daran erinnern, dass wir einen Vorschlag der EU-Kommission aus 2006 hatten, der deutlich schärfer war. Deswegen rate ich hier strengstens davon ab, die nun endlich vorgelegte Umsetzung noch weiter zu verwässern. Wir brauchen nicht das vermeintlich schärfste Waffenrecht, sondern ein Waffenrecht, das tatsächlich dort restriktiv wirkt, wo es gilt, sich erheblichen Gefahren entgegenzustellen. Es ist daher dringend nötig, dass man auch diesen Gesetzentwurf auf seine Praxistauglichkeit hin prüft, und deswegen möchte ich mich schon jetzt dafür aussprechen, dass wir im Innenausschuss eine Expertenanhörung zu diesem Thema machen. Ich hoffe auf konstruktive Beratungen in der Sache. Ganz herzlichen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Der Kollege Marc Henrichmann, CDU/CSU-Fraktion, und der Kollege Axel Müller, ebenfalls CDU/CSU-Fraktion, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben. Damit schließe ich die Aussprache.

Kerstin Kassner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004324, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ein Gespenst geht um in Deutschland. Das Gespenst heißt Rekommunalisierung. ({0}) Die Zeit von Neoliberalismus statt Gemeinsinn und gemeinschaftlicher Verantwortung ist wohl vorbei. ({1}) Starke Kommunen gibt es nur, wenn von den Verantwortlichen vor Ort auch über etwas entschieden werden kann. Die Daseinsvorsorge gehört aus meiner Sicht in die öffentliche Hand und damit unter demokratische Kontrolle. ({2}) Ob unsere Gesellschaft funktioniert, entscheidet am Ende das kommunale Handeln. Dafür haben wir in den vergangenen Jahren wiederholt zahlreiche Beweise gesammelt. So waren es etwa die Kommunen, die im Jahr 2015 in erster Linie die Aufnahme und Versorgung der Geflüchteten organisiert haben. ({3}) Auch findet die Bewältigung der Strukturkrisen durch Deindustrialisierung – nicht nur, aber vor allem auch im Osten – vor Ort statt. Nach einer langen Zeit der finanziellen Ausblutung vieler Kommunen, was zum Verlust öffentlichen Eigentums wie auch zahlreicher Fachkräfte führte, ist es nun wirklich Zeit, umzudenken. ({4}) Privatisierung und öffentlich-private Partnerschaften brachten bei Weitem nicht die gewünschten und versprochenen Lösungen der kommunalen Probleme. Die Negativbeispiele sind so zahlreich wie bedrückend. Ich erinnere nur an den Verkauf des gesamten Wohnungsbestandes in Dresden im Jahre 2006. ({5}) – Natürlich war es die Kommune. Aber warum? Weil sie finanziell so schlecht dastand, dass sie nach Wegen zur Lösung gesucht hat. ({6}) Heute konstatiert die Stadt Dresden, dass sie mit der nun nicht mehr vorhandenen Möglichkeit, kommunal zu steuern und zu lenken, ein riesiges Problem hat. Und was hat die Stadt Dresden machen müssen? Sie hat eine neue Wohnungsgesellschaft gegründet. Ein anderes Beispiel ist die in der Nähe meines Wahlkreises gelegene Stadt Rostock, die größte Stadt Mecklenburg-Vorpommerns. Dort wurde in den 90er-Jahren die Wasserwirtschaft privatisiert. Das hat dazu geführt, dass sich Bürgerinitiativen gegründet haben, dass es eine große Bewegung gab, diese Entwicklung wieder zurückzudrehen. Am Ende ist es gelungen: In Rostock gibt es wieder eine kommunale Wasserwirtschaft. Das ist ein Erfolg. ({7}) In meiner Zeit als Landrätin habe ich es sehr schwer gehabt, die erfolgte Privatisierung des „Rasenden Rolands“, unserer Kleinbahn auf der Insel Rügen, rückgängig zu machen. Aber mit Unterstützung des Landes Mecklenburg-Vorpommern ist uns das gelungen. Die Kleinbahn befindet sich wieder im Eigentum des Landkreises Vorpommern-Rügen und fährt und fährt, und das ist gut so. ({8}) Solche Beispiele wird es zukünftig, wenn wir das wollen und unterstützen, viele geben, ganz einfach, weil wir wollen, dass die Daseinsvorsorge organisiert wird. Und wer könnte das besser als die Kommunen vor Ort? ({9}) Deshalb, denke ich, ist die Rekommunalisierung tatsächlich ein Gewinn für die Demokratie. Es gibt viele Möglichkeiten, sich hier zu beteiligen. Ich rufe hiermit die Kommunen dazu auf, das zu tun, und wir sollten das nach besten Kräften unterstützen. Wie und welche Möglichkeiten es dafür gibt, darüber werden wir in den Ausschüssen diskutieren. Ich freue mich darauf. Vielen Dank. ({10})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Kassner. – Als Nächstes hat das Wort der Kollege Eckhard Pols, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Eckhard Pols (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004131, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Man könnte sagen: „Täglich grüßt das Murmeltier“. Es grüßt sicherlich nicht täglich, aber regelmäßig. Mindestens einmal pro Legislaturperiode befassen wir uns mit diesem Antrag der Linken, ohne dass er dadurch besser wird. Die Linke will den Kommunen die Form ihrer Aufgabenerfüllung vorschreiben. Wir als Union nehmen kommunale Selbstverwaltung ernst und wollen Handlungsoptionen eröffnen. Dort, wo kommunale Angebote zielführend sind, sollen diese geschützt werden. Wer aber auf private – genauer gesagt: partnerschaftliche – Aufgabenerledigung setzt, soll ebenfalls Unterstützung bekommen. Wir sind gegen die Bevormundung von oben. Vor Ort weiß man am besten, wie man Projekte zielführend umsetzt. Das müssen wir hier im Bund nicht regeln. Und glauben Sie: Vor Ort wünscht man sich, dass wir hier in Berlin nicht alles regeln. – Haben wir den Mut, den Menschen in den Kommunen mehr Freiheit zu geben! ({0}) Meine Damen und Herren, mit der KfW und der Partnerschaft Deutschland, PD, Berater der öffentlichen Hand GmbH, haben die Kommunen starke Partner an ihrer Seite, die die Kommunen bei der Umsetzung realistischer Vorhaben unterstützen. Entgegen der Auffassung der Linken reicht es nicht aus, zinsfreie Darlehen zur Verfügung zu stellen. Es geht darum, auch die Folgekosten im Blick zu behalten. Das ignoriert die Linke in ihrem Antrag komplett, und sie setzt die Kommunen damit einem extremen Finanzrisiko aus. ({1}) Dies geht wiederum zulasten der dort lebenden Bürgerinnen und Bürger. Wunsch und Wirklichkeit passen hier eindeutig nicht zusammen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, viel länger möchte ich mich eigentlich gar nicht mit diesem ideologisch motivierten Antrag beschäftigen, ({2}) aber ich muss doch noch mal zwei Dinge klarstellen: Ohne ÖPP-Vereinbarung wäre die im Antrag kritisierte Maßnahme im Landkreis Offenbach möglicherweise nicht realisiert worden – mit dem Ergebnis einer schlechten Schulinfrastruktur. Dabei erweckt die Linke den Eindruck, die Mehrausgaben im Landkreis Offenbach seien ausschließlich ÖPP-begründet. Das ist aber falsch. Mehrausgaben ergaben sich aus der in den letzten Jahren angestiegenen Umsatzsteuer, aus der Steigerung der Nutzungsintensität, durch eine flächendeckende Einführung von Ganztagsschulen und durch die Einrichtung zusätzlicher EDV-Räume sowie die hieraus resultierenden Folgekosten. Diese Kostensteigerungen wären auch bei einer Eigenerledigung ohne ÖPP-Maßnahme angefallen. Da muss man, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, beim Anträgeschreiben auch mal ehrlich sein. Die Rolle der PD ist in Ihrem Antrag verzerrt dargestellt. Die PD hält Kommunen nicht zu ÖPP-Maßnahmen an, sondern berät über die Chancen und Risiken von ÖPP-Projekten. ({3}) Dabei ist auch klar: Kann eine Kommune die Investition aus eigener Kraft nicht leisten, ist ÖPP kein adäquater Ersatz. Die PD ist das einzige deutschlandweit und auf allen staatlichen Ebenen agierende Beratungsunternehmen der öffentlichen Hand. Die PD berät die öffentliche Hand bei Vorhaben zu innovativer und nachhaltiger Infrastruktur sowie zur Modernisierung von Verwaltungsprozessen. Die PD erfüllt die Funktion einer öffentlichen Inhouse-Beratungsgesellschaft für Bund, Land und insbesondere Kommunen. Meine Damen und Herren, nicht ohne Grund haben sich vor rund elf Jahren, als der Umwandlungsprozess von ÖPP Deutschland zu PD lief, viele Kommunen zu einer Beteiligung entschlossen. Dabei ging es um mehr als darum, die Inhouse-Fähigkeit herzustellen. Mit der PD spart man Zeit und Verwaltungsaufwand und stellt man sicher, dass man von Spezialisten für die öffentlichen Belange beraten wird, und das sind doch die entscheidenden Punkte. Kommunen werden bei der Erstellung von Ausschreibungsunterlagen und durch die Begleitung des Vergabeverfahrens professionell unterstützt. Auch die Durchführung von Abstimmungsworkshops, die Konzeption, Begleitung und Auswertung von Onlinebefragungen sind im Service enthalten und gehen weit über das hinaus, was die Linke der PD als Aufgabe unterstellt. Das zeigt mal wieder eines, meine Damen und Herren: Die Linke ist weit von der Realität in unserem Lande entfernt. ({4}) Es ist doch so: Viele Kommunalverwaltungen haben personelle Engpässe und müssen solche Aufgabenbereiche ohnehin an private Planungsbüros auslagern. ({5}) Kommen wir also zum Abschluss von der Ideologie auch mal zur Praxis: ({6}) Das Jüdische Museum Berlin möchte museumsbegleitende Dienstleistungen kontinuierlich, wirtschaftlich und qualitativ verbessern. Die PD beriet das Jüdische Museum Berlin dazu, ob diese Dienstleistungen für den künftigen Museumsbetrieb gebündelt in einer ÖPP-Servicegesellschaft erbracht werden können. Die Vorteile liegen auf der Hand: Erhöhung der Servicequalität, Erzielen von Wirtschaftlichkeitsvorteilen, kontinuierliche Verbesserung der Serviceprozesse sowie der Servicesteuerung. – Das hätte man ohne die fachliche Beratung so nicht erreichen können. Ein weiteres innovatives PD-geleitete Projekt aus dem ländlichen Raum möchte ich auch noch nennen. Die Gemeinde Stemwede ist mit etwa 165 Quadratkilometern Ausdehnung eine der größten Flächengemeinden in Nordrhein-Westfalen. Zugleich gehört Stemwede zu den am dünnsten besiedelten Regionen des Landes. Um dem Brandschutzbedarfsplan gerecht zu werden, hat die Gemeinde ein Konzept für die zukünftige Unterbringung von 13 Löschgruppen ihrer Einsatzfahrzeuge entwickelt. Aus wirtschaftlichen Gründen sollen einzelne Löschgruppen zusammengelegt und die Anzahl der Standorte auf acht konsolidiert werden. Fünf Standorte sollen neu errichtet werden, an einem Standort sollen umfangreiche An- und Umbauten erfolgen. Der Neubau der fünf Feuerwehrgerätehäuser soll auf Wunsch der Gemeinde parallel erfolgen, sodass die ersten Standorte bereits jetzt, Mitte 2019, genutzt werden können. ({7}) Die Baumaßnahmen dürfen dabei natürlich die Einsatzfähigkeit der Feuerwehren zu keinem Zeitpunkt beeinträchtigen. Wer nicht ganz weltfremd ist, der weiß, was das für eine Herausforderung ist und wie nötig externe professionelle Unterstützung ist. Dies ist nur ein Beispiel von vielen, die ich nennen könnte, meine Damen und Herren. Sie sehen, wie erfolgreich hier auf verschiedenen Ebenen zusammengearbeitet wird. Daher ist Ihre Kritik hier völlig fehl am Platze. Vielen Dank. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Pols. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir begrüßen den neuen Tag. Es ist 0.00 Uhr, und damit hat für den neuen Tag als Erster das Wort der Kollege Marc Bernhard von der AfD-Fraktion. ({0})

Marc Bernhard (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004669, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Genau. – Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen! 2001, kurz bevor Gregor Gysi Berliner Wirtschaftssenator wurde, hat er zu der Privatisierung bei den Wohnungsbaugesellschaften gesagt: „Mit mir wird das gehen. Und die PDS in Berlin hat sich schon länger entschieden, diesen Weg zu gehen.“ Und in den zehn Jahren Ihrer direkten oder indirekten Regierungsbeteiligung sind Sie diesen Weg auch konsequent gegangen. Gleich noch im Jahr 2001 haben Sie durch den Verkauf der Wohnungsbaugesellschaft Gehag mit der Privatisierung von 21 000 Wohnungen angefangen. 2004 wurden dann durch den Verkauf der nächsten Wohnungsbaugesellschaft, der GSW, weitere 64 000 Wohnungen privatisiert. Es wurde von Ihnen stillschweigend verscherbelt, was das Zeug hält. ({0}) Insgesamt haben Sie in den Jahren 2001 bis 2011 rund 150 000 Wohnungen allein hier in Berlin privatisiert. Im Übrigen ist Deutschland das einzige Land, das seinen öffentlichen Wohnraum an Finanzinvestoren verkauft hat, und Sie von den Linken waren ganz vorne mit dabei. ({1}) Das Fazit der Berliner Mietergemeinschaft über die rot-rote Regierung lautete damals: Es gab bisher keine Regierung, die so gnadenlos die Marktentwicklung und die Bedürfnisse der wirtschaftlich schwachen Schichten ignoriert hat. ({2}) 2007 haben Sie dann sogar noch die Berliner Sparkasse verhökert. Jetzt wollen Sie mit Ihrem Antrag alles wieder rekommunalisieren, also Ihre eigenen Fehler rückgängig machen. Das ist schon mal gut. Denn wenigstens haben Sie erkannt, dass Ihre eigene Politik Unsinn ist und einen erheblichen Beitrag zur Wohnungsnot in Berlin geleistet hat. ({3}) Aber jetzt greifen Sie wieder in die sozialistische Mottenkiste und fabulieren über Enteignungsfantasien für die Wohnungen, die Sie vor wenigen Jahren selbst verkauft haben. Was für eine unsinnige und verlogene Politik ist das eigentlich? ({4}) Es ist zwar richtig, dass der Staat sich viel stärker bei der Beseitigung der Wohnungsnot engagieren muss, aber durch das Enteignen von Wohnungen wird nicht eine einzige zusätzliche Wohnung geschaffen. ({5}) Im Zentrum der Maßnahmen muss also der Neubau von Wohnungen stehen. Nur das und nichts anderes hilft den Menschen. ({6}) Dabei ist es völlig egal, ob der Staat oder private Unternehmen diese Wohnungen bauen. Hauptsache, sie werden überhaupt gebaut. ({7}) Aber die Linken sind ja in diesem Haus leider nicht die Einzigen, die den Bürgern durch ihre Politik schaden. ({8}) Auch Sie von der CDU/CSU und von der SPD haben zum Beispiel durch Ihre fatale Privatisierung der Wasserbetriebe hier in Berlin dafür gesorgt, dass das Trinkwasser massiv verteuert wurde. Aber auch Sie haben zwischenzeitlich selbst erkannt, dass Ihre Politik schädlich für die Menschen ist. Wenigstens diesen einen Fehler haben Sie mithilfe von Zigmillionen Euro Steuergeldern teuer repariert. Denn Betriebe wie zum Beispiel die Wasserversorgung dürfen niemals privatisiert werden. ({9}) Wasser ist die Grundlage allen Lebens, und so etwas darf auf keinen Fall in die Hände von privaten Unternehmern gegeben werden. Der Staat hat dafür zu sorgen, dass jeder bezahlbaren Zugang zu sauberem Wasser hat. Die wesentlichen Lebensgrundlagen der Menschen zu sichern, ist eine Kernaufgabe des Staates. Ansonsten gilt jedoch: Der Staat ist eben nicht der bessere Unternehmer. Da sich Staatsbetriebe in der Regel auf ein Monopol stützen, sind deren Leistungen für die Bürger meistens teurer, qualitativ schlechter und bürokratischer. ({10}) Die Geschichte der Privatisierung hat eines ganz klar gezeigt: dass Sie alle hier die einfachsten Grundregeln ignoriert haben, nämlich erst zu überlegen und dann zu handeln. Sonst müssten wir hier und heute nicht über diesen Antrag reden. ({11}) Denn ob Sie es glauben oder nicht: Die Aufgabe des Staates ist nicht die Verwirklichung von irgendwelchen Ideologien, Privatisierung oder Verstaatlichung, sondern seine Aufgabe ist, ausschließlich dafür zu sorgen, dass es den Menschen in unserem Land besser geht. ({12})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist der Kollege Bernhard Daldrup, SPD Fraktion. ({0})

Bernhard Daldrup (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004258, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vieles von dem, was in dem Antrag geschrieben worden ist, ist meines Erachtens durchaus richtig, und die Beschreibung, die eben gegeben wurde, hat, ehrlich gesagt, relativ wenig mit dem Thema zu tun. Sie ist auch nicht widerspruchsfrei – wenn ich das so sagen darf. Der Verkauf der Wasserbetriebe ist falsch, aber gleichzeitig ist der Staat der schlechtere Unternehmer? Da muss man doch eine Linie haben. ({0}) Aber der Grundsatz ist jedenfalls richtig: Öffentliche Daseinsvorsorge gehört in öffentliche Verantwortung. Das ist doch unstrittig. Öffentliche Verantwortung muss aber nicht in jedem Fall immer auch nur in öffentlicher Trägerschaft liegen. Das ist, glaube ich, ein wichtiger Gesichtspunkt. Jetzt will ich mich aber, ähnlich wie der Kollege Pols, auf das konzentrieren, was im Antrag steht, liebe Kerstin. Dann wird nämlich klar, dass es um die PD, die Partnerschaft Deutschland, und um die KfW geht. Deswegen will ich zu Anfang Folgendes sagen: Darauf bezogen ist dieser Antrag bedauerlicherweise völlig hinter der Zeit. Denn die Organisation der PD hat sich völlig verändert. Sie hat heute ein Riesenspektrum von Aufgaben. Sie ist keine AG mehr; sie ist heute eine GmbH. Das steht auch schon im Antrag. Sie gehört komplett der öffentlichen Hand. Inzwischen sind neben dem Bund 9 Bundesländer, 54 Kommunen und Landkreise, 3 kommunale Spitzenverbände, 7 Stiftungen, Anstalten und Körperschaften des öffentlichen Rechts und über 90 sozusagen öffentliche Mitgesellschafter dabei. Das wäre alles nicht möglich, wenn es eine AöR werden würde. Das könnt ihr doch nicht im Ernst wollen. Deswegen muss man sich ein bisschen mit der Wirklichkeit auseinandersetzen. Die PD ist inhousefähig – das ist eben schon gesagt worden –; das heißt, sie kann ohne Ausschreibung von Kommunen beauftragt werden, wenn die Kommunen Anteile an der PD erwerben. Das ist mit etwa 1 000 Euro möglich. Das ist ein eminenter Vorteil. Warum sollten wir den denn aufgeben? Das wäre völlig falsch. Die strategische Ausrichtung der PD hat sich komplett verändert. Ihr Beratungsangebot umfasst Bausanierung, Projektplanung kommunaler Krankenhäuser, Rathäuser, Schulen, kommunale Beleuchtungsprojekte, ÖPNV, IT-Systeme, modernes E-Government usw. Bei den von der PD in diesem Zusammenhang realisierten Geschäften spielen ÖPP-Projekte schon wegen des Zinsmarktes heute so gut wie gar keine Rolle mehr. Beim Wohngipfel haben wir beschlossen –, und das findet eigentlich auch eure Unterstützung –, dass der Bund die Kommunen bei der Gründung kommunaler Wohnungsgesellschaften unterstützen soll. ({1}) Die PD Deutschland nimmt diese Beratungsaufgabe wahr. Der Investitionsberatungstitel dafür wurde um 1 Million Euro aufgestockt. Mittlerweile gibt es acht Projekte, bei denen sie diese Beratungsleistung erfüllt, darunter Monheim und Paderborn. Das ist doch etwas, was wir eigentlich gemeinsam wollen, auch unter der Zielsetzung dieses Antrags. Die PD wird mit 4 Millionen Euro aus dem Bundeshaushalt unterstützt. Für die Kommunen sind die Beratungsleistungen fast immer kostenlos. Auch das ist doch wichtig. Vor diesem Hintergrund könnte selbstverständlich beispielsweise ein Rekommunalisierungsprojekt von der PD beraten werden. Auch das ist eine vernünftige Regelung. Damit wären wir bei der KfW. Die KfW stellt bereits heute zinsgünstige Kredite für Kommunen zur Verfügung – aktuell zu 0,05 Prozent per anno, das heißt mit anderen Worten: nahe null –, die auch für Rekommunalisierungen genutzt werden können. Deswegen ist die KfW ein vernünftiges und sinnvolles Instrument. ({2}) Bei dem im Antrag angesprochenen Investitionskredit Kommunale und Soziale Unternehmen liegt der Zinssatz gegenwärtig bei jährlich 1,03 Prozent; er wird deswegen für ÖPP gar nicht mehr genutzt. Ich bin gar kein Anhänger davon, aber ich glaube, die Freiheit der kommunalen Selbstverwaltung muss so weit gehen, dass Kommunen selbst entscheiden dürfen, ob sie das machen wollen, ob sie das in Anspruch nehmen. ({3}) Summa summarum ist der vorliegende Antrag meiner Meinung nach nicht auf der Höhe der Zeit. Die Frage der Rechtsform ist nicht entscheidend. Deswegen glaube ich, wir sollten das alles, die PD wie auch die KfW, weiter kritisch beraten. Aber für den Antrag gibt es, ehrlich gesagt, keine Veranlassung. Deswegen lehnen wir ihn ab. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann, FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Marie Agnes Strack-Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004906, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kollegin Kassner von den Linken, in der Tat geht ein Gespenst um, aber eher bei Ihnen in der Fraktion als durch Deutschland. Ich finde es immer wieder schön; denn wenn es Sie nicht gäbe, müsste man Sie wirklich erfinden, weil jedes Mal in die ideologische Tiefgrube gestiegen wird: die ganz bösen Privaten und der gute Staat. Das passt natürlich unheimlich gut zum Zeitgeist, aber es macht Ihren Antrag definitiv nicht besser. ({0}) Dazu braucht es vor allen Dingen intelligentere und überzeugendere Argumente, und die habe ich weder in Ihrem Antrag gelesen, noch haben Sie hier gerade auch nur ein Wort dazu gesagt, wie Sie sich das vorstellen. Ihre Beispiele zeigen lediglich, dass es nicht geschafft wurde, faire Verträge zwischen Staat und Unternehmen auszuhandeln. Natürlich können Verträge anständig gestaltet werden. Aber für 1 Euro verkaufen, keine Bedingungen stellen, und am Ende herumheulen, wie es beispielsweise beim Berliner Spaßbad SEZ der Fall war – übrigens von Rot-Rot verbockt –: So geht es nicht. ({1}) Daseinsvorsorge ist in der Tat ein hochsensibler Bereich. Es geht um die Versorgung der Bürgerinnen und Bürger mit elementaren Dingen wie Wasser und Energie. Der Auftrag der Kommunen ist klar: eine zuverlässige, bezahlbare Versorgung flächendeckend zu organisieren. Das ist nicht profan. Wir haben in Deutschland unterschiedliche Anforderungen, die sich nicht nur zwischen Stadt und Land unterscheiden. Deshalb darf hier auch nicht platt und undifferenziert argumentiert werden. ({2}) Eine Blankoabrechnung mit allem, was nicht kommunal bzw. staatlich gesteuert ist, ist total daneben. Es ist übrigens auch nicht sinnvoll. Energieversorgung kann auch privat Sinn machen. Sie wissen genau, dass die aktuelle Stromnetzregulierung die Interessen der Öffentlichkeit wahrt, und das ist für den Staat und damit für alle Steuerzahler in der Republik letztlich günstiger. ({3}) Da macht man einen Vertrag mit gesicherter Kontrolle und entsprechenden Vertragsstrafen; Lasten und Wohl wohlgemerkt auf beide Partner gleich verteilt. So wird ein Schuh daraus. Übrigens, da Sie gerade aus ihrer Landratsvergangenheit geplaudert haben, kann ich aus meiner Vergangenheit als Bürgermeisterin der Stadt Düsseldorf erzählen: Da haben wir die Stadtwerke verkauft und damit den Kernhaushalt komplett entschuldet.Und – gute Nachricht – das Kohlekraftwerk gehört der Vergangenheit an. Heute steht da das modernste Gaskraftwerk Europas bei stabilen Preisen. Sie müssen mal kommen; dann zeige ich es Ihnen. ({4}) Aber warum glaube ich, Sie überzeugen zu können? Ihre Kollegen, die Linken im Düsseldorfer Stadtrat, haben es bis heute nicht kapiert. Irgendwann ist es auch gut; das muss man nicht weiter erklären. Wohin die blinde Komplettkommunalisierung auf längere Frist führt, kennen wir – ich muss es leider sagen – aus der DDR: Wenn die glorreich erworbenen Strukturen sanierungsbedürftig werden und sich kein Mensch mehr darum kümmert – machen Sie die Augen auf! –, ist alles jämmerlich und kaputt. Und ein Letztes: Zu glauben, dass persönliche Interessen in der privaten Wirtschaft eine höhere Relevanz haben als bei den Kommunen, ist lächerlich; das wissen Sie. Da, wo Menschen sind, werden auch Fehler gemacht, Stichworte „Wiederwahl“, „Postenvergabe“ oder „Beförderung“, je nachdem. Transparenz und Effizienz: Das wird weder bei privaten noch bei kommunalen Unternehmen in manchen Bereichen besonders geschätzt. Lange Rede, kurzer Sinn: Ihre antiquierten Reflexe gehen einem wirklich auf den Keks, auch um diese Uhrzeit. ({5}) – Nein, entschuldigen Sie, aber es hat nichts damit zu tun. Um es deutlich zu sagen: Vor jedem Abschluss müssen die privaten Partner, Konzessionsvergaben und Partnerschaften genau geprüft werden. Deswegen: Ab in die Mottenkiste! Nehmen Sie das Gespenst, und fahren Sie aufs Land hinaus! ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Strack-Zimmermann. – Als nächster und letzter Redner zu dem Tagesordnungspunkt erhält der Kollege Stefan Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. ({0})

Stefan Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004877, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die vorgebrachte Kritik an der Privatisierung kommunaler Daseinsvorsorge ist in Teilen durchaus berechtigt; in der Summe ist sie mir zu pauschal. Die Ergebnisse vergangener Privatisierungen waren für die Kommunen in der Tat vielfach ernüchternd, sowohl hinsichtlich der Qualität, der Wirtschaftlichkeit als auch der politischen Steuerbarkeit. So hat etwa der CDU-geführte Hamburger Senat 2004 gegen den Willen der Bevölkerung den Landesbetrieb „Krankenhäuser Hamburg“ verkauft. Hygienemängel, großer Druck auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und der trotz einer Sperrminorität geringe Einfluss Hamburgs waren die Folge. Dresden – dieses Beispiel haben Sie selbst gebracht, Frau Kassner – hat sich 2006 durch den Totalverkauf seines kommunalen Wohnungsbestandes zwar komplett entschuldet, langfristige Einnahmen und vor allem die Gewährleistung sozialverträglicher Mieten wurden aber diesem Zweck geopfert. Das sind nur zwei von vielen Beispielen, wo Privatisierungen eher schädlich als nützlich waren. Vor diesem Hintergrund stehen wir einer Rückübertragung privatisierter Aufgaben in kommunale Verantwortung sehr aufgeschlossen gegenüber. ({0}) Energiewende und Stadtwerke beispielsweise in öffentlicher Hand sind eine große Chance, um auf kommunaler Ebene die Jahrhundertaufgabe Energiewende und Klimaschutz zu beschleunigen. ({1}) Da müssen alle an einem Strang ziehen. Dabei sind gerade die Städte und Gemeinden gefordert; sie spielen bei der Umsetzung eine zentrale Rolle. Dass aber eine gute kommunale Daseinsvorsorge nur dann gelingen kann, wie der Antrag der Linken sinngemäß meint, wenn diese immer, überall und ausschließlich von der öffentlichen Hand erbracht wird, ist für mich zu kurz gegriffen. Ich finde, es ist nicht an uns, die kommunalen Entscheidungsträger, also die gewählten Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, die Stadt-, Markt-, Gemeinde- und Kreisräte aller Parteien zu belehren, wie sie die Daseinsvorsorge am besten gewährleisten. Es gehört zur kommunalen Autonomie und Selbstverwaltungsgarantie, dass Kommunen selbst entscheiden können, ob sie eine Aufgabe selbst wahrnehmen und wie sie diese wahrnehmen. Vorgaben hinsichtlich der Rechtsform oder bundespolitischer Druck in Richtung Rekommunalisierung sind hier fehl am Platz. Die Kommunen, denke ich, können das gut selbst entscheiden. ({2}) Die im Antrag der Linken erhobenen Forderungen erwecken zudem den Eindruck, als wären Beratungsleistungen und zinsverbilligte Investitionskredite die entscheidenden Gründe für die Privatisierung kommunaler Daseinsvorsorge, Stichwort „PD oder KfW“. Abgesehen davon, dass schon heute Rekommunalisierungen über Investitionskredite der KfW mitfinanziert werden, ist der eigentliche Punkt ein ganz anderer. Es war doch die unzureichende Finanzausstattung, welche viele Kommunen in der Vergangenheit in schlecht ausgeführte Privatisierungen getrieben hat und heute die Rückübertragung privatisierter Aufgaben erschwert. Es ist also zuerst einmal die Aufgabe der Länder und auch des Bundes, für eine kostendeckende Finanzierung kommunaler Aufgaben zu sorgen, damit Städte und Gemeinden überhaupt die Freiheit haben, zu entscheiden, ob sie eine Aufgabe selbst wahrnehmen oder durch Dritte erledigen lassen. ({3}) Das, denke ich, sollten wir auch berücksichtigen, wenn wir den Antrag im zuständigen Ausschuss behandeln. Darauf freue ich mich. Ihnen allen noch einen schönen Abend und ein baldiges Nachhausekommen. Vielen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Schmidt, Sie bleiben doch bis zum Schluss hier, nicht? – Alles klar. Die Kollegen Michael Kießling, CDU/CSU-Fraktion, und Elisabeth Kaiser, SPD-Fraktion, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben. Damit schließe ich die Aussprache.

Gisela Manderla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004348, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident Kubicki! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! Wir beraten heute über das Gaststaatgesetz. Internationale Organisationen sind ein essenzieller Bestandteil unserer Außenpolitik und fördern die Zusammenarbeit auf globaler Ebene. Diese Institutionen sind in wichtigen Bereichen der internationalen Kooperation für uns von großer Bedeutung. Auch neuere Formen der internationalen Zusammenarbeit wie zum Beispiel Organisationen, welche aus staatlichen und nichtstaatlichen Mitgliedern bestehen, nehmen vor allem in der globalen Umwelt-, Klima- und Entwicklungspolitik vermehrt besondere Positionen ein. Obwohl die Bundesrepublik, insbesondere Nordrhein-Westfalen, mit dem internationalen Standort Bonn, ein höchst attraktives Umfeld für internationale Organisationen bietet, ist die momentan noch unzureichende Gesetzeslage ein Hindernis für Deutschland als deren Ansiedlungsort. Nicht nur Bonn profitiert als internationaler Standort. Sehr verehrte Frau Kollegin Strack-Zimmermann aus Düsseldorf, als Kölnerin mit einer 2 000 Jahre alten internationalen Geschichte kann ich das nur betonen. Für die gesamte Region und das ganze Land ist die Ansiedlung internationaler Organisationen politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich absolut gewinnbringend. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der internationalen Organisationen kaufen zum Beispiel vor Ort ein und beleben damit die gesamte Wirtschaft der Region. Davon profitieren am Ende besonders auch die Einzelhändler und die kleinen und mittleren Unternehmen. Auch politisch bieten Ansiedlungen internationaler Organisationen große Vorteile. So steigern diese unter anderem das Ansehen und den Einfluss unseres Landes auf internationaler Ebene, und durch den intensiven Erfahrungsaustausch untereinander tragen sie vor allen Dingen zum gegenseitigen Verständnis bei. Das reibungslose Funktionieren der in unserem Staat tätigen Organisationen sowie die Möglichkeit, die Rechtspersönlichkeit, Vorrechte und Immunitäten transparent zu bestimmen, liegen deshalb in unserem besonderen Interesse. Die vorhandenen Regelungen für die Ansiedlung existieren nur für den Bereich der Vereinten Nationen und verteilen sich vor allem auf mehrere völkerrechtliche Abkommen. Und wir alle wissen: Sie sind nicht mehr zeitgemäß. Der vorliegende Gesetzentwurf auf Initiative des Landes Nordrhein-Westfalen regelt die wesentlichen Fragen für internationale Organisationen, die sich in Deutschland ansiedeln wollen. Deshalb ist es eine gute und vernünftige Debatte, die wir führen, und ich bitte um Ihre Zustimmung. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegen Manderla, auch für die charmante Art, mich darauf hinzuweisen, dass ich ihren Namen falsch betont habe. – Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Anton Friesen, AfD-Fraktion, das Wort. ({0})

Dr. Anton Friesen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004720, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Liebe Bürger! ({0}) Die Bundesregierung möchte mit dem vorliegenden Entwurf eines Gaststaatgesetzes einen rechtlichen Rahmen schaffen, um abseits der bislang notwendigen aufwändigen Einzelfallprüfung ein verlässliches Regelwerk einzurichten. Prinzipiell ist das ein begrüßenswertes Vorhaben. Jedoch gibt es aus unserer Sicht mehrere kritische Punkte, weswegen wir ihm nicht zustimmen werden. Zu der Kritik im Einzelnen. Zunächst einmal zielt der Gesetzentwurf auf nichtstaatliche internationale Einrichtungen, das heißt auch auf Nichtregierungsorganisationen, sogenannte NGOs. Abseits der NGO-Euphorie sehen wir die Tätigkeit vieler sogenannter Nichtregierungsorganisationen durchaus kritisch. Ein Beispiel ist die George-Soros-Stiftung „Open Society Foundations“, die im Juni dieses Jahres verkündet hat, sich in Ostdeutschland anzusiedeln. Sie hat bekanntlich bereits seit 2018 ein Büro in Berlin. Diese Stiftung hat ein Jahresbudget von 1 Milliarde US-Dollar. Das ist fast so viel Geld wie das gesamte Bruttoinlandsprodukt des westafrikanischen Staats Gambia. In der Tat ein Global Player, der sich für die Auflösung der gewachsenen europäischen Identitäten einsetzt: So forderte George Soros im September 2015 in der „Financial Times“, die EU solle für die vorhersehbare Zukunft mindestens 1 Million Asylbewerber aufnehmen, und zwar jährlich. Staaten wie Ungarn, die ihre Souveränität noch ernst nehmen, setzen solche NGOs vor die Tür. ({1}) Klar ist: NGOs sind nicht demokratisch legitimiert. ({2}) Ihre Tätigkeit ist oftmals intransparent. ({3}) Deswegen sagen wir: Genauso wie in Israel oder in den Vereinigten Staaten müssen wir mit einem entsprechenden gesetzlichen Rahmen verhindern, dass die Tätigkeit der Nichtregierungsorganisationen gegen die Souveränität, gegen die nationalen Interessen unseres Landes gerichtet ist. ({4}) Statt irgendwelche NGOs hier bei uns in Deutschland anzusiedeln, wäre es doch viel besser, im Rahmen der Völkerverständigung zum Beispiel ein deutsch-russisches Jugendwerk ins Auge zu fassen ({5}) und im Osten Deutschlands in der wunderbaren südthüringischen Stadt Suhl einzurichten. Vielen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Friesen. – Die Kollegin Dr. Barbara Hendricks, SPD-Fraktion, der Kollege Ulrich Lechte, FDP-Fraktion, und die Kollegin Kathrin Vogler, Fraktion die Linke, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben. ({0})

Katja Dörner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004030, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Zu sehr früher Stunde ein sehr wichtiger Gesetzentwurf für die internationalen Organisationen in unserem Land. Gerade wir in Bonn, dem Sitz der UN hier in Deutschland und unserer vielen internationalen Nichtregierungsorganisationen, haben sehr lange für dieses Gaststaatgesetz gekämpft. Wir haben für ein solches Gaststaatgesetz gekämpft, um den Organisationen, aber auch insbesondere den Mitarbeitenden in den Organisationen ihre Arbeit zu erleichtern, und natürlich auch, um für neue Nichtregierungsorganisationen die Ansiedlung bei uns im Land besonders attraktiv zu machen. Die Schweiz beispielsweise hat seit 2007 ein solches Gesetz. Das hat einen ganz klaren Vorteil für den Standort Genf gebracht. Ich bin sehr froh, dass wir mit dem Gesetzentwurf heute nachziehen. ({0}) Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, alleine in Bonn werden rund 100 Organisationen vom Gaststaatgesetz profitieren, darunter Forschungsinstitutionen wie das caesar, das Paralympische Komitee oder der Forest Stewardship Council – um nur drei zu nennen, aber auch um deutlich zu machen, wie vielfältig die Bandbreite der Organisationen ist, die jetzt davon profitieren können. Wir in Bonn jedenfalls freuen uns, wenn es an unserem Standort noch mehr werden. ({1}) Es ist sehr gut, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass es jetzt endlich verbindliche und einheitliche Rahmenbedingungen für die Nichtregierungsorganisationen gibt, beispielsweise mit Blick auf den Status der Institutionen, auf Einreise- und Aufenthaltsfragen, aber auch beispielsweise auf Versicherungsfragen. Es ist allerdings – auch das muss ich sagen – sehr bedauerlich, dass von der Bundesregierung bzw. den Regierungsfraktionen der sehr gute Gesetzentwurf, der uns ja über den Bundesrat erreicht hat – er geht noch auf eine Initiative der ehemaligen rot-grünen Landesregierung in Nordrhein-Westfalen zurück –, an ganz wichtigen Stellen verwässert worden ist. Wir Grünen hätten es beispielsweise positiv gefunden, wenn die liberalen Visaregelungen aus dem Gesetzentwurf des Bundesrates erhalten geblieben wären. Wir hätten auch mehr Flexibilität im Hinblick auf die Renten- und Krankenversicherung begrüßt. Nichtsdestotrotz ist es ein guter erster Schritt, und es spricht nichts dagegen, diese Schwächen in dem Gesetz dann in einem zweiten Schritt zu beheben. ({2}) Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, die Probleme unserer Welt sind global und international, und sie können nur durch verstärkte Zusammenarbeit über Ländergrenzen hinweg gelöst werden. Die internationalen Nichtregierungsorganisationen leisten einen sehr wichtigen und wertvollen Beitrag dazu. Sie haben sehr gute Rahmenbedingungen verdient, und ich bin der Meinung, dass wir da heute einen guten Schritt weiterkommen. Deshalb unterstützen wir diesen Gesetzentwurf und freuen uns, dass er in Kraft tritt. Vielen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Dörner. – Der Kollege Andreas Nick, CDU/CSU- Fraktion, hat seine Rede zu Protokoll gegeben. Damit schließe ich die Aussprache.

Prof. Dr. Patrick Sensburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004155, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Staatssekretär Lange, herzlichen Dank, dass ich die Gelegenheit habe, heute zuerst reden zu dürfen. Während wir hier um halb eins über die Änderungen im Deutschen Richtergesetz debattieren, studieren sicherlich viele Studentinnen und Studenten in ganz Deutschland jetzt noch in den Bibliotheken, die lange Öffnungszeiten haben, oder zu Hause, gebeugt über die Lehrbücher zum Strafrecht, Zivilrecht und Öffentlichen Recht, über Kommentare oder über Fallsammlungen. ({0}) Das machen sie nach der Regelung im Deutschen Richtergesetz innerhalb von vier Jahren. Wenn man die Schwerpunktbereichsklausuren und ‑prüfungen und den Bereich der schlüssel- und fachspezifischen Fremdsprachenausbildung hinzunimmt, dann machen sie das innerhalb von 4,5 Jahren; so steht es zumindest im Gesetz. In der Realität ist es aber anders. In der Realität hat sich die Studienzeit bei Studenten der Rechtswissenschaften von im Jahre 2006 im Durchschnitt ungefähr 9,6 Semestern auf 11,3 Semester verlängert. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen. Das ist auch eine Folge daraus, dass wir in den Jahren 2002 und 2003 mit dem Gesetz zur Reform der Juristenausbildung neue Inhalte geschaffen haben. Wir haben die Schwerpunktbereiche geschaffen, wir haben die Schlüsselqualifikationen ergänzt, und wir wünschen uns von unseren Studierenden Fremdsprachenqualifikationen. Das führt dazu, dass die Studienzeiten länger geworden sind, und das hat natürlich auch Konsequenzen für die Studierenden der Rechtswissenschaften. Wir möchten mit dieser Änderung die Regelstudienzeiten verlängern. Wir möchten den Studierenden die Chance geben, innerhalb der Regelstudienzeiten zu studieren. Das hat natürlich auch Konsequenzen, zum Beispiel bei der Beantragung von BAföG. Dadurch können die Studierenden in Zukunft länger BAföG erhalten. Das ist fair im Vergleich zu anderen Studiengängen, nämlich zu den Masterstudiengängen. Das hat natürlich, weil es sich im Hochschulrahmengesetz widerspiegelt, auch Konsequenzen bei der Hochschulplanung, der Hörsaalplanung und der ganzen Planung der Ausstattung unserer Universitäten. Ich glaube, das ist sehr gerecht, und deswegen ist die Diskussion auch gut und richtig. Wenn Studieninhalte erweitert werden, wie das in den letzten Jahren immer wieder passiert ist, dann ist es richtig, die Studienzeitregelung im Deutschen Richtergesetz, nämlich in § 5a und in § 5d, anzupassen und die Studienzeit zu verlängern. Das machen wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf. Das stärkt einmal die Stellung unserer Studierenden, sodass sie länger BAföG bekommen können, und das stärkt auch die Position unserer Hochschulen und unserer rechtswissenschaftlichen Fakultäten, da sie nun besser planen können. Dies ist auch in enger Zusammenarbeit mit dem Deutschen Juristen-Fakultätentag besprochen. Ich glaube, dass der vorliegende Gesetzentwurf, den wir heute in der zweiten und dritten Lesung debattieren, gut ist: gut für unsere Juristinnen und Juristen in der Ausbildung, gut für die Rechtswissenschaften und gut für die rechtswissenschaftlichen Fakultäten. Darum bin ich mir sicher, dass wir alle diesen Gesetzentwurf auch unterstützen werden. Herzlichen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Professor Sensburg. – Bevor ich dem Kollegen Jens Maier das Wort erteile, möchte ich darauf hinweisen, Frau Brantner, dass es vielleicht sinnvoll wäre, die Rednerin für den nächsten Tagesordnungspunkt herbeizurufen. ({0}) – Das ist gut. – Herr Kollege Maier, Sie haben das Wort. ({1})

Jens Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004811, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Jurastudium ist zu umfangreich, es dauert zu lange, es ist zu kompliziert, und der zu bewältigende Stoff ist kaum noch überschaubar. ({0}) Dieser Vorwurf begleitet die rechtswissenschaftliche Ausbildung bereits seit den 50er-Jahren. Bis heute hat sich an diesem Vorwurf nur wenig geändert – im Gegenteil. Nehmen wir beispielsweise den Stadtstaat Hamburg: Das Zentral-Justizamt für die Britische Zone hat im Jahr 1949 die Hamburgische Justizausbildungsordnung erlassen. Diese Ausbildungsordnung bestand im Wesentlichen bis 1972 fort. Nach dieser Ausbildungsordnung mussten Studenten der Rechtswissenschaften nur sechs Semester studieren und fünf Leistungsnachweise erbringen, bevor sie zur Prüfung zugelassen werden konnten. § 16 der Hamburger Justizausbildungsordnung legte für Klausuren fest, dass die Aufgaben einen „rechtlich und tatsächlich einfachen Fall betreffen“ sollten, soweit dieser Fall dem Prüfling hinreichend Gelegenheit gab, „seine Fähigkeit zur Erörterung von Rechtsfragen darzutun“. Menschen, die sich heute für ein Jurastudium entscheiden, wissen hingegen, dass sie sich eines der lernintensivsten Fächer ausgesucht haben. Neben einer Vielzahl an Klausuren und Hausarbeiten, die ein Student anfertigen muss, erfordert ein rechtswissenschaftliches Studium einen Grundlagenschein, mindestens zwei Seminararbeiten, eine Schlüsselqualifikation, einen Fremdsprachennachweis mit rechtlichem Bezug, mehrmonatige Praktika und das Belegen eines Schwerpunktbereichs. Wenn die Studenten dann endlich scheinfrei sind, wartet auf sie noch mindestens ein Jahr der intensiven Examensvorbereitung für das schriftliche erste juristische Staatsexamen. ({1}) Erwähnt werden muss auch, dass die Menge an zu bewältigendem Stoff um ein Vielfaches höher ist als noch vor einigen Jahrzehnten. Alleine der Themenkomplex Europarecht beinhaltet seit dem Vertrag von Lissabon schon mehr, als manch einer der Juristen unter Ihnen jemals gelernt hat. Die tatsächliche Studiendauer im Fach Jura lag im Jahr 2016, wie vorhin schon gesagt, durchschnittlich bei 11,3 Semestern. Es ist daher angemessen, die Studien- und Prüfungszeit zu erhöhen. Auch BAföG-Empfänger sollten die Möglichkeit bekommen, ihr Studium erfolgreich abzuschließen, ohne zu zeitig ins Examen zu gehen. In einem Punkt ist der Gesetzentwurf allerdings widersprüchlich. Wenn die tatsächliche Studiendauer im Fach Rechtswissenschaften durchschnittlich 11,3 Semester beträgt: Warum wird die Studienzeit nicht gleich auf fünfeinhalb Jahre erhöht? Hierauf habe ich im Rechtsausschuss keine Antwort erhalten. Gleichwohl: Das Gesetz ist überfällig. Wir stimmen dem Gesetzentwurf zu. Vielen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Maier. – Die Kolleginnen und Kollegen Katrin Helling-Plahr, FDP-Fraktion, Niema Movassat, Die Linke, Katja Keul, Bündnis 90/Die Grünen, Esther Dilcher, SPD-Fraktion, und Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben. Damit schließe ich die Aussprache.

Luise Amtsberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004243, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir alle profitieren davon, wenn sich afghanische Ortskräfte in den Dienst der Bundeswehr und deutscher Ministerien stellen, um deren Arbeit vor Ort zu ermöglichen. Gerade die Bundeswehr ist auf die Orts- und Sprachkenntnisse dieser Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angewiesen. Wenn diese Menschen und deren Familienangehörige aufgrund ihrer Arbeit für deutsche Institutionen vor Ort dann aber von den Taliban oder vom IS bedroht werden, dann wird es leider etwas leise um das Thema „Solidarität und verlässliche Partnerschaft“. ({0}) Die Chancen für bedrohte afghanische Ortskräfte, in Deutschland aufgenommen zu werden, stehen nämlich nicht gut. 2017 wurden nur drei afghanische Ortskräfte über das sogenannte Ortskräfteverfahren aufgenommen, 2018 waren es gar keine. Das liegt mitnichten daran, dass sich die Sicherheitslage in Afghanistan verbessert hat. Nein, das Verfahren ist unter anderem deswegen zum Erliegen gekommen, weil die Hürden zu hoch sind; denn nach dem Status quo muss die afghanische Ortskraft zunächst erst mal nachweisen, dass sie akut und über das normale Maß hinaus gefährdet ist. Bei Drohbriefen der Taliban hat man vielleicht noch gute Chancen, die deutschen Behörden von einer Bedrohung zu überzeugen. Bei Einschüchterungsbesuchen, bei mündlichen Drohungen auf der Straße oder bei Bedrohungen mit Waffen ist der Nachweis im Nachhinein meist gar nicht möglich. Die generelle Gefahr, die von Islamisten für afghanische Ortskräfte ausgeht, lässt sich aber nicht abstreiten. Denn eines ist doch völlig klar: Wenn die Gefahr für deutsche Soldaten und Mitarbeitende deutscher Institutionen wächst, dann wächst sie auch für die Ortskräfte. ({1}) Der Wehrbeauftragte des Bundes sagte jüngst, dass die Taliban momentan alle internationalen Akteure verstärkt ins Visier nehmen. Bundespolizisten – das wissen Sie – mussten nach dem Anschlag auf das „Green Village“ aus Kabul ausgeflogen werden, weil die Sicherheitslage zu prekär war. Die afghanischen Ortskräfte, meine Damen und Herren, sind – und das kommt erschwerend hinzu – in besonderem Maße exponiert und den Anfeindungen von Terroristen ausgesetzt. Sie gelten den Taliban als Kollaborateure und Verräter, und da sie als Einheimische in der Regel nicht in den stark abgesicherten Militärcamps leben, sind sie noch schutzloser und werden noch leichter Opfer von Übergriffen. Wegen dieser generellen Gefährdungslage fordern wir mit diesem Antrag ein Gruppenverfahren zur Aufnahme afghanischer Ortskräfte. Das Gruppenverfahren soll es den Betroffenen erleichtern, den Beweis für eine latente oder akute Gefährdung anzutreten. Es soll aber auch das äußerst schwierige und oftmals gefährliche Visaverfahren erleichtern; denn momentan können die Menschen wegen der zerstörten Visaabteilung der deutschen Botschaft Visaanträge nicht mehr in Kabul stellen, sondern sie müssen nach Islamabad oder Neu-Delhi, und auch für diese Länder brauchen sie Visa. Außerdem müssen die Menschen die höchstgefährliche Reise in die entsprechende Botschaft, vorbei an den mobilen Checkpoints der Taliban, überhaupt erst einmal überleben. Es kann im Übrigen auch nicht sein, dass die afghanischen Ortskräfte – das kommt noch dazu –, wenn sie über das Verfahren Schutz in Deutschland suchen, hohe finanzielle Kosten tragen müssen. Auch das ist ein Hinderungsgrund. Ich will Ihren Bedenken gegen ein solches Gruppenverfahren gleich entgegenwirken. Dieses Gruppenverfahren sorgt mitnichten dafür, dass die Bundeswehr zum „Durchlauferhitzer“ von Ausreisewilligen wird, wie man es hier ab und zu hört. Erstens. Es kann nicht jede beliebige Person einfach für die Bundeswehr arbeiten, weil es natürlich Einstellungsvoraussetzungen und auch Sicherheitsüberprüfungen gibt. Zweitens. Wenn in einem Einzelfall ganz offensichtlich keine Bedrohungslage vorliegt, was durch die Bundeswehr substantiiert darzulegen wäre, kann die Aufnahme auch abgelehnt werden. Ein Gruppenverfahren bedeutet, eine kleine, stark individualisierte Gruppe von Menschen auf möglichst unbürokratischem Weg in Sicherheit zu bringen, und ich denke, das ist das, was wir uns auch als Ziel setzen sollten. Gerade auch mit Blick auf die Bundeswehr und die vielen Menschen, die mit Ortskräften vor Ort zusammengearbeitet haben und sich ausdrücklich für diese Sache aussprechen, bitte ich Sie wirklich inständig darum, diesen Menschen Gehör zu schenken, im Ausschuss weiter zu beraten, wie wir das am besten organisieren können, und mit uns gemeinsam hier einen Schritt in die richtige Richtung zu gehen. Herzlichen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Amtsberg, und weiterhin frohe Feierlichkeiten! – Als Nächster hat das Wort der Kollege Alexander Throm, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Alexander Throm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004917, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, wir sind uns alle einig, dass die afghanischen Ortskräfte für unsere deutschen Einheiten und Ämter eine wichtige Rolle spielen. Die Ortskräfte sind unverzichtbare Kontaktpersonen, sie bilden die Brücken zur Bevölkerung, und wir müssen als Arbeitgeber hier auch Verlässlichkeit zeigen. Ja, den Ortskräften gebühren auch unser Dank und unsere Anerkennung. Gegenwärtig arbeiten 551 Ortskräfte für Deutschland, und natürlich hat der deutsche Staat für diese Ortskräfte auch eine besondere Fürsorgepflicht – nicht nur was die Einreise nach Deutschland anbelangt. Vielmehr geht es beispielsweise auch um die Weiterbildung, die wir anbieten, oder um die Weitervermittlung in neue Arbeitsverhältnisse oder um großzügige Abfindungen bei Beendigung der Beschäftigungsverhältnisse. Und ja, am Ende, also dann, wenn eine konkrete Gefährdung vorliegt, müssen wir auch entsprechende Schutzmaßnahmen ergreifen und Perspektiven aufzeigen. Das tun wir, gezielt, konkret in jedem Einzelfall. Jedes Ressort hat einen Beauftragten benannt – das ist das heutige Verfahren –, der die individuellen Gefährdungstatbestände so schnell wie möglich überprüft. Er hat Beweise, kennt die Faktenlage und hat auch die entsprechenden Ortskenntnisse. Über das Auswärtige Amt geht das Ganze dann an das Innenministerium. Dort können dann aus humanitären Gründen entsprechende Aufnahmen erfolgen. Über 800 Ortskräfte haben in der Vergangenheit eine derartige Aufnahme erreicht, 768 sind tatsächlich nach Deutschland gekommen, und zusätzlich kamen knapp 2 500 Familienangehörige dieser Ortskräfte. Nun soll es nach den Wünschen der Grünen ein sogenanntes Gruppenaufnahmeverfahren geben: Jeder, der für deutsche Institutionen gearbeitet hat, soll als gefährdet gelten und dann nach Deutschland kommen können. Das ist quasi eine Umkehr der Beweislast und der Darlegungslast. Das ist eine gewohnt pauschale Lösung. Wenn alles so einfach wäre, dann könnte man das so machen. Als Beleg dafür, dass wir hinter anderen Ländern zurückstehen, werden uns Dänemark und Großbritannien genannt, die ein solches Gruppenaufnahmeverfahren angeblich durchführen. Ich habe mich darüber schon gewundert, da Dänemark insbesondere mit afghanischen Flüchtlingen durchaus konsequenter umgeht, als dies beispielsweise Deutschland macht. Machen wir mit Dänemark und Großbritannien also den Faktencheck: Tatsächlich gab es in Großbritannien und Dänemark im Rahmen des militärischen Bezugs entsprechende Spezialprogramme. Aber es hat sich dabei nur um Personen gehandelt, die für die dortigen Einheiten an vorderster Front stationiert waren, und das galt nicht für alle. Dänemark wurde dann mit dem Dolmetschergruppenverfahren dahin gehend tätig, dass über dieses Verfahren gerade einmal 5 Ortskräfte aufgenommen wurden. Weil es größere Einheiten und dadurch mehr Ortskräfte gab, waren es bei Großbritannien 415. Ich nenne im Gegensatz dazu nochmals die Zahl von 800 Ortskräften in Deutschland. Außerhalb dieser Spezialprogramme, Frau Kollegin, machen es Dänemark und Großbritannien so ähnlich wie wir; sie führen nämlich individuelle Prüfungen durch. Diese führen aber nicht dazu, dass es dann tatsächlich eine Einreisemöglichkeit betreffend die Länder Großbritannien und Dänemark gibt, sondern beispielsweise eher Umsiedlungen und Sicherheitsratschläge vor Ort. So viel also zum Check der Fakten aus Ihrem Antrag! Ich glaube, dahinter müssen wir uns mit unserem Verfahren und mit unseren Zahlen wirklich nicht verstecken. ({0}) Wir glauben, dass sich unser individuelles Verfahren durchaus bewährt hat. Schon allein die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Pauschallösungen, die Sie hier vorschlagen, helfen weder uns noch Afghanistan, und deswegen wollen wir an unserem Verfahren weiter festhalten. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir auch mit diesem Verfahren, wie in der Vergangenheit, unserer Verantwortung gerecht werden. Da ich noch ein bisschen Redezeit übrig habe: Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Frau Amtsberg! ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Lars Herrmann, AfD-Fraktion. ({0})

Lars Herrmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004748, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Grünen konstruieren mal wieder Probleme, wo gar keine sind, und lassen dabei einfach Zahlen und Fakten unter den Tisch fallen, um ein möglichst dramatisches Bild zu zeichnen. Mit „Fakten unter den Tisch fallen lassen“ meine ich nicht, dass man als grüne Bundestagsabgeordnete sich in einen Bioladen in Leipzig einschleicht, zu erwähnen vergisst, dass man Bundestagsabgeordnete ist, ({0}) und dort eine normale Kundin mimt, die AfD-Produkte boykottiert, ({1}) sondern mit den fehlenden Fakten meine ich die Zahlen in Ihrem Antrag. Sie stützen sich auf eine kleine Anfrage aus dem letzten Jahr und betrachten nur Zahlen und Zeiträume, die in das eigene, sehr begrenzte Weltbild der Grünen passen. Ganz konkret wird von Ihnen der Zeitraum von Januar 2017 bis Ende September 2018 genannt, in dem tatsächlich nur elf Gefährdungsanzeigen von afghanischen Ortskräften gestellt und lediglich drei Aufnahmezusagen erteilt wurden. Da fällt mir – ich will keine Werbung machen – das Motto vom Nachrichtensender Phoenix ein, in dem es sinngemäß heißt: Das ganze Bild sehen! – Wenn man beim Thema „Ortskräfteverfahren in Afghanistan“ das ganze Bild betrachtet, dann erkennt man, dass es ganz anders aussieht, als es die Kollegen der Grünen hier zeichnen. ({2}) Mit Stand 6. Juni 2019, also Juni dieses Jahres, wurden insgesamt 1 999 Gefährdungsanzeigen eingereicht. Davon wurden 1 994 Gefährdungsanzeigen geprüft. 811 afghanische Ortskräfte haben eine Aufnahmezusage nach § 22 Satz 2 Aufenthaltsgesetz erhalten. Schlussendlich sind 768 Ortskräfte mit ihren Familien – das waren dann noch mal 2 482 Personen, also insgesamt 3 250 Menschen – von Afghanistan nach Deutschland ausgereist. ({3}) Auch wenn man kein Mathegenie ist, merkt man, dass 3 250 etwas mehr als 3 ist. Das, meine sehr verehrten Damen und Herren, belegt ganz deutlich, dass das derzeitige Ortskräfteverfahren ausgezeichnet funktioniert. Mehr muss man nicht sagen. Der Antrag ist abzulehnen. Vielen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Herrmann. – Nun spricht zu uns der Kollege Helge Lindh, SPD-Fraktion – mit dem Angebot einer verkürzten Redezeit. ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, immer diese Anspielungen auf meine Redezeit! ({0}) Ich muss gestehen, dass es mir nicht gelingen wird, Frau Amtsberg so formvollendet zu gratulieren, wie Sie das gemacht haben. Aber ich gratuliere ihr nach meinen Möglichkeiten: Herzlichen Glückwunsch! ({1}) Fürsorgepflicht und Verantwortung sind das, worum es hier heute geht. Deshalb halte ich es auch für völlig legitim, dass es einen solchen Antrag gibt. Er wäre besonders angebracht, wenn wir kein entsprechendes Verfahren hätten. Dies ist aber der Fall, und deshalb fasse ich mich kurz und beschränke ich mich auf eine Aufklärung über den Sachverhalt. Wir haben nach § 22 Satz 2 Aufenthaltsgesetz bereits seit Jahren ein zwischen vier Ministerien abgestimmtes Verfahren, mit dem versucht wird, die Ausübung der Fürsorgepflicht umzusetzen. Dieses Verfahren ist so ausgestaltet, dass die Aufnahme außerhalb des normalen Asylverfahrens – das ist im Übrigen eine deutlich bessere Situation als die in Dänemark – organisiert wird. Um ganz ehrlich zu sein: Es ist keineswegs so, dass zur Antragstellung grundsätzlich nur der auf jeden Fall beschwerliche Weg nach Islamabad oder nach Neu-Delhi verlangt wird, sondern es besteht auch die Möglichkeit, dass die Beschäftigten, wenn sie noch in Diensten sind, den Antrag bei der jeweiligen Dienststelle stellen, und zwar auch noch zwei Jahre nach Beendigung der Beschäftigung. Erst wenn diese Zweijahresfrist überschritten ist, besteht nur noch dieser alternative Weg. Das heißt, das ist ein sehr wohlabgestuftes Verfahren, mit dem versucht wird, der Gefährdung auf angemessene Weise gerecht zu werden und nicht zu hohe Kriterien an das Verfahren anzulegen. Es gilt auch schon – das muss man der Aufklärung wegen sagen – im Kleinen eine Form der Vermutungsregelung; denn innerhalb dieser Zweijahresfrist wird angenommen, dass ein Zusammenhang zwischen der Tätigkeit und der Gefährdungslage durch die Taliban besteht. Das heißt, das ist ein sehr wohlüberlegtes Verfahren, und es setzt sich auch entsprechend fort. Wenn die Meldung seitens des BMI erfolgt, wird die Verteilung der Menschen nach dem Königsteiner Schlüssel vorgenommen. Die Kommune wird informiert, die Kommune organisiert die Abholung der betroffenen Personen vom Flughafen, und dann erfolgt die Zuweisung in eine Einrichtung, die im Idealfall – so, wie man es in meiner Kommune Wuppertal versucht – eine Privatwohnung, in anderen Fällen aber auch eine Gemeinschaftsunterkunft ist. Das heißt, diese Menschen befinden sich im Vergleich zu anderen geflüchteten Menschen sehr wohl in einer deutlich besseren Situation, und das ist auch berechtigt. Warum aber lehnen wir Ihre Idee eines Gruppenverfahrens ab? Ich kann Ihnen eindeutig sagen: weil das aus unserer Sicht eine Ungerechtigkeit gegenüber anderen, auch vulnerablen Gruppen wäre. Ich selbst habe hier an dieser Stelle im Zusammenhang mit den sicheren Herkunftsstaaten ausgeführt, dass ein sicherer Herkunftsstaat nicht bedeutet, dass der Einzelfall nicht geprüft wird. Das heißt aber auch, dass wir die Gefährdungslage im Einzelfall prüfen. Deshalb halten wir es sehr wohl für angebracht, dass auch hier nach einem Kriterienkatalog, nach bestimmten Vorgaben geprüft wird, ob im Einzelfall eine Gefährdung vorliegt oder nicht. Wenn wir das nicht täten, wäre dies aus unserer Sicht gegenüber anderen Gefährdeten, deren Einzelfälle auch geprüft werden – zum Beispiel bei Menschen aus Afghanistan; das wissen wir alle –, eine nicht angebrachte Situation und Regelung. Deshalb macht nicht ein Gruppenverfahren Sinn, sondern der Weg, den wir eingeschlagen haben, ist der richtige. Gleichzeitig sind wir und auch das BAMF weiterhin offen, Verbesserungen im Verfahren durchzuführen und uns dann anzugucken, wie viele Menschen davon profitieren können und wie sich die Zahlen entwickeln, und das sind gegenwärtig eine bis drei Personen pro Monat. Das heißt, davon, dass hier systematisch Hilfe untersagt wird, kann keinesfalls die Rede sein. Wir sind uns, glaube ich, alle darin einig, dass wir Verantwortung haben, dass wir dieser Verantwortung gerecht werden und dass wir uns bedanken müssen: bei den Ortskräften, aber auch bei unserer Bundeswehr und den Polizistinnen und Polizisten, die sich in Form von Patenschaftsnetzwerken der Menschen annehmen, die sich als Ortskräfte für uns in ihrem Land engagiert und ihr Leben riskiert haben. Das geschieht hier. Ich glaube, wir können stolz auf unsere Bundeswehr, auf die Polizistinnen und Polizisten und auf diese Ortskräfte sein. In diesem Sinne: Eine gute Nacht! ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Herr Kollege Lindh. Sie haben sich noch einmal selbst übertroffen. – Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt spricht zu uns der Kollege Benjamin Strasser, FDP-Fraktion. ({0})

Benjamin Strasser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Bezug auf den Antrag der Grünen möchte ich für die Fraktion der Freien Demokraten vor allem zwei Aspekte beleuchten: Ihr Antrag zeigt einerseits zu Recht das Unvermögen der Bundesregierung auf, afghanische Ortskräfte umfassend zu schützen und ihnen bei Bedarf auch Zuflucht in Deutschland zu gewähren. Das ist in der Tat richtig. Andererseits muss ein derartiges Verfahren auch dem Spannungsfeld zwischen den Ansprüchen von Schutzberechtigten und der gleichzeitigen Aufrechterhaltung von Sicherheitsstandards gerecht werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist schon alarmierend, dass es die Bundesregierung auch 18 Jahre nach Beginn des Einsatzes in Afghanistan offensichtlich nicht geschafft hat, die notwendigen Weichen für ein geregeltes Verfahren zu stellen, das den Bedarfen auch wirklich gerecht wird. ({0}) Deutsche Bürokratie macht auch vor der afghanischen Grenze keinen Halt, augenscheinlich auch dann nicht, wenn es dabei um Freunde und Verbündete geht, die für Deutschland Verfolgung im eigenen Land riskieren. Die Bilanz wurde vorgetragen: Von Januar 2017 bis September 2018 wurden gerade mal elf Gefährdungsanzeigen gestellt und lediglich drei Aufnahmezusagen erteilt. Wir haben die Situation, dass Anträge in Islamabad und Neu-Delhi gestellt werden müssen. Das ist also ein System, das nicht hält, was es verspricht, nämlich Schutz für diejenigen zu bieten, die ihr Leben für den Wiederaufbau des Landes riskieren. Dabei stehen afghanische Ortskräfte mit und für uns an vorderster Front. Sie ermöglichen Einsätze der Bundeswehr und zahlreicher deutscher NGOs. Dafür schulden wir als Bundesrepublik diesen Menschen genauso wie ihren Familien Schutz. ({1}) Wir dürfen die Menschen vor Ort, die sich dafür entscheiden, auf unserer Seite zu stehen, nicht im Stich lassen; denn genau diese Menschen sind es, die das Potenzial haben, Afghanistan wieder dauerhaft zu stabilisieren. Der politische Wiederaufbau Afghanistans braucht Menschen mit Courage und ein Verständnis demokratischer Werte. Das stellen die Ortskräfte mit ihrer Arbeit täglich aufs Neue unter Beweis. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, obwohl diese Schutzgewährung selbstverständlich sein muss, möchte ich aber auch den zweiten Aspekt nicht vernachlässigen. Ich denke, wir hätten eigentlich die Chance, uns ohne Vorbehalte in dieser wichtigen Sache zu einigen; daran gibt es eigentlich nichts zu rütteln. Dennoch gibt es in diesem Antrag einige Punkte, die mir persönlich zu pauschal sind und die ich in dieser Form deshalb auch nicht uneingeschränkt unterstützen kann. Mit einem „Gruppenverfahren für die großzügige Aufnahme“, wie es in Ihrem Antrag steht, können wir uns in dieser Einfachheit eben nicht anfreunden. Auf eine individuelle Prüfung der Hintergründe und Umstände jedes Antragstellers müssen wir pochen; ({3}) denn obwohl wir Dankbarkeit für die Zusammenarbeit schulden, dürfen wir das Verfahren keinem möglichen Missbrauch zum Opfer fallen lassen. Wir stimmen dem Anliegen des Antrags in der Sache zu. Für uns Freie Demokraten bedarf der Antrag aber einiger Anpassungen, die das Gleichgewicht zwischen Sicherheit und Schutz klarer herausstreichen. Daher werden wir Ihren Antrag in der Beratung auch weiter konstruktiv begleiten. Lassen Sie es mich so zusammenfassen: In der Sache ist Ihr Antrag richtig, aber bei den einzelnen Forderungen müssen wir nachjustieren. Wir freuen uns auf die Beratungen im Ausschuss. Vielen herzlichen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege. – Die Reden von Ulla Jelpke, Josef Oster und Reinhard Brandl gehen zu Protokoll,

Axel Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Zu vorgerückter Stunde ein etwas dröges Thema: Es geht um die Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Jugendstrafverfahren. Es geht um die Umsetzung einer europäischen Richtlinie aus dem Jahre 2016, die sich mit Strafverfahren gegen Kinder bzw. mit Verdächtigen im Jugendstrafverfahren beschäftigt. Neben den vorgenommenen Änderungen im Jugendgerichtsgesetz geht es auch um zahlreiche andere Änderungen im Zusammenhang mit dem Jugendstrafrecht, die sich in anderen Gesetzen wiederfinden, die allerdings hier nicht von solcher Relevanz sind, dass man sie um diese Zeit morgens noch vortragen müsste. Zwei Grundsätze kennzeichnen das Jugendstrafrecht: Der erste Grundsatz ist, dass im Jugendstrafrecht generell der Erziehungsgedanke gilt, also nicht das Abschreckungsprinzip, wie man es im Erwachsenenstrafrecht anwendet, um Nachahmungstäter von entsprechenden Taten abzuschrecken. Es geht im Jugendstrafrecht darum, dass man den Jugendlichen mit den Sanktionen, mit dem Maß der Sanktion und der Art der Sanktion, davon abhalten möchte, weiter straffällig zu werden. Der zweite generelle und wichtige Punkt im Jugendstrafrecht ist, dass die Sanktion der Tat auf dem Fuße folgen sollte, um den jugendlichen Täter zur Umkehr zu bewegen oder eine negative Entwicklung, die sich abzeichnet, zu stoppen. Daher unterliegt das Jugendstrafverfahren auch einem ganz besonderen Beschleunigungsgebot. Genau dieser Anforderung wird der vorgelegte Gesetzentwurf nicht in ausreichendem Maße gerecht, da er das Verfahren durch nicht notwendige und nach der Richtlinie auch nicht erforderliche Aufblähungen und Ausdehnungen verzögert. Ich mache meine Behauptung an zwei zentralen Punkten fest: Erstens. Die Bestellung eines Verteidigers soll künftig in jedem Fall – auch wenn es um die Frage geht, ob eine Jugendstrafe vorbehalten oder festgesetzt werden soll – zwingend sein. Das ist mit dem Gedanken des Jugendstrafrechts gerade nicht zu vereinbaren. § 27 des Jugendgerichtsgesetzes beschäftigt sich genau mit diesem Punkt. In § 27 wird letztendlich dann darauf erkannt, dass die Festsetzung einer Jugendstrafe nur vorbehalten wird. Es wird ein Zeitkorridor von in der Regel sechs Monaten geschaffen, in dem das Gericht den Jugendlichen weiter beobachtet und am Ende feststellt: Ja, er hat schädliche Neigungen – wie es im Jugendstrafrecht leider immer noch heißt, und es bedarf einer Jugendstrafe, oder es bleibt beim Schuldspruch. Wenn das Gericht eine Jugendstrafe nachträglich festsetzen will, gibt es ein sogenanntes Nachverfahren. Es ist unstreitig, dass in diesem Nachverfahren die Bestellung eines Verteidigers zwingend ist. Der Gesetzestext, der vorgelegte Entwurf, macht aber keinen Unterschied zwischen der vorbehaltenen Jugendstrafe und der im Nachverfahren festgesetzten Jugendstrafe. Ich zitiere: In beiden Fällen – so lautet die Begründung - schwebt das Damoklesschwert einer zu vollstreckenden Jugendstrafe über den betroffenen Jugendlichen. Das ist, wie ich gerade aufgezeigt habe, gerade nicht der Fall. – Das würde im Extremfall dazu führen, dass eine Hauptverhandlung, bei der am Ende nur festgestellt werden könnte, dass ein Schuldspruch das Richtige ist und die vorbehaltene Jugendstrafe auszusprechen ist, unter Umständen neu begonnen werden müsste, und widerspricht damit dem Beschleunigungsgrundsatz. Der zweite Punkt, an dem ich meine Behauptung festmachen möchte, dass der Gesetzestext letztendlich über die Richtlinie und die verfolgten Zielsetzungen hinausgeht, ist, dass künftig in allen Fällen, auch bereits vor Anklageerhebung, ein Jugendgerichtshilfebericht, möglichst in schriftlicher Form, vorgelegt werden muss. Der Jugendgerichtshilfebericht dient aber dazu, dem Gericht eine Entwicklung des Jugendlichen aufzuzeigen; er dient dazu, dem Gericht eine Entscheidungshilfe zu liefern. Der Staatsanwalt braucht das gerade nicht. Er wird ohne Jugendgerichtshilfebericht Anklage erheben. Die Zeit zwischen der Anklageerhebung und der Hauptverhandlung wird dann dazu genutzt, den Jugendgerichtshilfebericht einzuholen. Das ist genügend, ausreichend und dient, wie gesagt, dem Beschleunigungsgrundsatz. All das zeigt nach meiner Überzeugung, dass noch einiges zu diskutieren sein wird, und wir werden, hoffe ich, das weitere parlamentarische Verfahren dazu nutzen, um trotz der aufgezeigten Kritikpunkte hier Verbesserungen zu erzielen. Das ist in anderen Punkten ja auch schon – das will ich nicht verschweigen – gelungen. In diesem Sinne: Lassen Sie es uns angehen! Danke schön. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege Müller. – Das Wort hat für die AfD-Fraktion der Kollege Roman Reusch. ({0})

Roman Johannes Reusch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004863, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die bereits erwähnte, diesem Gesetzentwurf zugrundeliegende EU-Richtlinie böte in der Tat Anlass zu längeren Ausführungen, und zwar zu sehr kritischen ({0}) - „böte“, sagte ich –, aber insoweit sind die Messen eh gesungen: Es ist geltendes EU-Recht, und wir haben als nationaler Gesetzgeber nur die Hacken zusammenzuschlagen und das auszuführen. Die Frage ist, ob die Umsetzung nun korrekt erfolgt oder ob man da ein Haar in der Suppe findet. Da hat der Kollege Müller schon völlig zu Recht ein paar Härchen gefunden. Auch mir ist sauer aufgestoßen, dass das alles in der Praxis wohl sehr umständlich sein wird. Aber weitere Erörterungen dazu kann ich mir, denke ich, sparen. Wir haben am Montag bereits die Anhörung der Sachverständigen zu diesem Thema im Rechtsausschuss. Da können wir das alles in extenso erörtern, zu dieser Stunde nicht mehr. Deswegen wünsche ich allen eine gute Nacht. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege. – Alle übrigen Reden gehen zu Protokoll,

Axel Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wieder ein spannendes Thema: Es geht erneut um die Umsetzung einer europäischen Richtlinie. Insgesamt möchte der Europäische Rat – darauf fußt diese Richtlinie – mit fünf Maßnahmen die Rechte der Beschuldigten im Strafverfahren verbessern. In diesem Fall geht es um die Prozesskostenhilfe-Richtlinie und die Festsetzung einer Verteidigung. Ich will nicht verschweigen, dass es nicht ganz einfach ist, diese Richtlinie umzusetzen, weil die Prozesskostenhilfe oder Verfahrenskostenhilfe, die eher dem Zivilprozess zuzurechnen ist, dem Strafrecht etwas wesensfremd erscheint. Das liegt zum einen daran, dass wir eben nicht darüber entscheiden, ob ein Erfolg sozusagen die Bestellung eines Verteidigers rechtfertigen dürfte. Es gibt Mitgliedstaaten, in denen der Beschuldigte in jedem Fall sämtliche Kosten zu tragen hat; da mag das alles angebracht sein. Der deutsche Strafprozess kennt allerdings, schon von seinem Wesen her, eine umfassende Fürsorge zugunsten des Beschuldigten, was die Sicherstellung seiner Verteidigung anbelangt. Zudem findet in der Richtlinie noch ein Perspektivwechsel statt, und dieser findet sich dann auch im vorgelegten Gesetzentwurf wieder. Dieser Perspektivwechsel besagt, dass nicht mehr wie bisher aus der Sicht des Gerichts darüber entschieden werden soll, ob eine Verteidigung notwendig ist, sondern künftig sozusagen schon in einem früheren Stadium des Verfahrens, im Ermittlungsverfahren, diese Frage geklärt werden muss. Genau da schießt der vorgelegte Gesetzentwurf über die Zielsetzung der Richtlinie hinaus: indem nämlich nach § 136 der Strafprozessordnung künftig die Polizei vor einer ersten Vernehmung des Beschuldigten oder einer Gegenüberstellung sicherstellen muss, dass ein Verteidiger bestellt ist. Das stellt nach meiner persönlichen Überzeugung die Polizei – und das haben auch die Bekundungen der Polizei ergeben – vor eine nicht zu lösende Aufgabe. Die Polizei ist mit der Sachverhaltsaufklärung befasst. Die rechtliche Bewertung eines Sachverhalts – Einstellung des Verfahrens oder Anklageerhebung mit der Notwendigkeit einer Verteidigerbestellung – obliegt der Staatsanwaltschaft. Die Verteidigerbestellung gehört nicht zu den Kernkompetenzen der Polizei. Ganz nebenbei bemerkt werden durch diese Gesetzesänderung schnelle Aufklärungserfolge, wie wir sie nach dem Mordfall Lübcke oder jetzt auch nach dem Attentat in Halle zu verzeichnen hatten, künftig eher infrage gestellt. In beiden Fällen hatten wir frühe Geständnisse der Beschuldigten. Ich prophezeie, dass es das künftig so nicht mehr geben wird. Und diese Geständnisse wirken sich zwingend strafmildernd zugunsten der Angeklagten aus. Insofern bringt die Umsetzung der Richtlinie in der jetzt vorgelegten Form nicht unbedingt eine Verbesserung der Rechte des Beschuldigten. Das wollen wir so nicht haben. Ein weiterer Kritikpunkt, den ich hier anbringen möchte, ist die künftige Behandlung der sogenannten Hauptverhandlungs- oder Ungehorsamshaft nach § 230 der Strafprozessordnung, die immer dann angewandt wird, wenn der Angeklagte ohne ausreichende Entschuldigung zur Hauptverhandlung nicht erscheint oder sich zumindest vorübergehend verborgen hält, sodass auch eine Vorführung zur Hauptverhandlung erfolglos ist. Er wird dann, wenn er ergriffen wird, dem Richter vorgeführt, und der nimmt ihn vorübergehend in Haft, bis die Hauptverhandlung durchgezogen werden kann. Es handelt sich oftmals um kleine Delikte mit weniger größeren Straffolgen, sodass eine längere Inhaftierung unverhältnismäßig wäre. Der Gesetzentwurf sieht künftig auch für diese Fälle die Notwendigkeit eines Verteidigers vor. Man bedenke, was das in der Praxis bedeutet: Der Richter muss mit dem Verteidiger einen Termin finden; dessen Kalender muss berücksichtigt werden. Unter Umständen geht das zulasten des Beschuldigten, weil der dann auch mehrere Wochen oder gar Monate in Haft zu verbleiben hat. Ganz nebenbei bemerkt muss der Angeklagte im Falle seiner Verurteilung auch diese Verteidigerkosten zahlen, auch wenn am Ende vielleicht nur eine geringe Strafe steht. Woran liegt das? Wie kommt der Gesetzentwurf dazu? Zwei kurze Antworten möchte ich Ihnen liefern: Meines Erachtens wurde die Richtlinie an einer Stelle zumindest falsch interpretiert. Artikel 4 der Richtlinie sieht nämlich nicht vor, dass es um die Hauptverhandlungshaft, um den Angeklagten geht. Es geht vielmehr um die Untersuchungshaft, um die Vorführung des Beschuldigten. Insoweit schießt der Gesetzentwurf über die Zielsetzungen der Richtlinie hinaus. Und der zweite Grund: Der Gesetzentwurf übersieht aber vor allem, dass in den Erwägungen zu Nummer 9 der Richtlinie ausdrücklich festgehalten ist, dass der Beschuldigte selbst darüber entscheiden darf, ob er einen Verteidiger möchte oder nicht. Genau diese Möglichkeit des autonomen Verzichts nimmt der Gesetzentwurf in der vorgelegten Fassung dem Beschuldigten. Meine Damen und Herren, lassen Sie auch in diesem Fall das weitere Verfahren uns die Möglichkeit geben, diese von mir aufgezeigten Mängel zu beseitigen, und zu einer, wie ich meine, wirklichen Verbesserung der Rechte des Beschuldigten kommen. Danke schön. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. – Der nächste Redner: der Kollege Thomas Seitz, AfD-Fraktion. ({0})

Thomas Seitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004891, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der vorgelegte Gesetzentwurf umfasst elf Seiten mit prozessualem Klein-Klein, dem nur Juristen folgen können, die regelmäßig im Strafrecht unterwegs sind. Das gewählte kurze Debattenformat ist zwar für diese kleinteilige Materie unzureichend, reicht aber aus, um Not und Elend eines Parlaments aufzuzeigen, das schon lange über seine Gesetzgebung größtenteils nicht mehr autonom entscheidet, sondern gezwungen ist, EU-Richtlinien willfährig in nationales Recht umzusetzen. ({0}) Diese Scheingesetzgebung ist der Mehrzahl unserer Bürger überhaupt nicht bewusst, auch weil dies in der Debatte oft unerwähnt bleibt. Denn nur um in untertäniger Manier Vorgaben aus Brüssel in deutsche Gesetzessprache zu übersetzen, bräuchte es kein teures und mit über 700 Abgeordneten deutlich aufgeblähtes Parlament. Dafür genügt vollauf unsere bewährte Ministerialverwaltung. ({1}) Auch der vorliegende Entwurf dient im Wesentlichen der Umsetzung einer EU-Richtlinie, die, wie so viele andere Rechtsetzungsakte der EU, nicht hilfreich und für Deutschland sogar nachteilig ist. Länder, deren Strafprozessrecht wirklich gravierende Defizite aufweist und die keinen fairen Zugang zu qualifizierter Verteidigung ermöglichen, werden diese Richtlinie jedenfalls in der Rechtsanwendung wohl kaum wie vorgesehen umsetzen. Die wirklich gewichtige Änderung der Rechtslage für Deutschland besteht in der zeitlichen Vorverlagerung der Bestellung eines Pflichtverteidigers, wofür es aus unserer Sicht keine überzeugende rechtsstaatliche Begründung gibt. Diese aufgezwungene Reform dient dem pekuniären Interesse der Rechtsberatungslobby – auf Kosten der Justizhaushalte der Länder und der Strafverfolgungspraxis. Zumindest gibt es am Entwurf zur Umsetzung dieser fragwürdigen Richtlinie nicht allzu viel zu kritisieren. Er hält am bewährten Konzept der notwendigen Verteidigung fest und überträgt nicht das Prinzip der Prozesskostenhilfe im Widerspruch zu unserer Rechtstradition auf das Strafverfahren. Positiv ist auch, dass der Entwurf sich weitgehend darauf beschränkt, die Vorgaben der EU nur umzusetzen, statt sie noch übertrumpfen zu wollen. Das gilt auch für die bekundete Offenheit der Regierung für die Änderungsvorschläge des Bundesrates. Neben den Kritikpunkten, die der Kollege Müller schon angeführt hat, habe ich noch auf einen hinzuweisen: Die Qualität der Strafverteidigung daran messen zu wollen, dass ein Anwalt der Rechtsanwaltskammer sein Interesse an der Übernahme von Pflichtverteidigung anzeigt, ist bürokratischer Unfug und ändert nichts an schlechten Strafverteidigern, die im Einzelfall bestellt werden. Zum Schluss noch einige Worte zu dem Antrag der FDP-Fraktion. Sie gehen über die Vorgaben der EU-Richtlinie hinaus und produzieren damit noch mehr Pflichtverteidigung zulasten des Steuerzahlers. Und weshalb? Nur um die Taschen von Rechtsanwälten zu füllen. Ihr Antrag zeigt wieder einmal, dass Sie immer noch die alte FDP sind: allzeit bereit, Ihre angeblichen Grundsätze und das Wohl des Steuerzahlers zu opfern, um Interessen Ihrer besserverdienenden Klientel bedienen zu können. Dafür gibt es von der AfD keine Unterstützung. Danke. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die übrigen Reden gehen zu Protokoll. Ich schließe die Aussprache.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Das Direktzahlungen-Durchführungsgesetz in seiner aktuellen Fassung stellt bereits heute die Finanzierung der Länderprogramme zur Umsetzung der zweiten Säule in der Agrarpolitik sicher. In dem Fünfjahreszeitraum 2016 bis 2020 stehen jährlich über den von den Agrarministern im Jahr 2013 festgelegten Umschichtungssatz von 4,5 Prozent rund 224 Millionen Euro zusätzlich für die zweite Säule zur Verfügung. Für die finanziell klammen Bundesländer ist von Vorteil, dass die Umschichtungsmittel in vollem Umfang im jeweiligen Bundesland verbleiben und nicht kofinanziert werden müssen. Die SPD- und grünengeführten Bundesländer haben mit der Kofinanzierung in der Regel häufig Schwierigkeiten. Darum sind diese Bundesländer auch so heiß darauf, diese Mittel, wo möglich, von der ersten in die zweite Säule zu verschieben. ({0}) Das ist der wahre Grund dafür. Das Geld anderer gibt sich halt ein bisschen leichter aus, als wenn man es selber mit aufbringen müsste, und man kann damit auch Haushaltslöcher stopfen. Ohne eine Änderung des Direktzahlungen-Durchführungsgesetzes erhöhen sich die Direktzahlungen im Jahr 2020 um rund 14 Euro je Hektar für jeden Betrieb in Deutschland. Für einen durchschnittlichen bayerischen Betrieb wären das rund 500 Euro mehr anstelle einer zusätzlichen Kürzung von rund 160 Euro im Jahr 2020. Damit verlieren insgesamt die deutschen Bäuerinnen und Bauern 75 Millionen Euro im Jahr 2020. Bisher sieht dieser Vorschlag keine Kompensation seitens des Bundesfinanzministers vor. Denn umgeschichtete Mittel stehen nicht zwingend für Maßnahmen in der Landwirtschaft zur Verfügung und sind immer mit zusätzlichen Auflagen versehen. Zum Vergleich: Die hart erkämpfte Erhöhung der Unterstützung bei der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft wird im Jahr 2020 durch die vorgesehene erhöhte Umschichtung vollständig aufgebraucht. Das ist für mich keine seriöse Politik. Auf der einen Seite unterstützen wir unsere Betriebe, auf der anderen Seite ziehen wir den Bäuerinnen und Bauern das Geld wieder aus der Tasche; das muss man doch sehen. ({1}) Ich stehe zur Vertragstreue und Zuverlässigkeit gegenüber unseren Bäuerinnen und Bauern. Daher lehne ich die vorgesehene Umschichtung in 2020 ohne eine Kompensation ab. Eine Umschichtung in 2020 für das Jahr 2021 war nie vorgesehen. Die gekürzten Mittel fehlen auf den Höfen, beispielsweise für notwendige Investitionen in Betriebsgebäude oder auch zur Stärkung der betrieblichen Risikovorsorge. ({2}) Die grünen Kreuze und die für kommenden Dienstag angekündigten bundesweiten Demonstrationen der Bäuerinnen und Bauern, die von der Basis organisiert werden, sind ein Alarmzeichen. Unsere Bäuerinnen und Bauern rufen um Hilfe. Es geht um ihre betriebliche Existenz und die gesellschaftliche Akzeptanz eines ganzen Berufsstandes. Ein Weiter-so wird nicht mehr akzeptiert. Stehen wir zu unseren Bäuerinnen und Bauern! ({3}) Nehmen wir die existenziellen Sorgen ernst, und hören wir endlich mit dem ideologischen Bauern-Bashing auf! In diesem Sinne: Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege Straubinger. Sie haben Zeit eingespart, sehr löblich. – Für die AfD hat der Kollege Stephan Protschka das Wort. ({0})

Stephan Protschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004858, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Habe die Ehre, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schön, dass Max Straubinger – er kommt ja aus meinem Landkreis –, der am Dienstag ganze zwei Minuten im Ausschuss anwesend war, jetzt schon so viel Fachkompetenz mit sich bringt, dass er gleich eine Rede halten kann. ({0}) Liebe Regierung, Sie legen mit diesem Gesetzentwurf die Axt an die Einkommens- und Risikoabsicherung unserer Landwirte. Es geht immerhin um 75 Millionen Euro. Das ist ein weiterer Meilenstein der bauernfeindlichen Politik der Regierungskoalition, die sich wie ein roter Faden durch die Legislaturperiode zieht. Sie – auch die Union – rauben mit Ihrer Agrarpolitik den landwirtschaftlichen Familienbetrieben jede Planungssicherheit und gefährden so ihre Existenz. Sie beschleunigen damit das Höfesterben dramatisch. ({1}) Liebe CDU/CSU, Sie erinnern sich vielleicht, dass Sie sich selbst Anfang des Jahres vehement gegen eine Umschichtung der Mittel ausgesprochen haben. Ihre eigene Begründung war damals, dass eine Kürzung der Direktzahlungen existenzgefährdend für die Landwirte sei. Die Agrarministerkonferenz im April fasste den gleichen Beschluss. Und jetzt soll plötzlich doch umgeschichtet werden? Wisst ihr jetzt, was ihr wollt, oder nicht? Wir, die AfD, wollen, dass die Landwirte in naher Zukunft wieder von ihrer eigenen Hände Arbeit leben können und keine Direktzahlungen mehr nötig haben, meine Damen und Herren. ({2}) Trotzdem muss es eine Art Bestandsschutz geben. Denn die Landwirte haben mit diesem Geld schon für 2020 geplant. Aber der GroKo ist die Existenz unserer kleinen und mittleren Familienbetriebe egal. ({3}) Was hat das mit verlässlicher Politik zu tun, meine Damen und Herren? Wofür brauchen Sie eigentlich 2020 so dringend diese 75 Millionen Euro in der zweiten Säule? Die meisten Bundesländer rufen die Fördermittel bis dato gar nicht zu 100 Prozent ab; nur drei Bundesländer haben das gemacht. Warum also muss man umschichten bzw. aufstocken? Mit der AfD ist Ihre bauernfeindliche Politik nicht zu machen. Ihre fehlende Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit sind der Grund, warum Ihnen immer mehr Bürger nicht mehr vertrauen und warum Sie die Wahlen in Brandenburg und Sachsen massiv verloren haben. Sie werden auch in Thüringen massiv verlieren. Sie werden in Zukunft weiterhin massiv an die AfD verlieren. Danke. Schönen Feierabend. Habe die Ehre. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Kollege Rainer Spiering spricht für die SPD-Fraktion. ({0})

Rainer Spiering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004410, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Es irritiert mich schon, dass wir um diese Uhrzeit jetzt noch so ein Feuerwerk an Polemik erleben. Es hilft aber nichts. Ich versuche mal, das ein bisschen einzuordnen. ({0}) Wir reden von 75 Millionen Euro – und jetzt wird der Untergang des Abendlandes und der bäuerlichen Landwirtschaft beschrien. ({1}) Das kann man machen. Ich frage nur, ob das sinnvoll ist. Wir reden über 11 Millionen Hektar. Das passt ganz gut zu den 75 Millionen Euro. Das heißt, es geht um 7 Euro pro Hektar. ({2}) Wenn mir jetzt jemand erklären will, dass bei einem 20-Hektar-Hof und einem Verlust von 140 Euro pro Jahr der Untergang des Hofes prognostiziert werden kann, dann habe ich Schwierigkeiten mit der mathematischen Gleichung. Andersherum wird ein Schuh daraus, nämlich wenn man sich nicht mit den kleinen Höfen beschäftigt, sondern mit den großen Betrieben. Wenn wir von 1 000, 2 000, 3 000 Hektar sprechen, was der Größe von Betrieben entspricht, wie sie jetzt in den neuen Bundesländern aufgekauft werden, dann reden wir plötzlich über 7 000, 14 000, 21 000 Euro. Worum geht es also? Um den Bestandsschutz kleiner bäuerlicher Betriebe? Oder geht es um das große Immobiliengeschäft? Denken Sie einfach darüber nach! Die Rechnung ist relativ einfach. Wenn wir allein von 275 Euro als Grundzahlung im Rahmen der Direktzahlungen ausgehen und von einem Hof von 1 000 Hektar – das ist in den neuen Bundesländern nicht ungewöhnlich –, dann geht es um 275 000 Euro. Wenn Sie einen Kaufpreis von 15 000 Euro für einen Hektar in den neuen Bundesländern zugrunde legen, dann haben Sie eine Realverzinsung von über 2 Prozent. Die kriegt in Deutschland im Moment sonst keiner. Das heißt, das, was wir hier machen, ist das Big Business des Immobiliengeschäfts. Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, das möglichst ruhig anzugehen. Das werde ich jetzt auch wieder tun. Kehren wir jetzt zu den 75 Millionen Euro zurück, und erkennen wir an, dass das christliche Abendland und die deutsche Landwirtschaft – vor allem die kleinbäuerliche Landwirtschaft – dadurch nicht untergehen werden. Mit 75 Millionen Euro, die in diesem Fall eingesetzt werden für Einzelmaßnahmen, können wir unglaublich viel erreichen. Ich führe ein paar Beispiele an, wo wir mit 75 Millionen Euro wirklich viel erreichen können, und zwar setze ich das in Relation zu dem Haushalt für Forschung. Der landwirtschaftliche Haushalt ist, was die reale Substanz angeht, ja eher ein kleiner Haushalt. Von den knapp 6 Milliarden Euro fließen 4,5 Milliarden Euro in die bäuerliche Sozialversicherung; es bleiben ungefähr 1,5 Milliarden Euro übrig. Davon sind 500 Millionen Euro Forschungsmittel, immerhin ein Drittel; das halte ich für gut. Wenn Sie diese 75 Millionen Euro in Relation zu den 500 Millionen Euro sehen, dann werden Sie merken, dass 75 Millionen Euro sehr viel Geld sind. Wenn diese Mittel zweckgebunden für bestimmte Forschungsprojekte eingesetzt werden, dann können wir mit 75 Millionen Euro sehr viel erreichen. Die Frage, die sich an den 1,5 Prozentpunkten entscheidet, ist: Wollen wir mit dem Gießkannenprinzip aufhören und punktuell forschungsgerecht arbeiten? Wir reden über die Digitalisierung der Landwirtschaft. Wir sind dabei, große Forschungsprojekte aufzulegen, um eigene IT-Plattformen zu entwickeln. Da können wir mit 75 Millionen Euro ganz viel erreichen. Wenn wir – ich wage es kaum zu träumen – diese Zahl auf 3 Prozentpunkte verdoppeln oder gar auf 4,5 Prozentpunkte verdreifachen würden, dann könnten wir 225 Millionen Euro für eine IT-gesteuerte Landwirtschaft einsetzen, die allen dient: den kleinen und den großen. Deswegen kann ich Sie abschließend nur bitten, diese 1,5 Prozentpunkte richtig einzuordnen: Sie sind ein kleiner Schritt auf dem richtigen Weg. Sie bedeuten nicht den Untergang der bäuerlichen kleinteiligen Landwirtschaft und sind für die großen Betriebe in ihrer Substanz absolut verkraftbar. Insofern würde ich sagen: Es ist ein kleiner Schritt in die richtige Richtung – aber es darf durchaus mehr sein. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege Spiering, auch für die eingesparte Zeit. – Für die FDP spricht der Kollege Dr. Gero Clemens Hocker. ({0})

Dr. Gero Clemens Hocker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004754, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Landwirtschaft im Jahre 2019 braucht nichts weniger als mehr Mittel in der zweiten Säule. Landwirtschaft im Jahre 2019 braucht endlich von der Politik das Bekenntnis, dass sie sich in Zukunft wieder mehr an wissenschaftlichen Fakten und wissenschaftlichen Erkenntnissen orientiert. ({0}) Und, meine sehr verehrten Damen und Herren, Landwirtschaft sehnt sich danach, dass sie von Gesellschaft und Politik anerkannt wird. Das ist vielleicht in einer Zeit, in der die Regale so voll sind wie nie zuvor und die allermeisten Menschen in unserem Land nie wirklich Hunger gelitten haben, besonders schwer. Landwirtschaft in Deutschland darf aber sehr wohl den Anspruch haben, dass sie von Politik und Gesellschaft wertgeschätzt wird, weil sie in der Lage ist, die hochwertigsten Lebensmittel zu erzeugen, nach den höchsten Standards hergestellt. Das, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist sehr wohl Grundlage für Wertschätzung. ({1}) Ich sage das ganz ausdrücklich: So, wie sich die Landwirtschaftsministerin vor wenigen Tagen im Thüringer Wahlkampf eingelassen hat, ist das das ausdrückliche Gegenteil von Wertschätzung. Sie hat nämlich recht lapidar erklärt – vielleicht aus einer Bier- oder auch aus einer Weinlaune heraus –, man könne ja die im Raum stehenden Strafzahlungen, wenn die Nitratvorgaben nicht eingehalten werden, mit den Ansprüchen verrechnen, die die Landwirte aus der Landwirtschaftlichen Sozialkasse erworben haben. Das hat mit Wertschätzung gegenüber den Bäuerinnen und Bauern überhaupt nichts zu tun. Ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern, dass die Lebensleistung von vielen Tausend Menschen in Deutschland jemals zuvor so pauschal und so allgemein quasi als Verfügungsmasse für einen politischen Kuhhandel auf dem Altar irgendwelcher innerkoalitionären Diskussionen geopfert wurde. Das ist unerträglich, und die Ministerin wäre gut beraten, sich davon zu distanzieren und sich dafür zu entschuldigen. ({2}) Gegenwärtig werden in Deutschland viele Tausend grüne Kreuze aufgestellt, und diese Kreuze stehen nicht dafür, dass irgendein Landwirt mehr finanzielle Mittel haben möchte, sondern sie stehen dafür, dass Landwirte sich wünschen, dass sich die Politik wieder zur Wissenschaft als Grundlage für ihre Entscheidungen bekennt und damit aufhört, quasi aus dem Bauch heraus, manchmal nach Gutsherrenart Entscheidungen zu treffen, die häufig genug jeder wissenschaftlichen Grundlage entzogen sind. Chemischer Pflanzenschutz, Nitratrichtlinie, Insektenschutz: Landwirte dürfen den Anspruch haben, dass die Politik nicht aus dem Bauch heraus entscheidet, sondern dass wissenschaftliche Erkenntnisse endlich wieder Eingang in politische Entscheidungen finden. Das sind wir den Landwirten in Deutschland schuldig, ({3}) und es wäre gut, wenn wir uns alle in diesem Haus wieder mehr daran orientieren würden. ({4}) – Wollen Sie eine Zwischenfrage stellen?

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Nein, es gibt jetzt keine Zwischenfragen mehr.

Dr. Gero Clemens Hocker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004754, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Na ja, dann sehen Sie es mir nach, dass ich das nicht beantworten kann, weil ich das nicht vernommen habe.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Kommen Sie bitte zügig zum letzten Satz.

Dr. Gero Clemens Hocker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004754, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Geld in ländliche Regionen fließen zu lassen, ist eine gute Idee. Die Probleme der Landwirtschaft des Jahres 2019 lassen sich aber nicht allein mit mehr Geld lösen, sondern wir sollten mehr auf Wissenschaft, auf wissenschaftliche Erkenntnisse und auf Anerkennung setzen. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Alle übrigen Reden zu diesem Tagesordnungspunkt gehen zu Protokoll Ich schließe die Aussprache.

Dr. Johannes Fechner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004270, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zuhörer auf den Tribünen haben wir keine mehr. Sehr geehrte BGH-Richterinnen und BGH-Richter, die jetzt wahrscheinlich in Karlsruhe vor den Bildschirmen sitzen und sich diese Debatte zu diesem wichtigen Gesetzentwurf live anschauen! ({0}) – Wahrscheinlich, ja. – Seit 2002 haben wir bekanntlich die Regelung, dass Beschwerden gegen die Nichtzulassung der Revision zum BGH durch Berufungsgerichte nur möglich sind, wenn das jeweilige Verfahren einen Beschwerdewert von mehr als 20 000 Euro hat. Schon mehrfach haben wir diese Regelung verlängert und dabei zeitlich befristet. Um es klar zu sagen: Wir brauchen jetzt eine Dauerlösung, und die schaffen wir mit diesem Gesetzentwurf. Es muss auf Dauer gesichert sein, dass der BGH nicht überlastet ist, damit die höchstrichterlichen Urteile zeitnah ergehen. Deswegen ist das eine sehr gute Regelung, die wir heute hier vorliegen haben. Warum brauchen wir eine solche Beschränkung? Die für Zivilsachen zuständigen BGH-Richter sind erheblich überlastet. 2018 wurden rund 3 600 Nichtzulassungsbeschwerden eingereicht, und wenn wir diese Regelung zur Wertgrenze jetzt nicht verlängern würden, dann hätten wir noch mehr solcher Verfahren und erhebliche Überlastungen für den BGH. Wichtige Grundsatzurteile würden nicht zeitnah ergehen, und damit würden wichtige Rechtsfragen nicht beantwortet werden. Daneben werden wir mit diesem Gesetz die Spezialisierung der Gerichte vorantreiben. Wir wollen, dass die Richter, die sich auf ein Rechtsgebiet spezialisiert haben, sich dort gut auskennen, Erfahrungen haben und kompetent sind, die entsprechenden Fälle entscheiden. Das wird die Qualität der Rechtsprechung steigern und dazu führen, dass die Verfahren beschleunigt werden. ({1}) Schließlich sorgen wir mit vielen weiteren Regelungen im Gesetzentwurf dafür, dass Zivilprozesse effektiver werden – zum Beispiel werden Vergleichsabschlüsse vereinfacht –, ohne dass das mit Nachteilen für den Rechtsschutz der Bürgerinnen und Bürger einhergehen würde. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, das ist ein guter Gesetzentwurf. Wir vermeiden eine Überlastung des BGH und beschleunigen die Zivilprozesse, ohne dass wir dabei Rechtsschutzmöglichkeiten beschneiden. Stimmen wir also diesem Gesetzentwurf zu! Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir befinden uns ja in der langen Nacht der Rechtspolitik mit fünf Tagesordnungspunkten zu diesem Bereich, und bei keinem einzigen dieser Tagesordnungspunkte war der Vorsitzende des Rechtsausschusses anwesend. ({2}) Ich finde, das geht nicht; das ist einfach unmöglich. Diese Mischung aus Faulheit und Desinteresse zeigt, dass es dem Herrn Brandner seinem Schwerpunkt nach mehr um Hetze gegen Minderheiten als um die politische Sacharbeit hier geht. Das will ich in aller Deutlichkeit hier so sagen. Bei fünf Tagesordnungspunkten schwänzt er die rechtspolitischen Debatten. Das geht nicht. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Kollege Jens Maier hat das Wort für die AfD-Fraktion. ({0})

Jens Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004811, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Die letzte Rede. ({0}) Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist beschämend, dass ein Gesetzentwurf dieser Tragweite mitten in der Nacht quasi an der Öffentlichkeit vorbei Eingang in die Parlamentsdebatte gefunden hat. ({1}) Es geht in dem Gesetzentwurf der Bundesregierung in der Hauptsache darum, welche Möglichkeiten ein Bürger hat, in Zivilsachen an das oberste Zivilgericht zu kommen. Es geht um effektiven Rechtsschutz, eine Säule des Rechtsstaates. Darüber wird hier mitten in der Nacht debattiert. Weiter beschämend ist die Fantasielosigkeit und mangelnde Kreativität, die dem Gesetzentwurf immanent ist. ({2}) Eine mehrmals verlängerte Frist der provisorischen Regelung soll nun zur endgültigen Lösung gemacht werden. Der Beschwerdewert für die Nichtzulassungsbeschwerde zum BGH lag bei mehr als 20 000 Euro. Das soll weiterhin so bleiben. – Das ist ja toll! Niemand kann einem die Zahl von 20 000 erklären. Warum 20 000? Warum nicht 30 000 oder 10 000? Diese Zahl ist völlig willkürlich gegriffen. Weil man sich in den Jahren der ständigen Verlängerung der Frist der provisorischen Lösung daran gewöhnt hat, will man offenbar an den 20 000 Euro festhalten. ({3}) Dass Rechtsstreitigkeiten mit geringerem Streitwert genauso das Potenzial in sich tragen können, eine Einheitlichkeit der Rechtsprechung bei bestimmten Fragen herzustellen ({4}) bzw. der Rechtsfortbildung zu dienen, ist offensichtlich. Über die Wertgrenze den Weg hin zum BGH abzuschneiden, erscheint vor diesem Hintergrund als unangemessen und hat mit effektivem Rechtsschutz nichts zu tun. ({5}) Sie führt zu einer Entlastung des BGH, der Bürger fällt hinten runter. Bürgerfreundlich wäre es, wenn man das Berufungsverfahren noch einmal auf den Prüfstand stellen und die Möglichkeiten dort nutzen würde. Ich spiele hier insbesondere auf den § 522 Absatz 2 ZPO an, der es ermöglicht, eine Berufung ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zurückzuweisen. Ich kann mich noch an die Zeit erinnern, in der das alte Berufungsrecht galt; das war vor 2002. Da war die mündliche Verhandlung obligatorisch, und der Einzelrichter der Berufungskammer wurde nur mit Zustimmung der Parteien tätig. Zu meiner Zeit am Landgericht wurden sehr viele Fälle durch Berufungsrücknahme oder Vergleich erledigt. Es macht für den Bürger und für das Erscheinungsbild der Justiz im Hinblick auf die Akzeptanz von Entscheidungen einen Unterschied, ob ich als Bürger im schriftlichen Verfahren einen Hinweisbeschluss, also ein Stück Papier, erhalte, in dem zur Berufungsrücknahme geraten wird, oder ob dieser Rat mündlich von einer Kammer erteilt wird, besetzt mit drei Richtern, die einem Auge in Auge ihre Gründe erklären. ({6}) Bei der Expertenanhörung im Rechtsausschuss im Mai 2018 wurde von Dr. Greger, einem ehemaligen BGH-Richter, für eine Aufhebung des § 522 Absatz 2 und Absatz 3 mit der Begründung plädiert, dass diese Regelung zu einer Zunahme unbegründeter Nichtzulassungsbeschwerden geführt hätte. Über den Weg eines verbesserten Berufungsverfahrens lassen sich demnach viele unbegründete Nichtzulassungsbeschwerden vermeiden. Das könnte insgesamt, und zwar wertunabhängig, zu einer Reduktion der Zahl der Verfahren beim BGH führen. Das müssen wir im Rechtsausschuss noch weiter erörtern. Vielen Dank und gute Nacht. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die übrigen Reden gehen zu Protokoll.