Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, einen wunderschönen guten Morgen! Wir sprechen heute über das wichtige Thema der Pflege, das uns alle betrifft. Die Pflege ist eine der großen gesellschaftlichen Fragen, und sie ist Thema in allen Familien. Und sie ist eine der sensibelsten Fragen; denn wie wir damit umgehen, wie unsere Eltern, wie die älteren Menschen in unserem Land gepflegt werden, das entscheidet nicht zuletzt darüber, wie menschlich unsere Gesellschaft bleibt.
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Uns geht es dabei um die Pflegebedürftigen, die einen Anspruch auf beste Betreuung, auf Zuwendung und auf Würde haben. Uns geht es um die Pflegekräfte – darüber haben wir gestern gesprochen –, die anständige Löhne und ordentliche Arbeitsbedingungen verdient haben. Und uns geht es auch um die Angehörigen und um die Frage, wie die Pflege finanziert wird. Das ist heute das Thema. Wir wollen mit diesem Gesetz Angehörige entlasten.
Mit dem Thema Pflege wird jeder von uns früher oder später konfrontiert sein. Wahrscheinlich weiß jeder, der diese Situation schon einmal erlebt hat, wie belastend sie ist und wie emotional und organisatorisch man gefordert ist, wenn man die Pflege für seine Eltern oder für ältere Menschen organisieren muss. Das kann die Politik den Menschen nicht abnehmen, aber wir können dafür sorgen, dass dazu nicht auch noch große finanzielle Sorgen kommen.
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Deswegen wollen und werden wir Angehörige entlasten. Im Pflegefall wird das Sozialamt künftig erst dann auf das Einkommen von unterhaltsverpflichteten Kindern und Eltern zurückgreifen, wenn das individuelle Jahreseinkommen bei über 100 000 Euro liegt. Das ist eine echte Entlastung für die Angehörigen.
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Wir entlasten damit die Kinder von pflegebedürftigen Eltern, die ja mitten im Arbeitsleben stehen, hart arbeiten, Steuern zahlen, Kinder großziehen. Dieses Gesetz ist damit auch ein Beitrag für den sozialen Zusammenhalt. Angehörige zu entlasten, fördert den sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft.
Die Menschen, die sich um die Kinder und die Eltern kümmern, halten das Land zusammen. Deshalb ist es wichtig, dass sie entlastet werden. Gleichzeitig ist es aber auch wichtig, dass auch die Eltern entlastet werden. Sie müssen sich nun keine Gedanken mehr darüber machen, ob ihre Kinder finanziell Probleme bekommen, wenn die Eltern pflegebedürftig werden. Denn jeder, der pflegebedürftig ist, hat ein Recht darauf, anständig versorgt und betreut zu werden. Dieses Recht darf nicht geschmälert werden, auch wenn der Geldbeutel klein ist!
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Dass sich Kinder um ihre Eltern kümmern, wenn sie pflegebedürftig werden, das ist in unserem Land zum Glück eine tausendfach gelebte Selbstverständlichkeit. Zwei Drittel aller Pflegebedürftigen werden zu Hause gepflegt. Deshalb ist auch die Entlastung der Angehörigen an dieser Stelle längst überfällig. Eine menschliche Pflege hat gewiss ihren Preis – aber vor allem hat sie einen Wert, nämlich den, dass es Menschen sind, die das tun.
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In diesem Gesetz haben wir weitere Verbesserungen für Menschen mit Behinderungen vor. Wer ein volljähriges Kind mit Behinderungen hat, der muss künftig keine Zuzahlung zur Eingliederungshilfe mehr leisten. Diesen Beitrag streichen wir komplett. Auch damit helfen wir vielen Familien, die erwachsene behinderte Kinder haben.
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Unser Ziel ist es, dass Menschen mit Behinderungen möglichst selbstbestimmt leben und arbeiten können. Eine Voraussetzung dafür ist, dass sie ihre Rechte kennen. Deshalb haben wir im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes bundesweit Ergänzende unabhängige Teilhabeberatungsstellen errichtet; viele von Ihnen haben die in ihren Wahlkreisen vielleicht auch schon besucht. Dort beraten Menschen mit Behinderungen selbst Menschen mit Behinderungen – eine Beratung auf Augenhöhe, ein neues Element der Teilhabeorientierung, der Personenzentrierung. Das ist sehr gut. Deshalb werden wir mit diesem Gesetz die Finanzierung der Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung dauerhaft sicherstellen, auch das ein wichtiger Schritt zur Inklusion.
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Und Voraussetzung für ein möglichst selbstbestimmtes Leben ist auch, dass man Wahlmöglichkeiten hat, wie und wo man arbeitet. Auch das haben wir mit dem Bundesteilhabegesetz gestärkt. Wir haben schon das Budget für Arbeit eingeführt, mit dem Menschen, die bisher in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen arbeiten, in den Arbeitsmarkt gehen können. Dafür gibt es finanzielle Unterstützung. Das wollen wir jetzt um das Budget für Ausbildung erweitern, damit auch die Ausbildungschancen von Menschen mit Behinderungen auf dem ersten Arbeitsmarkt gestärkt werden.
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Unser Ziel ist, ebendiese Wahlmöglichkeit zu eröffnen und damit Arbeit und Ausbildung außerhalb einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen besser möglich zu machen. Das ist ein wichtiger Schritt. Wir wollen, dass Menschen mit Behinderungen in der Mitte unserer Gesellschaft ihren Platz haben. Das ist gelebte Inklusion und Selbstbestimmung. Deshalb ist das auch ein wichtiger Teil dieses Gesetzes.
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Meine Damen und Herren, mit diesem Gesetz entlasten wir viele Familien in Deutschland, besonders die, in Angehörigen von Pflegebedürftigen, und die, in denen Menschen mit Behinderungen leben. Wir verbessern die Situation für Menschen mit Behinderungen, wir verbessern Ausbildungschancen. Damit helfen wir ihnen, Entscheidungen zu treffen – unabhängig vom Geldbeutel. Denn uns geht es um gute Chancen für alle. Inklusion heißt, dass alle dabei sind, dass alle mitmachen können.
Deshalb, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, bitte ich Sie um konstruktive Beratungen dieses wichtigen Gesetzentwurfes. Zu diesem Thema habe ich übrigens so viele positive Reaktionen wie selten von Bürgerinnen und Bürgern bekommen; denn viele Menschen wissen, dass dieses Thema ganz wichtig ist. Es ist vielen Menschen ein Herzensanliegen, dass wir die Angehörigen von Pflegebedürftigen entlasten. Ich bitte Sie dabei herzlich um Unterstützung und gute Beratungen.
Vielen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Jürgen Pohl, AfD.
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Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Präsident! Es ist allerhöchste Zeit, dass wir die Familien bei der Pflege besserstellen, auch finanziell. Insofern ist das Angehörigen-Entlastungsgesetz ein Schritt in die richtige Richtung. Es hat Stärken, aber auch Schwächen. Da wir uns erst in der ersten Lesung befinden, bieten wir an, dass wir als Vertreter von 25 Prozent der Wähler im Osten tatkräftig bei der Neuausgestaltung dieses Gesetzes helfen.
Gut und richtig ist es, den Alten und den zu pflegenden Menschen die Angst zu nehmen, im Alter nicht versorgt zu sein. Gut und richtig ist auch, die Lebensleistung dieser Menschen zu achten und wertzuschätzen, damit sie auch im Alter in Würde leben können. Sprechen müssen wir jedoch darüber, wie das Gesetz angelegt ist. Es wird wieder einmal die stationäre der häuslichen Pflege vorgezogen. Es gibt keinen Grund dafür, dass wir unsere Alten nicht dort belassen, wo sie sich wohlfühlen, nämlich zu Hause, und nicht dort die Pflege vornehmen. Ich denke, dass insbesondere die älteren Kollegen unter Ihnen und ihre Familien ähnliche Erfahrungen zur Problematik stationärer und häuslicher Pflege gemacht haben. Sie werden sich meiner Meinung anschließen, dass die häusliche Pflege vorzuziehen ist.
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Häusliche Pflege ist ein Gebot der Menschlichkeit. Darum genießt sie bei uns in der AfD die allerhöchste Wertschätzung. Und darum wollen wir sie auch finanziell besserstellen als die stationäre Pflege.
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Denn die Familien werden durch die häusliche Pflege enorm belastet. Ihnen soll zu Recht der Dank der Gesellschaft gehören.
Zugleich aber müssen wir den Alten die Ängste nehmen, die im Zusammenhang mit den Kosten der Pflege stehen. Ich warne davor, anzunehmen, dass allein mit der Annahme des Angehörigen-Entlastungsgesetzes die finanziellen Ängste unserer Alten vor den Pflegekosten entfallen. Denken Sie an die Rentenproblematik: 1,5 Millionen Rentner könnten Grundsicherung im Alter beziehen, 500 000 beantragen sie nur. Zwei Drittel der anspruchsberechtigten Rentner schämen sich und sammeln lieber Flaschen, als sich beim Amt zu offenbaren. Warum sollte das im Pflegefall anders sein? Ich meine, da liegt noch Potenzial.
Auch ist die Systematik dieses Gesetzes misslich. Ein Angehöriger muss entweder gar nichts oder 100 Prozent der Kosten zahlen. Das finde ich sozial ungerecht. Sozial gerecht wäre eine gestaffelte Übernahme der Kosten. Und diese soziale Gerechtigkeit sollten wir herstellen.
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Das Ziel dieses Gesetzes, ein Altern in Würde zu ermöglichen und die Angehörigen nicht ins wirtschaftliche Elend zu stürzen, ist richtig und wichtig. Aber wie wollen Sie das finanzieren? Vor allem: Wer soll hier zur Kasse gebeten werden? Um Klarheit zu schaffen, müssen wir in den Ausschüssen zunächst einmal klären, wie hoch die Finanzierungskosten tatsächlich sind. In der Sachverständigenanhörung muss man sich zwingend mit den Einwendungen der Kommunen auseinandersetzen. Diese stöhnen bereits heute unter der chronischen Unterfinanzierung. Wir müssen sehen, wie wir dieses Problem lösen.
Meine Damen und Herren, wir befinden uns in der ersten Lesung, und noch ist es Zeit, diesen Gesetzentwurf erheblich nachzubessern. Allen Parteien in diesem Haus sei noch ins Heft geschrieben: Unsere Eltern und Großeltern haben es verdient, auch im Alter mit Anstand und Würde behandelt zu werden.
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Unsere Eltern und Großeltern haben es verdient, nicht zum Spielball parteipolitischer Interessen zu werden. Jeder, der sich heute hier und in den Ausschüssen dem Ansinnen verschließt, die Pflege unserer Alten zu verbessern, hat diese Meinung dann vor seinen Eltern, vor seinen Großeltern, in der Familie zu vertreten und nicht nur hier im Hohen Haus. Daran sollte jeder denken, der hier heute spricht.
Danke schön.
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Nächster Redner ist der Kollege Wilfried Oellers, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren Zuhörer und Gäste heute im Deutschen Bundestag! Wir beraten heute das sogenannte Angehörigen-Entlastungsgesetz, ein Gesetz zur Entlastung unterhaltspflichtiger Angehöriger in der Sozialhilfe und in der Eingliederungshilfe.
Es wurde schon angesprochen, dass die Thematik der Pflege in der heutigen Zeit einen sehr großen Stellenwert in der Gesellschaft hat. Wir sind mit Gesetzen, die wir gestern beraten haben, schon dabei, die Rahmenbedingungen in der Pflege zu verbessern. Aber ganz besonders und wichtig ist natürlich die finanzielle Situation der Angehörigen im Bereich der Pflege, wenn es um die Frage geht, dass sie sich an den Kosten beteiligen.
Diese Kosten sind heutzutage nicht unerheblich. Daher sind die Ängste und Sorgen auch der Angehörigen sehr groß. Sie fragen sich, was geschieht, wenn sie im Falle der Pflegebedürftigkeit von Angehörigen finanziell in Anspruch genommen werden. Es ist eine zutiefst wichtige gesellschaftliche Aufgabe, vom Gesetzgeber aus hier entsprechende Unterstützung zu leisten, ebenso, dass die Gesellschaft im Rahmen der Pflege Unterstützung leistet. Das sind wir den Angehörigen schuldig, meine sehr geehrten Damen und Herren.
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Daher werden wir, wie im Koalitionsvertrag vereinbart, die Angehörigen von Unterhaltspflichten bzw. bei der Heranziehung zu Unterhaltszahlungen entlasten, die ein Jahresbruttoeinkommen von bis zu 100 000 Euro haben. Damit entlasten wir viele Menschen, die gegebenenfalls herangezogen werden könnten. Es ist eine Verbesserung, die sowohl die Sozialhilfe als auch soziale Entschädigungsrechte und die reformierte Eingliederungshilfe betrifft und entsprechend übertragen wird.
Was mir als Behindertenbeauftragtem unserer Fraktion ganz besonders wichtig ist, ist der Umstand, dass diese Einschränkung beim Unterhaltsrückgriff insbesondere auch für Eltern von behinderten Menschen gilt, die von dieser Regelung entsprechend profitieren.
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Ich möchte zu einem zweiten wichtigen Punkt kommen, der gerade im zehnten Jahr der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention in meinen Augen die logische Konsequenz unseres bisherigen Handelns ist. Nachdem wir das sogenannte Budget für Arbeit eingeführt haben, ist es in meinen Augen nur eine logische Konsequenz, auch ein Budget für Ausbildung einzuführen. Damit wollen wir junge Menschen, behinderte Menschen, Menschen mit einer Beeinträchtigung unterstützen, auf dem ersten Arbeitsmarkt eine Ausbildung zu machen. Wir wollen auch finanzielle Anreize für Arbeitgeber setzen, dass sie die Menschen unterstützen und ihnen eine Chance geben. Wir wollen schließlich den Menschen in der Gesellschaft im Rahmen der Inklusion und der Beteiligung am Arbeitsleben verbesserte Möglichkeiten geben. Das sind wir diesen Menschen schuldig. Auf diese Regelungen freue ich mich ganz besonders, meine sehr geehrten Damen und Herren.
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Allerdings müssen wir gerade bei diesem Punkt noch einmal in den parlamentarischen Beratungen, die jetzt anstehen, über die Voraussetzungen diskutieren, die wir schaffen wollen. Nach den Regelungen im bisherigen Entwurf ist es so, dass das Budget für Ausbildung nur dann in Anspruch genommen werden kann, wenn auch Ansprüche auf Werkstattleistungen bestehen und gleichzeitig ein Angebot vorliegt, eine anerkannte Berufsausbildung oder einen Ausbildungsgang nach dem § 66 des Berufsbildungsgesetzes oder dem § 42m der Handwerksordnung zu absolvieren. Man muss an dieser Stelle noch einmal überlegen, ob diese Regelung nicht zu eng gefasst ist
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und das Budget für Ausbildung gegebenenfalls ins Leere läuft. Deswegen brauchen wir die parlamentarischen Beratungen, um hier noch einmal anzusetzen.
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Ein weiterer wichtiger Punkt, der auch aus der Konsequenz des Bundesteilhabegesetzes der letzten Legislaturperiode entstanden ist, ist die Entfristung der Finanzierung bzw. der finanziellen Unterstützung für die Ergänzende unabhängigen Teilhabeberatung. Gerade die Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung hat es den Menschen ermöglicht, sich zu informieren, Unterstützung zu bekommen im beruflichen Leben, im Bereich der Teilhabe und im Rahmen des Rechts der eigenständigen Lebensplanung. Die Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung ist bisher sehr gut angekommen. Es ist wichtig, diese Mittel zu entfristen, damit nicht nur für die Stellen, die eingerichtet worden sind, Planungssicherheit besteht, sondern auch für die betroffenen Menschen, die eine Beeinträchtigung haben und die Unterstützungsleistungen brauchen, um am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können. Das ist eine sehr gute Regelung, die wir im Gesetz aufnehmen werden.
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Als letzten Punkt möchte ich nur darauf hinweisen, dass wir noch eine weitere klarstellende Regelung aufnehmen, und zwar im Bereich der Assistenzleistungen. Die Integrationsämter werden dann kein Ermessen mehr haben, wenn die Notwendigkeit der Arbeitsassistenz bereits festgestellt worden ist. Das, denke ich, dient der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit. Das wird für Planbarkeit bei den jeweiligen Stellen sorgen und unnötige Rechtsstreitigkeiten vermeiden. Ich freue mich auf die weiteren parlamentarischen Beratungen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Nächster Redner ist der Kollege Jens Beeck, FDP.
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Hochverehrter Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Staatssekretärin Griese! Sehr geehrte Zuschauerinnen und Zuschauer! Wir beraten heute das Angehörigen-Entlastungsgesetz. Gerade haben wir schon gehört, Frau Staatssekretärin Griese, dass davon gerade diejenigen, die zu Hause pflegen, profitieren sollen. Wie das mit diesem Gesetz erreicht werden soll, müssten Sie uns noch einmal in Ruhe erklären.
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Darauf wird sich aber die pflegepolitische Sprecherin meiner Fraktion gleich noch kaprizieren.
Entscheidend ist, dass wir noch zwei Gesetze haben, das nächste Reparaturgesetz zum Bundesteilhabegesetz und das Angehörigen-Entlastungsgesetz, mit denen wir nachsteuern können bei den Regelungen des Bundesteilhabegesetzes, die zum 1. Januar 2020 in Kraft treten.
Und da ist ganz vieles nach wie vor ungeregelt. Bis heute wissen wir nicht, ob über 18-Jährige in ihren Internatsschulen verbleiben können. Bis heute ist ungeklärt, wer die sehr komplexen Verträge, die nach dem Bundesteilhabegesetz zum 1. Januar 2020 eigentlich abgeschlossen werden müssen, insbesondere dort, wo Angehörige die Betreuung ehrenamtlich übernehmen, abschließen soll. Bis heute ist die Frage der Haftung dafür nicht geklärt.
Bis heute ist nicht geklärt, welche Flächen und welche Dienstleistungen in stationären Einrichtungen, die es heute ja noch gibt, aber ab dem 1. Januar 2020 nach dem Gesetz nicht mehr, der Existenzsicherung und welche der Fachleistung der Eingliederungshilfe zugeordnet werden.
Ich glaube, wir müssen alle gemeinsam sehr darauf achten, Frau Staatssekretärin Griese, dass wir die hohen Ziele, die das Bundesteilhabegesetz für Menschen mit Behinderung in diesem Land verfolgt, nicht durch bürokratischen Irrsinn, den wir in den letzten Monaten im Zusammenhang mit diesem Gesetz schon erlebt haben, vollständig konterkarieren und in Teilen sogar in ihr Gegenteil verkehren.
Wir haben jetzt in dem Gesetzgebungsverfahren Regelungen, mit denen wir einen Teil der Frage der Flächenzumessung – die 125-Prozent-Grenze; das, was darüber hinausgeht, soll künftig auch Fachleistung der Eingliederungshilfe sein – regeln. Wir haben auf der anderen Seite zugelassen – weil wir nicht pauschaliert haben –, dass in den Einrichtungen das Mittagessen in Wareneinkauf und Zubereitung zerlegt werden musste. Damit haben sich Einrichtungen tatsächlich monatelang befasst. Wir haben uns mit der Frage befasst: Was ist eigentlich mit dem Gaseinkauf für den Herd, auf dem zubereitet wird? Gehört das zu den existenzsichernden Leistungen, oder gehört es zu den Fachleistungen der Eingliederungshilfe?
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– Ja, Frau Tack, das haben Sie zugelassen. Sie sind in einer regierungstragenden Fraktion. – Und jetzt kommen wir noch mit Jahressteuergesetzen um die Ecke, die vielleicht dafür sorgen, dass wir das in der Umsatzsteuer unterschiedlich bewerten.
Es bleibt also dabei, dass wir eine Vielzahl von bürokratischen Maßnahmen machen, die dazu führen, dass es sehr, sehr schwierig wird, die positiven Effekte, die das Bundesteilhabegesetz eigentlich für die Betroffenen und die Einrichtungen haben sollte, noch umzusetzen.
In dem Zusammenhang: Die Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung weiter vorzusehen, ist richtig. Aber richtiger wäre es, eine solche Teilhabeberatung gar nicht zu brauchen, weil die Regelungen, die wir haben, klar und verständlich sind und nicht dazu führen, dass am Ende niemand mehr weiß, wo er eigentlich die Chance hat, seine Rechte geltend zu machen.
Das gilt im Übrigen auch für das Budget für Ausbildung; Herr Kollege Oellers hat darauf hingewiesen. Das Budget für Arbeit gibt es schon. Nur, wenn wir die Zahlen verfolgen: Es funktioniert nicht. Es funktioniert genauso wenig wie das persönliche Budget.
Wir laufen schwer Gefahr, dass auch das Budget für Ausbildung nicht funktionieren wird, weil es überhaupt nicht mit Vorschriften dazu arrondiert ist, dass jemand auf dem ersten Arbeitsmarkt auch mit den Einschränkungen, die er hat, erfolgreich sein kann. Dafür gibt es Modelle. Diese Modelle laufen derzeit aber durch eine sehr rigide Bewilligungspraxis der Bundesagentur für Arbeit Gefahr, nicht mehr weiterarbeiten zu können. Daran müssen wir arbeiten.
Frau Staatssekretärin Griese, ich schätze Sie persönlich außerordentlich als eine Person, die im Leben steht. Ihre Gesetze tun das nicht.
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Daran müssen wir gemeinsam arbeiten. Deswegen bieten wir Ihnen an, dass wir daran in der Anhörung und in den Beratungen konstruktiv mitarbeiten.
Herzlichen Dank.
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Pia Zimmermann, Die Linke, ist die nächste Rednerin.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Gäste auf den Tribünen! Angehörigen-Entlastungsgesetz: Dieser Titel weckt Erwartungen. Was hier vorliegt, löst immerhin ein Versprechen aus dem Koalitionsvertrag ein: Kinder und Eltern, die nach dem SGB XII unterhaltsverpflichtet sind, werden tatsächlich entlastet.
Bis 100 000 Euro brutto kann das Sozialamt nicht mehr auf das Jahreseinkommen der Kinder pflegebedürftiger Eltern zurückgreifen. Das betrifft auch viele Gutverdienende. Denn über 8 300 Euro Monatseinkommen ist ja nicht gerade wenig.
Immerhin: Eine Ungleichbehandlung im Sozialgesetzbuch XII wird endlich aufgehoben. Denn die hier vorgeschlagene Regelung gilt für alle Sozialhilfeleistungen wie auch im Entschädigungsrecht und für Eltern von Kindern, meist mit Behinderungen. Aber das ist lange überfällig. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung einer einkommensunabhängigen Leistung, in die menschenrechtliche Ausgestaltung von Sozialleistungen. Das ist gut, und natürlich unterstützen wir das.
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Aber das Selbstlob der Kanzlerin in der Haushaltsdebatte, dies sei ein „großer Beitrag zu mehr Sicherheit für viele junge Familien, die vor ganz anderen Aufgaben stehen“ – meine Damen und Herren, das teilen wir nicht.
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Hier geht es nicht um ein Generationenproblem. Hier geht es um die Frage, ob Pflege weiterhin arm macht.
Durch das Gesetz wird es keinen einzigen Menschen mit Pflegebedarf weniger geben, der Sozialhilfe beantragen muss. Das sind heute immerhin 380 000. Fast 3,5 Milliarden Euro geben die Kommunen jährlich dafür aus. Doch nur für geschätzt 2 Prozent dieser Ausgaben wurden Angehörige herangezogen. Der Gesetzentwurf selbst spricht nur von 275 000 zu erwartenden Leistungsfällen. Entlastet werden also nur wenige Angehörige.
Aber mindestens 3 Millionen pflegende Angehörige brauchen aktive Unterstützung: Versorgungsangebote, Rehaleistungen und eine echte Kompensation für Einkommens- und Rentenverluste.
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Die Kommunen fordern einen Ausgleich für ihren Mehraufwand von geschätzt 300 Millionen Euro, zu Recht: Mehr Sozialhilfeausgaben verkleinern ihre Möglichkeiten für eine gute Pflegeinfrastruktur. Und der Bund kommt mit 11 Millionen Euro jährlich davon!
Der Bund muss endlich von den global agierenden Pflegeketten, die ihre Gewinne in Luxemburg verstecken, die Steuern eintreiben. Denn es wird viel Geld gebraucht.
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Es wird viel Geld gebraucht für Menschen mit Pflegebedarf und ihre Angehörigen; die sind gemeinsam zu entlasten. Pflege darf nicht arm machen, und zwar niemanden.
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Daran gemessen ist auch dieses Gesetz zu klein, zu mutlos und zu sehr von der schwarzen Null geprägt.
Entlasten Sie alle Angehörigen und alle Menschen mit Pflegebedarf konsequent! Wir brauchen eine Pflegevollversicherung, die alle Pflegeleistungen bezahlt, solidarisch finanziert, weil alle einzahlen.
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Schaffen Sie die Eigenanteile ab! Befreien Sie die Menschen mit Pflegebedarf von Investitionskosten! Heben Sie das Rentenniveau!
Dann werden Anträge für Hilfe zur Pflege schrittweise überflüssig. Und alle Beteiligten werden entlastet: die Menschen mit Pflegebedarf, die Angehörigen und die Kommunen.
Meine Damen und Herren, herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Jetzt hat das Wort die Kollegin Corinna Rüffer, Bündnis 90/Die Grünen.
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Liebe Demokratinnen! Liebe Demokraten! Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union und von der SPD, Sie möchten mit diesem Gesetz Angehörige entlasten. Das finden wir gut und richtig so. Kinder pflegebedürftiger Eltern sollen künftig in der Regel nicht mehr finanziell herangezogen werden. Das ist eine Frage von Anerkennung, und es ist auch eine Frage der Würde der Pflegebedürftigen selber, weil sie in einer schwierigen Situation nicht noch mit dem Gefühl leben sollen, ihren Kindern im Alter auf der Tasche zu liegen. Das ist, finde ich, ein ganz wichtiger Aspekt: der Aspekt der Würde.
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Auch die Eltern erwachsener behinderter Menschen wollen Sie finanziell entlasten. Auch das finden wir gut und richtig. Aber – darauf haben Sie gewartet -
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für die Eltern minderjähriger behinderter Kinder sehen Sie keine Entlastungen vor. Die müssen weiterhin selber dafür bezahlen, wenn sie dafür sorgen wollen, dass ihre Kinder genauso wie alle anderen Kinder in der Gesellschaft leben und lernen können. Das wollen wir so nicht stehen lassen.
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Ich will auch begründen, warum wir alle das so nicht stehen lassen dürfen. Sie erinnern sich: Wir haben im April hier eine Orientierungsdebatte geführt, in der es um den Bluttest auf Trisomie 21 ging. Viele weitere Bluttests stehen auf der Tagesordnung. Mit diesem einfachen Test kann man vorgeburtlich herausfinden, ob ein Kind mit hoher Wahrscheinlichkeit mit Trisomie 21 geboren wird. Die Entscheidung, so einen Test, der vielleicht ein – in Anführungszeichen – positives Ergebnis hat, zu machen, führt in ganz vielen Fällen dazu, dass diese Kinder gar nicht auf die Welt kommen, sondern abgetrieben werden.
Wir haben das kontrovers diskutiert. Wir haben kontrovers diskutiert, ob die gesetzlichen Krankenversicherungen zukünftig diese Tests finanzieren sollen. Ich sage Ihnen ganz ehrlich und ganz persönlich: Ich sehe das kritisch. Ich finde, das ist keine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung. Aber die Frage werden wir heute Morgen nicht klären können.
Andere haben argumentiert, es gehe bei dieser Frage um eine soziale Frage. Auch das halte ich für abwegig. Aber auch diese Frage müssen wir hier nicht klären.
Worin wir uns einig waren, ist, dass wir es nicht zulassen dürfen – egal wie man darüber diskutiert und was man persönlich davon hält –, dass die Krankenversicherung einerseits so einen Test finanziert und dass andererseits Familien, die ein Kind mit Behinderung aufnehmen, willkommen heißen, im Leben begrüßen, im Regen stehen gelassen werden. Das ist, finde ich, ein Rahmen, unter dem man diese Debatte heute sehen muss.
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Das haben auch fast alle Rednerinnen und Redner, die von diesem Pult aus gesprochen haben, getan. Alle haben gesagt: Wir heißen Kinder mit Behinderungen in dieser Gesellschaft willkommen, und wir wollen es nicht zulassen, dass Eltern dieser Kinder alleingelassen werden mit der finanziellen Verantwortung. – Diese finanzielle Verantwortung haben die Eltern, und sie tragen sie, und zwar gerne, weil sie dafür sorgen wollen, dass ihr behindertes Kind gleichberechtigt in dieser Gesellschaft leben und lernen kann, gleiche Chancen hat.
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Unser Auftrag ist, sie damit nicht alleinzulassen. Diesen Auftrag sollten wir in allen Debatten, die wir in diesem Kontext in den nächsten Monaten führen werden, einbeziehen. Wir stecken mitten in dieser Debatte und suchen nach Lösungen für die Fragestellungen. Auch mit der diesbezüglichen Entscheidung des G-BA sind wir überhaupt noch nicht am Ende.
Auch an anderen Stellen müssen wir entlasten. Sie alle kennen das aus Ihren Wahlkreisen, die Behindertenbeauftragten Ihrer Fraktionen kennen das ganz besonders: Wir hören ständig in Gesprächen mit Eltern von Kindern mit Behinderungen, dass sie kafkaeske Situationen erleben. Eltern berichten uns, dass sie von Hinz zu Kunz geschickt werden, von Pontius zu Pilatus, oft jahrelang mit Behörden streiten müssen, durch sämtliche gerichtliche Instanzen gehen müssen, über Jahre hinweg, um endlich ihr Recht zu bekommen. Das sind so langwierige Auseinandersetzungen, dass Familiensysteme dadurch tatsächlich so stark belastet werden, dass manche auseinanderfallen. Das dürfen wir nicht zulassen.
Wir reden heute hier darüber, dass die Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatungen endlich die Sicherheit erhalten, auf Dauer finanziert zu werden. Auch das finden wir gut und richtig.
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Da kann man noch mehr tun. Man kann den Beratungsstellen noch mehr Planungssicherheit geben, indem man ihnen die Fördermittel über längere Zeit verlässlich zugesteht. Das ist alles gut und richtig so.
Ich nehme wahr – das wurde hier ja schon gesagt –, dass die Beratungsstellen eine ganz hervorragende Arbeit leisten. Aber sie können keine kafkaesken Situationen lösen; das muss man dazusagen. Die Beratungsstellen können nicht die Probleme lösen, die der Gesetzgeber verursacht hat. Deswegen müssen wir Gesetze machen, die klar sind, die dem Sachbearbeiter keine Möglichkeit bieten, nach Gutdünken, nach Ermessen zu entscheiden, sodass Leute zum Teil gegen ihren Willen in Heime geschickt werden, sodass Probleme über Jahre nicht gelöst werden, sodass Familiensysteme, wie ich gerade gesagt habe, wirklich in die Krise, in einen Stresstest geraten.
Diese Aufgaben wurden durch das Bundesteilhabegesetz leider nicht gelöst. Da sind wir, da ist der Gesetzgeber krachend gescheitert. Wir müssen konsequent – das sage ich am Ende einer jeden Rede, aber heute wieder mit voller Überzeugung – alle gemeinsam an einer inklusiven Gesellschaft arbeiten. Und das bedeutet, den Menschen Rechtssicherheit zu geben. Da haben wir wirklich dicke Brocken vor uns liegen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
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Torbjörn Kartes, CDU/CSU, hat als Nächster das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir entlasten mit diesem Gesetz circa 275 000 Menschen in Deutschland. Rein rechnerisch, rein statistisch sind das in etwa 900 Menschen in meinem Wahlkreis, die pflegebedürftige Angehörige haben.
Ich kann sagen, dass ich zu Hause regelmäßig auf diese Thematik angesprochen werde. Dabei geht es immer um persönliche Schicksale, um Sorgen, weil Mutter oder Vater schwer erkrankt sind und Hilfe nötig haben. Es geht dabei immer auch um die Frage, wie man das finanzieren soll, wenn die Rente, die Pflegeversicherung und das Vermögen von Mutter und Vater eben nicht ausreichen. Der Staat zieht heute nicht nur Menschen mit sehr hohen Einkommen zur Finanzierung der Pflege ihrer Angehörigen heran, sondern das trifft bislang auch Menschen mit absoluten Durchschnittseinkommen. Um es gleich ganz klar zu sagen: Von Menschen mit sehr hohen Einkommen, mit stärkeren Schultern können wir, denke ich, zu Recht erwarten, dass sie mehr Lasten tragen als diejenigen, die schwächere Schultern haben, gerade wenn es um die eigenen Angehörigen geht. Wenn sie aber für ihre eigenen Eltern zahlen müssen und deswegen Geld an anderer entscheidender Stelle fehlt, dann ist das offensichtlich unsinnig. Deswegen stellen wir das ab jetzt ab.
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Künftig beteiligt sich an den Pflegekosten der eigenen Eltern nur noch, wer mehr als 100 000 Euro brutto im Jahr verdient. Diese Entlastung hilft den Menschen ganz konkret im Alltag. Das sind gute Nachrichten, auch für die Menschen bei mir zu Hause. Ich bin sehr zufrieden, dass wir dieses gute Gesetz heute auf den Weg bringen.
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Es geht bei diesem Gesetz aber noch um viel mehr. Ich möchte zwei Punkte hervorheben, die mir persönlich wichtig sind:
Erstens. Wir verstetigen die Mittel für die Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung. Ich habe in meinem Wahlkreis zwei Projekte, die auf diese Weise gefördert werden. In diesen Projekten wird eine tolle Arbeit geleistet, indem Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen beraten werden. In Frankenthal geht es insbesondere um Hörgeschädigte, und in Ludwigshafen geht es schwerpunktmäßig um das Thema „seelische Gesundheit“, was ja ein immer komplexeres und größeres Thema wird. Ich war in beiden Einrichtungen vor Ort und konnte mich davon überzeugen, wie gut und richtig zum Beispiel dieser Peer-to-Peer-Ansatz ist, den wir staatlich fördern. Es geht um die Stärkung der Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen oder Erkrankungen. Wer könnte da besser beraten als Menschen, die in einer ähnlichen Situation sind oder waren?
Die Projektförderung war bislang befristet bis zum 31. Dezember 2022. Ich kann sagen – das ist schon gesagt worden –: Diese Einrichtungen brauchen jetzt vor allem Planungssicherheit. Jeder von uns weiß, wie schwierig es ist, mit immer wieder befristeten Mitteln etwas Dauerhaftes zu schaffen. Jetzt wird die Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung dauerhaft finanziert. Das ist eine weitere sehr gute Nachricht heute. Ich kann nur noch einmal betonen, wie wichtig dieses zusätzliche Angebot ist.
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Es schließt eine echte Lücke in unserem System und stellt Betroffenen ein unentgeltliches, niederschwelliges Beratungsangebot zur Verfügung. Ich habe mittlerweile gelernt – ich sage das ganz offen –, dass es oft nur um einen Türöffner geht, dass Menschen oft gar nicht wissen, was es eigentlich für Möglichkeiten in ihrer Situation gibt, wer ihr richtiger Ansprechpartner ist. Sie brauchen manchmal nur jemanden, der sie einfach an die Hand nimmt und ein Stück weit begleitet. Damit sind Arbeitgeber, Jobcenter und Verwaltungen manchmal überfordert. Es fehlt die Vernetzung, teilweise die Qualifikation und leider manchmal auch einfach die Zeit, um vernünftig zu beraten. Genau diese Lücke schließt die Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung. Ich bin davon überzeugt, dass wir damit ganz vielen betroffenen Menschen eine große Hilfe anbieten können.
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Einen zweiten Punkt möchte ich in aller Kürze ansprechen. Wir schaffen mit diesem Gesetz – auch das ist schon erwähnt worden – ein Budget für Ausbildung für Menschen mit Behinderungen. Dieses Budget umfasst die Erstattung der gesamten Ausbildungsvergütung und der Aufwendungen für die wegen der Behinderung erforderlichen Anleitungen und Begleitungen am Arbeitsplatz genauso wie in der Berufsschule. Das ist ein Meilenstein. Ich bin überzeugt davon, dass auf diesem Weg die Chancen von Menschen mit Behinderungen, einen Ausbildungsplatz zu finden und zu einem Abschluss zu gelangen, deutlich erhöht werden. Das ist ein Superanreiz für Arbeitgeber. Ich glaube, dass wir auch damit einen richtigen Schritt weiterkommen.
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Zum Schluss komme ich noch einmal auf den Kern dieses Gesetzes, die Entlastung bei der Pflege, zu sprechen. Manche Pflegebedürftigen, die in Pflegeheimen besser aufgehoben wären, meiden den Umzug ins Pflegeheim aus Sorge, dass ihre Angehörigen dann für sie zahlen müssen. Diese Angst wollen wir den Menschen nehmen. Das heißt aber ausdrücklich nicht, dass die Pflege jetzt in großem Stil von der eigenen Wohnung ins Heim verlagert wird. Ich glaube ganz klar nicht daran, und das ist auch nicht mein Bild von unserer Gesellschaft. Die allermeisten alten Menschen wollen so lange wie möglich zu Hause bleiben. Erst wenn es wirklich nicht mehr geht, wollen sie in ein Pflegeheim. Natürlich werden wir künftig mehr Menschen in Pflegeeinrichtungen haben, aber das erklärt sich allein aus der demografischen Entwicklung und nicht dadurch, dass jetzt massenhaft Familien ihre Angehörigen abschieben, da sie keine Kostenbeteiligung mehr zu fürchten haben. So sind ganz viele Töchter und Söhne nicht, erst recht nicht diejenigen, die ihre Angehörigen bisher zu Hause gepflegt haben.
Ich möchte heute schließen mit einem herzlichen Dank an diese pflegenden Söhne und Töchter: Sie sind großartig, Sie haben unseren Respekt und unsere Anerkennung und vor allen Dingen auch unsere weitere Unterstützung verdient. Wenn es wirklich nicht weitergehen sollte, wenn die bedarfsgerechte Betreuung zu Hause nicht mehr möglich sein sollte und Ihre Angehörigen im Pflegeheim besser aufgehoben sein sollten, dann können Sie sich bei dieser Entscheidung in Zukunft darauf verlassen, dass Ihnen der Staat in finanzieller Hinsicht Luft zum Atmen lässt. – Genau darum geht es bei diesem Gesetz.
Vielen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Martin Sichert, AfD.
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Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Kartes, nicht nur den Töchtern und Söhnen sollten wir danken, sondern auch den Ehemännern und Ehefrauen, die ihre Angehörigen pflegen; denn deren Pflege ist genauso wertvoll.
Kürzlich erzählte mir ein Bürger von seinem persönlichen Schicksal. Seine Frau wurde vor einigen Jahren durch ein geplatztes Blutgefäß im Gehirn zum Pflegefall. Er versorgte sie so lange, wie es ging, zu Hause, musste sie aber letztlich dann doch in einem Pflegeheim unterbringen. Deshalb lebt er nun an der Armutsgrenze, obwohl beide Ehepartner ihr Leben lang gearbeitet und gut fürs Alter vorgesorgt hatten. Aber die Pflegeheimkosten fressen sämtliche Ersparnisse und die Rente auf; denn der Deutsche muss sich nackig machen und mit seinem Eigentum die Pflegekosten bezahlen. Der alte Mann muss nun so leben wie jemand, der sein ganzes Leben lang nichts getan und Hartz IV bezogen hat, und das, obwohl dieser Mann als liebevoller und treusorgender Ehemann zusätzliche Kosten hat, weil er tagtäglich ins Pflegeheim zu seiner Frau fährt.
Das, was hier geschieht, ist nicht sozial gerecht; denn stellen wir uns vor, der Mann und die Frau hätten vor der Rente in Syrien gelebt. Er schafft sie dann als Pflegefall nach Deutschland,
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und sie kommt hierzulande in ein Pflegeheim. Beide können hier auf Staatskosten leben;
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denn obwohl beide nicht asylberechtigt sind, bekommen sie eine Duldung, weil man die Frau in Deutschland für transportunfähig erklärt und grundsätzlich keine Familien trennt.
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Er könnte hier leben, seine Frau wäre gut versorgt, und wenn sie dann irgendwann gestorben wäre, könnte er zurück nach Syrien. Sein Vermögen und sein Haus dort blieben in der ganzen Zeit unangetastet.
({3})
Für die soziale Gerechtigkeit muss ein Grundsatz gelten:
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Was den frisch Eingewanderten unbürokratisch und kostenlos gewährt wird, muss auch Deutschen unbürokratisch und kostenlos gewährt werden.
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– Ja, regen Sie sich nur auf. – Aktuell ziehen Sie nämlich die Deutschen bis aufs Hemd aus. Sie landen dann massenweise in Altersarmut, auch wenn sie ein Leben lang hart gearbeitet und vorgesorgt haben. In einem Land, in dem unbegrenzt Geld für Sozialleistungen für frisch ins Land Eingereiste da ist, deren Vermögen im Heimatland nicht angetastet wird, dürfen auch die Deutschen nicht zur Kasse gebeten werden.
({6})
Wenn Sie wirklich soziale Gerechtigkeit wollen, dann sollten wir dafür sorgen, dass nicht nur die Kinder, sondern auch die Ehepartner deutlich entlastet werden. Zusätzlich müssen wir – das hat der Kollege Pohl ja schon erwähnt – jene stärker belohnen, die sich um ihre Angehörigen kümmern und sie zu Hause pflegen; denn ein Pflegebedürftiger ist nirgendwo in so guten Händen wie bei liebevollen Angehörigen. Dass diese Angehörigen ihre eigene Zeit und Kraft zum Wohl der Pflegebedürftigen und zum Wohl der Allgemeinheit investieren, weil sie uns damit große Kosten ersparen, müssen wir als Parlamentarier deutlich stärker honorieren.
Zum Schluss möchte ich noch darauf hinweisen, dass durch den Gesetzentwurf, den Sie hier eingebracht haben, viel Unsicherheit entstanden ist. Um den Bezirkstagspräsidenten von Oberbayern, einer Region, die mehr Einwohner als die meisten Bundesländer hat, zu zitieren:
Wir müssen mit einer großen Unbekannten leben. Wie viel tatsächlich an Mehrkosten auf uns zukommt, weiß heute noch niemand.
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Liebe Große Koalition, liebe Regierung, ich würde mich freuen, wenn Sie auch mal mit Ihren Kollegen in den kommunalen Parlamenten reden würden, bevor Sie hier Gesetzentwürfe einbringen,
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um solche Unsicherheiten zu vermeiden.
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Diese Unsicherheiten müssen wir den Kommunen nehmen, indem wir klarmachen, dass der Bundestag die Verantwortung ernst nimmt und wir die Kosten dafür aus dem Bundeshaushalt finanzieren.
({10})
Wir brauchen Planungssicherheit für die Kommunen, und wir brauchen soziale Gerechtigkeit für die hart arbeitenden Menschen in Deutschland.
Vielen Dank.
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Jetzt hat das Wort die Kollegin Katja Mast, SPD.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin froh, in einem Land zu leben, in dem die Gesetze für alle gelten, die hier leben,
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einem Land, in dem wir nicht nach der Herkunft fragen, sondern danach, was die Menschen in unserer Gesellschaft leisten.
Ich bin froh, dass wir heute über ein Gesetz diskutieren, bei dem es nicht nur um die Pflege von älteren Mitbürgerinnen und Mitbürgern geht, sondern auch um Kinder, die über 18 Jahre alt sind und von ihren Eltern gepflegt werden. Das hat der Kollege von der AfD, der als Erstes gesprochen hat, leider vergessen. Es geht nicht nur um die Älteren, also diejenigen, die am Lebensende gepflegt werden müssen, sondern auch um Menschen in ihrer ganzen Erwerbsbiografie. Ich bin froh, dass wir diese Debatte in Deutschland führen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Ich wollte meine Rede eigentlich mit einer Frage beginnen: Woran denken Sie beim Thema Pflege? Denken Sie an sich selbst, wenn Sie alt sind? Werden Sie dann gepflegt, wie wird das aussehen? Denken Sie vielleicht an Ihre Kinder, die gerade krank waren und die Sie mit Kamillentee, Salzstangen
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und viel Fürsorge gepflegt haben? Denken Sie vielleicht an die Pflegerinnen und Pfleger in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen? Das Thema betrifft uns alle, und ich bin mir sicher, dass jeder, der mir gerade zuhört, egal ob auf den Zuschauerrängen, an den Bildschirmgeräten oder auch Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, Bilder vor Augen hat, Bilder, die Empathie auslösen, manchmal aber auch anstrengende Bilder. Deshalb treffen wir mit diesem Angehörigen-Entlastungsgesetz den Kern der Gesellschaft. Die Menschen beschäftigen sich mit der Pflege. Diese Koalition beschäftigt sich mit der Pflege. Heute gehen wir einen weiteren wichtigen Schritt zur Entlastung der Angehörigen.
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Ich selbst habe auch Bilder vor Augen. Ich denke an meine Mutter. Ich denke an meinen Bruder, der Altenpfleger ist. Ich denke an meine Kinder. Und ich denke an die Familien, die ich im Sommer bei einer Kur getroffen habe, wo die Eltern immer auch Pflegende ihrer Kinder waren.
Natürlich ist es notwendig, dass wir die Situation für Familien verbessern, wenn es um das Thema Pflege geht. Genau das machen wir heute. Wir sagen: Man muss für die Pflege von Eltern oder eigenen Kindern erst dann aufkommen, wenn man über 100 000 Euro im Jahr verdient. Das ist gut so, weil es ansonsten zu belastenden Situationen für die Familien kommen kann. Und wir sind doch als Koalition gewählt worden, um das Leben der Menschen, der Familien im Alltag besser zu machen.
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Dass wir als Koalition handeln und die Pflege auf dem Radar haben, zeigen wir nicht nur heute. Wir haben gestern das Pflegelöhneverbesserungsgesetz diskutiert, bei dem es darum geht, die Tarife für Menschen in der Pflege zu verbessern. Wir haben in dieser Legislatur auch schon etwas für die Ausbildung zum Altenpfleger getan. Wir haben als ersten Schritt auf dem Weg zur Entlastung schon mehr Personal in den Einrichtungen zur Verfügung gestellt. Pflege ist für uns ein Riesenthema. Ich kann Ihnen sagen: Gerade wir von der SPD haben hier in den Koalitionsverhandlungen immer wieder den Finger in die Wunde gelegt, und wir gehen bei diesem Thema mutig voran.
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Wir denken auch über den Tag hinaus. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, wir schaffen in dieser Legislatur viel gemeinsam, und das ist auch gut so. Aber wir haben auch noch einiges vor. Wir wollen noch mehr. Wir wollen zum Beispiel, dass der Eigenanteil der Pflegekosten für die Pflegeeinrichtungen gedeckelt wird. Wir wollen perspektivisch eine Pflegebürgerversicherung, weil wir nicht verstehen, warum wir in dieser Gesellschaft Unterschiede bei der Finanzierung der Pflege machen.
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All das sind Perspektiven, die zur heutigen Debatte dazugehören.
Heute freue ich mich vor allen Dingen, dass wir die Angehörigen entlasten. Dagmar Schmidt wird nachher noch auf die weiteren Aspekte des Gesetzes eingehen. Ich freue mich: Wir entlasten heute die Familien, in denen Eltern oder auch erwachsene Kinder gepflegt werden.
Vielen Dank.
({7})
Nicole Westig, FDP, ist die nächste Rednerin.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einen Teil der Freude von Frau Mast kann ich teilen. Wir Freie Demokraten begrüßen es, wenn Angehörige von Pflegebedürftigen, ganz gleich welchen Alters, entlastet werden. Es ist richtig, dass künftig weniger Menschen finanziell herangezogen werden sollen, wenn die Kosten für die Pflege nicht aufgebracht werden können. Allerdings sollte dies nicht einseitig zulasten der Kommunen gehen. Das ist nicht fair und widerspricht dem Konnexitätsprinzip. Die Kommunen sind nicht zuletzt durch die Hilfe zur Pflege bereits jetzt schwer unter Druck. Wie sollen sie da noch die geschätzten Mehrkosten von einer halben bis zu einer Milliarde Euro übernehmen?
Machen wir uns nichts vor: Um den Herausforderungen der alternden Gesellschaft zu begegnen, brauchen wir gerade die Kommunen. Wir müssen Strukturen schaffen, damit Menschen mit Pflegebedarf länger zu Hause bleiben können. Wir brauchen innovative Wohnkonzepte, um die individuellen Bedürfnisse älterer Menschen decken zu können. Wir benötigen mehr Vernetzung vor Ort, gerade auch mit dem Ehrenamt. Der Schlüssel für all das liegt bei unseren Kommunen. Deshalb sollten wir diese nicht durch übermäßige Belastungen verprellen, sondern den Dialog mit ihnen suchen.
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Wieder einmal legt die Regierung ein Gesetz mit einem wohlklingenden Namen vor, ohne ein Finanzierungskonzept zu liefern. Wie sieht es mit Maßnahmen aus, damit weniger Pflegebedürftige Hilfe zur Pflege benötigen? Dies würde auch die Kommunen entlasten. Der Titel „Angehörigen-Entlastungsgesetz“ ist irreführend. Ja, das Gesetz soll Angehörige bei der Finanzierung der Pflege entlasten. Es schafft aber keine Entlastung für pflegende Angehörige. 76 Prozent der Pflegebedürftigen werden zu Hause gepflegt. Viele der sie pflegenden Angehörigen sind psychisch und physisch am Ende und leiden unter finanziellen Einbußen – bis hin zur Altersarmut.
Diese Menschen benötigen dringend mehr Unterstützung. Dazu gehören mehr Angebote für Kurzzeit- und Verhinderungspflege, niedrigschwellig und unbürokratisch, digitale Anwendungen für die Pflege zu Hause und mehr Prävention, damit Pflegetätigkeit nicht direkt zu Pflegebedürftigkeit führt. Wir können es uns nicht leisten, diese große Gruppe länger im Regen stehen zu lassen. Deswegen muss die Bundesregierung Maßnahmen zur besseren Unterstützung pflegender Angehöriger vorlegen.
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Das Angehörigen-Entlastungsgesetz ist gut gemeint, aber noch lange nicht gut gemacht.
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Sören Pellmann, Die Linke, ist der nächste Redner.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein Satz, ehe ich einsteige: Herr Sichert, wenn Sie sich hierhinstellen und von Menschlichkeit reden, glaube ich, ist das Thema klar verfehlt.
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Die Kollegin Zimmermann hat bereits darüber reflektiert, welche Vorteile das heute zu beratende Gesetz für Familien an Entlastung bringt. Das ist gut und begrüßenswert. Allerdings ist das auch längst überfällig. Erneut, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss man feststellen: Wenn es um die Belange von Menschen mit Behinderungen geht, werden diese Menschen immer nur als Anhängsel gesehen, werden Regelungen für sie immer nur in einem sogenannten Omnibusgesetz an einen Gesetzeskomplex angehängt. Das ist ihrer nicht würdig.
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Daran erkennt man auch, dass Menschen mit Behinderungen bei Ihnen offensichtlich nicht im Mittelpunkt stehen, was sie eigentlich verdient hätten.
Ich will die Punkte, die im BTHG nach wie vor offen sind und wo Sie in der Pflicht sind, zu liefern, klar ansprechen: Wie steht es um die Barrierefreiheit, vollumfänglich für die Privatwirtschaft? Die Linke hat einen Antrag dazu eingebracht. Sie haben ihn abgelehnt. So viel zur Wahrheit. – Was ist mit der Änderung der Ausgleichsabgabe? Gewerkschaften und Verbände fordern seit Langem Veränderungen. Vorgelegt wurde durch die Koalitionsfraktionen bisher leider nichts. – Zum AGG und zum BGG gibt es leider auch keine Vorschläge. – Ich kann fortfahren: Wie steht es um die Inklusion in der Bildung, die Gleichstellung von Frauen, Nothilfesysteme, Kultur, Sport, Tourismus und Mobilität? Die Serviceopposition
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wird Ihnen in den nächsten Sitzungswochen Anträge dazu auf den Tisch legen. Dann werden wir schauen, wie ernst Sie es mit dem Thema meinen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Weiter muss die Anrechnung von Einkommen und Vermögen bei Teilhabeleistungen für Menschen mit Behinderungen endlich aufgehoben werden.
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Es darf bei Inklusion und Teilhabe keine finanziellen Vorbehalte geben. Deswegen besteht die Kritik der Linken am BTHG weiter. Menschenrechtlich ist es geboten, Kostenvorbehalte und das Zwangspooling zu streichen.
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Herr Spahn, der heute abwesend ist, war vor wenigen Tagen in der Nähe meines Wahlkreises und hat dort mit Menschen mit Behinderungen gesprochen. Die haben ihm ihre Nöte mit auf den Weg gegeben. Sie haben ihre Wünsche und Sorgen geäußert, und er hat gesagt, er nehme das mit nach Berlin. Ich glaube, er hat es im Auto liegen gelassen, so zumindest mein Eindruck, wenn ich mir das Vorgehen der Koalition anschaue.
Zusammenfassend: Erstens. Der Zwang auf Menschen mit Behinderung durch Poolen muss ein Ende haben. Menschen sind frei in ihren Entscheidungen.
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Zweitens. Die nachweisbare Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt muss endlich gestoppt werden.
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Zu viele Unternehmerinnen und Unternehmer kaufen sich vom Menschenrecht auf Inklusion einfach frei.
Drittens. Barrierefreiheit ist kein Wunschkonzert.
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In einer freien Welt sollen freie Bürger überall hinkommen können, ohne vor unüberwindbaren Barrieren zu stehen.
Vielen Dank.
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Stephan Stracke, CDU/CSU, hat als Nächster das Wort.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem Gesetz, das hier im Entwurf vorliegt, führen wir in der Pflege eine Freigrenze von 100 000 Euro bei der Einkommensanrechnung ein. Damit entlasten wir die Angehörigen pflegebedürftiger Menschen. Das haben wir als CSU im Vorfeld der Bundestagswahl 2017 versprochen, das haben wir im Koalitionsvertrag durchgesetzt, und nun kommt diese Entlastung. Das zeigt einmal mehr: Die CSU liefert.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Pflege ist ein zentrales Thema dieser Koalition. Die vorgesehene Entlastung reiht sich in eine Vielzahl von Verbesserungen in der Pflege ein; denn Menschen, die sich um andere kümmern, haben unsere Wertschätzung und volle Unterstützung verdient.
Wir haben in den letzten Jahren viel getan. Wir haben uns speziell um Pflegebedürftige gekümmert, beispielsweise um Demenzkranke. Sie haben heute die gleichen Ansprüche wie Menschen mit körperlichen Einschränkungen. Das ist ein großer Gewinn, und das entlastet im Übrigen auch pflegende Angehörige. Wir haben umfangreiche Verbesserungen für die Pflege zu Hause erreicht. Denken Sie beispielsweise an die Verhinderungspflege, wenn ein pflegender Angehöriger eine Auszeit von der Pflege braucht. Wir haben sie verbessert. Denken Sie an die Familienpflegezeit, die wir weiterentwickelt haben. So kann jemand bis zu sechs Monate aus dem Beruf aussteigen, um einen nahen Angehörigen in häuslicher Umgebung zu pflegen. Wir haben auch die soziale Absicherung der Pflegepersonen gestärkt. Wir haben in den letzten Jahren also viel getan, was die Leistungen für Pflegebedürftige und für pflegende Angehörige angeht.
Jetzt geht es uns auch um die Situation von Pflegekräften. Wir wollen den Arbeitsalltag von Pflegekräften spürbar verbessern mit mehr Personal, mehr Zeit, mehr Wertschätzung, besseren Löhne.
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Dann bekommt Pflege ein besseres Image in diesem Bereich. Das ist auch bitter nötig, wenn es um die Attraktivität des Pflegeberufs geht. Die Ausbildungszahlen sind auf Rekordniveau. Aber wir wollen da noch besser werden. Vor allem wollen wir diejenigen zurückgewinnen, die aus dem Beruf ausgestiegen sind. Das hat viel mit den Arbeitsbedingungen zu tun. Wenn wir in Krankenhäusern oder Pflegeeinrichtungen sind, gewinnen wir doch alle einen Eindruck davon, wie hoch der Frust und die Unzufriedenheit sind.
Das wollen wir verändern, Schritt für Schritt und ganz spürbar im Alltag. Wir finanzieren deshalb zusätzliche Stellen in den Krankenhäusern. Wir schaffen 13 000 zusätzliche Stellen in der Altenpflege. Pflegekräfte sollen wieder mehr Zeit haben für Patienten und Betroffene.
({1})
Wir bauen Bürokratie in diesen Bereichen ab. Wir kümmern uns auch um eine bessere Bezahlung. Gestern haben wir miteinander darüber gesprochen, dass wir dafür kämpfen wollen, bessere Löhne in der Pflege zu bekommen. Da sind wir beispielsweise in Baden-Württemberg oder Bayern gut aufgestellt, aber eben nicht flächendeckend in diesem Land. Wir wollen bayerische Löhne am besten flächendeckend in ganz Deutschland durchsetzen,
({2})
und dafür eröffnen wir der Branche entsprechende Möglichkeiten. Sie können entscheiden, ob sie das über Pflegemindestlöhne oder beispielsweise über allgemeinverbindliche Tarifverträge machen.
Wir haben bereits eine volle Refinanzierung von tarifvertraglichen Löhnen in der Altenpflege. Das wollen wir auch in den Krankenhäusern erreichen. Wir haben auch die Ausbildung in der Pflege verändert. Seit Januar dieses Jahres gibt es kein Schulgeld mehr, und es gibt eine angemessene Ausbildungsvergütung. Und die Chancen der Digitalisierung zu nutzen, macht tatsächlich Sinn.
All das macht den Pflegeberuf wieder attraktiver. Genau deswegen sind wir als Koalition auch angetreten. Wir haben gesagt: Wir müssen uns um die Pflege kümmern, um die Pflegebedürftigen, um die pflegenden Angehörigen und um die Pflegekräfte.
All das macht Pflege attraktiver. Politik nah am Menschen. Politik, die nutzt und verbessert. Es macht einfach einen Unterschied, dass wir als Union regieren. Wir machen Politik für die Menschen – jetzt und in Zukunft.
Herzliches Dankeschön.
({3})
Voraussichtlich letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Dagmar Schmidt, SPD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich versuche einmal, die Debatte am Ende ein wenig zusammenzufassen, zumindest die Punkte, die sich mit dem vorliegenden Gesetzentwurf beschäftigen.
Erstens. Wir nehmen vielen Menschen in Deutschland die Ängste: die Ängste von Kindern, die keine großen Einkommen haben, die weniger als 100 000 Euro im Jahr verdienen. Sie müssen keine Angst mehr haben, für ihre pflegebedürftigen Eltern finanziell aufkommen zu müssen.
({0})
Auch den pflegebedürftigen Eltern nehmen wir die Ängste, ihren Kindern eventuell zur Last zu fallen. Das gilt nicht nur für die Pflege, das gilt für die gesamte Sozialhilfe. Das ist eine gute Nachricht für rund 275 000 Familien in Deutschland.
({1})
Zweitens. Wir machen das Leben ein wenig leichter, gerade für die, die es im Leben schwerer haben als andere. Das gilt für Eltern, die mit diesem Gesetz nicht mehr 34 Euro monatlich für ihre stationär untergebrachten erwachsenen Kinder mit Behinderung aufbringen müssen. Für manche Menschen sind 34 Euro nicht viel Geld, für andere Menschen sind 34 Euro viel Geld; aber in jedem Fall ist es eine bürokratische Entlastung, und das ist dringend geboten.
({2})
Wir machen die Arbeit der unabhängigen Teilhabeberatungsstellen leichter, weil wir die Förderung über das Jahr 2022 hinaus sicherstellen und erhöhen. Davon profitieren viele Tausende Menschen mit Behinderung, die auch weiterhin eine Anlaufstelle finden, wo sie von Menschen mit gleichen oder ähnlichen Herausforderungen verstanden und beraten werden. Wir sehen die tolle Arbeit der Teilhabeberatungen in unseren Wahlkreisen und den großen Bedarf nach empathischer Beratung, die es dort gibt.
An dieser Stelle möchte ich ein ganz herzliches Dankeschön an diejenigen sagen, die in den Beratungsstellen arbeiten;
({3})
denn auch wenn wir die Mittel jetzt erhöhen, sind sie noch lange nicht überbezahlt. Danke schön an alle, die dort eine wirklich gute Arbeit für die Menschen machen!
Drittens stärken wir die Rechte und die Möglichkeiten von Menschen mit Behinderung. Mit dem Budget für Ausbildung erweitern wir die Möglichkeiten zur beruflichen Bildung für Menschen mit Behinderung, die auf eine Werkstatt für behinderte Menschen angewiesen sind. Bisher können sie sich nur in den Werkstätten ausbilden lassen oder bei anderen Leistungsanbietern, auf die sie verwiesen werden. Mit dem Budget für Ausbildung können sie auch dann gefördert werden, wenn sie eine reguläre betriebliche Ausbildung oder ein Fachpraktikum aufnehmen. Gerne würden wir dieses Instrument noch ein bisschen verbessern und flexibler machen, noch ein bisschen die Durchlässigkeit erhöhen. Dafür haben wir die parlamentarischen Beratungen zur Verfügung, und ich glaube, dass wir das zu einem guten Ergebnis bringen werden.
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Und: Wir schaffen Rechtsklarheit für schwerbehinderte Menschen, die eine Arbeitsassistenz benötigen. Sobald die Notwendigkeit einer Assistenz festgestellt wurde, muss auch die tatsächliche Höhe der Leistung bezahlt werden. Wir beenden nervenaufreibende Rechtsstreitigkeiten und helfen Menschen, in Arbeit zu bleiben oder in Arbeit zu bekommen. Auch das ist eine gute Nachricht.
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Zusammenfassung der Zusammenfassung: Wir stärken die Rechte von Menschen mit Behinderung, wir nehmen Ängste vor Überforderung, und wir machen das Leben ein wenig leichter. Gut, dass es uns gibt!
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Damit schließe ich die Aussprache.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit diesem Antrag wollen wir ein deutliches Zeichen setzen: Wir machen Politik für die Menschen, die arbeiten. Denn wir leben in einer Zeit, in der sowohl unsere Wirtschaft als auch unsere Sozialpolitik in eine gefährliche Schieflage geraten sind. Die fleißigen Bürger dieses Landes werden jeden Monat ausgenommen wie eine Weihnachtsgans, während andere Bevölkerungsgruppen, die das Wort „Arbeit“ nicht einmal buchstabieren können, fürstlich alimentiert werden.
({0})
Für uns ist das Leistungsprinzip – ich weiß, dass Sie davon nichts verstehen – wesentlicher Bestandteil einer funktionierenden Gesellschaft und dient als Grundlage dafür, dass ein Sozialstaat, der auf Steuern und Abgaben der arbeitenden Mehrheit fußt, auch gesellschaftlich akzeptiert und als gerecht empfunden wird.
({1})
Die aktuelle Rechtslage in der Arbeitslosenversicherung wird dem einfach nicht gerecht; denn momentan ist es für die maximale Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I völlig irrelevant, ob Sie 2 oder 20 Jahre einbezahlt haben. Wir sind der Meinung, dass diese Rechtslage die Lebensleistung eines Arbeitnehmers nicht berücksichtigt, und wir wollen uns gerne dafür einsetzen, dass die Menschen, die jahrzehntelang in die Arbeitslosenversicherung einbezahlt haben, im Versicherungsfall auch eine längere Anspruchszeit bekommen.
({2})
Wir wollen so das Versicherungsprinzip stärken; denn Arbeitslose sind keine Sozialfälle. Sie haben sich ihren Anspruch als Versicherte redlich verdient.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Auch wir möchten keine falschen Anreize schaffen
({3})
und möchten die Höhe des Arbeitslosengeldes explizit nicht ändern. Wir möchten aber dafür sorgen, dass ein 48-jähriger Handwerker, der beispielsweise 30 Jahre lang gearbeitet und einbezahlt hat, eben nicht schon nach 13 Monaten in Hartz IV stürzt, meine Damen und Herren.
({4})
Die Anspruchszeit darf sich doch nicht nur nach dem Lebensalter berechnen, sondern muss die Lebensleistung, also die Zeit, die jemand gearbeitet und eingezahlt hat, ebenfalls berücksichtigen; das gebietet schon die Gerechtigkeit.
({5})
Wir sprechen hier eben nicht über Einzelfälle, meine Damen und Herren. Im Juni 2019 bezogen nach den offiziellen Zahlen der Bundesagentur für Arbeit knapp 700 000 Menschen Arbeitslosengeld I. Circa 45 Prozent davon sind älter als 50 Jahre. Seit Juni 2018 mussten fast 440 000 Menschen den Übergang in Hartz IV antreten und verloren so weitestgehend ihre Ersparnisse, eventuell Wohneigentum oder Wertgegenstände. 75 000 Bürger dieses Landes entgingen diesem Schicksal nur deshalb, weil sie sich in die Rente flüchteten, viele davon als Frührentner mit empfindlichen Abzügen.
Dieser bedenklichen Entwicklung möchten wir den Kampf ansagen. Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet und einbezahlt haben, haben an ihrem Lebensabend Besseres verdient.
({6})
Das, meine Damen und Herren von der SPD, verstehen wir als AfD-Fraktion unter Politik für Arbeitnehmer und für Arbeiter, die Sie in den letzten Jahren und Jahrzehnten leider aus den Augen verloren haben.
({7})
Aber diese Entfernung von Ihren ursprünglichen Stammwählern ist, um es mit den Worten Ihres Mitglieds Peer Steinbrück zu sagen, das „Elend der Sozialdemokratie“.
({8})
Und dieses Elend, meine Damen und Herren, wird sich auch am 27. Oktober im Wahlergebnis in Thüringen widerspiegeln.
Aber Sie haben noch eine Chance. Sie ist zwar nicht mehr ganz so groß, aber Sie haben noch eine kleine Chance. Sie haben heute die wunderbare Gelegenheit, uns allen und den Menschen da draußen zu zeigen, dass Ihnen neben Gender-Klos und Klimawahnsinn auch Arbeitnehmer am Herzen liegen.
({9})
Wir haben die Staffelung der Bezugszeit in unserem Antrag bewusst offengelassen. Wir sind kompromissbereit, und wir reichen heute allen anderen demokratischen Fraktionen die Hand. Lassen Sie uns gemeinsam für die Verbesserung des Arbeitslosengelds eintreten und dafür sorgen, dass derjenige, der viel und lange gearbeitet hat, auch in einer schwierigen persönlichen Lage besser abgesichert wird!
({10})
Überraschen Sie doch bitte die Arbeitnehmer dieses Landes einmal mit einer progressiven und sachpolitischen Handlung!
({11})
Stimmen Sie unserem Antrag zu, und sorgen Sie mit uns gemeinsam dafür, dass die Arbeits- und Lebensleistung eines Menschen ausreichend gewürdigt wird!
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Jetzt hat das Wort der Kollege Dr. Matthias Zimmer, CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Elend der AfD hier gerade gesprochen hat.
({0})
An dem Antrag der AfD, meine Damen und Herren, ist zweierlei bemerkenswert. Erstens. Die Arbeitslosenversicherung soll ausgebaut und nicht privatisiert werden. „Wenn das der Meuthen wüsste!“, möchte man Ihnen zurufen. Der will nämlich privatisieren und glaubt, er habe als Parteivorsitzender etwas zu sagen. Aber dann wird einem klar: Genau hier könnte der tiefere Grund dafür liegen, warum die AfD noch kein sozialpolitisches Programm hat.
({1})
Ich finde allerdings: Sie sind es den Menschen in Deutschland schuldig, zu sagen, was sie wollen.
({2})
Zweitens ist bemerkenswert, dass die Begriffe „Ausländer“ und „Flüchtlinge“ kein einziges Mal in dem Antrag vorkommen. Das ist neu, und man möchte ausrufen: „Wenn das der Höcke wüsste!“
({3})
Der glaubt nämlich allen Ernstes, an allem Unheil seien nur die Nichtdeutschen schuld. Da hätte man doch mehr erwartet:
({4})
Mehr ALG I für die Deutschen und für alle anderen nicht, also einen wahren sozialpolitischen furor teutonicus. Da haben Sie unsere Erwartungen enttäuscht, vermutlich aber auch die Ihrer fremdenfeindlichen Mitglieder und Anhänger. Na ja, der Herr Sichert hat das eben natürlich vollkommen kompensiert.
({5})
Aber genau hier könnte ein weiterer Grund liegen, warum die AfD noch kein sozialpolitisches Programm hat: Weil in Ihrer Partei völlig unklar ist, ob Menschenrechte ein germanisches Vorrecht sind oder für alle gelten.
({6})
Ich finde, Sie sind uns schuldig, auch das einmal zu klären.
({7})
Kommen wir zum Antrag.
({8})
– Ich habe von Ihnen gelernt, Herr Gauland. Erst einmal ein bisschen allgemein über alles Mögliche reden und dann inhaltlich möglichst gar nicht. Da habe ich wirklich von Ihnen gelernt.
({9})
Sollen wir den Bezug von Arbeitslosengeld I an die geleisteten Beitragsjahre koppeln? Ich persönlich halte einen solchen Vorschlag für falsch. Wir haben einen extrem niedrigen Stand an Beziehern von ALG I und eine seit Jahren abnehmende Zahl von Wechseln von SGB I in SGB II.
({10})
Bei den meisten Arbeitslosen handelt es sich um friktionelle Arbeitslosigkeit, also eine Sucharbeitslosigkeit, die keine strukturellen oder konjunkturellen Gründe hat. Setzen wir Ihren Vorschlag um, geben wir Anreize, länger in der Arbeitslosigkeit zu bleiben, und wir geben gerade bei den langjährig Beschäftigten Anreize, Brücken zu bauen: über den Bezug von Arbeitslosengeld in die Frühverrentung. Das ist in unserer Arbeitsmarktsituation, wo wir jeden brauchen, ein falsches Signal.
({11})
Zweiter Punkt: Die Arbeitslosenversicherung bevorzugt im Augenblick Menschen, die etwas älter sind; sie können Leistungen länger beziehen. Das ist auch in Ordnung; denn sie sind auch schwieriger wieder zu vermitteln. Bei Ihrem Vorschlag sehe ich allerdings folgendes Problem: Wer einen durchbrochenen Lebenslauf hat – einmal selbstständig, dann arbeitslos, dann in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis –, der bekommt, wenn er so Mitte fünfzig ist, nach Ihrem Modell weniger lange Geld, als er heute bezieht. Er hat nämlich dann vielleicht nicht die notwendige Anzahl an Jahren einbezahlt. Ich vermute, dass die Anzahl der Menschen, die solche Biografien haben, in den nächsten Jahren eher zunimmt.
({12})
Die profitieren aber von der jetzigen Regelung mehr als von Ihrem Vorschlag.
({13})
Meine Damen und Herren, ich hatte ein wenig den Eindruck, die AfD hat einfach einmal einen Vorschlag gemacht – ohne jegliche konzeptionelle Hinterlegung, ohne sich zu fragen, welche Konsequenzen das hat, und natürlich auch, ohne die Frage zu beantworten, wie viel das kostet. Das ist politisch zu wenig – als Zeichen Ihrer programmatischen Insolvenz reicht es aber vollkommen aus.
({14})
Johannes Vogel, FDP, ist der nächste Redner.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ja verständlich, dass es die AfD stört, dass seit Monaten in der öffentlichen Debatte immer wieder darauf hingewiesen wird, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik keine Konzepte und schon gar keine Lösungen anzubieten haben. Die Frage: „Wo ist eigentlich Ihr Rentenkonzept?“, ist ja schon zum geflügelten Wort geworden.
({0})
– Eben, weil es das nicht gibt. – Dieser sogenannte Antrag – so haben wir das zumindest interpretiert – sollte offenbar der Versuch sein, hier einmal richtig Substanz vorzulegen: Sozialgesetzbuch III, Arbeitslosengeld I – wichtiges arbeitsmarktpolitisches Thema – fünf Seiten Text. Ganze fünf Seiten!
Das Problem ist aber, dass Sie die fünf Seiten dafür nutzen, Seite um Seite darzulegen, was heute schon die Rechtslage ist.
({1})
Sie klären uns darüber auf, dass die Arbeitslosenversicherung eine Versicherung ist.
({2})
Sie klären uns darüber auf, dass die Bezugsdauer des Arbeitslosgengelds gestaffelt ist, usw. usf. Sie zitieren sogar Zeile um Zeile wörtlich aus dem Sozialgesetzbuch III. Das kann man so machen. Aber es wäre gut, dass Sie, wenn Sie Zahlen aus der Statistik der Bundesagentur für Arbeit referieren, es dann auch schaffen, die aktuellsten Zahlen zu verwenden, die seit vier Wochen vorliegen. Das haben Sie in dem Antrag nicht geschafft.
({3})
Nachdem man sich durch fünf Seiten gequält hat, kommen auf der fünften Seite dann tatsächlich – ich habe nachgezählt – sechseinhalb Zeilen Forderung. Doch bei diesen sechseinhalb Zeilen Forderung sind die ersten fünfeinhalb – Überraschung! – erneut Wiedergabe des aktuellen Rechts.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, weil das so krass ist, weil zumindest ich das in sozialpolitischen Anträgen hier noch nicht erlebt habe, habe ich mir einmal die Mühe gemacht, das zu visualisieren. Wenn man den Antrag einmal darauf reduziert, was Ihre konkrete politische Forderung,
({4})
Ihr konkretes politisches Konzept ist, dann sieht das so aus:
({5})
Seite 1, Seite 2,
({6})
Seite 3, Seite 4
({7})
und Seite 5 – ein Satz.
({8})
Das ist der Satz. Der eine Satz!
({9})
Ein einziger Satz, liebe Kolleginnen und Kollegen, bildet den Gipfel Ihrer arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Leistungsfähigkeit. Und der besagt dann auch nur – das ist wirklich bemerkenswert –, dass etwas, was es schon gibt, irgendwie – ich zitiere – „stärker" sein soll. „Stärker“, liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie genau, was genau, für wen genau – da sind Sie dann schon wieder völlig blank. Das ist doch keine seriöse Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik.
({10})
Da hat dieses Haus und haben die Bürgerinnen und Bürger wirklich mehr verdient.
({11})
Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass Sie auf diesem Feld wirklich nichts anzubieten haben, außer dass Sie in der Tat bei jedem – auch sozialpolitischen – Thema nach wenigen Sekunden immer wieder auf Ihr einziges politisches „Thema“ zurückkommen – angeblich seien die Ausländer an allem schuld –, dann haben Sie uns den heute erbracht.
Lieber Kollege Matthias Zimmer, du hast eben darauf hingewiesen, dass wir das heute in der Begründung ausnahmsweise noch nicht gehört haben. Das stimmt. Aber Martin Sichert redet gleich noch. Ich bin ganz sicher, er wird dafür sorgen.
({12})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, um in den letzten 30 Sekunden kurz noch etwas zum kümmerlichen Rest Ihrer politischen Forderung, nämlich dem Grundimpuls, zu sagen – wenn es um eine längere Bezugsdauer von Arbeitslosengeld geht, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat sich mitunter ja auch die SPD verirrt –: Die Idee wurde hier schon mehrfach formuliert. Das IAB, die Bundesagentur für Arbeit, der Sachverständigenrat der Bundesregierung, das DIW und das IW, also alle seriöse arbeitsmarktpolitische Forschung war dagegen; und das hat Gründe. Die Einzige, die dafür ist, ist heute die AfD, was eine zweite These auch noch ein für alle Mal bewiesen hat, nämlich: Eine Professorenpartei sind Sie wahrlich nicht mehr.
Vielen Dank.
({13})
Dagmar Schmidt, SPD, ist die nächste Rednerin.
({0})
Ich würde trotzdem gern der Kollegin Dagmar Schmidt das Wort erteilt haben.
({1})
– Sollen wir noch ein bisschen warten?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt hat das Wort die Kollegin Dagmar Schmidt.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Zum Thema. Sicherheit, aber auch neue Chancen am Arbeitsmarkt zu schaffen, sind zwei der zentralen Anliegen der SPD in dieser Koalition. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen sich auf den Sozialstaat und sie müssen sich erst recht auf ihre Arbeitslosenversicherung verlassen können, für die sie jeden Monat Beiträge zahlen.
In Zeiten, in denen sich auf der einen Seite die Arbeitswelt verändert und auf der anderen Seite viele Unternehmen nach Fachkräften suchen, ist eine reine Verlängerung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld I keine Antwort und auch kein Beitrag zu mehr Gerechtigkeit. Denn was wir wissen, ist: Wenn jemand erst einmal aus dem Arbeitsleben heraus ist, ist es schwerer, wieder gute Arbeit zu finden. Was wir auch wissen, ist, dass die allermeisten Arbeitslosen schnell wieder Arbeit finden wollen. Dabei sollen sie unsere Unterstützung haben.
({0})
Wir haben deswegen in unserem Sozialstaatspapier drei Dinge in den Fokus genommen und angefangen, sie in Regierungspolitik umzusetzen.
Erstens. das wichtige Thema Prävention. Wir wollen verhindern, dass Menschen überhaupt arbeitslos werden.
({1})
Dafür brauchen wir – da haben wir bereits in der letzten Legislatur wichtige Schritte unternommen – Prävention, den bestmöglichen Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz. Wir haben in einem Modellprojekt im Rahmen des Flexirentengesetzes den sogenannten Ü45-Check-up eingeführt, einen berufsbezogenen Gesundheitscheck, bei dem man schaut, ob jemand diesen Beruf auch gesund weitermachen kann, und aus dem Maßnahmen und Unterstützung am Arbeitsplatz, im Unternehmen resultieren oder, wenn nötig, eine Umschulung. Das ist konkrete Politik für konkrete Probleme konkreter Menschen.
({2})
Dafür brauchen wir dann natürlich auch Qualifikation. Wir haben mit dem Qualifizierungschancengesetz einen ersten großen Schritt in die richtige Richtung getan, einen ersten großen Schritt, um Weiterbildung und Qualifizierung für diejenigen, die vom Strukturwandel betroffen sind, zu unterstützen. Aber wir wollen mit dem „Arbeit-von-morgen-Gesetz“ das Ganze weiterentwickeln. Wir wollen noch flexibler und noch näher an den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und den Unternehmen unterstützen können und drohender Arbeitslosigkeit mit Qualifizierung begegnen; und wir wollen flexibel sein, wenn die Konjunktur nicht mehr so brummt. Prävention ist also die erste Aufgabe.
({3})
Zweitens. Sicherheit und Wandel. Wir haben in dieser Koalition ein Recht auf Weiterbildungsberatung geschaffen, und wir werden ein Recht auf das Nachholen eines Berufsabschlusses beschließen, wie in der Weiterbildungsstrategie beschrieben. Die SPD möchte darüber hinaus ein Recht auf Weiterbildung für alle im Strukturwandel und ein Recht auf den Start in einen neuen Beruf. Das ist unsere Forderung. Wer arbeiten möchte, der muss das auch können. Dabei wollen wir die Menschen unterstützen; das ist unser Ansatz.
Drittens. Wir wollen Leistung anerkennen. Wir wollen Arbeitsleistung besser anerkennen, aber vor allem eigenes Engagement besser unterstützen. Das wollen wir – in unserem Sozialstaatspapier haben wir das beschrieben – durch die Einführung eines Arbeitslosengeldes Q erreichen. Wer nicht schnell wieder Arbeit findet, bekommt eine individuelle, eine passgenaue Weiterbildung und das Arbeitslosengeld Q zusätzlich zum Arbeitslosengeld. So wird der Bezug verlängert für diejenigen, die sich weiterbilden und qualifizieren. Wir wollen aber auch die Arbeitsleistung durch eine höhere Anspruchszeit insgesamt würdigen – bei mindestens 20 Jahren Beitragszeit drei weitere Monate, ab 25 Jahren sechs Monate und ab 30 Jahren neun Monate; so haben wir es in unserem Papier beschlossen –, und wir wollen – das beschreiben wir auch –, dass die Lebensleistung auch dann eine Rolle spielt, wenn man keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld I mehr hat. Der vorübergehende Bezug von Transferleistungen darf sich nicht sofort auf den Wohnort auswirken oder Menschen dazu zwingen, ihr gesamtes Gespartes aufzubrauchen.
({4})
Wer aus dem Arbeitslosengeld I kommt, wer also schon gearbeitet und in die Versicherung eingezahlt hat, bei dem wollen wir zwei Jahre lang weder Vermögen noch Wohnungskosten prüfen. Die Menschen sollen nicht auf die Wohnungssuche geschickt werden. Sie sollen sich auf die Arbeitssuche machen können und sollen sich qualifizieren können. Diese Möglichkeiten wollen wir ihnen geben.
Bei der Verlängerung und der Verbesserung von Leistungen müssen wir eben zwei Dinge unterscheiden: Wir wollen damit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Wandel mehr Sicherheit geben und dem Gerechtigkeitsempfinden der Menschen Rechnung tragen. Wer länger gearbeitet und eingezahlt hat, muss davon auch etwas haben. Es ist aber nicht unser Ziel, dass Arbeitslose bis zum Ende der Bezugsdauer arbeitslos bleiben. Wir wollen alles daransetzen, ihnen einen guten Job zu ermöglichen. Deswegen ist ein Recht auf Arbeit viel wichtiger als die Bezugsdauer.
({5})
Unserer Auffassung nach gibt es genug Arbeit, für die auch ältere Menschen neu qualifiziert werden können. Es gibt genug Arbeit, die gesellschaftlich notwendig ist, aber bisher nicht bezahlt wird: in der Unterstützung von Älteren, von Kranken, von Familien, in der Unterstützung von Ehrenamt und Sozialwesen, in den Städten, in den Gemeinden, im Umweltschutz usw. Unser Credo bleibt – wie wir es mit dem sozialen Arbeitsmarkt in diesem Jahr begonnen haben –: Wir bezahlen lieber Arbeit statt Arbeitslosigkeit.
Glück auf!
({6})
Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Sabine Zimmermann, Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben hier einen Antrag der AfD-Fraktion zur Arbeitslosenversicherung vorliegen: Fünf Seiten ohne einen konkreten Vorschlag für die arbeitenden Menschen in unserem Land, fünf Seiten völlig ohne Substanz! Die AfD glaubt ja sogar – so steht es in dem Antrag –, dass der Beitragssatz noch immer bei 3 Prozent liegt und die Rahmenfrist jetzt schon bei 30 Monaten. Dabei ist der Beitragssatz längst auf 2,5 Prozent gesenkt, und die längere Rahmenfrist greift erst ab Januar nächsten Jahres.
({0})
Das zeigt doch eigentlich deutlich: Sie haben gar keine Ahnung von dieser Materie.
({1})
Die Linke weist schon seit 15 Jahren auf den Abbau des Sozialstaates hin. Seit 15 Jahren fordern wir eine stärkere Arbeitslosenversicherung für unsere Menschen in diesem Land.
({2})
Die AfD sieht jetzt die Möglichkeit, aus den Missständen Profit zu schlagen. Diese Methode hat System. Sie picken sich die einzelnen Punkte heraus und stellen sich mit Ihren Pseudoanträgen als Anwalt der kleinen Leute dar. Aber ist die AfD wirklich der Anwalt der kleinen Leute? Wir sagen: Nein.
({3})
Ich zitiere einmal aus den Reden der AfD, unter anderem hier im Bundestag – Frau von Storch, Sie kommen auch gleich dran –:
({4})
Das mit Abstand beste Programm zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit und Wirtschaftsabschwung sind nicht aufgeblähte Töpfe der Sozialversicherungen, sondern ist der Abbau von Bürokratie, Abgaben und Steuern.
Sagte Martin Sichert am 19. Januar 2018; man höre genau hin. „Runter mit den Sozialabgaben“, sagte Frau Beatrix von Storch am 3. Juli 2018 zum Familienhaushalt.
({5})
Allerdings ist die Krönung des Ganzen Jörg Meuthen. Er will – es kam heute schon deutlich heraus – die Sozialversicherungen loswerden. Er sagte letztes Jahr auf dem AfD-Parteitag, dass er in der Rentenversicherung eine Abkehr vom zwangsfinanzierten Umlagesystem hin zur regelhaften privaten Vorsorge anstrebt.
Das ist der Sozialstaat, den die AfD will. Die AfD will die Sozialversicherungen finanziell ausbluten lassen oder gleich ganz abschaffen. Dafür sollten Sie sich schämen, meine Damen und Herren.
({6})
Das sind nicht die Interessen der kleinen Leute. Nein, das sind die Interessen der Großunternehmen und Gutverdienenden. Wer so viel verdient, dass es für eine private Absicherung reicht, will vielleicht keine Steuern und keine Abgaben zahlen; das mag sein. Aber erzählen Sie das mal bitte den Menschen, die sich jeden Tag für einen Niedriglohn abrackern, mit zwei und mit drei Jobs. Erzählen Sie das denen, die Angst haben, ihren Job zu verlieren – das sollten Sie einmal machen –, und all denen, die auf eine starke Sozialversicherung und einen verlässlichen Sozialstaat angewiesen sind, wenn es hart auf hart kommt. Erzählen Sie das denen; denn die glauben es nicht. Die brauchen nämlich eine starke Sozialversicherung.
({7})
Nein, die AfD ist nicht die Partei der kleinen Leute, sondern die Partei der Bonzen und Bosse.
({8})
Wer das nicht wahrhaben will – ich werde es Ihnen erklären, Herr Gauland –, muss sich einmal fragen:
({9})
Woher kommen denn die ganzen Spendengelder für die AfD?
({10})
Warum werden denn die Namen der Spender um jeden Preis verschleiert? Weil sich diese Partei von Großindustriellen finanzieren lässt, von denen, die am meisten vom Niedriglohn profitieren.
({11})
Dafür sollten Sie sich auch schämen, meine Damen und Herren.
({12})
Ich muss Ihnen sagen: Die Linke nimmt niemals Spenden von Unternehmen, von der Wirtschaft an.
({13})
Meine Damen und Herren, das Arbeitsleben würdigen – kommen wir jetzt einmal zum Thema, der Arbeitslosenversicherung;
({14})
ich werde Ihnen erklären, wie es gehen könnte – und die Arbeitslosenversicherung wirklich gerechter machen,
({15})
das will eigentlich nur Die Linke hier im Deutschen Bundestag.
({16})
Was vor Erwerbslosigkeit am besten schützt, sind gut bezahlte und sichere Arbeitsplätze. Dazu gehört eine vorausschauende Konjunkturpolitik, die jetzt investiert, wenn sich der Abschwung abzeichnet.
({17})
Wir sehen ihn ja jetzt schon. Dazu gehören vernünftige Standards auf dem Arbeitsmarkt. Weg mit Befristungen! Deshalb feste Anstellungen statt Leiharbeit und Werkverträgen!
({18})
Eine starke Arbeitslosenversicherung ist wichtig. Der Sinn der Sozialversicherung ist doch, Menschen vor Lebensrisiken gut abzusichern. Genau das tut die Arbeitslosenversicherung jetzt nicht mehr: Zwei von drei Erwerbslosen beziehen Hartz IV. Die einen bekommen das Arbeitslosengeld erst gar nicht, und die anderen geraten schon nach zwölf Monaten in Hartz IV.
({19})
Die Linke will einen leichteren Zugang zur Arbeitslosenversicherung, damit man das Arbeitslosengeld schneller und länger beziehen kann. Wir fordern: Wer in den letzten drei Jahren vier Monate gearbeitet hat, bekommt Arbeitslosengeld für zwei Monate. Danach gilt: Für je zwei Monate kommt ein Monat Anspruch dazu. Und wer mehr als zwei Jahre beschäftigt war, bekommt für jedes weitere Jahr noch einen zusätzlichen Monat Anspruch auf Arbeitslosengeld. Also: Keine Deckelung, je länger man einzahlt, desto länger ist der Anspruch. Das wäre eine gute Arbeitslosenversicherung.
({20})
Und für Menschen über 50 braucht es bessere Mindestansprüche von zwei bis drei Jahren; denn das haben die Kolleginnen und Kollegen verdient. Sie haben schon hart in ihrem Leben gearbeitet. Niemand soll seine Arbeitskraft unter Wert verkaufen müssen. Deshalb: Weg mit den Sperrzeiten! Wir brauchen keine Lohndrückerei per Gesetz, sondern gute Arbeitsangebote.
({21})
Wir wollen Qualifikationen und Erfahrungen anerkennen und einen Rechtsanspruch auf Weiterbildung. Niemand soll mehr in dieses unwürdige Hartz-IV-System geraten. Das Arbeitslosengeld muss wieder den Lebensstandard sichern. Das ist eine gute Arbeitsmarktpolitik. Das ist eine Politik gegen die Angst. Das ist eine Politik für die Menschen. Wir wollen eine Arbeitslosenversicherung, auf die sich die Menschen verlassen können.
Danke schön.
({22})
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Bündnis 90/Die Grünen, hat jetzt das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieser Antrag zeigt die komplette Inkompetenz der AfD in sozialpolitischen Fragen. Er geht an den Zukunftsfragen, die im Land überall diskutiert werden, völlig vorbei und zeugt von völliger Inkompetenz. Meine Kolleginnen und Kollegen von den anderen Fraktionen, die vor mir geredet haben, haben die mangelnde Substanz schon weitgehend aufgezeigt, sehr bildlich ja der Kollege Johannes Vogel. Und in der Tat: Die ersten fünf Seiten wirken, als seien sie irgendwie aus Wikipedia oder sonst wo zusammenkopiert.
({0})
Das ist nicht mal ein gut lesbarer Text.
Und das Hauptargument gegen den „Vorschlag“ – in Anführungszeichen –, der am Ende kommt, steht schon im ersten Satz. Da steht nämlich:
Bei der Arbeitslosenversicherung handelt es sich um eine Risikoversicherung …
Aber wahrscheinlich haben Sie diesen Satz nur kopiert und ihn gar nicht verstanden. Die Arbeitslosenversicherung funktioniert nämlich gerade nicht wie die Rentenversicherung, in die man einzahlt und aus der man dann nach dem Äquivalenzprinzip Leistungen bekommt. Das ist ein anderes Versicherungsprinzip. Bei der Arbeitslosenversicherung handelt es sich eben um eine Risikoversicherung. Das Risiko ist, arbeitslos zu werden. Und die Absicherung dagegen beinhaltet auch, die Menschen möglichst schnell wieder dazu zu bringen, eine Beschäftigung zu finden und in den Arbeitsmarkt zurückzukehren.
({1})
Das heißt, die Menschen bekommen für eine begrenzte Zeit eine Lebensstandardsicherung und entsprechende Unterstützung auf dem Arbeitsmarkt. Was Sie vorschlagen, hat mit dieser Logik überhaupt gar nichts zu tun. Es ist einfach nur Unsinn.
({2})
Wenn argumentiert wird, die Älteren bekämen ja auch länger Arbeitslosengeld, dann hat das nichts damit zu tun, dass sie länger eingezahlt haben.
({3})
Das hat der Kollege Matthias Zimmer eben schon erklärt; das kam in den anderen Redebeiträgen auch angedeutet vor.
({4})
Sie bekommen deswegen länger Arbeitslosengeld, weil ältere Menschen länger brauchen, um wieder in den Arbeitsmarkt zu kommen. An dieser Stelle kann man vielleicht sogar darüber reden, ob es eine Verlängerung bei der Bezugsdauer gibt. Das sollte aber vom Alter und von der Arbeitsmarktsituation abhängen und nicht davon, wer wie lange eingezahlt hat. Wie gesagt, das ist völliger Unsinn.
({5})
Aus unserer Sicht muss man an ganz anderen Punkten ansetzen – hören Sie mal auf, dazwischenzubrüllen; also diese Inkompetenz von Ihnen! –, wenn man bei der Arbeitslosenversicherung, bei der Absicherung von Arbeitslosen wirklich etwas verbessern will.
(Dr. Alice Weidel [AfD]: Ja, das sozialversicherungstechnische Äquivalenzprinzip, das Sie nicht verstehen! Genau so ist es doch!
– Frau Weidel, Sie haben doch auch keine Ahnung. Seien Sie doch mal still!
({6})
Wenn man bei der Absicherung von Arbeitslosen etwas verändern will, dann muss man an ganz anderen Punkten ansetzen.
Für uns ist erstens wichtig: Wir müssen den Zugang zum Arbeitslosengeld I verbessern.
({7})
Von den Kurzzeitarbeitslosen bezieht mittlerweile nur noch knapp die Hälfte Arbeitslosengeld I. Die anderen sind gleich in Hartz IV. Da müssen wir ansetzen. Wer Arbeitslosenbeiträge bezahlt hat, der muss auch Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung bekommen.
({8})
Wir haben dazu Vorschläge vorgelegt.
({9})
Auch wer nur kurz eingezahlt hat, muss einen Anspruch bekommen. Das ist das Wesen der Versicherung.
Zweiter Punkt. Viele Menschen problematisieren ja, dass man nach Ende der Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung in Hartz IV abrutscht, viele auch schon sofort. Das ist deswegen für die Menschen ein Problem, weil es Existenzängste auslöst, da dieses Hartz-IV-System so ausgelegt ist, dass es nicht vor Armut schützt, dass es stigmatisiert. Deswegen wollen wir Grüne Hartz IV durch eine Garantiesicherung überwinden.
({10})
Der dritte wichtige Punkt: Wir müssen die Arbeitslosenversicherung insofern stärken, dass wir sie zu einer Arbeitsversicherung weiterentwickeln. Wir müssen auch Solo-Selbstständige, prekäre Selbstständige mit absichern. Wir müssen insbesondere dazu kommen, dass die Erwerbstätigen präventiv besser unterstützt werden – durch Weiterbildung, durch weitere Maßnahmen –, damit sie erst gar nicht in Arbeitslosigkeit abrutschen. Das wäre ein wichtiger Punkt im Hinblick auf die Fragen der Zukunft.
({11})
Ich könnte noch ganz lange über unsere Konzepte als Grüne dazu reden; aber ich finde, die AfD hat uns schon viel zu viel Zeit gestohlen. Ich habe noch zwei Minuten, und die möchte ich Ihnen und uns allen schenken.
Vielen Dank.
({12})
Albert Weiler, CDU/CSU, ist der nächste Redner.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren auf den Tribünen und am Fernseher! Werte Kolleginnen und Kollegen! Was ist Gerechtigkeit? Ich hatte mal einen Professor, der gesagt hat: Da steht ein Reh, dahinter steht der Förster. Der Förster legt an, würde das Reh gern erlegen, um den Wald zu schonen. Er will gerade abdrücken, das Reh ist weg.
({0})
– Danke. – Dann sagt der Förster: Welche Ungerechtigkeit! Ich kann den Wald nicht schonen, das Reh lebt noch. – Und das Reh sagt: Welche Gerechtigkeit! Ich bin davongehüpft.
Jetzt möchte ich einmal erklären, wie es hier um die Gerechtigkeit bestellt ist, die uns die AfD heute beibringen will. Meine Damen und Herren, unsere Gerechtigkeit, die Gerechtigkeit der Regierungsfraktionen, die wir für arbeitslose Menschen umsetzen wollen, besteht darin, dass wir mit unserer Politik Menschen, die arbeitslos werden, so schnell wie möglich wieder in Arbeit bringen wollen. Sie, meine Damen und Herren von der AfD, wollen die Arbeitslosigkeit verlängern und genau dieses konterkarieren. Da frage ich mich: Ist das gerecht? Ich meine: Nein, das ist nicht gerecht!
({1})
Digitalisierung, Fachkräftemangel, demografischer Wandel und nachhaltiger Einsatz von Ressourcen stellen unseren Arbeitsmarkt in Zukunft weiter vor sehr große Aufgaben. Und angesichts dieser Herausforderungen brauchen wir alle Menschen auf dem Arbeitsmarkt. Gerade die älteren Menschen verfügen häufig über große Berufserfahrung und sehr spezifische Qualifikationen. Dieses Potenzial darf uns nicht verloren gehen. Und mit jedem Tag der Arbeitslosigkeit geht ein Stück dieser Kraft verloren. Deshalb muss unser Ziel sein, diese Menschen bei Arbeitslosigkeit zu unterstützen und so schnell wie möglich in den Arbeitsmarkt zurückzuholen. Leistungsbereitschaft und Fähigkeit müssen unterstützt werden; das darf nicht auf die lange Bank geschoben werden, meine Damen und Herren.
Lebensleistung zu belohnen, heißt aus meiner Sicht, jedem eine faire Chance zu geben, sich mit seinen Fähigkeiten beruflich in der Gesellschaft einzubringen. Aus diesem Grund haben wir mit dem Qualifizierungschancengesetz den präventiven Ansatz der Bundesagentur für Arbeit weiter ausgebaut. Das Gesetz garantiert ein Recht auf rechtzeitige Weiterbildung, noch bevor die Arbeitslosigkeit akut droht. Die Bundesagentur kann außerdem seit diesem Jahr einen Teil der Weiterbildungskosten in Unternehmen übernehmen, und sie verstärkt ihre bestehende Weiterbildungs- und Qualifizierungsberatung.
Mit der Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung haben wir die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bereits finanziell sehr entlastet. Dass die BA trotzdem finanziell so gut dasteht, wie sie jetzt dasteht, haben wir unserer erfolgreichen Arbeitsmarktpolitik zu verdanken und natürlich auch der Wirtschaft, die dafür gesorgt hat. Mit den vorhandenen Mitteln wollen wir vor allem durch Qualifizierung die Vermittlung in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung weiter fördern. Unser Weg zeigt Erfolg, und diesen Erfolgsweg werden wir auch weitergehen, meine Damen und Herren. Never change a running system!
({2})
Sie weisen zu Recht auf die bestehenden Sonderregelungen bezüglich der Anspruchsdauer bei den über 50-Jährigen hin. Damit berücksichtigen wir bereits heute die besondere Situation älterer Menschen bei der Reintegration in den Arbeitsmarkt. Aber anstatt die Fähigkeiten älterer Arbeitsloser zu aktivieren und die Menschen so schnell wie möglich zurück in den Beruf zu bringen, wollen Sie eine Regelung schaffen, die eine Orientierungslosigkeit fördert. Das halte ich für den vollkommen falschen Weg.
Daneben ist der Antrag auch noch handwerklich äußerst fragwürdig. Sie erwähnen in Ihrem Antrag keine Kostenkalkulation. Dies finde ich absolut unredlich. Sie versprechen Leistungen, ohne deren finanziellen Auswirkungen darzustellen, und vielleicht auch, ohne deren finanziellen Auswirkungen überhaupt zu kennen. Mit nicht kalkulierten finanziellen Forderungen versuchen Sie, unsere Arbeitslosenversicherung zu schwächen und die Menschen an der Stelle – das unterstelle ich jetzt mal – auch zu täuschen. Das alleine erlaubt schon keine Zustimmung zu diesem Antrag.
Unser Ansatz setzt präventiv an und ist auch seriös finanziell kalkuliert. In Ihrem Vorschlag sind vor allem leere Versprechungen an die Bürgerinnen und Bürger enthalten, und aus diesem Grunde wollen und müssen wir den Antrag ablehnen.
Vielen Dank.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Martin Sichert, AfD.
({0})
Meine Damen und Herren, vielen Dank, dass Sie gerade mit Ihren ganzen Beiträgen und der intensiven Beschäftigung mit unseren Ansätzen zeigen, dass Sie selbst überhaupt keine Ideen und tragfähigen Konzepte haben.
({0})
Ihre Politik hat zu einer massiven Altersarmut geführt, zu Hunderttausenden Pfandflaschen sammelnden Rentnern.
({1})
Sie haben hier eine große Klappe, Herr Zimmer. Nutzen Sie diese Zeit doch lieber, um sich mal zu überlegen, wie wir die von Ihnen verursachte Misere wieder beseitigen können.
({2})
380 Millionen Euro waren Ihnen diese Tage 4 900 Arbeitsplätze bei Condor wert – etwa 80 000 Euro vom Steuerzahler pro Arbeitsplatz. Hier, mit diesem Antrag, haben Sie nun die Möglichkeit zu zeigen, was Ihnen die Schicksale von Arbeitnehmern wert sind,
({3})
die bei medial nicht so bekannten Firmen wie Condor arbeiten, bei jenen, die von dem massiven Abschwung, den Sie mit Energiewende, erdrückender EU-Bürokratie und automobilfeindlicher Politik herbeigeführt haben, betroffen sind.
({4})
Es geht um Menschen, die teils nach Jahrzehnten beim gleichen Arbeitgeber nun aufgrund Ihrer Politik ihren Arbeitsplatz verlieren.
({5})
Viele dieser Menschen haben lange in die Sozialversicherung eingezahlt, und es ist nun an der Zeit, ihnen den gebührenden Respekt für die geleistete Arbeit zu erweisen.
({6})
Mildern Sie ihren Aufprall ab, und unterstützen Sie unseren Antrag,
({7})
und verschaffen Sie den Menschen so mehr Zeit in wirtschaftlich schlechten Zeiten, eine neue Arbeit zu finden.
Das zu tun, ist auch eine Frage der wirtschaftlichen Vernunft und des vorausschauenden Handelns. Über 30 000 Arbeitsplätze sind allein bei den Stammbelegschaften der Automobilindustrie in den letzten Monaten weggefallen. Bei den Leiharbeitern war es ein Vielfaches davon. Automobilzulieferer wie Neue Halberg Guss, Eisenmann oder Weber Automotive sind pleitegegangen. Das sind allein 6 500 Arbeitsplätze von vor allem hoch qualifizierten Arbeitnehmern. Halten wir die fähigen Ingenieure und Techniker im Land! Unterstützen wir sie auf ihrem Weg durch die Arbeitslosigkeit nach Kräften!
({8})
Wir müssen alles dafür tun, diese Leistungsträger unserer Gesellschaft im Land zu halten.
({9})
All die exzellent ausgebildeten Arbeiter und Akademiker, deren Fachwissen weltweit oftmals führend ist, braucht unser Land auch künftig als Basis unserer Wirtschaft. Unser Land steht am Scheideweg.
({10})
Es gab in den vergangenen Jahren einen groß angelegten Angriff der Politik – von Ihnen allen – auf die Basis unseres Wohlstands. Es hilft nichts, wenn der Staat nun Abermillionen in die Hand nimmt, um ein paar Tausend Arbeitsplätze bei Condor kurzfristig zu erhalten,
({11})
wenn auf der anderen Seite die Geschäftsgrundlage von Condor, nämlich das Fliegen, politisch massiv bekämpft wird.
({12})
Sie müssen sich hier schon ehrlich machen: Entweder wollen Sie Flüge politisch bekämpfen – dann dürfen Sie kein Geld für Condor aufwenden –, oder Sie wollen Condor retten – dann müssen Sie aber umgehend den politischen Kampf gegen das Fliegen einstellen.
({13})
Sie alle von den Altparteien haben in der Vergangenheit mit Energiewende, Euro-Rettung, Masseneinwanderung Unqualifizierter
({14})
und übermäßiger Steuer- und Abgabenlast die jetzige Wirtschaftskrise herbeigeführt. Es wurden viele Weichen falsch gestellt; aber wir können die Vergangenheit nicht ungeschehen machen.
({15})
Lassen Sie uns deshalb nun gemeinsam alles daransetzen, den Karren aus dem Dreck zu ziehen.
({16})
Die echten Fachkräfte gilt es im Land zu halten, indem wir jenen, die arbeitslos werden, eine längere Perspektive als bisher geben.
({17})
Wir müssen natürlich noch viele weitere Maßnahmen ergreifen, um die Wirtschaft wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen,
({18})
und dazu gehört auch, den irrationalen Kampf gegen das Automobil, das Rückgrat der deutschen Wirtschaft, endlich einzustellen.
({19})
Lassen Sie uns gemeinsam
({20})
die finanzielle Belastung der Bürger senken und eine gute Zukunft aufbauen. Das sind wir nämlich nicht nur unseren Wählern, sondern auch künftigen Generationen schuldig.
Vielen Dank.
({21})
Dr. Martin Rosemann, SPD, ist der nächste Redner.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der letzten Woche habe ich in meinem Wahlkreis eine Frau getroffen, Anfang 50, alleinstehend. Sie hat immer gearbeitet. Sie hatte die Vorstellung: Ich arbeite bis zur Rente. – Jetzt ist sie plötzlich arbeitslos geworden, und sie war ziemlich verzweifelt. Sie hat eine Ausbildung; aber sie kann in dem erlernten Beruf nicht mehr arbeiten. Klar ist: Sie muss sich beruflich neu orientieren.
Nennen wir sie Frau W. Frau W. hat Angst. Sie hat Angst davor, keine Arbeit mehr zu finden. Sie hat Angst davor, dass die Zeit nicht ausreicht, eine Qualifizierung zu machen und danach einen passenden Job zu finden, und sie hat Angst davor, dass ihr Erspartes weg ist, bevor sie Leistungen der Grundsicherung bekommt. Meine Damen und Herren, ich finde, ein guter Sozialstaat muss Menschen wie Frau W. diese Angst nehmen und ihr neue Perspektiven geben.
({0})
Deshalb ist es so wichtig, dass wir Qualifizierungen unterstützen und dass Qualifizierungszeiten eben nicht auf die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld angerechnet werden. Das Allerwichtigste ist aber, dass Leute wie Frau W. schnell, unbürokratisch und passgenau unterstützt werden, so wie sie es brauchen. Darauf kommt es an.
({1})
Ich nenne das „Sozialstaat als Partner“, das heißt gemeinsam Perspektiven entwickeln: Wie geht es jetzt weiter? Wo liegen die Stärken von Frau W.? Was passt zu ihr? Braucht sie Qualifizierungen oder gar Umschulungen? – Individuelle und umfassende Beratung ist die Grundlage für die nächsten richtigen Schritte. Im Anschluss an eine Qualifizierung braucht Frau W. genug Zeit, um dann auch eine passende Stelle zu finden; denn das Ziel muss ja sein, dass Frau W. mit Anfang 50 als Fachkraft in diesem Land uns wieder zur Verfügung steht und wieder arbeiten kann.
({2})
Aber was ist, wenn wir das nicht schaffen, während Frau W. Arbeitslosengeld bezieht? Auch davor hat Frau W. Angst. Sie hat für ihr Alter angespart. Sie hat genau das gemacht, was wir von den Bürgerinnen und Bürgern erwarten, was wir ihnen empfehlen, und deshalb meine ich, dass wir auch das SGB II so weiterentwickeln müssen, dass wir in den ersten zwei Jahren nach Arbeitslosengeldbezug das Vermögen eben nicht mehr anrechnen, damit Leute, die sich was angespart haben, hier mehr Sicherheit bekommen.
({3})
Das alles, meine Damen und Herren, heißt für mich Schutz und Chancen. Wir müssen Menschen wie Frau W. Schutz und Chancen ermöglichen. Ich wünsche mir, dass Frau W. den Sozialstaat als unterstützend empfinden kann, als Partner, der passgenau hilft. Das gilt nicht nur für Frau W.; es gilt für Millionen von Menschen in unterschiedlichen Lebenslagen. Und es gilt auch nicht erst dann, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, Leute arbeitslos geworden sind, sondern wir müssen vorher ansetzen, Unterstützung schon im Arbeitsleben bieten, Unterstützung in unterschiedlichen Lebenslagen bieten – schnell, unbürokratisch und wie aus einer Hand.
({4})
Meine Damen und Herren, Menschen, die in unserem Sozialstaat Ansprüche auf Unterstützung haben, müssen sie auch bekommen, ob es finanzielle Leistungen sind, ob es Unterstützung bei Qualifikation ist, bei Prävention oder Rehabilitation. Das ist im Interesse der betroffenen Menschen, aber es ist auch in unserem Interesse; denn wir müssen als älter werdende Gesellschaft doch ein Interesse daran haben, dass es Menschen schaffen, tatsächlich gesund bis in die Rente zu kommen, und dass die Arbeitskräfte von heute in die Lage versetzt werden, die Arbeit von morgen zu machen, damit wir Fachkräfte sichern.
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Meine Damen und Herren, wir haben mit dem Präventionsgesetz, der Flexirente und dem Qualifizierungschancengesetz wichtige Schritte unternommen. Diese Schritte gehen wir weiter für einen Sozialstaat als Partner, der das Leben leichter macht. Das zeichnet eine solidarische Gesellschaft aus.
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Till Mansmann, FDP, hat als Nächster als Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Bürgerinnen und Bürger auf der Tribüne! Man lebt nicht, um zu arbeiten, aber ein Leben, in dem man keinen produktiven Beitrag leisten kann, ist für jeden betroffenen Menschen eine große Herausforderung. Das Arbeitslosengeld I ist eine der Antworten des Sozialstaats auf diese Herausforderung. Eine unnachgiebige Bezugsdauer des Arbeitslosengelds I wird dem Problem nicht gerecht. Deshalb begrüßen wir Freie Demokraten die besondere Verknüpfung zwischen ALG I und Weiterbildungsmaßnahmen. Wenn es die persönliche Situation verlangt, dann sollte die Zeit der Arbeitslosigkeit auch eine Gelegenheit zur Qualifizierung sein. Und wer seine Zeit produktiv und sinnvoll nutzt, dessen Engagement wird honoriert. Das haben wir politisch bereits so geregelt, worauf mein Kollege Vogel schon hingewiesen hat. Hinter diesem gestaffelten Verfahren stehen wir auch.
Arbeitslose tragen ein schweres Paket. Die Menschen, die in diesem System ihr Bestes geben, haben dafür unsere Unterstützung und unseren Respekt verdient.
({0})
Respekt heißt für uns, insbesondere auf die Fähigkeiten jedes Einzelnen zu vertrauen und zu bauen. Dementsprechend halten wir die vorgeschlagene Änderung der Transfersystematik für den falschen Weg. Was Arbeitslose brauchen, ist ein flexibler Arbeitsmarkt, der es ihnen ermöglicht, schnell wieder Fuß zu fassen. Gerade da mache ich mir allerdings große Sorgen. Erst vor Kurzem hat Arbeitsminister Heil erklärt, dass wir im Oktober Gesetzesvorschläge zu erwarten hätten. Das klang für mich mehr nach einer Drohung als nach einem Versprechen.
Vor bereits mehr als zwei Jahren wurde das Geschäft der Leiharbeitsbranche mithilfe des novellierten Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes deutlich erschwert. Nun will der Minister in einer Weise an die Befristung von Arbeitsverträgen herangehen, die sich für den Arbeitsmarkt als sehr problematisch erweisen wird. Wir schlagen einen gefährlichen Weg ein, wenn wir, weil die wirtschaftlichen Zeiten gerade ganz gut sind, die Flexibilität des Arbeitsmarktes an allen Stellen einschränken. Wenn wieder schlechtere Zeiten kommen, werden wir das schwer bereuen. Das Schlimme ist: Das würde die meisten von uns nicht treffen, sondern die, die es auf dem Arbeitsmarkt schwer haben, eben die gebrochenen Erwerbsbiografien, die Dr. Zimmer zu Recht angesprochen hat.
Die Arbeitsmarktforschung zeigt auch klar und deutlich, dass die Befristung gerade für diejenigen Menschen ein wichtiger Zugangsweg zum Arbeitsmarkt ist, die eine für Arbeitgeber schwierige Biografie haben. Frau Kollegin Schmidt, Sie haben von Prävention gesprochen. Die Gesetze, die Sie planen, sind genau kontraproduktiv im Blick auf dieses Anliegen.
({1})
– Nein.
({2})
Wenn wir nun an allen möglichen Stellen am Arbeitsmarkt herumdoktern, dann werden wir gerade den Menschen, die auf einen flexiblen und funktionierenden Arbeitsmarkt besonders angewiesen sind, keinen guten Dienst erweisen, gerade in einer Zeit, in der wir ernsthaft damit rechnen müssen, dass die vielen fetten Jahre vorbeigehen.
Lassen Sie uns hier keine Gesetze machen, die Arbeitslosigkeit zementieren.
({3})
Es wäre schön, wenn wir den Menschen in Deutschland kein Danaergeschenk unter den Weihnachtsbaum 2019 legen mit den mageren Ideen, die die AfD hier vorlegt, und leider mit den problematischen Ideen, die aus dem Arbeitsministerium der SPD kommen.
({4})
Peter Aumer, CDU/CSU, ist der nächste Redner.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Ihrem Antrag, Kollegen der AfD, schreiben Sie: Wir brauchen eine Neuordnung des Arbeitslosengeldes wegen der „unsozialen Lebenswirklichkeit“ in unserem Land. – Unsoziale Lebenswirklichkeit? Leben wir im selben Land, meine sehr geehrten Damen und Herren der AfD? Wir haben in den letzten zehn Jahren die Arbeitslosigkeit in Deutschland halbiert. Das ist soziale Politik, meine sehr geehrten Damen und Herren der AfD.
({0})
Das ist eine Politik, die den Grundsätzen der sozialen Marktwirtschaft folgt. Wir machen nämlich eine aktivierende Arbeitsmarktpolitik. Wir wollen weiter an dem Ziel arbeiten, dass die Menschen in Arbeit bleiben, gerade in einer Zeit, in der die Konjunktur abkühlt. Das muss unser vorrangiges Ziel sein.
Herr Kollege Sichert, in Ihrer Rede – jetzt ist er leider schon weg – –
({1})
Er hat in seiner Rede gesagt, die Koalition sei schuld, dass die Konjunktur zurückgeht. Er sollte sich vielleicht einmal die weltweite Konjunkturentwicklung anschauen. Ich glaube, alles, was die AfD macht, ist sehr klar in ihrer kleinen Welt begründet, und dabei vergisst sie, das große Ganze im Blick zu haben. Ich bitte, auch das bei Ihren Anträgen ein klein wenig zu beachten.
Dann hat Herr Sichert von Respekt gesprochen, davon, dass die Ausweitung des Arbeitslosengeldes eine respektvolle Handlung sei. Respekt gegenüber Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist, dafür zu sorgen, dass sie einen sicheren Arbeitsplatz haben. Das muss die Politik in unserem Land sein. Dann hat Herr Sichert davon gesprochen, alles dafür zu tun, dass die Leistungsträger nicht ins Ausland gehen. Dazu sage ich: Die Leistungsträger in unserem Land sollen in Arbeit bleiben. Das ist die Herausforderung, der sich verantwortungsvolle Politik auch stellen muss.
Herr Kollege Münzenmaier, Sie haben vorhin das Beispiel des 48-jährigen Handwerkers angesprochen. Zum Thema Realität: Wenn Sie in meinen Wahlkreis gehen, werden Sie keinen 48-jährigen Handwerker finden, der arbeitslos ist. Wir haben Fachkräftemangel. Wir brauchen dringend Handwerkerinnen und Handwerker. Sie sollten vielleicht einmal in Ihrem Wahlkreis unterwegs sein und sollten schauen, wie die Lebensrealität in Deutschland ist. Dann können wir auch darüber reden, statt uns weiter mit solchen Anträgen zu beschäftigen.
({2})
Mit unserer Politik, meine sehr geehrten Damen und Herren der AfD – so viel auch zur Lebenswirklichkeit –, ist uns noch etwas gelungen, was Sie in Ihrem Antrag nicht zur Kenntnis nehmen. Wir haben die Bürgerinnen und Bürger, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, um 6 Milliarden Euro entlastet. In Ihrem Antrag nehmen Sie das nicht einmal zur Kenntnis. Sie wissen wahrscheinlich gar nicht – das hat die Kollegin vorhin schon angesprochen –, dass der Arbeitslosenbeitrag im Januar von 3 Prozent auf 2,5 Prozent gesenkt worden ist, und zwar auf Antrag der Regierungskoalition. Das entlastet die Arbeitnehmer und die Arbeitgeber um 6 Milliarden Euro. Sie sollten also ein klein bisschen sorgfältiger bei der Erarbeitung ihrer Anträge sein.
({3})
Dann sollten Sie, liebe Kollegen, auch die Zahlen ernst nehmen. Das ist vom Kollegen Vogel vorhin schon angesprochen worden. Ich möchte nur eine BA-Zahl herausgreifen. Im Zeitraum von Juni 2018 bis Juni 2019 hatten wir einen Zugang von 2,5 Millionen Personen ins Arbeitslosengeld II und im selben Zeitraum einen Abgang von 2,44 Millionen Personen aus dem Arbeitslosengeld II. Davon sind 20 Prozent in Hartz IV gegangen. Daran müssen wir arbeiten. Das ist sicherlich eine große Herausforderung. Aber diese Zahl ist auch ein Zeichen für die Robustheit unseres Arbeitsmarktes. Ich glaube, besser, als der Arbeitsmarkt in Deutschland im Moment ist, könnte er wahrscheinlich auch nicht sein. Wir müssen daran arbeiten, dass das auch in den nächsten Monaten so bleiben wird.
({4})
Wenn man dann Ihren Antrag mit anderen vergleicht, liebe Kollegen – ich habe mal bei den Linken nachgeschaut –, stellt man fest, dass es von den Linken im Jahr 2016 einen ähnlichen Antrag zum Thema Arbeitslosengeld gab. Man merkt also schon gewisse Ähnlichkeiten. Wenn Herr Gauland meint, seine Partei sei sozial, dann entgegne ich ihm: Es reicht nicht, wenn man sich eine soziale Plakette umhängen möchte, sondern Sozialpolitik schaut anders aus.
Wenn man Ihre Entscheidungen der letzten Monate im Hohen Haus anschaut: Dann war das alles andere als soziale Politik. Wir wollen aktivierende Politik. Wir haben gemeinsam in der Koalition ein Programm aufgelegt, mit dem wir Langzeitarbeitslosen eine Chance geben. Sie haben dagegen gestimmt. Das ist unsoziale Politik, meine sehr geehrten Damen und Herren der AfD.
({5})
Von daher wir lehnen Ihren Antrag ab, weil er nicht sozial ist, weil er nicht durchdacht ist und weil er an der Lebenswirklichkeit der Menschen in unserem Land vorbeigeht.
Herzlichen Dank.
({6})
Vielen Dank, Peter Aumer. – Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich rufe Frau Gabriele Hiller-Ohm auf – vier Minuten!
Ich werde mich bemühen. – Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Kollege Münzenmaier von der AfD,
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mein Fazit bezüglich Ihres Antrags zum Arbeitslosengeld I lautet: Es kreißte der Berg und gebar noch nicht einmal eine Maus. – Es ist doch völlig absurd, einen so langen Antrag vorzulegen, der am Ende nur aus einer einzigen und darüber hinaus noch völlig unkonkreten Forderung besteht; Kollege Vogel hat sehr eindrucksvoll darauf hingewiesen. Tatsächlich zeigt Ihr Antrag wieder einmal, dass Sie erstens den sozialpolitischen Entwicklungen völlig hinterherhinken und zweitens ein fragwürdiges Verständnis von unserem Sozialstaat haben.
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Sie wollen die Länge der Auszahlung des Arbeitslosengeldes I alleine davon abhängig machen, wie lange eingezahlt wurde.
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Sie meinen, damit wäre die Welt dann in Ordnung. Auch wenn die Arbeitslosenversicherung keine Sozialleistung ist, bedeutet das noch lange nicht, dass unser Staat ein Versicherungsdienstleister ist.
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Auch die Arbeitslosenversicherung basiert auf dem Prinzip der Solidarität. Das bedeutet, dass sich die Mitglieder gegenseitig Hilfe und Unterstützung gewähren, und das ist auch gut so.
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Dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD, mit Solidarität allerdings nichts am Hut haben, wundert hier im Haus niemanden mehr.
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Sie sprechen in Ihrem Antrag von sozialer Gerechtigkeit. Aber soziale Gerechtigkeit bedeutet eben nicht, dass man jeden Cent, den man eingezahlt hat, auch eins zu eins wieder zurückbekommt. Es bedeutet vielmehr, dass die Gesellschaft miteinander solidarisch ist, dass Stärkere für Schwächere einstehen und dass am Ende jeder Mensch eine würdige Absicherung hat; darum geht es.
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Ihr Antrag ist wieder einmal ein plumper Versuch, der AfD einen sozialen Anstrich verpassen zu wollen. Aber wir erkennen den Wolf im Schafspelz, meine Damen und Herren!
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Gestern haben wir hier im Plenum über die Verbesserung der Löhne für Pflegekräfte debattiert. Aber anstatt den Handlungsbedarf bei diesem drängenden Problem zu erkennen, meinen Sie, der Markt wird es schon von alleine regeln. Sie lassen die hart arbeitenden Pflegekräfte im Regen stehen.
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Das ist Ihr wahres neoliberales Gesicht.
Auch Ihr Wahlprogramm spricht Bände. Hier findet man lediglich drei magere, nebulöse Seiten zur Sozialpolitik. Und gleich im ersten Absatz, meine Damen und Herren, wird deutlich, was die AfD unter Solidarität versteht:
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Zuwanderer gegen deutsche Staatsbürger auszuspielen – das ist Ihr Verständnis vom Sozialstaat. Meine Damen und Herren, wir aber wollen keine Sozialpolitik für Auserwählte.
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Nein, auf keinen Fall.
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Die SPD kämpft für einen starken, zukunftsfesten Sozialstaat, der allen Menschen in unserem Land
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die Unterstützung gibt, die benötigt wird.
Meine Vorrednerin Dagmar Schmidt und mein Vorredner Martin Rosemann haben die Maßnahmen und Pläne der SPD bereits sehr gut dargestellt. Wir wollen den Menschen, die arbeitslos geworden sind, helfen, schnell wieder in Arbeit zu kommen, damit sie ein selbstbestimmtes Leben führen können. Der Vorschlag der SPD – das Arbeitslosengeld Q – ist deshalb der richtige Weg. Damit wollen wir einen Leistungsanspruch für Qualifizierung während Zeiten der Arbeitslosigkeit einführen. Durch Qualifizierung und Weiterbildung eröffnen wir arbeitslosen Menschen neue Chancen, rasch auf dem Arbeitsmarkt wieder Fuß zu fassen. Das ist im Zeitalter der Digitalisierung, in der sich die Arbeitswelt im raschen Wandel befindet, umso dringlicher.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der AfD, wenn Sie tatsächlich etwas verbessern wollen, dann müssen Sie in Ihre Vorschläge deutlich mehr Gehirnschmalz
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und vor allem mehr Herzblut für Menschen in Notlagen investieren. So jedenfalls wird das nichts.
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Vielen Dank, Gabriele Hiller-Ohm. – Der letzte Redner in dieser Debatte: Thomas Heilmann für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren auf der Zuschauertribüne und an den digitalen Endgeräten! Frau Weidel, Sie hören leider nicht zu, und Herr Gauland auch nicht. Ich wollte Sie beide persönlich ansprechen. Dieser grundmangelhafte Antrag, Frau Weidel, trägt Ihre Unterschrift; da sollten Sie sich auch nicht rausreden.
Wir halten kurz fest: Der Antrag enthält unrichtige Angaben,
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schon den falschen Arbeitslosenbeitrag. Er ist sehr länglich und sprachlich ausgesprochen misslungen; das haben meine Vorredner schon dargestellt. Er steht im Widerspruch zu zentralen Aussagen Ihrer Partei. Er sagt mit keinem Wort, was Sie eigentlich genau fordern, wer jetzt eigentlich wie viel unter welchen Voraussetzungen bekommen soll.
Selbstverständlich sagt der Antrag, den Sie, Herr Gauland, unterschrieben haben, auch nichts zur Finanzierung. Der Antrag unterschlägt, dass alle Arbeitswissenschaftler das Gegenteil sagen. Und am Schluss fordert der Antrag dann auf simplen drei Zeilen, die Bundesregierung möge da irgendetwas vorlegen. Der Antrag zeigt also, dass Sie kein Konzept für keine sozialpolitische Frage haben, keines für Rente, keines für Arbeitslosigkeit. Herr Gauland, Ihr ständiger vergeblicher Versuch, sich als bürgerlich darzustellen, wird auch hier eindeutig entlarvt.
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Ein so unseriöses Werk ist schlicht liederlich, aber bestimmt nicht bürgerlich.
Der zentrale Gedanke von uns in der Koalition, auf den Sie gar nicht eingehen, ist, dass es am besten für jeden ist, der arbeitslos wird, wenn er schnell wieder in Arbeit kommt.
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Denn jede Statistik zeigt: Umso länger die Arbeitslosigkeit dauert, umso schwieriger wird es. – Diese Bundesregierung hat darauf auch eine zentrale Antwort gegeben, nämlich: Wenn es nicht klappt, schnell wieder Arbeit zu finden, dann braucht man Weiterbildung. Deswegen haben wir eine umfangreiche Weiterbildungsstrategie vorgelegt. Wir haben mehrere Gesetze vorgelegt und auch schon verabschiedet.
Genauso wenig substanziell wie Ihr Antrag ist auch Ihre Antwort darauf. Denn Sie haben sich beim Thema Weiterbildung oder, präzise gesagt, beim Qualifizierungschancengesetz im letzten Jahr ganz entschlossen enthalten.
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Dann stellt heute Herr Münzenmaier hier dieses, vorsichtig formuliert, wenig durchdachte Konzept vor, meine Vorredner und die nachfolgenden Redner
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auf Herrn Münzenmaier nehmen es nach allen Regeln der Kunst auseinander – und dann hatten Sie noch mal die Gelegenheit, als Herr Sichert sprach –: Und was machen Sie? Sie gehen mit keinem einzigen Wort auf nur ein einziges Argument meiner Vorredner ein. Ich meine, das ist schon ein ziemliches Kunststück.
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Statt auf irgendein Argument einzugehen, schimpfen Sie – wie immer – auf Flüchtlinge.
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Dann verwechseln Sie einen Kredit an Condor mit einem Zuschuss an Condor. Und was ich überhaupt nicht verstanden habe: Sie beklagen Arbeitslosigkeit und die Tatsache, dass wir einen Kredit geben, damit die Condor, die nur in Liquiditätsschwierigkeiten, aber nicht in Ergebnisschwierigkeiten ist, überleben kann und es eben keine Arbeitslosigkeit gibt. Warum Sie das in diesem Zusammenhang angegriffen haben, habe ich nicht verstanden.
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Aber es ist ziemlich unlogisch. Ganz nebenbei leugnen Sie dann auch noch den Klimawandel. Da könnte man auch sagen: wie immer.
Ihre klägliche Vorstellung würde ich deswegen wie folgt zusammenfassen: Bei den Flüchtlingen können Sie nur hetzen. Beim Klima können Sie
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nur leugnen, und wenn es um Soziales geht, können Sie – nichts.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Thomas Heilmann. – Damit schließe ich die Aussprache.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor 30 Jahren, am 27. September 1989, befanden sich etwa 900 Menschen in der Prager Botschaft. Sie waren dorthin geflüchtet, um ihre Ausreise durchzusetzen. Drei Tage später waren es schon rund 4 000 Menschen, die auf engstem Raum in der Hoffnung auf eine gute Lösung ausharrten. Dann brach aber der Damm. Ich denke, die meisten von Ihnen im Haus werden sich an die Rede von Herrn Genscher auf dem Balkon der Botschaft erinnern, mit der er den Menschen die direkte Ausreise in die Bundesrepublik ankündigte.
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Das war eine schwere Niederlage für die DDR-Führung und ein Meilenstein auf dem Weg zur Friedlichen Revolution. Wenige Tage später kochte die Situation im ganzen Land noch stärker hoch mit dem Aufbegehren mutiger Bürgerrechtler und auch immer mehr DDR-Bürger, zunächst auf der großen Demonstration in Plauen, aber dann auch in Leipzig am 9. Oktober vor 30 Jahren.
Das war alles andere als selbstverständlich, wenn man den historischen Kontext bedenkt, etwa die Niederschlagung der Bürgerrechtsbewegungen in Osteuropa, in Ungarn, in Prag oder, damals noch ganz aktuell, in Peking. Der real existierende Sozialismus der DDR hatte im wahrsten Sinne des Wortes abgewirtschaftet – politisch, ökonomisch, ökologisch, gesellschaftlich, aber eben auch moralisch. Offenbar wurde, dass all die hehren Ansprüche nicht eingehalten werden konnten.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die danach folgende Vereinigung ist heute eine hart erarbeitete, aber auch eine gelebte Realität. Gerade als jemand, der einen großen Teil seiner Kindheit auf dem Bauernhof seiner Großeltern 50 Meter vor dem 500-Meter-Zaun verbracht hat, sage ich: Die Friedliche Revolution und die deutsche Einheit sind ein Glücksfall der deutschen Geschichte, auf den wir heute dankbar und auch mit Freude zurückblicken können.
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Die vermeintlich zehntstärkste Volkswirtschaft der Welt war in Wahrheit also völlig verschlissen. Die tatsächliche Lage war viel schlimmer, als man selbst im Westen vermutete. Wir haben inzwischen viel getan, dass der Unterschied zwischen Ost und West geringer geworden ist. Auch und gerade aktuell haben wir, sowohl absolut als auch relativ zum Westen, steigende Löhne, Gehälter und Renten. Im Osten haben wir dank der wirtschaftlichen Entwicklung und der Höhergewichtung der Renten heute die niedrigste Altersarmut im Land. Heute lässt sich an vielen Stellen auch gar nicht mehr auf Anhieb sagen, wo die innerdeutsche Grenze verlief. Nicht nur die Städte und Dörfer, auch die Verkehrs-, Energie- und Telekommunikationsinfrastrukturen wurden massiv modernisiert und erweitert und damit die Voraussetzung dafür geschaffen, dass sich die Wirtschaftskraft Ostdeutschlands der des Westens kontinuierlich angenähert hat. Sie liegt heute nahezu am Durchschnitt der Europäischen Union.
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Ganz wichtig finde ich, dass die Angst vor Arbeitslosigkeit gewichen ist. Die Arbeitslosenquote in Ostdeutschland lag 2015 noch auf einem Höchststand von 19 Prozent, im August dieses Jahres lag sie bei 6,4 Prozent. Die neuen Länder sind heute also ein attraktiver Standort für innovative Unternehmen und Forschungseinrichtungen. Besonders im Bereich Umwelt- und Energietechnologien sind wir in den neuen Bundesländern gut und stark vertreten. Wir haben große Unternehmensansiedlungen zu verzeichnen und seit zwei Jahren zum ersten Mal seit der Wiedervereinigung einen positiven Wanderungssaldo von West nach Ost. Auch bei der wichtigsten Zukunftsfrage gibt es einen klar positiven Befund. Im Osten werden mehr Kinder pro Frau geboren als im Westen. Es gibt nicht 21 Prozent kinderlose Frauen wie im Westen, sondern nur 12 Prozent. Ich glaube, das ist ein ganz starkes Signal, wie man die Zukunftsfähigkeit der eigenen Region einschätzt.
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Die objektiven Befunde sprechen also eine klare Sprache. Die deutsche Einheit ist eine eindrucksvolle Erfolgsgeschichte, aber sie wurde gerade in den ersten Jahren nicht leicht errungen. Der Transformationsprozess in eine marktwirtschaftliche Ordnung mit freien Märkten hat den Menschen in Ostdeutschland viel abverlangt. Für die allermeisten haben sich die Lebensumstände völlig verändert. Das hat Spuren hinterlassen. Gleichwohl sind heute die meisten Bürger im Osten mit der eigenen wirtschaftlichen Situation zufrieden. Es gibt aber durchaus eine andere Seite. Ich weiß, dass sich noch heute ein Teil der Bürger als Deutsche zweiter Klasse versteht. Der Osten hat sich in den letzten 30 Jahren eben sehr heterogen entwickelt. Die Entwicklung war nicht überall gleich gut. In nicht wenigen Regionen gab es einen massiven Bevölkerungsschwund. An etlichen Stellen hat der Zusammenbruch der Industrie nach 1990 bleibende wirtschaftliche, soziale, aber auch gesellschaftliche Schäden hinterlassen; denn dort, wo die Fabriken schließen mussten, gingen Menschen in großer Zahl weg. Die Abwanderung wirkt bis heute nach, und sie wird auch noch bis weit in die Zukunft wirken. Stagnation oder der Rückgang der Bevölkerung hat auch Folgen für zivilgesellschaftliches Engagement. Es fehlen nicht nur immer häufiger Fachkräfte, in vielen Orten und bei vielen Aufgaben fehlt es eben auch an engagierten Bürgern. Gerade sie sind der Kitt, der einen Ort, der eine Gesellschaft zusammenhält. Die Unzufriedenheit in manchen Regionen in den neuen Ländern ist spürbar, vor allem, wenn es um politische Fragen geht oder um das Vertrauen in die Politik, in gesellschaftliche und staatliche Institutionen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es gibt kein Wundermittel gegen strukturelle Probleme wie den demografischen Wandel und seine negativen Konsequenzen. Für die Bundesregierung ist die skizzierte Stimmungslage aber ein klares Signal, dass der Prozess der deutschen Einheit 30 Jahre nach der Friedlichen Revolution noch nicht abgeschlossen ist. Das Fördern des Zusammenwachsens von Ost und West im wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Bereich und des engen Zusammenhalts unseres Landes ist weiterhin ein Auftrag. Was daraus folgt, können Sie im Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit in aller Breite und Tiefe nachlesen.
Am Mittwoch hat dazu der Kabinettsausschuss getagt. Er hat die Schwerpunkte unserer Politik für gleichwertige Lebensverhältnisse und eine Stärkung der ostdeutschen Länder noch einmal bekräftigt und konkretisiert.
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Die Bundesregierung hat sich darüber hinaus auf eine Reihe weiterer Maßnahmen zur Stärkung der Zivilgesellschaft und des bürgerschaftlichen Engagements verständigt. Neu geschaffen wird etwa eine Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt, um das Engagement der Menschen bestmöglich zu unterstützen.
Klar ist: Auch 2020 und danach werden Regionen überall in Deutschland, aber eben besonders in Ostdeutschland, besonderen Förderbedarf haben. Hierzu dient nach dem Auslaufen des Solidarpaktes in diesem Jahr ab dem kommenden Jahr ein gesamtdeutsches Fördersystem für die strukturschwachen Regionen.
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Um die wirtschaftliche Angleichung zwischen Ost und West voranzutreiben, werden wir innovative Kompetenzfelder der ostdeutschen Industrie stärken. Sie liegen insbesondere in den Bereichen Mikroelektronik, Elektromobilität und Leichtbau. Die Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ hat im Juli wichtige Voraussetzungen für die Stärkung von wirtschaftlich schwächeren Regionen genannt. Sie nennt zum Beispiel den flächendeckenden Ausbau von Mobilfunk und Breitband, die Stärkung des ländlichen Raums durch Investitionen in die öffentliche Daseinsvorsorge und in lebendige Ortskerne sowie die Förderung von Kunst und Kultur. Ostdeutsche Wirtschaft ist mittelständisch, kleinteilig geprägt. Sie wird daher besonders von den verstärkten Maßnahmen für die Unterstützung der KMUs und von der Mittelstandsstrategie profitieren. Das kann angesichts des demografischen Wandels besonders in den ostdeutschen Ländern aber nur dann gelingen, wenn neu geschaffene Arbeitsplätze auch besetzt werden können. An immer mehr Orten in den neuen Ländern erweist sich der Fachkräftemangel als Hemmschuh wirtschaftlicher Entwicklung. Hier müssen wir gegensteuern.
Meine Damen und Herren, Ostdeutschland, aber auch unser ganzes Land, steht nach wie vor vor großen Herausforderungen. Ein großer Teil dieser Herausforderungen ist nicht typisch ostdeutsch, sondern eine gesamtdeutsche Herausforderung, der wir uns stellen sollten. In Anbetracht unserer Geschichte, glaube ich, sind die Voraussetzungen dafür heute besser als zuvor in unserer Geschichte.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Christian Hirte. – Nächster Redner in der Debatte: Leif-Erik Holm für die AfD-Fraktion.
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Liebe Bürger! Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn ich Ihren Bericht lese, Herr Hirte, dann beschleicht mich das Gefühl, als würde ich im alten „Neuen Deutschland“ lesen: läuft alles super, der nächste Fünfjahresplan wird wieder übererfüllt. – Aber das wirklich Traurige an diesem Bericht ist, dass wir ihn überhaupt noch schreiben müssen 30 Jahre nach dem Mauerfall. Es wäre schön gewesen, die deutsche Einheit wäre 30 Jahre danach auch endlich im Inneren vollendet.
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Ich möchte mit dem Positiven beginnen. Die Menschen im Osten haben wirklich Herausragendes geleistet, gerade wenn wir an unsere Elterngeneration denken, die sich komplett neu umorientieren musste. Hunderttausende Arbeitsplätze verschwanden praktisch über Nacht. Sie mussten wirklich viel leisten. Es gibt viele, die ein neues Unternehmen gegründet haben. Das war nicht immer erfolgreich, aber die Menschen haben rangeklotzt und so ganz nebenbei dann auch noch ihre Familie ernährt. Es ist also eine große Leistung, die wir im Osten vollbracht haben, und es wird Zeit, dass das auch endlich gebührenden Dank findet.
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Es ist nicht nur die wirtschaftliche Entwicklung, die wir anerkennen müssen, nein, wir müssen auch etwas anderes erkennen: Die Menschen im Osten, sie fühlen sich einfach nicht wirklich ernst genommen.
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Manche Bürger sagen mir, sie würden – auf Deutsch gesagt – verarscht.
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– Von uns wohl kaum, sondern eher von Ihnen. – Man spürt auch in Ihrem Bericht ganz klar, wie der Ossi quasi als Querulant wahrgenommen wird, der erst noch umerzogen werden müsse, der die Verheißung der Demokratie überhaupt noch nicht erkannt habe. Deswegen müsse man millionenschwere Programme für die Demokratieerziehung auflegen. Was für ein Quatsch! Wir brauchen keine Nachhilfe in Demokratie. Wir sind schon groß.
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Wir Ossis haben schon für die Freiheit und Demokratie gestritten, als viele von Ihnen noch auf der Couch sitzen bleiben konnten, damals, 1989. Also erzählen Sie uns nichts von Demokratie! Wir wissen, was Demokratie bedeutet und wie wichtig sie ist.
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Im Übrigen nutzen die Menschen ja auch die demokratischen Möglichkeiten. Schauen Sie sich die letzten Wahlen in Sachsen und in Brandenburg an: Dort gab es eine hohe Wahlbeteiligung. In Thüringen wird es nicht anders sein. Machen wir uns doch ehrlich: Sie stört nicht, wie die Ostdeutschen die Demokratie empfinden, sondern Ihnen passt schlicht und einfach das Ergebnis nicht.
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Aber jetzt zu den wirtschaftlichen Problemen. Abgesehen von einigen Leuchttürmen sehen wir, dass der Aufholprozess ins Stocken geraten ist. Die Wirtschaftsentwicklung im Osten hängt seit mehreren Jahren der im Westen hinterher, entsprechend auch die Lohnentwicklung. Nach wie vor liegt das Niveau im Osten nur bei 75 Prozent. Wenn ich nach Mecklenburg-Vorpommern schaue, nach Vorpommern-Rügen, dann muss ich sehen, dass wir uns dort im Lohnkeller Deutschlands befinden. Das ist übrigens der Wahlkreis von Frau Merkel. Ein Urteil darüber, ob da ein Zusammenhang besteht, überlasse ich Ihnen.
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Mit leichten wirtschaftlichen Nachteilen könnten die Ostdeutschen wahrscheinlich aber auch leben. Ich glaube, das ist nicht wirklich das vorrangige Problem, das wir bearbeiten müssen. Aber die Bürger sehen heute, wie ihr Wohlstand, den sie sich in 30 Jahren so langsam und mühsam wieder aufgebaut haben, in Gefahr gerät. Das liegt an Ihrer Politik! Das liegt an dieser Bundesregierung!
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40 Jahre lang wurde die DDR von den Vorgängern der Truppe hier links im Haus heruntergewirtschaftet.
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Die Bürger haben in 30 Jahren aus eigener Kraft wieder ein bisschen etwas geschafft, und jetzt droht das alles wieder in den Abgrund zu geraten. Die Kohlekraftwerke in der Lausitz sollen weg. Die Kohlekumpel sollen zu Behördenmitarbeitern umgeschult werden. Die Pendler bekommen jetzt wieder mehr aufgebrummt. Pendler gibt es viele im Osten Deutschlands, weil es dort viele große ländliche Räume gibt. Das ist ein großes Problem, das die Menschen zu Recht beschäftigt.
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– Schauen Sie sich das Klimapaket doch an! Die Pendler werden am Ende die Gelackmeierten sein. Sie werden natürlich sehen, dass nach 2026 die leichte Erhöhung der Pendlerpauschale wieder weg sein wird. Das sehen sie doch, sie sind doch nicht blöd.
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Die Menschen sollen nicht mehr mit ihrem Diesel zur Arbeit fahren, und das alles auf Basis einer Klimaideologie, die mit gesundem Menschenverstand nun wirklich nichts mehr zu tun hat. Das genau wollen die Bürger im Osten nicht. Sie haben die Nase voll von Ideologien. Diese bringen nämlich nie etwas Gutes, sondern nur Verbote, Wohlstandsverluste und Diktaturen.
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Ihr Klimairrsinn wird weitere neue Probleme schaffen, Probleme, die wir wirklich nicht gebrauchen können. Was wir in Wirklichkeit brauchen, sind Investitionen in die Infrastruktur und beste Bildung für unser Land und gerade für die ländlichen Räume. Ihr Klimapaket dagegen ist eine Kriegserklärung an die ländlichen Gebiete im Osten – und im Übrigen auch im Westen.
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Meine Damen und Herren, 30 Jahre liegt der Mauerfall zurück. Für uns Ältere war er wohl das entscheidende politische Ereignis im Leben. Millionen sind damals für die Freiheit und dann auch für die Einheit auf die Straße gegangen. Die Einheit haben wir. Sie ist nicht perfekt, aber wir sind froh, dass sie da ist. Aber was ist eigentlich mit der Freiheit? Gerade wir im Osten, die wir noch die Unfreiheit erlebt haben, merken sehr sensibel, was hier passiert, nämlich den schleichenden Verlust der Freiheit.
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Wir haben uns damals die Freiheit erstritten, und wir werden sie uns nicht nehmen lassen,
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da können Sie gerne weiterhin wild mit dem völlig unangebrachten Begriff von der Nazi-Keule um sich schlagen auf jeden, der eine andere Meinung hat. Das wird nicht mehr funktionieren! Wir werden es nicht zulassen, dass unsere Freiheit auf dem Altar der politischen Korrektheit geopfert wird.
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Herr Holm!
Diese Frage ist für uns Ossis nicht verhandelbar. Deshalb vollenden wir die Wende.
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Danke schön, Leif-Erik Holm. – Nächster Redner: Carsten Schneider für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass dieses Land frei ist und dass die freie Rede in diesem Land und in diesem Parlament möglich ist, sieht man an Ihnen, Herr Holm. Wenn Demagogen über Ideologie sprechen, dann handelt es sich um Redner der AfD. Und dabei kommt nichts Vernünftiges heraus.
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Meine Damen und Herren, den Bericht zum Stand der Deutschen Einheit 30 Jahre nach der Wende debattieren wir hier im Deutschen Bundestag in der Kernzeit, weil es uns wichtig ist, Bilanz zu ziehen, aber auch weil es uns wichtig ist, den Stand der deutschen Einheit, den Stand des Zusammenlebens in unserem Land und den wirtschaftlichen Fortschritt bzw. Nichtfortschritt zu bewerten und auch politisch darüber zu streiten.
Herr Hirte, ich gebe Ihnen bei der Beschreibung des ökonomischen Zustands der DDR recht. Ich glaube, man kann noch hinzufügen, dass nicht nur die Ökonomie vollkommen im Eimer war, sondern auch die Umwelt. Ich sehe Christoph Matschie hier im Plenum sitzen, der einer derjenigen in der DDR war, der die Umweltbewegung mitbegründet und auch die SDP mit nach vorne gebracht hat. Ich erinnere mich noch sehr genau, wie es war, als Rennradfahrer durch die Stadt Erfurt zu fahren, vom Plattenbau in Erfurt-Süd zum Plattenbau in Erfurt-Nord; das sind etwa 15 Kilometer. Wenn man durch die Innenstadt gefahren ist, hat man vor lauter Dreck und Smog aus den Kohleheizungen nicht atmen können. So war das damals. Die Lage heute ist eine vollkommen andere. Wir reden über ein anderes Land, und ich bin sehr froh, in diesem Land heute leben zu können.
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Der Bericht zum Stand der Deutschen Einheit zeigt Licht und Schatten. Wir können mit Sicherheit leider nicht feststellen, dass alles glücklich aufgegangen ist. Die Freiheit gehört für mich natürlich elementar dazu. Aber nicht jeder berufliche Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Viele Freunde, die ich habe, viele Bekannte meiner Eltern, die beispielsweise Ingenieure waren, mussten sich nach der Wende mit 30 oder 35 Jahren vollkommen neu aufstellen. Für sie hat sich ihr Leben komplett verändert. Sie haben in dieser Situation beispielsweise einen Dienstleistungsbetrieb aufgemacht, der für sie beruflich gesehen vielleicht nicht so attraktiv war, der aber ihr Auskommen gesichert hat. Es gilt, diesen Menschen in unserem Land Dank zu sagen. Es gilt, auch denjenigen Dank zu sagen, die dies alles in den letzten Jahren mit großer Solidarität finanziell gestemmt haben. Das war eine große, eine gigantische Leistung.
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Es gibt hinsichtlich der Bewertung aber auch durchaus Unterschiede. Ich will drei Punkte nennen:
Der erste Punkt: Es war ein eklatanter Fehler, auch von weiten Teilen der Union, viel zu lange auf eine Niedriglohnstrategie zu setzen. Wir, die wir aus Thüringen kommen, wissen, dass zum Beispiel die CDU in Thüringen es immer als Standortfaktor gepriesen hat, dass die Löhne dort so niedrig sind. Das Ergebnis sind niedrigste Renten für diejenigen, die jetzt in Rente gehen. Das wollen wir mit der Grundrente ändern.
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Wir wollen ihnen eine Anerkennung geben. Ich hoffe, dass Sie Ihre skeptische Haltung dazu noch ändern werden.
Der zweite Punkt, auch in die Zukunft gedacht: Wir brauchen mehr Innovation. Entscheidend ist – ich komme gleich noch zur Demografie –, dass wir Arbeitsplätze, fitte junge Menschen und kluge Unternehmen nur dann bekommen, wenn wir Innovationen haben. Es hilft nichts, nur auf die jetzige Situation zu schimpfen, nein, im Gegenteil, wir müssen den Spirit der letzten 10, 15 oder 20 Jahre weitertragen. Das bedeutet: Wenn es Gründungsinnovationen gibt, wenn Forschungseinrichtungen neu gegründet werden, dann in Ostdeutschland.
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Institutionen des Bundes zum Beispiel müssen dort angesiedelt werden.
Ich will Ihnen klar sagen: Die SPD-Bundestagsfraktion hat die Entscheidung der Bundesforschungsministerin, den Zuschlag für die neue Batterieforschungsfabrik – einer der absoluten Zukunftsbereiche – nach Münster zu vergeben, nicht unterstützt. Das hat nichts mit dem Auswahlverfahren zu tun, das sehr schwierig war und sehr umstritten ist, aber wenn man eine Investition von über 500 Millionen Euro für die Zukunft tätigt, dann sollte der Standortfaktor bei der Vergabe eine ganz zentrale Rolle spielen. Eine solche zentrale Rolle hat das in den Überlegungen der Bundesforschungsministerin in ihrem CDU-geführten Haus nicht gespielt. Das ist ein schwerer politischer Fehler.
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Der dritte Punkt, auf den ich eingehen will, betrifft die Demografie. Entscheidend für das Zusammenleben, aber auch für Wachstum und Fortschritt in Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern ist, dass dort in Zukunft noch genügend junge Menschen leben. 2030 wird jeder dritte Bürger über 65 Jahre alt sein. Es fehlen also die jungen Leute. Wenn es uns nicht gelingt, attraktiv zu sein – attraktiv bedeutet weltoffen, tolerant, offen für Menschen aus anderen Bundesländern oder Staaten –, dann wird es uns nicht gelingen, in den ostdeutschen Bundesländern nach vorne zu kommen und eine Gemeinschaft zu entwickeln, die progressiv ist und in der man gut leben kann.
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Herr Holm, Sie haben die Wende jetzt für sich vereinnahmt. Das ist natürlich alles Blödsinn. Wenn es etwas gibt, das ein Arbeitsplatzkiller in Ostdeutschland ist, dann ist es die Korrelation von Wahlergebnissen der AfD mit dem Arbeitsplatzabbau.
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Jedes Unternehmen, jeder halbwegs vernünftige Mensch wird sich überlegen, ob er in ein Land geht, in dem die AfD, die für national-völkische Abschottung ist, das Wort führt. Meine Damen und Herren, auch dies gilt es 30 Jahre nach der Deutschen Einheit zu bedenken.
Vielen Dank.
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Vielen herzlichen Dank, Carsten Schneider. – Nächster Redner: Thomas Kemmerich für die FDP-Fraktion.
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Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren auf der Tribüne, an den Schirmen und im Internet! Fast 30 Jahre nach dem Mauerfall sieht die Bundesregierung die neuen Länder in einer positiven Entwicklung. Die Situation im Osten ist besser als ihr Ruf, konnte man nachlesen; aber, meine Damen und Herren, das ist weitaus nicht genug. „Wirtschaft ist zu 50 Prozent Psychologie.“ Das sagte Ludwig Erhard. Leider hört man das hier im Haus nicht mehr oft.
Ostdeutschland und mein Heimatland Thüringen haben unheimlich viel Potenzial. Das müssen wir fördern. Wir wollen in den Bereichen Bildung, Forschung und Entwicklung, Gründungen neue Wege beschreiten und dem Osten zu einem großen Sprung nach vorne verhelfen. Ja, wir wollen von den Nehmerländern zu Geberländern werden.
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Herr Hirte, Sie haben den ostdeutschen Ländern nach wie vor eine Strukturschwäche attestiert. Meine Damen und Herren, ich komme nicht umhin: Wir haben viel von der Geschichte gehört, aber wenig Konkretes für die Zukunft.
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Wir hören in den Wahlkämpfen auch von CDU und SPD, die an jeder Landesregierung beteiligt sind, viele Versprechungen. Sie sagen dann, was Sie in Zukunft machen wollen: Abschaffung des Soli,
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Bürokratieentlastung, Mittelstandsstrategie, Stärkung des ländlichen Raums. Auch Ministerpräsident Ramelow von den Linken reiht sich ein und verspricht uns in Thüringen eine digitale Verwaltung für das Jahr 2021. Er hatte aber fünf Jahre Zeit; da ist nichts passiert.
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Auch die Kollegen von der AfD sind da keinen Deut besser; denn, Herr Holm, außer einer Situationsbeschreibung haben Sie uns nicht ein einziges Konzept geliefert, wie Sie genau diese Lücke schließen wollen. Das ist mehr als zu wenig. Meckern hilft nicht. Machen wird uns nach vorne bringen.
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Zu unseren Konzepten: Wir wissen alle, dass die ostdeutsche Wirtschaft durch eine Struktur der kleinen und mittelständischen Betriebe geprägt ist. Wir hatten erst eine Gründungswelle. Ich habe Respekt vor denen, die sich vor 30 Jahren mutig und entschlossen auf den Weg gemacht, etwas gewagt und unternommen und ein Unternehmen gegründet haben.
30 Jahre später aber stehen wir an der Schwelle, an der diese Menschen langsam in den verdienten Ruhestand gehen. Deshalb brauchen wir jetzt eine Gründungswelle, eine Nachfolgerwelle. Wenn diese Welle ausbleibt, müssen wir aufpassen, dass keine Schließungswelle auf uns zurollt.
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Was können wir tun? Zunächst appelliere ich wiederum – durch Wiederholung wird es nur besser –: Wir brauchen den Geist des Unternehmertums. Dieser muss in der Politik und in der Bürokratie ankommen. Bürokratie ist für die Bürger und für die Unternehmer da – nicht umgekehrt.
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Deshalb hört auf, die Bürger und die Unternehmer mit bürokratischen Hindernissen zu gängeln. Wir brauchen eine Milderung der DSGVO. Wir brauchen Erleichterungen bei Gründungen. Die Bürger verstehen vieles nicht mehr. Sie verstehen nicht, warum die Bürokratie so auf sie einschlägt.
Hochschulen müssen spitze werden. Wir brauchen neue Ideen für die ostdeutsche Wirtschaft, die an den ostdeutschen Universitäten geboren werden und passgenau auf den Mittelstand übertragen werden müssen, damit wir neue Hidden Champions vor allen Dingen in Ostdeutschland aufbauen können und der Sprung nach vorne gelingt.
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Wir brauchen mehr Anerkennung für das Handwerk und die duale Ausbildung. Wir brauchen mehr Azubis im handwerklichen und gewerblichen Bereich. Wir brauchen mehr Meister statt Master.
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Wir brauchen einen kostenfreien Zugang zu diesen Ausbildungswegen. Das ist ganz wichtig und auch machbar. Wir haben gestern über die Freiheitszonen gesprochen, die geeignet sind, um das zu ermöglichen.
Wir brauchen eine moderne Infrastruktur. Die Infrastruktur, die vor 30 Jahren geschaffen worden ist, verfällt. Auch beim Ausbau von Breitband und Mobilfunk gibt es viel zu tun. Wir brauchen deshalb leichtere Genehmigungswege und eine einfachere Vergabe von öffentlichen Aufträgen.
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Wir brauchen Anreize für die Rückkehr der Menschen nach Ostdeutschland. Deshalb muss die Darstellung unserer schönen Heimat in Ostdeutschland positiv sein. Wir brauchen gute, schnelle Einwanderung, und zwar ideologiefrei. Ich nenne Kanada als Vorbild, Stichwort: Bluecard-Regelung. All das macht uns stark.
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Entlasten Sie die Menschen endlich von unnötigen Abgaben und Steuern. Der Soli gehört weg. Auch das wäre ein Motivationsschub für die Leute in Ostdeutschland, um eigene Leistung zu bringen. Geld aus der Staatskasse allein wird nicht helfen. Wir brauchen Impulse, die die Menschen fordern und ihnen Lust machen und Kraft geben, damit sie ein neues Unternehmertum aufbauen.
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Wir brauchen ein positives Klima. Wir müssen die klügsten Köpfe in Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern ausbilden, und wir müssen sie dort halten. Das Wirtschaftswachstum als Garant für breiten Wohlstand muss wieder absolute politische Priorität haben, und zwar auch in den neuen Ländern.
Ich brauche jetzt das Ende Ihrer Rede.
Dann werden die Menschen in Thüringen sich auch weiter über die deutsche Einheit freuen und auch mit Freude auf sie zurückschauen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kemmerich. – Nächster Redner: Dr. Dietmar Bartsch für die Fraktion Die Linke.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Hirte, ich habe Ihrer Rede zugehört. Ich habe Ihre öffentlichen Äußerungen zur Kenntnis genommen. Ehrlich gesagt: Das alles ist ein Trauerspiel. Sie müssen sich wirklich mal Ihre Arbeitsplatzbeschreibung anschauen. Ich glaube, es ist nicht Ihre einzige Aufgabe, die Bundesregierung zu verteidigen. Ihre Aufgabe ist es, ostdeutsche Interessen wahrzunehmen.
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Gucken Sie sich mal an, was Frau Gleicke gemacht hat. Hospitieren Sie mal einen Monat bei ihr. Dann machen Sie das vielleicht mal ein bisschen besser. Sie müssen den Mut zur Kontroverse mit Ihrer Bundesregierung haben.
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Was Sie in Ihrem Bericht öffentlich äußern, ist wirklich eine unverantwortliche Lobhudelei. Lassen Sie mich das an zwei Beispielen erläutern. Die ostdeutsche Wirtschaftsleistung liegt bei 75 Prozent, schreiben Sie in Ihrem Bericht. Das ist alles in Ordnung; das hört sich auch erst einmal passabel an.
Vergleichen wir aber mal diesen Wert mit dem Wert aus dem Jahr 1995. 1995 lag diese Quote bei 65 Prozent. Das heißt, Sie haben in knapp einem Vierteljahrhundert 10 Prozentpunkte Angleichung geschafft. Donnerwetter! Wenn Sie in dieser Geschwindigkeit weitermachen, dann erzielen wir Gleichheit im Jahre 2021. Doch so schnell.
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- 2081. – Für die Ostlöhne gilt genau dasselbe. Inzwischen, sagen Sie, liegen diese bei 85 Prozent des Westniveaus. 85 Prozent! Im Jahr 2000 lag das Niveau bei 80 Prozent. Auch hier ist es so: Wenn im gleichen Tempo angeglichen wird, dann haben wir erst im Jahr 2073 eine vollständige Angleichung der Löhne. Das ist sehr konkret.
In meinem Bundesland Mecklenburg-Vorpommern zum Beispiel hat ein Mensch mit einem anerkannten Berufsabschluss einen Lohn von durchschnittlich circa 2 400 Euro. In Hamburg verdient ein Mensch ohne Berufsabschluss 2 500 Euro.
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Es ist doch logisch, dass es unendlich viele Pendler gibt und die Abwanderung fortschreitet. Dagegen muss endlich etwas getan werden.
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Das ist nicht allein Ihre Aufgabe; auch Gewerkschaften und auch Unternehmen sind hier gefordert.
Schauen wir uns das Armutsrisiko an. Das Armutsrisiko im Osten liegt laut Bericht bei 18 Prozent. Wie war das 1995? Da lag das Armutsrisiko bei 15 Prozent. Das heißt, dass heute mehr Menschen arm oder von Armut bedroht sind,
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nach einem Vierteljahrhundert in Ost und West. Die Arbeitslosigkeit ist dabei im Übrigen ja relevant zurückgegangen.
Wer zynisch sein will, muss sagen: Die blühenden Landschaften entwickelten sich im Osten nicht, und im Westen gibt es sie auch nicht mehr. Stattdessen ist Gelsenkirchen jetzt genauso arm wie Bitterfeld. Herzlichen Glückwunsch! Lieber Herr Hirte, Ihre Lobhudelei zeigt Ihren Realitätsverlust. Das macht mich sprachlos.
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Sie sind so weit weg von den Ostdeutschen wie Ostdeutschland von blühenden Landschaften.
Um es klar zu sagen: Natürlich ist sehr viel erreicht worden; das ist doch unbestritten. Viele Kommunalpolitiker von Union bis zur Linken, viele Ehrenamtliche haben unendlich viel geleistet; das alles ist völlig klar. Wir müssen das aber in einer solchen Debatte nicht allein nach vorne stellen. Die Mehrheit der Ostdeutschen, so steht es in Ihrem Bericht, ist unzufrieden mit der Einheit. Was ist das für ein Offenbarungseid?
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Das ist doch unfassbar.
Natürlich hat das auch mit der Präsenz der Ostdeutschen zu tun. Es ist Tatsache, dass kein einziger Rektor einer Universität ein Ostdeutscher ist, weder in Ost noch in West.
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Es ist Tatsache, dass kein einziger Bundesrichter aus Ostdeutschland kommt. Das ist doch inakzeptabel.
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Nur 1,7 Prozent der Spitzenpositionen werden von Ostdeutschen bekleidet. In Ihrer Regierung kommen im Übrigen nur 3 von 120 leitenden Beamten aus dem Osten. Was ist das für eine Situation? Wir wollen keine Extrawurst für die Ossis, aber wir fordern einen Pakt für föderale Fairness bei Personal, Behörden und Forschungseinrichtungen. Das hätte eine hohe Symbolkraft.
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Ich will kurz auf Carsten Schneider eingehen, der hier etwas zum Thema Batterieforschung gesagt hat. Ja, in Thüringen bzw. in Jena gibt es beste Voraussetzungen dafür. Da ist sogar Batterieforschung möglich, durch die man dann auf Lithium verzichten kann. Dazu hätte man von Ihnen wenigstens etwas hören müssen, selbst wenn Sie sich nicht durchgesetzt hätten, statt einfach zuzustimmen, dass sie nach NRW geht. Ja, wo leben wir denn? Da hätte man was machen können.
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2,3 Stellen aus Bundesmitteln für Beamte und Forscher sind deutscher Durchschnitt, nur 0,7 sind es in Thüringen. Thüringen steht auf dem 16. Platz. Das ist doch Ihr Land; da kommen Sie her. Dort sollten Sie sich mehr engagieren. Thüringen ist leider Schlusslicht, aber nicht einen einzigen Aufschrei habe ich von Ihnen gehört.
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– Ja, Bodo Ramelow engagiert sich dafür, Gott sei Dank, aber er kriegt von der Bundesregierung so wenig Mittel. Das ist der Punkt.
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Sie sollten sich um Thüringen kümmern. Kümmern Sie von der FDP sich mal darum, dass Sie reinkommen. Sie werden damit große Probleme haben.
Im Übrigen gibt es – um auch das zu erwähnen – eine ganze Menge Kennziffern, die Sie einfach ausblenden. Nehmen wir das Thema Kinderarmut. In Deutschland sind 4,4 Millionen Kinder von Kinderarmut betroffen – die Zahl habe ich hier mehrfach genannt –: einer der größten Skandale, die wir haben. Sie ist aber in Ostdeutschland proportional doppelt so hoch, meine Damen und Herren. Da muss man doch was tun. Wir brauchen endlich eine Politik der Nulltoleranz bei Kinderarmut in Ost und West. Das ist die zentrale Herausforderung für die Herstellung der Einheit in unserem Lande.
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Ähnlich ist es beim Niedriglohn. Jeder dritte ostdeutsche Arbeitnehmer arbeitet zu einem Niedriglohn. Die Quote im Osten ist fast doppelt so hoch. Und wozu führt das? Das ist eine tickende Zeitbombe, was Altersarmut betrifft. Altersarmut wird in einigen Jahren zuallererst ostdeutsch und zuallererst weiblich sein. Da muss doch gehandelt werden, meine Damen und Herren. Da kann man nicht nur Lobhudelei betreiben.
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In sechs Wochen begehen wir 30 Jahre Mauerfall. Die Ostdeutschen und viele andere können stolz sein. Dazu ist schon einiges gesagt worden. Es ist viel erreicht worden; es ist viel geleistet worden. Aber eines zeigt der Bericht ganz deutlich: Diese Leistungen sind in der Regel nicht wegen, sondern trotz der Bundesregierungen der letzten 30 Jahre erbracht worden.
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Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Dietmar Bartsch. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Claudia Müller.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Hirte, ich muss leider mit einem formalen Tadel starten. Mich ärgert zum wiederholten Male die Missachtung des Parlamentes im Prozess dieser Berichterstattung. Denn wie schon im letzten Jahr wird uns, den Auftraggebern dieses Berichtes, dieser erst nach Veröffentlichung durch das Bundesministerium zur Verfügung gestellt, während die Presse ihn aber schon fünf Tage vorher hat. Ganz ehrlich, das ärgert mich massiv.
Letztes Jahr ist es genauso gelaufen. Damals habe ich es nicht öffentlich kritisiert, wohl aber gegenüber Ihrem Haus, und dann hieß es: Ups, Entschuldigung, das ist ein Versehen. – Passiert Ihnen das ständig? Ich finde das unmöglich, und ich finde, dass wir zumindest zeitgleich mit der Presse diesen Bericht bekommen sollten.
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Aber jetzt zum Inhalt. Herr Bartsch, die Mauer ist nicht einfach umgefallen. Das war nicht nur ein Mauerfall, sondern das ist von Hunderttausenden mutigen Menschen auf den Straßen in Ostdeutschland erkämpft worden. „Fall“ klingt immer ein bisschen despektierlich. Es war eine friedliche Revolution, und das sollten wir an der Stelle auch genau so benennen.
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Es gab jetzt schon genug Schulterklopfen, und es wurde zu Recht vieles kritisiert. Wir haben zwar eine Verbesserung der Wirtschaftslage in Ostdeutschland, aber ja, wir sehen eine Stagnation. Ostdeutschland hat jetzt 74,7 Prozent der Wirtschaftskraft der alten Länder erreicht. Das ist wirklich nur eine geringe Steigerung im Vergleich zum Vorjahr, nämlich um 1,5 Prozentpunkte. Deshalb ziehen Sie das Jahr 2010 zum Vergleich heran, damit Sie wenigstens eine Steigerung um 3,1 Prozentpunkte ausweisen können.
Dann verkünden Sie trotzdem – ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin aus dem Bericht –:
Die Angleichung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und der Lebensverhältnisse zwischen Ost- und Westdeutschland ist bis heute weit vorangekommen: Verkehrs-, Energie- und Telekommunikationsinfrastruktur wurden massiv modernisiert und erweitert.
Gegen die Modernisierung will ich nichts sagen, aber ich hoffe doch, dass Sie zumindest in Bezug auf den Bahnverkehr das Wort „erweitert“ ironisch gemeint haben. Denn – das ist, glaube ich, allen bekannt – genau das Gegenteil ist doch in vielen Gegenden passiert: Wir hatten keinen Ausbau; wir hatten in vielen Bereichen einen Abbau von Infrastruktur. Das muss an dieser Stelle auch genau so benannt werden.
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Gucken wir uns doch mal die Finanzkraft und die Steuereinnahmen pro Kopf in Ostdeutschland an, und dann nehmen wir zum Vergleich nicht Gesamtwestdeutschland, sondern nur die finanzschwachen Flächenländer. Auch da sehen wir, dass die neuen Bundesländer nur 65 Prozent dessen erreichen.
Bei der Steuerkraft der Kommunen haben wir sogar ein Absinken in Ostdeutschland im Vergleich zu den finanzschwachen Flächenländern in Westdeutschland, und zwar von 70 auf 69 Prozent in diesem Jahr. Auch das muss an dieser Stelle benannt werden, und das ist auch wichtig, wenn wir über den deutschen Einheitsprozess reden. Wir müssen den Blick auf die kommunale Ebene richten, und da haben wir keine Angleichung. Im Gegenteil: Wir haben ein Auseinanderdriften.
Aber wir tauschen uns hier sehr regelmäßig über die Stärkung der Infrastruktur, der Wirtschaft in strukturschwachen Regionen – was mehrheitlich in Ostdeutschland der Fall ist – aus. Deswegen will ich an dieser Stelle einen ganz anderen Punkt ansprechen, der mich persönlich sehr umtreibt. Wenn wir über die Einheit reden, dann reden wir – das haben wir heute wieder gemacht – in erster Linie über Infrastruktur, Wirtschaft und Sozialsysteme. Wir reden aber nicht darüber, wie sie unser Denken, unsere Sprache und unser gemeinsames Bild beeinflusst. Wir reden gerne von „dem Osten“. Wir reden aber eigentlich nie über „den Westen“. Es würde niemand auf die Idee kommen, zum Beispiel Niedersachsen und Bayern in einen Topf zu werfen.
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Bei Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen machen wir das aber. Dabei sind die beiden genauso unterschiedlich wie Niedersachsen und Bayern. Wer dem widerspricht, der sollte mal in die Region kommen und sich das angucken. Das sind verschiedene Bundesländer.
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Den Osten in dieser Form gibt es nicht.
Dann hört man so Sätze wie: Jetzt sind wir mal dran; ihr habt uns schon viel zu viel gekostet. – Das ärgert mich massiv, weil es eine Kluft zwischen den Regionen in Deutschland schafft. Es gibt kein Wir oder Ihr. Es gibt eine gemeinsame deutsche Solidarität mit strukturschwachen Regionen, und nur weil sie mehrheitlich im Osten sind, ist es kein Wir gegen Ihr. Es ist eine Gemeinschaftsaufgabe, und so sollten wir sie auch sehen.
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Das gilt auch, wenn wir hier über andere Themen reden. Ich freue mich, dass heute so viele Kolleginnen und Kollegen an dieser Debatte zu einem Thema teilnehmen, in der sonst in erster Linie ostdeutsche Kolleginnen und Kollegen sitzen. Aber wir hatten es gestern in der Debatte über den Erhalt der Stasiunterlagenbehörde: Es gibt keine reinen Ostthemen.
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Ich bin der Kollegin Motschmann dankbar, die das gestern deutlich gemacht hat. Auch das Thema Stasi ist kein Ostthema. Es ist auch ein Thema der alten Bundesländer. Auch dort war sie aktiv.
Solange wir aber bestimmte Themen nur als ein Regionalthema ansehen, werden wir nicht zu einer gemeinsamen deutschen Einheit kommen. Wir werden nämlich nicht zu einem gemeinsamen Blick auf die deutsche Geschichte kommen. Solange wir das nicht haben und solange wir über die deutsche Geschichte und ein kleines ostdeutsches Anhängsel reden, werden wir nicht zu einer deutschen Einheit kommen. Denn die ostdeutsche und die westdeutsche Geschichte sind zwei Seiten der gleichen Medaille, und solange wir das an dieser Stelle nicht genau so betrachten und das als eine gemeinsame Erzählung entwickeln, so lange werden wir keine deutsche Einheit haben.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank, Claudia Müller. Herr Lenz hat zugestimmt, als Sie gesagt haben, Bayern und Niedersachsen sind unterschiedlich. Da hat er gelacht. – Nächster Redner: Mark Hauptmann für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine geschätzten Kollegen hier im Haus! Verehrte Zuhörer! Der Blick richtet sich in diesem Jahr und auch hier in der Kernzeitdebatte auf den Osten. Das ist auch gut so. Wir haben drei Landtagswahlen und das Jubiläum „30 Jahre Mauerfall“, aber wir haben auch ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das auf dem Prüfstand steht.
In einer jüngsten Studie sagten 57 Prozent der Ostdeutschen, sie fühlten sich als Bürger zweiter Klasse. Das müssen wir ernst nehmen, aber mit Bedacht und vor allem, indem wir ehrlich mit den Menschen umgehen und nicht wie die Lautsprecher an den Rändern dieses Parlamentes eine vergiftete Debatte hier führen, wie wir sie gerade von Herrn Bartsch erlebt haben.
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Was wir aktuell sehen, und das freut uns: Die Einheit, aber auch der Zusammenhalt Deutschlands kommen in vielen Teilen der Gesellschaft an: in der Wirtschaft, in der Gesellschaft, in der Politik, aber auch im Fußball. Der Tabellenführer der Bundesliga ist RB Leipzig. Schauen wir doch mal, ob wir im 30. Jahr der deutschen Einheit den ersten ostdeutschen Fußballmeister haben. Was wäre das für eine Erfolgsgeschichte!
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir lassen uns weder von der Linken noch von der AfD die Erfolge in den neuen Bundesländern kleinreden. Wir wollen uns diese Erfolge nicht kleinreden lassen; denn solch unglaubliche Erfolge haben wir auf dem europäischen Kontinent in den letzten 30 Jahren nur in einer einzigen Region gesehen, in Ostdeutschland: Wir haben die Verdoppelung des Bruttoinlandsprodukts seit der Wiedervereinigung erreicht, wir haben den materiellen Wohlstand massiv ausgebaut, und die Erwerbstätigenquote ist gleich hoch wie im Westen. Geschätzte Kollegin Müller, natürlich gibt es innerhalb des Ostens Unterschiede, auch zwischen Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen. Wenn Sie sich die Beschäftigungsquoten anschauen, dann finden Sie die höchste Beschäftigungsquote in ganz Deutschland im Freistaat Thüringen, in meinem Wahlkreis in Südthüringen: eine Arbeitslosenquote von 3 Prozent,
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mehr offene Stellen als Arbeitslose, es pendeln mehr von Bayern nach Thüringen als von Thüringen nach Bayern. Das ist die Erfolgsquote, die wir hier zu verzeichnen haben. Das brauchen wir uns nicht kleinreden zu lassen.
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Wir sind bei der industriellen Wertschöpfung weit über dem Niveau westdeutscher Länder. Wir haben exzellente Forschungseinrichtungen. Wir haben in den letzten 30 Jahren eine leistungsfähige Infrastruktur aufgebaut. Schauen Sie auf die Universitäten, schauen Sie sich das ICE-Streckennetz und das Straßennetz an. Wir sind Spitze im Bereich der erneuerbaren Energien. Und seit 2017 ziehen mehr Menschen vom Westen in den Osten als umgekehrt. Das heißt, die Wanderbewegung, die wir nach der Wiedervereinigung gesehen haben, weil Arbeit damals vor allem in Westdeutschland zu finden war, hat sich durch den starken wirtschaftlichen Aufholprozess umgekehrt, und es kommen mehr Menschen in den Osten zurück.
Das alles geschieht, obwohl wir enorme DDR-Altlasten zu bewältigen hatten. Diese Altlasten hat Carsten Schneider angesprochen, als er auf den Umweltschutz zu sprechen kam. Unsere Flüsse waren verseucht, unsere Böden waren verseucht, die Luft konnte man nicht atmen. – Das ist Ihr Erbe, Herr Bartsch; das ist das, was Sie hinterlassen haben.
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An dieses Erbe müssen wir Sie erinnern. Herr Bartsch, hier im Parlament treffen sich aktuell die Lautsprecher der Ränder des Hufeisens – von links und rechts –, um die Erfolge schlechtzureden.
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Sie haben Ruinen geschaffen ohne Waffen. Das ist das Erbe, das die SED hervorgebracht hat. Die Aufbauleistung hingegen ist ein Erfolg unserer Politik und der vielen fleißigen Menschen in diesem Land, die an diesem Erfolg mitgearbeitet haben. Das ist die Bilanz, die wir vorzuweisen haben.
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Lieber Kollege Carsten Schneider, ich möchte einen Punkt aus Ihrer Rede aufgreifen, und zwar die Frage, ob es richtig war, den Osten mit dem Standortvorteil der niedrigen Löhne zu bewerben. Für uns als Union galt immer: Sozial ist, was Arbeit schafft. Mir ist es lieber, wenn jemand einen Mindestlohn bekommt, als wenn er arbeitslos ist. Ich glaube, es war richtig, sich dafür zu entscheiden, Arbeit zu schaffen, Menschen wieder in Beschäftigung zu bringen, nicht auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu warten, an dem sich die Großindustrie im Osten ansiedelt. Bis heute hat sich kein einziger DAX-Konzern in den neuen Bundesländern angesiedelt, und von den Top-500-Unternehmen in ganz Deutschland sind ganze 36 in Ostdeutschland. Es war richtig, zu sagen: Wir nutzen diese Standortvorteile. Auch das dürfen wir uns nicht kleinreden lassen. Die Menschen waren in Beschäftigung, und sie sind in Beschäftigung, und in Thüringen haben wir heute die geringste Altersarmut in ganz Deutschland: unter 1 Prozent. Das resultiert aus der Entscheidung, Menschen in Lohn und Brot zu bringen. Das ist auch ein politischer Erfolg.
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Natürlich ist nicht alles rosa. Weder die Bundesregierung mit dem zuständigen Staatssekretär, dem Ostbeauftragten, noch wir im Parlament dürfen nur die positiven Aspekte in den Blick rücken. Wir wollen den demografischen Wandel angehen. Wir wollen die Infrastruktur weiter ausbauen. Das bedeutet Breitbandversorgung in der Stadt und auf dem Land, eine verbesserte Straßen- und Schieneninfrastruktur, gut ausgestattete Universtäten und Forschungslandschaften. Das ist unser Auftrag, den wir angehen wollen. Seitens des Bundes wollen wir mit besonderen Förderprogrammen unterstützend wirken und den Initiativen unter die Arme greifen.
Wir wollen die Vollendung von Einigkeit und Recht und Freiheit. Im 30. Jahr des Mauerfalls sind wir diesem Ziel näher als jede andere Region in Europa. Das ist unser gemeinsamer Erfolg.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Mark Hauptmann. – Nächster Redner für die AfD-Fraktion: Enrico Komning.
({0})
Frau Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Frau Müller, nicht 30 Jahre Mauerfall, sondern 30 Jahre Friedliche Revolution, 29 Jahre deutsche Einheit – das sind gute Jubiläen.
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Der 9. November 1989 ist ein Datum, auf das die Deutschen mit einem guten Gefühl und speziell wir im Osten mit ein wenig Stolz zurückschauen können. Ich selbst war zur Wende gerade erwachsen.
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Ich hatte eine schöne Kindheit in der DDR; aber ich war froh, genau zum richtigen Zeitpunkt meine Zukunftsplanung frei und ohne Zwang, Angst und Kompromisse selbstbestimmt in die Hand nehmen zu können.
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Ich freue mich über die Wende.
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In den Jahren seitdem ist viel passiert. Ein ehemaliger Bundespräsident hat mal ganz zutreffend gesagt – Zitat –:
Wir
– Ostdeutschen -
träumten vom Paradies und wachten auf in Nordrhein-Westfalen.
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Nun ja, für unsere nordrhein-westfälischen Freunde ist das nur wenig schmeichelhaft, jedenfalls folgte auf die Party die Katerstimmung. Die ehemaligen Industriegebiete wurden abgewickelt und viel zu wenig Neues entstand. Der Osten blutete aus. Die jungen und gut ausgebildeten Familien gingen in den Westen.
Richtig ist auch noch 30 Jahre nach der Wende, Herr Hirte: Die wirtschaftlichen Probleme im Osten sind nach wie vor immens. Viel zu viele Menschen sind auf staatliche Transferleistungen angewiesen. Wenn ich dann auf der ersten Seite des Fließtextes des Jahresberichts lese: Die „Angleichung der Lebensverhältnisse kommt voran“, dann sträuben sich mir die Nackenhaare.
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Sie kommt eben nicht voran, Herr Hirte. In allen Bereichen, sei es in der Produktion, sei es im Dienstleistungsbereich oder im öffentlichen Dienst, bei der Infrastruktur, bei dem Rentenniveau oder bei den Durchschnittslöhnen, überall – meine Vorredner haben es gesagt – hinkt der Osten dem Westen in großen Teilen unverändert hinterher, und die Spaltung wird sogar noch größer.
Auch wenn die Bundesregierung die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse als Ziel ausgibt, lässt sie dem bestenfalls keine Taten folgen. Tatsächlich täuscht sie die Menschen in Deutschland;
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denn gleichwertige Lebensverhältnisse sind von dieser Bundesregierung nicht gewollt.
Es ist erstaunlich, dass die Linken nun auch den Osten unseres Landes entdecken
({7})
und mehr Daseinsvorsorge durch den Staat fordern, wo sie sich doch in den letzten Jahren hauptsächlich mit Gender-, Enteignungs- und Klimafantasien beschäftigt haben. Die Rezepte, die Sie vorschlagen, sind aber Rezepte Ihrer SED-Ahnen, die dieses Land überhaupt erst in den Abgrund geführt haben,
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die privaten Mittelstand verhindert und durch Planwirtschaft und Kollektivierung den Zusammenbruch der Industrie herbeigeführt haben.
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Wenn der Staat endlich seine Aufgabe der Daseinsvorsorge ernst nimmt und die ländlichen Räume vornehmlich im Osten nicht weiter ausbluten lässt, wenn er den Menschen den rechtlichen, finanziellen und gesellschaftlichen Freiraum lässt, um sich zu entfalten, dann schaffen wir auch die Vollendung der Einheit. Sonst, meine Damen und Herren, werden wir das nicht schaffen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Enrico Komning. – Nächste Rednerin für die SPD-Fraktion: Sabine Poschmann.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! An die Fraktion zu meiner Rechten sage ich: Ein ehemaliger Bundespräsident hat auch gesagt: „Versöhnen statt spalten“ soll das Motto sein. – Das liegt Ihrer Fraktion leider sehr, sehr fern.
({0})
Es ist noch nicht allzu lange her, da besuchte ein Fraktionskollege aus den ostdeutschen Bundesländern das Ruhrgebiet. Offenbar sah er nicht nur die Schönheiten dieser Städte, sondern er sah auch die Narben, die der ständige Strukturwandel hinterlassen hat. Meine Damen und Herren, das Beispiel zeigt, wie notwendig es ist, unseren Kompass endlich neu zu justieren. 30 Jahre nach dem Mauerfall macht es wenig Sinn, den Scheinwerfer ausschließlich auf die Unterschiede zwischen Ost und West zu richten. Das Wohlstandsgefälle, über das wir sprechen, durchzieht die gesamte Republik, von Ost nach West, aber auch von Nord nach Süd. Wenn wir die Lupe anlegen, erkennen wir sogar Unterschiede innerhalb einzelner Regionen, selbst innerhalb des Ruhrgebiets: Während bestimmte Städte boomen, drohen andere Bereiche von der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung abgehängt zu werden. Deshalb ist es richtig, unser Fördersystem zu bündeln und es auf die unterschiedlichen Bedürfnisse aller strukturschwachen Regionen auszuweiten.
Dennoch stoßen unsere klassischen Instrumente an Grenzen: wenn Dorfkneipen und Einzelhandelsgeschäfte in den ländlichen Gebieten schließen und junge Menschen aus ihrer Heimat abwandern, wenn die freiwillige Feuerwehr mangels ehrenamtlicher Helfer kaum noch ausrücken kann und Busse und Bahnen ganze Ortschaften links liegen lassen. Wir dürfen nicht länger zulassen, dass sich Menschen als Bürger zweiter Klasse fühlen und ihr Vertrauen in die Handlungsfähigkeit von Staat und Demokratie verlieren. Das gilt nicht nur für Ostdeutschland.
Mit Einzelmaßnahmen allerdings kommen wir hier nicht weiter. Förderprogramme sind kein Ersatz für einen starken und handlungsfähigen Staat. Sie müssen viel besser in eine neue und deutlich breitere Gesamtstrategie eingebettet sein. Viele kleine Einzelmaßnahmen sind ganz gut, aber werden uns Wachstum, Wirtschaftlichkeit und die Ansiedlung von Unternehmen nicht bringen. Wer gleichwertige Lebensverhältnisse anstrebt, muss zuerst die Kommunen stärken: finanziell und personell. Ich bin sehr froh, dass unser Finanzminister Scholz ein erstes Signal für einen kommunalen Altschuldenfonds gesendet hat. Ich hoffe, dass auch nicht betroffene Länder hier zustimmen werden.
Darüber hinaus brauchen wir regionale Masterpläne, mit denen wir die Innovationsfähigkeit kleiner und mittlerer Betriebe erhöhen, Forschung und Entwicklung fördern und auf diese Art Gründungen und neues Wachstum auslösen. Dabei dürfen wir die Kommunen nicht alleinlassen. Wir müssen ihnen Beratung und Unterstützung, vielleicht auch von externen privatwirtschaftlichen Unternehmen, bieten, um sich für die Wachstumsmärkte der Zukunft zu positionieren. Städte im Ruhrgebiet, wie etwa meine Heimatstadt Dortmund, haben damit sehr gute Erfahrungen. Hier sollten wir den Austausch fördern.
All das muss von Themen wie der sozialen Daseinsvorsorge in der jeweiligen Region flankiert werden und von der Frage, welche Anreize wir setzen können, um das Engagement und das Miteinander der Menschen vor Ort zu aktivieren. Wir dürfen nicht zulassen, dass Wohlstand und Armut eine Kluft in unsere Gesellschaft reißen und Menschen sich enttäuscht abwenden. Warnsignale dafür gibt es genug: in Ost und in West.
Herzlichen Dank.
({1})
Vielen Dank, Frau Kollegin Poschmann, auch für die Punktlandung. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Gerald Ullrich.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich bin im Osten geboren. Meine Kindheit, meine Jugend, meine Schule, meine Ausbildung, meinen Grundwehrdienst, mein Studium und einen Teil meines Arbeitslebens habe ich in der DDR verbracht. Bis auf den Grundwehrdienst trifft das auch auf meine Frau zu. Unser ältester Sohn wurde 1986 in der DDR geboren. Ich kann mit Fug und Recht sagen, dass wir eine typische ostdeutsche Familie sind. Wir haben uns aber nie als Ossis gefühlt. Wir haben uns schon immer als Deutsche gefühlt.
Wenn wir uns heute fragen, was damals, in den Jahren der Friedlichen Revolution, anders war als heute, muss man sagen: Es ist eigentlich ganz einfach. Es gab damals viel weniger Akteure, die es auf die Spaltung der Gesellschaft abgesehen hatten. Der SED-Nachfolger hatte mit sich selbst zu tun und wurde auch nicht richtig ernst genommen. Die SPD sprach nur von den Kosten der Einheit. Das Neue Forum/Bündnis 90 setzte sich massiv für Bürgerrechte ein. Die FDP und die CDU wirkten aktiv an der deutschen Einheit mit.
({0})
Sicher, es gab damals auch ein Problem. Das bestand darin, dass Kanzler Kohl glaubte, mit der Alimentierung der ostdeutschen Bevölkerung mehr zu erreichen als mit dem schnellen und bedingungslosen Wiederaufbau der neuen Bundesländer. Das hatte zur Folge, dass die Länder im Osten für lange Zeit zu Nehmerländern wurden.
Was ist heute anders? Die meisten politischen Akteure sind zu Spaltern geworden. Da ist heute die SPD, die versucht, ein Armutspotenzial zu schaffen, um dieses dann gegen die angeblich Reichen und Superreichen auszuspielen.
Der SED-Nachfolger spielt ganz klar Ost gegen West aus. Das gipfelt darin, dass Ihr Herr Ramelow aus Thüringen die Nationalhymne abschaffen will. Das ist die absolute Krönung.
({1})
Die AfD, die schon lange zur Altpartei geworden ist, unterscheidet inzwischen nach Biodeutschen, nach Passdeutschen. Sie unterscheiden nach Religionszugehörigkeit und nach Hautfarbe.
Es gibt leider auch einen neuen Spalter auf der politischen Bühne: Bündnis 90, das für Bürgerrechte stand, wurde zu den Grünen,
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die heute in Thüringen mit denen kollaborieren, die damals die Bürgerrechte mit Füßen traten. Jahrzehntelang haben sie das getan.
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Frau Göring-Eckardt beschuldigte noch letzte Woche hier von diesem Pult aus die Landwirte, die Landschaft zu zerstören, Arten zu vernichten und Wasser zu verseuchen.
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Mit Ihrer verfehlten Energiewende zerstören Sie den Thüringer Wald durch Windräder im Wald.
({5})
Sie entwerten die Flächen durch Kabelprojekte, wie zum Beispiel SuedLink. Sie, meine Damen und Herren von den Grünen, spielen eindeutig Stadt gegen Land aus. Ich glaube, Sie stehen auch kurz davor, militant zu werden.
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Ich glaube, das Ergebnis davon werden wir in Kürze sehen.
Meine Damen und Herren von der CDU, Sie sehen, die Mitte ist sehr klein geworden.
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Bitte sorgen Sie dafür, dass sie nicht noch kleiner wird.
Sorgen Sie bitte dafür, dass Sie zum Ende kommen.
Als letzten Satz ein kurzes Fazit. Mein Appell an die Bundesregierung: Bitte sorgen Sie dafür, dass die Menschen in Ostdeutschland wieder stolz auf ihre Heimat sein können. Kümmern Sie sich bitte darum, dass die neuen Bundesländer von Nehmerländern zu Geberländer werden.
Herr Kollege, ich darf Sie bitten.
Mein Kollege Thomas Kemmerich hat gesagt, wie es geht.
Danke.
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Vielen Dank, Herr Ullrich. – Nächster Redner: Dr. Andreas Lenz, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jetzt könnte man sich fragen: Was hat die CSU zum Sachstandsbericht Aufbau Ost/Deutsche Einheit zu sagen? Aber das ist natürlich wie immer eine ganze Menge.
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Es schadet nicht, wenn auch die Abgeordneten aus dem Westen, aus dem Süden, eben aus allen Regionen diesen wirklich guten Bericht durchlesen. Es lohnt sich. Natürlich gibt es auch regional in ganz Deutschland Unterschiede. Aber wir sind vereint.
Lieber Mark Hauptmann, du hast vorhin gesagt: Red Bull Leipzig schickt sich an, Deutscher Meister zu werden. – Es gibt auch im wiedervereinten Deutschland eine Konstante: Das ist natürlich, dass der FC Bayern an der Spitze von Fußballdeutschland steht.
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Ich komme zurück zur Sache. Es gilt natürlich, den mutigen Menschen von damals zu danken. Sie haben letztlich die deutsche Einheit geschaffen. Es war die Macht der scheinbar Machtlosen, die das Glück unserer Wiedervereinigung erst ermöglichten. Die Menschen in der ehemaligen DDR wollten den maroden Unterdrückungsstaat nicht reformieren. Nein, sie wollten ihn überwinden. Sie wollten Freiheit statt Sozialismus. Sie wollten die soziale Marktwirtschaft anstatt sozialistischer Mangelwirtschaft. Sie wollten Menschen- und Bürgerrechte anstatt Ideologie und Unterdrückung.
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Deutschland und Europa wurde also durch den Willen der Menschen verändert. Das war der Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung.
Vor genau 30 Jahren fand im August 1989 das wegweisende Paneuropäische Picknick statt. Dieses Picknick stand unter der Schirmherrschaft eines CSU-Europaabgeordneten, nämlich Otto von Habsburg, und des ungarischen Staatsministers und Reformers Imre Pozsgay. Aus dem Picknick wurde ein Weltereignis. Mehr als 600 DDR-Bürgern gelang am 19. August 1989 über die kurzzeitig geöffnete Grenze die Flucht in den Westen.
Das Geschehen war der Vorbote zum Fall der Berliner Mauer, übrigens unter maßgeblicher Hilfe von Caritas, Diakonie, Malteser, Johanniter und dem Roten Kreuz aus Bayern, die umgehend Notlager errichtet hatten. Helmut Kohl betonte: Der Boden unter dem Brandenburger Tor wird auf immer ungarisch bleiben. – Dies gilt es, auch heute zu betonen. Es war also die europäische Idee, die zusammenführte.
Budapest schloss übrigens bereits 1988 als erstes Ostblockland ein Handelsabkommen mit der damaligen Europäischen Gemeinschaft. Handel kann also auch helfen, den Weg in die Freiheit zu bereiten.
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Die Friedliche Revolution liegt nun schon fast 30 Jahre zurück. In Ostdeutschland wurde seitdem eine beeindruckende Aufbau- und Anpassungsleistung erbracht. Das Wirtschaftswachstum ist in Ostdeutschland in dieser Zeit das stärkste in Gesamtwesteuropa gewesen. Zahlreiche Indikatoren zeigen, dass der Prozess der Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West seit 1990 weit vorangekommen ist. Die Löhne liegen beispielsweise bei 85 Prozent des westdeutschen Niveaus; das gilt auch für das verfügbare Einkommen.
Unterschiede bestehen nicht nur zwischen Ost und West. Auch in Bayern ist das so. In Ostbayern sind die Löhne etwas niedriger, aber die Menschen sind nach meiner Wahrnehmung deswegen nicht unglücklicher; auch die Wohneigentumsquote ist beispielsweise höher.
Die Arbeitslosenquote ging vom Höchststand von 2005 – damals lag die Quote bei 18,7 Prozent; das vergisst man zu schnell – auf 6,9 Prozent zurück – und das unter einer unionsgeführten Bundesregierung, meine sehr geehrten Damen und Herren.
Auch das vergisst man zu schnell: Im Jahr 2017 war erstmals die Wanderungsbilanz zwischen ostdeutschen Flächenländern und Westdeutschland positiv. Die Menschen kehren zum Teil zurück. Ich erlebe, dass auch Bürgerinnen und Bürger aus meinem Wahlkreis zum Teil in die alte Heimat zurückkehren, obwohl gerade auch ostdeutsche Bundesbürger inzwischen sehr gute Bayern sind. Überdies darf man betonen, dass von der zweifelsohne erfolgten Abwanderung aus dem Osten auch ganze Gebiete in Westdeutschland sehr stark profitiert haben.
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Gerade in meinem Wahlkreis Erding – Ebersberg, aber auch in Oberbayern insgesamt kamen mit am meisten ostdeutsche Bürger an. Auch hier gab es sehr fruchtbare Vereinigungen.
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Der Bericht wurde übrigens erstmalig um ein Nachhaltigkeitskapitel ergänzt. Das ist sehr sinnvoll. „Ein nachhaltiges Deutschland erreichen wir nur, wenn niemand zurückgelassen wird“, heißt es in der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie. Dies gilt es zu beherzigen; Stichwort „gleichwertige Lebensverhältnisse“.
Es gilt aber, ebenso zu betonen, dass das Modell der ehemaligen DDR nicht nachhaltig war, weder ökonomisch noch ökologisch und noch weniger sozial. Wenn man die ökologische Komponente herausgreift: Es ist so, dass die Belastung durch Schwefeldioxid und Staub extrem war. Einige Standorte wie Bitterfeld oder Espenhain hätten nach den geltenden UNO-Richtwerten als unbewohnbar eingestuft werden müssen. Deshalb erhielten die Umweltdaten in der ehemaligen DDR die höchste Geheimhaltungsstufe. Die Umweltbedingungen haben sich seitdem massiv verbessert. Übrigens ist die Lebenserwartung der Menschen deutlich gestiegen.
Insofern gilt es, am Schluss zu betonen, dass ein Kraftakt hinter uns liegt, aber sicher auch noch viele und vielfältige Anstrengungen vor uns liegen.
In diesem Sinne herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Andreas Lenz. – Letzter Redner in der Debatte: Frank Junge für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich glaube, eines ist in dieser Debatte deutlich geworden: Wir dürfen uns nicht wundern, wenn die Menschen im Osten ein Bild von Politik bekommen, das zu manchmal fragwürdigen Wahlentscheidungen führt. So wie wir hier über Erreichtes reden, wie wir über Erfolge reden, wie wir dann, von politischem Kalkül geleitet, die Dinge schlechtreden, so, denke ich, erzeugen wir kein Vertrauen in die Handlungsfähigkeit von Politik, und das ist ein Punkt, den man bei der Debatte über die Errungenschaften 30 Jahre nach dem Einreißen der Mauer hier ansprechen muss.
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Ich finde, das, was wir mit und seit der Wiedervereinigung in den neuen Bundesländern geleistet haben, ist geschichtlich und global so groß und so einzigartig, dass wir zu Recht alle stolz darauf sein können,
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egal ob wir hierbei noch große Differenzen und Abstände zu Standards im Westen feststellen müssen oder nicht. Wo wir heute sind, da sind wir hingekommen, weil Politik verantwortungsbewusst gehandelt hat und weil Politik vor allen Dingen Instrumente, die wir geschaffen haben, genutzt hat, um Rückstände abzubauen.
Ich gehe hier nur kurz darauf ein, dass wir gegenwärtig, 30 Jahre nach der Wende, den höchsten Beschäftigungsstand im Osten haben. Das Pro-Kopf-Einkommen hat sich seitdem mehr als verdoppelt. Die Produktivität ist um das Vierfache gestiegen. Das ist im Übrigen, geschätzte Kollegen der AfD, etwas, zu dem Sie nicht einen einzigen Deut beigetragen haben.
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Das sind Erfolge, die die Politik hier im Bundestag in der gesamten Bundesrepublik erreicht hat. Sie sehen nur die Möglichkeit, das schlechtzureden, und das tun Sie in großer Manier.
Meine Damen und Herren, wir sind uns alle darüber einig, dass wir noch darüber reden müssen, wie wir die deutsche Einheit weiter voranbringen und die Wiedervereinigung noch stärker machen. Ich habe da auch kritische Punkte, die ich nur ganz kurz anreißen kann. Ein solcher Punkt ist zum Beispiel – das ist zur Sprache gekommen –: Es gibt die Festlegung von 1992 von Bundesrat und Bundesregierung, dass neue Standorte in den Osten kommen sollen – zu Recht; denn an solche Standorte binden sich Wirtschaft, Beschäftigung und Wertschöpfung. Vor diesem Hintergrund sind wir in der Bundesregierung – in der Vergangenheit auch andere – ständig halbherzig darangegangen und haben diese Vorgabe gar nicht erfüllt. Das Beispiel mit Frau Karliczek und der Fabrik für Batteriezellen will ich nicht noch einmal bemühen. Ich denke, dass wir dort konsequenter handeln müssen, weil wir diese Impulse dringend brauchen.
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Einen letzten Punkt will ich ansprechen. Wenn wir darüber reden, dass wir nach dem Fall der Mauer, nach dem Einreißen der Mauer von einem Strukturbruch im Osten erschüttert worden sind und dass eine ganze Generation in die alten Länder gegangen ist, dann müssen wir heute darüber sprechen, wie es uns gelingen kann, Menschen wieder zu einem Zuzug in den Osten zu bewegen. Gerade vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels ist das die Maßgabe der Stunde. Da betone ich besonders, dass wir das nur mit starken Gewerkschaften, starken Betriebsräten und verbindlichen Tarifverträgen können;
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denn nur das sind die Garanten dafür, dass wir endlich vernünftige Löhne und auch 100-Prozent-Löhne im Osten bekommen. Vor diesem Hintergrund ist das für mich nicht nur eine Möglichkeit, den Fachkräftemangel, der den Osten in besonderer Weise trifft, zu bekämpfen; wir können damit 30 Jahre nach der Wende eine längst überfällige Maßnahme treffen und mehr soziale Gerechtigkeit erreichen.
Zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen, möchte ich sagen: Wenn wir es an dieser Stelle schaffen, gemeinsam an einem Strang zu ziehen, und vor diesem Hintergrund alle Instrumente, die da sind, nutzen, um die Potenziale im Osten weiter auszubauen, dann schaffen wir wieder mehr Vertrauen in unseren Staat; wir stärken den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Demokratie, und das ist das beste Mittel gegen blau-braunen Nationalismus, gegen Spaltung, Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit.
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Vielen Dank, Frank Junge. – Ich schließe die Aussprache.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! 30. Jahrestag des Mauerfalls – wir haben gerade darüber gesprochen –, aber die Rentenmauer steht noch. Wir Linke fordern: Die Rentenmauer muss endlich weg!
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2014 hatte Bundeskanzlerin Merkel versprochen: Die Rentenangleichung kommt bis 2020. – Doch: Versprochen und gebrochen. Damit hat die Regierung bei vielen Ostdeutschen Vertrauen verspielt. Diese gebrochenen Versprechen erzeugen Lethargie, Hass und Demokratieverdrossenheit, und das ist unverantwortlich. So kann das nicht weitergehen, meine Damen und Herren.
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Ostdeutsche, die 1989 65 Jahre alt waren, müssten 100 Jahre alt werden, damit sie in den Genuss einer Westrente kommen. Sie haben also auf eine biologische Lösung des Rentenproblems gesetzt. Wir nennen das zynisch.
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Wie wollen Sie eigentlich den 30. Jahrestag der deutschen Einheit mit einer Rentenmauer zwischen Ost und West feiern?
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Wir fordern in unserem Antrag die sofortige Angleichung des Ostrentenwerts an den Westrentenwert. Es ist wirklich Zeit, meine Damen und Herren!
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Nun wird ja darüber diskutiert, wie Altersarmut eigentlich entsteht. Altersarmut in Ostdeutschland hat direkt etwas mit der Ära Helmut Kohl und mit der Treuhandpolitik zu tun.
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– Das muss Sie ja alles sehr treffen, wenn Sie sich das nicht anhören können. – Im ersten halben Jahr ihrer Tätigkeit hat die Treuhand 61 ostdeutsche Unternehmen pro Woche privatisiert. Zum Vergleich: Die eiserne Lady, Margaret Thatcher, berüchtigt für den großen Ausverkauf der britischen Staatsunternehmen, brachte es in den zehn Jahren ihrer Amtszeit auf gerade einmal 54 Privatisierungen. Die Folge dieser Privatisierungen in Ostdeutschland war eine dramatische Massenarbeitslosigkeit. Diese brutale Arbeitsplatzvernichtung hat heute fatale Auswirkungen auf die Ostrenten. Diesen Trend, meine Damen und Herren, hat die Regierung Merkel ab 2005 noch verstärkt.
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Langzeitarbeitslose haben nur niedrige Rentenbeiträge eingezahlt bekommen und seit 2011 überhaupt keine mehr. Man muss die Verantwortung klar benennen: Kohls Treuhand war ein Baustein für die kommende Altersarmut in Ostdeutschland, und das darf so nicht bleiben.
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Die Schröder/Fischer-Regierung führte Hartz IV ein. Das war Armut per Gesetz. Die PDS im Bundestag – Petra Pau und ich – war damals die einzige Partei, die gegen diese Armutsgesetze gestimmt und gekämpft hat.
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Kanzler Schröder verkündete stolz, dass er den größten Niedriglohnsektor Europas geschaffen habe. Und selbst im Niedriglohnsektor beträgt der Ost-West-Unterschied immer noch 277 Euro oder 16 Prozent. Mit dem Niedriglohnsektor wurde ein weiterer Baustein für Altersarmut gelegt, und das muss dringend korrigiert werden.
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Die jetzt von der Bundesregierung beschlossene Angleichung der Rentenwerte ist mit einem gravierenden Nachteil für die Ostdeutschen verbunden. Da die Ostlöhne immer noch weit von den Westlöhnen entfernt sind, wurden bisher die Ostlöhne für die Rentenberechnung umgerechnet. Diese Umrechnung wird nun abgeschafft, obwohl die Lohnunterschiede weiter bestehen. Das kommt einer Rentenkürzung gleich, und das darf nicht sein.
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Ein Rechenbeispiel: Durch den Wegfall der Umrechnung erhält eine 54-jährige Ost-Verkäuferin für die 13 Jahre, die sie noch bis zur Rente hat, nur 344 Euro Rente. Mit der Umrechnung wären es 374 Euro. Das wären also 360 Euro mehr Rente im Jahr. Bei einer durchschnittlichen Rentenbezugsdauer von 22 Jahren fehlen ihr also knapp 8 000 Euro. Darauf muss die ostdeutsche Verkäuferin verzichten. Das ist eine Fortsetzung der Rentenmauer, und die muss endlich eingerissen werden.
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Nun ist in der vorherigen Debatte darauf verwiesen worden, dass die Grundsicherungsquote in Ostdeutschland aktuell mit 6,5 Prozent – die Zahl wurde nicht genannt, aber die Tatsache – noch deutlich unter dem Niveau in Westdeutschland liegt. Doch sie wird sich in den kommenden 20 Jahren auf knapp 12 Prozent verdoppeln. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, das DIW, schätzt, dass in Deutschland jeder fünfte 67-Jährige im Jahr 2036 von Altersarmut bedroht sein wird. Besonders betroffen davon werden alleinstehende Frauen, Menschen ohne Berufsausbildung, Langzeitarbeitslose und eben Ostdeutsche sein. Ich finde, diese Fortsetzung der Spaltung dürfen wir nicht hinnehmen.
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Union und SPD sind also für die Armutsrenten in Ostdeutschland verantwortlich. Sie haben die Zerstörung der ostdeutschen Wirtschaft durch die Treuhand zu verantworten, und sie gehen mit den Hartz-IV-Gesetzen als die größten Lohndrücker in die deutsche Geschichte ein. Sie haben den Niedriglohnsektor und damit Minijobs und Minirenten geschaffen und haben jahrzehntelang einen Mindestlohn verhindert. Jetzt haben wir einen Mindestlohn, der nicht ausreicht, um nach einem langen Arbeitsleben von der Rente auch leben zu können. Deshalb fordern wir in unserem Antrag die Angleichung der Rentenwerte noch in diesem Jahr, die Beibehaltung des Umrechnungsfaktors für die Ostlöhne, bis das Westniveau erreicht ist, eine deutliche Anhebung des Mindestlohns auf wenigstens 12 Euro und einen Zuschlag für Rentnerinnen und Rentner, die im Niedriglohnsektor arbeiten mussten.
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Wir brauchen eine wirklich soziale Politik für dieses Land, wir brauchen eine soziale Wende. Die Linke steht dafür zur Verfügung.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Gesine Lötzsch. – Nächster Redner: Max Straubinger für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben jetzt ein Zerrbild der Rentenpolitik in Deutschland erlebt.
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– Doch, Frau Kollegin Lötzsch, so ist es. – Jetzt können sich die Bürgerinnen und Bürger im Osten Deutschlands nämlich auf sichere Renten verlassen und müssen keine Renten nach Gutdünken befürchten, wie es unter der SED war, wo also überhaupt nicht die Leistungsfähigkeit der Menschen berücksichtigt wurde,
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sondern wo imaginäre Abschlüsse des FDGB letztendlich durch die SED umgesetzt worden sind. Das waren Armutsrenten in der ehemaligen DDR.
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Die Rentenüberleitung von 1991, die ab dem 1. Januar 1992 stattfand, hat den Bürgern in Ostdeutschland eine verlässliche Rente gegeben, und zwar eine Rente, die dazu geführt hat, dass von den Rentnern in Ostdeutschland mittlerweile nur noch 1 Prozent auf Grundsicherung angewiesen ist, während es im Westen Deutschlands 3 Prozent sind.
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Das zeigt also auch sehr deutlich, dass diese Rentenüberleitung eine große Erfolgsgeschichte ist. Dies sollten wir auch so darstellen;
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denn alle anderen Darstellungen, Frau Kollegin Lötzsch, bedienen nur die rechte Seite, was Sie nicht wollen und was wir nicht wollen – damit das ganz klar ist.
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Deshalb: Wer die Erfolge der Wiedervereinigung hier nicht darstellen will und den Bürgerinnen und Bürger die ganze Zeit nur ein Zerrbild bereitet, der legt letztendlich die Axt an unser demokratisches Staatsgefüge, verehrte Kolleginnen und Kollegen.
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Denn die Wahrheit liegt ganz woanders. Seit der Rentenüberleitung 1991, ab 1992, sind wir von damals 51 Prozent des Rentenwertes in Ostdeutschland bei mittlerweile 96,5 Prozent angekommen, und das unter wirtschaftlicher Entwicklung. Das ist letztendlich auch eine Erfolgsgeschichte des Aufbaus in den neuen Bundesländern, der – das kann man beklagen – vielleicht zu langsam vorangegangen ist, der aber zuvörderst mit Helmut Kohl und der Treuhand bewerkstelligt worden ist. Wir haben die kaputten DDR-Betriebe überführt und damit auch den Menschen sichere Arbeitsplätze gegeben. Das missachten Sie. Sie missachten die Hinterlassenschaft der SED, für die Sie verantwortlich sind, für die Sie eingetreten sind und gearbeitet haben. Diesen Missstand haben wir mit unserer Politik, mit Helmut Kohl und mit unserer Bundeskanzlerin Angela Merkel, aufgearbeitet. Und weil der Kollege Bartsch sich vorhin beklagt hat, dass es keinen Uni-Präsidenten und keine Bundesrichter ostdeutscher Herkunft gibt, möchte ich sagen: Er sollte doch zumindest zufrieden sein, dass wir eine Bundeskanzlerin ostdeutscher Herkunft haben;
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aber dieses Lob habe ich auch nicht vernommen.
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Also, unter diesem Gesichtspunkt ist es, glaube ich, wirklich eine schöne Geschichte, dass man nicht einmal das anerkennen will, trotz der Erfolge, die wir vorzuweisen haben. Und diese Erfolge sind hervorragend: Wir haben die wirtschaftliche Entwicklung im Osten Deutschlands befördert und tun dies auch weiterhin mit den entsprechenden Programmen. Aber mittlerweile sind wir in die Situation geraten, dass wir uns nicht mehr nur über Ostdeutschland zu unterhalten haben, sondern dass wir auch feststellen müssen, dass wir im Westen Deutschlands, an der Grenze zu Holland, an der Grenze Ostbayerns zu Tschechien, Landkreise haben, in denen Menschen genauso schwierige Einkommensverhältnisse aufzuweisen haben wie Menschen in Landkreisen in Ostdeutschland.
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Und Sie gehen jetzt her und wollen mit Ihrem Antrag den Rentenwert auf 100 Prozent angleichen. Dies haben wir jedoch beschlossen; 2025 wird das geschehen sein, hoffentlich rein unter wirtschaftlicher Entwicklung und nicht unter administrativer Entwicklung.
Aber Sie wollen die Höherbewertung beibehalten. Das ist eine große Ungerechtigkeit gegenüber den Bürgern, die im Westen Deutschlands wohnen, weil diese dann für die gleiche Einzahlung eine um 20 Prozent geringere Rente als die Bürger in Ostdeutschland erhalten würden. Das kann nicht sein. Sie sind eine spalterische Partei und nicht eine Partei, die zusammenführt.
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In diesem Sinne werden wir Ihren Antrag wiederum ablehnen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Max Straubinger. – Nächste Rednerin: Ulrike Schielke-Ziesing für die Fraktion der AfD.
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Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Bürger! Heute besprechen wir einen Antrag, den die Linken im Frühjahr dieses Jahres schon einmal in ähnlicher Form gestellt haben.
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Aus diesem alten Antrag haben Sie die Ostthemen extrahiert und bringen diese nun noch einmal ein.
Warum noch einmal in einem so kurzen Zeitabstand? Normalerweise wärmen Sie Ihre alten Anträge doch erst nach zwei Jahren wieder auf.
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Kann es sein, dass dies nur ein Schaufensterantrag ist, um Ihrem Parteifreund in Thüringen beim Landtagswahlkampf den Rücken zu stärken? Ihr Antrag ist eine wild zusammengewürfelte Wunschliste mit allem, was im Osten vermeintlich gut ankommt: Rentenangleichung Ost/West, den Mindestlohn regulieren und, weil noch Platz auf dem Papier war, gleich auch die Altersarmut in Deutschland bekämpfen. Fehlen eigentlich nur noch der Klima- und der Tierschutz.
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Wie wir die Altersarmut effektiv und gezielt bekämpfen können, können Sie in der neuesten Studie nachlesen, die im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung erstellt wurde. Eine Freibetragslösung für die Rente bei der Grundsicherung im Alter kommt gezielt den bedürftigen Rentnern zugute und verstößt weder gegen das Äquivalenz- noch gegen das Leistungsprinzip. Mit anderen Worten: eine Freibetragslösung, so wie wir als AfD sie bereits im Frühjahr hier im Plenum gefordert haben. Wir könnten damit über 600 000 Alters- und Erwerbsminderungsrentnern helfen. Die Rentner könnten 15 Prozent ihrer Rente zusätzlich zur Grundsicherung im Alter behalten.
Wenn es Ihnen so sehr um die Bekämpfung der Altersarmut in Deutschland geht, warum haben Sie unserem Antrag dann nicht zugestimmt?
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Sie stellen lieber Anträge, die ein Sammelsurium an Maßnahmen enthalten. Einzelne Maßnahmen darin sind sicher sinnvoll, in Gänze sind diese Anträge aber für uns absolut nicht zustimmungsfähig.
Beispiele dazu: Sie wollen eine Rente nach Mindestentgeltpunkten. Mit einer Verdopplung von Entgeltpunkten, wie bei Ihnen vorgesehen, wird das Äquivalenzprinzip als tragendes Prinzip der gesetzlichen Rentenversicherung angegriffen. Eine Verdopplung von Rentenansprüchen für eine abgegrenzte Zielgruppe ist nicht mit der Beitragsäquivalenz vereinbar. Ungleiches wird im Ergebnis gleich behandelt. Eine Aufwertung soll pauschal für Entgeltpunkte aus unterdurchschnittlichem Einkommen erfolgen ohne Rücksicht darauf, warum es zu diesem niedrigen Einkommen gekommen ist. Das hört sich übrigens sehr nach der Grundrente von Minister Heil an, nur dass Sie hier keine 35, sondern 25 Beitragsjahre ansetzen; das macht die Sache aber auch nicht besser.
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Eine Anhebung des Mindestlohnes ist laut Ihrer sozialistischen Fantasie ein Allheilmittel, um Wohlstand und Wachstum zu generieren. Mit welcher Beharrlichkeit Sie Ihre Anträge zur Anhebung des Mindestlohns regelmäßig aus immer demselben Hut ziehen, ist schon bemerkenswert. Verstehen Sie bitte: Wir leben in einer Marktwirtschaft und nicht im Wünsch-dir-was-Land.
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Sie können gerne versuchen, den Unternehmen alles vorzuschreiben. Besser wird die wirtschaftliche Situation dadurch aber nicht.
Wir müssen für bessere Rahmenbedingungen sorgen, damit sich die Wirtschaft hierzulande besser entfalten kann. Ich kann Ihnen aus meinem Wahlkreis in Mecklenburg-Vorpommern berichten: Unternehmen, die expandieren wollen, stoßen aufgrund von fehlenden Investitionen in die Infrastruktur an ihre Grenzen. Geeignetes Personal wird ebenfalls immer knapper. Weil die regierenden Parteien die falschen Rahmenbedingungen setzen, leiden für die Region wichtige Unternehmen darunter. Und dann soll die Abwärtsspirale durch planwirtschaftliche Experimente noch befeuert werden? Nicht mit uns.
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Sie wollen die Rentenangleichung Ost/West haben, Sie wollen außerdem eine Beibehaltung der Höherbewertung der Ostlöhne, machen sich aber leider keinen einzigen Gedanken über ein Finanzierungskonzept. Da kommen wir wieder zum Anfang meiner Rede: Eigentlich soll dieser Antrag ja auch nicht seriös dazu beitragen, die Rentenangleichung zu diskutieren, sondern nur dem Wahlkampf dienen.
Insgesamt präsentieren Sie hier Lösungen, die nicht in das bestehende Gesellschaftssystem passen. Alles, was Ihnen einfällt, ist: Regulieren, Enteignen, Verstaatlichen.
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Das funktioniert nicht, und eine DDR 2.0 wollen wir auch nicht. Das hatten wir schon unter Ihrer Führung; ist in die Hose gegangen.
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Und nun versuchen wir seit knapp 30 Jahren, Ihre Fehler der Vergangenheit auszubügeln.
Ich freue mich aber dennoch auf die Diskussion Ihres Antrages im Ausschuss für Arbeit und Soziales und in der nächsten Sitzungswoche wieder hier im Plenum an selber Stelle.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Frau Schielke-Ziesing. – Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Daniela Kolbe.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Wer seinen Wahlkreis im Osten hat, der weiß, dass für viele Menschen, gerade für die Rentnerinnen und Rentner, die Rentenangleichung ein Thema ist.
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Aber um was geht es ihnen im Kern? Ich habe manchmal den Eindruck, es geht den Menschen gar nicht so sehr um das Thema Geld, sondern vielmehr um das Thema Leistungsgerechtigkeit. Ist Gleiches in diesem Land gleich viel wert? Was ist meine Arbeit wert, die ich geleistet habe, als ich versucht habe, die marode DDR am Laufen zu halten, irgendetwas zu produzieren? Was ist meine Lebensleistung wert, wenn ich mitgeholfen habe, den DDR-Unrechtsstaat zum Einsturz zu bringen? Das sind nämlich die Leute, die sich jetzt gerade auf die Rente zubewegen und sich fragen: Wie wird das wertgeschätzt? Die Leute, die das Land wieder aufgebaut haben, die niedrige Löhne bekommen haben, die von Arbeitslosigkeit betroffen waren, fragen sich: Wie wird das wertgeschätzt?
Tatsächlich ist für 90 Prozent der Ostdeutschen die gesetzliche Rente das Haupteinkommen im Alter; 60 Prozent der Menschen im Westen geht es ähnlich. Aber bei einer Größenordnung von 90 Prozent ist klar, dass sich die älteren Leute bei der Rente stark auf die Themen „Wertschätzung“ und „Leistungsgerechtigkeit“ fokussieren.
Wir als Große Koalition haben in der letzten Legislatur gesagt: Da die Lohnangleichung und die Rentenangleichung nicht vorankommen, müssen wir das gesetzlich regeln. – Das haben wir gemacht. Die SPD wollte das 2020 fertig haben; das haben wir nicht durchgesetzt. Aber wir haben gesetzlich geregelt: Wir werden 2025 in Deutschland ein Rentensystem haben. Es ist schmerzhaft für uns, dass es lange dauert. Aber wir freuen uns, dass wir die Rentenangleichung im Gesetzblatt stehen haben.
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Ich ärgere mich über den Linkenantrag; zumindest das habt ihr geschafft. Ich habe mich auch sehr über die Rede von Frau Lötzsch geärgert, weil sie es eigentlich besser wissen müsste und weil es eigentlich unter ihrem Niveau ist, hier den Eindruck zu erwecken, als wollten wir eine Ungleichheit im Rentensystem fortschreiben, als gäbe es nicht den Ausblick, dass wir in Deutschland ein Rentensystem haben werden, und zwar in absehbarer Zeit. Das können wir den Rentnerinnen und Rentnern und auch den zünftigen Rentnerinnen und Rentnern glasklar so sagen.
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Ich ärgere mich auch über Ihren Antrag, weil er eben nicht nur versucht, Ungerechtigkeiten abzuschaffen, sondern auch ziemlich sehenden Auges neue Ungerechtigkeiten schafft. Die Große Koalition hat beschlossen, ein Rentensystem ab spätestens 2025 zu haben – vielleicht kriegen wir es ja eher hin.
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Das heißt, der Rentenpunkt, den ich mir verdient habe, ist bei der Auszahlung gleich viel wert, egal ob in Ost oder in West erwirtschaftet. Das bedeutet aber eben auch: Ich muss gleich viel einzahlen in Ost und in West, um einen Rentenpunkt zu bekommen, also: ein Rentensystem, ein Land.
Was die Linke hier in dem Antrag fordert, sind zwei Rentensysteme.
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Der Rentenpunkt soll gleich viel wert sein in Ost und in West, aber in Ostdeutschland soll ich weniger einzahlen müssen, um einen Rentenpunkt zu bekommen.
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Die Begründung ist ja richtig: Die Löhne sind im Osten niedriger. Wer möge das denn bestreiten? Das ist so. Aber was Sie hier machen, ist nicht, die Ursache zu bekämpfen, sondern sie versuchen, die Wirkung irgendwie abzumildern. Damit schaffen Sie wirklich absurde Situationen.
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Sie behandeln Gleiches ungleich,
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zum Beispiel im Niedriglohnbereich. Wir als SPD haben gekämpft und gestritten, dass wir einen Mindestlohn bekommen, und zwar in Ost und in West in der gleichen Höhe.
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Wenn Ihr Antrag Realität würde, würde es bedeuten: Der Westdeutsche, der Mindestlohn erhält, hätte weniger Rentenanspruch als jemand, der im Osten Mindestlohn bekommt. Gleiches gilt für Tarifbeschäftigte.
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Ich sage mal so: Wenn das so käme, dann würde ich mir im Sinne meiner Beschäftigten ernsthaft überlegen, ob ich nicht umziehe. Im Moment ist mein Büro direkt neben dem Reichstag im Paul-Löbe-Haus; das war früher Westberlin. Für meine Beschäftigten wäre es dann viel sinnvoller, wenn ich ins Jakob-Kaiser-Haus umzöge; das war nämlich Ostberlin. Das stimmt doch?
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Theorie. – Weiter, weiter, weiter.
Ich kann leider die Mimik von Frau Roth von hier vorne schlecht sehen. – Das war Ostberlin. Dort hätten meine Beschäftigten von ihrem gleichen Lohn höhere Rentenanwartschaften. Das wird spätestens 2025 Geschichte sein. Sie wollen das fortschreiben. Sie merken doch selber, dass das ziemlicher Kokolores ist, oder?
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Dabei stimmt natürlich, dass das unterschiedliche Lohnniveau ein riesengroßes Problem ist. Aber es ist viel sinnvoller, dass wir das Problem an der Wurzel anpacken.
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Hubertus Heil hat allein mit dem gestern eingebrachten Entwurf eines Pflegelöhneverbesserungsgesetzes mehr für die Rentengerechtigkeit in Ost und West getan als Sie, die Ihren Antrag jetzt zum zehnten Mal wieder einbringen.
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Wir brauchen höhere Mindestlöhne. Aber vor allen Dingen brauchen wir eine höhere Tarifbindung; denn wo es Tarife gibt in Ost und West, da sind doch schon jetzt die Löhne annähernd gleich und damit eben auch die Rentenanwartschaften. Klar müssen wir da noch über Arbeitszeiten reden. Mich ärgert kolossal, dass wir in der Metall- und Elektroindustrie beispielsweise Tarifverträge haben, wo zwar die Löhne gleich sind, im Osten aber 38 Stunden pro Woche gearbeitet werden und im Westen 35. Aber das ist nur eine Nebenbemerkung. Dafür hätten Sie jetzt auch keine Lösung mit Ihrem Antrag.
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– Na ja. Wir streiten jedenfalls dafür, dass wir endlich eine höhere Tarifbindung in diesem Land bekommen.
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Ich sage nur: Das Pflegelöhneverbesserungsgesetz ist ein Schritt in genau diese Richtung. Man kann natürlich die SPD fragen: Warum habt ihr denn nicht noch in den Koalitionsvertrag reinverhandelt, dass wir das jetzt straffen?
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Hätten wir durchaus ganz gerne mit auf den Zettel gesetzt. Wir mussten uns aber konzentrieren. Tatsächlich haben wir uns einen ziemlich dicken Brocken vorgenommen, der auch was mit Leistungsgerechtigkeit im Rentensystem zu tun hat, nämlich dass diejenigen Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet haben, mehr haben als Menschen in der Grundsicherung. Wir wollen die Grundrente durchsetzen, und zwar ohne Bedürftigkeitsprüfung.
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Das wird insbesondere gerade vielen ostdeutschen Menschen helfen, die in der Zeit nach der Wiedervereinigung zum Teil zu extrem niedrigen Löhnen gearbeitet haben: als Frisörin, als Einzelhandelskauffrau oder als Gebäudereinigerin.
Ich fasse mal zusammen: Nach 30 Jahren Wiedervereinigung haben wir die Rentenüberleitung fast vollendet. Wir haben hoffentlich bald eine Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung. Abschließend will ich sagen: Mit ein wenig Glück und viel gutem Willen hier im Haus werden wir vielleicht auch was für die Rentnergruppen tun, die in der Rentenüberleitung hinten runtergefallen sind, Stichworte: Reichsbahner, in der DDR Geschiedene und Braunkohle. Das steht im Koalitionsvertrag.
Es gibt eine Arbeitsgruppe im BMAS. Im Dezember wird es Ergebnisse geben, auf die ich mich freue. Hier sagen manche ja immer: Können die nicht mal Ruhe geben? – Nee, können die nicht; denn die haben nämlich das eklatante Gefühl, dass ihre Lebensleistung nicht gewürdigt wird. Es geht auch hier nicht so sehr um das Geld. Diese Menschen fühlen sich nicht für voll genommen. Das lässt ihnen keine Ruhe, und es wird ihnen auch keine Ruhe lassen, wenn hier nicht endlich politisch gehandelt wird. Ich habe das mulmige Gefühl, dass der Aufschrei, wenn eine solche Ungerechtigkeit in Westdeutschland passiert wäre, wenn man beispielsweise den Steinkohlekumpeln Geld weggenommen hätte, bis hier nach Berlin deutlich spürbar zu hören gewesen wäre. Die Ostdeutschen brüllen leiser; aber sie leiden genauso. Es ist hier dringend geboten, dass wir handeln. Es lohnt sich auch, weil das nämlich zur Befriedung und zur Einigung dieses Landes beitragen würde.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Daniela Kolbe. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Johannes Vogel.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fast 30 Jahre nach der Wiedervereinigung sollte es keine unterschiedliche Rentenberechnung in Ost und West mehr geben. Ich glaube, da sind sich sehr viele in diesem Haus einig. Ich will mal etwas tun, was ich hier selten tue, nämlich die SPD, insbesondere die ehemalige Arbeits- und Sozialministerin Andrea Nahles, aber auch die Große Koalition in einer rentenpolitischen Frage loben. Darüber wurde lange in diesem Haus diskutiert. Auch wir als Freie Demokraten haben das lange gefordert. Dass Sie es in der letzten Legislaturperiode geschafft haben, hier mit dem Rentenüberleitungs-Abschlussgesetz eine Angleichung herbeizuführen, ist ein großer Schritt nach vorne für uns alle, und dafür geführt Ihnen Dank – ausnahmsweise – in der Rentenpolitik.
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Das, was Sie allerdings hier machen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei, ist eine wirklich krasse Irreführung der Bürgerinnen und Bürger und der deutschen Öffentlichkeit, und das gleich in zweifacher Hinsicht.
Erstens. Frau Kollegin Lötzsch, dass Sie sich hier ernsthaft hinstellen und alle möglichen Gründe für das noch ungleiche Rentensystem zwischen Ost und West anführen, außer den Kern zu erwähnen, nämlich den totalen wirtschaftlichen Zusammenbruch der DDR, ist irreführend, gerade von Ihnen von der Linken.
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Das muss man immer wieder klarmachen.
Zweitens. Sie tun so, als ob es heute nicht eine doppelte Ungleichbehandlung im Rentensystem geben würde. Das wird jetzt ein bisschen technisch; aber diese Rentenfragen sind eben kompliziert, und weil man immer wieder auf Bürgerinnen und Bürger trifft, denen das gar nicht bewusst ist, muss man es, glaube ich, einmal erklären. Ja, der Rentenwert, der dafür verantwortlich ist, wie jährlich die Renten berechnet werden, welche Höhe sie aktuell haben, lag und liegt heute in Ostdeutschland immer noch unterhalb des Rentenwertes in Westdeutschland.
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– Nicht mehr viel, aber noch ein bisschen. In der Tat. – Gleichzeitig liegt der Wert der Entgeltpunkte, also der Rentenanspruch, den man für jeden eingezahlten Euro erwirbt, in Ostdeutschland heute höher als in Westdeutschland. Warum? Weil wir als gesamtdeutsche Bevölkerung, weil die Menschen in Ost und West sehr viel Geld investiert haben, hart dafür gearbeitet haben, damit wir so für halbwegs auskömmliche Renten in Ostdeutschland sorgen konnten. Erst gestern hat uns die Deutsche Rentenversicherung noch mal aufgerechnet, wie viel das jährlich ausmacht, wie viel die Menschen in Ost und West heute gemeinsam, auch für Anspruchszeiten vor der Wiedervereinigung, vor 1990, jährlich dafür arbeiten, dass es hier nicht eine krasse Ungleichbehandlung gibt. Ich muss mich wirklich fragen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, ob es ein Zufall ist, dass Ihr rentenpolitischer Sprecher lieber auf einer Podiumsdiskussion ist als hier bei dieser Debatte. Der hätte diese Wahrheit nämlich nicht guten Gewissens verschwiegen.
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Natürlich ist es richtig, dass wir es jetzt endlich schaffen, beide Werte anzugleichen. Das ist Gleichbehandlung. Da kann ich mich der Kollegin Kolbe nur voll anschließen. Das ist die Gleichbehandlung, die die Menschen in Ost und West auch wollen.
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Aber was Sie hier vorschlagen, wäre eine neue krasse Ungleichbehandlung. Das würde ja dazu führen, dass der Rentenwert – die berechneten Renten – identisch ist, aber auch künftig ein gut verdienender Ingenieur in, sagen wir mal, Leipzig für jeden eingezahlten Euro mehr Rentenanspruch erwirbt als zum Beispiel eine Pflegekraft in Duisburg. Das ist schlicht unfair. Sie überwinden keine Spaltung; Sie schaffen neue Spaltung mit Ihrem Antrag, und das ist die falsche Politik.
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Kommen Sie mir nicht mit dem Lohngefälle als Begründung; denn anders als 1990 verläuft das Lohngefälle heute längst nicht mehr holzschnittartig zwischen Ost und West, sondern es gibt ein krasses Lohngefälle zwischen Potsdam und der Uckermark, genauso wie es ein Lohngefälle zwischen Frankfurt und der Eifel gibt. Das Einzige, was man dafür machen kann, das Richtige, was man dafür tun sollte, ist, dafür zu sorgen, dass sich alle Regionen in West wie Ost so gut entwickeln wie die, in denen es wirtschaftlich gut funktioniert, damit zum Beispiel in Ostdeutschland mehr Regionen profitieren, wie das heute Jena oder Leipzig schon tun. Das wäre vernünftige Politik und nicht das, was Sie hier vorschlagen, liebe Kollegen von den Linken.
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In der Rente gilt: Gleiches sollte gleich behandelt werden. Die Rente sollte in Ost und West gleich berechnet werden. Für jeden eingezahlten Euro sollte man auch das Gleiche rausbekommen. Das ist das Gegenteil von dem, was Sie hier beantragen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Johannes Vogel. – Nächster Redner: für Bündnis 90/Die Grünen Markus Kurth.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Die Rede von Frau Lötzsch war in mehrerlei Hinsicht sehr traurig, zum einen, weil es ihr überhaupt nicht um Rentenpolitik geht,
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sondern darum, ein Zerrbild von Spaltung zu schaffen und zu beschreiben, zum anderen, weil Sie hoffen, damit ein paar mehr Stimmen bei der kommenden Landtagswahl in Thüringen zu bekommen.
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Denn wovon reden wir? Wir reden davon, dass der Rentenwert Ost bei über 96 Prozent im Vergleich zum Rentenwert West liegt. Das ist noch ein ganz kleiner Unterschied, und der wird sich in den nächsten drei bis vier Jahren nicht nur wegen Ihres Gesetzes, sondern auch wegen der zurückliegenden guten Beschäftigungsentwicklung angeglichen haben. Das heißt also: Wir haben zwar noch eine gewisse Ungleichheit, eine kleine – uns wäre auch lieber, ihn würde man sofort aufheben; das will ich dazusagen –, aber sie ist keineswegs so groß, dass man hier in irgendeiner Weise Formulierungen benutzen muss, die, ich finde, wirklich schon fast an der Grenze des Hetzerischen sind, wie: Sie setzen auf eine biologische Lösung. Also, ich kritisiere die Große Koalition auch gerne hart und scharf; das wissen Sie. Aber ihr zu unterstellen, sie würde bei der Rentenpolitik Ost/West jetzt sehenden Auges darauf setzen und hoffen, dass ostdeutsche Rentnerinnen und Rentner sterben, damit man nicht mehr für sie zahlen muss, ist eine Grobheit, die sich hier eigentlich verbietet.
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Es ist ja auch falsch. Allein im Jahr 2017 sind aufgrund dieser Höherwertung, die schon mehrfach zur Sprache gekommen ist, rund 29 Milliarden Euro an ostdeutsche Rentnerinnen und Rentner geflossen: Rentenleistungen, die durch Beitragszahlungen nicht gedeckt sind, da die damaligen DDR-Löhne der heutigen Rentner bei der Rentenberechnung zum Teil dreifach berücksichtigt wurden, und das auch zu Recht. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass insbesondere die Zusammenführung der Rentenversicherung ein großer Solidarakt der westdeutschen Beitragszahlerinnen und Beitragszahler war. Das gehört zur Wahrheit, zu den beiden Seiten der Medaille dazu.
({3})
In den Jahren nach der Wiedervereinigung war die Aufwertung der ostdeutschen Löhne auch durchaus gerechtfertigt; denn das Lohnniveau betrug 1992 im Osten nur etwa 42 Prozent des Westniveaus. Das war also ein riesiger Unterschied. Darum war auch die Kompensation, der Ausgleich durch eine Höherwertung gerechtfertigt.
Wo stehen wir heute? Ich habe das von dieser Stelle schon mehrfach gesagt, aber Sie scheinen es sich einfach nicht zu merken. In Jena beträgt das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf über 40 000 Euro. In Dortmund, in meinem Wahlkreis, liegt es bei gut 36 000 Euro. In Herne, im nördlichen Ruhrgebiet, in einer strukturschwachen Region ist das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf etwa 23 000 Euro, also nur fast halb so hoch wie in Jena. Es gibt in Deutschland also Unterschiede in Ost und West. Es ist nicht mehr gerechtfertigt, das an der früheren Grenze zur DDR festzumachen.
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Bei der Grundsicherung im Alter – da wird in Zukunft einiges auf uns zukommen, auch aufgrund der Phasen nach der Wiedervereinigung – ist der Bezug in Westdeutschland im Moment höher als im Osten. Schauen Sie sich das hier an. Ich kann Ihnen das auf dieser mitgebrachten Karte zeigen. Der Grundsicherungsbezug im Alter ist am niedrigsten in Thüringen und in Sachsen und am höchsten zum Beispiel in Berlin und im Ruhrgebiet.
Frau Präsidentin, ich glaube, Frau Lötzsch möchte mir eine Zwischenfrage stellen.
Erlauben Sie die Zwischenfrage oder ‑bemerkung?
({0})
Ja, gerne.
Gut.
Lieber Kollege Kurth, Sie halten eine sehr emotionale Rede, haben aber bewiesen, dass Sie meiner Rede überhaupt nicht zugehört haben. Gerade was die Grundsicherungsfrage betrifft, habe ich explizit darauf hingewiesen, dass es im Augenblick weniger Grundsicherungsempfänger im Osten gibt, dass aber viele Studien, zum Beispiel vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, darauf hingewiesen haben, dass sich die Anzahl im Osten in Zukunft verdoppeln wird. Wir arbeiten hier, denke ich, nicht für die Vergangenheit, sondern vor allen Dingen für die Zukunft. Und wir haben eine Verpflichtung – das ist eine Zwischenbemerkung; Sie müssen darauf nicht antworten, wenn Sie nicht wollen, können Sie aber natürlich –, für die Zukunft der Rente zu arbeiten, statt zu betrachten, wie es heute ist. Unsere Verantwortung als Politikerinnen und Politiker – so verstehe ich das jedenfalls – geht über den Tag hinaus. Und gerade die Rentenfrage geht über den Tag hinaus.
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Frau Lötzsch, selbstverständlich haben wir die Verpflichtung, in die Zukunft zu blicken. Mir sind diese Prognosen zum Grundsicherungsbezug auch durchaus bekannt.
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Darum schlägt meine Fraktion das Instrument der Garantierente vor, mit dem die Rente von langjährig Versicherten deutlich über Grundsicherungsniveau aufgewertet wird, und zwar in Ost und West gleichermaßen. Es ist also ein vereinigendes Element gegen Altersarmut.
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In Ansätzen hat ja auch die Große Koalition, wenngleich nicht so schön wie wir mit der Garantierente, zumindest ein Schrittchen in Richtung Grundrente gemacht. Das heißt also, es geht nicht darum, aufgrund von regionalen Zugehörigkeiten in Ost und West Unterschiede zu zementieren oder sogar aufzubauen. Vielmehr geht es darum, sich auf Instrumente für die Zukunft zu besinnen, die in Deutschland gleiche Lebensverhältnisse herstellen. Das ist das Entscheidende.
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Ich hatte gerade die Bruttoinlandsprodukte genannt und verglichen. Ich könnte dasselbe auch für die Verdienste machen: Durchschnittsentgelte in ausgewählten Kommunen. Ich habe aber nicht mehr viel Redezeit, deshalb stelle ich das auf meiner Seite online, dann können Sie das nachlesen.
Ich glaube nicht – das will ich abschließend an dieser Stelle sagen –, dass die Strategie, die Sie immer wieder und offensichtlich verfolgen – Sie planen das auch wieder für die nächste Sitzungswoche –, nämlich in besonders aggressiver und verzerrender Weise das Bild vom benachteiligten, armen, zu kurz gekommenen Ostdeutschen zu zeichnen, einschlagen wird. Ich glaube nicht, dass sich das für Sie auszahlt. Dass diese Strategie nicht aufgeht, haben die zurückliegenden Landtagswahlen gezeigt.
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Ich befürchte, dass möglicherweise ganz andere – Herr Straubinger hat schon darauf hingewiesen –, die Sie und wir hier im Parlament nicht wollen, jedenfalls nicht in einer signifikanten Stärke, von dem profitieren, was Sie hier veranstalten. Sie sollten wirklich noch einmal in sich gehen und überlegen, ob Sie strategisch mit der Rhetorik, die Sie hier betreiben, wirklich auf der Höhe sind.
Danke.
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Vielen herzlichen Dank, Markus Kurth. – Nächster Redner in der Debatte: Peter Weiß für die CDU/CSU-Fraktion.
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Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, 30 Jahre nach dem Mauerfall – nächstes Jahr feiern wir 30 Jahre Wiedervereinigung – ist es höchste Zeit, dass auch im Rentenrecht in Ost und West für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, für alle, die in das Rentensystem einzahlen, das gleiche Recht zur Anwendung kommt. Es muss der Grundsatz gelten: Jeder Euro, der in die Rente eingezahlt wird, ist das Gleiche wert. Das wollen wir durchsetzen.
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In der letzten Legislaturperiode, ebenfalls in einer Großen Koalition – das ist schon erwähnt worden –, haben wir ein Gesetz beschlossen, damit diese Angleichung schnell vonstattengeht. Das bedeutet übrigens, liebe Rentnerinnen und Rentner im Osten, dass auch in den kommenden Jahren zum 1. Juli Ihre Rente um einen höheren Prozentsatz ansteigen wird als im Westen, damit wir es möglichst schnell schaffen, dass der Rentenwert in Ost und West gleich ist und somit auch die Renteneinheit in Ost und West verwirklicht wird. Ich glaube, das ist ein großer Erfolg, den wir mit unserem gemeinsamen Gesetz zur Rentenanpassung in Ost und West in Gang gesetzt haben.
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Umso mehr bin ich erstaunt, eigentlich entsetzt, dass Die Linke heute einen Antrag ins Parlament einbringt, der nichts anderes bedeutet, als dass Ost und West in Zukunft in Sachen Rentenrecht gespalten sein soll. Sprich, Die Linke stellt einen Antrag, eine neue Rentenmauer zwischen Ost und West zu bauen. Das ist die Wahrheit, die die Menschen in Deutschland im Westen und Osten zur Kenntnis nehmen sollten. Wir wollen keine neue Rentenmauer, die Deutschland teilt, sondern wir wollen ein einheitliches Rentenrecht für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland.
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Um noch einmal auf die Vergangenheit zu sprechen zu kommen: Für die Rentnerinnen und Rentner im Osten Deutschlands war die Wiedervereinigung ein großer Gewinn. Hätten wir damals die Renten eins zu eins umgestellt, würden alle Rentnerinnen und Rentner im Osten am Hungertuch nagen. Es war eine großartige Solidarleistung der Deutschen, durch eine Sonderregelung im Rentenrecht dafür zu sorgen, dass aus den niedrigen Renten und den niedrigen Löhnen im Osten doch noch etwas mehr Rente herausgekommen ist, als eine Eins-zu-eins-Anpassung ergeben hätte. Ich finde, wir sollten den Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern, gerade auch den Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern im Westen, dankbar sein, dass sie diese großartige Solidarleistung gestemmt haben.
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Was würde diese neue Spaltung Deutschlands, die von den Linken beantragt wird, bedeuten? Ich bin dem Kollegen Markus Kurth ausdrücklich dankbar für die Beispiele, die er genannt hat. Ich will weitere nennen. Ja, es gibt Unterschiede in Deutschland, zum Beispiel verdienen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Schleswig-Holstein nur 75 Prozent dessen, was die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in meinem Bundesland Baden-Württemberg verdienen. Das liegt zum Beispiel auch an der unterschiedlichen Wirtschaftsstruktur. Noch nie ist jemand auf die Idee gekommen, ein eigenes Rentenrecht für Baden-Württemberg oder ein eigenes Rentenrecht für Schleswig-Holstein zu beantragen.
Oder kommen wir zum Thema Mieten. In Düsseldorf und München haben wir ein Mietniveau, bei dem der Rentner schwer daran zu knapsen hat, die Miete zu bezahlen. Das ist im Osten Brandenburgs oder im Bayerischen Wald schon anders. Noch nie ist jemand auf die Idee gekommen, ein unterschiedliches Rentenrecht für Düsseldorf, München, den Bayerischen Wald oder Ostbrandenburg zu beantragen.
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Ein Weiteres. Es gibt eine ganze Reihe von Berufen, in denen ich als Arbeitnehmer im Osten wie im Westen das gleiche Gehalt beziehen kann. Wenn das neue Spaltungsgesetz der Linken wirklich umgesetzt würde, würde es bedeuten, dass jemand, der im Westen lebt, eine geringere Rente als jemand im Osten bekommt. Da mag sich der Arbeitnehmer im Osten freuen; aber wir hätten selbstverständlich einen Aufstand der Rentnerinnen und Rentner, weil kein Mensch kapiert,
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dass man bei gleichem Lohn, bei gleicher Einzahlung in die Rentenversicherung unterschiedliche Renten bekommen soll.
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– Doch, so ist es.
Deswegen eine klare Ansage: Es ist gut, dass wir in der letzten Legislaturperiode das Gesetz zur Renteneinheit geschaffen haben und dass wir in wenigen Jahren tatsächlich den gleichen Rentenwert im Osten wie im Westen haben. Und dass wir Unterschiede in Deutschland haben, was die Lebenshaltungskosten anbelangt, was die Einkommensmöglichkeiten anbelangt, was die Industrie- und Wirtschaftsstruktur anbelangt, ja, das ist eine Realität. Deswegen auch unsere Idee, mehr zu tun für gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Deutschland. Das ist ja kein Ost-West-Problem, das ist auch kein Nord-Süd-Problem; es betrifft uns alle. Aber im Rentenrecht sollten wir eines durchsetzen: Gleiches Recht für alle und nicht eine neue Rentenmauer à la links.
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Der nächste Redner: für die AfD-Fraktion der Kollege Jürgen Pohl.
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Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Präsident! Sprechen wir heute mal nicht übers Klima, sondern zur Abwechslung über die Rente. Das ist gut so; denn die Rente ist ein Thema. Sie ist das wohl wichtigste Thema der kommenden Jahre – dies, weil dieses Land jedes Jahr ein Millionenheer an Armutsrentnern produziert, weil die Blockparteien von CDU, SPD, FDP und Grünen die Menschen bewusst in die soziale Not geführt haben.
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Das glauben Sie nicht, liebe Abgeordnete?
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– Hören Sie doch einfach mal zu. Quatschen Sie nicht dazwischen. Schauen Sie doch einfach mal hoch; da oben schauen Ihre Wähler zu. Die wollen das sehen, auch die von der SPD. Wir kommen noch dahin.
Ich sage Ihnen: Die Rente ist das Ergebnis Ihrer Wirtschafts- und Sozialpolitik in 30 Jahren Einheit. Die soziale Not von Millionen Alten hält Ihnen den Spiegel vor. Wenn Sie da hineinschauen, dann blicken Sie in den Abgrund von wirtschafts- und sozialpolitischer Verantwortungslosigkeit.
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Altersarmut ist das Ergebnis Ihrer Politik.
Und nun wollen die Genossinnen und Genossen zu meiner Linken umgehend die Ostrenten an das Westniveau angleichen. Gegen eine Rentenerhöhung im Osten habe ich überhaupt nichts einzuwenden. Aber ich frage: Warum muss das erst jetzt von den Linken kommen? Die Linken stehen in Regierungsverantwortung. Der Regierungschef in Thüringen, was macht der denn für die Schäfchen in seinem Land?
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Was macht der Herr Ramelow? Er macht nichts.
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Er kann es nicht tun, weil er die Ostdeutschen nicht versteht.
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Ich sage Ihnen eins: Es reicht nicht aus, hier mit einem Antifa-Abzeichen rumzulaufen; nein, man muss sich um seine Wähler kümmern. Das ist das, was Sie nicht können.
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Die Thüringer Kollegin Renner hat es gestern bewiesen: Sie sind nicht in der Lage, sich mit wichtigen Themen auseinanderzusetzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen – ich habe nicht so viel Zeit –, heute, 30 Jahre nach der Einheit, liegen die Löhne im Osten im Durchschnitt immer noch gut 21 Prozent unter dem Westniveau. Das wird hier heute vergessen.
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Wer im Osten arbeitet, erhält eben nicht nur weniger Lohn für die gleiche Arbeit; er wird auch eine deutlich niedrigere Rente erhalten. Das gilt umso mehr, wenn wir den Höherwertungsfaktor abschaffen. Die Ostrente bleibt damit auf lange Zeit eine Rente zweiter Klasse.
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Den SPD-Wählern unter Ihnen, den Menschen draußen an den Fernsehschirmen, sei noch mal gesagt, dass Frau Kolbe erklärt hat: Die SPD steht nicht für die Rentenangleichung und steht nicht für die Beibehaltung des Höherwertungsfaktors.
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Liebe Ost- und Mitteldeutsche, ich sage Ihnen: Wir waren nicht willkommen; wir waren nur billige Arbeitskräfte.
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Obwohl sie Gleiches leisten, bekommen meine Brüder und Schwestern nicht die Rente der westdeutschen Brüder und Schwestern. Meine ostdeutschen Freunde,
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ich muss Ihnen sagen: Auf diese Parteien, die die Kiste in den Dreck gefahren haben, brauchen Sie nicht zu hoffen.
Danke schön.
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Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Dr. Karamba Diaby.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In meiner Heimat Halle an der Saale lebt eine Frau, die über 70 Jahre alt ist. Sie hat über 35 Jahre als Buchbinderin gearbeitet. Sie könnte jetzt die Zeit mit ihrem Mann, der Lackierer war, genießen. Da sie nur 540 Euro Rente bekommt und ihr Mann nur 720 Euro Rente, ist das Genießen des Lebens leider nicht so leicht. Dabei haben beide ihr ganzes Leben gearbeitet. Das finde ich ungerecht.
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Uns allen ist klar, dass wir mehr für die Rentnerinnen und Rentner machen müssen. Mit dem Renten-Überleitungsgesetz sind zum Januar 1992 für einen Übergangszeitraum abweichende Berechnungsgrößen entstanden. Das lag am Lohnniveau, das damals vorherrschte. Wir haben mit einem Rentenwert von 10,79 Euro angefangen und liegen heute bei 31,89 Euro. Dennoch liegen die Ostrenten noch nicht auf Westniveau. Das ist unerträglich.
Ich bin deshalb froh darüber, dass wir die Angleichung in sieben Schritten bis 2024 vollenden werden. Dann gibt es einen einheitlichen Rentenwert. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass man sagt: Im Gegenzug wird der Höherwertungsfaktor, mit dem heute die Ostrenten so aufgestockt werden, als wäre die Lohngleichheit zwischen Ost und West bereits heute erreicht, schrittweise zurückgeführt.
Sehr geehrte Damen und Herren, keine Frage: Die Erwerbsbiografien unterscheiden sich in Ost und West. Aufgrund der massiven wirtschaftlichen Umbrüche nach der Wende waren die ostdeutschen Kolleginnen und Kollegen stärker von Arbeitslosigkeit betroffen. Sie mussten häufiger den Job wechseln, mehr Umschulungen machen. Auch meine Frau und ich waren davon betroffen. Ich kenne viele Geschichten. Als ich nach der Wende meine Promotion über die Schwermetallbelastung in halleschen Schrebergärten geschrieben habe, kam ich über den Gartenzaun hinweg mit vielen von ihnen ins Gespräch, vor allem über die Treuhand. Das Ergebnis: Die Treuhand hat einen aggressiven Kapitalismus betrieben und hat kaum Rücksicht genommen.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir können die Fehler von früher nicht rückgängig machen. Doch wir können heute politische Ideen nutzen, die das Leben von Millionen von Menschen verbessern. Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist eins klar: Wir werden an der Grundrente festhalten.
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Denn wir wollen die Lebensleistungen von allen Menschen würdigen. Wer sein ganzes Leben gearbeitet hat, der muss von seiner Rente leben können. Das ist, wie eins und eins zusammenzurechnen. In Ostdeutschland würde alleine die Grundrente sofort 750 000 Frauen und Männern helfen. Deutschlandweit würde die Grundrente 3,5 Millionen Menschen ein besseres Leben ermöglichen und ihre Lebensleistung würdigen. Wir dürfen nicht mehr warten, meine Damen und Herren. Unsere Aufgabe als Politikerinnen und Politiker ist es, nicht nur zu schauen und auf Probleme hinzuweisen, sondern zu handeln.
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Meine Damen und Herren, das sind wir nicht nur der 70-jährigen Buchbinderin und ihrem Ehemann aus Halle schuldig, sondern allen Menschen, deren Lebensleistungen nicht anerkannt werden. Deshalb sage ich: Grundrente jetzt!
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Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Till Mansmann.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Die Renten in Ost- und Westdeutschland hatten und haben aus nachvollziehbaren Gründen eine unterschiedliche Dynamik. Mit ein wenig Distanz und Vernunft betrachtet: Gerade bei der Synchronisierung der Renten in beiden Teilen Deutschlands wurde und wird bis heute bei der Mammutaufgabe deutsche Einheit eine wirklich gute Arbeit geleistet. Frau Kollegin Lötzsch, man muss an dieser Stelle doch mal klar sagen: Eine Unordnung ist meistens viel schneller angerichtet, als man nachher zum Aufräumen braucht. Die SED, Ihre Partei, hat in der DDR 40 Jahre lang genau diese Unordnung angerichtet, die Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher später aufgeräumt haben.
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Wir sind mit 2025, wenn wir die Renteneinheit in Deutschland geschafft haben, schneller als Sie mit Ihrer Unordnung.
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Das ist eine hervorragende Leistung.
Mein Kollege Johannes Vogel hat Ihnen die groben Fehler, die Sie mit Ihrem Konzept machen, ausreichend dargelegt. Ich möchte die knappe Zeit hier nutzen, um auf einige kleinere Aspekte hinzuweisen, die Sie in Ihrem Antrag aufwerfen.
So werfen Sie zum Beispiel absolute Armut und relative Armutsgefährdung wie immer total durcheinander. Das kann man so nicht stehen lassen. Wer von falschen Voraussetzungen ausgeht, kommt logisch meist zum falschen Schluss.
Die Quote der Armutsgefährdung hat sich in den neuen Bundesländern erfreulich entwickelt. Der von Ihnen vorgeschlagene Weg setzt einseitig auf staatliche Maßnahmen. Das wird uns aber nicht weiterbringen. Was wir brauchen, ist etwas ganz anderes. Der Osten Deutschlands ist nach vielen schwierigen Jahren in einigen Gebieten bewundernswert dynamisch: in Leipzig, in Dresden, im Umland von Berlin. Diese Entwicklung müssen wir stärken und in die Fläche tragen – darauf ist schon viel hingewiesen worden –, auch nach Westdeutschland, wo mittlerweile ähnlich strukturschwache Gebiete wie im Osten existieren.
Wir brauchen weniger Bürokratie bei Neugründungen von Unternehmen. Wir können statt mit steuerlichen Mehrbelastungen, wie Sie sie immer vorschlagen, mit Entlastung von denen beginnen, die mit Kraft und Ideen neue Firmen gründen. Das sind die Leute, die Arbeitsplätze schaffen und das Steueraufkommen der Zukunft vorbereiten. Genau dies brauchen wir anstelle der von Ihnen immer wieder vorgelegten Konzepte.
Einen Punkt will ich noch ansprechen. Sie fordern wieder einen Mindestlohn von 12 Euro. Es ist wirklich erstaunlich. Im Wahlkampf 2017, als wir Freie Demokraten uns auf den Wiedereinzug vorbereitet haben, habe ich das auf einer Podiumsdiskussion mit einer Kollegin von den Sozialdemokraten, die heute Ministerin ist, diskutiert. Sie hat mir gesagt, um dieses Thema bräuchte ich mich gar nicht zu kümmern, weil es ohnehin ein Expertengremium festsetzen würde. Das wäre doch keine Aufgabe des Parlaments. Und dann frage ich mich, warum ich das Thema nun, glaube ich, zum dritten Mal in den letzten zwei Jahren auf den Tisch bekommen habe. Hören Sie doch einfach damit auf. Das ist einfach die falsche Systematik. Das ist nämlich genau die Systematik, mit der Sie 40 Jahre lang die DDR in die Grütze geritten haben.
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Kurz zusammengefasst: Es ist einfach unverantwortlich, wenn wir uns immer nur auf staatliche Maßnahmen verlassen. Wir müssen schauen, wie wir die Wirtschaft auf den Stand bringen, dass wir die Einkommen erzeugen können, die nachher für gute Renten sorgen. Wie gesagt, 2025 haben wir die Renteneinheit erreicht. Freuen wir uns auf diesen Augenblick.
Vielen Dank.
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Der Kollege Albert Weiler ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren auf der Tribüne! Werte Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich jetzt mit dem Sachlichen anfange, werde ich etwas Ungewöhnliches, aber Notwendiges tun. Ich setze mir eine Kippa auf den Kopf und werbe dafür, dass in Deutschland, speziell in Berlin, keine Demonstrationen mehr gegen Israel und für Antisemitismus stattfinden.
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Das hat in den letzten zwei Tagen stattgefunden, und ich glaube oder hoffe sehr, dass es das letzte Mal war.
Ich komme jetzt zum eigentlichen Thema. Meine Damen und Herren von den Linken, ich würde mir wünschen, dass Sie irgendwann mal inhaltlich neue Anträge stellen würden. Das ist heute schon ein paarmal gesagt worden. Ich stelle fest, dass immer wieder gleiche Anträge kommen, in denen Gleiches erzählt wird. Die Anträge werden dadurch nicht besser, wenn sie zum zehnten Mal gestellt werden. Trotzdem werde ich mir erlauben, Ihnen den Sachverhalt nochmals zu erklären, und hoffe auf baldiges Verständnis.
Der Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit, der in dieser Woche von der Bundesregierung vorgestellt wurde, zeigt insgesamt eine positive gesamtdeutsche Entwicklung; auch das wurde heute schon gesagt. Dazu gehört, dass wir mit dem bereits verabschiedeten Rentenüberleitungs-Abschlussgesetz eine Angleichung der Ostrenten an Westniveau festgelegt haben. Diese Angleichung erfolgt schrittweise bereits seit 2018. Wir halten unser Versprechen und schaffen Rentengerechtigkeit in Ost und West. Davon werden insgesamt 6 Millionen Menschen profitieren. Zu diesem notwendigen Schritt gehört allerdings auch, dass der Umrechnungsfaktor, der jetzt noch den ostdeutschen Rentner besserstellt, im gleichen Zeitraum langsam gesenkt wird. Dieser Umrechnungsfaktor gleicht seit Jahren schon das niedrige Lohnniveau in Ostdeutschland an. Ich sehe natürlich das Problem, dass kleinere Löhne im Alter auch zu kleineren Renten führen. Aber das, meine Damen und Herren, ist in Ost und in West gleich.
Aus diesen Gründen müssen wir uns für eine Erhöhung der Löhne im Rahmen der Sozialpartnerschaft starkmachen. Ich persönlich ermutige seit Jahren sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer, die Tarifbindung zu stärken. Die Sozialpartnerschaft in Deutschland ist ein Erfolgsmodell, weil hier im Dialog die Ansprüche der Arbeitnehmer und die wirtschaftliche Stärke der Unternehmen im fairen Dialog miteinander abgewogen werden. Aus diesem Grund bin ich auch nicht für eine staatlich verordnete Mindestlohnregelung. Im Grundgesetz ist die Tarifautonomie festgeschrieben. Wir als Gesetzgeber dürfen diese nicht hintergehen. Die Einführung des allgemeinen Mindestlohnes war eine sorgfältig geprüfte Ausnahme, aber es war eine Ausnahme. Seitdem ist die eingesetzte Mindestlohnkommission für eine Anpassung des allgemeinen Mindestlohnes zuständig, und das ist auch richtig so. Ich möchte in diesem Zusammenhang auch noch darauf hinweisen, dass in vielen Bereichen die Branchentarifverträge häufig bereits höhere Mindestlöhne vorsehen. Ich mache mich deshalb nachdrücklich nochmals dafür stark, dass auch in Ostdeutschland Tarifbindung stattfindet und die Menschen sich tariflich orientieren.
Als Thüringer Bundestagsabgeordneter setze ich mich neben der sozialen Einheit auch für eine Vollendung der wirtschaftlichen Einheit ein. Die ostdeutsche Wirtschaft wächst, hat aber sicherlich immer noch Defizite. Damit die Wirtschaft in Ostdeutschland international wettbewerbsfähig bleibt, brauchen wir mehr Investitionen in Bildung, Innovationen und Infrastruktur, aber keine Erhöhung der Sozialausgaben. Eine starke Wirtschaft bildet die Grundlage für höhere Löhne und bessere Renten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, Sie stellen hier kurz vor den Landtagswahlen in Thüringen riesige Forderungen auf,
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ohne auch nur einen Gedanken an die Finanzierung und die Nachhaltigkeit Ihres Antrages zu verschwenden.
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Sie spielen hier Junge und Alte, Ostler und Westler, Arbeitnehmer und Arbeitgeber gegeneinander aus.
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Sie erreichen damit eine Spaltung der Gesellschaft und wollen sich auch noch für diese Spaltung starkmachen. Wir wollen das Gegenteil, nämlich die Vollendung der deutschen Einheit.
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Versuchen Sie es doch mal mit Ehrlichkeit und ohne Populismus. Dann rücken wir sicher auch näher zusammen.
Danke schön.
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Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt: der Kollege Frank Heinrich, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Zuhörer! Am Ende einer Debatte hat man Vor- und Nachteile. Vorteil ist, man hat schon viel gelernt. Nachteil ist, dass das meiste, was man selber sagen wollte, schon gesagt worden ist. Ich versuche, es ein bisschen zusammenzufassen. Letztlich geht es um drei Fragen: Woher kommen wir in dieser Systematik? Wo stehen wir gerade? Und wo wollen wir hin?
Die erste Frage. Wir kommen von – vor 30 Jahren – sehr unterschiedlichen Versorgungssystemen in BRD und DDR. Die Leistungen wurden grundlegend unterschiedlich bewertet, berechnet. Das DDR-Rentensystem war ein Grundversorgungssystem mit festen Altersgrenzen und war nur gering an Entgelten orientiert. Gerade mal 30 bis 40 Prozent des durchschnittlichen Arbeitseinkommens wurden an die Rentner ausbezahlt. Auch Geringverdiener konnten eine Rente ganz nahe der Höhe der Durchschnittsrente bekommen. 1992 wurde es dann in das gesamtdeutsche Rentenversicherungssystem überführt, was sehr komplexe und komplizierte Mathematik zum Hintergrund hatte. 27 Zusatz- und 4 Versorgungssysteme der DDR wurden durch das Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz in die gesamtdeutsche Rentenversicherung eingefügt.
Wo stehen wir heute? Vorhin haben wir den Bericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit debattiert, auch mit unterschiedlichen Konnotationen – natürlich. Die Wirtschaftskraft Ostdeutschlands ist von 43 Prozent vor 30 Jahren im Jahre 2018 auf 75 Prozent des westdeutschen Niveaus gestiegen; das ist nahezu der Durchschnitt in der Europäischen Union. Bruttolöhne und verfügbare Einkommen der privaten Haushalte erreichen heute etwa 75 Prozent des Westniveaus, womit wir uns am Schluss natürlich nicht zufriedengeben. Das bestreitet natürlich keiner; die Kollegin Kolbe hat es bereits gesagt.
Der Abstand reduziert sich noch mal erheblich – zumindest in einigen Bereichen – unter Berücksichtigung unterschiedlicher durchschnittlicher Lebenshaltungskosten. Da sind natürlich noch Herausforderungen, zum Beispiel die Unterschiede in der Wirtschaftskraft. Dies liegt – wir haben es bereits gehört – an der Kleinteiligkeit der ostdeutschen Wirtschaft, am Mangel an Konzernzentralen im Osten. Natürlich kann man das bemitleiden. Dort fehlen große Unternehmen. Die Siedlungsstruktur ist eine andere. Es gibt kein einziges ostdeutsches Unternehmen im Börsenleitindex DAX. Kein großes Unternehmen hat seine Zentrale in Ostdeutschland. Daran müssen wir arbeiten, und wir sind dabei, daran zu arbeiten. Aber dies gleich, wie Sie, Frau Lötzsch, es getan haben, mit der Zeit Thatchers zu vergleichen, finde ich nicht nur einen Äpfel-mit-Birnen-Vergleich, das ist schon jenseits von Mathematik.
Wohin wollen wir? Gleiches Rentenrecht in Ost und West. Dafür ist der Fahrplan schon festgesetzt; mehrere Kollegen haben das erklärt. Am 1. Juli 2024 wird es vereinheitlicht sein. Aber es gibt zwei Seiten der Mathematikaufgabe „Renten“. Parallel wird die Hochwertung der Verdienste im Osten stufenweise reduziert. Aha! Wie mein Kollege Vogel muss auch ich hin und wieder erklären, was das offensichtlich bedeutet. In meinem Wahlkreis bekommt man einen Rentenpunkt um 3 000 Euro billiger als in dem Wahlkreis meiner Partnerstadt Düsseldorf. Dort mag der eine oder andere ziemlich sauer werden, wenn das auf einmal eingestampft wird. Wir werden der Mathematik des ausgeklügelten Herangehens an eine Angleichung nicht mehr gerecht. Es entstehen neue Ungerechtigkeiten, sozialer Sprengstoff – den Sie dann wahrscheinlich wieder nutzen werden –, eine enorme Steuerlast.
Wenn ich alles zusammenfasse, kann ich sagen: In den Jahren nach der Wende war dies letztlich die wahrscheinlich größte sozialpolitische Leistung der deutschen Einheit; mein Kollege Straubinger hat darauf hingewiesen. Wenn wir die gerade von mir genannten 3 000 Euro einfach in den Skat drücken würden, dann wäre es tatsächlich so, als würde man, wie Herr Straubinger gesagt hat, die „Axt an unser demokratisches Staatsgefüge“ legen, oder es wäre, wie mein Kollege von der FDP gesagt hat, eine „neue krasse Ungleichbehandlung“, und dafür sind wir nicht zu haben.
Danke für die geschätzte Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Ich schließe die Aussprache.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir erleben derzeit wichtige Wochen für die deutsche Politik. Nicht nur beraten wir in diesem Hohen Hause seit dem 10. September den Bundeshaushalt 2020, sondern nach der Einigung des Klimakabinetts am letzten Freitag wird die Bundesregierung nun in der kommenden Woche den Ergänzungshaushalt mit dem EKF-Wirtschaftsplan beschließen, sodass wir dann die Vorlagen für den Bundeshaushalt komplett haben und in die Beratungen einsteigen werden. Neben dem Ausbau des schienengebundenen und des metropolenbezogenen Verkehrs beträgt das Volumen des Klimapaktes allein in den kommenden vier Jahren bis 2023 54 Milliarden Euro.
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Auch in der Steuerpolitik ist einiges auf dem Weg. Wir wollen das Steuerrecht gerechter machen. Deshalb setzen wir den Share Deals zur Umgehung der Grunderwerbsteuer Schranken. Darüber werden wir nachher ja noch vertieft diskutieren. Ebenfalls wollen wir Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen, die Mitte der Gesellschaft, entlasten – mit Kindergeld und weniger Steuern für diese Einkommensgruppen.
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Zur Steuergerechtigkeit gehört aber auch, dass finanzielle Belastungen fair verteilt werden. Wir haben in dieser Woche viel über den Stand der deutschen Einheit diskutiert, und wir wissen, dass hier noch weitere Anstrengungen notwendig sind. Wir halten es aber für richtig, das Gros der Bevölkerung vom Solidaritätszuschlag zu entlasten, und wir halten es für absolut angemessen, bei wirklichen Spitzenverdienern weiterhin den Solidaritätszuschlag zu erheben.
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Ich bin auch der Meinung – wie sich ebenfalls der Bundesfinanzminister vorgestern in der Regierungsbefragung geäußert hat –, dass wir über weitere Maßnahmen wie beispielsweise die Vermögensteuer offen nachdenken sollten.
Wir wollen zudem, dass das Steuerrecht auch wirklich steuert und unser großes gemeinsames Ziel unterstützt, den Klimawandel einzudämmen. Hierzu leistet das Gesetz zur weiteren steuerlichen Förderung der Elektromobilität und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften, welches wir gerade diskutieren, einen wichtigen Beitrag. Das, was sonst schlicht das Jahressteuergesetz ist, macht schon im Namen sein Hauptanliegen deutlich: Wir wollen die E-Mobilität deutlich besser fördern.
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Die steuerliche Förderung von Elektroautos und Plug-in-Hybriden als Dienstwagen lassen wir nicht 2021 enden, sondern verlängern sie bis mindestens Ende 2030. So schaffen wir Planungssicherheit und Anreize für langfristige Investitionen. Wir wollen auch die Steuerbefreiung für das Aufladen von E-Autos im Betrieb und für die Bereitstellung von Dienstfahrrädern verlängern und bis 2030 laufen lassen.
Der Hinweis sei mir erlaubt: Wir haben in der Vergangenheit die Erfahrung gemacht, dass die steuerliche Förderung von Fahrzeugen allein nichts nützt. Deswegen ist im Klimapaket vorgesehen, massiv in die Ladeinfrastruktur zu investieren.
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Wir schauen aber nicht nur auf den motorisierten Individualverkehr, sondern wir wollen auch Menschen, die andere Verkehrsmittel nutzen, besser unterstützen. Deswegen wollen wir, dass Jobtickets ab 2020 pauschal besteuert werden, ohne dass dies auf die Entfernungspauschale angerechnet wird.
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Klar ist: Wir müssen gerade im wichtigen Sektor Verkehr die CO2-Bilanz deutlich verbessern. Ich glaube, dass wir mit diesem Gesetz dazu einen Beitrag leisten. Wichtig ist, dass wir bei allen Maßnahmen des Klimaschutzes dafür sorgen, dass wir die Akzeptanz, die wir jetzt gerade erreicht haben, auch wirklich dauerhaft und langfristig sichern. Deswegen müssen wir hier sehr sensibel vorgehen – „Fördern und Fordern“, das klassische Mantra, das wir ja regelmäßig bemühen.
Ein weiteres politisches Megathema ist der bezahlbare Wohnraum; auch dieses Thema greifen wir im Jahressteuergesetz auf. Konkret möchte ich zwei Maßnahmen nennen: Zum einen diskutieren wir darüber, wie wir alternative Wohnmodelle, beispielsweise „Wohnen für Hilfe“, unter bestimmten Bedingungen, die wir genau definieren müssen, steuerfrei stellen können. Zum anderen senken wir die Steuerbelastungen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die in einer Mietwohnung ihres Arbeitgebers wohnen.
Einen letzten Punkt aus dem Jahressteuergesetz möchte ich noch aufgreifen: die steuerliche Gleichbehandlung von elektronischen Veröffentlichungen und Printprodukten. Künftig gilt auch für E-Books und E-Paper der reduzierte Mehrwertsteuersatz. Und nicht nur das: Diese Begünstigung kann nun auch auf den umfassenden Zugang zu Datenbanken, die ausschließlich elektronische Bücher, Zeitungen, Zeitschriften oder Teile davon zur Verfügung stellen, ausgeweitet werden.
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– Ja, da kann man gerne klatschen. – Das war zum Zeitpunkt der Erstellung des Regierungsentwurfes noch nicht möglich bzw. noch nicht geklärt. Wir würden uns doch sehr freuen, wenn das noch aufgegriffen würde. Denn ich sage ganz deutlich: In Zeiten, in denen in den sogenannten sozialen Medien viel Fake News verbreitet werden, ist das, glaube ich, ein wichtiger Beitrag, um die Medien als vierte Gewalt zu stärken und zu ermöglichen, dass sie im Zeitalter der Digitalisierung ihre Rolle ausfüllen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Ich freue mich auf die weiteren Beratungen.
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Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. – Der nächste Redner ist für AfD-Fraktion der Kollege Kay Gottschalk.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste! Heute sprechen wir in erster Lesung – Sie haben es vorgestellt – über das sogenannte Jahressteuergesetz 2019. Im letzten Jahr hieß diese Mogelpackung noch Familienentlastungsgesetz. Ich habe es Scheinheiligkeitsplacebogesetz genannt, weil Sie Ihren dreisten Raub am Progressionsbauch, der verfassungsrechtlich verordnet ist, nur dem Steuerzahler zurückgeben. Hier wird nichts entlastet.
Heute trägt es den hochtrabenden Namen „Gesetz zur weiteren steuerlichen Förderung der Elektromobilität und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften“. Man sieht also die Verschiebung der Prioritäten dieser Regierung: weg vom dreisten kaschierten Steuerklau am ehrlichen Bürger hin zum Klimawahn, der nun Einzug in die deutsche Gesetzgebung hält – mit Systembruch, was ich aufführen werde.
Für uns als AfD gibt es gute Gründe, dem Gesetz später vielleicht zuzustimmen. Gleichwohl gibt es leider auch sehr viele Gründe, das Gesetz abzulehnen. Wir werden die Angelegenheit daher im Verlaufe der Beratungen aufmerksam und konstruktiv verfolgen, in der Hoffnung, dass einige Punkte noch geändert werden.
Kommen wir zum eigentlichen Thema, zur Elektromobilität – ein neuer Fetisch der Handelnden hier in Berlin –, dem edlen Namensgeber dieses Gesetzes. Zukünftig sollen also Unternehmer, die für ihren Betrieb Elektrowagen anschaffen, neben der linearen Abschreibung eine Sonderabschreibung von 50 Prozent erhalten. Meine Damen und Herren, viele Verbände kritisieren dies zu Recht. Sie sagen, das sei eine Ungleichbehandlung. Der Bund der Steuerzahler empfiehlt gar eine degressive AfA zur Förderung aller innovativen Wirtschaftsgüter. Das blenden Sie in Ihrem Elektrowahn aber völlig aus, ähnlich wie schon einmal bei Windrädern, Solar usw. Die Strompreise auf Ihrer Rechnung kennen Sie alle.
Ein kleiner Versatz an dieser Stelle: Wir waren mit unserer Finanzdelegation in China. Dort wendet man sich bereits, weil man sich da in einer Sackgasse befindet, der Wasserstofftechnologie zu. Meine Damen und Herren, gehen Sie mit der Elektromobilität nicht in die nächste Energiesackgasse, führen Sie nicht ganze Wirtschaftszweige in den Ruin.
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Gut am Gesetzentwurf ist, dass die Pauschalen endlich angepasst werden sollen; das habe ich in meiner Rede im letzten Jahr bereits angemerkt. So wird die Verpflegungspauschale erhöht. Nichtsdestotrotz muss ich wieder anführen, dass es immer noch Freigrenzen, Pauschalen und Freibeträge gibt, die teilweise seit Jahrzehnten nicht angepasst worden sind, so zum Beispiel der Werbungskostenabzug für sonstige Einkünfte. Der Werbungskostenabzug für Renten – ein Thema, das Sie selbst angesprochen haben – ist seit 1954 – ein Helmut Rahn schoss damals ein Tor zur Fußballweltmeisterschaft – unangetastet, der Behindertenpauschbetrag seit 1975 und der Pflegepauschbetrag seit 1990. Jetzt wollen Sie von der CDU/CSU vielleicht die Pendlerpauschale angehen. Meine Damen und Herren, das ist ein Unding. Wir als AfD-Fraktion sind der Meinung, dass alle Pauschalen, alle Freigrenzen und alle Freibeträge indexiert gehören. Wir haben das hier letztes Jahr im Übrigen mit dem Tarif auf Rädern vorgeschlagen. Das ist aber breit abgelehnt worden, weil Sie Ihren Zugriff, Ihre Steuerkrallen weiter in den Gusto Ihrer Beliebigkeit stellen wollen und nicht an einem Tarif auf Rädern, der eine Indexierung aufgrund der tatsächlichen Lebenshaltungskosten vornimmt, interessiert sind.
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Mehr noch. Wir teilen sogar die Auffassung des Bundes der Steuerzahler – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten –: Den Bürgern kann wirklich nicht vermittelt werden, dass Werte, die zu ihren Gunsten wirken, jahrelang, jahrzehntelang nicht aktualisiert werden. Damit bilden sie nämlich die Realität nicht mehr ab. – Dies wäre im Übrigen auch ein Beitrag zur Steuervereinfachung. Vielleicht finden Sie, wenn Sie das täten, dort die 3 700 Beamten, die Ihnen für Ihre vermurkste Grundsteuerreform fehlen, damit sie wenigstens administrierbar ist.
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Aber anstatt Steuergesetze endlich zu vereinfachen, will man nun sogar einen vollständigen Systembruch in diesem Steuergesetz herstellen. Zukünftig soll ein Optionsverfall nicht mehr berücksichtigt werden. Das heißt, dass der Verlust, der dort entsteht, steuerlich nicht mehr geltend gemacht werden kann. Die Begründung ist allerdings schon fast Systembruch; sie ist für mich sogar schon fast Verfassungsbruch. Ich zitiere aus dem Gesetzentwurf:
Der Bundesfinanzhof … hat in seinen Urteilen vom 12. Januar 2016 … entschieden, dass die Anschaffungskosten für Optionen steuerlich auch dann zu berücksichtigen sind, wenn die Option innerhalb der Optionsfrist nicht ausgeübt wurde.
Ein hohes Gericht hat das entschieden. Ich zitiere weiter aus dem Gesetzentwurf:
Die Auffassung des BFH entspricht jedoch nicht dem Willen des Gesetzgebers …
Noch einmal: Die Auffassung eines hohen Gerichts entspricht nicht dem Willen des Gesetzgebers. – Es gibt in diesem Land also mittlerweile Gesetze, auf dessen Grundlage Gerichte Entscheidungen fällen, die Ihnen nicht passen und dann nach Ihrem Gusto geändert werden. Man könnte das auch als geplanten Vertrauensmissbrauch bezeichnen.
Erlauben Sie mir, weiter zu zitieren. Es gibt noch eine Steigerung. In Artikel 16a Absatz 2 des Grundgesetzes heißt es – ich zitiere ihn –: Auf das Asylrecht „kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte … sichergestellt ist“.
Herr Kollege, die Zeit ist abgelaufen.
Sofort. – Meine Damen und Herren, Sie ignorieren das und begehen seit 2015 offenen Verfassungsbruch.
Herr Kollege!
Ich stelle also zum Thema Jahressteuergesetz abschließend fest: Entweder drehen Sie die Gesetze so, wie Sie die gerne hätten, oder Sie setzen einen Verfassungsbruch fort. Das ist Ihre Politik im Jahr 2019.
Es ist jetzt gut, Herr Kollege.
Wir werden die Beratungen konstruktiv begleiten.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Der nächste Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Olav Gutting.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste auf den Tribünen! 240 Seiten Gesetzentwurf, 36 Artikel – viel Material für Steuerfeinschmecker. Wie immer bei Sammelgesetzen, wird es hierbei voraussichtlich nicht bleiben. In den weiteren Beratungen zu diesem Gesetzentwurf werden wir noch die Maßnahmen des KIimaschutzprogramms 2030 der Bundesregierung Stück für Stück aufnehmen, unter anderem die beschleunigte Minderung von C02-Emissionen durch die steuerliche Förderung der energetischen Gebäudesanierung, den Austausch alter Heizungen und weitere steuerliche Maßnahmen im Bereich Elektromobilität.
Wir müssen uns jetzt fokussieren. Wichtig ist es, Schwerpunkte zu setzen. Das geht vor allem an die Adresse des Bundesrates, der mit 92 Punkten Stellung zum Gesetzentwurf genommen hat. Man muss sagen: Das ist in der vorgegeben Zeit nicht mehr zu bewältigen. Hier muss der Bundesrat zurückstecken.
Es wird mit dem Gesetz zu einer steuerlichen Entlastung der Arbeitnehmer kommen. Es wird Verfahrenserleichterungen für Arbeitgeber geben; das begrüße ich außerordentlich. Neben den durch das Bundesfinanzministerium vorgeschlagenen Erhöhungen der Pauschalen für Verpflegungsmehraufwendungen und für Berufskraftfahrer bleibt der Gesetzentwurf allerdings aus meiner Sicht bei einigen Punkten leider hinter den Erwartungen zurück.
Im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD haben wir eine Anpassung und Aktualisierung der Wohnungsbauprämie fixiert. Die Bildung von Wohneigentum, insbesondere zur Selbstnutzung, ist ein wichtiger Schutz vor steigenden Belastungen durch Wohnkosten vor allem im Alter.
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Im Hinblick auf den Eigentumserwerb ist es wichtig, dass wir bereits junge Menschen motivieren, frühzeitig mit dem Ansparen von Eigenkapital zu beginnen; denn fehlendes Eigenkapital ist laut vorliegenden Studien einer der Hauptgründe, warum sich junge Familien kein Wohneigentum leisten können.
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Mit der Wohnungsbauprämie aber wird das Sparen mit Bausparverträgen gefördert und so die Eigenkapitalbildung künftiger Erwerber gestärkt. Die förderfähigen Höchstbeträge und die Prämiensätze müssen mit diesem Gesetz deswegen noch deutlich angehoben werden.
Auf zwei Punkte sollten wir bei den weiteren Beratungen noch ein besonderes Augenmerk richten. Da ist zum einen der Versuch eines Überreitens der BFH-Rechtsprechung zur Anerkennung von steuerlichen Verlusten bei Ausfall von Kapitalforderungen oder bei Wertlosigkeit von Aktien. Darüber müssen wir noch einmal sprechen. Die BFH-Rechtsprechung ist eindeutig, aus meiner Sicht auch nachvollziehbar und logisch. Es ist nicht ganz zu verstehen, warum wir darüber hinwegreiten wollen.
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Das andere ist das Wegducken vor dem Problem der Abgrenzung von Geld- und Sachbezug insbesondere bei der Anwendung der sogenannten 44-Euro-Grenze im Rahmen zusätzlicher steuerfreier Leistungen, also zusätzlich zum Arbeitslohn. Bei der Sachbezugsregelung müssen wir zwingend klären, welche Gutscheine und Guthabenkarten in Zukunft unter diese Freigrenze fallen. Die jetzige Praxis ist ja so: Der Arbeitnehmer freut sich, weil er zusätzlich zum geschuldeten Lohn eine Leistung von 44 Euro bekommt. Der Arbeitgeber freut sich, weil er seinen Arbeitnehmern etwas Gutes tun kann, ihnen einen Incentive, einen Zusatzanreiz anbieten kann. Und der Händler freut sich über zusätzlichen Umsatz, weil diese Leistung in den Konsum fließt. – Ich meine, es kann nicht sein, dass wir diese gute und eingespielte Praxis jetzt kaputtmachen. Wir sind der Gesetzgeber und müssen hier für Rechtssicherheit sorgen, für Arbeitnehmer, für Arbeitgeber, für die Kartenausgeber und für den Handel.
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Die anstehenden Beratungen werden umfangreich sein, auch aufgrund des Umfangs des Gesetzentwurfes. Wir brauchen eine gute, aber auch eine zügige Beratung dieses Gesetzentwurfes. Ich erwarte, dass wir die zweite und dritte Lesung rechtzeitig abschließen, am besten noch im Oktober, damit die Praxis genug Zeit hat, sich auf die Änderungen ab dem 1. Januar 2020 einzustellen.
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Deswegen: Gehen wir’s gemeinsam an!
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Vielen Dank, Herr Kollege Gutting. – Die nächste Rednerin für die FDP-Fraktion ist die Kollegin Katja Hessel.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Zuschauer auf der Tribüne! Es geht um das Jahressteuergesetz 2019 – ach nein, nicht um das Jahressteuergesetz, sondern um das Gesetz zur weiteren steuerlichen Förderung der Elektromobilität und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften. Vielleicht gewöhnen wir uns ja noch daran, dass Gesetze, die aus SPD-geführten Ministerien kommen, jetzt immer schöne Bezeichnungen haben, die aber nicht ganz mit dem Inhalt übereinstimmen. Aber immerhin vier Vorschriften aus dem ganzen Sammelsurium an Änderungen beschäftigen sich mit der steuerlichen Förderung der Elektromobilität.
Zurück zum Jahressteuergesetz. Es enthält viele rechtliche Klarstellungen, die wir als Freie Demokraten auch für notwendig erachten und unterstützen. Zusätzlich zu denen, die schon genannt wurden, handelt es sich hierbei um Änderungen zur Bekämpfung des Betrugs bei der Umsatzsteuer, Änderungen zur Einschränkung des Abzugs von ungerechtfertigten Betriebsausgaben, neue Digitalisierungsansätze, zum Beispiel bei der automatisierten Fristverlängerung bei der Abgabe von Steuererklärungen, die Gleichstellung von digitalen Angeboten wie E-Books und Hörbücher – das wurde schon angesprochen – und auch die Gewerbesteuerbefreiung für die Betreiber kleiner Solaranlagen, weil damit endlich unnötige Bürokratie abgebaut wird.
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Aber dieser Gesetzentwurf enthält auch einige Punkte, die wir ganz deutlich kritisieren. Als Beispiel nenne ich die enthaltene Neuregelung der umsatzsteuerlichen Behandlung von Bildungsleistungen. Damit, liebe Frau Staatssekretärin, schießen Sie weit über das Ziel hinaus.
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Sie verstecken sich hinter einer EU-Richtlinie, und das, obwohl der betreffende Artikel 133 der Mehrwertsteuersystemrichtlinie gar keine verbindliche Eingrenzung für den Gesetzgeber enthält, sondern lediglich eine Kannbestimmung ist. Sie haben also die Möglichkeit, Spielräume zu nutzen, Sie tun das aber nicht. Privatwirtschaftliche Bildungsträger mit Gewinnerzielungsabsicht werden diskriminiert, auch wenn sie identische Leistungen erbringen wie Einrichtungen des öffentlichen Rechts. Das muss man sich bitte einmal auf der Zunge zergehen lassen: Unternehmen, die Gewinn erzielen wollen, werden von der Bundesregierung diskriminiert.
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Sie verteuern damit ohne Not – und aus unserer Sicht auch ohne Grund – die Bildungsangebote. Wie passt das denn zu Ihrem Leitgedanken einer Bildungsrepublik Deutschland? Bildung sollte doch das Leuchtturmprojekt Ihrer Koalition sein.
Auch im Hinblick auf die umsatzsteuerliche Behandlung von Privatkliniken haben Sie die Chance vertan, die bestehende Ungleichbehandlung endlich zu beseitigen. Die vorgesehene Änderung in § 4 Nummer 14 Umsatzsteuergesetz löst das Problem eben nicht, weil sie keine Rechts- und Planungssicherheit für die Kliniken bedeutet, auch nicht für die Finanzämter. Es ist überhaupt nicht einzusehen, warum Privatkliniken, die neben einer Zulassung nach § 30 Gewerbeordnung keine weitere Anerkennung oder Zulassung der Sozialversicherungsträger haben, im Gegensatz zu öffentlich-rechtlich zugelassenen Krankenhäusern nur eingeschränkt von der Umsatzsteuer befreit sein sollen, obwohl sie genau die gleiche medizinische Leistung erbringen.
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Das erhöht am Ende nur die Kosten für die Versicherungsträger und die Beihilfestellen in unserem Land.
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Damit fallen Sie sogar auf die Rechtslage von vor 2009 zurück, die damals bewusst geändert worden ist, um Bürokratie abzubauen und den Grundsatz der steuerlichen Neutralität zu wahren.
Aber noch beachtlicher ist, was das Jahressteuergesetz wie immer nicht enthält. Es gibt keine Regelungen zu den Nachholzinsen, keine Regelungen zur Gemeinnützigkeit von Freifunkinitiativen, worüber wir hier auch schon gesprochen haben, und auch keine Regelung zu dem kürzlich ergangenen Urteil zur Hinzurechnung bei der Gewerbesteuer bezüglich der sogenannten Urlaubssteuer. Nein, auch hier warten Sie wieder ab, was das Bundesverfassungsgericht sagt, wie man das vielleicht ändern kann. Meine lieben Kollegen von der Koalition – Herr Gutting hat das gerade angesprochen –, das ist nicht das, was wir brauchen. Wir müssen hier als Gesetzgeber vorangehen; denn so erzeugen wir kein Vertrauen in Politik und Rechtsstaat.
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Aber wir wissen ja: Wir haben noch viele Beratungen vor uns. Wir werden aus diesem Gesetzentwurf ein gutes Gesetz machen. Einige Anträge von uns als Serviceopposition liegen schon vor. Ich freue mich auf die Beratungen.
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Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege Jörg Cezanne.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung hat dem diesjährigen Jahressteuergesetz den Titel „Förderung der Elektromobilität“ gegeben. Mal abgesehen davon, dass Elektromobilität natürlich schon seit mehr als einem Jahrhundert existiert – bei der Eisenbahn, bei den S-Bahnen, bei der Straßenbahn –, sind Ihre Vorschläge zur steuerlichen Förderung von Autos mit batterieelektrischen Antrieben halbherzig, unsystematisch und bleiben im Klein-Klein stecken.
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Auch hier wird wie schon im Klimaschutzplan der Regierung deutlich: Statt die zwingend notwendige Verkehrswende herbeizuführen, versucht sich die Bundesregierung mit einer kleinteiligen Förderung neuer technischer Antriebe. Das ist auch notwendig, aber bei Weitem nicht genug. Die meisten Ihrer Maßnahmen sind Entfristungen oder Verlängerungen schon ergriffener Fördermaßnahmen. Wir haben ja vernommen, dass Sie die Mehrwertsteuer auf Bahntickets ermäßigen und den Luftverkehr verteuern wollen, aber das steht in diesem Gesetzentwurf gar nicht drin. Solange Sie nicht verstehen, dass der heutige Pkw-Verkehr vor allen Dingen in den Ballungsräumen und Innenstädten grundlegend umgestaltet werden muss, sind Sie mit Ihrer Förderung elektrischer Antriebe auf dem Holzweg.
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Pro Einwohner haben wir in Deutschland eine durchschnittliche Wohnfläche von 46 Quadratmetern, aber eine Verkehrsfläche von 224 Quadratmetern; der größte Teil davon wird von Pkws genutzt. Da stimmen die Verhältnisse einfach nicht.
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Längst überfällig sind deshalb ganz andere Maßnahmen, zum Beispiel die Beendigung der steuerlichen Begünstigung von Dieselkraftstoff gegenüber Benzin. Wir haben ein Konzept entwickelt, mit den übrigbleibenden Einnahmen den öffentlichen Verkehr auszubauen bis hin zur Einführung eines Nulltarifs.
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Dringend notwendig ist eine Reform der Pendlerpauschale, die Sie – das steht hier zwar nicht drin, soll aber ja kommen – jetzt anheben wollen. Diese Anhebung wird aber weit überwiegend den Menschen zugutekommen, die wegen hoher Einkommen auch hohe Steuereinsparungen erzielen werden. Ein Mobilitätsgeld, wie es die Gewerkschaften und auch Die Linke fordern, wäre hier der richtige Schritt.
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In diesem Jahressteuergesetz gibt es noch einen anderen Haken, den ich kurz ansprechen möchte. Viele Bildungsdienstleister wie Volkshochschulen und andere sind sicher auch an Sie herangetreten und haben ihre Sorge zum Ausdruck gebracht, dass mit der vorgeschlagenen Formulierung im Gesetzentwurf viele ihrer Angebote in Zukunft nicht länger von der Umsatzsteuer befreit sein könnten. Wir verstehen, dass die Bundesregierung eine EU-Regelung umsetzen muss. Mit der vorgeschlagenen Änderung aber geht eine erhebliche Rechtsunsicherheit für Bildungsangebote einher, besonders für solche, die nicht unmittelbar beruflichen Charakter haben. Das kann und muss auch EU-rechtskonform anders geregelt werden.
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Bildung ist eben mehr als die Förderung beruflicher Leistungsfähigkeit. Sie ist ein Menschenrecht. Das wird sicher auch der Leistungskurs des Eifel-Gymnasiums Neuerburg, der heute hier zu Gast ist, bestätigen. Bildung ist eine wesentliche Voraussetzung für ein zivilisiertes Miteinander in einer vielfältigen Gesellschaft. Im Umgang mit Rechtsextremismus brauchen wir politische Bildung. Die sozialen Medien erfordern einen kritischen und informierten Umgang mit Informationsquellen. Solche Bildungsangebote dürfen nicht teurer werden.
Ich danke Ihnen.
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Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Danyal Bayaz, Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man kann der Koalition nicht vorwerfen, dem Jahressteuergesetz einen knackigen Namen wie „Gesetz zur weiteren steuerlichen Förderung der Elektromobilität“ zu geben. Was man Ihnen schon vorwerfen kann, ist, dass Sie den Eindruck erwecken, hiermit die notwendigen Maßnahmen im Kampf gegen die Klimakrise auf den Weg zu bringen. Das ist Etikettenschwindel, meine Damen und Herren.
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Werfen wir doch mal einen Blick zurück. Vor ziemlich genau zehn Jahren hat eine andere Große Koalition – viele von Ihnen waren damals schon dabei – eine Abwrackprämie auf den Weg gebracht. Wir haben 5 Milliarden Euro in die Hand genommen, um die Autoindustrie in einer konjunkturellen Delle zu unterstützen. 27 Millionen Steuerpflichtige haben quasi 2 Millionen Pkw-Käuferinnen und -Käufern jeweils 2 500 Euro geschenkt. Das hatte keinerlei ökologische Lenkungswirkung. Es ist kein Zufall, dass das genau die Autos sind, die uns heute in einigen Städten Probleme machen. Ich finde, die Abwrackprämie war genau das Gegenteil von nachhaltiger Finanzpolitik und kluger Industriepolitik.
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Sie war teuer. Die Gelegenheit, die ökologische Modernisierung einer wichtigen Leitindustrie in diesem Land voranzubringen, wurde damit verpasst. Das müssen Sie sich heute noch mal anhören, meine Damen und Herren.
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Was hat das mit diesem Gesetzentwurf zu tun? Sie wollen jetzt wieder Fördergelder für Autokäufer zur Verfügung stellen, nämlich 250 Millionen Euro für die Elektromobilität. Die strukturellen Hemmnisse und die strukturellen Barrieren auf dem Weg zur emissionsfreien Mobilität gehen Sie aber nicht an.
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Wir bräuchten eigentlich mehr Mut bei der Reform der Kfz-Steuer und bei der Dienstwagenbesteuerung. Wir müssen emissionsfreie Fahrzeuge steuerlich fördern, und gleichzeitig müssen die Fahrzeuge, die einen hohen CO2-Ausstoß haben, teurer werden. Es ist keine Verbotspolitik, sondern Marktwirtschaft, wenn man Umweltverschmutzung einen Preis gibt.
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Mit einem funktionierenden Bonus-Malus-System, mit Kaufprämien für Elektroautos würden auch viele unserer Autobauer bei der Fahrzeugentwicklung viel engagierter andere Prioritäten setzen. Das wäre eine kluge Industriepolitik. Ich glaube, viele Ingenieurinnen und Ingenieure in diesem Land würden diese Herausforderung gerne annehmen. Wir würden den Wirtschaftsstandort dadurch nachhaltig stärken. Ich bin echt davon überzeugt, dass Klimaschutz für eine erfolgreiche, wettbewerbsfähige Industrie sehr wichtig ist. Wir brauchen mutige Weichenstellungen und sollten einfach engagierter sein.
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Wenn wir über Wettbewerbsfähigkeit sprechen, dann sollten wir auch die klugen, gut ausgebildeten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Blick nehmen. Der Kollege hat es gerade angesprochen: Die Bildung von Wissenskapital in einer modernen Volkswirtschaft ist zentral für Innovationskraft, Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität. Das sollten wir viel stärker in den Fokus nehmen. Wir brauchen gute Bedingungen bei der Bildung, bei der Weiterbildung und bei der Fortbildung.
In Ihrem Gesetzentwurf finden sich schon ein paar kritische Punkte. Sie wollen die Umsatzsteuerfreiheit von Fort- und Weiterbildungsangeboten einschränken. Ich verstehe, dass die europäische Rechtsprechung das einfordert. Sie gehen aber eben weiter, als es das Europarecht erfordert. Deswegen finde ich, dass Sie die Bedeutung von Weiterbildungsangeboten in der heutigen Wirtschaft an der Stelle ein Stück weit ignorieren. Aufgrund der Transformationsphase, in der wir uns befinden – denken Sie an Algorithmen, künstliche Intelligenz und Automatisierung –, sollten wir noch viel stärker in die Köpfe unserer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer investieren.
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Ein letzter Satz. Sie haben völlig recht, Frau Staatssekretärin: Es ist gut, dass wir die digitalen Produkte der Medienwirtschaft jetzt den analogen Pendants anpassen. Wir schaffen aber auch neue Ausnahmen bei der Mehrwertsteuer. Deswegen möchte ich hier auf einen Aspekt eingehen. Wir und viele andere haben eine Petition für die Steuerermäßigung bei Hygieneprodukten für Frauen unterstützt.
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Ich finde, es ist ein schlechtes Signal, dieses berechtigte Anliegen, das bislang völlig ignoriert wird, Herr Kollege Steiniger, nicht weiter zu verfolgen. Es gibt einen dichten Ausnahmedschungel. Eine Steuerermäßigung für Tampons und Binden leistete zwar keinen Beitrag für die Lichtung dieses Dschungels, wäre aber von hohem symbolischem Wert und würde zeigen, dass eine geschlechtergerechte Anpassung im Steuerrecht möglich ist. Deswegen: Nehmen Sie diese Petition und die Menschen, die sie unterstützen, ernst und diesen Punkt im Gesetzentwurf auf. Wir schauen genau drauf.
Danke schön.
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Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Lothar Binding.
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Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Elektromobilitätsförderungsgesetz ist ein schöner Name; das stimmt. Er umschreibt den Schwerpunkt dieses Gesetzes. Gleichwohl: Es ist unser Jahressteuergesetz und wie immer ein Sammelsurium. So ist dieses Gesetz auch gedacht. Es räumt mit vielen Dingen auf, die im letzten Jahr aufgelaufen sind. Insofern ist das eigentlich gar keine Bemerkung wert.
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Einen Punkt möchte ich hier aufgreifen. Diese Nervosität bezogen auf die Bildungs- und Erziehungsleistungen von Volkshochschulen – Sie nannten sie –, der AWO und natürlich auch kirchlicher Stiftungen ist völlig unbegründet. Die Idee ist, dass wir die Mehrwertsteuerfreiheit europarechtskonform erhalten. Ich denke, wir müssen uns hier nicht kleiner machen, als wir sind. Im parlamentarischen Verfahren werden wir das entsprechend klarstellen. Das hat die Große Koalition miteinander verabredet. CDU/CSU und SPD sind hier einer Meinung, und das ist sehr gut.
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Ich möchte kurz auf das, was Danyal Bayaz gesagt hat, eingehen. Er hat gesagt, dass er in diesem Gesetz die notwendigen Maßnahmen im Kampf gegen die Klimakrise vermisst. Diese sind aber im Klimaschutzgesetz, das es erstmals gibt und das ihr kritisiert, vorgesehen.
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Wir wissen übrigens noch nicht, was davon in das Jahressteuergesetz einfließen wird. Einige Punkte dazu sollten aufgenommen werden; das finde ich wichtig.
Dann noch eine Bemerkung zum Thema Hygieneartikel. Ich bin dafür, dass wir Überlegungen, die Mehrwertsteuer auf Tampons zu senken, anstellen, will aber vermeiden, dass damit sozusagen eine frauenfeindliche Politik einhergeht. Wir haben ja Probleme ganz anderer Art. Ich will das mal mithilfe dieses Zollstocks deutlich machen: Dieser große Abschnitt des Zollstocks ist das Einkommen eines Mannes. Die Kosten für Hygieneprodukte – man höre zu! – liegen durchschnittlich bei 2,07 Euro pro Jahr; das sind 20 Cent im Monat.
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Schauen wir uns nun den Gender Pay Gap genauer an. Dieser Abschnitt des Zollstocks entspricht dem Einkommen eines Mannes. Nehmen wir an, es sind 1 000 Euro. Im Verhältnis dazu kann das Einkommen einer Frau mit diesem viel kleineren Abschnitt des Zollstocks – es sind 20 Prozent weniger – dargestellt werden. Ich möchte mich nicht mit diesem Zehntelmillimeter befassen. Das machen wir auch; das ist ja klar. Es gibt dazu eine große Bewegung, und Symbole sind unerreichbar wichtig. Mir ist es aber wichtiger, dass Frauen und Männer gleich bezahlt werden und Frauen diese fehlenden 20 Prozent bekommen.
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20 Prozent sind nämlich richtig viel. Lasst uns dafür ordnungspolitisch etwas tun! Die eigentliche Ungerechtigkeit sollte man angesichts von Marginalien nicht zurückstellen. Insofern ist es ganz gefährlich, sich auf diesen Pfad zu begeben. Man verdrängt das Wesentliche und holt das Unwesentliche in den Vordergrund.
Ich möchte noch auf das, was Olav Gutting gesagt hat – Stichwort: 44 Euro –, eingehen: Das muss geregelt werden; darin sind wir uns einig. Du hast ganz richtig gesagt: Die Arbeitnehmer freuen sich, die Arbeitgeber freuen sich, und die Händler freuen sich. – Es ist allerdings so, dass sich die Rentenversicherung, die später mal für mich wichtig ist, ärgert. Dasselbe gilt für die Krankenversicherung und das Finanzamt. Es geht nämlich um steuer- und sozialversicherungsfreie Leistungen. Ich stimme dir trotzdem zu: Wir sollten das regeln.
Letzter Punkt. Das mit den Spekulanten ist so eine Sache. Veräußerungsverluste ohne Veräußerung anzuerkennen, hat seine Tücken. Man muss sehen: Wenn ich die Veräußerungsverluste ohne Veräußerung anerkenne, ist das eine Einladung an Spekulanten, zu spekulieren, weil klar ist: Den Verlust tragen alle anderen. – Wir müssen also hochsensibel sein und gemeinsam überlegen, was zu tun ist. Es ist aber nicht ganz so einfach, wie es eben dargestellt wurde.
Ich sehe schon: Ich habe meine Redezeit überzogen.
Absolut.
Sarah Ryglewski hat zum Schwerpunkt des Gesetzentwurfs perfekt vorgetragen. Deshalb will ich das nicht wiederholen.
Schönen Dank.
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Herr Kollege Binding, ich finde es ja prima, dass Sie versuchen, Ihre Rede anschaulich zu machen.
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Aber vielleicht könnten wir uns darauf verständigen, dass wir hier verbal unsere Meinung zum Ausdruck bringen und dazu nicht irgendwelche Werkzeuge verwenden.
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Der nächste Redner ist der Kollege Sebastian Brehm.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Präsident! Im Jahr 2018 wurden 1 769 Rechtssachen beim Europäischen Gerichtshof, EuGH, und 2 166 Rechtssachen beim Bundesfinanzhof erledigt. Das hat natürlich unmittelbare Auswirkungen auf die laufende Steuergesetzgebung. Deshalb ist es richtig, einmal im Jahr all diese notwendigen Änderungen in einem Jahressteuergesetz zusammenzufassen. Hinzu kommen natürlich auch politische Schwerpunktsetzungen, in diesem Jahr insbesondere die Umsetzung des Klimapakets.
Es gibt zwei wichtige Botschaften, die ich mit dem Jahressteuergesetz verbinden möchte. Erstens. Wir entlasten deutlich die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, und das ist gut und richtig: mit der Erhöhung der Pendlerpauschale, der Anpassung der Verpflegungsmehraufwendungen, der Verlängerung der Begünstigung für Elektro-, Hybrid- und übrigens auch Wasserstoffbetriebsfahrzeuge – also 0,25- bzw. 0,5-Prozent- statt der teuren 1-Prozent-Regelung –, Ausweitung der Möglichkeiten des Jobtickets, durch den Verzicht auf einen Sachbezug bei einer verbilligten Überlassung von Arbeitnehmerwohnungen – das betrifft vor allem Ballungsgebiete wie München und andere Städte – und die Beibehaltung der Möglichkeit von Sachleistungen an Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Rahmen der monatlichen 44 Euro. Lieber Herr Kollege Binding, bei den 44 Euro sind auch Vorsorgeleistungen dabei. Deswegen sind es notwendige Schritte für die Entlastung derjenigen, die tagtäglich zu unserem Wohlstand in Deutschland beitragen.
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Die zweite Botschaft ist aber, dass wir dringend auch eine Entlastung der Unternehmerinnen und Unternehmer benötigen, um ihnen mehr Liquidität für notwendige Investitionen zu geben. Das fehlt in diesem Gesetzentwurf. Gerade in der jetzigen Zeit unter dem Eindruck der aktuellen wirtschaftlichen Entwicklung und der Herausforderungen von Digitalisierung sind diese Fragen von existenzieller Bedeutung. Mein Kollege Fritz Güntzler und ich haben hier ein entsprechendes Konzept für die CDU/CSU-Fraktion vorgestellt. Dieses müssen wir Schritt für Schritt umsetzen, um die Wettbewerbsfähigkeit in unserem Land zu erhalten.
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Deutschland ist zum Hochsteuerland für Unternehmerinnen und Unternehmer geworden. Das zeigen mehrere Studien der OECD, übrigens auch unter dem Eindruck der bereits erfolgten Steuerreformen unserer europäischen Nachbarländer.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Steuerpolitik ist immer auch Standortpolitik. Wenn wir jetzt hier falsch links abbiegen, dann werden unsere deutsche Industrie und unser deutscher Mittelstand erhebliche Wettbewerbsnachteile haben. Nur mit einer starken Industrie und einem starken Mittelstand werden wir auch weiterhin starke Einnahmen haben. Diesen Zusammenhang verkennen die meisten politischen Diskutanten insbesondere auf der linken Seite. Deshalb werbe ich dafür, dass wir eine Diskussion um die Unternehmensbesteuerung in Deutschland angehen.
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Wir beginnen mit kleinen richtigen Schritten, zum Beispiel mit der Einräumung von Sonderabschreibungsmöglichkeiten für elektrische Lieferfahrzeuge. Gerade im Bereich der Abschreibungen müssen wir aber noch weitere Anreize für notwendige Investitionen setzen. „Anreize setzen“ ist auch das Stichwort bei der Umsetzung des Klimapakets, zum Beispiel mit der schon lange geforderten energetischen Gebäudesanierung oder der Verbilligung der Preise für den öffentlichen Nahverkehr und die Bahn. All dies wird noch im Rahmen des Jahressteuergesetzes 2019 mit umgesetzt. Deswegen haben wir noch viel Arbeit vor uns und viel Klärungsbedarf.
Zum Beispiel bei der Besteuerung von Reiseleistungen im B2B-Bereich kommt es nach der derzeitigen Fassung zu rückwirkenden Belastungen der Reisebranche, die derzeit ohnehin schon leidet. Das können wir nicht hinnehmen; darüber müssen wir noch einmal diskutieren. Auch im Bereich der Umsatzbesteuerung von Bildungsleistungen – auch das wurde schon angesprochen – müssen wir zu einer klarstellenden Regelung kommen; hier müssen wir dringend nachsteuern.
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So gibt es noch viele Themen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Aber wir sind hier in einem konstruktiven Dialog im Rahmen der Koalition, und ich denke, dass wir diese Fragen im Rahmen der nächsten Diskussionen noch gemeinsam lösen können.
Ich danke herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege Brehm. – Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dr. Christoph Ploß, CDU/CSU.
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! „Jahressteuergesetz“, das klingt nach einer trockenen Materie, so etwas wie das Knäckebrot der Politik, und vielleicht fragt sich der eine oder andere: Muss denn ein solches Thema hier am Nachmittag auf der Tagesordnung stehen? Aber – das haben meine Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion deutlich gemacht – das Jahressteuergesetz ist keine langweilige Materie, sondern damit sind wichtige Weichenstellungen für unser Land verbunden. Denn wenn wir heute über das Jahressteuergesetz diskutieren und in einigen Monaten konkrete steuerpolitische Maßnahmen beschließen, dann geht es dabei auch zentral um die Mobilität der Zukunft. Dann geht es um Klimaschutz- und Umweltschutzthemen, auch mit Blick auf die Beschlüsse des Klimakabinetts vom vergangenen Freitag.
Wenn wir hier im Deutschen Bundestag in Kürze das Jahressteuergesetz beschließen, dann müssen wir zum Beispiel auch wissen, wie die Mobilität der Zukunft in 10, 15 oder 20 Jahren ausschauen soll. Wie soll sich Deutschland im Jahr 2035 im Verkehrsbereich darstellen?
Da ist auch für uns die Situation ziemlich klar. Wir sagen: Es soll immer mehr Ökostrom, immer mehr regenerative Energie in Elektrofahrzeugen zum Einsatz kommen. Was uns als CDU/CSU-Fraktion dabei besonders wichtig ist, ist, dass wir nicht nur auf batteriebetriebene Elektroautos setzen, sondern wir wollen auch auf wasserstoffbetriebene Elektroautos und auf synthetische Kraftstoffe setzen. Mit anderen Worten: Wir präferieren einen technologieoffenen Ansatz und hoffen, davon auch noch die anderen Fraktionen überzeugen zu können, die damit fremdeln.
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Deswegen wollen wir mit dem Jahressteuergesetz konkret einige Punkte beschließen, zum Beispiel eine Sonderabschreibung beim Kauf rein elektrischer Lieferfahrzeuge. Der Kollege Brehm hat es richtigerweise gesagt: Wir wollen auch die Halbierung der Bemessungsgrundlage beim Kauf von Dienstwagen verlängern, die dann privat genutzt werden. Wenn der Preis unter 40 000 Euro liegt, dann geht es sogar nicht nur um 0,5 Prozent, sondern um 0,25 Prozent. Damit werden enorme monetäre Anreize dafür gesetzt, dass in Zukunft immer mehr Menschen und Unternehmen Elektrofahrzeuge anschaffen.
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Für uns ist aber auch die Förderung des öffentlichen Nahverkehrs ganz wichtig. Das ist bei der Debatte hier etwas untergegangen. Denn nur mit einem gut ausgebauten öffentlichen Nahverkehr werden wir die Mobilitätsprobleme vor allem in den deutschen Metropolregionen lösen können.
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Wir müssen Anreize schaffen, damit immer mehr Menschen auf den öffentlichen Nahverkehr umsteigen. Deswegen sind auch die steuerlichen Änderungen bei den Jobtickets so wichtig. Dass in Zukunft der geldwerte Vorteil pauschal mit 25 Prozent von den Arbeitgebern versteuert werden kann und dass das Jobticket nicht mehr auf die Pendlerpauschale angerechnet wird, wird ein wichtiger Baustein sein, um den öffentlichen Nahverkehr immer attraktiver zu machen. Denn letztlich brauchen wir da unterschiedliche Maßnahmen.
Ein Land wie Norwegen macht es vor. Dort setzt man auf den Ausbau der Infrastruktur, wenn es um die Förderung von Elektromobilität geht, und sagt: Wir brauchen immer mehr Ladesäulen und Wasserstofftankstellen. Es muss aber auch monetäre Anreize geben.
Wenn man beides miteinander verbindet, dann kann man es schaffen, die Mobilität der Zukunft viel besser zu organisieren, als es vielleicht noch in den vergangenen Jahren der Fall war, und auch die Verkehrs- und Klimaschutzziele zu erreichen. Ich bin sicher: Dann werden wir, wenn wir 2030, 2035 oder 2040 möglicherweise wieder hier diskutieren, sagen: Die Entscheidungen mit dem Jahressteuergesetz waren richtig. Da wurden die richtigen Weichenstellungen für die Zukunft vorgenommen, damit Deutschland weiterhin stark bleiben wird.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Ploß. – Ich schließe die Aussprache.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Glauben Sie, dass ein Mechatroniker und eine Germanistin gemeinsam über die Zukunft der Demokratie oder über die Folgen des Klimawandels diskutieren können? Glauben Sie, dass Azubis und Studierende gemeinsam neue Moderations- und Verhandlungstechniken lernen können? Glauben Sie, dass dieser Austausch beider Welten miteinander jungen Menschen hilft, den eigenen Blick auf die Welt zu weiten, und dass beide Seiten voneinander lernen können? Glauben Sie, dass es auch in der beruflichen Bildung große Talente gibt, die wir in ihrer Persönlichkeitsentwicklung stärken sollten? Und glauben Sie, dass es einen Unterschied macht, ob man Teil eines persönlichen Netzwerks ist oder nicht?
Wenn Sie alle diese Fragen mit Ja beantworten, dann frage ich mich ernsthaft, wieso die 13 Begabtenförderungswerke des Bundes nicht schon längst für berufliche Talente geöffnet sind.
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Die 13 Förderwerke erhalten Bundesmittel, um akademische Talente zu fördern. Sie wählen ihre Stipendiaten aus nach fachlicher Leistung, persönlicher Eignung und auch nach gesellschaftlichem Engagement. Ein solches Stipendium ist eine hohe Auszeichnung, an der sich auch viele Arbeitgeber orientieren. Studierende erhalten im Monat eine Pauschale von 300 Euro. Im Kern steht aber die ideelle Förderung mit ihren fachlichen Seminaren, Fertigkeitentrainings, Exkursionen, Arbeitsgemeinschaften, Mentorenprogrammen, Stipendiatenstammtischen und vielem mehr.
Diese Stipendiatenprogramme wollen wir öffnen für die besten Talente der beruflichen Aus- und Weiterbildung.
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Dafür sollen die Förderwerke, die daran teilnehmen, zusätzliche Mittel bekommen.
Nun mag sich beispielsweise die Studienstiftung des deutschen Volkes mit ihrem sehr akademischen Schwerpunkt am Ende dagegen entscheiden; aber gerade für die vielen politischen, die wirtschafts-, kirchen- oder auch gewerkschaftsnahen Stiftungen ist das doch ein attraktives Angebot. Sie sollen künftig weiterhin selbst entscheiden, nach welchen Kriterien sie Auszubildende oder auch Fachkräfte in Aufstiegsfortbildungen aufnehmen wollen. Uns ist vor allen Dingen wichtig, dass sie als Stipendiaten gleichberechtigt an der ideellen Förderung und am Stipendiatenleben teilnehmen können. Das dürfen wir der beruflichen Bildung nicht länger vorenthalten.
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Nun werden Sie gleich vermutlich viele Dinge hören, warum das alles so nicht funktioniert.
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Ein erstes Argument mag sein, das sei alles elitäres Zeug, und wir sollten uns eher um andere Dinge kümmern. Das glaube ich nicht; denn die Stipendiaten zeichnen sich in aller Regel aus durch eine besonders hohe Leistungsbereitschaft, durch Neugierde und persönliches Engagement. Das sind junge Menschen, die oftmals später wichtige Entscheidungsträger sein werden, in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Deshalb lohnt es sich, schon früh in ihre Persönlichkeitsentwicklung zu investieren. Wenn diese Förderung nun künftig auch beruflichen Talenten offensteht, dann ist das im Interesse der gesamten Gesellschaft.
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Ein zweites Argument könnte sein – ich bin gespannt auf die Rede von Herrn Albani –, die Bundesregierung mache schon so viel.
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Da gebe es die Stiftung Begabtenförderung berufliche Bildung und die eine oder andere Kooperation. Damit springt man aber zu kurz.
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Die Bundesregierung investiert in die akademische Begabtenförderung jedes Jahr etwa 300 Millionen Euro, gerade einmal 60 Millionen Euro in die berufliche Begabtenförderung. Wir wollen die SBB nicht ersetzen, sondern ausweiten. Das allein führt aber noch nicht zu einem besseren Miteinander beruflicher und akademischer Talente über Silos hinweg. Deswegen: Machen Sie endlich ernst mit der oft beschworenen Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung, und stimmen Sie unserem Antrag zu!
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Ein drittes Argument: Lebenswelten und Talente von akademischen und beruflichen Fachkräften seien ach so verschieden. Ja, menschliche Begabungen sind vielfältig. Sie zeigen sich in wissenschaftlichen Leistungen, in künstlerischer Schaffenskraft, in sozialer Kompetenz, aber eben auch in der besonderen Fähigkeit, theoretische Erkenntnisse in innovative praktische Anwendungen zu übersetzen. Und eine gute Förderung braucht diese Vielfalt.
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Raus aus dem Elfenbeinturm! Unterschätzen Sie die berufliche Bildung nicht!
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Der nächste Redner: der Kollege Stephan Albani, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Brandenburg hat sozusagen in Vorfreude auf meine Ausführungen das eine oder andere angesprochen. Folgendes gleich vorweg: Alles, was Sie eingangs gesagt haben, glaube ich nicht nur, sondern das weiß ich, und all das, was Sie an Kritikpunkten geäußert haben, können Sie sich hier jetzt zu Gemüte führen; aber elitär ist das Thema, das wir hier miteinander behandeln, mit Sicherheit nicht.
Technologisierungen, Flexibilisierungen, diese ganzen „-sierungen“ verändern unsere Arbeitswelt. Die Herausforderungen müssen von hochqualifizierten Fachkräften angegangen werden. Um sie zu gewinnen, müssen attraktive und hochwertige Qualifizierungsangebote entwickelt werden, die auf dem Arbeitsmarkt Akzeptanz finden. Die Gleichwertigkeit der beruflichen und akademischen Bildung ist eine Selbstverständlichkeit.
Wir möchten das Ausbildungssystem gerade auch in der Spitze stärken, um begabten jungen Menschen eine echte Alternative zum Studium anzubieten und ihnen die Möglichkeit zu eröffnen, sich Zeit ihres Lebens kontinuierlich und individuell weiterzuentwickeln. Aus diesem Grund haben die Koalitionsfraktionen und hier die Kollegin Yasmin Fahimi und ich gleich am Anfang dieser Legislaturperiode die Initiative für exzellente berufliche Bildung, eine Art Spitzenclusterförderung, auf den Weg gebracht. 30 Anträge befinden sich mittlerweile in der nächsten Stufe. Das sind hervorragende Ideen, wie man genau dies tun kann.
Des Weiteren haben wir – das ist vorgestern durchs Kabinett gegangen – das Aufstiegs-BAföG deutlich verbessert. Hier gibt es nun ein passgenaues Förderangebot für alle drei Fortbildungsstufen – nicht wieder für nur eine –, die im BBiMoG ausgeführt werden. Es gibt höhere Zuschussanteile, höhere Freibeträge, eine verbesserte Unterhaltsförderung für Vollzeitgeförderte durch einen Vollzuschuss. Wir erhöhen die Kinderbetreuungszuschläge und stärken so die Familienfreundlichkeit. Wir erhöhen den Zuschussanteil zum Maßnahmenbeitrag. Dadurch werden Teilnehmer und Teilnehmerinnen hinsichtlich der Kosten der Fortbildungsmaßnahmen entlastet. Und derjenige bzw. diejenige – das gefällt mir an diesem Paket am besten –, der oder die die Fortbildungsstufen durchlaufen hat und danach einen Betrieb übernimmt oder selbst gründet, wird von der Rückzahlung freigestellt. Ich finde, das ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie die berufliche Bildung kernig gestärkt werden kann.
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Nun kommen wir zum Kern Ihres Antrags. Die Stiftung Begabtenförderung berufliche Bildung, kurz SBB, existiert; Sie haben es schon gesagt. Einfaches Beispiel: Es gibt zwei Schrauben, eine Kreuzschlitzschraube und eine Schlitzschraube. Wenn Sie nicht den richtigen Schraubenzieher benutzen, geht die Schraube kaputt, und Sie kriegen sie nicht ins Holz rein. Also, die Schraubenzieher müssen zur Schraube passen. Genau das ist die SBB an dieser Stelle für die Förderung im Bereich der beruflichen Bildung.
Das Aufstiegsstipendium unterstützt Fachkräfte mit Berufsbildung und Praxiserfahrung. Jährlich können 1 000 Aufstiegsstipendien vergeben werden. Derzeit werden 4 500 Stipendiaten an über 300 Hochschulen unterstützt. Wir haben das sogar erhöht – Sie haben ja gesagt, wir sprängen zu kurz –: 8,5 Prozent mehr. Ich glaube, mancher wäre froh, wenn er 8,5 Prozent weiter springen könnte.
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Wie schreiben Sie in Ihrem Artikel in der heutigen Ausgabe des „Tagesspiegel“ zu den Systemen Berufsschule und Fachhochschule? Ich zitiere:
Bisher existieren beide Systeme geräuschlos und ohne Berührung nebeneinander.
So steht es in Ihrem Artikel heute in der Zeitung. Ich lade Sie herzlich in meinen Wahlkreis ein. Dort hat die Jade Hochschule, die Fachhochschule, ein Projekt mit den berufsbildenden Schulen; es nennt sich „Frühstarter“. Im letzten Berufsschuljahr vermitteln Dozenten aus dem Wirtschaftsbereich der Fachhochschule den jungen Menschen entsprechende Lehrinhalte, um eine Brücke zur Fachhochschule zu schlagen. Diese können danach mit 20 Credit Points in die Fachhochschule einsteigen.
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Also, da läuft nichts nebeneinander, sondern das ist ganz klar ein Miteinander.
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Der Haushaltsentwurf für 2020 sieht eine Erhöhung der Mittel für die SBB auf insgesamt 61 Millionen Euro vor. An dieser Stelle möchte ich Ihren Antrag mit einigen Worten bewerten: Sie benutzen eine Kreuzschlitzschraube für eine Schlitzschraube. Ich wäre vorsichtig. Am Ende wird das nicht gehen.
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Das wurde Ihnen auch von den Studienstiftungen in einem Artikel vom 6. August dieses Jahres bestätigt. Die Stiftungen halten sich zurück, auch die FDP-nahe Stiftung ist damit sehr vorsichtig.
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Das Urteil der Stiftungen zusammengefasst lautet: Wir sind dafür schlicht die falschen Ansprechpartner.
Wir fördern die richtigen Ansprechpartner und machen dabei große Schritte. Wir sorgen dafür, dass gleichwertige Schrauben adäquat bearbeitet werden. – Diese Weiterbildung war für Sie mehrwertsteuerfrei und sollte es auch bleiben.
Danke schön.
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Vielen Dank, Kollege Albani. – Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Götz Frömming, AfD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Lieber Kollege Brandenburg, ganz so vernichtend wird unsere Kritik nicht ausfallen, wie es der Kollege Albani eben hat anklingen lassen.
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Wir können Ihrem Antrag durchaus einiges abgewinnen. Sie haben hier schon andere Anträge vorgestellt, zum Beispiel zum BAföG, mit denen wir größere Schwierigkeiten hatten. Aber zu diesem Antrag sage ich: Die Richtung stimmt, auch wenn wir im Detail mit einigen Akzentsetzungen unsere Probleme haben.
Was will die FDP erreichen? Vereinfacht gesagt: Sie wollen die bisher überwiegend auf Akademiker zugeschnittene Stipendienwelt öffnen, und zwar für Begabte aus dem Bereich der beruflichen Bildung. Sie wollen darüber hinaus, um nur noch zwei weitere Schwerpunkte zu nennen, die Mittelzuweisung der Stiftung Begabtenförderung berufliche Bildung für die Förderprogramme „Aufbaustipendium“ und „Weiterbildungsstipendium“ erhöhen. Und Sie wollen eine Öffnung des Deutschlandstipendiums für Begabte aus der beruflichen Bildung zumindest prüfen. – So weit, so gut.
Etwas problematisch ist die dem Antrag innewohnende Verwischung der Unterschiede zwischen akademischer und beruflicher Bildung. Diese sind gleichwertig, aber nicht gleichartig. Meine Damen und Herren, eine Differenzierung ist hier dringend notwendig. Hubert Esser, Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung, sagte dazu während der Fachtagung „Berufliche Aus- und Fortbildung in Zeiten der Akademisierung“ am 25. Juni 2019 in Bonn – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten –:
Um die Attraktivität der beruflichen Bildung gegenüber der akademischen Bildung wieder zu stärken, sollten wir keinesfalls der Versuchung erliegen, beide Bildungsbereiche anzugleichen. Wir sollten vielmehr selbstbewusst die Stärken beider Bereiche betonen und tragfähige Brücken bauen, um die Durchlässigkeit zu erhöhen. Durchlässigkeit darf aber nicht mit Beliebigkeit und Nivellierung oder einer Verwischung von Profilen einhergehen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir müssen darüber sprechen, wohin uns die Überbewertung der akademischen Ausbildung, die Überbewertung von Gymnasien, Abitur und Studium im Vergleich zur beruflichen Ausbildung gebracht hat.
Mehr als 2 Millionen Menschen im Alter von 20 bis 34 Jahren haben keinen Berufsabschluss, das geht aus dem Berufsbildungsbericht 2019 hervor. 17 Prozent der Erwachsenen zwischen 25 und 65 Jahren haben keinen berufsqualifizierenden Bildungsabschluss, so weit der nationale Bildungsbericht von 2018. In Ostdeutschland sind es übrigens nur 7 Prozent, in den rot-grünen Bildungshochburgen Bremen und Nordrhein-Westfalen über 20 Prozent.
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Wie kann das sein, wo doch so viel Geld in die Bildung fließt wie in kaum einem anderen Land? Meine Damen und Herren, der langjährige Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, hat dafür eine auf den ersten Blick verblüffende Erklärung. Die eben beschriebene Misere resultiere aus einer seit Jahren betriebenen Überbewertung der akademischen Bildung bzw. Ausbildung. Er nennt auch diejenigen, die diesen Prozess seit Jahren vorangetrieben haben: die OECD mit PISA und Co sowie die Bertelsmann-Stiftung. Unterstützt wurden diese wirtschaftslobbyistischen Organisationen von linken Lehrergewerkschaften, deren Menschen- und Gesellschaftsutopie die Forderung nach möglichst vielen Abiturienten und Akademikern entgegenkommt.
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Leider haben sich da beide gemeinsam verrannt. Die Überakademisierung, meine Damen und Herren, nutzt weder den Menschen noch der Wirtschaft.
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Über- und Pseudoakademisierung bei gleichzeitiger Vernachlässigung und Geringschätzung beruflicher Bildungswege führt dazu, dass jeder dritte Student sein Studium abbricht und Millionen junge Leute in unserem Land ohne Berufsabschluss dastehen; wir haben die Zahlen eben genannt. Die jahrzehntelange Vernachlässigung der beruflichen Bildung erweist sich nun sogar als Wachstumsbremse und geht mit einem gigantischen Fachkräftemangel einher, der durch Migration und den Import mexikanischer Pflegekräfte nicht ausgeglichen werden kann;
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von den gesellschaftlichen Kollateralschäden, auf die beispielsweise auch Helmut Schmidt schon hingewiesen und vor denen er gewarnt hat, einmal ganz zu schweigen.
Leider richtet sich unsere Bildungspolitik an den falschen Vorbildern aus, weil die Erbsenzähler der Testindustrie uns Sand in die Augen gestreut haben. Sie sagen, wir sollten nach Schweden oder auch nach Finnland blicken, dort schafften über 90 Prozent das Abitur. Was uns die Herren des Schiefen Turms von Pisa nicht gesagt haben, ist, wie hoch dort die Jugendarbeitslosigkeit ist. In beiden Ländern liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei um die 20 Prozent.
Meine Damen und Herren, in einem Bundesland wie Bayern, in dem bekanntlich nicht jeder das Abitur sofort geschenkt bekommt, liegt sie nur bei 3 Prozent. Wir sollten uns überlegen, wer für uns Vorbild sein kann: Bayern oder Finnland und Schweden. Mir fällt diese Entscheidung leicht.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Vielen Dank.
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Der nächste Redner: für die SPD-Fraktion der Kollege Dr. Karamba Diaby.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der junge Stipendiat wusste damals noch nicht, dass er einmal folgenden Satz sagen würde – ich zitiere –:
Das Bürgerliche zeigt sich ... in der Verteidigung der Freiheit, der Anerkennung des Individuums und damit auch im Respekt vor Andersdenkenden.
In Detmold/Kreis Lippe ist er am 5. Januar 1956 geboren, besuchte das Gymnasium, absolvierte sein Abitur, erhielt später ein Stipendium der Friedrich-Ebert-Stiftung und wurde Jurist. Heute ist Dr. Frank-Walter Steinmeier Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in Deutschland werden aktuell circa 30 000 Studierende durch Begabtenförderungswerke gefördert. In den letzten Jahren hat sich die Zahl der Geförderten mehr als verdoppelt. Dafür gibt es zwei Gründe: Die Zahl der Studierenden ist gestiegen. Die Fördermittel des Bildungs- und Forschungsministeriums werden regelmäßig erhöht. In Deutschland gibt es 13 Begabtenförderungswerke, die Stipendien an Studierende und Promovierende vergeben. Diese Werke bilden die verschiedenen weltanschaulichen, religiösen, politischen, wirtschafts- oder gewerkschaftsorientierten Strömungen in Deutschland ab. Sie spiegeln also die Vielfalt dieser Gesellschaft wider, und das ist gut so.
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Erlauben Sie mir, ein praktisches Beispiel zu nennen. Das Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerk fördert Menschen jüdischen Glaubens. Das Avicenna-Studienwerk unterstützt muslimische Studierende. Beide Werke kooperieren trotz unterschiedlicher Zielgruppen hervorragend bei Veranstaltungen und Projekten. Das ist die gelebte Realität Deutschlands, meine Damen und Herren.
Im Koalitionsvertrag haben wir uns darauf geeinigt, dass wir – ich zitiere – „die Stipendienkultur und Begabtenförderwerke in Deutschland weiter stärken“ wollen. Deshalb ist es klar, dass wir die internationale Arbeit der politischen Stiftungen auch in Zukunft unterstützen und rechtlich sichern wollen.
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Die Werke stehen bereits heute vor großen Herausforderungen. Ihre Arbeit bedeutet eben nicht nur die Auszahlung eines Stipendiums oder einer Pauschale; denn die ideelle Förderung ist das Herzstück ihrer Arbeit und ihr Alleinstellungsmerkmal. Hierdurch vermitteln die Werke jungen Menschen Werte und Kernkompetenzen und stärken ihr Bewusstsein für das Gemeinwesen. Die Werke tragen so dazu bei, dass Menschen, die sich für die Gesellschaft engagieren, unterstützt werden. Es geht hier also auch um Demokratieförderung.
Aber diese Arbeit, die ideelle Förderung, verlangt Betreuung, entsprechende Verwaltungsstrukturen und damit letztlich mehr finanzielle Mittel. Eine Öffnung der Werke für Auszubildende wäre ohne klare Festlegung, wie dann für diese Gruppe die ideelle Förderung gewährleistet werden soll, aus meiner Sicht eine Überforderung der Werke.
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Außerdem haben wir bereits die Stiftung Begabtenförderung berufliche Bildung; das wurde von Kollegen schon genannt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesem Sommer haben alle 13 Werke zum ersten Mal eine Sommerakademie zum Thema „Demokratie gestalten!“ angeboten. In einer Zeit, in der die Demokratie in Gefahr gerät, ist das ein guter Weg. Es ist auch eine Wertschätzung, dass der Bundespräsident, also ein Alumnus der Friedrich-Ebert-Stiftung, die Schirmherrschaft dieses Projektes übernommen hat.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Freiheit verteidigen, Menschen anerkennen und Andersdenkende respektieren sind Pfeiler einer offenen und solidarischen Gesellschaft. Deshalb sollten auch wir in diesem Bewusstsein die Werke weiter stärken und nicht überfordern, liebe FDP.
Danke schön.
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Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Kollegin Dr. Birke Bull-Bischoff.
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Meine Damen und Herren! Wenn man sich für Inklusion engagiert – und das tut Die Linke nach Kräften –, dann kann man eigentlich gar nicht gegen diesen Antrag sein, weil Inklusion ganz grundsätzlich bedeutet, Menschen in ihren Stärken und Begabungen zu fördern, und Vielfalt eine facettenreiche Quelle von Bildung ist. Das heißt eben auch, ganz besondere Stärken zu fördern, auch und gerade in der beruflichen Bildung – keine Frage. – So weit, so gut.
Aber die Forderung, die Sie aufstellen, wird natürlich nicht in einem luftleeren Raum aufgerufen; denn wir treffen in der Bildung auf Verhältnisse, die erheblich von sozialer Spaltung geprägt sind. Und – diese Bemerkung sei mir gestattet –: Die Forderung wird von den Liberalen gestellt, die in aller Regel darauf beschränkt sind, ohnehin privilegierte Eliten zu fördern. Da ist ein Stückchen Achtung geboten.
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Verblüfft, ehrlich gesagt, wäre ich wirklich gewesen, wenn Sie hier mal einen Antrag gestellt hätten, der sich mit jungen Menschen beschäftigt, die benachteiligt sind.
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Wo liegen die Probleme? Der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg ist ein ganz problematischer Befund für unser Bildungssystem hierzulande, und das seit vielen Jahren, und findet sich auch in beruflicher Bildung, wenn von Begabten die Rede ist. Als Klammerbemerkung gestatten Sie mir zu sagen: Ich halte es für treffender, von Begabungen zu sprechen, weil „Begabtenförderung“ immer irgendwo aufruft, es gäbe auch nichtbegabte Menschen. – Wenn also von Begabungen die Rede ist, meint das zumeist Menschen, die bereits dort lernen, wo gemeinhin Spitze vermutet wird: Abiturientinnen und Abiturienten mit besten Schulabschlüssen oder junge Menschen mit Zugang zu besonders attraktiven Berufsausbildungen, und das meint eben leider in aller Regel nur bereits privilegierte junge Menschen. Bei den Stiftungen beispielsweise, von denen hier die Rede ist, ist das geradezu ein Markenzeichen. Menschen, die sich da bewerben, kommen aus sozialen Milieus, wo man sich kennt, wo man gewohnt ist, sich zu bewerben, und wo man es für möglich hält, dass eine solche Tür sich öffnet.
Die Förderung von Begabungen darf aber nicht auf Privilegiertenförderung reduziert werden oder, genauer gesagt, eine solche bleiben. Das jedoch geschieht mit dem Antrag. Wenn Sie sich die Zahlen beispielsweise von den politischen Stiftungen ansehen, dann werden Sie merken, dass dort weit überproportional junge Menschen mit einem akademischen Elternhintergrund gefördert werden.
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– Bis auf die Rosa-Luxemburg-Stiftung.
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Was in Ihrem Antrag fehlt, sind Vorschläge dafür: Wie kann es gelingen, die Stärken auch derjenigen jungen Menschen zu fördern, die alles andere als privilegiert sind? Anders gefragt: Wie kann es gelingen, die Stärken jener jungen Menschen sichtbar zu machen, die in Institutionen lernen, wo gemeinhin Begabung nicht vermutet wird? Ich nenne hochbegabte Kinder in Förderschulen beispielsweise. Diese Welten fallen bei Ihnen leider sehr oft unter den Tisch. Auch junge Menschen ohne Berufsabschluss, junge Menschen mit Hauptschulabschluss können über außergewöhnliche Talente verfügen, aber sie lernen meist nicht an den Stellen, die als Talentschmieden gelten. Dort sucht man sie in aller Regel gar nicht. Förderung der Spitze kann nur gelingen, wenn das Fundament nicht vernachlässigt wird; ansonsten wird es reichlich dünn mit der Spitze.
Was wäre notwendig? Wir brauchen ein Recht auf Ausbildung,
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damit junge Leute, bei denen erst in der Ausbildung der Knoten platzt, gewissermaßen Spätentwickler, das Recht haben, Stück für Stück eine vollqualifizierende Ausbildung zu beginnen.
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Wir brauchen Lernmittelfreiheit. Wenn junge Leute anfangen, Spaß und Motivation zu entwickeln, dann dürfen teure Lehrbücher keine Bremse sein. Und – ganz zentral –: Wir brauchen endlich ausreichend multiprofessionelles Lehrpersonal. Wir brauchen Rahmenbedingungen und Förderstrukturen, die überall Talente fördern.
„Wir können auf kein Talent verzichten“, höre ich sehr oft von einem der wertgeschätzten Kollegen der FDP. Ich finde nur: Das sollte kein Lippenbekenntnis sein. Mit Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen, gehen Ihnen eine ganze Reihe von Talenten durch die Lappen.
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Die Kollegin Beate Walter-Rosenheimer hat das Wort für Bündnis 90/Grüne.
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Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kollegen und Kolleginnen! Liebe Zuhörer und Zuhörerinnen! Lieber Kollege Brandenburg, erst mal ist das ja eine wunderschöne Idee: Sie wollen Bildung gerechter machen und berufliche und akademische Bildung gleichstellen, zumindest in einem kleinen Aspekt, nämlich der Begabtenförderung. Sie fordern in Ihrem Antrag, die Begabtenförderung für Talente der beruflichen Bildung zu öffnen. Und das klingt gut: keine akademisch abgeschottete Elitenförderung mehr, sondern Gleichbehandlung auch für Auszubildende. Sie wollen die Förderung von jungen Talenten aus dem akademischen Bereich ausweiten auf den Ausbildungsbereich, Förderung also nicht nur für Studierende, sondern auch für Azubis. Im Sinne der Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung ist das durchaus fair und konsequent gedacht.
Bisher ist es so – ich zitiere, was Sie sagen –:
Die Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung bleibt auch in der Begabtenförderung mehr Wunsch als Wirklichkeit.
Das wollen Sie ändern, und das finde ich gut. Allerdings frage ich mich, warum Ihnen dann doch ein bisschen der Mut fehlt, das Ganze konsequent durchzudeklinieren.
Warum fordern Sie in Ihrem Antrag nur einen Anteil von mindestens 10 Prozent Stipendiaten und Stipendiatinnen aus der beruflichen Bildung?
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Wenn Sie wirklich Gleichwertigkeit herstellen wollen, warum dann nicht Nägel mit Köpfen machen und eine echte Öffnung der Begabtenförderungswerke fordern, gemäß der sich Auszubildende und Studierende die Plätze teilen? Eines muss, denke ich, klar sein: Eine bloße Symbolpolitik, dass wir immer so ein bisschen was machen, wird uns auf dem Weg zur Gleichwertigkeit nicht weiterbringen.
Das Gleiche gilt, finde ich, auch für die Zögerlichkeit beim Deutschlandstipendium. Sie wissen ja, wir halten das eh nicht für so zielführend.
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Aber wenn schon Öffnung des Deutschlandstipendiums, dann würden wir gern wissen: Was meinen Sie mit „mittelfristig“? Zwei Jahre, fünf Jahre, zehn Jahre? Das finde ich ein bisschen unklar in Ihrem Antrag.
Sie schreiben auch noch, dass sich die Begabtenförderungswerke frei für eine Öffnung entscheiden sollen. Das ist ja sehr schön. Aber meinen Sie, dass das ein probates Mittel ist? Ich denke, dass der Widerstand gegen diese Öffnung in Hochschulkreisen ja recht hoch sein könnte. Wir haben es gerade bei den Berufsbezeichnungen Bachelor Professional und Master Professional erlebt.
Wie gesagt, ich finde Ihren Vorschlag durchaus attraktiv – er kann ein Schritt in die richtige Richtung sein –, aber dann braucht es, denke ich, mehr Konsequenz.
Lassen Sie mich noch zu einem anderen Aspekt kommen, der mir wichtig ist. Wenn wir diese Debatte aufmachen, dann müssen wir uns auch mal darüber Gedanken machen, wie wir Talente in unserem Land künftig fördern wollen. Ein zentrales Problem – Frau Bull-Bischoff hat es schon angesprochen – ist hier doch, dass die Zugangschancen zu Förderprogrammen ganz ungleich verteilt sind, und das gilt sowohl für die berufliche als auch für die akademische Bildung. Das geht ganz oft nach dem Motto „Wer hat, dem wird gegeben“, und dann bekommen junge Menschen aus Akademikerfamilien immer noch überproportional häufig Stipendien, während Kinder aus Arbeiterhaushalten oft leer ausgehen. Klugheit, Intelligenz, Talent sind nicht immer die entscheidenden Kriterien. Es kommt immer noch viel zu sehr auf das Elternhaus an, immer noch viel zu sehr auf den Bildungsstand und den Geldbeutel der Eltern; und das sollte im Jahr 2019 nicht mehr ausschlaggebend sein für den Erfolg der Kinder.
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Und hier, liebe Kollegen und Kolleginnen, müssen wir gemeinsam ran.
Als Grüne setzen wir uns seit Langem für die soziale Öffnung der Förderprogramme ein, damit auch bisher unterrepräsentierte Gruppen endlich erreicht werden. Das ist doch die Herausforderung, die wir gemeinsam anpacken müssen.
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Wir Grüne wollen nicht Eliten fördern, sondern Talente. Wir wollen Menschen in all ihren Begabungen fördern und den Begabtenbegriff nicht nur an guten Noten festmachen.
Wir brauchen für die Zukunft im Bereich Begabtenförderung dringend eine neue Betrachtung, einen neuen Weg und den berühmten Blick über den Tellerrand.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Die nächste Rednerin ist die Kollegin Katrin Staffler, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin der Meinung, wir sollten diesen September zum Monat der beruflichen Bildung erklären.
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Nicht nur, dass wieder, wie jedes Jahr im September, der diesjährige Jahrgang der Azubis mit der Ausbildung begonnen hat; wir haben in diesem Monat auch schon „50 Jahre Berufsbildungsgesetz“ gefeiert. Die Modernisierung des Berufsbildungsgesetzes ist im parlamentarischen Verfahren – man könnte so sagen – auf der Zielgeraden. Die Novelle des Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetzes ist im Kabinett in diesem Monat verabschiedet worden. Seit Anfang des Monats – der Kollege Stephan Albani hat darauf hingewiesen – sind wir in der Konzeptphase des InnoVET-Wettbewerbs, bei dem 30 Projekte Konzepte für innovative, zukunftsfeste und exzellente berufliche Bildung entwickeln. Und wir haben gerade in dieser Woche, am Montag, in der Enquete-Kommission „Berufliche Bildung in der digitalen Arbeitswelt“ mit den Zwischenberichten erste konkrete Handlungsempfehlungen beraten. Alles in diesem einen Monat! Und jetzt kommt auch noch der Antrag der FDP.
Ich muss ganz ehrlich sagen: Ich war einen kurzen Augenblick dazu verführt, mich zu freuen, als ich den Titel „Spitzen-Azubis fördern“ gelesen habe. Ich stimme dem durchaus zu. Wenn man nämlich wirklich Gleichwertigkeit zwischen akademischer und beruflicher Bildung will, dann ist es natürlich richtig und natürlich auch gerecht, wenn wir auch die vielen Talente aus dem Bereich der beruflichen Bildung entsprechend fördern.
Mit der Freude war es dann leider relativ schnell wieder vorbei, als ich im Titel weitergelesen habe; da heißt es dann nämlich: „Begabtenförderung für Talente der beruflichen Bildung öffnen“. In Ihrem Antrag fordern Sie eine radikal neue Form der Begabtenförderung. Jetzt bin ich grundsätzlich ein Freund davon, dass man über Dinge, die nicht gut laufen, nachdenkt. Ich sträube mich auch nicht dagegen, dass man etwas ändert, wenn es nötig ist; aber das ist ja hier gar nicht der Fall. Hier müssen wir uns erst einmal die Frage stellen: Welche Möglichkeiten existieren denn eigentlich, und woran können wir anknüpfen?
Da bin ich jetzt wieder bei der Stiftung Begabtenförderung berufliche Bildung; die ist ja heute schon in fast allen Reden genannt worden. Ich habe mal den Jahresbericht 2018 mitgebracht. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, er ist zwar ausgedruckt und daher vielleicht nicht im richtigen Format für eine digitale Partei;
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den gibt es aber auch digital, und es lohnt sich, da mal nachzulesen. Sie schreiben ja in Ihrem Antrag, dass Talente beruflicher Bildung bisher keinen Zugang zu Förderprogrammen hätten, die zum Beispiel zusätzliche Kompetenzen vermitteln und vernetztes Denken stärken; das kann man in Ihrem Antrag lesen. Ich habe den Bericht jetzt hier und schlage Seite 28 auf. Ich zitiere:
Das umfangreiche Seminarprogramm in der ideellen Förderung des Aufstiegsstipendiums bietet eine breite Palette an fachübergreifenden Themen. Diese reichten vom Zeit- und Selbstmanagement über das erfolgreiche Meistern von Konfliktgesprächen und professionelle Internetrecherche bis zu Strategien für die Prüfungsvorbereitung. Darüber hinaus gab es Seminare zu gesellschaftlichen Themen, etwa zur Zukunft der EU, zum Rechtsextremismus und zur Energie- und Klimapolitik.
Jetzt weiß ich nicht, wie Sie das interpretieren; aber ich würde ganz ehrlich sagen, Sie müssten in Ihrem Antrag noch mal ein bisschen nacharbeiten, weil Sie von völlig falschen Grundannahmen ausgehen.
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Stattdessen schlagen Sie vor, alle 13 Begabtenförderungswerke, die wir haben, zu öffnen. Da muss man sich überlegen, was das ganz konkret bedeutet. Das ist natürlich eine große Kraftanstrengung: Die Satzungen müssen grundlegend erneuert werden. Es braucht ganz grundlegend andere Aufnahmeverfahren dafür. – Natürlich kann man das machen; das ist nicht die Frage. Die Frage ist: Ist das nötig, um das Ziel, das wir am Schluss gemeinsam definiert haben, zu erreichen,
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oder gibt es vielleicht auch einen anderen Weg, das Ziel zu erreichen, der vielleicht ein Stück weit einfacher und vernünftiger ist? Und wenn ich da mit Vernunft und gesundem Menschenverstand abwäge, komme ich zu dem Schluss, dass es eben nicht vernünftig ist, die an sich gut funktionierenden Begabtenförderungswerke, die wir haben, komplett umzubauen. Stattdessen würde ich vorschlagen: Lassen Sie uns doch mal darüber sprechen, wie man zum Beispiel die Stiftung Begabtenförderung berufliche Bildung weiter ausbauen kann,
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wie man die Förderung exzellenter Azubis stärken kann, wie man das Ganze noch bekannter machen kann – das ist ja auch ein Thema – und – ein Punkt, der mir auch noch wichtig ist – wie man die Kooperation mit Begabtenförderungswerken noch erweitern kann, damit der Austausch von Talenten in der beruflichen Bildung mit denen in den Hochschulen besser klappt. – Das sind alles konkrete Punkte, wo wir besser werden können, ohne dass wir das gut funktionierende System der Begabtenförderung komplett umkrempeln müssten.
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Unser lieber Kollege Herr Dr. Sattelberger merkt ja immer wieder an: „Ich würde so gern aufzählen, was unsere Regierung gut macht.“ Ja, warum auch nicht? Natürlich. Ich finde, man muss auch mal sagen dürfen, wenn etwas gut klappt. Ich habe immer das Gefühl, dass die Opposition das gerne wegdiskutieren möchte. Deswegen werde ich auch heute wieder meinem Ruf hier gerecht werden und dem Gedächtnis ein wenig auf die Sprünge helfen. Ich möchte nämlich auf eine Maßnahme hinweisen, die wir ergriffen haben, um eben die Gleichwertigkeit der akademischen und der beruflichen Bildung noch weiter zu stärken, und zwar die vierte Novelle des Aufstiegs-BAföGs.
Die Ziele, die wir mit dieser Novelle verfolgen, sind: deutliche Verbesserungen beim Unterhaltszuschuss, mehr Familienfreundlichkeit, die Erhöhung des Zuschusses zum selbst zu zahlenden Beitrag, genauso der Erlass des Beitrags bei erfolgreichem Bestehen der Prüfung. Und, was ich besonders erfreulich finde, wir sehen auch eine Verbesserung in Form eines Beitragserlasses bei Existenzgründung vor. Das sind alles richtige und gute Anreize, wie ich finde. Berufsausbildung darf eben insgesamt dem Hochschulstudium in nichts nachstehen.
Ich freue mich von daher, dass die FDP das Thema „exzellente berufliche Bildung“ für sich entdeckt hat, und würde mich noch mehr freuen, wenn wir jetzt gemeinsam anfangen würden, uns vernünftig darüber zu unterhalten, wie wir das erreichen können.
Vielen Dank.
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Die Kollegin Yasmin Fahimi, SPD-Fraktion, ist die letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt.
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Sehr geehrter Herr Bundestagsvizepräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die FDP hat die berufliche Bildung für sich entdeckt. Halleluja!
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Hemdsärmelig präsentiert sich die FDP ja sowieso schon gerne auf Plakaten; aber bodenständig und sachkundig ist sie damit noch lange nicht. Im gefälligen Gewand der Begabtenförderung kommt nun die FDP in alter Manier daher und erzählt uns etwas über die Klischees von Leistungsstarken und Leistungsschwachen.
Begabtenförderung ist aber etwas anderes, als sich nur eine Elite herauszupicken und sie mit einem zusätzlichen Bonbon zu versehen.
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Wenn Sie das machen möchten, wenn Sie sich auf diesen Gedanken einlassen, dann machen Sie sich doch so ehrlich und schreiben einen Antrag zur Einführung eines zusätzlichen Bundespreises für das erste Prozent der am besten abschneidenden Azubis. Das wäre ehrlicher, das wäre nachvollziehbarer.
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Stattdessen schreiben Sie etwas über die Vielfalt und die Begabtenförderung in Ihrem Antrag. Das ist alles ganz nett; aber ich frage mich: Wann haben Sie eigentlich das letzte Mal mit einem Förderwerk gesprochen?
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Das machen die bereits jeden Tag.
Im Leitbild der Studienstiftung des deutschen Volkes steht etwas, was sich hinsichtlich der Frage des Verständnisses von Vielfalt und Elite schon differenziert von dem, was Sie schreiben. Da steht nämlich:
Wichtig sind uns in unseren Auswahlverfahren offene und faire Zugangswege: Bei der Beurteilung des Potenzials junger Menschen betrachten wir gelebtes Engagement und alles bislang Erreichte stets vor dem Hintergrund der individuellen Biografie.
Es geht also darum – ja, natürlich –, überhaupt ein Studium zu ermöglichen. Es geht aber vor allem auch um eine ganzheitliche Betrachtung und um ein umfassenderes Verständnis von Elite. Es geht nämlich um junge Menschen, die ausdrücklich ein besonderes gesellschaftliches Engagement mitbringen, und es geht um demokratische Verantwortungselite. Davon ist in Ihrem Antrag überhaupt nicht die Rede.
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Auch die unterschiedlichen Voraussetzungen von Auszubildenden und Studierenden betrachten Sie überhaupt nicht. Lernmittelzuschüsse zum Beispiel brauchen Auszubildende eigentlich gar nicht; die Lernmittel sollten nämlich die Betriebe zur Verfügung stellen. Wenn Sie hier aber eine Regelungslücke sehen, dann lassen Sie uns doch in der aktuellen Novelle des BBiG bitte schön auch eine unmissverständliche Regelung dazu finden; dann wäre nämlich allen geholfen. Auszubildende erhalten auch anders als Studierende eine Ausbildungsvergütung – und dank der SPD in Zukunft eine Mindestausbildungsvergütung und eine verbesserte Ausbildungsbeihilfe.
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Das passt also alles nicht zusammen, wenn man bedenkt, worum es hier eigentlich geht.
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Geht es um Vielfalt? Geht es um ein Eliteverständnis? Es gibt Zusatzangebote im Ausland, die in den Betrieben angeboten werden, und es gibt vor allem auch nachholenden Unterricht. Das ist mein Verständnis davon, wie man Talente in einem umfassenderen Sinne wahrnimmt und ihnen auf den Weg hilft. Und das gilt für alle Talente, die wir haben, und nicht nur für eine Eliten-Spitzenförderung mit nachgewiesenen Abschlüssen, wie sie Ihnen offensichtlich vorschwebt.
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Das Ziel Ihres Antrags bleibt also unklar. Im Gewand der Gleichwertigkeit und der Vielfalt schreiben Sie hier leider sachlichen Unsinn auf und haben ein sehr eingeschränktes Verständnis davon, was Talent und was Begabtenförderung eigentlich überhaupt heißt.
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Wenn Sie wirklich etwas für die Auszubildenden tun wollen, dann bringen Sie sich konstruktiv in die BBiG-Novelle ein, und lassen Sie uns dort die Bedingungen für Auszubildende verbessern. Da können Sie dann beweisen, ob Sie in Zukunft auch wirklich eine Partei der beruflichen Bildung sind.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wie vorhin angekündigt, beraten wir jetzt über den vorliegenden Gesetzentwurf zum Thema Share Deals. Wir arbeiten hiermit – das möchte ich ganz ausdrücklich sagen – eine weitere Vereinbarung des Koalitionsvertrages ab.
Für alle, die mit der Materie nicht ganz so vertraut sind: Was sind denn eigentlich Share Deals? Share Deals gibt es besonders bei hochpreisigen Immobilientransaktionen. Investoren kaufen dabei nicht die Immobilie und das Grundstück selbst, sondern die Anteilsmehrheit an einem Unternehmen. Solange dieser Anteil weniger als 95 Prozent beträgt, wird für diese Transaktion keine Grunderwerbsteuer fällig. Oft wird das jeweilige Unternehmen sogar eigens für diese Transaktion gegründet. Um es kurz zu machen: Einige große Unternehmen nutzen Gestaltungsspielräume aus, um zulasten unseres Gemeinwesens Steuern zu sparen. Dieses Verhalten stört zu Recht das Gerechtigkeitsempfinden vieler Bürgerinnen und Bürger, die beim Kauf ihres Familieneigenheims ganz selbstverständlich Grunderwerbsteuer zahlen, und das nicht zu knapp.
Mit dem vorliegenden Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grunderwerbsteuergesetzes, der im Wesentlichen Vorschläge der Finanzminister der Länder beinhaltet, werden die missbräuchlichen Steuergestaltungen in der Grunderwerbsteuer durch verschiedene Einzelmaßnahmen eingedämmt.
Zentral ist dabei die Absenkung der Beteiligungsgrenze von 95 auf 90 Prozent. Zusätzlich wird die Frist, während der die Beteiligungen gehalten werden müssen, von fünf auf zehn Jahre verlängert. Missbräuchliche Gestaltungen werden dadurch nicht nur erschwert, sondern sie werden vor allem für Leute, die sie wirklich nur nutzen, um Steuern zu sparen, deutlich unattraktiver.
Es ist zukünftig auch nicht mehr möglich, durch sukzessive Gesellschafterwechsel nach mehr als fünf Jahren der Pflicht zur Zahlung der Grunderwerbsteuer zu entgehen. Die Frist wollen wir auch hier auf zehn Jahre erweitern und den Tatbestand auf Kapitalgesellschaften ausdehnen. Eine Umgehung mittels Kapitalgesellschaften wird dann deutlich erschwert.
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Flankiert werden diese Hauptelemente des Gesetzentwurfs von weiteren Einzelmaßnahmen. Unter anderem wird die Begrenzung des Verspätungszuschlages beseitigt. Hierdurch wird sichergestellt, dass der Verspätungszuschlag auch bei hochpreisigen Immobilientransaktionen seinen eigentlichen Zweck erreicht, nämlich den Steuerpflichtigen zur rechtzeitigen Anzeige eines Grundstückerwerbs zu bewegen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, zum Thema Share Deals wird eine emotional aufgeladene Debatte geführt, und wir wissen, dass es eine sehr diffizile Diskussion ist. Der Grundgedanke hinter den Share Deals war ursprünglich ja nicht, ein Steuersparmodell zu schaffen, sondern es zu ermöglichen, dass Unternehmen, gerade wenn sie Verantwortung übernehmen, nicht noch zusätzlich durch Grunderwerbsteuer belastet werden.
Wir wissen, dass das Thema Steuergestaltung ein Hase-und-Igel-Spiel ist, wo wir aufpassen müssen, dass wir Schritt halten. Deswegen werden wir in den Beratungen sehr genau gucken, ob das, was wir wollen, auch wirklich mit dem Gesetz erreicht wird.
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Denn der klare Wille der Bundesregierung ist es, dass wir dem Missbrauch der Gestaltungsmöglichkeiten durch Share Deals einen Riegel vorschieben. Da setzen wir auch auf die gute und erprobte Zusammenarbeit mit den Parlamentarierinnen und Parlamentariern dieses Hauses.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Der nächste Redner: der Kollege Udo Hemmelgarn, AfD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Zuschauer auf den Tribünen! Ein paar Hundert Meter von hier steht das Sony Center. Das wurde 2017 für mehr als 1 Milliarde Euro verkauft, ohne dass auch nur ein Cent Grunderwerbsteuer gezahlt wurde.
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Während jeder Häuslebauer die Grunderwerbsteuer zahlen muss, kommen große Investoren daran vorbei. Der Trick: Man kauft nicht das Grundstück an sich, sondern die Gesellschaft, der es gehört. Zunächst 94,9 Prozent und nach Ablauf von fünf Jahren die restlichen Anteile. Das Ganze nennt sich Share Deal und ist völlig legal. Bekannt ist das seit Langem, passiert ist wie immer nichts. Eine weitere Ungerechtigkeit im Merkel-Rechtsstaat.
Verschärft wurde das Problem noch dadurch, dass sich die Länder einen regelrechten Wettlauf um die höchste Grunderwerbsteuer liefern. Seit 2006 wurde die Grunderwerbsteuer in den Ländern insgesamt 27-mal erhöht. Sie erreicht jetzt in der Spitze 6,5 Prozent. Die Länder haben leider auch allen Grund zur Erhöhung der Steuer: Im Länderfinanzausgleich wird ihnen ein zu geringer Steuersatz negativ angerechnet. – Das Gesamtaufkommen der Grunderwerbsteuer stieg seit 2006 von 6 Milliarden Euro auf 14 Milliarden Euro im Jahr 2018.
Die Länder wollen selbstverständlich am Boom im Immobilienbereich partizipieren. Doch je weiter die Grunderwerbsteuer angehoben wurde, desto attraktiver wurden Share Deals. Gerade bei großen Immobiliengesellschaften ab circa 15 Millionen Euro lohnt sich der Share Deal für Investoren. Das ist nicht gerecht, aber ökonomisch verständlich. Dem Normalbürger ist nicht zu vermitteln, dass er bis zu 6,5 Prozent Grunderwerbsteuer zahlen soll, während andere das nicht tun. So wird auf Dauer das Ansehen des Rechtsstaates noch weiter beschädigt.
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Die Bundesregierung hat sich des Problems jetzt angenommen und nach langem Hin und Her einen Gesetzentwurf vorgelegt. Das Ergebnis ist ernüchternd. Die Beteiligungsgrenze wird von knapp 95 auf 90 Prozent abgesenkt, die Haltefrist von fünf auf zehn Jahre verlängert. Im Ergebnis werden damit lediglich die bisherigen Grenzen verschoben. Wurden Share Deals bisher ab circa 15 Millionen Euro Grundstückswert vollzogen, wird sich diese Grenze wahrscheinlich auf 20 Millionen Euro erhöhen. Die Share Deals im Immobilienbereich werden damit etwas weniger attraktiv. Gelöst wird das Problem trotzdem nicht. Eine angemessene Lösung sieht anders aus. Aber wie immer fehlt es der Bundesregierung am Willen und an der Kraft, sich von einem untauglichen System zu lösen. Lieber stümpert man weiter daran herum.
Wir haben zu den Share Deals einen eigenen Antrag vorgelegt. Die richtige Lösung besteht aus unserer Sicht aus drei wesentlichen Punkten.
Erstens: Senkung der Grunderwerbsteuer. Wir haben hier und an anderer Stelle immer wieder gefordert, dass die Grunderwerbsteuer gesenkt wird. Sie hindert viele Bürger am Erwerb von Wohneigentum. Und vergessen wir nicht: Eigentum ist Absicherung im Alter. Das alleine wäre schon Grund genug, um sie zu senken. Daneben führt sie dazu, dass große Investoren nach Steuervermeidungsmöglichkeiten suchen und Share Deals abschließen. Deshalb muss die Grunderwerbsteuer – notfalls durch eine Verfassungsänderung – auf maximal 3,5 Prozent gedeckelt werden.
Zweitens: Änderung des Länderfinanzausgleichs. Derzeit bietet der Länderfinanzausgleich deutliche Fehlanreize. Eine Erhöhung der Grunderwerbsteuer wird mit noch mehr Mitteln aus dem Länderfinanzausgleich belohnt. Eine Senkung der Steuer wird mit weniger Mitteln bestraft. Es ist offensichtlich, dass das keinen Sinn macht. Die Bundesregierung darf sich dabei nicht auf fruchtlose Appelle beschränken. Sie muss handeln und entsprechende Änderungen auf den Weg bringen.
Drittens: Fokus auf den Inhalt des Geschäfts. Was genau soll durch das Geschäft erworben werden? Geht es tatsächlich um ein Immobilienunternehmen, dessen wirtschaftlicher Kern ein oder mehrere Grundstücke sind? Oder geht es zum Beispiel um eine produzierende Gießerei, wo das Betriebsgrundstück nur eine untergeordnete Rolle spielt? Wird die Mehrheit im erstgenannten Fall erworben, soll natürlich Grunderwerbsteuer gezahlt werden. Im letztgenannten Fall geht es dagegen um den Erwerb der Gießerei, sodass Grunderwerbsteuer nicht anfallen soll.
Wir haben einen Antrag vorgelegt, der zeigt, wie die Share-Deal-Problematik zu lösen ist. Natürlich wird man uns wieder sagen: Unsere Lösung werde aus diesen oder jenen Gründen nicht funktionieren, sie sei Spinnerei und wir hätten überhaupt keine Ahnung. – Deshalb ein kurzer Hinweis: Unser Konzept entspricht im Wesentlichen der Anregung, die im Frühjahrsgutachten des Rates der Immobilienweisen zur Lösung des Problems gegeben wurde.
Die Bundesregierung hat wieder einmal die Wahl, das Problem vor sich herzuschieben oder es zu lösen und so rechtliche Klarheit zu schaffen. Wir befürchten, leider schon heute zu wissen, welche Möglichkeit Sie wählen.
Danke.
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Der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion ist der Kollege Olav Gutting.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucher auf den Zuschauertribünen! Der heute vorgelegte Gesetzentwurf zur Änderung des Grunderwerbsteuergesetzes war ursprünglich im Jahressteuergesetz enthalten. Mit diesem Gesetz wollen wir, wie schon dargestellt, die grunderwerbsteuerlichen Folgen von missbräuchlichen Share Deals verhindern bzw. eindämmen.
Durch die Intervention der CDU/CSU-Bundestagsfraktion konnten wir diese Änderung bei der Grunderwerbsteuer aus dem Jahressteuergesetz herausnehmen. Ich glaube, dass diese Abtrennung aufgrund der Komplexität und der Folgewirkungen dieses Gesetzentwurfs auch wirklich zwingend notwendig war. Wir benötigen eine angemessene Zeit zur intensiven Auseinandersetzung mit diesem Thema und zu einer umfangreichen Auswertung der vorliegenden Sachverständigengutachten.
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Bundesregierung, Bundesrat und auch die Koalitionsfraktionen sind sich zwar über die Zielrichtung dieses Gesetzes einig, aber nicht unbedingt über den Weg. Aber dazu nachher mehr.
Die hehren Ziele des Entwurfs – Frau Staatssekretärin hat es ja schon dargestellt – sind die Missbrauchsverhinderungen bei den sogenannten Share Deals. Manche Kritiker sprechen ja von einem Steuerschlupfloch, das es jetzt möglichst schnell zu schließen gilt.
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Aber die Frage ist doch: Wann ist der Erwerb von Grund und Boden mittels eines Share Deals noch eine zulässige Gestaltung, und ab wann kann man tatsächlich von einem Missbrauch sprechen? Diese Frage ist meines Erachtens weder von der Wissenschaft noch von den Bundesländern, die für diese Steuer ja die Verwaltungskompetenz und die Ertragskompetenz haben, bisher befriedigend beantwortet.
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Die jetzt im Gesetzentwurf vorgesehene Absenkung der Beteiligungsgrenze von 95 auf 90 Prozent sowie die Verlängerung der Behaltensfrist von fünf auf zehn Jahre sollen ja die Gestaltungsspielräume sowohl für Personengesellschaften wie dann auch in § 1 Absatz 2b des Gesetzentwurfs für Kapitalgesellschaften verengen und damit die missbräuchliche Vermeidung der Steuer einschränken. Aber vor allem die Übergangsfristen für die Anwendung des alten bzw. des dann geänderten Rechts sind ein ganz kritischer Punkt in der Bewertung dieses – und das muss man betonen – von den Bundesländern initiierten und von der Bundesregierung mehr oder weniger im Auftragsverfahren umgesetzten Gesetzentwurfs. So sollen die Übergangsfristen am Datum der Zuleitung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung an den Bundesrat festgemacht werden. Das heißt, einige Regelungen in diesem Gesetzentwurf sollen rückwirkend zum 9. August 2019 in Kraft treten.
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Ich glaube, neben den langen Behaltens- und Überwachungsfristen, die vorgesehen sind, ist gerade diese teilweise Rückwirkung ein Punkt, der verfassungsrechtlich bedenklich ist.
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Trotz fachlicher Unstimmigkeiten bzw. auch Bedenken des Fachreferats ist dieser Gesetzentwurf dann übernommen worden, vor allem wahrscheinlich auch deshalb, weil die Bundesländer, zum Beispiel bei einer quotalen Erhebung der Grunderwerbsteuer, einfach den Mehraufwand der Administration gescheut haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Entwurf hat tatsächlich viele Fragen aufgeworfen. Wie soll zum Beispiel mit auf Immobilienanlagen spezialisierten Kapitalverwaltungsgesellschaften umgegangen werden? Wie soll die Zuordnung des Anteilserwerbs bei ausländischen Investoren erfolgen? Wie soll die Einführung der Steuerpflicht für Kapitalgesellschaften administriert werden, wenn schon bei der Besteuerung von Personengesellschaften ein Defizit im Vollzug besteht? Wie soll in Strukturen mit weit gefächertem Anteilsbesitz, zum Beispiel über Kapitalsammelstellen, eine echte Nachvollziehbarkeit von Gesellschafterwechseln und damit ein Vollzug durch die Finanzverwaltung überhaupt möglich sein? Das sind alles Fragen, die bisher noch keine Antwort gefunden haben. Das Bundesfinanzministerium ist redlich bemüht; das muss man schon anerkennen. Die Fachabteilungen mühen sich ab, die Vorgaben aus dem Koalitionsvertrag umzusetzen. Aber durch die Vorgaben und Vorlagen der Länder kommt hier leider nur ein Fragment zustande.
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Mit diesem Fragment ist man weder in der Lage, den Missbrauch von Share Deals wirklich zu definieren, noch lässt es Hoffnung auf eine wirklich nachhaltige Bekämpfung dieses Missbrauchs aufkommen. Außerdem muss erwähnt werden: Wir haben im Koalitionsvertrag noch etwas mehr vereinbart. Ich vermisse den Freibetrag für den Ersterwerb, den wir gerade für junge Familien als ein wichtiges Signal zur Schaffung von Wohnraum erachten.
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Wir werden also noch mal sehr intensiv über diesem Gesetzentwurf brüten. Wir werden uns noch mal sehr intensiv mit diesem Entwurf befassen und Antworten auf die aufgeworfenen Fragen finden müssen. Dazu sollten wir uns die Zeit nehmen, die wir brauchen.
Auf gute Beratungen!
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Vielen Dank, Olav Gutting. – Danke auch für die Zeit, die Sie uns geschenkt haben.
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Schönen Nachmittag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Endspurt: Dr. Florian Toncar ist der Nächste für die FDP-Fraktion.
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Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute über einen Gesetzentwurf der Bundesregierung zu sogenannten Share Deals bei der Grunderwerbsteuer, wo es darum geht, Versuche, die Grunderwerbsteuer zu umgehen, einzudämmen. Ohne Frage besteht hier Handlungsbedarf; denn es existiert die eine oder andere trickreiche Gestaltung am Markt. Aber es ist viel zu wenig, sich im Zusammenhang mit der Grunderwerbsteuer ausschließlich darüber Gedanken zu machen, wie die Einnahmen erhöht werden können. Das ist für die normalen Menschen gar nicht das, womit sie bei der Grunderwerbsteuer in Berührung kommen. Viele Menschen wünschen sich eine eigene Immobilie als Teil ihrer Unabhängigkeit, als Teil ihrer persönlichen Altersvorsorge, um sie ihren Kindern weitergeben zu können. Das sind legitime und wichtige Wünsche in einer bürgerlichen Gesellschaft.
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All diese Menschen, die das machen möchten, egal warum sie sich eine Immobilie anschaffen möchten, müssen heute zwischen 3,5 und 6,5 Prozent Grunderwerbsteuer auf den Kaufpreis zahlen, und das in der Regel zusätzlich zu dem Eigenkapital, das sie für den Kauf selbst ja mitbringen müssen.
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Das führt dazu, dass viele, gerade junge Familien, eben sehr spät oder manche auch gar nicht in der Lage sind, einen Erwerb zu stemmen – wegen Nebenkosten, wegen zu hohen Eigenkapitalanforderungen.
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Wenn man, liebe Kolleginnen und Kollegen, über die Frage diskutiert „Wie sind Vermögen in Deutschland verteilt?“, und gleichzeitig den Eigentumserwerb für die Mitte der Gesellschaft so teuer macht wie heute, dann ist das schizophren. Da müssen wir doch zuerst rangehen.
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Deswegen fordern wir als Freie Demokraten hier nicht zum ersten Mal einen Freibetrag auf den Kaufpreis bei der Grunderwerbsteuer für selbst genutzte Immobilien in Höhe von 500 000 Euro.
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Lieber Kollege Gutting, auch Sie haben das gerade gefordert. Sie haben es aber abgelehnt als Abgeordneter hier im Bundestag, im Finanzausschuss, als wir es beantragt haben. In dem Entwurf Ihrer Regierung ist das wieder nicht drin. Es wird also, glaube ich, wirklich Zeit, dass Sie sich da ein bisschen stärker in die Debatte einbringen. Wir werden Ihnen hier noch Gelegenheit geben, auch über den Freibetrag mit abzustimmen, weil er das wichtigste und wirksamste Instrument ist, um für die Mitte der Gesellschaft Eigentumserwerb zu erleichtern.
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Nun zum Thema „Share Deals“. Bisher kann man durch gewisse Gestaltungen von Geschäften Grunderwerbsteuer sparen, indem man ein Grundstück in eine Gesellschaft einbringt und Gesellschaftsanteile übertragen werden, und zwar dann, wenn mindestens 5 Prozent der Anteile an der Gesellschaft für mindestens fünf Jahre zurückbehalten werden. Nun schlagen Sie als Lösung dieses Problems vor, dass aus fünf Jahren zehn Jahre und aus 5 Prozent 10 Prozent werden. Ich sage Ihnen voraus: Bei Transaktionen mit Immobilien werden die Beteiligten, die es heute schon darauf anlegen, das Ganze so auszugestalten, dass keine Grunderwerbsteuer fällig wird, in Zukunft 10 Prozent für zehn Jahre zurückbehalten und weiterhin keine Steuer zahlen. Sie werden nichts, aber auch gar nichts an Umgehungstatbeständen und den ganzen damit verbundenen Problemen lösen. Es ist wirkungslos, was Sie hier vorschlagen.
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Auf der anderen Seite lösen Sie aber Kollateralschäden aus bei Unternehmen, denen es gar nicht darum geht, ein Grundstück zu erwerben oder Steuern zu sparen. Bei den meisten Anteilserwerben von Unternehmen geht es dem Erwerber mitnichten darum, de facto ein Grundstück zu erwerben und sozusagen nur die Hülle eines Unternehmenserwerbs drumherum zu bauen. In der Regel werden ja Anteile an operativ tätigen Unternehmen deshalb erworben, weil das Unternehmen weitergeführt, weiterbetrieben werden soll, nicht weil man ein Grundstück haben will, das dem Unternehmen gehört. Das muss man doch sehen.
All diese Unternehmen bestrafen Sie zukünftig. Denen greifen Sie in die Tasche, und das nicht einmal nur dann, wenn jemand die Mehrheit an dem Unternehmen erwirbt und damit auch Zugriff auf die Grundstücke des Unternehmens bekommt. Sie bestrafen die Unternehmen im Grunde schon dafür, dass viele Kleinanteile über zehn Jahre verteilt den Besitzer wechseln, ohne dass sich an der Herrschaft über das Grundstück irgendetwas ändert. Das ist ein Griff in die Taschen der deutschen Unternehmen, die nichts Illegales tun, die sich redlich verhalten. Das ist in der jetzigen wirtschaftlichen Phase, aber auch generell überhaupt nicht gerechtfertigt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Ich fasse zusammen: Sie belasten auch redliche, rechtstreue Unternehmen. Die Tricks wird es trotz Ihres Vorschlags weiter geben. Für den Eigentumserwerb der Mitte der Gesellschaft tun Sie in Ihrem Entwurf gar nichts. Ich glaube, sehr viel falscher hätte man es nicht machen können. Wir werden sehen, Kollege Gutting, was daraus in der Beratung im Ausschuss noch wird. Ich fürchte, dass man ganz neu anfangen muss, über das Thema Grunderwerbsteuer zu sprechen.
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Vielen Dank, Kollege Toncar. – Nächster Redner: Jörg Cezanne für die Fraktion Die Linke.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Die Welt“ schreibt: „Die größte Ungerechtigkeit beim Hauskauf.“ „Der Spiegel“ nennt sie „Eine Art Dummensteuer“, und sie gilt als Einfallstor für Geldwäschetatbestände. Ja, die Grunderwerbsteuer und insbesondere das – ich nenne es so – legale Steuerschlupfloch Share Deals ist ein Problem, das behoben werden muss.
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Wenn ein Normalbürger ein Grundstück oder ein Haus kauft, dann zahlt er dafür eine Grunderwerbsteuer. Großinvestoren können diese Steuerregeln umgehen; sie können diese Grunderwerbsteuer sparen, indem sie – das ist hier schon gesagt worden – eben nicht das Grundstück oder das Haus selber kaufen, sondern eine Firma, der dieses Grundstück gehört. Damit ändert sich formal nicht das Eigentum an der Immobilie, und die Grunderwerbsteuer wird nicht fällig. Die juristische Logik dahinter ist, dass man einen Anteilserwerb an einem Unternehmen gleich behandelt, egal ob jemand zehn Aktien eines börsennotierten Unternehmens wie VW oder BMW besitzt oder die bestimmende Mehrheit an einem Immobilienunternehmen hat, dem ganze Stadtteile gehören. Und das ist der Haken an der Regulierung. Hier muss eingeschritten werden.
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Bislang hat der Gesetzgeber das so geregelt, dass nur bei sehr weitgehenden Übernahmen von 95 Prozent oder mehr von einem solchen Unternehmen die Grunderwerbsteuer fällig wird. Logischerweise – da muss man noch nicht mal besonders viel BWL studiert haben – kommt man schnell auf die Idee, sich einen stillen Zweitinvestor zu suchen, der 5,1 Prozent übernimmt. Dann sparen sich beide die Grunderwerbsteuer. Nach fünf Jahren läuft die derzeitige gesetzliche Frist aus, und Vonovia, Deutsche Wohnen und Co können auch die restlichen 5,1 Prozent grunderwerbsteuerfrei übernehmen. Das ist ein Steuertrick, und der muss beendet werden.
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Was die Bundesregierung nun vorschlägt, ist weder originell – Kollege Toncar hat es schon gesagt – noch wirkungsvoll.
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Sie will die Schwelle der Grunderwerbsteuerpflicht beim anteiligen Erwerb von 95 Prozent auf 90 Prozent reduzieren. In Zukunft müssen Investoren also einen passiven Investor für 10,1 statt 5,1 Prozent finden. Das wird nicht so schwer sein. Diese Regelung reicht nicht aus.
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Wir schlagen daher einen Systemwechsel vor. Wir schlagen vor, dass, wer die Hälfte eines Immobilienunternehmens übernimmt, dann auch entsprechend den von ihm übernommenen Anteilen Grunderwerbsteuer zahlen soll; denn mit dieser Übernahme von mehr als der Hälfte geht auch der Hauptzweck des Geschäftes, nämlich eine wirtschaftliche Verwertung, einher. Wir schlagen eine anteilige Besteuerung entsprechend den übernommenen Anteilen vor.
Wir schlagen außerdem eine Vereinfachung vor, indem wir in 10-Prozent-Stufen vorgehen und eben nicht bis ins Letzte die prozentualen Anteile ausrechnen müssen. Das macht es auch der Finanzverwaltung leichter und ist weniger streitanfällig. Daneben müssten noch ein paar begleitende Maßnahmen ergriffen werden: Ein Immobilienregister würde helfen, genau zu wissen, wer der wirtschaftliche Nutznießer ist. Fristen sollten ausgeweitet werden, und mehr Personal bei der Finanzverwaltung, um das überprüfen zu können, würde auch helfen.
Danke schön.
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Vielen Dank, Jörg Cezanne. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Lisa Paus.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In den vergangenen zehn Jahren hat sich das Immobilienkaufkarussell in Deutschland immer schneller gedreht. Riesige Wohnbestände haben die Besitzer gewechselt: Allein in Berlin wechselten 20 Prozent des gesamten Wohnungsbestandes den Besitzer. Das Zuhause von Millionen Menschen ist in Deutschland zum Anlageobjekt und zum Spielball internationaler Finanzinvestoren geworden. Drastische Mietsteigerungen, Herausmodernisierungen und Verdrängungen sind die Folge. Und das müssen wir stoppen, meine Damen und Herren.
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Ein besonderer Brandbeschleuniger im Immobiliencasino ist das Steuerschlupfloch „Share Deals“, eine legale Steuergestaltungsmöglichkeit, die es den Käufern ermöglicht, die beim Kauf fällig werdende Grunderwerbsteuer zu sparen. Und so wurden 2015 beim Verkauf des Eurotowers in Frankfurt 29 Millionen Euro gespart, 2017 wurden beim Sony Center in Berlin 66 Millionen Euro gespart:
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Insgesamt gehen laut Schätzung den Ländern jedes Jahr 1 Milliarde Euro an Steuereinnahmen verloren. Das Erschreckende ist: Dieser Steuertrick ist seit Jahren bekannt. Meine Fraktion hat schon 2016 einen Antrag mit einem Vorschlag eingebracht, wie man dieses Steuerschlupfloch schließen kann; aber er wurde abgelehnt, und bis heute wurde nichts geändert.
Inzwischen sind drei weitere Jahre ins Land gegangen. Bund und Länder haben eine Arbeitsgruppe gegründet. Sie kreißten und kreißten, und jetzt liegt das Ergebnis vor: Sie gebaren eine Maus. – Der bisherige Steuertrick – das wurde schon gesagt – funktioniert so: Kaufe statt einer Immobilie 94,9 Prozent einer Gesellschaft, die eine Immobilie besitzt, und kaufe oder lasse nach fünf Jahren die restlichen 5,1 Prozent kaufen, dann zahlst du statt bis zu 6,5 Prozent Grunderwerbsteuer 0 Prozent Grunderwerbsteuer. Mit diesem Gesetzentwurf heißt es nun: Kaufe statt einer Immobilie 89,9 Prozent einer Gesellschaft, die eine Immobilie besitzt, und nach zehn Jahren den Rest oder auch nicht, und du zahlst wieder 0 Euro Grunderwerbsteuer. Das schließt kein Steuerschlupfloch. Das ist etwas besser als weiße Salbe.
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So kommentiert denn auch der Partner einer der großen Wirtschaftskanzleien in Deutschland, McDermott, Herr Ortmanns, er glaube nicht, dass diese neuen Regelungen die Branche auf den Kopf stellen werden. Zitat:
Schon jetzt hat es viele Transaktionen mit alternativen Strukturen am Markt gegeben. Viele Kanzleien haben sich bereits auf die neue Situation eingestellt und ihre Mandanten vorsorglich entsprechend beraten.
Mit anderen Worten: Die Steuertrickserei mit Share Deals geht mit diesem Gesetzentwurf munter weiter. Und deswegen ist dieser Gesetzentwurf drastisch zu wenig, meine Damen und Herren,
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zumal Share Deals den weiteren Vorteil haben, dass sich mit ihnen für die Investoren der Mieterschutz in sogenannten Milieuschutzgebieten, also in Wohngegenden, die von hoher Verdrängung der angestammten Mieterschaft bedroht sind, aushebeln lässt und zum Beispiel das Vorkaufsrecht der Kommunen und stärkere Genehmigungspflichten ausgehebelt werden können.
Mindestens genauso schlimm sieht es auch auf dem Land, bei der Landwirtschaft aus: In den letzten zehn Jahren sind die Ackerlandpreise in Deutschland explodiert. Sie sind in den neuen Bundesländern um 250 Prozent gestiegen, die Pachtpreise um 80 Prozent. Überregionale Kapitalinvestoren besitzen inzwischen in Ostdeutschland 34 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche, und das, obwohl es in Deutschland eigentlich gar nicht erlaubt ist, dass Nichtlandwirte Boden erwerben. Auch das müssen wir ändern.
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Es wurde jetzt schon von allen Fraktionen gesagt, eigentlich sei das wichtig und man müsse da etwas tun. Und auch die Regierungskoalition sagt ja nicht, man müsse nichts tun. Dass Sie jetzt nur das tun, begründen Sie vor allen Dingen damit, dass man verfassungsrechtlich mehr nicht tun kann. Das haben wir ernst genommen. Wir hatten ja ein bisschen Zeit, nämlich drei Jahre. Wir haben gesagt: Okay, dann helfen wir nach. Wir beauftragen renommierte Steuer- und Verfassungsrechtler und fragen, ob es nicht doch noch eine andere Möglichkeit gibt. – Wir haben zwei Gutachten in Auftrag gegeben. Das Ergebnis ist: Natürlich geht es. Man kann sehr wohl, wenn man ein sogenanntes quotales Modell, also eine anteilige Besteuerung, einführt, von 90 auf 50 Prozent runtergehen. Das Gutachten von Professor Anziger und Professor Reimer zeigt: In den Niederlanden gibt es bereits eine anteilige Besteuerung von Immobiliengesellschaften, die funktioniert. Und sie ist auch übertragbar auf Deutschland. Dieses Konzept ermöglicht sogar die Besteuerung von Grunderwerb ab 30 Prozent oder sogar darunter.
Denken Sie bitte an die Redezeit.
Ich komme zum Schluss. – Aber was machen Sie? Sie erwägen ernsthaft, Ihre Förmchen weiter zu verwässern, eine Börsenklausel einzuführen. Das hieße, dass dann für börsennotierte Immobiliengesellschaften wie zum Beispiel die Deutsche Wohnen und Vonovia die Grunderwerbsteuerpflicht sogar vollständig entfällt. Wie absurd ist das denn, meine Damen und Herren!
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Jetzt aber wirklich.
Wir wollen den Handel mit Immobilien teurer machen. Beschließen Sie meinetwegen diesen Gesetzentwurf; aber lassen Sie uns die Anhörung nutzen, damit wir bald ein Gesetz auf den Weg bringen können, -
Frau Paus!
– das Share Deals tatsächlich abschafft.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Frau Paus. – Nächste Rednerin in der Debatte: Cansel Kiziltepe für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Steigende Mietpreise und der Mangel an Sozialwohnungen gefährden schon länger das gesellschaftliche Klima in Deutschland. Während einkommensschwache Bürgerinnen und Bürger verzweifelt nach bezahlbarem Wohnraum suchen, kaufen Immobilienkonzerne ganze Straßenzüge und verbreiten Angst und Schrecken.
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Wissen Sie, was das Schärfste dabei ist? Sie zahlen dafür im Gegensatz zu Otto Normalbürgerin oft keinen einzigen Cent Grunderwerbsteuer, und ich sage Ihnen: Das ist ein No-Go, und das werden wir nicht länger dulden.
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Es geht um die sogenannten Share Deals. Anstatt wie Familien bei einem Hauskauf rechtmäßig die Grunderwerbsteuer zu zahlen, kaufen große Kapitalgesellschaften häufig nur Anteile von Gesellschaften, die diese Grundstücke halten, und so kann auch diese Steuer umgangen werden, während andere blechen müssen, und das geht nicht. Das ist ein Gerechtigkeitsproblem, das wir beheben müssen. Deshalb haben wir auch im Koalitionsvertrag festgelegt, diese Ungerechtigkeit wirksam zu beenden.
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Der vorliegende Gesetzentwurf erschwert die Steuervermeidung mittels Share Deals deutlich. Ich möchte auch noch mal betonen, dass der Gesetzentwurf auf einem Vorschlag der Länder beruht. Mit einem Stimmenverhältnis von 16 zu 0 haben die Länder vorgeschlagen, was wir jetzt hier auf Bundesebene übernehmen. Allerdings ist die Herabsenkung der Anteilsgrenze auf nur 90 Prozent nicht unumstritten – das muss man auch so sagen –: Das ist auch bei uns umstritten. Meine Fraktion wird sich in der parlamentarischen Beratung für eine deutlich wirksamere und effizientere Regelung einsetzen; da können Sie sich sicher sein.
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Herr Toncar, Sie haben erwähnt, wir nähmen uns gar nicht des Problems an, die Grunderwerbsteuerlast grundsätzlich abzusenken. Da frage ich mich, warum die Regierung in Nordrhein-Westfalen – Sie wissen ja, die Absenkung ist eine Ländersache – das seit zwei Jahren nicht umsetzt und den Grunderwerbsteuersatz dort nicht absenkt, um alle Menschen zu entlasten.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, aus den Share Deals konnte schon viel zu lange Profit geschlagen werden. Mittlerweile wird von diesem Konzept nicht nur beim Kauf größerer Immobilienportfolios Gebrauch gemacht, sondern es sind zunehmend auch kleinere Transaktionen zu beobachten. Somit entstehen bei den Ländern natürlich Steuermindereinnahmen. Ich sage Ihnen: Dieses Geld können wir anderswo sehr gut gebrauchen.
Einen Punkt möchte ich allerdings noch deutlich machen. Es geht hier nicht darum – die Börsenklausel wurde hier angesprochen; das ist die erste Lesung dieses Gesetzes, und wir werden das auch in den Beratungen intensiv diskutieren –, Unternehmen zu bestrafen, sondern es geht hier darum, illegale Steuerumgehungsmöglichkeiten zu beseitigen, und das werden wir auch mit dem Bundesfinanzministerium intensiv diskutieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Share Deals sind ein Steuerschlupfloch für reiche Investoren und ausländische Immobilienfonds. Share Deals sind ein Beispiel für das unsolidarische Handeln großer Immobiliengesellschaften. Sie sind mittlerweile keine Randerscheinungen mehr. Sie sind eine Bedrohung für die soziale Gerechtigkeit in diesem Land, und deshalb können und werden wir nicht weiterhin tatenlos zusehen. Wenn die Mitte unserer Gesellschaft fair und gerecht Steuern zahlt, kann es nicht sein, dass Immobilienfonds den Wohnungsmarkt leerkaufen und dabei auch noch die Steuern umgehen.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Danke schön.
Meine Redezeit ist anscheinend zu Ende. – Vielen Dank.
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Herzlichen Dank, Frau Kollegin. – Ja, ich mache das jetzt immer so.
Nächster Redner: Sebastian Brehm für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer auf den Tribünen! In der gegenwärtigen Diskussion wird immer wieder auf die Vereinbarungen im Koalitionsvertrag Bezug genommen. In diesem sind zwei wesentliche Beschlüsse zur Grunderwerbsteuer vereinbart worden:
Erstens:
Wir prüfen einen Freibetrag bei der Grunderwerbsteuer beim erstmaligen Erwerb von Wohngrundstücken für Familien ohne Rückwirkung beim Länderfinanzausgleich.
Zweitens:
Nach Abschluss der Prüfarbeiten durch Bund und Länder werden wir eine effektive und rechtssichere gesetzliche Regelung umsetzen, um missbräuchliche Steuergestaltungen bei der Grunderwerbsteuer mittels Share Deals zu beenden. Die gewonnenen Mehreinnahmen können von den Ländern zur Senkung der Steuersätze verwendet werden.
So heißt es im Koalitionsvertrag.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der gegenwärtige Gesetzentwurf der Bundesregierung erfüllt nach meiner Auffassung die im Koalitionsvertrag vereinbarten Regelungen leider nicht.
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Zum einen ist aus meiner Sicht bei der Prüfung über die Schaffung des Freibetrags beim erstmaligen Erwerb von Wohngrundstücken durch den Bund und die Länder überhaupt noch kein Ergebnis erzielt und die Diskussion überhaupt noch nicht abgeschlossen worden. Dieser Punkt, die Schaffung eines Freibetrags, ist meiner Meinung nach dringend erforderlich,
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da die Grunderwerbsteuer beim Erwerb des Eigenheims eine der wesentlichen Belastungen gerade für kleinere und mittlere Einkommen darstellt
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und diese Grunderwerbsteuer oft ein Hemmschuh ist, ein Eigenheim zu erwerben. Eine Befreiung von der Grunderwerbsteuer ist übrigens nichts Neues: Sie gab es schon bis 1982, und sie wurde dann Stück für Stück wieder zurückgenommen.
Zum anderen müssen wir, glaube ich, erst mal klären, was unter einer missbräuchlichen Steuergestaltung in diesem Zusammenhang zu verstehen ist. Die Anwendung von Recht und Gesetz kann ja nicht per se eine missbräuchliche Steuergestaltung sein.
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Die Grunderwerbsteuer wird zwar – ähnlich wie die Grundsteuer – vom Bund geregelt, sie steht aber den Ländern zu. Seit dem 1. September 2006 dürfen die Länder den Steuersatz selbst festlegen.
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Zuvor war er bundesweit zunächst auf 2 Prozent und dann auf 3,5 Prozent gedeckelt. Die Steuereinnahmen der Länder sind durch die Erhöhungen stetig gestiegen. Von Mindereinnahmen zu sprechen, ist hier also völlig falsch. In Brandenburg, in NRW, im Saarland, in Thüringen, in Schleswig-Holstein beträgt der Steuersatz inzwischen 6,5 Prozent, in Berlin und Hessen 6 Prozent. Diese hohen Steuersätze sind übrigens auch ein wesentlicher Grund dafür, dass man Vermeidungen überhaupt versucht. In Bayern und Sachsen bleibt es beim ursprünglichen Satz von 3,5 Prozent; insofern ist es dort vorbildlich.
Wer fordert denn jetzt die Vermeidung von Share Deals? Es sind genau die Länder, die einen Grunderwerbsteuersatz von 6,5 Prozent oder 6 Prozent haben. Deswegen sollte man erst einmal fordern, dass diese Länder ihre Grunderwerbsteuersätze auf 3,5 Prozent senken. Das wäre schon mal die erste Maßnahme, um Missbrauch zu vermeiden.
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Um was geht es eigentlich bei der Formulierung „Missbrauch durch Share Deals“? Zunächst ist festzuhalten, dass Anteilsverkäufe bei Unternehmenstransaktionen, im Englischen „share deals“, ganz normale Vorgänge in der Wirtschaft sind. Bei der Grunderwerbsteuer, die normalerweise an den Grundstückskauf anknüpft, gibt es im Gesetz einen Ergänzungstatbestand, der besagt: Wenn 95 Prozent der Anteile unmittelbar oder mittelbar innerhalb von fünf Jahren an einen neuen Anteilseigner übergehen, dann wird eben noch mal Grunderwerbsteuer fällig. Aber zunächst muss man erwähnen – das hat keiner der Kritiker getan –, dass beim Kauf eines Grundstücks bereits Grunderwerbsteuer gezahlt wird. Dieser Ergänzungstatbestand ist also eine zweite, eine neue Besteuerung in Form der Grunderwerbsteuer bei einem Anteilsverkauf mittels Share Deals.
Es wird immer wieder zitiert, dass beim Verkauf des Sony Centers am Potsdamer Platz im Jahr 2015/2016 keine Grunderwerbsteuer gezahlt worden ist; Frau Paus, so ist immer wieder Ihre Diktion. Der kanadische Investor Brookfield, der das Sony Center gekauft hat, hat im Januar 2016 veröffentlicht, dass es sich um gar keinen Share Deal gehandelt hat, sondern um einen sogenannten Asset Deal. Es ist also das Grundstück durch den Kauf in ein neues Betriebsvermögen übergegangen, und dadurch ist auch Grunderwerbsteuer gezahlt worden. Also, man muss immer wieder mal gucken, wie die Einzelfälle liegen.
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Ich bin einverstanden, wenn gefordert wird, dass wir versuchen, missbräuchliche Gestaltungen zu vermeiden. Wenn ein Gesetz so angewendet wird, wie wir es nicht wollen, dann müssen wir eben gesetzliche Regelungen finden; aber zunächst müssen wir doch erst mal definieren: Was ist ein Missbrauch? Einfach pauschal zu sagen: „Ein Share Deal ist eine missbräuchliche Gestaltung“, ist falsch. Deswegen müssen wir in den weiteren Beratungen erst mal darüber diskutieren und nachlegen.
Im vorliegenden Gesetzentwurf sind auch handwerkliche Fehler enthalten. Zum Beispiel müssten börsennotierte Unternehmen schon bei einem Anteilswechsel Grunderwerbsteuer zahlen. Die großen börsennotieren Unternehmen wechseln ihre Anteile zu mehr als 95 Prozent innerhalb eines Jahres, sodass jedes Jahr Grunderwerbsteuer für die betrieblichen Grundstücke gezahlt werden müsste. Auch bei ganz normalen Umstrukturierungen im Konzern – ein tägliches Geschäft – würde Grunderwerbsteuer anfallen. Insofern wird mit diesem Gesetzentwurf das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Wir hätten Kollateralschäden wirklich in erheblichem Ausmaß.
Deswegen lassen Sie uns bitte in aller Ruhe diesen Gesetzentwurf zurückstellen. Wir sollten miteinander formulieren: Was ist der Missbrauch? Wo und mit welchen Maßgaben können wir die missbräuchlichen Gestaltungen einschränken? Der Gesetzentwurf, der jetzt vorliegt, erfüllt diese Maßgaben nicht. Insofern bitte ich noch einmal um eine intensive Diskussion, um das Ziel, missbräuchliche Steuergestaltung zu vermeiden, zu verwirklichen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Sebastian Brehm. – Ich schließe die Aussprache.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz, dem DVG, debattieren wir heute ein Gesetz, auf das wir alle sehr lange gewartet haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Warten hat sich gelohnt. Wir machen Gesundheits-Apps auf Rezept möglich, wir bauen die Telematikinfrastruktur, die Datenautobahnen, aus, damit sich Ärzte, Kliniken, Apotheken und Pflegeheime in einem ersten Schritt besser austauschen können. Wir ermöglichen mehr Videosprechstunden, wir ermöglichen mehr Telemedizin. Wir wollen damit weniger Zettelwirtschaft. Es wird ein Abschied vom Faxgerät sein. Ich kann Ihnen sagen: Auch die elektronische Patientenakte, die ePA, werden wir zum Laufen bringen.
Wenn wir von Digitalisierung sprechen, heißt das, dass wir Digitalisierung gestalten wollen. Wir wollen die Patientenversorgung verbessern. Wir wollen Potenziale nutzen, die durch die strukturierte Nutzung von Daten, gerade im Gesundheitssystem, möglich sind. Ich finde es immer sehr schade, dass wir die Debatte nicht chancengetrieben führen. Natürlich gab es in der Vergangenheit auch Skandale. Es gab Vorgänge, bei denen durch unsachgemäßem Umgang mit Daten, insbesondere sensiblen Gesundheitsdaten, in der Öffentlichkeit der Eindruck erzeugt wurde, als würde alles drunter und drüber gehen.
Aber der wirkliche Skandal um die Gesundheitsdaten ist ein anderer. Er liegt einerseits im unsachgemäßen Umgang mit diesen Daten; denn wer seine Daten ohne Verschlüsselung auf irgendwelchen Portalen stehen lässt, ist einfach nur fahrlässig. Der andere wirkliche Skandal liegt darin, dass die wichtigen, wertvollen Daten, die in der Medizin genutzt werden könnten, nicht genutzt werden, obwohl es für Patienten sinnvoll wäre, sie zu nutzen, und dies in vielen Fällen Leben retten könnte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was wollen wir mit dem Gesetz erreichen? Wir wollen die Trillionen von Bytes an Daten, die jeden Tag anfallen, diese wertvollen Daten nutzbar machen für eine Verbesserung der Patientenversorgung. Es geht um Diabetespatienten, die heute schon ihre Werte per App unter Kontrolle halten können. Es sind weniger Arztbesuche nötig. Bei Hautkrebs und radiologischen Untersuchungen kann man viel zuverlässiger als bisher Krankheitsbilder erkennen. Wir können mit künstlicher Intelligenz, mit Algorithmen, den Arzt bei der Bilderkennung unterstützen. Im Pflegeheim weiß die Nachtschicht viel genauer, wie es dem Patienten tagsüber ging, weil beim Schichtwechsel nicht etwas zugerufen oder hingekritzelt wird, sondern weil es in der digitalen Patientenakte gespeichert wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, denken wir an Parkinsonpatienten, die ein Dutzend Medikamente einnehmen müssen. Für sie ist der digitale Medikationsplan ein Quantensprung. Patienten werden erinnert, Falschdosierungen werden vermieden, Angehörige werden entlastet. Und genau darum geht es, um konkrete Verbesserungen für die Patientinnen und Patienten.
Wenn wir über Daten diskutieren, müssen wir natürlich auch mit Augenmaß schauen, wie wir wichtige Akteure in die Debatte einbinden. Es geht darum, dass wir forschende Unternehmen, Forschungseinrichtungen und die Gesundheitswirtschaft einbinden. Medizinischer Fortschritt in Deutschland wird ganz maßgeblich in großem Umfang von universitären Forschungseinrichtungen, aber auch von privaten Forschungseinrichtungen gestemmt. Insofern glaube ich, dass das Forschungsdatenzentrum, das wir im Gesetzentwurf vorsehen, ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung ist; denn es geht darum, durch die Vernetzung vorhandener Daten Forschung weiter voranzutreiben, es zu ermöglichen, dass neue Therapieansätze entwickelt werden können, dass bessere Patientenversorgung möglich ist. Aber wir dürfen dort nicht stehen bleiben, wir müssen weitergehen. Wir müssen auch über die Möglichkeit einer Datenspende zum Wohl der medizinischen datengestützten Forschung nachdenken. Das müssen wir vorantreiben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen uns auch im Rahmen des Digitale-Versorgung-Gesetzes darüber verständigen, wie wir Digitalisierung konkreter auch an Patientinnen und Patienten adressieren. Wir als Politik stellen Digitalisierung häufig nur sehr abstrakt dar, aber es geht konkret darum, den praktischen Mehrwert für jeden Einzelnen darzustellen. Es geht letztendlich darum, dass wir ein anderes Verständnis davon bekommen, wie Daten auch Versorgung verbessern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe es angesprochen: Wir haben lange auf dieses Gesetz gewartet. Wir wollen Digitalisierung gestalten. Viele Patienten warten darauf. Viele Patienten wollen digitale Möglichkeiten nutzen. Zur Erinnerung: Wir haben erst vor Kurzem die Dekade gegen Krebs ins Leben gerufen. Wir alle sagen, wir wollen Krebs irgendwann heilen. Dazu ist es nötig, mit Forschung, mit Daten, mit Datenvernetzung diesen ersten großen Schritt zu gehen. Den großen Schritt gehen wir mit dem DVG. Lassen Sie uns gemeinsam weiter vorangehen und weitere Schritte machen.
Vielen herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Tino Sorge. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Jörg Schneider.
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Zuschauer! Gesundheit ist ein Thema, das uns alle angeht. Insofern hoffe ich, dass ganz viele Bürger diese Debatte verfolgen. Ich möchte einen Großteil meiner Redezeit dafür nutzen, für die Digitalisierung im Gesundheitswesen zu werben.
Stellen Sie sich vor, ein Arzt macht eine Röntgenaufnahme. Er gewinnt wesentliche Erkenntnisse, wenn er diese Aufnahme vielleicht mit einer älteren Aufnahme vergleichen kann. Das ist aber heute oft nicht gegeben. Man hat durch Umzug den Arzt gewechselt, man ist beruflich bedingt vielleicht gerade an einem anderen Ort. Unsere Gesellschaft ist mobiler geworden. Der Hausarzt, der einen über Jahrzehnte betreut, ist heute nicht mehr der Regelfall. Hier entstehen Lücken im Informationssystem. Ich denke, mit Digitalisierung können wir diese Lücken schließen. Der Arzt hat dann wirklich die Möglichkeit, mit wenigen Klicks auch auf die alten Aufnahmen zurückzugreifen.
Es ist noch mehr möglich. Wir sind eine älter werdende Gesellschaft. Menschen leiden an mehreren Krankheiten. Ist denn wirklich gewährleistet, dass sich die Fachärzte untereinander absprechen? Oft ist es dann der Apotheker, der merkt, dass zwei Medikamente von zwei Fachärzten verschrieben worden sind, die sich in ihrer Wirkung aufheben. Solche Fehler können wir mit der Digitalisierung wesentlich systematischer erkennen. Das spart Kosten, und es erhöht natürlich den Erfolg auf eine Heilung.
Auch in der Wissenschaft ist eine ganze Menge möglich. Ein Beispiel: Ungefähr 5 Prozent aller Neugeborenen entwickeln einen sogenannten Blutschwamm. Dafür gab es ganz lange eigentlich keine wirklich wirksame Therapie. Und dann ist eine Krankenschwester zufällig darauf gestoßen: Bei Kindern, die gleichzeitig wegen eines Herzproblems ein bestimmtes Medikament erhielten, verschwand dieser Blutschwamm. So wurde zufällig eine wirksame Therapie gefunden.
Jetzt stellen Sie sich mal vor: Millionen von Patientendaten, über Jahrzehnte gesammelt, das Ganze anonymisiert und wissenschaftlich ausgewertet. Vielleicht gelingt es uns ja, zu entdecken, dass Menschen, die als junge Patienten eine bestimmte Therapie erhielten, im Alter nicht an Alzheimer erkranken, und wir finden auf diese Art und Weise – dann nicht mehr nur ganz zufällig, sondern systematisch – tatsächlich eine Prävention gegen diese schreckliche Krankheit.
Ich möchte Sie deswegen alle bitten: Machen Sie in den vielen Gesprächen, die Sie mit Bürgern führen, Werbung für die Digitalisierung, machen Sie den Leuten klar, dass sie ihnen etwas nutzt, und kämpfen Sie mit mir gemeinsam gegen die Vorbehalte, die immer noch bestehen. Wir als AfD werden diesen Prozess wohlwollend begleiten, aber natürlich auch ein bisschen kritisch.
Erlauben Sie mir zum Schluss drei kritische Anmerkungen.
Erster Punkt: In diesem Gesetzentwurf ist vorgesehen, dass sich Krankenkassen auch an Start-ups beteiligen sollen. Start-ups liefern Produkte; Krankenkassen bezahlen diese Produkte. Ich denke, es ist sinnvoll, dass immer eine gewisse Distanz zwischen der Krankenkasse und dem Lieferanten besteht. Wir sollten die Krankenkassen gar nicht erst dem Verdacht aussetzen, dass sie ein bestimmtes Produkt vielleicht nicht deshalb bewerben, weil es gut ist, sondern weil sie an dem Lieferanten beteiligt sind.
Zweiter Punkt: Telemedizin. Die größte Gruppe der Patienten sind ältere Menschen, und die haben oft nicht so diese Affinität zu PC und Bildschirm. Wenn wir jetzt tatsächlich das persönliche Gespräch mit dem Arzt ersetzen durch ein Bildschirmgespräch, vielleicht in einer problematischen Situation, bei der es um eine negative Prognose geht, dann müssen wir, glaube ich, sehr aufpassen, dass wir an der Stelle nicht über das Ziel hinausschießen.
Dritter Punkt: Wir haben immer noch über 100 Krankenkassen. Jetzt kommen Sie bitte nicht mit dem Begriff „Wettbewerb“. Das Korsett des Sozialgesetzbuchs V ist so eng; für das bisschen Wettbewerb, das da möglich ist, brauchen wir nicht über 100 Krankenkassen. Diese 100 Krankenkassen sorgen aber für bürokratische Monstren, zum Beispiel den morbiditätsbedingten Risikostrukturausgleich.
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Das hört sich nicht nur so schlimm an, sondern das ist auch so schlimm. Ich denke, wir könnten uns vielleicht darauf verständigen, dass wir die Zahl der Krankenkassen auf eine einstellige Zahl reduzieren. Wenn wir heute schon so weit wären, dann wären wir vielleicht auch mit der Digitalisierung schon ein ganzes Stück weiter.
Ich danke Ihnen.
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Vielen Dank, Jörg Schneider. – Nächste Rednerin: Sabine Dittmar für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich persönlich verbinde große Hoffnungen und Erwartungen mit der Digitalisierung unseres Gesundheitswesens. Drei Punkte sind dabei für mich und meine Fraktion besonders wichtig: zum Ersten die konsequente Herstellung der Transparenz für den Patienten in der Versorgung bei Wahrung seiner Datensouveränität, zum Zweiten die nachhaltige Weiterentwicklung und digitale Modernisierung unserer Versorgungsstrukturen und zum Dritten die bürokratische Entlastung der Beschäftigten und letztendlich aller Akteure im Gesundheitswesen.
Wir werden deshalb zeitnah die elektronische Patientenakte als künftiges Herzstück der Versorgung auf den Weg bringen. Denn wir wollen endlich die Patientinnen und Patienten in die Lage versetzen, vollständigen Einblick in ihre eigene Versorgung nehmen zu können, sofern sie das möchten. Denn nur ein informierter Patient kann auch Verantwortung in eigener Sache übernehmen und als echter Partner im System auftreten; davon bin ich gerade als Ärztin überzeugt.
Digitalisierung bedeutet für mich aber vor allem auch Innovation in der Versorgung der Patientinnen und Patienten, ob digitale Unterstützung für chronisch Kranke – Kollege Sorge hat die Beispiele vom Diabetiker und Parkinsonpatienten genannt –, elektronisches Rezept, telemedizinische Versorgung vor allem im ländlichen Raum, Videosprechstunde oder das Telekonsil, welches spezialmedizinische Kompetenz in die Fläche bringen kann.
Die Digitalisierung bietet immense versorgungspolitische Chancen. Ebenso eröffnet sie durch Straffung administrativer Abläufe und Strukturen enorme Chancen für den Arbeitsalltag. Wir gestalten dadurch unser Versorgungssystem nicht nur für alle komfortabler, sondern vor allem auch effizienter.
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Das nutzt den Beschäftigten, den Pflegekräften, den Medizinern genauso wie den Fachangestellten und bringt viel mehr Zeit für die Patientinnen und Patienten.
Ich glaube, meine Kolleginnen und Kollegen, wir stehen an der Schwelle zu einem epochalen Wandel unserer Gesundheitsversorgung. Unsere Verantwortung dabei ist es, diesen Wandel zu gestalten, Mut zu machen und Rahmenbedingungen zu schaffen, die das Vertrauen in unser Gesundheitssystem stärken. Deshalb sage ich in Richtung aller Skeptiker: Wir als SPD werden dafür Sorge tragen, dass die Digitalisierung zunächst der Versorgung der Menschen dient, ohne dabei ihre Persönlichkeits- und Datenschutzrechte in Mitleidenschaft zu ziehen.
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Die Digitalisierung braucht nach dem E-Health-Gesetz von 2015 einen neuen Schub. Deshalb noch ein paar Anmerkungen zum vorliegenden Gesetzentwurf. Wir werden den Innovationsfonds beim Gemeinsamen Bundesausschuss verlängern und den Projekten, die sich bewährt haben, den Weg in die Regelversorgung ebnen. Der Entwurf sieht hier aber auch einige Detailregelungen vor, die wir in der Anhörung am 16. Oktober noch genauer besprechen müssen, genauso die Frage der Erstattungsfähigkeit digitaler Anwendungen durch Entscheidungen des BfArM. Denn ich sage: Ja, wir wollen grundsätzlich den schnellen Zugang für Patientinnen und Patienten. Aber die qualitätsorientierte Bestimmung des Leistungsumfangs in der gesetzlichen Krankenversicherung ist zunächst einmal Aufgabe der Selbstverwaltung und nicht der Regierung und ihrer nachgeordneten Behörden.
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Ich will hier gleich noch hinzufügen: Von der angedachten Anlehnung an das AMNOG-Verfahren – Stichwort: freie Preisbildung im ersten Jahr – muss man mich und die SPD auch erst noch überzeugen.
Frau Präsidentin, mein letzter Punkt, bevor ich schließe, betrifft die angedachte Förderung von Innovationen aus Haushaltsmitteln. Krankenkassen sind Körperschaften des öffentlichen Rechts und nicht zur Start-up-Förderung da, und wenn, dann überhaupt nur in ganz, ganz engen Grenzen und unter strengen Vorgaben.
Ich denke, das wird eine spannende und interessante parlamentarische Beratung. Ich freue mich darauf und sage herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir befassen wir uns heute mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz. Lassen Sie mich vorweg bitte eines ganz deutlich sagen: Wir als FDP-Bundestagsfraktion sehen die Digitalisierung als eine echte Chance für unser Gesundheitswesen und dessen künftige Herausforderungen, und zwar im Sinne der Patientinnen und Patienten.
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Daher ist es auch gut, dass von der Regierung nun endlich ein Gesetzentwurf zu diesem Thema auf den Tisch gekommen ist. Positiv ist, dass Ärzte Gesundheits-Apps wie Tagebücher für Diabetiker oder Apps für Menschen mit Bluthochdruck nun verschreiben können; denn das hilft den Menschen tatsächlich in ihrer täglichen Versorgung.
Ebenso ist der Ausbau der Telematikinfrastruktur für Ärzte, Apotheken und Krankenhäuser richtig. Denn die Telematik ist eine große Chance, unsere hochwertige Versorgung gerade in ländlichen Regionen auch in Zukunft sicherzustellen. Ebenso begrüßen wir die neu vorgesehene Möglichkeit der Krankenkassen, digitale Versorgungsinnovation zu fördern. Erfreulich ist auch – es wurde eben gerade genannt –, dass der Innovationsfonds verlängert werden soll. Der Gesetzentwurf geht also auch aus unserer Sicht in die richtige Richtung.
Was jedoch fehlt, meine Damen und Herren, ist eine übergeordnete Gesamtstrategie für ein digitales Gesundheitswesen.
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Wir müssen doch Ziele definieren, die dann auch fortgeschrieben werden. Was wir brauchen, ist eine Koordinierungsstelle, die den Digitalisierungsprozess kontinuierlich begleitet und eben auch korrigierend eingreift. Einzelmaßnahmen, wie jetzt im Gesetz vorgesehen, reichen da nicht aus.
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Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass im vorliegenden Gesetzentwurf die sektorenübergreifende mobile Vernetzung, also zwischen Kliniken untereinander, aber auch zwischen Kliniken und Hausärzten und dem Pflegepersonal fehlt. Hier brauchen wir einen schnellen und sicheren Austausch über Diagnose und Therapie. Wie wichtig das ist, habe ich in der eigenen Familie erlebt. Wenn die eigene Mutter Freitagabend einen Schlaganfall erleidet und der behandelnde Kardiologe nicht zu erreichen ist, dann wäre es schon schön gewesen, wenn die Behandlungsdaten nicht erst am Montag vorgelegen hätten. Deshalb ist es so wichtig, zwischen allen beteiligten Systemen und sektorenübergreifend zusammenzuarbeiten und diese wichtigen Informationen auszutauschen.
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Interoperabilität ist dabei ein wichtiges Stichwort. Es müssen auch endlich Schnittstellenstandards geschaffen werden.
Entscheidend ist auch, dass wir bei den Bürgern und vor allen Dingen bei den Ärzten und Patienten um Vertrauen und Akzeptanz werben. Dabei dürfen der Datenschutz und Sicherheitslücken im System nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Es geht hier um sehr sensible Daten.
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Bei der elektronische Patientenakte, die auf Druck des Justizministeriums nicht mehr Gegenstand des Gesetzentwurfs ist, wollte Minister Spahn, dass sie nicht individuell einsehbar ist, das heißt, jeder konnte und sollte alles sehen. Ich kann verstehen, dass eine junge Frau nicht möchte, dass der Augenarzt oder der Physiotherapeut weiß, dass sie gerade eine Fehlgeburt erlitten hat. Deshalb ist es für uns ganz wichtig, dass die elektronische Patientenakte individuell einsehbar sein muss, sonst verlieren wir das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger.
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Meine Damen und Herren, hier müssen Sie dringend nachbessern.
Bei allen Innovationen und technischen Möglichkeiten dürfen wir auch eines nicht vergessen: Die Datenhoheit gehört in die Hand der Patientinnen und Patienten. Daher müssen der Datenschutz und vor allen Dingen die Selbstbestimmung über unsere Gesundheitsdaten immer an oberster Stelle stehen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Christine Aschenberg-Dugnus. – Nächster Reder: Dr. Achim Kessler für die Fraktion Die Linke.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen! Sehr geehrte Herren! Vor kurzer Zeit wurde bekannt, dass allein in Deutschland über 13 000 hochsensible Patientendaten über Jahre ungeschützt im Netz einsehbar waren. Mir und vielen Menschen bereitet diese Meldung großes Unbehagen, und ich hätte gerne den Gesundheitsminister gefragt, ob es ihm nicht auch so geht, aber offensichtlich ist das Thema nicht so wichtig für ihn. Denn gerade in deutschen Arztpraxen und Krankenhäusern gibt es keine sicheren und keine einheitlichen IT-Standards. In einer solchen Umgebung wäre sogar eine ausgereifte und sichere elektronische Patientenakte ein großes Risiko. Es ist ein unglaublicher Skandal, dass Sie dieses Problem schlicht und einfach ignorieren.
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Der Gesundheitsminister betont bei jeder Gelegenheit, dass die Hoheit über die eigenen Daten bei den Patientinnen und Patienten liegen muss. Aber bereits mit dem ersten ernstzunehmenden digitalen Angebot, der elektronischen Patientenakte, wird genau dieses Versprechen gebrochen. Die Patientinnen und Patienten werden zunächst nicht entscheiden können, welche Daten sie welchem Arzt oder Therapeuten zur Verfügung stellen wollen.
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Wer die elektronische Patientenakte nutzen möchte, muss alle Daten zum Beispiel über einen Schwangerschaftsabbruch, über eine psychische Erkrankung oder eine Infektionskrankheit allen Behandelnden zur Verfügung stellen.
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Dieses Alles-oder-nichts-Prinzip ist ein gravierender Verstoß gegen das Bürgerrecht auf Datenhoheit. Dazu sagt meine Fraktion Nein.
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Meine Damen und Herren, digitale Anwendungen, zum Beispiel Gesundheits-Apps, könnten helfen, Patientenrechte gegenüber Ärzten und Krankenkassen besser durchzusetzen. Sie könnten den Zugang zu Informationen über Krankheiten und Therapien erleichtern und damit das Verständnis erhöhen und die Selbstbestimmung der Patientinnen und Patienten stärken. Dazu müssten aber – wie das bei allen anderen Behandlungen auch üblich ist – die nützlichen von den überflüssigen oder sogar schädlichen Angeboten unterschieden werden.
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Das ist aber genau nicht das Ziel von Herrn Spahn. Es ist kein Zufall, dass erstmals eine Bundesbehörde über die Erstattungsfähigkeit in der gesetzlichen Krankenversicherung entscheiden soll. Die am medizinischen Nutzen orientierte Zulassung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss wird ersetzt durch lasche Prüfkriterien per Anweisung direkt aus dem Gesundheitsministerium.
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Das ist nichts anderes als ein Förderprogramm für die IT-Industrie und eine weitere Schwächung der Selbstverwaltung. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, bitte stimmen Sie dieser neoliberalen Zumutung aus dem Hause Spahn nicht zu. Das wäre gut für die Versicherten, das wäre aber auch gut für Ihre eigene Glaubwürdigkeit.
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Nach dem Gesetzentwurf sollen digitale Anwendungen zwölf Monate lang ohne Nachweis ihres medizinischen Nutzens und ohne jede Kostenkontrolle von den Kassen erstattet werden. Die Versicherten werden zu Versuchskaninchen in einem riesengroßen Feldversuch. Mit seriöser Gesundheitspolitik hat das wirklich gar nichts mehr zu tun.
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Aber noch schlimmer: Sie wollen allen Ernstes die gesetzlichen Krankenkassen zu Investoren in der IT-Branche machen. Den Krankenkassen wird die Spekulation mit Beitragsgeldern ermöglicht, indem sie Anteile von IT- Unternehmen kaufen können. Diese Zweckentfremdung von Beitragsgeldern ist ein Skandal und muss beendet werden.
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Ich fordere den Gesundheitsminister auf, die Interessen der IT-Industrie nicht länger auf Kosten der Patientinnen und Patienten zu bedienen. Nehmen Sie das Recht auf Datenhoheit und informationelle Selbstbestimmung der Versicherten bitte endlich ernst. Dafür hätten Sie die Unterstützung der Linken. Für den vorliegenden Gesetzentwurf haben Sie sie nicht.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Kessler. – Ich will Sie informieren, dass Jens Spahn für die heutige Sitzung entschuldigt ist.
Nächste Rednerin: Maria Klein-Schmeink für Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrter Herr Staatssekretär! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der heute vorliegende Gesetzentwurf ist lange angekündigt worden. 18 Monate haben wir auf den großen Wurf gewartet, aber wir erleben ein Digitale-Versorgung-Gesetz, das man eigentlich reduzieren muss auf „Apps auf Rezept“ und – noch schlimmer – „Wirtschaftsförderung digitaler Anwendungen zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung“. Das kann der große Wurf in Sachen Digitalisierung im Gesundheitswesen ja wohl nicht gewesen sein.
({0})
Das ist auch keine Antwort darauf, dass wir einen empfindlichen Rückstand bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen und einen echten Innovationsstau haben und dass wir es eben nicht schaffen, die Möglichkeiten der Digitalisierung für die Patientinnen und Patienten und für eine gute Versorgung nutzbar zu machen.
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Wenn man sich den Gesetzentwurf anschaut, kann man ganz klar sagen: Es fehlen eine Gesamtstrategie
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und benannte Akteure, die dafür sorgen, dass alle, die für die Versorgung wichtig sind, an einer Digitalisierungsstrategie beteiligt werden. Es fehlt eine Standardsetzung und eine Formulierung von Standards, damit alle, die in der Versorgung tätig sind, mit gleichen Standards arbeiten und Daten austauschen können. Es fehlt auch – und das ist das Wichtigste – eine konkrete und durchgängige Patientenbeteiligung. Das, meine Damen und Herren, ist der Kardinalfehler an der gesamten Herangehensweise.
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Das ist auch der Grund, warum das Kernstück einer Digitalisierung im Gesundheitswesen, nämlich die elektronische Patientenakte, nicht im Gesetz enthalten ist. Sie sollte eigentlich so gestaltet werden, dass die Patientinnen und Patienten nicht darüber hätten entscheiden können, wer welche Informationen, welche Daten sehen darf. Vielmehr hätten sie sich entscheiden müssen: hopp oder topp! Mache ich aber bei der Patientenakte mit, dann sieht jeder, der als Leistungserbringer dazu ermächtigt ist, alles. So zerstört man Vertrauen. So schädigt man den Ruf der elektronischen Patientenakte, bevor sie überhaupt zur Anwendung gekommen ist.
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Das werfe ich dem Minister auch tatsächlich vor, weil die elektronische Patientenakte in der Tat ein durchaus hilfreiches Instrument ist, um den Informationsaustausch in der Versorgung zu verbessern, um dahin zu kommen, dass wir sektorübergreifend und berufsgruppenübergreifend versorgen können. Das ist ein großes Manko.
Wir haben einen umfangreichen Antrag vorgelegt, in dem wir zeigen, dass wir als Erstes eine Patientenorientierung brauchen und dass wir als Zweites eine Strategie brauchen, damit wir sicherstellen, dass alle Akteure im Gesundheitswesen und in der Forschung auf der gleichen Grundlage unterwegs sind. Daneben müssen wir ganz klar sicherstellen, dass es am Ende nie um einen Selbstzweck Digitalisierung geht, sondern dass der Patientennutzen und die Souveränität der Patientinnen und Patienten immer vorne stehen. Sie müssen diejenigen sein, die bestimmen, ob und wie die Patientenakte genutzt wird.
Ich muss sagen: Hier ist der Gesetzentwurf weit hinter dem zurück, was wir eigentlich brauchen.
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Vielen Dank, Maria Klein-Schmeink. – Nächster Redner: Michael Hennrich für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Klein-Schmeink, lassen Sie mich etwas zu Ihren Ausführungen bezüglich des großen Wurfs sagen: Die Digitalisierung ist für mich ein Prozess, der über viele Jahre läuft, und die entscheidende Frage ist doch: Wo stehen wir momentan?
Lange Jahre hat sich gar nichts bewegt. Denken wir nur an die elektronische Gesundheitskarte, die ja von Rot-Grün auf den Weg gebracht worden ist und wo es immer stotterte; es gab keinen Schritt nach vorne. Jetzt sind wir an einem Punkt – beginnend in der letzten Legislaturperiode unter Hermann Gröhe –, an dem das Thema E-Health – Digitalisierung – an Fahrt aufnimmt.
Wir haben in der letzten Legislaturperiode das Thema Interoperabilität – die Systeme sollen miteinander kommunizieren können – gelöst, und wir haben mit der Telematikinfrastruktur sichere Übertragungswege geschaffen. Ich gebe ganz offen zu, dass ich das lange sehr kritisch gesehen habe, aber ich glaube, dass das richtig ist. Mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz kommt jetzt ein weiterer Baustein dazu. Entscheidend ist nämlich, dass die Digitalisierung bei den Patientinnen und Patienten ankommt. Es geht darum, dass es Frühwarnsysteme gibt, und es geht um die Behandlung sowie um die Kontrolle von Behandlungen. Das sind viele Beispiele.
Lassen Sie mich eines aber auch deutlich sagen: Das Thema „Digitalisierung im Gesundheitswesen“ bringen wir nur dann voran, wenn wir eine entsprechend leistungsfähige Infrastruktur haben. Es muss an dieser Stelle auch gesagt werden, dass der Breitbandausbau eine der Grundvoraussetzungen ist, um beim Thema Digitalisierung voranzukommen.
Was bedeutet Digitalisierung im Gesundheitswesen? Da geht es nicht nur um Datenverarbeitung, um Dokumentation und um Vernetzung, sondern da geht es auch um die konkrete Unterstützung in der Versorgung, um Videosprechstunden, um Telemonitoring und vieles mehr.
Lieber Herr Schneider, was mich an Ihrer Rede als Oppositionspolitiker von der AfD beeindruckt hat, war, dass Sie einer der ganz wenigen Oppositionspolitiker waren, die das Thema „Chancen der Digitalisierung“ nach vorne getragen haben. Ein herzliches Dankeschön für diese wohltuende Rede!
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Mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz wollen wir in der Tat dafür sorgen, dass Apps schneller in der Versorgung eingesetzt werden können. Lieber Herr Kessler, man kann darüber streiten, was der richtige Weg ist, ob wir Apps erst relativ lange prüfen und erst dann zulassen oder ob wir sagen – so wie es im gesamten System der Digitalisierung ist –, dass das disruptiv ist und dass wir auch den Aspekt Schnelligkeit berücksichtigen müssen.
Ich glaube, wir haben da einen guten Mittelweg gefunden. Wir eröffnen die Chance, dass das BfArM prüft, ob es plausibel ist, dass dies in der Versorgung Verbesserungen bringt. Dabei berücksichtigen wir aber auch den Aspekt der Schnelligkeit.
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– Das können und werden wir diskutieren, aber ich glaube, dass das ein vernünftiger und richtiger Ansatz ist.
Ich halte es auch für richtig, dass die Krankenkassen die Möglichkeit haben, sich zu beteiligen. Dadurch, dass der Gesundheitssektor ein Bereich ist, in dem sich die in der Digitalisierung Tätigen engagieren können, geht ein starkes Signal an sie aus. Dass sich die privaten Krankenversicherungen mit einem Fonds in Höhe von 100 Millionen Euro beteiligen, zeigt, dass das der richtige Weg ist.
Wir sollten den Gesetzentwurf aber auch nutzen, um über Dinge wie Datenschutz, vielleicht auch über das Thema „künstliche Intelligenz“ und darüber zu diskutieren, wie wir Daten nutzen können.
Digitalisierung im Gesundheitswesen ist vielleicht auch eine Chance für den Standort Deutschland. Ich habe vor einiger Zeit einen tollen Artikel von Professor Jürgen Schmidhuber gelesen, der uns deutlich gemacht hat, dass wir in Deutschland, weil wir gute Daten besitzen, eigentlich alle Chancen haben, dass wir die KI nutzen können und dass das auch ein Erfolgsfaktor in Deutschland sein kann.
Herr Hennrich.
Ich komme zum Schluss.
Ja.
Deswegen: Lassen Sie uns auch über solche Themen diskutieren.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Michael Hennrich. – Nächster Redner: Dirk Heidenblut für die SPD-Fraktion.
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Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Damen und Herren auf der Tribüne! Ich will erst mal sagen: Ja, wir haben lange auf diesen Gesetzentwurf gewartet, aber – das sehe ich etwas anders als meine Kollegin von den Grünen – dieser Gesetzentwurf wirkt genau an den Punkten, die noch nicht geregelt waren.
Das will ich zu dem großen Wurf auch mal deutlich sagen: Wir haben ja nicht gewartet und nichts gemacht, sondern wir haben uns in der ganzen Zeit bereits mit mehreren Punkten – an anderen Gesetzesstellen – beschäftigt. Als Beispiele nenne ich das elektronische Rezept und die elektronische Patientenakte dem Grunde nach. Daneben ging es auch um eine Strukturfrage in der gematik, die ganz zentral zur Weiterentwicklung führen wird. Wir haben uns also schon mit vielen Punkten beschäftigt.
Dieser Gesetzentwurf greift jetzt viele weitere Punkte auf, die wichtig sind und die wir in der Vergangenheit auch mehrfach gefordert haben.
Insofern erst mal danke für die Vorlage des Gesetzentwurfs, der endlich vorliegt und uns jetzt die Möglichkeit gibt – ich bin jetzt sozusagen in der glücklichen Position, zum zweiten Mal von dem Schub zu reden, für den wir sorgen wollen; denn ich war schon beim eHealth-Gesetz in der letzten Legislaturperiode dabei –, hier einen weiteren Schub hineinzubringen. Ich bin mir ganz sicher, das eHealth-Gesetz der letzten Legislaturperiode hat hier schon einen Schub reingebracht; denn die Entwicklungen, die wir in Bezug auf die ePa bereits erleben, hätte es ohne das Gesetz nicht gegeben.
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Das heißt natürlich nicht – das auch mit Blick auf das Ministerium –, dass der Gesetzentwurf jetzt sozusagen all die Dinge erfüllt, die wir uns vorstellen können, und dass wir all das, was drinsteht, jetzt ohne Weiteres richtig auf den Weg bringen können. Die Kollegin Dittmar hat schon einige Punkte genannt.
Hinsichtlich der Apps will ich noch einen Punkt zusätzlich erläutern: Im Gesetzentwurf steht eine Regelung, die den Einsatz von Apps – deren Nutzen ist wie auch immer bewertet; dazu kommen wir auch noch mal – möglicherweise nicht mehr von einer Verordnung und nicht mehr von dem Draufgucken eines Arztes oder eines Psychotherapeuten abhängig macht, sondern sozusagen von der Vergabe durch die Krankenkassen. Das ist schon ein Systembruch. Da muss man noch mal hingucken, weil insbesondere Gesundheits-Apps, die in das System hineinwirken, letztlich Auswirkungen auf den Behandlungsprozess haben, und da würde ich schon erwarten, dass die Zuständigen, die wir auch sonst im Bereich des Verordnungsweges kennen, da mit draufgucken. Sonst kann die gesamte Behandlung gefährdet sein.
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Ich bin nun total glücklich, weil ich ein absoluter Verfechter der elektronischen Patientenakte bin, dass insbesondere die Kollegen von den Linken dieses Thema hier so aufgebracht und so deutlich auf die Weiterentwicklung der elektronischen Patientenakte hingewiesen haben.
Ja, dazu steht im Gesetzentwurf eigentlich gar nichts drin, und, ja, da steht schon gar nicht das drin, was Sie hier erzählt haben. Deswegen frage ich mich allen Ernstes, wieso Sie das hier erzählen.
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Die elektronische Patientenakte muss natürlich in der Hoheit der Patientinnen und Patienten liegen. Das ganze Gesetz lebt im Übrigen davon, dass wir dafür sorgen, dass die elektronische Patientenakte in der Hoheit der Patientinnen und Patienten liegt.
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– Frau Präsidentin!
Nein, ich erlaube niemandem mehr eine Zwischenfrage.
Nein, geht nicht. Tut mir leid, Maria; ich hätte nichts dagegen gehabt. Alles klar, dann rede ich weiter. – Genau vor dem Hintergrund, dass wir uns damit noch mal detailliert beschäftigen wollen, wird das in einem nächsten Schritt noch sehr deutlich konkretisiert werden.
Natürlich ist es auch in unserem Interesse, dass Patientinnen und Patienten, die eine solche Akte nutzen, auch die Hoheit darüber und die Möglichkeit haben, damit so zu verfahren, wie sie das gerne wollen. Sie können sie an den Stellen öffnen, an denen es nötig ist und an denen sie es wollen, und müssen es eben nicht an den Stellen, an denen sie es nicht wollen.
Das gilt übrigens auch für die Apps; denn auch der Einsatz der Apps wird stark davon abhängig gemacht, ob die Patientinnen und Patienten sie denn auch haben wollen. Sie können da letztlich aktiv werden. Wir schaffen aber einen Anspruch darauf, dass sie künftig Gesundheits-Apps finanziert bekommen.
Das ist das Wichtige: Wir schaffen die Voraussetzungen, wir schaffen die Ansprüche, wir sorgen dafür, dass das Gesundheitssystem durch die Digitalisierung besser wird. Wir sollten die Chancen dieser Digitalisierung sehen, und wir werden auch bei der ePa dafür sorgen, dass sie dem Patientennutzen dient und dass sie für die Patientinnen und Patienten ein vernünftiges Instrument wird.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Heidenblut. – Letzte Redner in dieser Debatte: Stephan Pilsinger für die CDU/CSU-Fraktion. Herr Pilsinger.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit Jahren wird viel über das Thema „Digitalisierung im Gesundheitswesen“ geredet. Die Koalition und Jens Spahn reden nicht nur, mit dem heute vorgelegten Digitale-Versorgung-Gesetz wird jetzt auch eine Lösung für dieses wichtige Problem gefunden.
Wir haben diesen Schritt vorbereitet. Im Mai dieses Jahres ist das Terminservice- und Versorgungsgesetz in Kraft getreten. Damit haben wir die Voraussetzungen für die Einführung einer elektronischen Patientenakte geschaffen. Mithilfe dieser Akte können Patientinnen und Patienten sowie die weiteren Beteiligten im Gesundheitswesen einfach, sicher und schnell auf wichtige Behandlungsdaten zurückgreifen. Ein wichtiger Punkt für die Akzeptanz einer solchen digitalen Akte ist dabei: Die Kontrolle über die Daten bleibt stets bei den Patientinnen und Patienten selbst.
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Unser Ziel ist es, den Umgang mit der digitalen Akte Alltag werden zu lassen. Deshalb ist sie auch ohne den Einsatz der elektronischen Gesundheitskarte jederzeit und an jedem Ort mit dem Smartphone oder dem Tablet erreichbar. Mit der Einführung der elektronischen Patientenakte verbessern wir die Versorgung der Patientinnen und Patienten in Deutschland entscheidend. Sie hilft nicht nur im Notfall, indem sie Rettungskräften und Notärzten den Zugriff auf wichtige Patientendaten ermöglicht. Sie kann mehr: Durch einen integrierten elektronischen Medikationsplan warnt sie vor Unverträglichkeiten oder verwaltet Daten aus Gesundheits-Apps.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit diesem Gesetz handeln wir, weil es notwendig ist. Vor allem im Bereich des Gesundheitswesens war der rechtliche Rahmen für das Implementieren digitaler Lösungen und neuer, innovativer Versorgungsformen zu wenig adaptiv und agil. Vor dem Hintergrund zunehmender Herausforderungen durch eine alternde Gesellschaft, den Fachkräftemangel in vielen medizinischen Berufen und einer Unterversorgung in strukturschwachen Regionen können wir uns eine Vernachlässigung der Digitalisierung in unserem Gesundheitssystem einfach nicht mehr leisten.
Aus diesem Grund schaffen wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nun endlich die notwendigen Rahmenbedingungen für die Einführung umfassender digitaler Versorgungsstrukturen im deutschen Gesundheitswesen. Das Digitale-Versorgung-Gesetz setzt dabei vor allem auf drei wichtige Punkte.
Erstens und am wichtigsten. Die Patientinnen und Patienten profitieren. Sie erhalten einen gesetzlich geregelten Leistungsanspruch auf digitale Gesundheitsanwendungen, und sie genießen die Vorteile einer stärkeren Einbindung telemedizinischer Anwendungen wie beispielsweise Telekonsilien oder Videosprechstunden.
Zweitens. Die Digitalisierung im Gesundheitswesen wird auf weitere Bereiche ausgedehnt. Das betrifft vor allem die Pflicht zur Anbindung an die Telematikinfrastruktur. Auch Kliniken und Apotheken sollen nun einen verpflichtenden Zugang erhalten.
Drittens. Die Förderung digitaler Innovationen im Gesundheitswesen wird in allen Bereichen vorangetrieben. So können die Krankenkassen nun erstmals aktiv in die Entwicklung digitaler Projekte investieren. Zudem wird der bewährte Innovationsfonds bis 2024 mit 200 Millionen Euro jährlich fortgeführt und darüber hinaus weiterentwickelt. Das ist nicht nur im höchsten Maße sinnvoll, das sorgt nicht nur für eine Verbesserung der Qualität und Wirtschaftlichkeit der Versorgung, es ist auch wichtiges Zeichen dafür, dass der Gesetzgeber die Bedeutung der Digitalisierung für das Gesundheitswesen erkannt hat. Wir machen damit die Versorgung zukunftsfest.
Mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz setzen wir genau das um, worüber jahrelang gesprochen worden ist. Wir machen die digitale Innovation zum festen Bestandteil der Regelversorgung.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Stephan Pilsinger. – Ich schließe die Aussprache.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren!
Unsere Jugend ist heruntergekommen und zuchtlos. Die jungen Leute hören nicht mehr auf ihre Eltern. Das Ende der Welt ist nahe.
So lautet ein Keilschrifttext von 2 000 vor Christus.
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Nun, das Ende der Welt steht immer noch aus. Das zeigt, wie unzutreffend die Einschätzung der Jugend war und ist.
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Allerdings beginnt die Welt, gerade jetzt, 4 000 Jahre später, buchstäblich unterzugehen. Das belegt der jüngste Klimabericht des IPCC. Die Verantwortung dafür liegt bei den Erwachsenen, nicht bei der Jugend. Das mickrige Klimapäckle vom letzten Freitag oder die nächste Episode im Trauerspiel des Brexits zeigen: Das Ende der Welt ist nicht zu verhindern, wenn die Jugend ergeben auf ihre Eltern hört. Im Umkehrschluss bedeutet das: Gerade der Umstand, dass die Jugend nicht mehr auf die Eltern hört, lässt für die Zukunft hoffen.
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Viele, auch die Jugendlichen, die sich bei Fridays for Future engagieren, widerlegen alles, was der Jugend vorgeworfen wird: Desinteresse, Egozentrik, Konsumorientierung, Faulheit.
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Die britischen Jugendlichen, die beim Referendum abgestimmt haben, haben sich mehrheitlich gegen den Brexit ausgesprochen. Aber hier wie dort gilt: Es waren viel zu wenige.
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Leider glauben viele Jugendliche nicht, dass es möglich sei, etwas zu bewegen. Das teilen auch Erwachsene. Ein Gutteil lässt sich gerade aufgrund dessen dazu verführen, denen nachzuhängen, die einfache Lösungen mit radikalen und inhumanen Mitteln versprechen. Deswegen ist es so drängend, das Wissen um die Möglichkeiten der Gestaltung und Mitwirkung so früh wie möglich zu vermitteln.
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Junge Menschen wissen sehr genau, was sie wollen. Junge Menschen haben ein Recht darauf, dass ihre Meinungen und ihre Bedürfnisse berücksichtigt werden. Junge Menschen müssen sich an allen Orten des Aufwachsens altersgemäß beteiligen können, insbesondere dort, wo die größte Verantwortung für Kinder liegt. Das ist neben der Familie die Schule. Deswegen wollen wir Schulen demokratisieren.
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Zu einer demokratischen Schulkultur gehören echte Mitbestimmungsmöglichkeiten, zum Beispiel mithilfe selbstverantworteter Lernzeiten. Es reicht nicht, über die Farbe der Toilettenfliesen entscheiden zu dürfen. Damit Mitwirkung tatsächlich gelebt werden kann, braucht die Vertretung der Schüler und Schülerinnen Ressourcen und feste Mitsprachemöglichkeiten.
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So machen wir Schulen zu lebendigen Werkstätten der Demokratie.
Eine weitere Baustelle ist der Ausbau der Demokratiebildung. Politische Bildung muss im Unterricht verstärkt und als Querschnittsaufgabe ausgebaut werden. Hier sind auch die Länder gefordert, die Bildungspläne entsprechend auszugestalten.
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Die Stimme der Jungen soll aber nicht bloß gehört werden, sie muss auch zählen. Daher führt kein Weg an einer Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre vorbei. Ich vertraue in das Urteilsvermögen der jungen Menschen. Angesichts der demografischen Entwicklung ist dies auch eine Frage der Generationengerechtigkeit.
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Nebenbei bemerkt: Im Koalitionsvertrag verständigte man sich auf eine Expertenkommission zur Bürgerbeteiligung. Passiert ist in zwei Jahren nichts – trotz Aufforderung durch den zuständigen Ausschuss. Auch hier: Große Worte, keine Taten! Dabei ist klar: Nur wer so früh wie möglich ernst genommen wird und spürt, dass man Dinge selbst verändern kann und selbst Verantwortung trägt, lernt Demokratie und geht als Erwachsener selbstbestimmt durchs Leben. Es ist an der Zeit, junge Menschen mehr und konsequent zu beteiligen.
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Vielen Dank, Margit Stumpp. – Nächste Rednerin: Bettina Wiesmann für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Vor zwei Wochen habe ich hier gefordert, die Jugend in ihren Bedürfnissen und Anliegen ernst zu nehmen. Deshalb möchte ich heute mit meiner Freude darüber beginnen, dass sich die Familienpolitiker der Koalition gestern verständigt haben, die Selbstbeteiligung von jungen Menschen in Heimen und Pflegefamilien auf 25 Prozent ihrer Einkommen herabsetzen zu wollen.
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Meine Damen und Herren, diese jungen Menschen können dann, wenn der Bundesrat zustimmt, drei Viertel ihres Einkommens behalten und das machen, was andere Gleichaltrige auch tun, nämlich selbstständig werden. Das ist ein Erfolg, weil wir allen Beteiligten zugehört haben, und es war der Unionsfraktion ein großes Anliegen.
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Damit sind wir schon mittendrin im Thema Kinder- und Jugendbeteiligung, zu dem Sie, liebe Grüne, mehrere Anträge vorgelegt haben. Beginnen wir mit der Gemeinsamkeit. Wir von der Union wollen die altersgerechte Beteiligung von Kindern und Jugendlichen stärken, vor allem an Entscheidungen, die sie betreffen: in der Schule, im Verein, in der Gemeinde vor Ort. Dafür gibt es bereits etliche Möglichkeiten; manche werden auch genutzt. Davon hätten wir gerne mehr. Denn so wird aktives Interesse an den allgemeinen Dingen ermutigt und gefördert, und das tut not und jedem, auch unserem Gemeinwesen, gut.
In Ihrem Antrag zur Beteiligung, liebe Grüne, steht aber noch einiges mehr. Darin heißt es etwa:
Wer … spürt, dass Dinge durch eigenes Engagement verändert werden können, lernt Demokratie und kann die eigene Umwelt aktiv mitgestalten.
Ich glaube, Sie haben das eben schon zitiert. – Das klingt gut, ist aber nur die halbe Wahrheit. Demokratie heißt, Lösungen zu finden, die möglichst vielen etwas bringen und deshalb überzeugen. Das ist der Kern des demokratischen Prozesses, den Kinder und Jugendliche erproben und akzeptieren sollen, und das ist viel mehr, als sich durchzusetzen. Es bedeutet, andere Argumente mit Respekt aufzunehmen, zu verhandeln und auch mal um des Kompromisses willen nachzugeben. Das ist echte belastbare Demokratie, wie wir sie wollen und mehr denn je auch brauchen.
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Deshalb muss Kinder- und Jugendbeteiligung klug ausgestaltet sein. Das heißt nicht nur altersgerecht, sondern auch breit angelegt, damit diese Erfahrungen möglich werden. Ihre Anträge verlassen diesen Pfad leider schnell, insbesondere mit Blick auf das Wahlalter, das Sie für den Bundestag und das Europaparlament auf 16 Jahre senken wollen. Wir wollen das nicht. Denn Kinder und Jugendliche sind Heranwachsende, und sie haben ebenso wie das Recht, ernst genommen zu werden, auch ein Recht auf die Chance zur Erprobung.
Meine Damen und Herren, die Parlamente müssen um Entscheidungen ringen, durch die das Leben Tausender oder Millionen Menschen beeinflusst wird: ob wir uns an Sicherheitsmissionen von EU, NATO oder UN beteiligen, welche Regeln für die Organspende gelten sollen, wann und wie wir aus der Kohle aussteigen und vieles mehr.
Wir, die Union, sagen: Mitbestimmungsrechte müssen von der Verantwortungsfähigkeit der Mitentscheider abhängen.
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In diese Verantwortung müssen Kinder und Jugendliche hineinwachsen dürfen. Erst wer für sich im Wesentlichen geradesteht – mit der Volljährigkeit nämlich ist das für die meisten der Fall –, dem kann erlaubt und dem muss auch abverlangt werden, für alle anderen mitzuentscheiden.
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Die Chance zur Erprobung legt aber noch etwas anderes nahe. In meiner Wahlheimat Frankfurt gibt es trotz Paulskirche kein Jugendparlament, in dem Jugendliche selbst ihre Themen setzen, miteinander streiten, Kompromisse finden und Beschlüsse fassen. Ich halte ein von 14- bis 18-Jährigen direkt gewähltes Jugendparlament, versehen mit Anhörungs- und Antragsrechten und verzahnt mit dem Gemeindeparlament, für den richtigen Rahmen, um unsere parlamentarische Demokratie zu erproben und so auch mitzugestalten, aber ohne Überforderung. Ich habe das deshalb für Frankfurt vorgeschlagen und würde mir wünschen, dass das bundesweit Standard wäre.
Noch ein Punkt: In Ihrem Beteiligungsantrag zählen Sie ein breites Spektrum von Jugendbeteiligung auf, für die Sie jede Menge institutioneller Voraussetzungen einfordern: Beteiligungsstrukturen, Fachkonzepte, Fachkräfteschulung, Service Learning und vieles mehr bis hin zum Verbandsklagerecht oder zur werteorientierten Ganztagsschule, was immer Sie darunter verstehen.
Nach meinem Dafürhalten schießen Sie damit über das Ziel hinaus. Denn etliche notwendige Voraussetzungen bestehen bereits. Es braucht schlicht mehr Aufmerksamkeit und Entschlossenheit, zum Beispiel Schülermitverwaltung auch wirklich zu praktizieren.
Vor allem aber – letzter Punkt – ist die unmittelbare Beteiligung von jungen Menschen zu stärken. Die bestehenden Verbandsstrukturen sind nicht überflüssig; sie dürfen aber kein bevormundendes Korsett sein oder den Jugendlichen die Richtung vorgeben.
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Wir sollten Jugendlichen häufiger selbst etwas zutrauen, sie auch befragen -
Frau Kollegin.
– und ihnen Spielräume zur Gestaltung lassen oder wiedergeben. Demokratie braucht Mut zur Freiheit. Diesen Geist vermisse ich ein wenig in Ihrem Antrag.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Frau Wiesmann. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Johannes Huber.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Grünen fordern in ihren Anträgen, für Bundestags- und EU-Wahlen das Wahlalter auf 16 zu senken.
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Jedoch lehnen fast drei Viertel aller Deutschen und in allen Altersklassen eine Mehrheit laut einer repräsentativen Umfrage diesen Vorschlag ab. Die AfD steht also auf der Seite der Mehrheit in diesem Land.
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In Bundesländern mit aktivem Wahlrecht ab 16 Jahren ist die Wahlbeteiligung sogar gesunken, weil ein überproportionaler Anteil der 16- bis 18-Jährigen zwar aktuell auf die Straße geht, aber nicht an die Urne.
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Eine stärkere Beteiligung der Jugend an der Demokratie kann also mit einem Absenken des Wahlalters nicht erreicht werden. Aber den Grünen, so möchte ich sagen, geht es auch gar nicht um die Demokratie. Es ist nämlich inkonsequent, 16-Jährigen das Wahlrecht zuzugestehen, ihnen aber alle weiteren Rechte und Pflichten vorzuenthalten. Die Grünen würden also letztlich mit ihren Vorschlägen das Wahlrecht sogar entwerten.
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Sie wollen den Jugendlichen ein aktives, aber kein passives Wahlrecht geben. Sie trauen den Jugendlichen also auch nicht zu, richtige Verantwortung zu übernehmen. Also muss es für diese grüne Initiative einen anderen Hintergrund geben. Geben Sie doch einfach zu, dass Sie die Jugendlichen nur für Ihre eigene kulturmarxistische Parteipolitik als Stimmenbeschaffer benutzen wollen!
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Sie wollen Minderjährige, die wir zu Recht schützen und denen wir keinen Tabak und keine harten Alkoholika verkaufen, zu politischen Zielscheiben erklären. Sie wollen, dass die sogenannte Generation Greta Sie wählt,
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obwohl die Hauptdarstellerin selbst gerade auf der Weltbühne in offensichtlicher Überforderung ihre bedauernswerte Unreife bewiesen hat.
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Sie wiederum stellen es aber so dar, als würden Jugendliche generell die notwendige Einsichts- und Urteilsfähigkeit besitzen.
Zur Beurteilung dieses Gedankens könnte ein Blick in das Jugendstrafrecht oder auch in das BGB hilfreich sein. Dort ist nämlich in den §§ 106 ff. die beschränkte Geschäftsfähigkeit Minderjähriger beschrieben.
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Diese Norm, Herr Schwartze, ist nicht willkürlich entstanden, sondern sie ist in der gesetzgeberischen Tradition ein wirksamer Schutzmechanismus, um Heranwachsende vor unüberlegten Entscheidungen und deren Folgen zu schützen.
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In diesem Sinne ist es für mich hoffnungsvoll, dass sich von Fridays for Future nur ein Bruchteil der Jugendlichen verführen lässt. Diese emotionalisierte Klimajugend ist nämlich kein leuchtendes Beispiel für die geistige Reife.
Diese ökopopulistische Veranstaltung führt dazu, dass Kinder der Schule fernbleiben und ihre Bildung vernachlässigen. Selbst die neue Lichtgestalt Greta beklagt, ihrer Kindheit und ihrer Bildung beraubt worden zu sein.
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So muss ich sagen: Bildung und kritisches Denken passen also nicht in die schöne neue Welt der Grünen, in der, wie Friedrich Merz es richtig erkannt hat, ein krankes Mädchen instrumentalisiert wird, um den ideologischen Boden für eine neue links-grüne Weltordnung zu bereiten.
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Aber die Grünen beschränken sich nicht auf die Jugendlichen, sondern sie können sich sogar vorstellen, in Zukunft auch Kinder bei Wahlen zuzulassen.
Als Vorsitzender der Kinderkommission im Deutschen Bundestag schreibe ich Ihnen zum Schluss noch Folgendes ins Stammbuch: Lassen Sie Kinder und Jugendliche einfach in Ruhe, und lassen Sie Kinder und Jugendliche sich zu freien und mündigen Bürgern entwickeln. Es ist nämlich eine zivilisatorische Errungenschaft, dass Minderjährige nicht die Pflichten junger Erwachsener tragen müssen. Die meisten Kinder haben glücklicherweise Eltern und Großeltern, die sie lieben und alles tun werden, um auch in ihrem Sinne eine Zukunft zu sichern.
Die AfD steht auf der Seite der Kinder, die AfD steht auf der Seite des Rechts, und deshalb lehnen wir Ihre Gesellschaftsexperimente mit Nachdruck ab.
Vielen Dank und ein schönes Wochenende.
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Vielen Dank, Herr Huber. – Nächste Rednerin: Ulrike Bahr für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Damen und Herren! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Ja, viele junge Menschen in Deutschland sind politisch aktiv und zivilgesellschaftlich engagiert, ob bei Fridays for Future, in Vereinen und Jugendorganisationen oder auch bei spontanen Aktionen in ihren Schulen und Kommunen. Das ist gut so; denn das ist das Salz in der Demokratie. Das gilt es zu fördern.
Als Politik sind wir gefragt, auf allen Ebenen Beteiligung zu ermöglichen und zu Beteiligung zu ermutigen; denn Demokratie lebt von Demokraten und Demokratinnen, von Menschen, die sich einmischen und Verantwortung übernehmen. Und damit kann man gar nicht früh genug anfangen. Das muss man von klein auf einüben. Darum sage auch ich Ja zu einem Kinderrecht auf Anhörung und Beteiligung im Grundgesetz, zu mehr und besserer politischer Bildung, zum Jugendcheck für alle Gesetze, zu einem Demokratiefördergesetz und zu vielen Vorschlägen zur Förderung des bürgerschaftlichen Engagements, die sich in Ihren Anträgen finden.
Aber ich möchte auch ein bisschen Wasser in den Wein gießen und auf einen Aspekt hinweisen, der mir in Ihren Anträgen zu kurz kommt: Ob junge Menschen Beteiligungsangebote wahrnehmen, ob sie sich politisch engagieren und welche Art politischer Bildung sie in der Schule erhalten, hängt sehr stark von ihrer sozioökonomischen Herkunft, von ihrem Elternhaus und von der besuchten Schulform ab. „Wer hat, dem wird gegeben“, so fasst es eine Studie zur Situation des Politikunterrichts an deutschen Schulen zusammen, die die Friedrich-Ebert-Stiftung kürzlich mit der renommierten Berliner Politikdidaktikerin Sabine Achour veröffentlicht hat. Gymnasien bieten noch relativ viel Politikunterricht, an Mittelschulen ist viel weniger vorgesehen und wird häufig auch noch fachfremd unterrichtet. Das ist nicht gut und schadet auf Dauer der Demokratie.
Wer wählt und wer nicht wählt, das ist allzu oft eine Frage des Stadtquartiers. Und die Fraktion der Nichtwählenden ist gerade bei jungen Menschen besonders groß. Bei der letzten Bundestagswahl ist, trotz einer insgesamt höheren Wahlbeteiligung, ein knappes Drittel der unter 24-Jährigen nicht zur Wahl gegangen. Hier müssen wir aktiv werden mit schulischen und außerschulischen Angeboten für die vielen jungen Menschen, die sich momentan überhaupt nicht angesprochen fühlen. Auch für diese jungen Menschen brauchen wir kreative Ideen und neue Formate der politischen Bildung.
Nicht nur Geld und Programme sind wichtig. Die Wirksamkeit der politischen Bildung wie auch der Engagementförderung hängt natürlich auch vom glaubwürdigen Handeln der beteiligten Akteure in Zivilgesellschaft und Parteien ab. So mancher Vereinsvorstand muss sich fragen lassen, ob er nicht zu stark an angestaubten Ritualen hängt. Und Politik muss auf der kommunalen Ebene jungen Menschen Raum geben. Ich bin sehr stolz darauf, für die anstehende Kommunalwahl in Augsburg viele junge Leute auf der Stadtratsliste, auch auf den aussichtsreichen Plätzen, zu sehen. Ich bin gegen eine Jugendquote; aber wir brauchen eine Kultur in Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen, die den Jungen und ihren Ideen Raum gibt, auch weil sich manche gute Idee natürlich in der Konfrontation mit dem Althergebrachten besonders schön entwickeln und schärfen lässt. Das sehen wir jetzt auch bei Fridays for Future. Anbiederung ist nicht gefragt, ernst nehmen und Raum geben aber schon.
Das geschieht jetzt auch. Politik bewegt sich und reagiert auf den Protest. Das ist ein ermutigendes Zeichen, auch für die vielen, die glauben, nichts bewirken zu können. Engagement wirkt!
Vielen Dank!
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Vielen Dank, Ulrike Bahr. – Nächster Redner für die FDP-Fraktion: Grigorios Aggelidis.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich beziehe mich ausdrücklich auf Ihren Antrag mit dem Titel „Engagementoffensive jetzt – Bürgerschaftliches Engagement in der Breite der Gesellschaft fördern“. Ich habe gedacht: Mensch, super! Es ist gut, über dieses wichtige Thema zu sprechen. Das Ehrenamt wird aus meiner Sicht nicht nur wichtig bleiben, sondern in Zukunft sogar existenziell für unsere Gesellschaft und unser Land, so wie wir es kennen, werden.
Es ist schön, dass ein paar Forderungen, die wir bereits aufgestellt haben, in dem Antrag vorkommen, beispielsweise die Forderung nach der Gemeinnützigkeit für die Freifunk-Initiativen. Das haben wir schon im Dezember 2018 eingebracht. Da werden Sie hoffentlich zustimmen. Unseren Vorschlag, das Engagement der Senioren stärker zu fördern, haben Sie leider abgelehnt. Da hätte ich mir mehr Mut gewünscht und mehr Zuspruch.
Sie beklagen zu Recht einen Flickenteppich und Stückwerk. Aber wieso liefern Sie dann mit dieser Vorlage einen Flickenteppich? Das ist unglücklich. Ihr Antrag hat eine solche Bandbreite, dass ich mich frage: Welches Ehrenamt meinen Sie jetzt? Was ist Ihnen denn wichtig? In der Prosa argumentieren Sie sehr viel mit freiwilligen Feuerwehren, Sport-, sozialen Vereinen etc., um sich am Ende mit einigen Organisationen auseinanderzusetzen, die gerade einmal 0,001 Prozent des Ehrenamtes ausmachen, wenn wir von 30 Millionen Ehrenamtlichen ausgehen.
Der überwiegende Teil Ihres Antrags dient, so habe ich das Gefühl, eher als Tarnung; denn die Hauptanliegen des bürgerschaftlichen Engagements und des Ehrenamtes, so wie wir es in unserem Land kennen, gehen Sie gar nicht wirklich an. Ich will Ihnen ein paar Beispiele nennen:
Beim Thema Haftung gehen Sie nur auf Stiftungen ein. Was ist mit dem Rest? Was ist mit den ganzen Vereinen?
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Sie haben über die Partizipation junger Menschen gesprochen, liebe Frau Kollegin. Da ich Vorsitzender eines Vereins bin, der sehr gerne junge Menschen aufnimmt, frage ich: Wie soll ich die Frage der Haftungsrisiken regeln, die nun einmal mit einem ehrenamtlichen Vorstandsposten einhergehen, Haftungsrisiken, die sich aus der Abgabenordnung, aus der Umsatzsteuererklärung, die solche Vereine abgeben müssen, aus Arbeitszeitdokumentationen, Mindestlohn- und Datenschutz-Grundverordnung ergeben? Wie soll ich denn einem jungen Menschen unter 18 diese Haftungsrisiken aufhalsen?
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Ich würde mir wünschen, dass wir an der Stelle endlich mal für eine Entlastung sorgen. Wir treten dafür ein, dass hier spürbare Entlastungen erfolgen, und zwar in all den Bereichen, die ich genannt habe. Gegebenenfalls brauchen wir Ausnahmen für die ehrenamtlich engagierten Menschen. Das ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass junge Menschen sich in diesem Bereich engagieren können.
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Bitte lassen Sie die Ausrede, die zurzeit gerade im Steuerrecht und beim Thema Datenschutz-Grundverordnung vorgebracht wird – das ist Europa, das können wir nicht ändern –, weg. Ich wünsche mir, dass wir hier im Deutschen Bundestag geschlossen dafür antreten, dass die Belange des Ehrenamtes endlich auch hier berücksichtigt werden.
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Zu den weiteren Aspekten der Partizipation, die Sie angesprochen haben, sage ich: Ja, wir Freien Demokraten stehen konstruktiven Lösungen nicht nur offen gegenüber, sondern wir fordern sie auch ein. Aber bitte mal konkret werden! Die Beispiele, die die Kollegin Wiesmann angesprochen hat, sind im Endeffekt absolut richtig. Ich kann nicht, wenn ich die Haftung nicht ausschließe, junge Menschen in verantwortungsvolle Positionen bringen. Wo sind denn eigentlich Ihre konkreten Beispiele? Was fordern Sie? Wie wollen Sie das Mitmachen, die Partizipation junger Menschen in unserem demokratischen System fördern, wie es vorgesehen ist? Wo fördern wir sie? Wie bekommen wir es hin, dass auf kommunaler Ebene – zum Beispiel über Jugendparlamente oder andere Institutionen – junge Menschen deutlich mehr teilhaben? Ich habe das Gefühl, dass es stattdessen um Intonation und Priorisierung geht. Sie fordern eigentlich eher, so nenne ich das jetzt einmal, den Aufbau von Parallelstrukturen. Solche Parallelstrukturen sind teuer und unterliegen genauso wie das übrige Ehrenamt den Einschränkungen und Fördervorgaben der Regierung und der Politik insgesamt. Das ist aus meiner Sicht genau das Gegenteil von freiem und unabhängigem Partizipieren.
Und Sie, Herr Kollege, unterliegen der Redezeit.
Ja, ich weiß. Ich bin sofort fertig, letzter Satz.
Nein, Ihre Redezeit ist vorbei. – Vielen herzlichen Dank.
Vielen Dank.
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Sie haben Ihre Redezeit deutlich überzogen. Tut mir leid. – Nächster Redner: Norbert Müller für die Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Werte Besucherinnen und Besucher auf den Tribünen! Wir diskutieren heute über Gesetzentwürfe und Anträge der Grünen, in denen es unter anderem darum geht, das Wahlalter bei Europawahlen und Bundestagswahlen von 18 auf 16 Jahre zu senken. Ich sage deutlich in Richtung der Grünen: Herzlichen Dank für diese Gesetzentwürfe und Anträge. Wenn es um eine Ausweitung in Richtung mehr Demokratie und mehr Beteiligung von Jugendlichen und Heranwachsenden geht,
({0})
wenn es darum geht, das Wahlrecht auf 16- und 17-Jährige auszuweiten, dann sind wir an eurer und Ihrer Seite. Da sind wir dabei.
({1})
Spätestens das Bundesverfassungsgerichtsurteil zu den Wahlrechtsausschlüssen Ende letzten Jahres und Anfang dieses Jahres hat die Frage aufgeworfen: Mit welchen Begründungen werden 16- und 17-Jährige von Wahlen ausgeschlossen? Sie wissen, ich komme aus Brandenburg. Brandenburg war das erste Flächenland, das 2011 ein Wahlrechtsalter von 16 Jahren auf Landesebene und kommunaler Ebene für alle Wahlen und Abstimmungen eingeführt hat.
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Vielleicht ist es hilfreich, einen Blick auf die damalige Debatte im Landtag zu werfen, in der alle Gegenargumente von FDP und CDU angeführt wurden, die bei der Abstimmung über die Verfassungsänderung aber unterlagen.
Die damalige Chefin der CDU-Fraktion, Saskia Ludwig, sagte im Landtag, Jugendliche würden mit so viel Verantwortung überfordert werden. Zitat: Jugendliche haben andere Interessen. Das ist okay so. Sie haben das Recht, ihre Jugend zu genießen. – Im Übrigen werde vermutlich die Wahlbeteiligung der Neuwähler nicht so hoch sein.
Die geschätzte Kollegin Linda Teuteberg – eben war sie noch da, jetzt ist sie weg –, damals Landtagsabgeordnete, erklärte: Mit 16 Jahren ist man eben noch nicht voll geschäftsfähig. – Das ist interessant; zwischen 2011 und 2014 muss ein Erkenntnisgewinn eingesetzt haben. Man kann mit 16 Jahren nicht nur in der CDU Mitglied werden, sondern man konnte seitdem mit 16 Jahren nun auch die CDU wählen. So war die CDU die erste Partei, die landesweit plakatierte: Die CDU kannst du schon mit 16 wählen. – Ich ergänze: Herzlichen Dank dafür an SPD, Grüne und Linke, die das möglich gemacht haben.
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Aber auch die FDP wollte da nicht nachstehen und hat im sächsischen Landtagswahlkampf gefordert: Wahlalter 18 seit 1970. Wahlalter 16: wann? – Ja, wann denn, liebe Kolleginnen und Kollegen, würden Sie zustimmen, auf Bundesebene das Wahlalter mit 16 Jahren einzuführen?
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Ich möchte aber auch zu den Argumenten im Einzelnen noch etwas sagen. Die Kollegin Teuteberg hat hier die Volljährigkeit angeführt; in der Debatte hat das bereits eine Rolle gespielt. Das ist ein interessantes Argument, ebenso das Spielen mit verschiedenen Altersgrenzen. Das können wir gerne fortführen. Als das Wahlalter 1970 von 21 Jahren auf 18 Jahre gesenkt wurde, galt die Volljährigkeit mit 21 Jahren. Diese Absenkung haben damals die FDP und die Sozialdemokraten eingeführt. Dazu gab es aber einen einstimmigen Beschluss im Bundestag. Das setzt quasi Maßstäbe.
Die Volljährigkeit lag also bei 21 Jahren. Das änderte sich auch auf Jahre nicht. Erst 1975 wurde die Volljährigkeit auf 18 Jahre abgesenkt. Es gibt also gar keinen Zusammenhang zwischen Volljährigkeit und Wahlalter. Das kann man voneinander trennen. Das ist auch in der Bundesrepublik-West fünf Jahre getrennt gewesen. Das ist noch nicht einmal aufgefallen, auch Sie haben es nicht gemerkt.
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Deswegen können wir auch auf Bundesebene das Wahlalter völlig entspannt auf 16 Jahre senken, ohne die Volljährigkeit anpassen zu müssen.
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– Sie wollen das nicht. Darüber können wir gerne reden. Vielleicht gibt es irgendwann andere Mehrheiten.
Wenn wir beim Thema Altersgrenze sind: Ja, man kann mit 14 Jahren die Religionszugehörigkeit frei wählen. Das ist auch richtig so. Ich finde, das ist eine nachhaltige Entscheidung: Man entscheidet für sein Leben, in welche Glaubensgemeinschaft man möglicherweise eintritt oder nicht eintritt.
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– Ja, das kann man nur für sich wählen, Kollege Aggelidis. Man kann aber auch nur für sich, möglicherweise mit 16 Jahren, wenn man zum Beispiel Brandenburger ist, entscheiden, mal eine Jugendsünde zu begehen und aus Versehen FDP zu wählen.
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Diese Entscheidung ist bei Weitem nicht so nachhaltig und so weitreichend wie die Wahl, in eine Religionsgemeinschaft einzutreten. Aber man kann das bereits mit 14 Jahren. Was ist das Argument, 16- und 17-Jährige von der Wahl auszuschließen, wenn sie mit 14 Jahren die Religionszugehörigkeit wählen können? Das ist überhaupt nicht ins Verhältnis zu setzen.
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Man kann übrigens mit 17 Jahren den Grundwehrdienst bei der Bundeswehr antreten. Das gab es das letzte Mal in der Kaiserzeit, dass Soldatinnen und Soldaten auf Bundesebene gar kein Wahlrecht hatten. Was sind denn das für Zustände? Wir brauchen das Wahlalter mit 16 Jahren.
Mir stellt sich die Frage: Wovor haben Sie eigentlich Angst?
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Ich habe keine Angst vor wählenden 16- und 17-Jährigen.
Herr Müller, Ihre Redezeit ist vorbei.
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Ich komme zum Schluss. – Diese haben übrigens bei den letzten Wahlen in Brandenburg eine um mehr als 10 Prozent höhere Wahlbeteiligung als die folgenden Alterskohorten gehabt. Das heißt, junge Leute wollen beteiligt werden und sollen das auch. Wir sind an der Seite der Grünen. Wir wollen das Wahlalter ab 16.
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So, das haben wir jetzt. Herr Müller, vielen Dank. – Nächster Redner für die CDU/CSU: Ansgar Heveling.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Letzten Freitag konnte man in meinem Bundestagsbüro von draußen den lauten Protest der Fridays-for-Future-Bewegung hören. Egal wie man zu Form und Inhalt der Bewegung steht und gleichgültig wie man zu der Frage steht, ob dieser Protest zu Unterrichtszeiten stattfinden muss, eins muss man schon festhalten: Gerade Fridays for Future zeigt, dass die junge Generation politisch engagiert ist. Gerade wenn es um ihre Zukunft geht, mischt sie sich ein.
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Die Grünen fordern nun die Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre, damit Jugendliche mehr an politischen Entscheidungen mitwirken können. Auch wir von CDU und CSU sind immer dafür, junge Menschen für politisches Engagement, für unsere Demokratie zu begeistern.
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Andererseits geht es auch darum, dass Rechte und Pflichten der Bürger in einer aktiv gelebten Demokratie im Gleichklang zueinander stehen müssen. Genau auf ebendiesem Grundsatz baut unsere Rechtsordnung auf. So gilt sowohl die volle strafrechtliche Verantwortlichkeit als auch die unbeschränkte Delikts- und Geschäftsfähigkeit für jeden Bürger erst ab 18 Jahren. Wahlalter und Volljährigkeit sehen wir schon in einem inneren Zusammenhang.
Dieser fundamentale Grundsatz hat sich in den letzten Jahrzehnten auch als erfolgreich für das gesellschaftliche und ausgewogene Miteinander erwiesen. Die Gesellschaft hat sich richtigerweise darauf verständigt, dass einem jungen Erwachsenen ab einem Alter von 18 Jahren ein vollverantwortliches Handeln mit allen Rechten, aber eben auch allen Pflichten und mit allen Konsequenzen zugerechnet werden sollte.
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Tatsache ist auch, dass das Alter bis 18 Jahre für Jugendliche doch richtigerweise auch eine Zeit ist, in der sie sich ausprobieren und Erfahrungen sammeln, eine Zeit, in der sich junge Menschen erst ihre Meinung bilden und hierbei zu Recht auch experimentierfreudig sind, eine Zeit also, in der auch gruppendynamische Prozesse eine größere Rolle spielen können. Das kann unter Umständen dann auch Auswirkungen auf eine differenzierte Wahlentscheidung haben. Daher halten wir als Union an der Voraussetzung der Volljährigkeit für die Teilnahme an Bundestagswahlen fest.
Nun fordern die Grünen auch, das Mindestalter für die Unterstützung der Europäischen Bürgerinitiative auf 16 Jahre abzusenken. Mit einer solchen Initiative können 1 Million EU-Bürgerinnen und ‑Bürger, die in mindestens einem Viertel der Mitgliedstaaten leben, die Kommission auffordern, einen bestimmten Rechtsakt vorzunehmen.
Als formales Beteiligungsrecht der EU ist dieses Instrument damit aber dem Wahlrecht nahe, anders als es zum Beispiel die formlose Petition an den Deutschen Bundestag ist. Daher muss aus unserer Sicht auch hier das Gleiche wie für das Wahlrecht gelten. Es ist für mich nicht ersichtlich, warum Jugendliche einerseits nicht voll geschäftsfähig bzw. nicht voll straf- und deliktsrechtlich verantwortlich sein sollen, andererseits aber unmittelbaren Einfluss auf die europäische Gesetzgebung nehmen sollen.
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Mit Blick auf die Einheit der Rechtsordnung lehnen wir auch diesen Vorschlag ab.
Hat die Anknüpfung des Wahlalters an die Volljährigkeit zur Folge, dass Jugendliche rechtlos, ohne Einflussmöglichkeiten auf die demokratische Willensbildung sind? Können Jugendliche denn nur über das Wahlrecht entscheidend mehr zur gesellschaftlichen Entwicklung beitragen? Ganz und gar nicht. Gerade das zeigt uns eben auch die Fridays-for-Future-Bewegung in eindrucksvoller Weise. So sagte Angela Merkel vor wenigen Tagen auf dem UN-Klimagipfel, dass sie alle den Weckruf der Jugend gehört haben – ganz ohne aktives Wahlrecht.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Ansgar Heveling. – Nächster Redner für die SPD-Fraktion: Mahmut Özdemir.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Ausübung des Wahlrechts ist die Ausübung von Staatsgewalt, sagt das Bundesverfassungsgericht. Die Wahlgrundsätze des Artikels 38 Grundgesetz und des Artikels 20 Absatz 2 Grundgesetz sind die Schlüsselregelungen der Macht in unserem Staate, der Macht, die wir bislang nur denjenigen gewähren, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, Jüngeren allerdings verwehren. Ob das gerechtfertigt ist, das kann man bezweifeln.
Ich erzähle Ihnen, was ich in einem Duisburger Kindergarten über Macht gelernt habe. Die Kinder erhielten nach dem Mittagessen einen kleinen Ball, um ihre eingenommene Mahlzeit zu bewerten. Auf dem Flur gab es Zylinder, die mit einem lachenden, einem teilnahmslos und einem traurig guckenden Gesicht versehen waren. Ein Kind stand vor den Zylindern und guckte dem zufällig anwesenden Koch tief ins Gesicht und versenkte den Ball in dem Zylinder mit dem traurig guckenden Gesicht. Eine einfache, sogar offene Entscheidung: Das Essen hat dem Kind einfach nicht geschmeckt. Diese Kinder haben die Macht erhalten, eine Wahl zu treffen und über die Frage zu entscheiden, ob der Koch weitermachen darf wie bisher.
Für unsere Parlamentswahlen heißt das: Wenn sich Kandidaten mit dem Programm ihrer Partei der Wahl stellen, fragen sie das Wahlvolk schließlich auch, ob ihnen das Parteiprogramm schmeckt. Folglich ist eine Entscheidung grundsätzlich keine Altersfrage. Das Mindestalter im Grundgesetz zu regeln, halte ich jedoch für unumgänglich und begründet, da es die Sicherheit der Wahl garantiert und die Zahl der Wahlberechtigten nicht alleine zum Spielball einer einfachgesetzlichen Entscheidung macht.
Über die Senkung des Wahlalters zu reden, halte ich allerdings gleichermaßen für unumgänglich; denn eine Generation, die Forderungen an die Politik erhebt, die lautstark Generationengerechtigkeit einfordert, beweist, würdig zu sein, würdig genug, Staatsgewalt durch Wahlen auszuüben.
Eingriffe in die Wahlgrundsätze müssen durch zwingende staatspolitische Gründe gemäß der Wertung des Grundgesetzes gerechtfertigt werden. Eine Senkung des Wahlalters ist ein solcher Eingriff. Die derzeit bestehende Regelung zum Mindestalter muss sich aber auch selbst als Eingriff in die Rechte der unter 18-Jährigen rechtfertigen. Es sind teilweise überkommene Kategorien von Einsichtsfähigkeit und Erfahrung, die wir unwidersprochen voraussetzen, wenn wir über das Wahlrecht und die teilweise willkürliche Entscheidung zum Mindestalter von 18 Jahren reden. Das können wir im Übrigen auch nur, weil die Betroffenen nicht an der Entscheidung beteiligt werden.
Mindestalterregelungen im Wahlrecht – die Kolleginnen und Kollegen haben das angesprochen – haben nachweislich nur zeitweilig Geltung. Von 21 auf 18 Jahre abgesenkt im Jahr 1970, da ist es aus meiner Sicht fast fünf Jahrzehnte danach an der Zeit, die Rechtfertigung für den Ausschluss der 16- und 17-Jährigen von der Bundestagswahl auf den Prüfstand zu stellen.
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Als Sozialdemokraten sind wir ausweislich unseres letzten Wahlprogramms durchaus dazu bereit. Als Sozialdemokraten in Regierungsverantwortung werden wir den Vorlagen allerdings nicht zustimmen, weil dieses Vorhaben mit unserem Koalitionspartner nicht zu konsentieren ist. Vielleicht kommen Sie auch irgendwann einmal in die Verlegenheit, einen Koalitionsvertrag unterschreiben zu müssen. Dann wissen Sie, wie das heute für mich gewesen sein mag.
Ich sage Ihnen: Wer Verantwortung trägt, tut das Mögliche. Wer keine Verantwortung tragen will, kann oder darf, fordert stets das Unmögliche.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Schönes Wochenende und Glück auf!
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Vielen Dank, Mahmut Özdemir. – Letzter Redner in der Debatte und in dieser Sitzungswoche: Martin Patzelt für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die Sie jetzt am Freitag hier noch ausharren! Liebe Gäste auf den Tribünen! Ich will versuchen, zum Schluss noch mal die Brücke zu schlagen von dem bisher Diskutierten zu dem Antrag zur Engagementoffensive. Wir reden jetzt schon jahrelang auf verschiedenen Ebenen über die Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements. Im Unterausschuss hatten wir am Mittwoch wieder eine Anhörung. Das kann langsam auch den Abgeordneten die Motivation rauben, weil wir über Jahre hinweg anhören und anhören und anhören und die Monster von Bürokratie und Ängsten, die daraus wachsen, immer größer werden. Insofern sage ich mit Goethe:
Der Worte sind genug gewechselt.Laßt mich auch endlich Taten sehn!
Wir müssen als Abgeordnete darüber nachdenken, wie wir tatsächlich mal den Wald von Bürokratie durchforsten. Ich halte auch im Ausschuss immer dagegen, wenn es heißt, dass die Bürokratie nur eine willkürliche Zwangsmaßnahme ist. Mit jedem neuen Gesetz und mit jeder neuen Förderrichtlinie schaffen wir auch wieder neue Möglichkeiten und Notwendigkeiten von Bürokratie. Denn wer will Steuergelder ungeprüft ausgeben? Wer will ein Gesetz mit seinen Rechten und Pflichten willkürlich in ein anderes Gesetzeswerk einbinden? Wir müssen diese Abgrenzung vornehmen.
Ich schlage deshalb vor, dass wir jetzt wirklich mal eine Arbeitsgruppe aus verantwortlichen Verwaltungsfachleuten, Vertretern der Stiftungen, Vertretern der Vereine und Abgeordneten bilden, die mal Punkt für Punkt durchgeht: Was sind eigentlich die Beschwerden der Vereine, der vielen Ehrenamtlichen und der bürgerschaftlich Engagierten? Ich glaube, dass wir fündig werden könnten und auch Ausnahmeregelungen, die mal getroffen worden sind, etwas abtragen könnten, wenn wir das miteinander wollen. Wenn wir darüber diskutieren, wird uns von der Verwaltung immer gesagt: Dann müsst ihr die Gesetze ändern. – Das könnte man genau angucken.
Dann mahne ich einen bundesweiten Nachweis für Freiwilligentätigkeit an. Der würde ideell die Tätigkeiten von jungen und alten Menschen einfach mal dokumentieren. Das ist kein großer finanzieller Aufwand. Es gibt x Ausreden, die ich da immer wieder gehört habe. Warum packen wir solche Dinge nicht an? Warum reden wir immer bloß über die Stärkung? Wir wollen es doch alle, glaube ich, von links nach rechts hier im Saal. Wir wollen das wirklich alle; denn ehrenamtliche Tätigkeit und bürgerschaftliches Engagement, das ist tatsächlich Partizipation pur.
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Qualifizierte Beratung bieten wir demnächst im Rahmen einer Agentur, in der Stiftung an. Wir werden uns im Unterausschuss mit konkreten Maßnahmen und Möglichkeiten der Unterstützung von Vereinen, Initiativen und Ehrenamtlichen beschäftigen. Wir werden als Abgeordnete untereinander, aber dann auch mit den Trägern weiter konkret sprechen.
Lassen Sie uns – Sie alle hier im Haus – Ihre Unterstützung zuteilwerden, wenn wir Vorschläge auf den Tisch legen.
Jetzt wünsche ich Ihnen eine gute Zeit bis zur nächsten Sitzung.
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Vielen Dank, Martin Patzelt. – Damit schließe ich die Aussprache.