Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Chef des Bundeskanzleramts hat man einen sehr breiten Geschäftsbereich. Ich will die Gelegenheit heute nutzen – in der Regierungsbefragung wird sehr viel über die Kabinettssitzungen gesprochen, in denen wir in den letzten zwei Sitzungen sehr viel zum Thema Klima abgearbeitet haben –, Sie darüber zu informieren, dass auch unser Kabinettsausschuss „Digitalisierung“ in der letzten Woche getagt hat. Wir haben einige Beschlüsse gefasst, die uns auch in diesem wichtigen Zukunftsfeld für die Bundesrepublik Deutschland, glaube ich, sehr nach vorne bringen.
Das Erste, was ich Ihnen mitteilen möchte, ist, dass wir schon die dritte Version unserer Umsetzungsstrategie im Digitalkabinett besprochen haben. Das macht sehr deutlich, dass das – anders als in vorangegangenen Legislaturperioden – nicht ein statischer Prozess ist – man macht eine Strategie, man arbeitet sie ab, es verändert sich nichts –, sondern dass wir ständig hinterfragen: Was muss noch hinzutreten, was haben wir erledigt? Insofern haben wir seit einer Woche bereits die dritte Version der Umsetzungsstrategie.
Das Zweite, worüber ich Sie informieren möchte, ist, dass wir uns sehr intensiv auseinandergesetzt haben mit der Digitalisierung der Verwaltungsleistungen. Das ist aus meiner Sicht eines der absolut prioritären Digitalisierungsprojekte überhaupt, weil daran deutlich wird, ob und dass die Bundesregierung in der Lage ist, den Menschen zu zeigen, dass wir selber Vorreiter bei Digitalisierung sind. Deshalb haben wir im Onlinezugangsgesetz den Weg beschritten, 575 Verwaltungsleistungen, die es in Deutschland gibt, digital zugänglich zu machen. Die ersten sind es bereits, und viele andere, auch im Zusammenspiel mit Ländern und Kommunen, sind auf einem guten Weg.
Ganz besonderes Augenmerk sollten wir als Bundesregierung, aber auch Sie als Deutscher Bundestag darauf legen, die Verwaltungsleistungen zu digitalisieren, die originäre Bundesleistungen sind. Deshalb haben wir auch beschlossen, Ihnen noch in diesem Jahr ein ganzes Gesetzespaket, ein Artikelgesetz, zu den familienpolitischen Leistungen vorzulegen; denn viele Leistungen, die wir digital erbringen wollen, kann man auch so digitalisieren, wie sie heute im Gesetz stehen; das ist grundsätzlich nicht ausgeschlossen. Wenn wir es aber so machen, machen wir es wahrscheinlich nicht gut, und deshalb müssen wir Schriftformerfordernisse beseitigen, uns Bemessungsgrundlagen anschauen und Verfahrenswege nach ihrer Digitalisierbarkeit durchforsten. Das Projekt heißt bei uns ELFE, „Einfache Leistungen für Eltern“. Die Umsetzung, auch rechtlich, ist etwas, was in wir in diesem Jahr noch angehen wollen; auch darüber haben wir gesprochen.
Des Weiteren wollen wir einen Schritt gehen, der aus meiner Sicht überfällig ist. Ab 1. Januar 2020 will die Bundesregierung in den Ministerien untereinander nur noch papierlos kommunizieren. Auch die Themen, die für die Bevölkerung wichtig sind, waren Gegenstand, zum Beispiel die Digitalisierungsinfrastruktur in Deutschland. Da muss ich sagen: Das Ergebnis des Mobilfunkgipfels unseres Verkehrsministers lässt sich wirklich sehen. Dass wir jetzt eine Zusage der Mobilfunkbetreiber haben, 99 Prozent der Haushalte bis Ende 2020 zu versorgen, ist, glaube ich, ein gutes Zeichen. Und dass wir im Bereich der festnetzgebundenen digitalen Infrastruktur jetzt getrennte Richtlinien für weiße und graue Flecken auf den Weg bringen, zeigt, dass wir da sehr gezielt ausbauen.
Ein Projekt im Zuge der Übernahme der Gesamtkoordinierung der Digitalisierung in der Bundesverwaltung, das mir großes Kopfzerbrechen bereitet hat, betrifft den Bereich der IT-Konsolidierung. Da kann ich Ihnen mitteilen, dass wir das Projekt IT-Konsolidierung zum Ende dieses Monats grundsätzlich neu aufstellen werden. Wir werden Ende des Monats einen IT-Rat haben, wo wir das Ganze beschließen wollen. Wir haben festgestellt, dass die Governance-Struktur und auch der Inhalt des Projekts zu komplex sind. Man sollte klein und agil anfangen – das ist erfolgreiche Digitalisierung. Deshalb steht uns eine Neuordnung der IT-Konsolidierung Bund bevor.
Was die Personalien angeht, will ich Sie mit ein bisschen Stolz auf Tech4Germany hinweisen. Wir haben im letzten Jahr angefangen und gefragt: Wie können wir junge, agile IT-Entwickler eigentlich in die Arbeit der Bundesregierung integrieren? Das haben wir mit dem Projekt gemacht. Letztes Jahr waren es 12, dieses Jahr sind es 30 junge Fellows, die für uns IT-Projekte umsetzen. Sie sind in der Lage, innerhalb von zwei Monaten IT-Projekte zu realisieren, für die wir uns als Bundesregierung auf klassischem Wege sicherlich Jahre Zeit genommen hätten. Deshalb ein ganz herzliches Dankeschön an sie. Das ist etwas, was wir weitermachen wollen, um nach dem Vorbild zum Beispiel des Government Digital Service in England auch sehr, sehr agile IT-Strukturen in unsere Arbeit zu integrieren.
Als Grundlage für das, was wir in der Digitalisierung machen, haben wir ja vor der Sommerpause die IT-KI-Strategie verabschiedet und unmittelbar nach der Sommerpause noch eine Blockchain-Strategie. Wir setzen unsere Arbeit fort. Datenpolitik ist ein wichtiges Thema; deshalb haben wir mit der Erarbeitung einer übergreifenden Datenstrategie jetzt begonnen. Ich glaube, das ist insgesamt ein runder Rahmen, um sagen zu können: Deutschland hat jetzt bei der Digitalisierung richtig Tempo aufgenommen.
Vielen Dank.
Danke sehr. – Wir beginnen mit der Regierungsbefragung. Das Wort hat der Kollege Dr. Rainer Kraft, AfD.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrter Herr Minister, ein anderes Thema in der Zuständigkeit des Chefs BK: die Nachhaltigkeit. Die Agenda 2030 der UN hat sich die Bekämpfung der Armut als primäres Ziel gegeben. Das sogenannte Klimakabinett hat nun Vorschläge erarbeitet, die im Zuge des sogenannten Klimapaketes zu erheblichen Mehrbelastungen der Bürger in Deutschland führen, entweder als direkte Steuern oder indirekt über Abgaben. Die deutschen Bürger zählen allerdings ohnehin schon zu den Ärmsten innerhalb der EU. Der „Stern“ bezeichnete sie sogar einmal als – Zitat – „die armen Würstchen der EU“ – Zitat Ende. Der sozial ausgleichende Effekt der EEG-Senkung aus besagtem Klimapaket von 0,25 Cent pro Kilowattstunde ist mittlerweile durch die EEG-Erhöhung aus dem Wirtschaftsministerium für das Jahr 2020 bereits komplett aufgefressen worden.
Ich frage nun: Wie kann die Bundesregierung ihr sogenanntes Klimapaket unter Berücksichtigung der Ziele der Agenda 2030 zur Bekämpfung der Armut einer deutschen Bevölkerung zumuten, die bereits zu den ärmsten der EU zählt – ein Klimapaket, dessen Auswirkungen zu erheblichen Mehrbelastungen bei eben dieser bereits unterdurchschnittlich vermögenden Bevölkerung führen werden?
Lieber Herr Kollege, das Klimapaket ist ein sehr, sehr ausgewogenes, im Hinblick auch auf seine soziale Lastenverteilung. Vor allen Dingen ist es eines, das sehr vorsichtig beginnt mit den Belastungen.
Einer der Hauptkritikpunkte der letzten Wochen war ja der niedrige Einstiegspreis bei CO2, also dass wir ab 2021 mit 10 Euro pro Tonne anfangen und dann sehr, sehr moderat steigern. Warum machen wir das? Weil wir die Bürger eigentlich überhaupt nicht belasten wollen. Das Ziel der CO2-Bepreisung ist nicht eine Belastung, sondern das Ziel der CO2-Bepreisung in unserem Klimakonzept lautet: Die Bürger sollen Zeit haben; sie sollen durch unsere Programme, wie Heizungsaustausch oder Kauf eines Elektroautos, Chancen auf Umstieg bekommen. Wenn sie auf CO2-neutrale Technologien umsteigen, dann haben sie auch keine Mehrbelastungen.
Zeitlicher Vorlauf, niedriger Einstiegspreis, Entlastung bei der Pendlerpauschale und Unterstützungsmaßnahmen sind sozusagen der Reigen unseres Klimaschutzprogramms. Ich sage: Das ist außerordentlich sozial ausgewogen. Es reizt an, umzusteigen. Es soll nicht mehr belasten, sondern es soll die Möglichkeit geben, dass sich jeder Bürger klimafreundlicher verhalten kann.
Nachfrage, Herr Kollege Kraft?
Ja. – Vielen Dank, Herr Minister. – Darf ich Ihre Äußerung „Die Belastungen sind jetzt noch gering“ dahin gehend interpretieren, dass Sie den Bürgern in Deutschland für die Zukunft weitergehende und stärkere Belastungen aufbürden könnten? Denn am Ende vom Tage haben Sie ein milliardenschweres Klimapaket, und das Geld kommt bei allem, was die Regierung tut, immer vom Bürger; denn der Bürger zahlt all das Geld, das Sie hier so schön ausgeben.
Also, das Geld kommt immer vom Bürger. Mit den Jahresscheiben und dem weniger werdenden Budget an CO2, das wir noch ausstoßen können, wird der CO2-Preis erwartbar steigen in der Phase, wo er sich marktwirtschaftlich bildet. Aber der Gedanke des Konzepts ist, wenn der CO2-Preis steigt, nicht unbedingt zusätzliche Programme zu machen, sondern dann immer mehr auf das Instrument der Strompreissenkung zu setzen.
Bei allem, was im Programm steht und möglicherweise auch geeignet sein könnte, dass der Strompreis steigt, auch bei der EEG-Umlage, steht in den Eckpunkten ein ganz wichtiger Satz, nämlich: Alles, was zu einer Steigerung des Strompreises führen kann, wird so ausgestaltet, dass die Strompreissenkung an anderer Stelle davon nicht überkompensiert wird. – Deshalb die Aussage: Wenn wir eines Tages noch höhere Einnahmen haben, weil die CO2-Bepreisung zu höheren Preisen führt, dann wird das wesentliche Instrument sein, das Geld über den Strompreis den Menschen zurückzugeben, zunächst einmal insbesondere über die EEG-Umlage, möglicherweise aber auch durch die komplette Abschaffung der EEG-Umlage.
Energiebesteuerung wirkt regressiv. Das heißt, wenn jemand ein niedriges Einkommen hat, dann wird er überproportional von der Strompreissenkung profitieren.
Vielen Dank. – Auch Nachfrage und Antwort sollen jeweils 30 Sekunden möglichst nicht überschreiten.
Die nächste Frage stellt der Kollege Gustav Herzog, SPD.
Herr Bundesminister, Sie haben über Digitalisierung gesprochen. Einer der wichtigen Bereiche zur Digitalisierung, der vor uns liegt, ist der Verkehr. Wir wollen, dass Fahrzeuge miteinander und auch mit der Infrastruktur kommunizieren. Damit das keine Kakofonie auf europäischen Straßen gibt, hat die Kommission im Sommer dieses Jahres den Vorschlag von der Car-to-Car-Kommunikation gemacht – ein Standard, der bewährt ist, der auf WLAN aufbaut: ITS-5G.
Das „Handelsblatt“ berichtete am 2. Juli unter der Überschrift „Kampf um die Daten im Auto“, dass es innerhalb der Bundesregierung unterschiedliche Auffassungen gibt und die Bundesregierung dem Vorschlag der Kommission letztendlich nicht zugestimmt hat und wir dadurch erst mal keinen Standard haben. Ich frage Sie: Was ist die Begründung der Bundesregierung gewesen? Wenn Scheuer und Altmaier sich streiten, dann entscheidet das Kanzleramt. Was hat Sie dazu bewogen, hier Nein zu sagen?
Also, den Vorgang haben Sie im Grunde richtig beschrieben. Die Kommission hat gesagt: Der WLAN-Standard ist heute fix und fertig ausgebaut, und er ist auch weitgehend standardisiert. Deshalb hat sie vorgeschlagen, dass wir diesen als Grundlage für die Car-to-Car-Kommunikation nehmen. Wir sehen, dass in großen Märkten wie in China das alles auf 5G-Technologie, also Mobilfunktechnologie, und nicht auf WLAN basiert. Wir haben in allen unseren Vorhaben, Deutschland zum Leitmarkt für 5G zu machen, auch immer das Ziel verfolgt: Autonomes Fahren wollen wir über 5G-Technologie realisieren. Deshalb war die Frage, die wir zu beantworten hatten: Stimmt es, dass, wenn wir uns auf WLAN im Sinne der Kommission festlegen, das in Zukunft problemlos in 5G überführt werden kann, oder führt es zu einer dauerhaften Doppelstruktur? Und bis die Einspruchsfrist der Kommission verstrichen war, konnte diese Frage nicht abschließend geklärt werden. Es bestand die Gefahr, dass wir durch diese Entscheidung entweder langfristig auf 5G beim autonomen Fahren verzichten müssen oder langfristig eine Doppelstruktur aufbauen. Das hielten wir für nicht verantwortbar. Deshalb hat sich die Bundesregierung insgesamt entschieden, an diesem Punkt der Kommission nicht zu folgen.
Herr Kollege, Nachfrage?
Herr Bundesminister, halten Sie das Argument einer Doppelstruktur für überzeugend? Dieses kleine Gerät, das ich Ihnen zeige, haben wahrscheinlich alle von uns. Und dieses Gerät, ohne dass ich irgendwie Einfluss darauf nehmen muss, wählt automatisch Mobilfunk, WLAN, DECT, Bluetooth und vielleicht noch ein paar Standards aus. Der Wechsel zu unterschiedlichen Systemen ist heute eigentlich Stand der Technik. Es wäre vielleicht auch sinnvoll, dass Autos, die unterwegs sind, nicht nur vom Mobilfunk abhängig sind. Stellen Sie sich eine kritische Situation vor, und Ihr Auto hört die Antwort: „Kein Anschluss unter dieser Nummer“ oder „Dieser Anschluss ist vorübergehend nicht erreichbar“. Wäre es nicht besser, auch aus Gründen der Verkehrssicherheit, hier redundante Systeme zu haben?
Redundante Systeme, sicher. Aber es geht nicht nur um die Infrastruktur im Auto, sondern es geht auch um die intelligente Infrastruktur auf der Straße, also die Ausleuchtung. WLAN-Technologie zusätzlich zur Mobilfunktechnologie auszubauen, halten wir für nicht zielführend. Wir wollen flächendeckend 5G in Deutschland. Das ist unser Ausbauziel für die Infrastruktur, und darauf wollen wir auch das autonome Fahren ausrichten.
Danke sehr. – Oliver Luksic, FDP, stellt die nächste Frage.
Herr Minister Braun, da wir gerade beim Thema Verkehr sind, muss ich die Maut ansprechen, da dieser Tage in den Medien zu lesen war, dass im Rahmen der sogenannten Aufklärungsgespräche auch das Kanzleramt in das Thema „Vergabe der Infrastrukturabgabe“ involviert war. Am 23. Mai soll es ein Treffen auch mit Ihrer Beteiligung gegeben haben. Anscheinend ging es um den Standort der Firma. Hier war wohl der Osten vor dem Hintergrund der Kohlekommission im Gespräch. Abgesehen von dem Treffen, interessiert mich vor allem die Frage, wie Sie denn generell in diesen Vergabeprozess involviert waren. Ende letzten Jahres hat sich einer von vier Betreibern herauskristallisiert. Dabei ist ein Vertrag herausgekommen, der für die Bundesrepublik Deutschland alles andere als gut war. Am 19. Dezember gab es dazu eine Pressemitteilung. Deswegen meine Frage: Wie war das Kanzleramt, wie waren Sie in diesen Prozess involviert?
Am 23. Mai – das haben Sie richtig gesagt – habe ich mich mit Andi Scheuer und den zukünftigen Betreibern in meinem Büro getroffen. Das hatte den Hintergrund, dass ich zu diesem Zeitpunkt dabei war, das Strukturstärkungsgesetz zu koordinieren, und in intensiven Gesprächen mit den Chefs der Staatskanzleien war über die Frage: Wie können wir nicht nur Behörden in die Braunkohleregionen bringen – das haben wir ja versprochen –, sondern wie können wir auch Unternehmen in die Braunkohleregionen bringen? Andreas Scheuer hat mich angesprochen und gesagt, dass eine Möglichkeit wäre, dass die Unternehmen die Administration für die Maut in die Lausitz bringen. Das hat mich sehr interessiert. Die Frage, welche Gelingensbedingungen nötig sind, welches Arbeitskräftepotenzial und welche Liegenschaft man vor Ort braucht, hat mich sehr interessiert. Deshalb habe ich dann alle zu mir eingeladen. Wir haben über die Frage, ob man das in einer ländlichen Region, einer solch strukturschwachen Region, kurzfristig realisieren kann, gesprochen. Das war der Gesprächsgegenstand. Darüber hinaus war ich nicht eingebunden.
Nachfrage?
Ja. – Dass Sie bei dem ganzen Thema generell nicht eingebunden waren, ist interessant. – Mich interessiert vor allem, warum es zu diesen, aber auch zu anderen Aufklärungsgesprächen keine Vermerke gibt; denn das ist meines Erachtens nicht die gängige Praxis eines Ministeriums. Mich interessiert die Frage, ob Sie die rechtliche Auffassung des BMVI – Sie sagen, zu diesen, aber auch zu anderen Gesprächen müsste es rechtlich gesehen keine Notizen und Vermerke geben – oder aber die Auffassung des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages teilen, der mir in einem Gutachten aufgeschrieben hat, dass es laut § 8 der Vergabeverordnung über solche relevanten Gespräche – also nicht nur das Ihre –, wo es über grundlegende Fragen von Vergaben geht, Vermerke geben muss, um das ex post durch Rechnungshof oder andere kontrollieren zu können. Was ist Ihre Rechtsauffassung? Muss so was dokumentiert werden oder nicht?
Was Gespräche angeht, gibt es einen exekutiven Bereich der Eigenverantwortung einer Bundesregierung. Wir geben ja grundsätzlich nicht über alle Gespräche, die wir führen, Auskunft. Das ist wesentlich; denn wenn ein Gesprächsgast den Eindruck hat, dass alles, was gesprochen wird, grundsätzlich öffentlich wird – stellen Sie sich das mal bei ausländischen Staatsgästen vor –, wäre ein vertrauliches Gespräch ja gar nicht möglich. Da kann man zwischen dem einen oder anderen externen Gast aus meiner Sicht gar nicht beliebig unterscheiden. Deshalb gibt es diesen Bereich der exekutiven Eigenverantwortung. Innerhalb dieses Bereiches ist es auch eine Frage der Selbstorganisation, wie und in welchem Umfang man darüber Aufzeichnungen führt.
Maik Beermann, CDU/CSU, stellt die nächste Frage.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrter Herr Bundesminister, ich möchte gerne zu dem Bereich zurückkommen, zu dem Sie vorgetragen haben, nämlich dem Bereich der Digitalisierung.
Wir haben ein Digitalisierungskabinett, wir haben einen Digitalisierungsrat. Dort werden wichtige und kluge Beschlüsse für die Zukunft unseres Landes gefasst. Ich habe nur eine Bitte, bzw. ich vermisse vielleicht etwas. Das betrifft das Thema Transparenz. Ich würde gerne rechtzeitig über gewisse Entscheidungen oder Gespräche oder gewisse Strukturen, die man angehen möchte, informiert werden und stelle daher die Frage: Gibt es möglicherweise bereits Ideen oder vielleicht auch konkrete Projekte, um diese Transparenz für dieses Haus und auch darüber hinaus zu gewährleisten?
Vielen Dank. – Quasi das erste Instrument für die Transparenz über unsere Umsetzungsstrategie ist ja die Fortschreibung der Umsetzungsstrategie selbst, die wir jetzt sehr regelmäßig durchführen. Trotzdem hat diese natürlich ein Manko: Früher hat man so was alle zwei, drei Jahre fortgeschrieben, manches nur alle vier Jahre, wir machen es jetzt ungefähr alle Vierteljahre; das ist schon sehr schnell, aber es ist trotzdem nur punktuell.
Deshalb ist Dorothee Bär, unsere Staatsministerin für Digitalisierung, momentan sehr intensiv dabei, dafür zu sorgen, dass wir ein System aufbauen, mit dem wir diejenigen Digitalisierungsthemen, die man skalieren kann, die also sozusagen zahlenmäßig erfassbar sind, in den Blick nehmen. Das betrifft zum Beispiel diese 575 Verwaltungsleistungen. Das ist mal eine Zahl. Da kann man fragen: Wie viele sind davon schon digitalisiert? Wie viele noch nicht? In welchem Stadium befindet sich das? Oder wenn wir über KI nachdenken: Da gibt es die Zahl 100 KI-Professoren. Da können wir fragen: Wie viele Stellen haben wir schon ausgeschrieben? Wie viele arbeiten schon? Das sind ja alles Dinge, die man in Zahlen darstellen kann.
Wir als Bundesregierung wollen auch da modern sein. Deshalb wollen wir auch nicht, dass Sie jedes Mal eine parlamentarische Anfrage stellen müssen, um so etwas herauszufinden. Vielmehr werden wir so etwas interaktiv digital darstellen. Das wird im Rahmen unserer Kabinettsklausur im November hoffentlich das Licht der Welt erblicken. Ein sogenanntes Dashboard – so nennt man das neudeutsch – soll diese Skaleneffekte sichtbar machen und zeigen, wie wir vorankommen, damit Sie alle sehen: Da ist noch nichts passiert; da ist viel passiert. – Das ist, glaube ich, eine Neuerung in der deutschen Politik, die uns guttut. Weil wir das gut finden und weil viele Minister gesagt haben: „Das ist, finden wir, ein interessanter Ansatz“, wollen wir es auch nicht auf Digitalthemen beschränken.
Herr Bundesminister.
Vielmehr würden wir, Herr Präsident, wenn ein anderer Minister ein Thema hat, das im Ergebnis skalierbar ist, dieses auch für ihn öffnen.
Wenn die Uhr Rot zeigt, signalisiert Ihnen das eigentlich, dass die Redezeit abgelaufen ist. – Sie, Herr Beermann, möchten keine Nachfrage stellen. – Dann stellt die Kollegin Ingrid Remmers, Die Linke, die nächste Frage.
Herr Minister, die Frage, die ich Ihnen stellen wollte, hat der Kollege Luksic bereits gestellt, und wir haben ja auch gesehen, dass Sie auf diese Frage gut vorbereitet waren. Deswegen verzichte ich auf meine ursprüngliche Frage, möchte aber trotzdem noch zwei vertiefende Fragen zu der Materie stellen. Sie haben dargestellt, dass es nicht so ungewöhnlich ist, nicht jedes Gespräch zu dokumentieren. Die Vergabe der Maut war ja nun kein ganz kleines Projekt in Deutschland, und es war von Anfang an ein höchst umstrittenes Projekt einschließlich der unterschiedlichen Schritte, die hier gegangen worden sind. Ich möchte dazu doch noch mal wissen, ob es aus Ihrer Sicht angemessen ist, dass eine ganze Reihe von Gesprächen, die geführt wurden, eben nicht dokumentiert worden sind; das ist die eine Frage.
Die andere Frage lautet: Haben Sie denn irgendwelche Kenntnisse darüber, was Gegenstand der anderen Gespräche gewesen ist? Ist das vermeintlich genauso wichtig oder eher nicht so wichtig gewesen? Oder sind das Kanzleramt und das Verkehrsministerium gar nicht informiert über diese Treffen?
Diese Treffen finden ja, soweit es nicht um das eine geht, bei dem ich beteiligt war, in der jeweiligen Ressortverantwortung und damit in der exekutiven Eigenverantwortung des Ressorts statt. Insofern habe ich meiner Antwort von eben nichts hinzuzufügen.
Dann hat die nächste Frage die Kollegin Dr. Anna Christmann, Bündnis 90/Die Grünen.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrter Herr Minister, Sie haben ja zum Digitalkabinett vorgetragen. Was wir sehr begrüßen, ist, dass offenbar ein Fortschritt in der Koordinierung da ist. Allein: Bei der Umsetzung kann man die Ergebnisse noch nicht erkennen. Sie haben ja das Beispiel der IT-Konsolidierung genannt. Da hat Ihnen der Rechnungshof im Mai ja ein sehr desaströses Zeugnis ausgestellt. Es hieß, wenn sich nicht substanziell etwas ändere, dann drohe das Projekt zu scheitern, seit 2018 sei eigentlich überhaupt kein Fortschritt mehr zu erkennen. Deswegen möchte ich Sie fragen: Ist jetzt die Antwort darauf ein neues Gremium, ein IT-Rat, der erst seine Arbeit aufnehmen muss, und glauben Sie, dass es mit dieser Governance-Struktur realistisch ist, den Zeitplan, der ja eigentlich vorgegeben ist, einzuhalten und das Ganze bis 2023 bzw. bis 2025 wirklich abzuschließen?
Um hinten anzufangen: Ja, ich glaube, mit unserer neuen Governance-Struktur werden wir das erreichen. Wir sind dem Bundesrechnungshof für seine Expertise auch sehr dankbar. Die Analyse, dass wir da Veränderungen vornehmen müssen, hatten wir auch schon vor dem Bundesrechnungshofbericht. Aber er hat das sehr minutiös aufgearbeitet, und deshalb war das, was wir da an Expertise bekommen haben, auch noch mal hilfreich, um zu überlegen: Wie bauen wir das alles neu auf?
Die oberste Governance-Ebene ist der IT-Rat. Den gibt es. Das ist unser höchstes Steuerungsgremium unterhalb des Digitalkabinetts, also auf der Ebene der Staatssekretäre, und ich selber habe dort den Vorsitz übernommen. Der wird in Zukunft sozusagen Auftraggebereigenschaft für die IT-Konsolidierung haben. Wir wollen eine Organisations- und Administrationsebene herausnehmen und klarere Zuständigkeiten treffen, was die Minister und Ministerien angeht. Ganz fertig sind wir noch nicht. Deshalb: Viel detaillierter kann ich es Ihnen heute noch nicht darstellen; aber Ende Oktober werden wir dann im Bundestag ausführlich über die Neuaufstellung informieren.
Nachfrage?
Ja, vielen Dank. – Das hat mich jetzt noch nicht so ganz überzeugt, weil das aus meiner Sicht wieder eine allgemeine Formulierung von verschiedenen Zuständigkeiten war. Halten Sie es denn eigentlich für verantwortbar, in so einem wichtigen Bereich wie der IT-Ausstattung des Bundes so einen langfristigen Zeitplan anzustreben, wenn doch daran ganz wesentliche IT-Sicherheitsfragen hängen, wie wir ja auch bei unterschiedlichsten Hackerangriffen in der letzten Zeit beobachten konnten? Wie schätzen Sie denn die aktuelle Lage in der IT-Sicherheit ein, und was glauben Sie, wie schnell dieses Gremium vorankommen wird, um die Probleme zu beseitigen?
Es gibt aus meiner Sicht einen Grundsatz, den wir in der Vergangenheit anders gehandhabt haben, was nicht richtig war, nämlich IT-Projekte viel zu lange laufen zu lassen, sodass sie sich technologisch während der Laufzeit selbst überholen. Das führt immer zum Nachsteuern und letzten Endes zu Problemen. Deshalb finde ich es ganz wichtig, dass man zunächst mal sehr klar definiert, was man in einem Zeitraum von bis zu drei Jahren erreichen kann. Das ist immer die Grundlage für ein gutes IT-Projekt. So weiß man sicher, dass man danach, in einer neuen technologischen Phase, fragen kann: Wenn wir das Projekt heute machen würden, was würden wir anders machen? – Deshalb müssen wir in solchen Zeiträumen denken.
Danke sehr. – Die nächste Frage stellt der Kollege Brandner, AfD.
Vielen Dank. – Wir befinden uns im 30. Jahr der Friedlichen Revolution, also des Volksaufstandes gegen die roten Sozialisten der SED. Eng verquickt mit der SED war der Staatssicherheitsdienst der ehemaligen DDR, der Schwert und Schild der Partei der SED gewesen ist. Meine Frage zu diesem Komplex in Bezug auf die Bundesregierung: Wann, wie, zu wem und mit welchem Ergebnis hat die Bundesregierung seit der Wiedervereinigung 1990 Erkundigungen zu ihren Mitgliedern im Hinblick auf eine mögliche aktive Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit der ehemaligen DDR oder der Politischen Polizei – Stichwort „K1“ – eingeholt?
Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen das schriftlich nachreichen. Meiner Erinnerung nach gab es so etwas in der Zeit nach der Wende relativ intensiv. In den letzten Jahren hat es keine große Rolle mehr gespielt. Die Frage können wir Ihnen aber gerne noch einmal beantworten.
Eine Nachfrage? – Mich würde auf der Tatsachengrundlage, die Sie haben, interessieren: Wie können Sie als Bundesregierung ausschließen, dass Mitglieder der Bundesregierung als offizielle oder inoffizielle Mitarbeiter mit dem Staatssicherheitsdienst der ehemaligen DDR oder der Politischen Polizei, K1, aktiv zusammengearbeitet haben?
Das würde ich Ihnen im Kontext der schriftlichen Beantwortung der ersten Frage mitliefern.
({0})
Das ist jetzt nicht besonders gehaltreich als Antwort. Aber ich vertraue auf Ihre schriftliche Zuarbeit.
Wenn Sie zu Themen Fragen stellen, die in den letzten zwei, drei Jahren keine praktische Relevanz gehabt haben, dann können Sie akzeptieren, dass wir in den Archiven kramen und dies keine Themen sind, die ich Ihnen aus dem Kopf beantworten kann.
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Herr Kollege Brandner, Sie müssten einen Kollegen in Ihrer Fraktion finden, der eine Nachfrage stellt. Dann könnten wir das noch ein wenig fortsetzen. Sie dürfen nach den Regeln nicht mehr fragen.
Im Übrigen hatten wir ein geregeltes Verfahren, wie diese Informationen im Rahmen der Stasiunterlagenbehörde zur Verfügung gestellt werden können. Ausschließen, wenn Sie mir diese Bemerkung unter Juristen erlauben, kann man etwas nie ganz sicher. Aber es gilt immer die umgekehrte Beweislast.
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Die nächste Frage stellt die Kollegin Saskia Esken, SPD.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Bundesminister, kehren wir zum Thema „IT und Sicherheit“ zurück. Es gibt die Eckpunkte der BNetzA vom März, nach denen Systeme nur von vertrauenswürdigen Lieferanten bezogen werden dürfen, die nationale Sicherheitsbestimmungen sowie Bestimmungen zum Fernmeldegeheimnis und zum Datenschutz zweifelsfrei einhalten. Es geht hier um 5G-Komponenten. Es geht um die wichtige Grundlage der Sicherheit unserer Kommunikation. Dabei geht es nicht nur um private Messages, die wir hin- und herschicken. Es geht vor allem um die Sicherheit des öffentlichen Lebens; denn wir hängen mittlerweile durchaus davon ab. Wir hatten gerade schon das Thema „Car2Car- und Car2X-Kommunikation“, die auf Grundlage dessen stattfinden soll.
Jetzt ist die Vorgabe der BNetzA aber durch das BMWi abgeschwächt worden auf eine Verpflichtungserklärung. Ich würde gerne wissen, wie Sie die Aussagekräftigkeit und Vertrauenswürdigkeit solcher Verpflichtungserklärungen einschätzen, auch vor dem Hintergrund, dass Huawei bereits erklärt hat, jedwede Verpflichtungserklärung zu unterschreiben. Dabei ist zu sagen, dass sich das Unternehmen ohnehin in Konflikt zum chinesischen Recht befindet und die Vertrauenswürdigkeit durch eine Verpflichtungserklärung auch vonseiten des chinesischen Staates schwierig ist.
Sie müssen zum Schluss kommen.
Inwieweit können wir auf der Grundlage solcher Verpflichtungserklärungen die Vertrauenswürdigkeit gewährleisten?
Vielen Dank. – Die Berichterstattung darüber, die in den letzten zwei Tagen erfolgt ist, ist nicht zutreffend. Es ist so, dass es im März Eckpunkte für die Sicherheitsvorschriften gab, die gestern veröffentlicht worden sind. Eine Abschwächung hat es nicht gegeben. Die Irritation ist dadurch entstanden, dass eine etwas vereinfachte Formulierung in der Presseerklärung stand. Die Eckpunkte selber sind identisch mit dem, was wir jetzt beschlossen haben. Das muss auch so sein; denn die Sicherheit unserer Kommunikation liegt uns natürlich sehr am Herzen.
Im Hinblick auf 5G und neue Technologien stehen wir vor Riesenherausforderungen, und zwar in mehrerlei Hinsicht. Zum einen ist eine besonders hohe Verschlüsselung nötig, zum anderen eine dezentrale Infrastruktur mit sehr komplexer Technologie. Die Bundesregierung hat sich dafür ausgesprochen, die Sicherheitsanforderungen erheblich anzuheben. Die Bundesnetzagentur setzt die entsprechenden Sicherheitskriterien um. Die Bundesregierung wird dann im Frühjahr dem Bundestag eine neue TKG-Novelle vorlegen, mit der die Sicherheitsstandards deutlich angehoben werden sollen.
Nachfrage?
Dann bin ich beruhigt. – Ich würde gerne von Ihnen noch wissen, wie eine Zertifizierung aussehen könnte. Ist tatsächlich vorgesehen, dass fortlaufende Quellcodeoffenlegung, Überprüfung der Hardware und offene Standards eingefordert werden, und wie passt dieser komplexe Prozess mit dem vorgesehenen 5G-Ausbau zusammen? Wie bekommen wir es hin, dass durch Forschungsförderung und sonstige Unterstützung des Unternehmens Huawei durch den chinesischen Staat keine Wettbewerbsverzerrung entsteht? Inwieweit können wir sicherstellen, dass auch europäische Unternehmen wie Nokia oder Ericsson weiter am Markt bleiben, damit wir in unserer Infrastruktur unabhängig sind?
Das wesentliche Element in den Sicherheitsanforderungen ist, dass wir Diversifikation einfordern. Wir gehen davon aus, dass es immer sein kann, dass ein Anbieter – welcher auch immer das ist – nicht vertrauenswürdig ist. Ein TK-Unternehmen muss dann in der Lage sein, ihn aus seinen Netzen herauszulösen. Deshalb ist ein diversifiziertes Netz das Allerwichtigste.
Die Verpflichtungserklärungen sind keine Erklärungen, die ohne jede Kontrolle bleiben. Dahinter stehen auch Pflichten, die die Unternehmen zu erfüllen haben. Gerade mit dem nächsten IT-Sicherheitsgesetz wollen wir Standards setzen, damit das BSI in die Lage versetzt wird, die Einhaltung von Sicherheitsmaßnahmen zu überprüfen.
Die nächste Frage stellt der Kollege Manuel Höferlin, FDP.
Danke schön, Herr Präsident. – Herr Minister Braun, Sie haben im Juli 2018 den Vorsitz des IT-Rates übernommen, der sich um die strategische Steuerung der Digitalisierung in der Bundesverwaltung kümmert. Die IT-Konsolidierung ist dabei das Megaprojekt, das angegangen wird. Sie haben davon berichtet, dass die Projektsteuerung vom IT-Rat übernommen wird. Nun ist bekannt geworden, dass die IT-Konsolidierung deutlich teurer wird als ursprünglich geplant. Hinzu kommen zahlreiche ungelöste Probleme bei der IT-Konsolidierung, die sich schon über Jahre hinwegziehen. Man kann also sagen, dass die IT-Konsolidierung mit 2,5 Milliarden Euro Mehrkosten der digitale BER zu werden droht. Meine Frage an Sie: Wer ist für die Kostensteigerung verantwortlich, und warum ist die Kostenexplosion erst so spät aufgefallen? Ist das beim Controlling aufgefallen? Gibt es überhaupt ein Controlling, zum Beispiel in Ihrem Haus, das ja die Koordination der Digitalisierung übernimmt?
Im Grunde genommen ist Ihre Frage schon die Antwort. Tatsache ist, dass wir 2018 die entsprechenden Strukturen eingerichtet haben. Das hat im ersten Schritt dazu geführt, dass wir festgestellt haben, dass die derzeitige Kostenschätzung nicht realistisch ist. Man ging zum Beispiel ursprünglich von der Annahme aus, dass beim Übergang hin zu einer zentralen IT-Verwaltung kein zusätzliches Personal gebraucht wird. Aber das ist nicht realistisch bei einem solchen Prozess. Aufgrund dieser und sehr vielen anderen Erkenntnissen haben wir im Jahr 2018 beschlossen, dass wir eine neue Kostenschätzung brauchen. Das war das Ergebnis unseres Controllings. Wir haben dann, als wir versucht haben, das Projekt zu beschleunigen, auch gemerkt, dass die geplante Governance-Struktur ungeeignet ist. Deshalb setzen wir die Struktur jetzt anders auf.
Insofern würde ich sagen: Die bisherigen Strukturen haben sich bewährt; denn durch sie haben wir die Probleme erkannt und handeln jetzt entsprechend. In der neuen Projektstruktur wird das externe Controlling sicherlich noch einmal stärker ausgeformt, als das bisher der Fall ist, um den Erfolg und die zeitlichen Abfolgen etwas kleinteiliger steuern zu können.
Nachfrage?
Ja, vielen Dank. – Ich verstehe Ihre Antwort so, dass dem Kanzleramt die Missplanungen im Innenministerium und im Finanzministerium aufgefallen sind. Das ist sehr beruhigend für uns. Ich würde gerne wissen, wie groß bei Ihnen im Kanzleramt der Stab für das Projekt IT-Konsolidierung ist, ob ein Aufwuchs erforderlich ist, um eine Kontrolle und Koordination über den IT-Rat gewährleisten zu können, und welche Kosten dafür anfallen könnten.
Wie gesagt, das Konzept steht endgültig erst Ende Oktober. Deshalb können wir das noch nicht ganz präzise sagen. Grundsätzlich ist aber zu sagen, dass wir mit der Regierungsbildung die Geschäftsstelle für den IT-Rat im Bundeskanzleramt angesiedelt haben. Sie übernimmt für uns im Wesentlichen die Koordinierungsarbeit. Ich gehe davon aus, dass wir für das Controlling eine geringe Anzahl an Mitarbeitern brauchen, irgendetwas zwischen einem und fünf. Das sind aber nicht zwingend alles neue Stellen; denn die Stellen gibt es ja schon innerhalb der bisherigen Struktur, sie sind nur in unterschiedlichen Ministerien angesiedelt. Wir werden einen Vorschlag unterbreiten, wo diese Stellen in Zukunft angesiedelt werden. Vieles ist schon vorhanden und wird nur entsprechend den neuen Zuständigkeiten neu zugeordnet.
Danke sehr. – Tankred Schipanski, CDU/CSU, stellt die nächste Frage.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, Sie haben die KI-Strategie der Bundesregierung angesprochen. Nun sind wesentliche Teile – das gilt insbesondere für die sechs angekündigten KI-Transferzentren – noch nicht umgesetzt. Von daher würde mich interessieren, wer das in der Bundesregierung koordiniert, insbesondere wer das Monitoring dazu betreibt.
Gerade haben Sie eine neue Strategie, eine Datenstrategie, angekündigt. Mich würde interessieren, wer diese Strategie in der Bundesregierung koordiniert und wer diesbezüglich das Monitoring betreibt.
Im Bereich KI-Strategie haben wir eine dreifache Federführung aus dem Wirtschaftsministerium, dem Arbeitsministerium und dem Forschungsministerium. Diese Ministerien haben die KI-Strategie zusammen erstellt und betreiben auch das Monitoring.
Die Erarbeitung der Datenstrategie ist momentan im Kanzleramt angesiedelt. Das machen also wir. Wir haben nämlich festgestellt, dass es kein Ministerium gibt, das bei diesem Thema nicht involviert ist. Alle Ministerien sind davon betroffen. Deshalb bereiten wir die Strategie jetzt vor. Das heißt aber nicht, dass sie an dem Punkt schon endgültig ist. Es kann auch sein, dass das Kanzleramt diese Aufgabe irgendwann an Fachministerien abgibt, weil wir in aller Regel nicht so operativ arbeiten; aber die Vorbereitungen laufen momentan bei uns.
Dürfen wir eine Nachfrage stellen, Herr Präsident?
Bitte.
Bei der KI-Strategie hatten wir eine sehr umfangreiche öffentliche Beteiligung, auch eine Parlamentsbeteiligung. Wie wird denn sichergestellt, dass das auch bei der Datenstrategie der Fall ist? Gibt es schon Pläne, wie das Ganze erarbeitet werden soll, insbesondere auf welche Weise die Erkenntnisse des Parlaments in die Strategie einfließen?
Ich fand die Erarbeitung der KI-Strategie wirklich mustergültig. Wir haben zuerst Eckpunkte beschlossen und dann einen sehr aktiven längeren Beteiligungsprozess betrieben, der über das hinausging, was wir aus dem klassischen Gesetzgebungsverfahren mit Bund- und Länderanhörungen kennen.
Ich glaube, dass dieses Vorgehen auch bei der Datenstrategie gut ist, weil es sich auch dabei um ein komplexes Thema handelt. So können wir sehr viele Leute im Vorfeld der Erarbeitung einbeziehen. Wir haben ja gesehen, dass wir allein über die Onlinebeteiligung zum Thema KI-Strategie – neben den Workshops und allem anderen – über 1 000 Eingaben erhalten haben, teilweise auch von Fachleuten. Ich glaube, deshalb war die KI-Strategie am Schluss deutlich besser als die anfänglichen Eckpunkte. Das ist, finde ich, ein guter Grund, bei der Datenstrategie ähnlich zu verfahren. Dieser Weg dauert natürlich länger. Deswegen hängt das auch ein bisschen davon ab, wie viel Zeit wir uns nehmen.
Danke sehr. – Die nächste Frage stellt die Kollegin Anke Domscheit-Berg, Die Linke.
Vielen Dank. – Meine Frage bezieht sich auf die Position des Kanzleramtes zu den langfristigen Folgen der Digitalisierung, namentlich zwei.
Erstens. Inwieweit verändern sich die sozialen Sicherungssysteme bzw. inwieweit müssen sie neu aufgestellt werden, weil die Lohnquote nachweislich sinkt, was sich weiter fortsetzen wird, weil weniger Wertschöpfung über die Löhne an die Menschen verteilt wird? Roboter und Software zahlen bekanntlich keine Sozialbeiträge, gleichzeitig werden Menschen aber immer noch alt und krank. Also, wie werden die sozialen Sicherungssysteme langfristig abgesichert und künftig gestaltet?
Zweitens. Wie geht man mit der vermutlich dramatischen Umgestaltung der Arbeitsmärkte um, damit, dass viele Arbeitsplätze wegfallen werden? In Pi mal Daumen 20 Jahren werden wahrscheinlich die 800 000 existierenden Arbeitsplätze für Berufskraftfahrer und die Arbeitsplätze für Fahrschullehrerinnen und Fahrschullehrer weggefallen sein.
Ich würde gerne wissen: Gibt es im Kanzleramt eine Abteilung, einen Stab, ein Team, wo man sich mit diesen langfristigen Folgen beschäftigt, damit es nicht wieder, wie nach dem ja nicht vorhersehbaren Mauerfall, einen so dramatischen Zusammenbruch der Arbeitsmärkte mit seinen langfristigen Folgen für die Menschen geben wird?
Frau Kollegin, zunächst einmal: Im Bundesministerium für Arbeit und Soziales gibt es eine Denkfabrik zum Arbeiten 4.0. Dort werden alle Fragen im Zusammenhang mit der Veränderung unserer Arbeitswelt sehr intensiv aufgegriffen. Schon in der letzten Legislaturperiode hat die Bundesregierung ein Weißbuch zu diesem Thema vorgelegt.
Ich glaube im Übrigen, dass die Grundthese, dass Deutschland durch die Digitalisierung massiv Arbeitsplätze verlieren wird, nicht richtig ist. Der Koalitionsvertrag der diese Koalition tragenden Parteien spricht auch eine andere Sprache. Wir wollen die Digitalisierung zu einem Jobmotor machen, und zwar nicht nur für die Höchstqualifizierten, aber für die auch. Wenn Sie zum Beispiel nach München fahren und sich dort einmal die KI-Robotik-Forschung angucken, dann wissen Sie, dass deren Ziel es ist, dass ein Industrieroboter, den heute ein hochqualifizierter Facharbeiter erst nach Wochen programmieren kann, eines Tages so leicht zu bedienen ist wie ein Smartphone, das jeder Einzelne von uns hat. Es geht also um eine intuitive Bedienung auch von Industriemaschinen. Das macht Hoffnung, dass wir in Deutschland durch die Digitalisierung nicht Arbeitsplätze verlieren, sondern in allen Segmenten auch Arbeitsplätze aufbauen werden. Natürlich bleibt die Qualifizierung eine Herausforderung. Aber dafür sind wir mit der Nationalen Weiterbildungsstrategie auf einem guten Weg.
Nachfrage?
Ich verstehe, dass man Probleme gerne ausblendet, wenn man nicht weiß, wie man sie lösen soll. Mir ist aber völlig unerklärlich, wie man ignorieren kann, dass in 20 Jahren 800 000 Berufskraftfahrer auf der Straße stehen werden, und warum man sich nicht mit der Frage beschäftigt, was man mit denen macht. Ich kann sie doch nicht zu KI-Robotik-Bedienern umschulen; das wird vermutlich nicht klappen. Das Ganze wird in einem sehr kurzen Zeitraum stattfinden. Deswegen kann man diese Frage nicht verdrängen.
Ich glaube auch, dass neue Jobs entstehen werden. Das werden aber qualitativ und quantitativ völlig andere sein als heute. Wir haben im Osten wieder eine sehr geringe Arbeitslosigkeit; das war aber 25 Jahre lang anders. Die Verwerfungen, die da in einer Übergangsphase von 20 bis 30 Jahren entstehen, sind fundamental, sind riesig. Das kann man nicht verdrängen, auch nicht mit dem Argument, dass wir jetzt eh einen Fachkräftemangel haben.
Nein, das stimmt. Es geht um unterschiedliche Berufsgruppen, für die in Zukunft weniger Jobs vorhanden sein werden. Wir haben hier im Bundestag ein Gesetz verabschiedet, mit dem wir Langzeitarbeitslosen neue Chancen auf Beschäftigung bieten. Daneben haben wir die Nationale Weiterbildungsstrategie, mit der wir dafür sorgen, dass sich Menschen, die in Berufen tätig sind, die eine nicht so gute Zukunft haben, frühzeitig weiterbilden können. Der Gedanke ist, das Thema aufzugreifen, lange bevor Arbeitslosigkeit entsteht. Genau das sind die Antworten auf die Arbeitswelt im Zeitalter der Digitalisierung. Wir wollen es nicht zu diesem Umbruch kommen lassen, sondern sorgen dafür, dass jeder die Chance hat, sich so zu qualifizieren, dass er im Arbeitsprozess bleiben kann. Deutschland hat schon einmal gezeigt, in den 60er-Jahren, dass eine technologische Revolution, wenn sie hier in Hoch- und Spitzentechnologie umgesetzt wird, zu einem echten Jobmotor werden kann.
Danke sehr. – Luise Amtsberg, Bündnis 90/Die Grünen, stellt die nächste Frage.
Herr Minister, ich werde jetzt das Thema wechseln. Wir haben ja in den vergangenen zwei Wochen eine erstaunliche Wende des Bundesinnenministers in der Flüchtlings- und Asylpolitik in Europa wahrgenommen. Er hat nicht nur Bereitschaft signalisiert, ein Viertel der aus Seenot geretteten Menschen aufzunehmen, sondern möchte auch das Dublin-System überwinden. Das begrüßen wir als Grünenfraktion ausdrücklich. Wir nehmen aber auch wahr, dass das im Parlament hart umstritten ist. Von der Kanzlerin habe ich dazu nur sehr wenig gehört. Deshalb meine explizite Frage: Wie steht die Bundeskanzlerin zu diesen Vorstößen seitens des Bundesinnenministers, und wie wurde darüber im Kabinett – vorher und nachher – diskutiert?
Horst Seehofer hat im Kabinett über seine Gespräche, die er auf europäischer Ebene zur Seenotrettung geführt hat, informiert. In der Bundesregierung waren auch alle der Meinung, dass es gut ist, wenn wir bei der Seenotrettung nicht in jedem Einzelfall Diskussionen führen über die Frage: „Welches Land nimmt wie viele Flüchtlinge?“, sondern dass wir in dieser Frage eine Vereinbarung mit möglichst vielen Mitgliedstaaten bekommen. Deshalb haben wir Horst Seehofer auf diesem Weg unterstützt.
Nachfrage?
Ich habe natürlich eine Nachfrage dazu. In der vergangenen Woche hat der JI-Rat getagt. Es zeichnet sich in dieser Sache keine schnelle Lösung ab, was, denke ich, nachvollziehbar ist, weil in den vergangenen Jahren unter den europäischen Mitgliedstaaten viel Vertrauen kaputtgegangen ist. Auf der anderen Seite erleben wir – das wissen Sie sicher auch sehr gut – eine dramatische Situation in den Hotspots auf den griechischen Inseln, mit verschiedenen Eskalationen. Die hygienische Versorgung, aber auch die Beschulung und die Sicherheit vieler Kinder sind in diesen Hotspots nicht gewährleistet. Wenn Horst Seehofer sich mit seinem Vorschlag nicht durchsetzen sollte, wäre es dann nicht ein sinnvoller Schritt, zu versuchen, andere Wege zu gehen, um Vertrauen zu schaffen und beispielsweise Griechenland zu unterstützen, indem man zusätzlich Kinder aufnimmt oder den Familiennachzug doch wieder ermöglicht?
Wir haben im Deutschen Bundestag gerade eine Regelung zum Familiennachzug getroffen. Ich halte diese Regelung für gut.
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Danke sehr. – Die nächste Frage stellt der Kollege Petr Bystron, AfD.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Dr. Braun, ich habe am 16. April 2018 eine Frage an die Bundesregierung gestellt, die da lautet: „Wie heißt die Hauptstadt von Israel?“ In Klammern: Bitte antworten Sie mit einem Ortsnamen. – Also, Sie sehen, wir haben keine großen Erwartungen an die Bundesregierung. Wir stellen die Fragen so, dass zehnjährige Kinder sie beantworten können. Sie waren dazu trotzdem nicht in der Lage. Die Antwort war ausschweifend; es waren etwa 200 Wörter. Der Ortsname „Jerusalem“ oder „Westjerusalem“ kam nicht vor.
Seitdem sind anderthalb Jahre vergangen. Zahlreiche andere Staaten haben mittlerweile Westjerusalem als Hauptstadt anerkannt, darunter die USA und Russland. Die Bundesregierung hat das immer noch nicht gemacht. Stattdessen hat sie Druck auf Rumänien ausgeübt, Westjerusalem nicht anzuerkennen. Die Bundesregierung stimmt in der UNO regelmäßig gegen die Interessen Israels. Sie sieht untätig dabei zu, wie Stiftungen der Linken und der Grünen palästinensische Terroristen unterstützen.
({0})
Die Frage ist einfach: Wollen Sie mit dieser israelfeindlichen Politik weitermachen, oder wollen Sie Westjerusalem als Hauptstadt bald anerkennen?
Also, lieber Herr Kollege, ich will ehrlich sagen: So wenige Tage nach einem judenfeindlichen Angriff in Deutschland sich hier hinzustellen und die Bundesregierung als israelfeindlich zu bezeichnen,
({0})
obwohl es, glaube ich, gar keinen Zweifel daran geben kann, dass die enge Verbindung zwischen Deutschland und Israel für Deutschland Staatsräson ist, das erschüttert mich, ehrlich gesagt.
({1})
Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll.
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Jetzt können Sie gerne auf meine Frage antworten. Wenn Sie das nicht können und stattdessen hier versuchen, innenpolitisch zu spielen, dann helfe ich Ihnen.
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Wissen Sie, es nützt nichts, sich demonstrativ vor Synagogen zu stellen und so zu tun, als wären Sie israelfreundlich,
({1})
wenn Sie eine israelfeindliche Politik machen, sowohl außenpolitisch wie innenpolitisch.
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Die Bundesrepublik Deutschland macht alles andere als eine israelfeindliche Politik. Aber ich glaube, dass Sie gerade dabei sind, dieses sensible Thema für sich zu instrumentalisieren. Das finde ich mehr als unangemessen.
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Herr Kollege Kraft möchte eine Nachfrage stellen.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Wir sitzen heute hier in Berlin, weil der Bundestag einmal beschlossen hat – einige waren dabei –, dass Berlin die Hauptstadt von Deutschland ist und der Regierungssitz wieder nach Berlin zurückverlegt wird. Welches ist denn Ihrer Meinung nach das zuständige politische Gremium für die Frage, wo die Hauptstadt Israels zu verorten ist?
Ich glaube, der Antwort, die wir als Bundesregierung gegeben haben, brauchen wir an dieser Stelle nichts hinzuzufügen.
({0})
Die nächste Frage stellt die Kollegin Saskia Esken, SPD.
Herr Minister, ich habe eine Nachfrage, die sich an die Frage des Kollegen Schipanski anschließt. Wir beobachten mit einigem Interesse, dass sich das Kanzleramt mehr und mehr zum Digitalministerium dieser Regierung auswächst, nicht nur weil das Digitalkabinett wie jedes andere Kabinett dort beheimatet ist, sondern auch weil nicht wenige Projekte ins Kanzleramt umgezogen sind, und zwar alle Projekte, denen man eine besondere strategische Bedeutung zumisst. Ich würde gerne wissen – wie gesagt, anknüpfend an die Frage des Kollegen Schipanski –, wie Sie sich die Beteiligung des Parlaments an diesen Projekten vorstellen. Bei der KI-Strategie ist die Beteiligung der Fachöffentlichkeit tatsächlich sehr gut gelungen. Das Parlament war dagegen nicht beteiligt. Ähnlich ist es jetzt bei der Datenstrategie geplant. Das macht uns als Parlament natürlich in gewisser Weise Sorgen.
Es gibt einen gewissen Unterschied. Bei KI ist es so, dass das Parlament eine eigene Enquete-Kommission dazu hat. Deshalb haben wir zu Beginn der Legislaturperiode überlegt, was wir machen, ob wir das Ergebnis der Enquete-Kommission abwarten. Unsere Einschätzung war: Wenn wir das tun, dann vergeben wir viel Aktivität in dieser Legislaturperiode. Deshalb haben wir gesagt: Wir legen etwas vor, und im Lichte der Erkenntnisse und Ergebnisse im Deutschen Bundestag wird dann die KI-Strategie fortentwickelt. – Insofern führen die beiden Stränge am Ende wieder zusammen.
Bei der Datenstrategie stelle ich es mir insofern ähnlich vor, als dass ich denke, dass wir zunächst sozusagen ein Schnellboot brauchen, weil es im Datenbereich ein paar Dinge gibt, die wir unbedingt schnell angehen müssen. Trotzdem ist klar, dass wir, wie ich es schon zur Umsetzungsstrategie gesagt habe, mit unserer Datenstrategie nicht versuchen, etwas für die nächsten zehn Jahre vorherzusehen. Wir sind sehr gerne bereit – ich komme auch gerne in die zuständigen Bundestagsausschüsse –, darüber zu reden, wie wir zu einem gemeinsamen Prozess kommen, um auf der Grundlage dessen, was wir als ersten und schnellen Aufschlag vorlegen, mit dem Deutschen Bundestag gemeinsam an der Weiterentwicklung zu arbeiten. Schnelligkeit und breite Einbindung, das sind zwei Dinge, und sie sind beide wichtig. Wir müssen einen guten Kompromiss zwischen beidem finden.
Nachfrage?
Ja, bitte. – Es geht mir nicht um Schnelligkeit und auch nicht unbedingt darum, einen qualitativ hochwertigen Beitrag des Parlaments zu gewährleisten. Ich glaube, der wäre auch ohne Beratung in einer Enquete-Kommission möglich gewesen; denn wir haben Kompetenz im Parlament. Es geht natürlich vor allem um die verfassungsgemäße Funktion des Parlaments, die an der Stelle ausgeschaltet ist. Das bezieht sich auf die Umsetzungsstrategie und beispielsweise auf den OGP-Prozess, der von allen möglichen Gremien sehr eng begleitet wird, was ich auch begrüße, aber eben nicht vom Parlament. Wie sehen Sie die Rolle des Parlaments an dieser Stelle?
Wir werden das Parlament natürlich für alle Umsetzungsstrategien sehr brauchen; denn keine Umsetzungsstrategie gibt es umsonst, und es sind viele einzelne Umsetzungsschritte nötig. Ich habe es vorhin gesagt: Wir brauchen zum Beispiel Artikelgesetze für die Verwaltungsmodernisierung. Deshalb werden wir das Parlament in die jeweiligen Verfahren einbinden.
Wenn es im Vorfeld der Datenstrategie den Wunsch gibt, uns einen eigenen Beitrag zu liefern, dann bin ich gerne bereit, mit den zuständigen Bundestagsausschüssen darüber zu reden, wie wir das organisieren.
Danke sehr. – Die nächste Frage stellt der Kollege Frank Sitta, FDP.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Lieber Herr Minister, Sie haben in Ihrem Eingangsstatement bereits auf die Vielfalt an Themen, für die Sie verantwortlich sind, hingewiesen. Ich freue mich, dass Sie das Thema Digitalisierung dabei so herausgegriffen haben, weil es ein schöner, sicherlich unbewusster Einstieg in die „Smart Germany“-Parlamentswoche der Freien Demokraten ist, wo wir hier 25 Anträge mit Digitalbezug einbringen werden.
Bei verschiedenen anderen Fragen ist schon klar geworden, wie vielfältig die Aufgaben sind, die an Sie gestellt werden. Nach unserer Zählung sind innerhalb der Bundesregierung zurzeit 244 Teams, 76 Abteilungen und 14 Bundesministerien mit dem Thema Digitalisierung befasst. Koordiniert werden soll das vom Bundeskanzleramt, wo noch mit Rohrpost gearbeitet wird. Halten Sie, erstens, diesen Stab für die Vielfalt an Aufgaben für ausreichend? Und zweitens: Hat das Bundeskanzleramt den Bundesministerien einheitliche Leitlinien zur Digitalpolitik an die Hand gegeben, oder kann jedes Ministerium selbst darüber entscheiden?
Zunächst einmal finde ich die Zahlen, die Sie zusammengetragen haben, wirklich ermutigend, weil das zeigt, dass die Digitalisierung nicht etwas ist, was nur ein Klub in der Bundesregierung macht. Vielmehr sind alle unsere Ministerien Digitalministerien. Alle sitzen im Digitalkabinett und jeder schaut: „Wie verändert sich durch Digitalisierung die Welt in meinem Zuständigkeitsbereich?“, und das ist aus meiner Sicht richtig so. Es wäre falsch, zu glauben, dass ein Minister – egal wofür er zuständig ist – dieses Thema an einen anderen delegieren kann. Deshalb brauchen wir eine breite Struktur. Wir haben in der öffentlichen Debatte erlebt, dass die einen sagen: „Das ist schon wieder eine viel zu große Struktur, die ihr aufbaut“, während die anderen sagen: „Das ist ja viel zu wenig.“ Die Wahrheit ist: Eine Bundesregierung muss sich in ihrer ganzen Breite mit Digitalisierung beschäftigen, jedes Ministerium muss sich damit beschäftigen, und es ist die ureigene Aufgabe eines Kanzleramtes, das zu koordinieren.
Die Tatsache, dass wir mit der Staatsministerin für Digitalisierung im Kanzleramt jetzt auch ein Leitungsmitglied haben, das sich darum kümmert, ist ein riesengroßer Gewinn. Eben haben wir ja über Gründlichkeit und Schnelligkeit gesprochen. Das größte Problem, das die Bundesregierung im Digitalisierungsbereich bisher hatte, ist Geschwindigkeit. Die Tatsache, dass wir eine solche Koordinierung jetzt haben und mehr Leute, die sich darum kümmern, führt dazu, dass wir auch schneller werden, und das ist das Allerwichtigste für den Erfolg der Digitalisierung.
Vielen Dank. – Nachfrage?
Herr Minister, wir haben beide das Wort nicht ausgesprochen. Ich bitte Sie, noch einmal zu konkretisieren, ob Sie nicht der Meinung sind, dass ein federführendes Digitalministerium der bessere Weg wäre, um diese sehr wichtige Aufgabe für unser Land zu koordinieren. Ich würde Sie bitten, noch einmal zu bestätigen, dass Sie das nicht so sehen, vielleicht auch angesichts der Aussage oder Frage der Kollegin Esken, die ja auf die Kontrollfunktion des Parlaments zu Recht hingewiesen hat. Wenn es keinen begleitenden Fachausschuss gibt, wie es bei einem Digitalministerium der Fall wäre, ist es für uns als Parlamentarier nicht unbedingt eine schöne Situation, dass immer die Sachen direkt im Kanzleramt gesteuert werden. Da würde ich Sie noch einmal bitten, konkret zu sagen, wie Sie das sehen.
Also, so ganz ohne Gremien für Digitalpolitik sind wir auch nicht im Bundestag. Da gilt nach meiner Überzeugung das Gleiche: Dass wir Digitalfachpolitiker haben, ist genauso wichtig wie, dass sich die Fachpolitiker aller anderen Bereiche mit dem Thema befassen.
Die Frage, ob man ein Digitalministerium braucht oder nicht, ist für diese Legislaturperiode eine philosophische, weil die Ressortbildung abgeschlossen ist. Wie das eine zukünftige Bundesregierung sieht, dazu kann man verschiedene Ideen haben. Man kann auch ein Digitalministerium zuschneiden; das ist nichts, was man apodiktisch ausschließen sollte. Man sollte es aber nicht so machen, dass man sozusagen diejenigen, die heute Fachminister sind, ihrer Digitalkompetenzen beraubt und analoge Ministerien zurücklässt. Das würde ich nicht machen; das ist ganz wesentlich. Wenn diese Prämisse gegeben ist, dann kann man in einer neuen Legislaturperiode sehr breit überlegen – das ist aber nicht mehr Aufgabe dieser Bundesregierung.
Vielen Dank. – Michael Donth, CDU/CSU, stellt die nächste Frage.
Herr Minister, nochmals zum digitalen Bereich. Wir haben ja die 5G-Thematik aufgegriffen als ganz wichtiges Zukunftsthema für Mobilität, für Industrie, für unsere ganze zukünftige wirtschaftliche Entwicklung. Deshalb hat das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur am 15. Juli eine Förderrichtlinie mit dem Titel „5G- Innovationswettbewerb im Rahmen der 5x5G-Strategie“ gestartet. Gesucht werden Regionen, die hier vorangehen wollen, Ideen entwickeln wollen, die hier vernetzen wollen. Meine Frage nun: Können Sie schon etwas sagen, wie dieses Programm in der Fläche ankommt, wie die Resonanz seitens der Kommunen und Kreise ist, die hier Pionierregion werden wollen?
Wir haben bei 5x5G gleich am Anfang gemerkt, dass es unglaublich viele Regionen gibt, die daran Interesse haben, sodass klar war: Wenn wir bei fünf Regionen bleiben – das war einmal der Grundgedanke –, wird das schwierig. Insofern ist das Ganze auf zwei Calls ausgeweitet worden, sodass wir zusätzliche Regionen mit einer solchen Förderung bedenken können, was meines Erachtens auch gut ist, weil man da schon gemerkt hat, dass 5G in den Regionen sehr unterschiedlich ausgebaut werden muss. Die Fragen sind: Was ist wirtschaftlich? Was wird gebraucht? Kann das auch ein Infrastrukturbeitrag sein für die wirtschaftliche Belebung in strukturschwachen Regionen? Wir haben einen so breiten Reigen von Fragen, dass man, glaube ich, sagen kann: Das wird ganz sicher ein sehr erfolgreiches Projekt des BMVI.
Danke sehr. Nachfrage? – Herr Donth.
Vielen Dank. – Konkretisierend zu dem, was Sie zuletzt angesprochen haben, Herr Minister Braun: Ist es denn im Fokus der Bundesregierung, dass bei der Breitbandversorgung der ländliche Raum, der schon seither ganz andere Anforderungen als urbane Räume hat – er liegt mir in diesem Fall besonders am Herzen; ich glaube, in den Städten wird die Breitbandversorgung fast automatisch kommen –, eines besonderen Augenmerks bedarf?
Absolut. Wir haben dieses Thema ja auch in den Ergebnissen der Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ angesprochen. Anliegen der Bundesregierung ist, dass Breitbandversorgung nicht nur an Autobahnen und in Großstädten erfolgt, sondern flächendeckend.
Danke sehr. – Friedrich Straetmanns, Die Linke, stellt die nächste Frage.
Sehr geehrter Herr Minister, wie Sie wissen, tritt Die Linke schon seit Langem dafür ein, dass die Vorgänge rund um die Arbeit der Treuhand aufgedeckt und aufgeklärt werden. Sie wissen genauso gut wie wir, dass sich rund 306 Akten in den Ministerien zu diesen Vorgängen verhalten. Unsere Frage lautet daher: Beabsichtigt die Bundesregierung, diese Vorgänge der Öffentlichkeit, der Wissenschaft oder dem Bundestag direkt zur Verfügung zu stellen? Wenn ja, bis wann ist das vorgesehen? Alternativ: Wenn Sie es nicht vorhaben, aus welchen Gründen würden Sie diese Akten nicht den genannten Institutionen zur Verfügung stellen?
Die Anfrage nach Aktenfreigabe hat mich jedenfalls noch nicht erreicht. Insofern wäre das etwas, was ich erst prüfen müsste.
Gut. – Würden Sie sie freigeben, wenn Sie das jetzt spontan entscheiden müssten?
Das würde ich erst nach Prüfung entscheiden.
Das waren die Nachfrage und die erwartbare Antwort, Kollege Straetmanns.
({0})
Die letzte Frage in dieser Regierungsbefragung geht an die Kollegin Katharina Dröge, Bündnis 90/Die Grünen.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Mich würde die Haltung des Bundeskanzleramtes zur Frage der Rüstungsexporte an die Türkei interessieren. Wir hatten heute Morgen eine Diskussion dazu im Wirtschaftsausschuss mit dem Staatssekretär Bareiß, und er hat gesagt, dass die Aussage von Außenminister Maas, keine neuen Genehmigungen Deutschlands für Rüstungsgüter zu erteilen, die von der Türkei in Syrien eingesetzt würden, lediglich eine Meinungsäußerung des Außenministers sei. Deswegen wollte ich das Bundeskanzleramt fragen, wie denn die Position der Bundesregierung in dieser Frage ist.
Die Entwicklung in Syrien ist durch die Aktivitäten der Türkei momentan sehr volatil. Deshalb ist es für uns auch wichtig zu betonen, dass wir möchten, dass die Türkei möglichst umgehend die militärischen Handlungen dort einstellt. Das ist aus humanitärer Sicht eine wichtige Forderung. Aber wir haben auch große Sorgen, was die Destabilisierung in der Region, insbesondere der Lager, in denen jetzt IS-Kämpfer festgehalten werden, angeht. Es ist insgesamt eine sehr schwierige außenpolitische, aber auch humanitäre Situation. Wir reden jetzt sehr intensiv diplomatisch darüber – auch die Kanzlerin hat sehr lange mit Erdogan telefoniert –, dass wir diese Situation möglichst beenden und auf das diplomatische Parkett zurückführen.
Die Situation ist angesichts des Konflikts in Syrien schon in den letzten Jahren so gewesen, dass wir bei Rüstungsexporten sehr genau darauf geschaut haben – auch wenn es um die Türkei ging –, ob das Dinge sind, die Einsatz in Syrien finden könnten. Insofern haben wir da eine restriktive Rüstungsexportpolitik. Vor dem Hintergrund der Absprachen der Außenminister in Brüssel werden sich auch die anderen europäischen Gremien in den nächsten Tagen damit befassen. Uns ist es ein großes Anliegen, dass Deutschland da in enger Abstimmung mit den europäischen Partnern handelt.
Nachfrage, Frau Kollegin Dröge.
Ja, vielen Dank. – Herr Braun, dann muss ich Ihre Antwort so verstehen, dass Herr Maas bislang eine unabgestimmte Meinungsäußerung getätigt hat und es keine gemeinsame Position der Bundesregierung ist, die Rüstungsexporte in die Türkei zu stoppen.
Die Tatsache, dass wir momentan keine neuen Genehmigungen für Rüstungsexporte in die Türkei erteilen, ist aktuelles Handeln der Bundesregierung.
Danke sehr, Herr Bundesminister.
({0})
– Eine Nachfrage, Graf Lambsdorff; das muss sein, ja.
({1})
Ganz herzlichen Dank dafür, Herr Präsident. – Herr Minister, es gibt eine Medienberichterstattung dazu, dass Weisungen der Bundesregierung nach Brüssel gegangen seien, in Brüssel, also dort im Rat, dafür zu sorgen, dass es gerade nicht zu einem EU-weiten zeitlich befristeten Waffenembargo gegen die Türkei kommt. Können Sie uns das erklären? Wir haben einen Bundesaußenminister, der in Deutschland sagt, er sei stolz darauf, dass es gelungen sei, für die Bundesregierung die Position zu erreichen, die Sie gerade beschrieben haben – also keine weiteren Genehmigungen –, aber in Brüssel offenbar verhindert, dass die Europäische Union das geschlossen verfolgt. Das passt nach meinem Dafürhalten nicht zusammen.
Dass wir keine weiteren Genehmigungen derzeit aussprechen, das ist sozusagen Haltung der Bundesregierung. Aber was die Frage nach Arbeitsprozessen im Auswärtigen Amt betrifft, so kann ich Ihnen das nicht sagen und kann das weder bestätigen noch dementieren.
({0})
Ich wiederhole meinen Dank an den Bundesminister Dr. Braun und schließe damit die Regierungsbefragung.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte ich die Gelegenheit wahrnehmen, auf der Zuschauertribüne des Deutschen Bundestages den Europavertreter der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyriens – Rojava –, Ahmed Sheikho, willkommen zu heißen.
({0})
Ihr jahrelanger Kampf war und ist nicht nur in Syrien ein Kampf um Freiheit und um Frieden, sondern auch in Deutschland und in Europa. Für ihren heldenhaften Kampf gegen den barbarischen „Islamischen Staat“ gebührt unser Dank den mutigen Kurdinnen und Kurden. Vielen Dank!
({1})
Meine Damen und Herren, während wir hier debattieren, geht das Morden der islamistischen Soldateska Erdogans in Syrien weiter. Der türkische Staatspräsident ist damit verantwortlich für die dokumentierten furchtbaren Kriegsverbrechen von türkischer Armee und den Terrormilizen der Freien Syrischen Armee – jetzt SNA, Syrische National Armee, genannt –, die mit ihm zusammen in Syrien einmarschiert sind. Erdogan hat erklärt, dass er den Krieg bis zur Eroberung einer 30 Kilometer tiefen Besatzungszone in Syrien weiterführen will.
Da fragt man sich natürlich: Was macht die Bundesregierung da? Auf der einen Seite wird der Überfall der Türkei scharf verurteilt. Auf der anderen Seite aber gibt die Bundesregierung Anweisungen – das müssen wir in der Presse und in vertraulichen Dokumenten lesen –, auf europäischer Ebene ein umfassendes Waffenembargo gegen den türkischen Präsidenten Erdogan zu verhindern.
({2})
Ich finde: Herr Heiko Maas, Sie sollten aufhören, Kaffee zu trinken. Sie sollten stattdessen in der Öffentlichkeit Stellung dazu beziehen. Was haben Sie mit diesen Anweisungen gemeint? Warum verhindern Sie ein europaweites Waffenembargo gegen einen Kriegsverbrecher?
({3})
Sagen Sie, wieso Sie in Berlin Krokodilstränen weinen, während Sie in Brüssel Erdogan in Schutz nehmen. Ich finde, das ist nichts weiter als reine Schaufensterpolitik, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD- und auch der CDU/CSU-Fraktion.
({4})
Es ist auch ein Hohn, wenn Sie von einer restriktiven Rüstungsexportpolitik in Richtung Türkei sprechen. Worte, meine Damen und Herren, können lügen; Zahlen aber nicht. Ich sage Ihnen, wie Sie die Türkei und Erdogan allein mit Kriegswaffen, von sonstigen Rüstungsgütern ganz zu schweigen, aufgerüstet haben – das alles sind Zahlen der Bundesregierung, nicht der Linksfraktion –: 2018 ist Erdogan völkerrechtswidrig in Afrin einmarschiert. Damals haben Sie Kriegswaffen für 243 Millionen Euro an Erdogan geliefert.
({5})
Allein für die ersten vier Monate im laufenden Jahr 2019 haben Sie für 184 Millionen Euro Kriegswaffen ausgeliefert. Summa summarum hat die Türkei seit der Jahrtausendwende deutsche Kriegswaffen im Wert von 1,74 Milliarden Euro erhalten. Die Türkei ist demnach bei Kriegswaffen Empfängerland Nummer eins in der NATO. Das ist alles andere als restriktiv, meine Damen und Herren. Das ist Beihilfe zum Unfrieden in der Region.
({6})
Nach dem Verrat Trumps an den Kurden haben die Kurden jetzt eine Vereinbarung mit der syrischen Regierung geschlossen, um die syrische Bevölkerung gegen die islamistischen Mörderbanden des NATO-Partners Türkei zu verteidigen.
({7})
Gemeinsam stellen sich syrische Armee und kurdische Selbstverteidigungseinheiten der islamistischen Soldateska Erdogans entgegen, um weitere Massaker an ihren Zivilistinnen und Zivilisten zu verhindern.
Was machen Sie? Sie als Regierung lassen die politische Vertretung der Mörderbanden, die an der Seite Erdogans den Überfall organisieren, hier in Berlin Mitte in der Chausseestraße mit Ihrer Erlaubnis weiter die syrische Botschaft spielen. Warum wird diese Nationalkoalition in Deutschland nicht verboten, meine Damen und Herren?
({8})
Es ist schändlich, dass Sie sagen, dass Sie für Ihre geopolitischen Ziele, für Ihre Regime-Change-Politik Ihr Bündnis mit islamistischen Despoten und Diktatoren weiter fortführen wollen, obwohl Sie wissen, dass dieser Weg mit Leichen gepflastert wird.
Angesichts der Tausenden IS-Kämpfer, die durch den türkischen Einmarsch fliehen konnten, wird deutlich, dass Bundeskanzlerin Merkel in die Fußstapfen des deutschen Reichskanzlers Bethmann Hollweg getreten ist. Bethmann Hollweg hatte vor 100 Jahren gesagt, das osmanische Reich in der deutschen Kriegskoalition halten zu wollen, koste es, was es wolle, auch wenn die Armenier dabei zugrunde gehen.
Sie, Frau Bundeskanzlerin Merkel, wollen den NATO-Partner Türkei stützen und in der NATO halten, auch wenn die Kurden dabei zugrunde gehen. Mit dieser Politik gefährden Sie aber nicht nur das Leben von Hunderttausenden Menschen in Syrien und im Irak, sondern auch die Sicherheit von uns Menschen hier in Europa. Dieser Wahnsinn muss gestoppt werden. Stoppen Sie die Unterstützung für Erdogan in Form von Finanzhilfen – einschließlich der Hermesbürgschaften – und Waffenlieferungen.
Frau Kollegin.
Beenden Sie die Unterstützung für Erdogan!
Vielen Dank.
({0})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Dr. Johann Wadephul das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube nicht, dass jetzt, wo wir einen schrecklichen Krieg miterleben müssen – es ist zum zweiten Mal in diesem Jahrzehnt der Versuch einer Landannexion –, die Stunde ist, in der man mit kleiner innerdeutschen Münze versuchen sollte, Parteipolitik zu machen, Frau Dağdelen.
({0})
Ich weise den Vergleich, mit dem Sie die Bundeskanzlerin in einem Atemzug mit Reichskanzler Bethmann Hollweg nennen, auf das Schärfste zurück.
({1})
Wir haben hier im Deutschen Bundestag mit der CDU/CSU-Fraktion eindeutige Positionierungen zu dem Verbrechen an den Armeniern gefunden.
({2})
Sie brauchen hier nicht mit Vorwürfen zu kommen. Sie haben nicht einmal eine klare Rede zur russischen Annexion der Ostukraine und der Krim gehalten.
({3})
Sie brauchen sich bei diesen Fragen im Deutschen Bundestag nicht zu Wort zu melden, Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion.
({4})
Wir sind der Bundesregierung dankbar – die Bundeskanzlerin hat mit Staatspräsident Macron eine eindeutige Erklärung abgegeben; Bundesaußenminister Maas hat eindeutige Erklärungen abgegeben, auch zu der Frage der Waffenexporte –, dass sie der Türkei hier ein klares Signal gegeben hat. Ich habe heute eine Äußerung des türkischen Staatspräsidenten in Bezug auf unseren Außenminister gelesen. Dazu sage ich an dieser Stelle: Das weisen wir mit Schärfe zurück. Wenn Herr Erdogan meint, in seiner Region in diesem Stil mit anderen reden zu müssen, dann ist das seine Sache. Das ist aber nicht unser Stil in Europa.Das lassen wir uns nicht gefallen, meine sehr verehrten Damen und Herren!
({5})
Und dazu gehört ganz klar – das hat die Bundesregierung gesagt, das haben die Koalitionsfraktionen gesagt, und ich möchte es deutlich auch für meine Fraktion sagen –: Es gibt bei all dem, was wir hören seitens der Türkei – die Berufung auf Artikel 51 der UN-Charta –, keine völkerrechtliche Rechtfertigung für diese militärischen Aktionen, die die Türkei jetzt in Nordsyrien durchführt. Wir verurteilen das. Wir sagen eindeutig, dass das völkerrechtswidrig ist.
({6})
Wir rufen die Türkei zu sofortigem Rückzug aus dieser Region auf, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({7})
Zu geplanten Umsiedlungen von arabischstämmigen Flüchtlingen von der Türkei in den Norden Syriens sagen wir hier auch von vornherein ganz klar: Wenn sich jemand freiwillig irgendwo ansiedeln will, dann ist das seine individuelle Entscheidung, beispielsweise die eines Syrers, der in sein Heimatland zurückgehen will. Zwangsweise Umsiedlungen, veranlasst durch die Türkei, wird Europa, wird Deutschland niemals billigen.
({8})
Hier müssen wir klipp und klar unsere Position einhalten.
({9})
Das veranlasst mich zu zwei grundsätzlichen Bemerkungen, einerseits zu den Vereinigten Staaten von Amerika und andererseits zur NATO. Das eine ist: Die erratische Tweet-Kommunikation des amerikanischen Präsidenten ist irritierend genug. Wenn er jetzt mit Äußerungen an die Öffentlichkeit tritt, die Kurden hätten in der Normandie den Vereinigten Staaten nicht geholfen und vielleicht würde ihnen jetzt Napoleon helfen, so ist das zynisch und aus meiner Sicht – aber das muss das amerikanische Volk entscheiden – eines Präsidenten der westlichen Führungsnation unwürdig, meine lieben Kolleginnen und Kollegen.
({10})
Auf der anderen Seite haben wir im amerikanischen Kongress bei unseren Kollegen eine bemerkenswerte konzertierte Aktion von Republikanern und Demokraten erlebt. Wir haben erlebt, wie Lindsey Graham von den Republikanern und Nancy Pelosi von den Demokraten sich zusammengeschlossen haben. Wir haben erlebt, dass parlamentarische Demokratie in den Vereinigten Staaten von Amerika funktioniert. Das hat dazu geführt, dass es eine Sanktionspolitik der USA gibt. Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir sind Parlamentarier. Wir haben eine Chance, mit Parlamentariern der Vereinigten Staaten gemeinsam westliche Politik zu machen.
({11})
Eine Politik, die klar verurteilt, was Erdogan macht, die dafür sorgt, dass wieder Ordnung in das westliche Bündnis hineinkommt. Da sind wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch aufgefordert, anzupacken und gemeinsam mit unseren amerikanischen parlamentarischen Kolleginnen und Kollegen Politik zu formulieren und auch durchzuführen.
({12})
Eine zweite grundgesetzliche Bemerkung zur NATO. Die NATO ist für uns ein Wertebündnis. Und für uns als Union war wichtig, dass Konrad Adenauer einst formuliert hat „Wir wählen die Freiheit“. Wir haben zum 70-jährigen Bestehen hier im Hohen Hause einen Entschließungsantrag verabschiedet, in dem wir betont haben: Die NATO ist eine einzigartige Wertegemeinschaft, die fest auf dem Fundament von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Freiheit und der Achtung vor Menschenrechten fußt und für diese Werte in der Welt eintritt.
({13})
Deswegen lautet in dieser Lage die klare Frage an die Türkei: Quo vadis, Türkei? Wo soll es hingehen? Man kann nicht auf der einen Seite Europa als den wichtigsten Handelspartner haben und NATO-Mitglied sein und auf der anderen Seite die Interessen und Werte der westlichen Welt mit Füßen treten. Das müssen wir der Türkei an dieser Stelle klar sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({14})
Wir wollen, dass die Türkei in der NATO bleibt, aber wir erwarten von der Türkei, dass sie auf diese unsere Kritik Rücksicht nimmt und ihre Politik ändert.
({15})
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({16})
Das Wort hat der Abgeordnete Rüdiger Lucassen für die AfD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Abgeordnete! Der türkische Feldzug in Syrien schafft klare Verhältnisse.
Erstens. Er legt die außenpolitische Verzwergung Deutschlands offen. Der Außenminister ist besorgt, ernsthaft besorgt, warnt und fordert auf. Mehr ist nicht drin, weil Erdogan sonst die Schleusen öffnet und über 3 Millionen Flüchtlinge nach Deutschland durchlässt – Merkels Flüchtlingsdeal –, und so reagiert der türkische Präsident auf Heiko Maas wie Schulrowdys auf Schwächlinge nun mal reagieren: Er steckt ihn kopfüber in einen Mülleimer auf dem Pausenhof – natürlich symbolisch gemeint.
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Zweitens. Die EU ist kein Akteur, auf den man sich im Ernstfall verlassen kann. Ein gemeinsames Vorgehen aller Mitglieder? Wieder einmal Fehlanzeige! Stattdessen: eine lauwarme Handlungsempfehlung, keine Waffen mehr an die Türkei zu liefern – nicht bindend.
Drittens. Die deutsche Rüstungsexportpolitik ist der Gipfel der Heuchelei. Vor 18 Monaten hatten wir die exakt gleiche Situation. Die Türken waren in Syrien einmarschiert, in die Region Afrin, Sie erinnern sich. Nach dem üblichen Zögern kam ein Exportstopp. Wenn die Regierung jetzt den Export erneut stoppen will, heißt das, dass sie die Lieferungen im letzten Jahr klammheimlich wieder aufgenommen hat. Ihre Moralpolitik ist ein Witz.
Viertens. Deutschland hat ein ernsthaftes NATO-Problem. Was macht die Bundesregierung, wenn Erdogan Artikel 5 zieht? Wenn Sie einer solchen Bitte nicht nachkämen, kann das das Fundament des Bündnisses sprengen.
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Er hat seine Hand an die Kehle der NATO gelegt -
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eine brandgefährliche Situation.
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Die Regierung beschränkt sich wieder nur auf den Appell – wir haben ihn gerade gehört –, die NATO sei eine Wertegemeinschaft. Falsch! Die NATO ist ein strategisches Militärbündnis, das Deutschlands Sicherheit garantiert,
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und es ist im Begriff, zu zerfallen.
Fünftens. Der türkische Überfall macht klar: Die Integration der Türken in Deutschland ist eine Illusion.
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Erdogan würde in der Kölnarena sagen: ein Verbrechen. Türken und Kurden bekämpfen sich auf unseren Straßen, zum Beispiel heute wieder in Nordrhein-Westfalen. Gemüsegeschäfte werden verwüstet. Türkische Fußballer salutieren. Die Nationalität lässt sich eben nicht ablegen wie eine alte Jacke.
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Das können wir Deutsche nicht, und das wollen auch andere Nationen nicht. Akzeptieren Sie das endlich! Dann können wir beginnen, das Wertegerüst Deutschlands zu stabilisieren.
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Zu guter Letzt. Der türkische Überfall schafft Klarheit über die politische Handlungsunfähigkeit der Bundesregierung. Täglich beschimpfen Sie den amerikanischen Präsidenten, erheben sich moralisch über ihn. Wie oft wurde hier im Bundestag der amerikanische Abzug aus dem Mittleren Osten gefordert! Trump liefert jetzt, was Sie wollten. Heute Morgen kommentierte die CDU/CSU im Verteidigungsausschuss: Die USA versagen als Ordnungsmacht. – Ich möchte Ihnen, meine Herren von der Union, mal sagen: Dann ordnen Sie doch! Machen Sie es besser als Trump! Nehmen Sie Ihre EU und fahren Sie nach Syrien zum Ordnen! Viel Erfolg!
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Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat fertig, keinen Mut, keine Kraft, keinen Willen, Deutschlands Zukunft zu gestalten. Was Ihnen noch bleibt, ist die unsägliche Diffamierung der AfD.
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Was sich führende Repräsentanten unseres Staates nach den Morden in Halle herausgenommen haben, ist eine Unverschämtheit. Sie machen die größte Oppositionspartei Deutschlands für die Taten eines Verrückten verantwortlich.
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Sie drohen mit dem Verfassungsschutz. Sie blockieren demokratische Teilhabe hier im Parlament. Sie entlassen den Leiter einer staatlichen Filmförderung, weil er mit meinem Parteichef essen war.
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Herr Lucassen, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Sie wenden Methoden an, wie es Erdogan in seiner Türkei macht. Wer Deutschlands Aufbruch will, muss Ballast abwerfen: den Ballast des deutschen Selbstbetrugs,
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den Ballast der politischen Korrektheit -
Setzen Sie einen Punkt. Ich bin jetzt gehalten, Ihre Rede zu beenden.
– und den Ballast dieser Regierung.
Danke schön.
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Vielen Dank, Frau Präsidentin, auch für Ihre Worte. – Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor einer Woche hat die türkische Regierung eine militärische Offensive in Nordostsyrien gestartet. Dies geschah, unmittelbar nachdem der amerikanische Präsident Donald Trump den Rückzug der US-Truppen befohlen hatte. Meine Damen und Herren, schon jetzt sehen wir, welche verheerenden Folgen die türkische Offensive für die Zivilbevölkerung hat. Es sind Tote, es sind Verletzte zu beklagen, und weit über 100 000 Menschen befinden sich auf der Flucht, Menschen, die bereits seit vielen Jahren unter dem IS und dem Krieg in Syrien leiden und dem Unheil, das er über diese Region gebracht hat.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die türkische Militärintervention droht die Region nun weiter zu destabilisieren. Die Bundesregierung verurteilt das Vorgehen der Türkei daher auf das Schärfste, und wir rufen die türkische Regierung mit Nachdruck auf, diese Offensive sofort zu beenden.
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Wir sind zutiefst besorgt über die verheerende politische Dynamik, die durch die politische und die militärische Offensive der Türkei, aber auch durch den Abzug der amerikanischen Truppen in Gang gesetzt worden ist. Lassen Sie mich hier drei zentrale Punkte nennen.
Erstens. In Gefahr gerät der ohnehin schon fragile UN-Friedensprozess für Syrien. Die syrisch-kurdische YPG sah nach dem überhasteten Rückzug der US-Truppen keine andere Möglichkeit, als ihre Sicherheit dem Diktator aus Damaskus anzuvertrauen – ein unverhoffter Triumph für Assad, aber natürlich auch für seine Unterstützer in Moskau und in Teheran. Dadurch werden nun neue Fakten geschaffen, die Rückschläge für den Friedensprozess bedeuten können.
Zweitens. Es ist zu befürchten, dass in dieser Situation der IS wieder erstarkt; denn die terroristische Organisation und ihre menschenverachtende Ideologie waren nie wirklich besiegt, sondern nur militärisch zurückgedrängt. Aber trotz dieser Erfolge der internationalen Koalition gegen den IS mussten wir ja schon vor der Eskalation beobachten, dass sich der IS in einigen Bereichen Syriens, aber auch im Irak wieder neu organisiert hat. Und es konnten in den letzten Tagen offensichtlich auch gefangene IS-Kämpfer fliehen. Es ist zu befürchten, dass das weitergeht. Deswegen ist es sehr wichtig, dass wir uns auch darauf konzentrieren.
Und Drittens, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen: Eine Erstarkung des IS bedroht nicht nur die Sicherheit der Region, der betroffenen Menschen in Syrien und Irak, sondern auch unsere Sicherheit in Deutschland und in Europa. Auch deshalb erfüllt uns die türkische Offensive mit großer Sorge.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die türkischen Handlungen dürfen wir aus all diesen Gründen nicht unbeantwortet lassen. Natürlich erkennen wir an, dass die Türkei auch über berechtigte Sicherheitsinteressen verfügt. Doch diese rechtfertigen nicht den gegenwärtigen Militäreinsatz. Auch völkerrechtlich scheint die aktuelle Situation in Syrien keine Militärintervention gegen kurdische Gruppen zu legitimieren.
Der militärische Einsatz der Türkei löst auch keines der Probleme, die hier angesprochen worden sind, löst keines der Probleme in der Region. Wir sind zudem entsetzt über Berichte zu Verbrechen von Milizen – das möchte ich hier auch sagen –, die uns zum Teil über die sozialen Medien, aber auch über unsere Vertretungen in der Region erreichen, von Milizen, die von türkischen Kräften unterstützt werden und die in den vergangenen Tagen Verbrechen begangen haben, Übergriffe auf kurdische Kämpferinnen und Kämpfer, aber auch die mutmaßliche Ermordung einer kurdischen Politikerin. Das alles ist scharf zurückzuweisen und kann von uns nicht akzeptiert werden.
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Ich möchte auch sagen: Die Opfer dieser Übergriffe sind diese kurdisch-syrischen Kräfte, die unter einer hohen Anzahl eigener menschlicher Opfer gemeinsam mit der Anti-IS-Koalition im Osten Syriens dafür gesorgt haben, dass die Terrorherrschaft des IS beendet werden konnte. Das ist eine besondere Tragik; denn diese Menschen haben nicht nur für die Sicherheit ihrer eigenen Region, sondern sie haben auch für unsere Sicherheit gekämpft. Das werden wir nicht vergessen. Unser Einsatz für eine Beendigung der türkischen Offensive gilt deswegen auch Ihnen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, aus dieser Sorge hat der EU-Außenministerrat am Montag ein klares Zeichen gesetzt. Er hat die Türkei unmissverständlich zur Beendigung der Kämpfe aufgefordert. Die EU-Außenminister haben sich dabei darauf verständigt, keine Genehmigungen mehr für Rüstungsexporte in die Türkei mit Bezug zu Syrien zu erteilen. Diese klare Haltung der Europäischen Union begrüßen wir.
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Es ist darauf hingewiesen worden: Schon seit dem Putschversuch 2016 und dem türkischen Vorgehen in Afrin besteht eine restriktive Rüstungspolitik gegenüber der Türkei. Diese schlägt sich jetzt auch in geringeren Genehmigungszahlen nieder. Trotzdem ist ganz klar: Wir ziehen die Grenzen jetzt noch enger. Heiko Maas hat daher bereits am 12. Oktober verkündet, keine neuen Exporte von Rüstungsgütern in die Türkei mehr zu genehmigen, die in Syrien genutzt werden könnten.
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Er hat damit den Anstoß gegeben für eine gemeinsame Haltung in der Europäischen Union.
Die EU hat gegenüber der türkischen Regierung außerdem deutlich gemacht, dass wir keine Hilfe zur Stabilisierung oder Entwicklung in Gebieten leisten werden, in denen die Rechte der lokalen Bevölkerung nicht gewahrt werden. Und – das will ich auch ausdrücklich sagen –: Wir behalten uns weitere Maßnahmen vor.
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Zusätzlich hat Deutschland die Gelegenheit genutzt, die wir im Moment als nichtständiges Mitglied haben, im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eine Sondersitzung einzuberufen. Wir haben gemeinsam mit unseren Partnern und den dort vertretenen EU-Staaten unsere tiefe Sorge über die türkische Militäroperation erneut zum Ausdruck gebracht und das Ende des türkischen Vorgehens gefordert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich bei aller Sorge und Empörung über die Lage eines unterstreichen: Wir dürfen trotz dieser Situation unsere langfristigen Interessen nicht aus den Augen verlieren. Die Türkei ist ein NATO-Partner, mit dessen Menschen gerade Deutschland sehr viel verbindet. Eine Abwendung der Türkei von der NATO kann daher auch nicht in unserem Interesse liegen. Auch deshalb will ich an die vorbildlichen Leistungen der Türkei erinnern, was die Annahme und die Betreuung von syrischen Flüchtlingen in ihrem Land angeht.
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Der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge stellt der Türkei in dieser Beziehung ein sehr gutes Zeugnis aus. Als Bundesregierung erkennen wir dies ausdrücklich an.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir stehen in diesen Tagen natürlich auch in engem Kontakt mit den Vereinigten Staaten. Natürlich hat die Entscheidung von Präsident Trump ihren Anteil an der gegenwärtigen Situation. Aber – es ist schon darauf hingewiesen worden – die Entwicklung kann auch in den USA nicht wirklich überraschen. Auch aus amerikanischen Sicherheitskreisen ist gewarnt worden, welche Folgen das haben kann. Ich will aber auch auf eines hinweisen: Im amerikanischen Kongress wird dieselbe Debatte geführt, die wir hier führen. Es ist doch eigentlich ermutigend, wenn ich hier feststellen kann, dass es im Kongress eine große Mehrheit für die Fortsetzung des amerikanischen Engagements gibt. Man ist sich im Kongress bewusst, dass es hier um eine geopolitische Rolle der USA und um ihre außenpolitische Glaubwürdigkeit geht. Wir benötigen – das will ich hier erwähnen – eine klare Auskunft von amerikanischer Seite, wie der Kampf gegen den IS unter diesen erneuerten Bedingungen fortgesetzt werden soll. Auch hierzu – das kann ich Ihnen versichern – bleiben wir in engem Kontakt mit unseren amerikanischen Partnern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe betont, wie viel wir den Kurdinnen und Kurden zu verdanken haben im Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat, der auch Europa bedroht. Aber auch – und das ist mir sehr wichtig – mit den vielen Menschen in der Türkei verbindet uns eine enge Freundschaft. Das ist der Gradmesser für unsere Politik. Wir wollen mittels Dialog und Zusammenarbeit mit der Türkei den Konflikt und das Leid für die Menschen möglichst schnell beenden. Aber wir werden ebenfalls den Druck aufrechterhalten und, wenn nötig, erhöhen, um die Türkei zu Verhandlungen, zu einer politischen Lösung zu bewegen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Staatsminister. – Der nächste Redner: für die FDP-Fraktion der Kollege Bijan Djir-Sarai.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Kurden haben in Nordsyrien an der Seite der USA gegen den sogenannten Islamischen Staat gekämpft. Ohne die Unterstützung der Kurden in der Region wäre der IS vermutlich nicht so schnell besiegt worden. Dass ausgerechnet diese Menschen, dass ausgerechnet diese Region nun alleingelassen wird, ist außerordentlich bitter und zudem auch noch beschämend, meine Damen und Herren.
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Die Offensive des sogenannten Bündnispartners Türkei beruht dabei weder auf einem Mandat der NATO noch auf einem Mandat der Vereinten Nationen. Sie richtet sich nicht gegen Terrorismus. Sie richtet sich gegen die Menschen in der betroffenen Region. Selbstverständlich hat die Türkei legitime Sicherheitsinteressen, die berücksichtigt werden müssen. Dieser Krieg hat aber nichts mit Sicherheitsinteressen und Selbstverteidigung zutun. Dieser Einsatz ist ein Angriffskrieg und klar völkerrechtswidrig.
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Er gilt einzig dem Ziel, den Einfluss der Kurden in diesem Gebiet mit allen Mitteln zu zerstören und vor allem von den eigenen innenpolitischen Schwierigkeiten in der Türkei abzulenken.
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Das Ausmaß der Offensive ist nur schwer zu ertragen. Bereits jetzt wissen wir von unzähligen Toten. Hunderttausende sind erneut auf der Flucht. Innerhalb weniger Tage haben sich die Machtverhältnisse in der Region verschoben. Erdogan stürzt mit dieser Offensive die gesamte Region ins Chaos und ermöglicht ein Wiedererstarken des IS. Schon jetzt konnten sich mehrere Hundert IS-Kämpfer aus den kurdischen Gefängnissen befreien. Dieser Krieg ist in erster Linie schrecklich für die betroffenen Menschen vor Ort. Er ist aber auch eine Bedrohung für die internationale Gemeinschaft und vor allem eine Bedrohung für deutsche und europäische Sicherheitsinteressen.
Ja, der Entschluss des US-Präsidenten, seine Truppen aus Nordsyrien abzuziehen und seine kurdischen Verbündeten im Stich zu lassen, ist verantwortungslos gewesen. Aber es muss an dieser Stelle auch erlaubt sein, über die Rolle der Europäischen Union zu diskutieren.
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Wo ist die europäische Außen- und Sicherheitspolitik gewesen? Europa war während des gesamten Krieges in Syrien kein politischer Akteur. Europa wird vermutlich leider auch die Entwicklung der Nachkriegsordnung in Syrien verschlafen. Der Krieg in Syrien ist ein Versagen der Europäischen Union in der Außenpolitik. Denn eines ist sicher: Dieser Krieg, diese Katastrophe in Nordsyrien hätte verhindert werden können.
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Nicht erst seit gestern wissen wir, wie es um die aktuelle Nahoststrategie der amerikanischen Regierung bestellt ist. Nicht erst seit gestern wissen wir von den Plänen des türkischen Präsidenten für Nordsyrien. Sowohl der türkische Einmarsch in Afrin 2018 als auch die innenpolitische Entwicklung der letzten Jahre hätten Anlass genug sein sollen, eine angemessene Strategie für die Region zu entwickeln. Ich bedauere zutiefst, dass die Bundesregierung es nicht den Franzosen gleichtut und den türkischen Botschafter einbestellt.
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Ich bedauere zudem, dass die Europäische Union auch jetzt nicht mit einer Stimme spricht und sich nicht auf ein EU-weites Waffenembargo einigt.
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Und noch viel schlimmer: Wie kann es sein, dass diese Bundesregierung ein EU-weites Waffenembargo blockiert und sich gegen weitere Maßnahmen ausspricht?
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Diese Frage ist heute Morgen in der Sitzung des Auswärtigen Ausschusses gestellt worden. Leider konnte die Bundesregierung diese Frage nicht beantworten. Rüstungsexporte in Konfliktregionen auszuschließen, sollte inzwischen eine Selbstverständlichkeit der deutschen Außenpolitik sein;
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denn hier geht es nicht um Geschäfte, hier geht es um Menschenleben.
Doch wird sich Ankara von einem Rüstungsexportstopp allein nicht beeindrucken lassen. Daher fordern wir ein sofortiges Einfrieren der deutschen Hermesbürgschaften. Auch personenbezogene Sanktionen gegen verantwortliche türkische Politiker sollten wir nicht ausschließen.
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Wir wollen nicht das türkische Volk bestrafen, wir wollen, dass die verantwortlichen türkischen Politiker zur Verantwortung und zur Rechenschaft gezogen werden, meine Damen und Herren.
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Die Außenpolitik der Europäischen Union kann nicht länger von den Erpressungen der türkischen Regierung bestimmt werden. Damit das gelingt, brauchen wir endlich eine nachhaltige Strategie für eine syrische Nachkriegsordnung. Deutschland hat die Türkei bisher immer als Partner betrachtet. Aber ein Staat, der sich nicht an internationale Absprachen und geltendes Recht hält, muss mit politischen Konsequenzen rechnen, meine Damen und Herren.
Die türkische Regierung hat mit diesem Einsatz einmal mehr die rote Linie überschritten. Das Land verhält sich nicht, wie wir es von einem NATO-Partner erwarten dürfen. Deshalb erwarten wir an dieser Stelle von der Bundesregierung und der Europäischen Union eine klare Positionierung und vor allem, dass sie aufwachen und endlich vor der eigenen europäischen Haustür politisch handlungsfähig werden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Die nächste Rednerin: die Kollegin Agnieszka Brugger, Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Weniger als eine Woche nach dem türkischen Einmarsch sind in Nordsyrien 200 000 Menschen auf der Flucht vor Bomben, vor Tod, vor Zerstörung. Und während die Welt auf diese schreckliche Eskalation schaut, nutzt das Assad-Regime dies aus und bombardiert Idlib noch grausamer. Die Präsidenten Assad und Putin profitieren, und die Menschen in der Region leiden noch mehr als zuvor. Auch hier dürfen wir nicht wegschauen.
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Trotz des brutalen Kriegs in Syrien – mit Chemiewaffen und Gräueltaten der ISIS-Terroristen – ist es den Kurdinnen und Kurden vor allem im Nordosten Syriens gelungen, nicht nur ISIS zu vertreiben, sondern ein Stück weit auch ein demokratisches und selbstverwaltetes Gemeinwesen aufzubauen. Das war einer der wenigen Hoffnungsschimmer für die Menschen in der Region und darüber hinaus.
Wenn Außenminister Maas nun von – Zitat – Verständnis für die Sicherheitsinteressen der Türkei spricht oder – noch schlimmer – der NATO-Generalsekretär von legitimen Sicherheitsinteressen, dann frage ich mich: In welcher Welt leben die beiden eigentlich?
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Der türkische Angriff wird zu mehr Gewalt und zu noch mehr Zerstörung führen. Schon jetzt konnten in diesem Chaos die ersten ISIS-Terroristen fliehen. Es droht doch Radikalisierung auf allen Seiten. Es geht Präsident Erdogan nicht um Sicherheit. Es geht um Zwangsumsiedlung von Geflüchteten, und es geht um ethnische Vertreibung. Er killt damit auf lange Zeit die Chance auf einen politischen Prozess, an dessen Ende mehr Sicherheit für die Kurdinnen und Kurden, aber auch für alle Menschen in der Türkei stehen könnte. In einer Region, die ohnehin schon in Flammen steht, ist das der nächste Brandbeschleuniger. Mit Sicherheit hat das absolut gar nichts zu tun.
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Die furchtbaren Bilder aus Nordsyrien und die ängstliche und untätige Haltung dieser Bundesregierung, das kommt uns leider nur allzu bekannt vor. Im Januar 2018 hat Präsident Erdogan bereits Afrin besetzt. Die vorwiegend kurdische Bevölkerung wurde und wird Tag für Tag Opfer von Willkür, von Unterdrückung und Gewalt. Damals wie heute weigert sich diese Bundesregierung, diese Einmärsche als das zu benennen, was sie ganz klar sind, nämlich ein Völkerrechtsbruch.
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Diese Wahrheit auszusprechen, ich finde, das ist das Mindeste, was man von einer Bundeskanzlerin, von einem Außenminister und von einer Verteidigungsministerin erwarten kann. Dass Sie sich das nicht trauen, das signalisiert doch Präsident Erdogan und den Despoten dieser Welt, dass sie keine ernsthaften Konsequenzen zu befürchten haben, wenn sie Völkerrecht brechen und ihre Interessen mit Militär und Gewalt durchsetzen wollen. Die Bundesregierung hat sich mit dem EU-Türkei-Flüchtlingsdeal gefährlich erpressbar gemacht. Ihr zweijähriges Schweigen, Ihre verzagten Reaktionen heute, das ist die falsche Botschaft an Präsident Erdogan. Das muss sich endlich ändern.
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Meine Damen und Herren, die Bundesregierung ist nicht ohne Macht und Einfluss in dieser Situation. Es braucht nicht nur Klarheit in der Sprache, sondern auch Entschlossenheit im Handeln. Stoppen Sie zum Beispiel den Einsatz der Bundeswehr über Syrien und dem Irak in einer Koalition der Willigen mit dieser Türkei. Die USA hat in der letzten Woche aufgehört, Aufklärungsdaten aus diesem Einsatz mit dem türkischen Militär zu teilen. Das zeigt doch, dass die Gefahr, vor der wir immer gewarnt und die Sie von der Bundesregierung geleugnet haben, real ist. Es ist doch unvorstellbar, dass diese Große Koalition gerade darüber berät, diesen Einsatz noch für mehrere Monate zu verlängern. Wir können Sie nur dazu auffordern: Beenden Sie dieses falsche militärische Engagement!
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Das, was Herr Maas einen Rüstungsexportstopp nennt, ist eine Täuschung. Sie wollen nur keine neuen Genehmigungen mehr erteilen, und Sie haben sich noch eine zweite große Hintertür eingebaut: Der Stopp soll nur für Waffen gelten, die die Türkei eventuell in Syrien einsetzen könnte. – Seit dem Einmarsch in Afrin sind Rüstungsgüter im Wert von fast einer halben Milliarde Euro – für alle gibt es frühere Genehmigungen – an die Türkei ausgeführt worden.
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Wir fordern Sie in aller Deutlichkeit auf: Stoppen Sie endlich alle Rüstungsexporte ohne Wenn und Aber, und nehmen Sie auch die bereits erteilten Genehmigungen wieder zurück!
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Wir müssen heute in der Presse auch noch lesen, dass es diese Bundesregierung war, die sich in der Europäischen Union gegen einen echten gemeinsamen Rüstungsexportstopp eingesetzt hat. Ich finde, das ist einfach nur ein Skandal.
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Meine Damen und Herren, es gibt noch ein weiteres Instrument, über das die Bundesregierung verfügt und mit dem Sie Präsident Erdogan auch in der Vergangenheit schon gedroht haben – übrigens auch mit einigem Erfolg. Das sind die Hermesbürgerschaften für Exporte in die Türkei. Ja, diese Maßnahme hat einen Preis, auch für uns. Aber wann, wenn nicht jetzt, ist der Moment für eine harte und entschlossene Reaktion? Deshalb braucht es eine klare Ansage an die türkische Regierung: Keine neuen Hermesbürgschaften mehr!
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Gerade in einer Welt, die immer unfriedlicher wird, braucht es mehr denn je eine Bundesregierung, die den Mut und die Entschlossenheit aufbringt, glaubwürdig für das Völkerrecht und die Menschenrechte einzutreten. Tun Sie das endlich!
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Christian Schmidt.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einige Klarstellungen zu Beginn:
Lieber Kollege Lucassen, Sie haben gefragt, wieso Ihre Partei im Zusammenhang mit den schlimmen Ereignissen in Halle als geistige Brandstifterin bezeichnet wird. Ich darf Ihnen ein Zitat liefern. Ein gewisser Herr Ulbrich, Landtagsabgeordneter Ihrer Partei, hat gesagt:
Was ist schlimmer, eine beschädigte Synagogentür oder zwei getötete Deutsche?
Dass hinter der Synagogentür 50 Menschen – ganz überwiegend genauso Deutsche – gesessen und Angst um ihr Leben gehabt haben, scheint Sie nicht zu interessieren.
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Genau das ist der Punkt, weswegen Bertolt Brecht immer noch recht hat: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“
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Der nächste Hinweis: Ja, bei dem syrischen Bereich des Mittleren Ostens handelt es sich um ein schwieriges Gebiet, in dem manche geschichtlichen Fehlentscheidungen im Laufe der Zeit – auch von Europäern; ich nenne mal Sykes und Picot – heute noch ihre Konsequenzen haben. Unsere Aufgabe ist es deswegen, zu verstehen, dass es auch in unserem europäischen Interesse ist, dass sich diese Region positiv entwickelt, und dass wir uns deswegen natürlich aktiv beteiligen müssen – angenehm und unangenehm.
Wenn das, was der deutsche Bundesaußenminister gesagt hat, für Herrn Erdogan unangenehm ist, dann empfehle ich dem Herrn Erdogan, dass er trotzdem keine diffamierenden und beleidigenden Äußerungen über Staatsmänner und Mitglieder der Bundesregierung tätigt.
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Damit hätte er schon genügend zu tun.
Im Bereich der NATO müssen wir mit einem Partner Türkei arbeiten – auch aus strategischen Gründen. Von diesem Partner dürfen wir aber erwarten, dass er sich auch an die Grundlagen und an die Prinzipien und Werte der NATO hält.
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Deswegen will ich schon unterstreichen: Der Artikel 5 des NATO-Vertrages kann nicht so verstanden werden, dass jemand völkerrechtswidrig zündeln und dann abgewartet werden kann, was anschließend passiert. Nein, wir müssen im Sinne des Bündnisses und dessen Werten gemeinsam tätig werden.
Da geht der Blick auch nach Washington: „to whom it may concern“. Wir hören relativ viele Informationen aus Washington darüber, was Europa tun oder nicht tun sollte. Aber in aller Freundlichkeit, in aller Freundschaft, aber auch in aller Eindringlichkeit: Nehmen Sie in Washington, in 1600 Pennsylvania Avenue, bitte das, was der US-Kongress erklärt und auch der frühere Verteidigungsminister Mattis gestern sehr deutlich gesagt hat, sehr ernst. Mattis sagt: Der IS ist nicht besiegt. Man wird sehen, ob die Kurden überhaupt in der Lage sein werden, diesen Kampf zu gewinnen.
Das ist unser Kampf. Deswegen geht unser Dank vorneweg an die Kurden, aber nicht nur an die Kurden in Nordsyrien, sondern auch an diejenigen, die Partner der Amerikaner sind, an die Peschmerga, auch an die im Irak, die wir übrigens ausgerüstet und unterstützt haben, weil wir wissen, dass die Kurden eine sehr wichtige und sehr positive Rolle in der Befriedung dieser Region gespielt haben und spielen.
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Deswegen besteht die Notwendigkeit, auf diplomatischer, politischer und sonstiger Ebene zu arbeiten. Ich bin sehr dankbar – man kommt mit dem Lesen der Meldungen kaum noch hinterher –, dass der amerikanische Vizepräsident und der Außenminister vom türkischen Präsidenten nun doch empfangen werden. Ich würde das – seien es Telefonate über den Atlantik, seien es direkte Gespräche jenseits aller protokollarischen Gepflogenheiten – empfehlen. Beide Beteiligten haben eine Verpflichtung, nicht nur im Hinblick auf die Werte, sondern auch im Hinblick auf die Verbindlichkeiten ihres Verhaltens und auf eine Berechenbarkeit, die wir leider im Augenblick bei den Vereinigten Staaten nicht so recht sehen können.
Zu den Europäern: Ja, wir müssen mehr tun. Wir tun auch mehr. Jedenfalls wird eine Reaktion der UEFA auf türkische Fußballspieler, die so tun, als seien sie Soldaten, wohl nicht ausreichen, um diesen Konflikt zu beenden; ein Konflikt, an dessen Befriedung wir alle großes Interesse haben.
Herzlichen Dank.
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Für die AfD-Fraktion hat das Wort der Kollege Armin-Paulus Hampel.
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Danke schön. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Gäste im Deutschen Bundestag! Lieber Herr Schmidt, ich lasse mich von Ihnen weder als Antisemit noch als Rassist noch als irgendetwas anderes bezeichnen. Das ist eine Unverschämtheit, was Sie hier meiner Partei unterstellt haben.
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Mit der gleichen Logik, mit der Sie hier argumentieren, könnten wir sagen: Ihr wart mit der Grenzöffnung die Brandleger für Morde, Vergewaltigungen und Totschläge – massenhaft in diesem Lande. Das wäre die gleiche Logik, mit der Sie hier argumentieren. Schämen Sie sich!
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Kommen wir mal zum Thema.
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– Danke schön.
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– Ich lebe in dem gleichen Land wie Sie; das sollten Sie mal zur Kenntnis nehmen. Ich will hier auch bleiben.
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Wir bleiben übrigens auch. – Meine Damen und Herren, der türkische Präsident Erdogan hat leider Gottes mit einer Bemerkung recht gehabt: Europa bzw. Deutschland spielt beim Syrien-Konflikt überhaupt gar keine Rolle.
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Die Folge ist, dass ein Herr Maas von Herrn Erdogan abqualifiziert wird. Der Aufschrei der Empörung, mit dem wir schärfstens gegen den Einmarsch der Türken in Syrien protestieren, ist natürlich eine erhebliche Waffe. Da wird man am Bosporus wahrscheinlich jetzt schon zittern.
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Ich habe nichts von einem geplanten Treffen der Regierungschefs der EU zum Syrien-Konflikt gehört. Ich habe gehört, dass sich die Botschafter des NATO-Rates getroffen haben; das machen sie öfters. Wo sind die NATO-Chefs, die sich zusammensetzen und endlich darüber beraten, was sie auf so ein Vorgehen der Türken antworten und wie sie dagegen vorgehen können, und zwar so, dass man es am Bosporus wirklich spürt und nicht nur hört?
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Wir haben weder von den europäischen Regierungen noch von der NATO die Ankündigung eines entsprechenden Vorhabens gehört.
Dann komme ich zu dem, was wir heute im Ausschuss gelernt haben: 200 000 Menschen sind inzwischen als Binnenflüchtlinge auf der Flucht; Hunderte von IS-Kämpfern sind befreit. Ich stelle mir die Frage: Wann tauchen eigentlich die ersten IS-Kämpfer in Deutschland auf, vielleicht noch mit einem deutschen Pass? Ich kann Ihnen aber eine Antwort darauf geben. Die Dänen haben schon vorgesorgt. Die Dänen sind gerade dabei, ein Gesetz zu verabschieden, nach dem jemand, der eine doppelte Staatsangehörigkeit hat und beim IS gekämpft hat, die dänische Staatsangehörigkeit verliert. Das ist Handeln im nationalen Interesse. Glückwunsch nach Kopenhagen! Wir schaffen das nicht.
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200 000 Binnenflüchtlinge, und ich ahne: Auswärtiges Amt, Innenministerium und Kanzleramt verhandeln schon, wahrscheinlich Herr Seehofer, ob wir auch hier 25 Prozent dieser Flüchtlinge in Deutschland aufnehmen wollen. Das sind dann weitere 50 000. Hier ist Handeln der Bundesregierung erforderlich, aber nicht in dem Sinne, wie ich es gerade skizziert habe.
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Dann verweise ich mit Blick auf den Syrien-Konflikt auf etwas, was ich schon 2015 auf unserem Parteitag in Hannover gesagt und seitdem ununterbrochen wiederholt habe: Wir hätten damals reagieren müssen und Folgendes machen können – heute haben wir immer noch die Chance; die Russen haben es uns teilweise vorgemacht, aber wir haben es gar nicht ernst genommen –: Wir hätten damals in den Vereinten Nationen darauf drängen müssen, dass eine Schutzzone geschaffen wird, und zwar genau in dem Bereich, den Herr Erdogan jetzt gerade mit seiner Offensive im Blick hat, versehen mit einem robusten Mandat der Vereinten Nationen, mit einer internationalen Truppe, die auch bereit gewesen wäre, zu schießen, wenn einer in diese Schutzzone eindringen möchte. Wir hätten die Binnenflüchtlinge aus Syrien dort sicher in UN-Compounds unterbringen können.
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Das hätte uns nicht 50 Milliarden Euro jährlich gekostet wie in Deutschland; wir hätten sie dort für weniger Geld besser schützen und unterbringen können. Das alles haben wir nicht gemacht.
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Es kommt hinzu: Mit der Einrichtung einer solchen Schutzzone hätte man einen Puffer geschaffen, eine UN-Zone quasi, Richtung türkische Grenze, und die Türken hätten sich dreimal überlegt, ob sie eine UN-Truppe angreifen wollen. Das wäre ein erfolgreicher weiterer Effekt einer solchen Maßnahme geworden.
Damals haben Sie das verspielt. Damals hat sich die Bundesregierung mit solchen Themen gar nicht beschäftigt. Heute hätten wir unter schwierigeren Umständen die Möglichkeit, Herr Wadephul, indem wir unsere Vorbehalte über Bord werfen und mit denen reden, die de facto in Syrien die Macht haben und das Handeln bestimmen.
({12})
Das sind nicht die Amerikaner und schon gar nicht die Europäer; das sind die Russen, und die haben klug agiert, indem sie sich jetzt gerade zwischen die syrischen Truppen, die Kurden und die Türken geschoben haben. Die Russen wirken derzeit friedenstiftend. Keine andere Truppe macht das auf diesem Schlachtfeld.
({13})
Lassen Sie uns also in den Vereinten Nationen zusammensetzen, mit den Russen gemeinsam, und einen Plan entwickeln, um eine solche Schutzzone einzurichten.
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Holen wir uns das Okay der Amerikaner dazu, die hier eine traurige Figur abgegeben haben, meine Damen und Herren. Das wäre Realpolitik in einem Sinne für Europa, für Deutschland und im Sinne der Kurden in Syrien und auch der Türken, die von ihrem Präsidenten gerade um die Zukunft gebracht werden.
Danke schön, meine Damen und Herren.
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Für die SPD-Fraktion hat das Wort die Kollegin Gabriela Heinrich.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Anfang des Jahres hat Präsident Erdogan erklärt, dass die Türkei den Friedensprozess in Syrien in führender Rolle gestalten will.
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Heute erscheint das wie aus einer völlig anderen Zeit. Stattdessen gefährdet und kostet die türkische Militäroffensive in Nordsyrien Menschenleben und schafft neue Fluchtursachen. Ein Frieden in Syrien wird damit immer unwahrscheinlicher. Diese Militäroffensive destabilisiert die Region weiter. Diese Militäroffensive kann dazu beitragen, dass der bezwungen geglaubte IS neuen Aufwind bekommt.
Die Bundesregierung hat sich dafür eingesetzt, einen politischen Prozess einzuleiten. Ende Oktober soll erstmalig ein Verfassungskomitee unter Leitung der UNO einberufen werden. Aber durch die Militäroffensive wird ein möglicher Friedensprozess jetzt erneut konterkariert.
Alle wissen: Frieden in Syrien erreichen wir nicht mit militärischer Eskalation und Alleingängen. Militärische Gewalt gegen kurdische Gruppen führt weder zu Frieden noch zu einer dauerhaften Sicherheit in der Türkei. Es ist deshalb richtig, dass die Bundesregierung – die Bundeskanzlerin, der Außenminister – und die Europäische Union die Militäroffensive der Türkei in Syrien verurteilt haben und ein Ende der Kampfhandlungen fordern, und zwar sofort.
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Für die SPD-Bundestagsfraktion möchte ich betonen, dass jetzt nur gemeinsam nach Lösungen gesucht werden kann. Es geht nicht darum, was Deutschland macht, was Schweden will und was Frankreich vorhat. Es geht darum, dass die EU zusammensteht und wir als Europäer mit einer Stimme sprechen. Nur dann haben wir einen möglichen Einfluss, und nur dann können wir entscheidender Akteur für den Frieden in Syrien sein. Der Beschluss der EU-Außenminister ist dazu ein wichtiger erster Schritt, und, ja, vielleicht und wahrscheinlich werden noch weitere folgen müssen.
Wir wissen, wie sehr die Menschen in Nordsyrien jetzt wieder leiden müssen. Wir hören die ersten Berichte über schwere Menschenrechtsverletzungen, über Kriegsverbrechen, und wir wissen, dass erneut und wieder humanitäre Hilfe nötig sein wird. Wir wissen auch, dass wir die Menschen in Syrien kaum erreichen werden und dass es weiter viele Opfer geben wird. Deshalb muss diese Offensive gegen kurdische Gruppen sofort beendet werden, und gerade als Bündnispartner müssen wir dies fordern.
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Trotz alledem: Wir werden weiter miteinander reden müssen, übrigens selbst dann, wenn der türkische Präsident mit Beleidigungen reagiert. Wir müssen klare Worte finden, Maßnahmen ergreifen, ein Stoppsignal setzen. Aber müssen wir eskalieren? Es wird in Syrien keinen Frieden geben ohne die Türkei, gegen die Türkei; das ist uns doch heute auch allen klar. Der einzige Weg ist und bleibt – ob uns das gefällt oder nicht –: Wir müssen weiter im Dialog bleiben. Das mag manch einem hilflos erscheinen, weil das ja nur Worte sind. Aber wenn man keine Worte will, dann muss man sagen, was man ansonsten entgegensetzen will.
({3})
Und ist es nicht eher hilflos, jetzt plötzlich wieder auf die Regierung in Syrien zu setzen? Eine Regierung, die schwerste Menschenrechtsverletzungen zu verantworten hat, eine Regierung, die Millionen von Menschen in die Flucht getrieben hat, die soll jetzt der Rettungsanker werden? Es ist einfach nicht glaubwürdig, wenn jetzt Die Linke maximale Sanktionen gegen die Türkei fordert, aber gleichzeitig die Sanktionen gegen das Assad-Regime aufheben will.
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Meine Damen und Herren, es muss Schluss sein mit den Stellvertreterkriegen in Syrien.
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Die Weltgemeinschaft muss hier zusammenarbeiten. Und ob uns das gefällt oder nicht: Wir werden weiter daran arbeiten müssen, sowohl die USA als auch Russland wieder ins Boot zu bekommen. Hier hätte die Türkei, wenn sie es wollte, durchaus Potenzial als Vermittler. Damit wir auf diesen Weg kommen, müssen zuallererst die Waffen schweigen. Daher fordern wir den sofortigen Rückzug der türkischen Kräfte aus Syrien, ein Ende der Gewalt und einen neuen Anlauf für den Friedensprozess.
Vielen Dank.
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Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege Stefan Liebich.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ohne die Volkverteidigungseinheiten der YPG wären die versklavten Jesidinnen nicht befreit worden, ohne die Volkverteidigungseinheiten der YPG wären die Terroristen vom IS nicht weitgehend besiegt worden. Tausende der Soldaten und Soldatinnen der YPG sind in diesem Kampf gestorben, auch für uns. „Zum Dank“ hat Donald Trump sie spontan in einem Telefonat mit Recep Tayyip Erdogan fallengelassen, im Stich gelassen. Das, Kollege Annen, ist keine Tragik, das ist ein beispielloser und ehrloser Verrat.
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Es reicht nicht, heute auf das Weiße Haus zu zeigen. Die UNO, die Europäische Union und auch die Bundesrepublik Deutschland sind mit schuld an den Verbrechen, die jetzt gerade im Norden und Osten Syriens geschehen. Die UNO hat sich durch die Blockaden des UN-Sicherheitsrates durch die USA und Russland selbst aus dem Spiel genommen. Die Europäische Union hat sich durch den zynischen Flüchtlingspakt mit Erdogan erpressbar gemacht. Und Deutschland hat die Türkei aufgerüstet. Die Weltgemeinschaft hat die Menschen im Norden und Osten Syriens alleingelassen. Das ist eine Schande.
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Der türkische Präsident plant derweil massenhafte ethnische Vertreibungen und Ansiedlungen von arabischen Syrerinnen und Syrern – offenbar auch gegen deren Willen – in den Regionen, aus denen zuvor die kurdischen Syrerinnen und Syrer vertrieben werden sollen. Das ist ein Kriegsverbrechen, und das darf nicht zugelassen werden.
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Gestern – meine Kollegin Dağdelen hat darauf hingewiesen – war bei uns Ahmed Sheikho zu Gast – er ist auch heute hier –, der Europavertreter der demokratischen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens. Er sagte: 70 000 Kinder können derzeit nicht zur Schule gehen. 200 Zivilisten sind tot, 600 sind verletzt. Insgesamt sind 400 000 Menschen auf der Flucht vor Erdogans Soldaten und seinen islamistischen Alliierten. Er bat uns: Wir brauchen dringend humanitäre Hilfe. Wir brauchen Nahrung. Wir brauchen Medikamente. – Hier schnell zu helfen, ist das Mindeste, was Deutschland tun kann.
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Es gibt noch etwas. Wir haben alle zur Kenntnis nehmen müssen, dass aus einem Gefängnis in Nordsyrien, in dem mutmaßliche IS-Terroristen und deren Angehörige gefangen gehalten werden, 1 000 Menschen ausgebrochen sind. Seit Monaten grübelt die Bundesregierung, wie sie mit den deutschen Staatsangehörigen unter diesen Leuten umgeht. Es geht hier übrigens auch um 100 Kinder. Sie hat trotz dringender Bitten der nordsyrischen Verwaltung diese mit dieser Herausforderung alleingelassen, die das jetzt wegen des Überfalls durch ein NATO-Mitglied nicht mehr leisten kann. Offenbar bremst hier in der Koalition die CSU. Das ist nicht akzeptabel.
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Es sind dadurch übrigens nicht nur Menschen in Nordsyrien in Gefahr. Was glauben Sie denn, wo die Terroristen unter den Ausbrechern hingehen? Entweder es gelingt, dass ein internationales Gericht die Terroristen aburteilt, oder die Herkunftsländer müssen das übernehmen – auch Deutschland. Spätestens jetzt müssen sie handeln.
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Und noch etwas können sie tun. In diesen Tagen gehen viele Menschen in ganz Deutschland in Solidarität mit den überfallenen Menschen in Nordsyrien auf die Straße, zum Beispiel am Samstag in Köln. Wir Linke rufen alle friedliebenden Menschen auf, sich an diesen Demonstrationen zu beteiligen. Natürlich werden dort auch die Symbole der Volksverteidigungseinheit YPG, die die kurdische, aramäische und arabische Bevölkerung vor den türkischen Soldaten und ihren islamistischen Unterstützern verteidigt, gezeigt.
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Immer wieder kommt es dabei zu Ermittlungen der Staatsanwaltschaft. Das ist doch absurd. Beenden Sie endlich diese Praxis!
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Noch eines zum Schluss. Niemand hier, in Brüssel oder in Washington sollte sich jetzt über die Vereinbarung zwischen der Verwaltung Nordsyriens und der Assad-Regierung empören. Es ist so unendlich traurig, dass zwei NATO-Staaten, die USA und die Türkei, die Kurdinnen und Kurden in die Arme ihrer früheren Unterdrücker treiben. Unser Gast hat gestern dazu gesagt: Wir trauen keiner staatlichen Institution; aber wir haben die Verantwortung, das Leben unserer Zivilbevölkerung zu schützen. Wer den Kurden dabei hilft, dem reichen wir die Hand; aber wir werden unsere Autonomie als Teil Syriens nicht aufgeben.
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Wir werden niemals wieder einflusslos wie vor 2010 leben. – Wir hoffen sehr, dass das gelingt.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Markus Grübel.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ohne Not hat der US-Präsident in Syrien ein Riesendesaster angerichtet. Durch den Abzug der US-Truppen wurden die Voraussetzungen geschaffen, dass türkische Militärs in das syrisch-türkische Grenzgebiet auf syrischem Boden eindringen konnten. Es ging um 50 bis 100 Soldaten, also um ein kleines Kontingent, das abgezogen wurde, und das, wie gesagt, ohne jede Not. Einmal mehr waren innenpolitische Erwägungen wichtiger als die Verantwortung für die Welt und die Verantwortung in der Welt.
Die Operation der türkischen Streitkräfte ist mit dem Völkerrecht unvereinbar. Durch diese Operation wird die ganze Region noch instabiler. Gestärkt wird der IS; dem IS werden Räume für ein Wiedererstarken eröffnet. Gestärkt wird Assad; er hat Land- und Prestigegewinne. Und gestärkt wird Russland; Russland kann seine Interessen ungestört verfolgen und sich der Welt als zuverlässiger Partner präsentieren. Der US-Präsident hat also ein Geschenk gemacht – dem IS, Assad, Putin und dem Iran. Für die Türkei, glaube ich, war es eher ein Danaergeschenk, ein Geschenk, das der Türkei auf die Füße fallen wird.
Die Beschlüsse des EU-Rats für Außenbeziehungen zu Nordostsyrien von Montag reichen nach meiner Überzeugung nicht aus. Syrien ist unser unmittelbarer Nachbar – einen Steinwurf weg von den griechischen Inseln. Darum muss sich die EU hier viel stärker einbringen. Die türkische Militäroperation belastet das Verhältnis zwischen der Türkei und der Europäischen Union, und sie belastet auch das Verhältnis in der NATO. Wir hätten eigentlich bei dem gegenwärtigen Zustand der Welt allen Grund, hier enger zusammenzurücken, statt Streit zu säen.
Sehr geehrte Damen und Herren, die türkische Militäroperation bringt auch neue Unsicherheit in den Nordirak. Die türkische Operation löst eine Flüchtlingsbewegung aus. Es wird von rund 200 000 Menschen gesprochen, die schon geflohen sind. Neues unsägliches Leid kommt über die Menschen. Flüchtlinge aus Syrien, darunter auch IS-Anhänger, kommen in die Ninive-Ebene. Noch sind es wenige. Bis zum heutigen Tag sollen 500 Flüchtlinge dort angekommen sein. Aber es werden mehr werden. Die vielfältigen Maßnahmen, die wir, die Bundesregierung, das BMZ, viele Organisationen, getroffen haben, um die Sicherheit im Nordirak zu verbessern, die Infrastruktur der zerstörten Städte und Gemeinden im Nordirak wieder aufzubauen, den Menschen eine Lebensgrundlage zu bieten und so die Voraussetzungen für eine Rückkehr in die alte Heimat zu schaffen, werden dadurch gestört. Gerade die religiösen Minderheiten – Christen, Jesiden und andere – leiden ganz besonders darunter. Die sowieso schon komplizierte Lage in Syrien wird durch einen weiteren Konflikt, ein weiteres Konfliktfeld verschärft.
Wir setzen Hoffnungen auf den Verfassungsprozess. Aber es ist zu befürchten, dass ein gestärkter Assad hier überhaupt keine Beiträge mehr leistet.
Wir bräuchten dringend eine Einigung, wie die Lage im Raum Idlib gelöst werden kann. Immer dann, wenn Kämpfer eingeschlossen waren, eingekesselt waren, war die Lösung, dass sie freies Geleit bekommen und nach Idlib abziehen. Aber für Idlib wird es kein Idlib geben, und darum brauchen wir hier eine Lösung. Die Kämpfer radikalisieren sich weiter, und unter die Räder kommt die Zivilbevölkerung, die in der Raumschaft Idlib lebt. Eine Einigung könnte herbeigeführt werden, wenn Russland und die USA gemeinsam eine Lösung suchen würden. Aber dazu müsste die US-Regierung eine Initiative ergreifen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir verhandeln nächste Woche im Bundestag abschließend das Anti-IS-Mandat. Durch die neue Lage wird das deutsche Engagement im Bereich Luftaufklärung und Luftbetankung wieder wichtiger. Eine gute Aufklärung hilft, den wiedererstarkten IS zu bekämpfen. Darum komme ich zu einem völlig anderen Ergebnis als Sie, Frau Brugger: Wir brauchen diesen Einsatz dringender denn je. – Darum sollten wir auch in der Koalition nachdenken, ob die veränderte Lage nicht auch eine veränderte Antwort verlangt in der Frage, ob das Ende Luftaufklärung/Luftbetankung wirklich Ende März 2020 sein soll. Ich verstehe ja, dass die SPD gerade andere Diskussionen führt und erst diese Dinge lösen muss. Aber danach, Ende des Jahres, sollten wir uns in aller Sachlichkeit die Lage anschauen und fragen, ob wir auf die neue Lage mit veränderten Antworten reagieren müssen.
Zu Ihnen von der AfD: Sie haben die doppelte Staatsangehörigkeit angesprochen. Die Möglichkeit des Entzugs haben wir längst beschlossen. Das haben wir im Juni dieses Jahres, meine ich, durch Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes beschlossen.
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Sie sind also mit Ihren Forderungen manchmal hinter dem, was die von Ihnen kritisierte Koalition alles macht.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kann kurz zusammenfassen: Es ist nichts besser geworden, aber vieles schlechter im Nahen Osten.
Vielen Dank.
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Die nächste Rednerin: die Kollegin Aydan Özoğuz, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zu Beginn doch wiederholen: Wir verurteilen diese Militäroffensive der Türkei im Norden Syriens. Die Kampfhandlungen müssen beendet, die türkischen Truppen aus Syrien zurückgezogen werden. Durch Krieg löst man keine Probleme; durch Krieg schafft man Leid, Elend, Tod und in diesem Fall sogar noch eine Verunsicherung in der Region, das Erstarken terroristischer Gruppierungen, also genau das Gegenteil von dem, mit dem dieser Einsatz gerechtfertigt wird, und das lehnen wir deshalb in aller Schärfe ab.
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Die Frage, warum nun Präsident Trump das so möglich gemacht hat, muss man wirklich stellen; denn normalerweise hat man irgendein Kalkül. Das mag einem nicht passen, und das mag man nicht gut finden; aber man sieht meistens doch zumindest irgendeinen Punkt, der dem Land nützen würde. Den kann man hier nicht sehen.
Wir machen gerade wieder eine Kehrtwende. Wir bringen die Lage zurück an den Anfang, und das wird der US-Kongress zu Recht kritisieren. Da wird es zu Recht Stimmen geben, die sagen: Das wollen wir so nicht stehen lassen. – Ich hoffe sehr, dass es in den USA dazu eine sehr, sehr starke Debatte geben wird, die den Präsidenten vielleicht ein Stück weit zum Einlenken bringt.
Es wurde immer wieder gesagt, dass sich der Außenminister nicht genügend zeigt, dass er nicht stark genug auftritt. Das ist, muss ich sagen, in Ankara offenbar anders angekommen.
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Da kommt der türkische Präsident mit dieser, ich mag sagen, typischen, auch etwas männlichen Rhetorik, stellt sich hin, schreit laut – das habe ich heute irgendwie auch schon erlebt – und sagt:
Da kommt der deutsche Außenminister – ein Mann, der seine Grenzen nicht kennt – und sagt: Wir werden der Türkei keine Waffen verkaufen.
Nicht er, sondern Maas – Deutschland – werde verlieren, so Erdogan. – Die weiteren Beleidigungen spare ich mir an dieser Stelle jetzt mal und halte fest: Ein Staatspräsident, der es nötig hat, den Außenminister eines anderen Landes so anzugehen, muss doch verzweifelt sein,
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dem steht doch das Wasser bis zum Hals, der ist nicht in einer starken Position.
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Ich glaube schon, dass man sehr deutlich sagen kann, dass die türkische Regierung eine Begründung liefert, mit der sie den Großteil der türkischen Bevölkerung, selbst der Opposition, hinter sich bringt. Das hat einen Grund: In der Türkei gibt es eine stetig wachsende Unzufriedenheit über die hohe Zahl der Flüchtlinge – die wir hier nicht annähernd so haben, und bei uns ticken auch schon genügend Leute aus – aufgrund einer durchaus ganz schrecklichen wirtschaftlichen Lage, die der Staatspräsident übrigens selber mit in die Wege geleitet hat. Und um von dieser Unzufriedenheit abzulenken: Was kommt einem da vielleicht zupass?
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Eben ein solcher Einmarsch, mit dem man versucht, alle wieder hinter sich zu versammeln, ein Angriff, dem heute kaum jemand in der Türkei wagt zu widersprechen. Das ist das eigentlich Erschreckende. Es gibt sehr, sehr wenige Menschen, die es überhaupt wagen, sich gegen diese aggressive Linie zu stellen. Deswegen ist es mir ein besonderes Anliegen, hier noch einmal deutlich zu machen, dass es auch Frauen sind, die gleich zu Beginn Nein zum Krieg gesagt haben, wie zum Beispiel die Vorsitzende der CHP in Istanbul, Canan Kaftancioglu.
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Sie wurde übrigens vor Kurzem wegen alter Tweets zu fast zehn Jahren Haft verurteilt. Sie hat deutlich gemacht, dass sie sich gegen diese Initiative stellt. Gerade heute habe ich vom CHP-Abgeordneten Sezgin Tanrikulu dies in die Hand bekommen: „Dieser Krieg ist ein ungerechter Krieg. Dieser Krieg ist auch ein Krieg gegen unser Volk, unsere Bürger. Ich möchte unterstreichen, dass dieser Krieg auch gegen die Kurden ist.“ Solche Abgeordneten verdienen doch unsere Unterstützung, damit sie wieder offen reden und sagen können, was gerade im Land passiert.
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Dieser Einmarsch destabilisiert eine ohnehin schon sehr fragile Region und – das ist, glaube ich, heute schon oft genug gesagt worden – eröffnet dem IS womöglich auch die Rückkehr zu alter Stärke. Ohne jeden Zweifel wird dieser Konflikt, diese Militäroffensive, keinen Gewinner hervorbringen. Wir werden nicht erleben, dass die Türkei oder Syrien dadurch zu friedlicheren Ländern gemacht werden, sondern es wird genau das Gegenteil sein. Deutschland positioniert sich hier sehr klar. Ich hoffe, dass wir bei diesen Herausforderungen dazu beitragen können, dass sich in dieser Region nicht mit Waffen, sondern mit Gesprächen begegnet wird. Deswegen ist es so wichtig, dass die Gesprächskanäle niemals abreißen; das gilt übrigens für jedes Land. Es ist sehr, sehr wichtig, dass wir niemals den Gedanken an Diplomatie und Gespräch verlieren.
Vielen Dank.
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Der nächste Redner: der Kollege Dr. Andreas Nick, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach den beiden Operationen „Schutzschild Euphrat“ 2016 und „Olivenzweig“ 2018 erleben wir nunmehr seit dem 9. Oktober die dritte militärische Offensive der Türkei in Syrien.
Auch diesmal gilt angesichts der Dimension noch mehr als bei den beiden Vorläufern: Die Operation ist politisch falsch und militärisch in hohem Maße riskant. Mit dem Völkerrecht ist das türkische Vorgehen trotz der Berufung auf Artikel 51 der UN-Charta und das bilaterale Adana-Abkommen von 1998 nicht zu vereinbaren. Das Vorgehen stärkt vorrangig das Assad-Regime und die Rolle Russlands in Syrien. Und nicht zuletzt aus humanitärer Sicht ist das Vorgehen insbesondere der mit der Türkei verbündeten Milizen inakzeptabel.
Überraschend kam die Entwicklung leider nicht. Die Türkei hat nie einen Zweifel daran aufkommen lassen, dass sie kein von der YPG kontrolliertes Gebiet an ihrer Südgrenze akzeptieren wird. Aber eine „Friedensquelle“, wie diese Mission jetzt genannt wird, für die Region ist diese Offensive nun wirklich nicht – im Gegenteil. Vielmehr drohen massive Menschenrechtsverletzungen, zusätzliche Instabilität, neue Fluchtbewegungen und ein Wiedererstarken des IS. Entsprechend richtig ist die entschiedene Verurteilung des türkischen Vorgehens durch die Bundesregierung. Auch im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat sie zügig die Initiative ergriffen; es wird noch heute im Sicherheitsrat eine Debatte dazu geben. Lassen Sie mich anfügen: Nicht alles, was die Bundesregierung in dieser Angelegenheit richtigerweise unternimmt, erfolgt öffentlich – und das aus gutem Grund.
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Die Eskalation im Norden Syriens ist aber leider auch Folge eines bereits seit Längerem kurzsichtigen und zunehmend unberechenbaren Verhaltens der Vereinigten Staaten in der Region. Ich darf noch einmal daran erinnern: Noch im Juni dieses Jahres haben Abgesandte der USA von uns in Deutschland gefordert, die US-Bodentruppen teilweise durch Einsatzkräfte der Bundeswehr zu ersetzen. Auch im Nachhinein müssen wir feststellen: Es war völlig richtig von der Bundesregierung, diesem Begehren nicht nachzukommen. Für eine Entsendung deutscher Soldaten bis hinein in die Kommandoposten der YPG hätte es auch niemals eine Mehrheit in diesem Haus gegeben.
Strategische Weitsicht ist aber auch eine Anforderung an uns Europäer. Ja, es wird nicht nur auf der anderen Seite des Atlantiks über Wirtschaftssanktionen diskutiert; wir müssen da auch alle Möglichkeiten in Erwägung ziehen. Aber wir müssen uns durchaus immer wieder auch fragen, ob es in unserem ureigenen strategischen Interesse sein kann, die Türkei weiter geopolitisch von uns zu isolieren und vom Westen weg in die Nähe Russlands, Chinas oder anderer Mächte zu treiben. Denn noch ist die Türkei durch ihre Mitgliedschaft etwa im Europarat und insbesondere in der NATO fest in westlichen Institutionen verankert. Im Rahmen dieser Gesprächskanäle müssen auch wir entschlossen einen Stopp der türkischen Offensive einfordern, gleichzeitig aber auch bestehende Bindungen stärken und unsere Dialogfähigkeit langfristig erhalten. Dazu gehört auch, legitime Sicherheitsinteressen der Türkei jedenfalls erst einmal zur Kenntnis zu nehmen und in die Überlegungen mit einzubeziehen. Das gilt ebenso für die erheblichen Lasten der Aufnahme von circa 4 Millionen Flüchtlingen, die nicht nur aus Syrien, sondern auch aus dem Irak, Afghanistan und dem Iran in die Türkei gekommen sind.
Aber eines ist völlig klar: Weder eine militärische Offensive noch eine zwangsweise Umsiedlung von Flüchtlingen in eine sogenannte Schutzzone entlang der türkischen Grenze ist ein völkerrechtlich akzeptables Vorgehen. Beides wird – im Gegenteil – nur neue Probleme schaffen.
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Für uns ist völlig klar: Eine Beteiligung an der Finanzierung des Wiederaufbaus, etwa in zwangsumgesiedelten Regionen, kann und wird es mit der EU nicht geben.
Man mag es bedauern, aber zur Redlichkeit gehört am Ende dieser Aktuellen Stunde leider auch die Einsicht, dass unsere Handlungs- und Einflussmöglichkeiten zur Lösung des Syrien-Konflikts begrenzt sind und bleiben. Die EU muss aber weiter daran festhalten, dass ein möglicherweise zu finanzierender Wiederaufbau in Syrien einen politischen Prozess und ein geeignetes Umfeld auch zur freiwilligen Rückkehr von Flüchtlingen voraussetzt. Das gilt im Übrigen für alle am Krieg in Syrien beteiligten Akteure. Und auch wenn der Friedensprozess in Syrien und die Arbeit des Verfassungskomitees durch den türkischen Einmarsch erschwert werden, müssen wir sie weiter unterstützen.
Meine Damen und Herren, ein Vorgehen wie das der Türkei dient nicht den langfristigen strategischen Erfordernissen. Gewalt kann nicht die Antwort auf die krisenhaften Entwicklungen in der Region sein: weder in Syrien noch in der Türkei und – lassen Sie mich das zum Schluss hinzufügen – schon gar nicht auf den Straßen und Plätzen hier bei uns in Deutschland.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Nick. – Die letzte Rednerin in der Aktuellen Stunde: die Kollegin Dr. Daniela De Ridder, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine heutige Rede möchte ich – mit Verlaub, sehr verehrter Herr Präsident – damit beginnen, dass ich sage: Bravo, FC St. Pauli! Bravo!
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Der Ausschluss des Spielers Cenk Sahin, der offen den Angriffskrieg der Türkei in Nordsyrien begrüßt und unterstützt hat, ist ein notwendiger und richtiger Schritt.
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Es ist nämlich eine Farce, zu behaupten, dass Sport und dessen Großereignisse unpolitisch seien, gerade dann, wenn es um Konflikte geht, bei denen Menschenleben auf dem Spiel stehen. Es ist schließlich von enormer Bedeutung, dass nicht nur unsere Fußballvereine, sondern wir alle gegen Faschismus, Rassismus, Autokratie und Krieg Flagge zeigen. Auch hier in diesem Hause würde uns dies guttun, Herr Hampel.
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Der türkische Präsident Erdogan wirft Außenminister Heiko Maas also vor, er kenne seine Grenzen nicht; die Kollegin Özoğuz hat es eben zitiert. Dass die AfD, meine Herren, das abtut, als wäre es eine Rauferei auf dem Schulhof, lässt vermuten, dass Sie sich damit gut auskennen. Alle Achtung!
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Es ist vielmehr ein Stück aus dem Tollhaus, wenn der Kriegstreiber Erdogan solche Worte von sich gibt, wo er doch gerade dabei ist, die Grenzen der Türkei nach Süden zu verschieben.
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Ob im Fußball oder in der Politik: Reden und Gesten sind, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, eben immer doch auch Handeln. Welche Folgen nämlich Kriegsrhetorik haben kann, sehen wir beispielhaft am traurigen Fall der kurdischen Politikerin und Frauenrechtlerin Havrin Khalaf, die vor wenigen Tagen in Syrien von Milizen ermordet wurde. Wir verurteilen solche Taten aufs Allerschärfste, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Uns stößt es zutiefst ab, dass unser NATO-Partner Türkei ganz unverhohlen – ich sage das in aller Deutlichkeit – eine völkerrechtswidrige Invasion in Nordsyrien gegen die kurdische Zivilbevölkerung vorantreibt. Wir dürfen aber andererseits auch nicht vergessen, dass das rücksichtslose und innenpolitisch motivierte Handeln von US-Präsident Trump erst diese Räume geöffnet hat. In Washington – und das ist auch Teil der Wahrheit – muss sich Trump nämlich ganz erheblich vor einem drohenden Impeachment fürchten. Ich war letzte Woche erst in Washington; ich kann Ihnen das eindeutig bestätigen.
Richtig ist trotz alledem auch, dass weiterhin mit allen Beteiligten von deutscher Seite Gespräche zu führen sind. Deutschland steht hier in der Pflicht, diplomatische Lösungen zu forcieren und diese mit Substanz zu unterfüttern. Dazu gehört in der Tat auch, dass wir neue Rüstungsexporte in die Türkei stoppen und dieses Verhalten nicht ohne Weiteres tolerieren, nein, es sogar aufs Schärfste verurteilen.
Was an dieser Auseinandersetzung allerdings auch erneut deutlich wird, ist, dass autokratische, populistische und emotionsgetriebene Politik zu verurteilen ist. Die letzten politischen Handlungen US-amerikanischer und türkischer Provenienz erzeugen nämlich erneut Elend. Zu den Folgen zählen – bekanntermaßen – Flucht, Vertreibung, Hunger, Elend und Tod, und, ja, sie befördern den IS.
Die Situation Syriens verdeutlicht uns allerdings auch, dass wir jetzt wieder verstärkt auf die NATO als strategisches Bündnis für die Wahrung unserer ureigenen Sicherheitsinteressen angewiesen sind. Die NATO – das bleibt essenziell – muss dabei – das hat die AfD leider noch nicht verstanden – Wertebündnis sein und bleiben, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Reden wir über Russland. Russland hat in Syrien gezeigt, dass sie – zur Not auch militärisch – entschlossen sind, wieder als Global Player wahrgenommen zu werden. Aber auch Russland muss in diesen Diskurs mit einbezogen werden.
Was kann, was muss also die Rolle deutscher Politik in diesem Konflikt sein? Immer deutlicher wird, dass Deutschland zwingend eine Rolle der Stabilisierung einnehmen muss, nicht nur aus historischer Verantwortung, sondern eben auch aus ureigenem Interesse.
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Mit Blick auf die Kurdinnen und Kurden sage ich, dass die impulsgetriebene Politik à la Trump oder Erdogan fahrlässig ist. Wir dagegen haben unsere Verbündeten unterstützt. Ich erinnere mich sehr wohl an die Bewaffnung und die Entscheidung, die wir hier in diesem Hohen Haus getroffen haben, die Peschmerga zu unterstützen. Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen: Die Kurden jetzt so fallen zu lassen, wie es Donald Trump tut, das muss doch für die größte Frustration auf deren Seite sorgen. Wen überrascht es da, dass Kurdinnen und Kurden nun nach jedem Strohhalm greifen und sich erneut an Assad wenden.
Ich bin froh, dass Deutschland nicht nur als Fußballnation mit Frankreich kooperiert; aber ich wünschte mir noch mehr europäische Partner, die diesen Friedensprozess unterstützen.
Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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