Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 9/26/2019

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Ralph Brinkhaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004021, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben am Freitagmittag wohl eines der größten politischen Projekte in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland auf den Weg gebracht. Das war auch bitter nötig. ({0}) Es war deswegen bitter nötig, weil wir Ziele, die wir uns auch als Union mit dem Pariser Klimaabkommen, auf europäischer Ebene, aber auch im Klimaschutzpaket 2050 selbst gesetzt haben, nicht erreicht haben. Was es bedeutet, wenn wir diese Ziele nicht erreichen, davon haben wir in diesem Sommer angesichts des Wetters – ich sage bewusst: „des Wetters“ und nicht „des Klimas“ – eine ungefähre Ahnung bekommen. Deswegen ist es wichtig, dass wir uns mehr anstrengen als in der Vergangenheit. Für die Zielerreichung, meine Damen und Herren, gibt es zwei Möglichkeiten. Die eine Möglichkeit ist: Wir erhöhen massiv die Preise für den CO2-Ausstoß und überziehen das Land mit vielen Verboten. Die zweite Möglichkeit ist: Wir machen ein abgestimmtes, integriertes, smartes Konzept, ({1}) das auf Mengensteuerung, auf Anreize, auf Markt setzt und da, wo es nötig ist, auf Ordnungsrecht. Ich halte das zweite Konzept für besser. ({2}) Es ist das Konzept, das wir auf den Weg gebracht haben. Ich möchte die Grundzüge bzw. die Grundmechanismen dieses Konzeptes erläutern. ({3}) Das Erste und Allerwichtigste ist die Mengensteuerung über einen Zertifikatehandel. ({4}) Diese Mengensteuerung wird mit einer Bepreisung eingeleitet. Warum möchten wir die Mengensteuerung über eine Bepreisung einleiten? Weil wir das Signal geben möchten, dass wir in einigen Jahren eine derart hohe Bepreisung von CO2 und eine derart limitierte Ausstoßmenge haben werden, dass es aller Anstrengungen wert ist, Kreativität aufzubringen und Kreativität und Dynamik freizusetzen, um entsprechend mit weniger, am besten ohne CO2 auszukommen. Wir setzen auf diese Dynamik, auf die Dynamik bei den Bürgerinnen und Bürgern, bei der Wissenschaft und vor allen Dingen auch bei der Wirtschaft, die uns mit Technologie und Innovation in diesem Bereich versorgen wird. ({5}) Als Zweites haben wir gesagt: Das Geld, das wir durch diese Bepreisung einnehmen werden, werden wir nutzen, und zwar nicht um den Haushalt zu stärken, nicht um Projekte wie die Grundrente oder anderes zu finanzieren, sondern um die Bürgerinnen und Bürger zu entlasten und um soziale Brüche zu vermeiden, die in diesem Prozess unweigerlich entstehen würden. Wir werden das Geld aufwenden, um den Bürgerinnen und Bürgern mit Projekten und Anreizen zu helfen, diesen Weg der CO2-Reduzierung zu gehen. Der dritte Punkt sind Maßnahmen, Maßnahmen, Maßnahmen. ({6}) Mehr als 60 Maßnahmen haben wir in diesem Paket verankert. ({7}) Das fängt mit Maßnahmen im Bereich der Förderung der energetischen Gebäudesanierung an, um den schlafenden Riesen Gebäudesanierung zu wecken. ({8}) Das geht weiter mit Maßnahmen im Bereich der Förderung der Elektromobilität. Wir werden das größte Investitionsprogramm in der Geschichte der deutschen Eisenbahn auf den Weg bringen. Es steht aber auch viel über Technologie, Innovation, Green IT ({9}) und anderes, das sehr wichtig ist, drin. ({10}) Der vierte Punkt ist, dass wir sagen: Wir machen das in Phasen. ({11}) Wir fangen eben nicht damit an, Verbote einzuführen oder Preise massiv zu erhöhen, sondern damit, dass wir den Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit geben, sich auf diese neue Welt entsprechend einzustimmen, dass wir ihnen die Möglichkeit geben, CO2-Ausstoß zu vermeiden, ({12}) dass wir ihnen die Möglichkeit geben, zum Beispiel auf den öffentlichen Nahverkehr umzusteigen, dass wir ihnen die Möglichkeit geben, auf Elektromobilität umzusteigen, dass wir ihnen die Möglichkeit geben, ihre alten Ölheizungen zu ersetzen. Erst in der zweiten Phase gehen wir in die Bepreisung. Ich glaube, das ist ein faires Modell, das so organisiert ist, dass wir es nicht gegen, sondern mit den Menschen machen. ({13}) Der fünfte Punkt ist, dass wir sagen: Ja, wir haben die Ziele nicht erreicht. Das soll nicht noch mal passieren. Deswegen werden wir die Ziele noch rigoroser überwachen. ({14}) Wir werden jedes Jahr mit dem Klimakabinett, das wir fortführen werden, entsprechend überprüfen, wo wir sind, und wir werden dann auch sehr konsequent und sehr kurzfristig nachsteuern. Ich möchte dafür werben, dass wir das, was im Klimakabinett gemacht wird, auch hier im Deutschen Bundestag machen. Ich möchte dafür werben, dass wir ähnlich wie bei den Haushaltswochen – den Haushalt nehmen wir ja sehr ernst – so etwas wie Zukunfts- oder Klimawochen machen, bei denen wir uns eine Woche Zeit nehmen, ({15}) genau über diese Themen zu sprechen und zu zeigen, dass das Parlament dabei ist und dass es die Regierung kontrolliert und in der Sache auch unterstützt. ({16}) Es ist klar – das war auch nicht anders zu erwarten –, dass dieses Paket kritisiert wird; denn viele Menschen haben Ängste und Befürchtungen. Es ist auch deshalb klar, weil vieles in diesem Paket neu ist. ({17}) Aber die wenigsten, meine Damen und Herren, kritisieren den Mechanismus, dass wir über den Zertifikatehandel eine Mengensteuerung machen wollen. ({18}) Das ist übrigens der Mechanismus, den uns die meisten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vorgeschlagen haben. Meine Damen und Herren, die wenigsten kritisieren, dass wir das Geld, das wir durch diesen Preis- und Mengenmechanismus einnehmen werden, dafür verwenden, um soziale Brüche zu vermeiden, um auch die Wirtschaft weiter am Laufen zu halten. ({19}) Meine Damen und Herren, und die wenigsten kritisieren die Maßnahmen. Denn die meisten Maßnahmen, die in unserem Paket vorgesehen sind, stehen auch bei anderen Parteien in irgendwelchen Papieren drin, sie stehen bei Organisationen in irgendwelchen Papieren drin, und sie werden auch von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gefordert. ({20}) Meine Damen und Herren, die wenigsten kritisieren auch den Mechanismus, dass wir versuchen, den Menschen erst die Möglichkeit zu geben, CO2-freier zu leben, bevor wir sie mit Bepreisung und anderen Dingen überziehen. ({21}) Und, meine Damen und Herren, die allerwenigsten kritisieren, dass wir uns einen Mechanismus überlegt haben, bei dem wir jedes Jahr unsere Zielerreichung überprüfen. Es wird aber kritisiert, dass wir bei der Bepreisung nicht hoch genug eingestiegen sind. Das nehmen wir auch sehr ernst. Ich möchte darauf aber zwei Antworten geben. Die erste Antwort ist: Wir haben natürlich, wenn wir jetzt zu niedrig eingestiegen sind, die Möglichkeit, jedes Jahr nachzusteuern, und das werden wir auch tun, wenn es nicht reicht. ({22}) Die zweite Antwort ist, dass es zur Wahrheit dazugehört, dass wir nicht nur dafür kritisiert werden, dass es zu wenig ist, sondern dass es auch eine Menge Menschen gibt, die fragen: Was passiert denn da? Was macht das jetzt mit meinem Leben? Kann ich meine Ölheizung weiter betreiben? Kann ich pendeln? Wie schneide ich dabei ab? ({23}) Diese Menschen sind beunruhigt, und ich muss auch auf diese Menschen eingehen, wenn das Grundaxiom unseres Pakets stimmt, dass wir es mit den Menschen und nicht gegen sie machen wollen, meine Damen und Herren. ({24}) Deswegen müssen wir nicht nur das Richtige tun, sondern wir müssen auch Akzeptanz dafür schaffen. Denn wenn diese Aufgabe so groß ist, wie wir das immer sagen, dann reicht es nicht, dass die Politik verordnet: „Jetzt müssen wir mal CO2 einsparen“, sondern wir müssen das mit allen Menschen in diesem Land zusammen machen. Jeder ist da gefordert. ({25}) Aber wenn jeder gefordert ist, brauche ich eine breite Akzeptanz. Und diese breite Akzeptanz, meine Damen und Herren, brauche ich auch politisch – das ist überhaupt keine Frage –, und zwar deswegen, weil dieses Konzept nicht von wechselnden Mehrheiten in Bund und Ländern abhängig sein kann. Es kann nicht sein, dass wir alle vier oder fünf Jahre umsteuern. Deswegen werbe ich dafür, dass wir hier im Bundestag einen breiten Konsens bekommen. Deswegen werbe ich dafür, dass wir uns mit den Bundesländern zusammensetzen. Deswegen werbe ich dafür, dass wir uns auch mit den gesellschaftlichen Gruppen zusammensetzen, ob Arbeitgeber, Arbeitnehmer, Kirchen oder sonst wer. Wir müssen das in einem breiten Konsens aufstellen. Jetzt gehört dazu natürlich noch eines dazu, wenn ich von einem breiten Konsens spreche. Wir sind natürlich von unserem Modell überzeugt, aber der Konsens wird nicht entstehen, ({26}) wenn ich sage: Friss oder stirb! – Das ist keine Frage. Vielmehr müssen wir uns da gegebenenfalls auch aufeinander zubewegen. Das gilt aber auch für diejenigen, die sich jetzt hinstellen und das alles in Bausch und Bogen verdammen. Da erwarte ich auch, dass da nicht die eigene reine Lehre vertreten wird, ({27}) sondern dass man sich an der Stelle auch bewegt, meine Damen und Herren. ({28}) Lassen Sie mich mit zwei Bemerkungen schließen. Viele Menschen sagen: Das ist jetzt eine schlechtere Welt, die da entsteht. Was wird das mit unserem Land machen? – Dazu fällt mir eines ein. Mir ist vor einigen Monaten mal gesagt worden: Wir haben in diesem Land zu wenig Dynamik. Es muss doch mal was passieren. Es muss doch mal ein Ruck durch das Land gehen. – Ich habe damals geantwortet: Ja, das stimmt. Wir bräuchten ein gemeinsames gesellschaftliches Projekt, so etwas wie die Mondlandung. – Jetzt haben wir dieses gemeinsame gesellschaftliche Projekt, und daraus können wir doch etwas machen, wenn wir zusammenarbeiten. ({29}) Wir können etwas daraus machen, wenn wir einen gesellschaftlichen Konsens hinbekommen und wenn wir das mit der Mehrheit der Gesellschaft schaffen. ({30}) Die zweite Bemerkung ist, dass wir festgestellt haben, dass, obwohl in New York gerade über 70 Länder gesagt haben: „Wir wollen auch CO2-frei leben“, wir trotz aller Zielverfehlungen viel, viel weiter sind als viele andere Länder, insbesondere in den Bereichen Technologie und Innovation. So ist es für uns eine Chance, wenn wir auf Technologie und Innovation setzen, dass sich uns auf den Märkten dieser Welt neue Möglichkeiten eröffnen. Insofern ist auch richtig: Umwelt und Wirtschaft sind an dieser Stelle kein Gegensatz, sondern beides gehört zusammen. Dieses Projekt ist eine große Chance für unser Land, wenn wir es richtig machen. Und wir wollen es richtig machen, und wir werden es richtig machen. ({31})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Martin Reichardt, AfD. ({0})

Martin Reichardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004859, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist nicht die Regierung und nicht Ihr Klimakabinett, und es sind auch nicht Ihre ideologischen Vorturner von den Grünen, die sich um Deutschland irgendwie verdient machen. Es sind auch nicht die Mainstream-Journalisten und die Klimahysteriker, die hier überall sitzen. Sie alle sind die Zerstörer unserer Wirtschaftskraft und damit die Zerstörer des deutschen Sozialstaats, und mehr nicht. ({0}) Verdient um Deutschland machen sich die Pendler, die jeden Morgen mit ihrem Diesel zur Arbeit fahren, machen sich die Familien, die Kinder bekommen, die Mittelständler, die Arbeit schaffen, und Millionen von Arbeitnehmern gerade auch im kleinen und mittleren Einkommensbereich, die das Geld erarbeiten, das Sie für Ihren Klimawahn zum Fenster hinausschmeißen, meine Damen und Herren. ({1}) Höhere Lebenshaltungskosten durch höhere Mieten, Energie- und Kraftstoffpreise bedeuten für viele Arbeitnehmer und Rentner den Unterschied zwischen „gerade noch mit dem Geld auskommen“ und „am Ende nichts mehr haben“. Für viele Selbstständige bedeuten sie den Unterschied zwischen Selbstständigkeit und Insolvenz. Für viele bedeutet der Klimawahn die Gefahr des wirtschaftlichen Niedergangs oder gar der Verarmung. ({2}) Für diese Menschen, meine Damen und Herren, steht die AfD-Fraktion. Für diese Menschen spreche ich heute hier im Deutschen Bundestag, weil dazu niemand anders mehr bereit ist. ({3}) Es sind die Menschen, die auch Sie von der Union im Machtpoker verschachern, und es sind die Menschen, die die deutsche Sozialdemokratie gerade zum zweiten Mal nach Hartz IV jämmerlich verrät. Und das ist eine Schande. ({4}) Es sind Menschen, die unter dieser Regierung leiden. Denn diese Regierung ist der Erfüllungsgehilfe der grünen Klimasekte und sonst leider nichts. ({5}) Es sind Menschen aus der Mitte des Deutschen Volkes, dem Sie geschworen haben, seinen Nutzen zu mehren und Schaden von ihm abzuwenden. ({6}) Seitdem aber in Deutschland der nüchterne politische Sachverstand dem Regierungsdogma „Greta diktiert, Merkel pariert“ – Frau Merkel ist leider gerade nicht da – gewichen ist, verläuft die wahre Spaltung in Deutschland zwischen den grün-urbanen Besserverdienenden und denen, die sich nicht um einen erfundenen Weltuntergang Gedanken machen, sondern die sich darum Gedanken machen müssen, wie viel Geld am Monatsende noch auf dem Konto ist, meine Damen und Herren. ({7}) Allein 2017 kostete die Energiewende die privaten Haushalte 9 Milliarden Euro. Die Kanzlerin sagte 2011, die EEG-Umlage solle den damaligen Stand nicht überschreiten. Sie lag damals bei 3,5 Cent. Heute liegt sie bei 6 Cent. Mit dem Klimapaket wurde auch die Reform des EEG und damit die Entlastung von Familien angekündigt. Im ersten Schritt sollen nun Familien um sage und schreibe 70 Cent pro Monat im Durchschnitt entlastet werden. Das ist noch nicht mal die einstmals propagierte sprichwörtliche Kugel Eis, meine Damen und Herren. Das ist Hohn und ein Schlag ins Gesicht der Bürger. ({8}) Allein 22 Prozent des Strompreises zahlen wir für die teure und unnütze Energiewende. Deshalb fordert die AfD auch eindeutig: Weg mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz! Die Bepreisung von CO2 macht alles teurer: Lebensmittel, Mieten, Dienstleistungen. Ein E-Auto kann sich nur der leisten, der etwas Geld beiseitelegen kann. Das können durch Ihre Politik viele nicht mehr. Die Grünen fordern ja schon jetzt einen höheren CO2-Preis. Ich fordere die Regierung auf: Machen Sie endlich Schluss mit diesem idelogischen grünen Unsinn, den Sie hier vertreten! Und gerade Sie von der Union fordere ich auf: Hören Sie auf, in Bund und Land mit linksextremen Ökopopulisten zu paktieren, um Ihre eigene Macht zu erhalten! ({9}) – Sie auch nicht. ({10}) Kehren Sie zu einer verantwortungsvollen bürgerlichen Politik zurück! Vielen Dank. – Herr Schulze-Brömer; lachen Sie nur, Sie machen sich lächerlich. ({11})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort die Bundesministerin Svenja Schulze. ({0})

Not found (Minister:in)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Der Klimawandel ist schon lange spürbar – wir merken es doch alle –: Hitze, Dürre, Starkregen. Auch wenn es den einen oder anderen gibt, der immer noch meint, er könne das ignorieren: Wir werden das nicht länger ignorieren. Der Weltklimarat hat uns gestern noch mal ganz eindeutig gesagt: ({0}) Wir können noch handeln; wir können etwas gegen diese Veränderungen tun. Und wir handeln jetzt auch. Diese Regierung nimmt diesen Auftrag an. Wir handeln. Wir haben das größte Klimapaket beschlossen, das es hier seit Langem gab, und das ist gut so. ({1}) Es ist ein Neuanfang. Und diesen Neuanfang will ich in drei großen Linien beschreiben: Das Erste ist: Klimaschutz wird jetzt Gesetz. Zukünftig ist gesetzlich verankert, dass wir unsere Klimaziele erreichen. Das Herzstück dieses Klimapakets ist das Klimaschutzgesetz. Es macht unsere Klimaziele jetzt rechtsverbindlich, und zwar erstmals für jeden einzelnen Bereich, ({2}) für diese und für künftige Regierungen. Jährlich wird überprüft, ob die Emissionen wirklich in allen Sektoren sinken, und wenn nicht, dann wird durch den zuständigen Minister, die zuständige Ministerin nachgesteuert werden. ({3}) Das ist ein Sicherheitsnetz für den Klimaschutz in Deutschland. Damit bin ich sehr zufrieden. ({4}) Das Zweite ist: Klimaschutz lohnt sich künftig für alle Bürgerinnen und Bürger. ({5}) Die Bundesregierung nimmt dafür sehr, sehr viel Geld in die Hand: 54 Milliarden Euro in den nächsten drei Jahren. Wir schaffen damit zusätzliche Anreize. Wir schaffen zusätzliche Regeln. Klimafreundliche Alternativen, sei es beim Auto, beim Heizen oder beim Neubau, werden günstiger, und klimaschädliche Verfahren werden moderat, Schritt für Schritt teurer. Das ist ein ganz klares Signal für die Nutzer und für die Hersteller. Ich will Ihnen dafür Beispiele nennen: Wir werden Milliarden in die Attraktivität der Bahn investieren, in den öffentlichen Nahverkehr. Wir werden billigere Tickets sehen und ein massiv ausgebautes Angebot. Fliegen aber wird teurer werden; das ist die andere Seite. Modernes Heizen und die energetische Sanierung von Gebäuden werden massiv gefördert. Ölheizungen in Neubauten einzubauen, wird aber in Zukunft verboten werden. Elektroautos werden bezuschusst, sie werden alltagstauglicher werden. Benzin und Diesel werden Schritt für Schritt ganz langsam teurer werden. ({6}) Der Strom wird umweltfreundlicher werden. Braun- und Steinkohlekraftwerke werden jetzt nach einem klaren Fahrplan abgeschaltet. Wir lösen endlich die Handbremse beim Ausbau der erneuerbaren Energien. ({7}) Das ist enorm wichtig, und das ist genau die richtige Richtung. Ja, wir schaffen den Einstieg in die Bepreisung von CO2. Das habe ich vor über einem Jahr selber vorgeschlagen. ({8}) Die Idee ist richtig. Wir haben uns jetzt auf ein Modell verständigt, das stetig den Preis steigern wird. Wir machen den Einstieg aber sehr vorsichtig. ({9}) Ich hätte mir auch mehr vorstellen können – das sage ich hier ganz deutlich –; aber anders als so mancher Ökonom glaube ich nicht, dass allein die CO2-Bepreisung das Heilmittel ist. Sie ist ein Instrument unter vielen Instrumenten, die wir jetzt wählen. ({10}) Herr Brinkhaus hat das gerade schon gesagt; ich will das noch einmal betonen: Wir werden nachsteuern. Wenn das nicht reicht, dann werden wir nachsteuern. – Aber Klimaschutz nur über höhere Preise für Sprit, für Heizöl zu betreiben, halte ich für falsch. ({11}) Da muss weitaus mehr passieren. Und das sieht unser Klimaschutzprogramm auch vor. ({12}) Mit dem Klimapaket fördern wir den Klimaschutz; aber es überfordert jetzt auch nicht. Wir gehen schrittweise voran. Da, wo Bürgerinnen und Bürger zusätzlich belastet werden, werden wir die Belastung abfedern. Diejenigen, die am stärksten betroffen sind, weil sie weite Wege mit dem Auto pendeln, weil sie in unsanierten Wohnungen wohnen und mit Öl heizen, werden im Gegenzug entlastet werden: ({13}) durch niedrigere Strompreise, durch höhere Pendlerpauschalen und durch mehr Wohngeld. Das ist das, was wir brauchen, um in unserer Gesellschaft wirklich zusammenhalten zu können. Wir brauchen diesen gesellschaftlichen Zusammenhalt auch für wirksamen Klimaschutz. ({14}) Aber, meine Damen und Herren, ich bin als Umweltministerin erst dann zufrieden, wenn wir in Deutschland endlich deutlich weniger CO2 ausstoßen. Diesen Weg werden wir jetzt gehen. Wir gehen den Weg hin zu einer klimaneutralen Gesellschaft. ({15}) Das ist das, was wir brauchen. Pakete alleine reichen nicht. Wir werden alle daran arbeiten müssen, das jetzt auch umzusetzen – im Bundeskabinett, hier im Bundestag, im Bundesrat. 2019 wird das Jahr des Handelns beim Klimaschutz. Deswegen müssen diese Gesetze, diese Förderprogramme auch schnell kommen. Das ist eine Mammutaufgabe, die wir alle nur gemeinsam bewältigen können. Deswegen werbe ich noch einmal dafür, an einem Strang zu ziehen, gemeinsam hier für den Klimaschutz die richtigen Maßnahmen auf den Weg zu bringen. Das ist das, was die Menschen von uns erwarten. Und das sollten wir jetzt auch tun. Herzlichen Dank. ({16})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort der Fraktionsvorsitzende der FDP, Christian Lindner. ({0})

Christian Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004097, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Redner der AfD hat hier eben von einem „erfundenen Weltuntergang“ gesprochen. ({0}) Ich bin öfter, um mal Ihre Diktion zu verwenden, im deutschen Wald. Wer angesichts des Zustandes des deutschen Waldes den Klimawandel leugnet, der kann die Heimat nicht kennen, der kann die deutsche Heimat vor allen Dingen nicht lieben. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, es macht keinen Sinn, einen falschen Klimaabsolutismus mit dem Leugnen des Klimawandels zu beantworten. ({2}) Frau Bundeskanzlerin, Sie amtieren jetzt 14 Jahre. Sie sind sehr lange als Klimakanzlerin bezeichnet worden. Tatsächlich: Deutschland hat bereits in den vergangenen Jahren, vor Ihrer Amtszeit und während Ihrer Amtszeit, große Anstrengungen in der Klimapolitik unternommen. ({3}) Die Summe der Auszahlungen aus dem Erneuerbare-Energien-Gesetz während Ihrer Amtszeit beläuft sich auf über 300 Milliarden Euro. Wir reden jetzt hier über 54 Milliarden Euro. Während Ihrer Amtszeit sind bereits über 300 Milliarden Euro von den Stromkundinnen und Stromkunden gezahlt worden, wegen ökologischer Motive. Herr Brinkhaus, wenn Sie heute davon sprechen, Sie wollen mehr Klimaschutz und mehr tun, dann will ich Ihnen angesichts der Größenordnung der finanziellen Aufwendungen in den vergangenen Jahrzehnten sagen: Wir brauchen nicht mehr, wir brauchen besseren Klimaschutz als in den vergangenen Jahren, und zwar, was den Einsatz des Geldes angeht. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Lindner, der Kollege Hilse würde gerne eine Zwischenfrage stellen.

Christian Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004097, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, das Thema AfD ist bereits erledigt. ({0}) Wenn man sich das Paket nun im Einzelnen ansieht, stellt man fest, dass es Licht und Schatten gibt. Ja, gut ist, dass endlich etwas für die energetische Gebäudesanierung getan wird. Das Bahninvestitionsprogramm, das eines der größten, wenn nicht gar das größte Programm in der Geschichte ist, begrüßen wir. Aber es gibt auch Schattenseiten. Beispielsweise die Erhöhung der Preise für Flugtickets: Selbst wenn höhere Preise vielleicht den Effekt haben, dass die Menschen weniger in Deutschland fliegen, wird es aufgrund des europäischen Zertifikatehandels, also der mangelnden Abstimmung bei europäischen Instrumenten, zu einem Wasserbetteffekt kommen. Das heißt, anderswo in Europa wird es günstiger werden, weil es bei uns teurer wird. ({1}) Für das Weltklima ist damit nichts gerettet. ({2}) Im Übrigen war in Ihrer Rede, Herr Brinkhaus, wie ich verfolgen konnte, wieder die einseitige Fixierung auf batterieelektrische Antriebe festzustellen. ({3}) – Nein. ({4}) – Wir können Ihre Rede ja auswerten und auszählen, wie oft das Wort „batterieelektrisch“ von Ihnen genannt worden ist und wie selten Sie sagten – sozusagen als Feigenblatt –, Sie wollten auch etwas für Wasserstoff tun. ({5}) Das ist Ihr Problem: Sie sind in Wahrheit eben nicht technologieoffen. So werden große Chancen ausgeschlagen nicht nur für die Wertschöpfungsketten unserer Industrie, sondern auch für die Bekämpfung des Klimawandels. ({6}) Mit synthetischen Kraftstoffen könnte selbst ein Golf II aus dem Jahr 1985 zu einem klimaneutralen Fahrzeug werden. Aber genau solche Technologieoptionen werden von Ihnen ausgebremst. ({7}) Dabei könnte man im Übrigen einmal groß denken. Nehmen wir die Chance durch synthetische Kraftstoffe: Hier könnte man groß denken bei den Themen Heizung, Flugzeug, Auto. Man könnte aber auch einmal global denken. Die Desertec-Initiative ist seinerzeit gescheitert, auch an physikalischen Fragen. Man kann aus der Wüste eben nicht ohne Weiteres über Leitungen Strom in den Norden bringen. Aber möglich wäre es, in Afrika mit erneuerbarer Energie synthetische Kraftstoffe zu produzieren, die wir dann über die übliche Infrastruktur – Stichwort „Tankstelle“ und „Pipeline“ – in Deutschland verteilen könnten. ({8}) Wohlstand dort, Klimaschutz bei uns mit einer globalen Perspektive, wo ist ein solches Denken? Wir reden hier über eine Menschheitsaufgabe. Wie kleinteilig aktionistisch wirkt Ihr Programm angesichts der Dimension, über die wir sprechen müssen. Frau Bundeskanzlerin, Sie haben – das will ich noch sagen – oft genug Respekt gegenüber Aktivisten ausgedrückt. Wir teilen die Anerkennung politischen Engagements. Ich fand es aber insbesondere richtig, dass Sie die völlig überzogene Rhetorik und die völlig überzogenen Forderungen auch einmal in die Schranken gewiesen haben, wie Sie das unlängst bei Ihrem Besuch in den Vereinigten Staaten getan haben. ({9}) Bei allem Respekt vor Engagement: Wir dürfen uns nicht in den Panikmodus von Greta Thunberg reden lassen. Die Erderwärmung bekämpft man nur mit kühlem Kopf, meine Damen und Herren. ({10}) Nun ist hier von Frau Schulze und von Herrn Brinkhaus der Emissionshandel gelobt worden. ({11}) Gäbe es einen Emissionshandel, wir würden ihn begrüßen. Über ein marktwirtschaftliches Modell begrenzt man die Menge und setzt nicht den Preis fest, über eine Steuer dagegen begrenzt man nicht die Menge, sondern legt den Preis fest. Was genau haben Sie vorgelegt? Festpreise, Preiskorridor, aber eben keine Steuerung über die Menge; denn die ist nicht begrenzt. Das, was Sie CO2-Emissionshandel nennen, ist in Wahrheit eine verkappte CO2-Steuer. ({12}) Daran werden sich jetzt rechtliche Fragen anknüpfen. Ich sage Ihnen für die weiteren Beratungen zu: Wir werden darauf achten, dass wir nur Dinge beschließen, die mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Wenn sich herausstellen sollte, dass Ihr Emissionshandel in Wahrheit eine CO2-Steuer ist, dann werden wir in ganz anderer Weise darüber sprechen. Eines ist jedenfalls klar: Mit dem Modell, das Sie vorgelegt haben – keine Mengengrenze, dafür aber mit Preis –, wird CO2 teuer. Aber ob die Verteuerung von CO2 tatsächlich zu einer Verhaltensänderung führen wird oder ob es nicht nur, wie bei der Ökosteuer der Vergangenheit, zum Abkassieren kommt, darüber gehen Sie eine reine Wette ein. Wir würden es gerne anders machen: Der Preis wird am Markt festgesetzt, aber die absolute Menge ist von der Politik begrenzt. Das wäre ein sauberes Modell. ({13})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Karsten Hilse, AfD.

Karsten Hilse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004752, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Herr Präsident, dass Sie die Kurzintervention zulassen. – Schade, Herr Lindner, dass Sie meine Zwischenfrage nicht zugelassen haben. Ich weiß nicht, ob Sie Angst haben – keine Ahnung. ({0}) Sie haben gesagt, dass die AfD den Klimawandel leugne. Ich möchte noch einmal betonen: Klimawandel ist ein natürliches Phänomen seit Hunderten Millionen von Jahren. Wer das leugnen würde, der wäre natürlich dumm. Wir sagen: Klimawandel ist ein natürliches Phänomen. Der Mensch mit seinen CO2-Emissionen trägt nicht maßgeblich zu diesem Klimawandel bei. ({1}) Das ist alles, was wir sagen. Schön, dass Sie in Ihrer Rede wieder einmal etwas von der AfD geklaut haben. Wir waren die Ersten, die das Thema der synthetischen Kraftstoffe in den Bundestag eingebracht haben. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Mögen Sie antworten, Herr Kollege Lindner?

Christian Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004097, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, Ihr Beitrag spricht für sich. Ich wünsche ihm große Verbreitung. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort die Vorsitzende der Fraktion Die Linke, Dr. Sahra Wagenknecht. ({0})

Dr. Sahra Wagenknecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004183, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn eine Koalition nicht das Rückgrat hat, sich mit den wirklichen Klimasündern anzulegen, dann kommt genau das heraus, was Sie am Freitag hier vorgelegt haben: ein Flickenteppich an Subventionen ({0}) und ein sinnloses Abkassieren der Verbraucher. Das vertieft die soziale Spaltung weiter und trifft genau diejenigen wieder am härtesten, die sich von Ihnen sowieso schon seit vielen Jahren im Stich gelassen fühlen. ({1}) Das Weltklima werden Sie so ganz bestimmt nicht retten, aber Sie werden das politische und soziale Klima in unserem Land weiter verschlechtern; denn wer so vorgeht, erzeugt Ängste und sorgt dafür, dass Klimaschutz bei den Ärmeren und der unteren Mittelschicht immer unpopulärer wird. Wir finden das unverantwortlich! ({2}) Dabei liegt das Hauptproblem Ihres Vorschlags nicht darin, dass ein um 3 Cent verteuerter Spritpreis niemanden dazu bringen wird, sein Auto stehen zu lassen. Das Hauptproblem liegt darin, dass selbst eine Verdoppelung der Benzinpreise nichts daran ändern würde, dass viele Menschen in diesem Land schlicht keine Alternative zum Auto haben. Worauf sollen sie denn umsteigen? Auf Nahverkehrszüge oder Busse, die es in vielen Regionen überhaupt nicht mehr gibt? ({3}) Sie waren es doch, die aus der Bahn eine Börsenbahn machen wollten, mit dem Ergebnis, dass ein Fünftel des Streckennetzes stillgelegt wurde, dass notwendige Investitionen unterblieben sind und dass die Ticketpreise immer teurer wurden. Heute rollen Brummi-Kolonnen über die Autobahn, während die Bahn jetzt schon wieder radikale Kürzungen in ihrer Gütersparte angekündigt hat. Was ist denn das für eine unsinnige Politik? Und Sie waren es auch, die die Privatisierung öffentlicher Dienste in den letzten Jahren immer weiter vorangetrieben haben. Dadurch haben Sie den Busverkehr mit seinen Busverbindungen in vielen ländlichen Regionen schlicht zum Verschwinden gebracht. Dadurch haben Sie dazu beigetragen, dass Wohnraum in den großen Städten immer teurer geworden ist. Das ist einer der wesentlichen Gründe, warum viele Menschen immer längere Arbeitswege in Kauf nehmen müssen. ({4}) Mir scheint, nicht nur Herr Habeck hat Wissenslücken in Bezug auf die Pendlerpauschale. Wenn Sie behaupten, dass die steigenden Benzinpreise durch die Erhöhung der Pendlerpauschale ausgeglichen oder zumindest abgefedert werden, dann scheinen Sie schlicht nicht zu wissen, dass Geringverdiener von dieser Erhöhung überhaupt nichts haben; denn sie zahlen nicht so viele Steuern, dass sie dort mehr absetzen können. ({5}) Und natürlich geht das anders: Die Schweiz zum Beispiel investiert pro Kopf fünfmal so viel in ihr Schienennetz wie Deutschland. In anderen Metropolen bringt der elektrifizierte Nahverkehr die Menschen im Dreiminutentakt von A nach B. Warum setzen Sie sich zum Beispiel nicht dafür ein, dass die EZB, die jetzt schon wieder Konzernanleihen kaufen will, ihre Milliarden lieber in gute, vernünftige öffentliche Verkehrsprojekte in ganz Europa investiert? ({6}) Das wäre ein echter Beitrag zum Klimaschutz und – ganz nebenbei – auch ein gutes Konjunkturprogramm angesichts der heraufziehenden Wirtschaftskrise. Ihre Politik passt vorn und hinten nicht zusammen. Sie wollen, dass die Menschen weniger fliegen, aber gleichzeitig treiben Sie immer neue Freihandelsabkommen voran – ({7}) so wie aktuell mit den Mercosur-Staaten –, die die globalen Transportemissionen in immer neue Rekordhöhen treiben. UN-Klimaexperten schätzen, dass etwa ein Viertel aller klimaschädlichen Emissionen heute auf die globalen Warenströme zurückgehen. Ein Viertel! So viele Kohlekraftwerke können Sie überhaupt nicht abschalten, um den Schaden auch nur ansatzweise auszugleichen, den jedes neue Freihandelsabkommen klimapolitisch anrichtet, und da sollten Sie endlich mal was korrigieren. ({8}) Echter Klimaschutz ist doch völlig unmöglich, solange wir Nahrungsmittel, die auch hier bei uns wachsen, über Tausende Kilometer Entfernung hierhertransportieren und solange unzählige Industriegüter nur deshalb in riesigen schmutzigen Containerschiffen quer von einem Kontinent zum anderen schippern, weil dadurch Konzerne Lohnkosten drücken und Standards unterlaufen können. Über zwei Drittel aller globalen CO2-Emissionen werden heute von 100 multinationalen Konzernen verursacht, und statt diese Klimakiller endlich mit gesetzlichen Auflagen zu einer Veränderung zu zwingen, wollen Sie für normale Familien das Heizen teurer machen. Das ist doch pure Klimaheuchelei, was Sie hier betreiben. ({9}) Wir brauchen wirklich nicht noch zusätzliche Subventionen für behäbige Großkonzerne; was wir vielmehr brauchen, ist eine Förderung innovativer Neugründungen. Wir brauchen wieder eine eigene Solarindustrie, die Sie sträflich haben kaputtgehen lassen, ({10}) und wir brauchen staatliche Milliardeninvestitionen in die Erforschung grüner Technologien, weil der Markt das allein eben nicht richtet. Herr Lindner, es ist ja schön, wenn Sie hier an die synthetischen Kraftstoffe erinnern. Die Autokonzerne haben in den letzten fünf Jahren über 100 Milliarden Euro Gewinn gemacht. Und was haben sie mit diesem Gewinn gemacht? Sie haben es nicht investiert in die Erforschung grüner Antriebstechnologien, ({11}) sondern sie haben es großenteils an ihre Eigentümer ausgeschüttet. Das ist das große Problem, weil damit Hunderttausende Industriearbeitsplätze hier in Deutschland in Gefahr gebracht werden. ({12}) Deswegen brauchen wir einen handlungsfähigen Staat und nicht so eine Koalition, wie wir sie haben. Wir brauchen eine Politik mit Rückgrat und Mut, die gemeinsam mit den jungen Menschen dafür kämpft, dass unsere Welt nicht den Profitinteressen Weniger geopfert wird. ({13})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Dr. Anton Hofreiter. ({0})

Dr. Anton Hofreiter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003772, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vergangenen Freitag haben wir zwei Parallelwelten erlebt: in der einen Welt eine optimistische, mutige, veränderungsbereite Zivilgesellschaft, ({0}) angeführt von den Schülerinnen und Schülern, unterstützt von Unternehmen und Gewerkschaften, von Wissenschaft, von Menschen aus der Stadt und auf dem Land, ({1}) in der anderen Welt eine blockierte, abgeschlaffte Große Koalition, die an der Menschheitsaufgabe Klimaschutz scheitert und – das Allerschlimmste – die ihr Scheitern auch noch für das Mögliche hält. ({2}) Heute haben wir von Herrn Brinkhaus wieder die gleichen Parallelwelten erlebt. Ich kenne nahezu keine Wissenschaftlerin, nahezu keinen Wissenschaftler, der das Maßnahmenpaket auch nur in Ansätzen für ausreichend oder für gelungen hält, und hier wird uns erzählt, das Maßnahmenpaket sei gut. Wieder die gleichen Parallelwelten: Hier eine Koalition, die nicht handlungsfähig ist, dort eine Zivilgesellschaft, dort eine Wissenschaft, die das glatte Gegenteil behauptet, ({3}) und all dies, nachdem Frau Merkel den Klimaschutz zur Menschheitsaufgabe erklärt hat – womit sie recht hat –, all dies, nachdem Herr Scholz für die SPD gesagt hat: Ob das Klimaschutzpaket wirksam wird, daran entscheidet sich die Koalitionsfrage. Wissen Sie, Herr Brinkhaus, Sie können doch nicht im Ernst annehmen, dass dieses Paket, das Sie hier vorgelegt haben – das ist ja maximal ein Päckchen, wenn man es positiv sieht –, eine Basis für einen nationalen Klimakonsens sein kann. Und dann sprechen Sie hier von der reinen Lehre. Wissen Sie, was wir von Ihnen verlangen? Wir verlangen von Ihnen gar nicht viel: Wir verlangen von Ihnen nur, dass Sie Maßnahmen ergreifen, bei denen erwartbar ist, dass dadurch der Pariser Klimaschutzvertrag eingehalten wird. ({4}) Das ist unsere Aufforderung an Sie, und das sollte doch nicht zu viel verlangt sein. ({5}) Aber das Bittere ist: Dieses Land wird einfach weit unter seinen Möglichkeiten regiert; denn möglich und nötig wären deutlich mehr. Wie nötig es wäre, hat doch erst der Klimaschutzbericht wieder gezeigt, in dem steht, in welch katastrophalem Zustand die Meere sind, wie schnell der Meeresspiegel steigt. Auch beim CO2-Preis wäre mehr möglich gewesen. Beim CO2-Preis gibt es doch eine sensationelle Vorarbeit durch viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – eine für mich selbst verblüffende Bereitschaft in weiten Teilen der Wirtschaft. Und was ist Ihnen gelungen? ({6}) Ihnen ist ein echtes Kunststück gelungen. Ihnen ist gelungen, das Ganze unwirksam und sozial ungerecht zu gestalten. Das ist wirklich ein Kunststück. ({7}) Mit den 10 Euro je Tonne CO2 werden Sie keine Lenkungswirkung erzielen, und auch der weitere Pfad ist unwirksam. Unsozial ist es auch noch; denn Sie geben das Geld nicht komplett an die Bürgerinnen und Bürger zurück. ({8}) Stattdessen erhalten sie nur 70 Cent pro Monat. Was wäre nötig? Nötig wären ein vernünftiger Einstieg, ein zuverlässiger Pfad, damit die Wirtschaft auch Planungssicherheit hat, und eine Rückgabe der Gelder über ein Energiegeld, wie es auch mal Frau Schulze vorgeschlagen hat; dafür hätten Sie unsere Unterstützung. ({9}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Problematische ist, dass auch die anderen Teile nicht besser sind; denn das Ganze wird nur erfolgreich sein, wenn die Energiewende klappt, wenn wir ausreichend saubere Energie in den Netzen haben. Die brauchen wir für den Kohleausstieg. Die brauchen wir für die Sektorkoppelung im Verkehrsbereich. ({10}) Was haben Sie da erreicht? Sie haben es nicht nur nicht besser gemacht – ich spreche von der kleinen Anhebung des Solardeckels – ({11}) – schreien Sie doch nicht so –, ({12}) sondern Sie haben de facto lediglich eine kleine Maßnahme ({13}) durchgeführt. Was haben Sie bei der Windkraft gemacht? Bei der Windkraft haben Sie de facto den Ausstieg erreicht. ({14}) Anstatt des Kohleausstiegs setzen Sie den Ausstieg aus der Windkraft durch mit der Festlegung eines Radius von 1 000 Metern. ({15}) Was wäre da im positiven Sinne nötig? ({16}) Im positiven Sinne nötig wäre, dass man endlich ein vernünftiges Flächenziel hat. Wissen Sie, wenn Sie wirklich Akzeptanz bei der Windkraft erreichen wollen – wir sind da in vielen intensiven Debatten vor Ort –, dann denken Sie doch mal über so was wie eine Konzessionsabgabe nach, wodurch die Kommunen und die Menschen vor Ort profitieren. Das wäre endlich mal was Sinnvolles. ({17}) Trauen Sie sich doch! Wenn Sie es mir nicht glauben: Die IG Metall Nord hat festgestellt, dass Sie bereits in den letzten drei Jahren Tausende von Arbeitsplätzen mit Ihrer unverantwortlichen Politik gegenüber der Windkraft zerstört haben. ({18}) Das sollte Ihnen als Sozialdemokraten doch zu denken geben. ({19}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein kleiner Fortschritt ist ja, dass im Klimaschutzpaket steht, dass die Klimaschutzziele gesetzlich geregelt werden sollen. Aber warum steht denn noch nicht einmal das Wort „Klimaschutzgesetz“ drin? ({20}) Soll da einfach wieder nur getrickst werden? Bis jetzt waren Sie einfach unglaublich gut im Verkünden von Zielen. ({21}) Aber bis jetzt haben Sie diese Ziele nie erreicht. Wir können nur sagen: Sie werden mit diesem Paketchen das Klimaschutzziel 2030 genauso verfehlen wie das Klimaschutzziel 2020. ({22}) Das ist das Problematische an der ganzen Geschichte. Deshalb: Legen Sie ein vernünftiges Klimapaket vor, mit dem wir auf den Paris-Pfad zurückkehren! Frustrieren Sie nicht die zukünftigen Generationen! Frustrieren Sie nicht die ganzen jungen Menschen, die auf der Straße sind! Wenn Sie ein vernünftiges Paket vorlegen, dann haben Sie unsere Unterstützung, und dann haben wir auch eine Chance, dass wir einen Konsens hinkriegen. Der Konsens ist Paris. Setzen wir ihn um! ({23})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Alexander Dobrindt, CDU/CSU. ({0})

Alexander Dobrindt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003516, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Klimaprogramm, das wir aufgesetzt haben, steht für eine Balance zwischen Ökologie und Ökonomie, zwischen Klimaschutz und sozialem Ausgleich, für eine Balance zwischen Investitionen und Anreizen. Wir geben die Antwort auf die Herausforderungen beim Klimaschutz durch Innovation. Wir machen aus dem Klimaschutz keine neue soziale Frage, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Der Klimaschutz geht eben nur mit den Bürgerinnen und Bürgern. Erderwärmung kann man nicht mit sozialer Kälte bekämpfen. Deswegen ist es für uns wichtig, dass wir Rücksicht auf die ländlichen Räume nehmen, dass wir Pendler und Familien nicht einseitig belasten, dass wir genau darüber reden: Wie kann man Innovation, Fortschritt und Entlastung zusammenbringen? Lieber Kollege Toni Hofreiter, dazu gehört natürlich auch, dass wir einen erheblichen Ausbau der erneuerbaren Energien vorsehen, gerade auch im Bereich der Photovoltaik. Sie haben hier in der Tradition der Wissenslücken Ihres Parteivorsitzenden davon gesprochen, dass es eine leichte Anhebung des Solardeckels gebe. ({1}) So ein Unsinn! Wir haben den Solardeckel aufgehoben und abgeschafft. Das ist die Wahrheit in diesem Konzept. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Dobrindt, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der Fraktion Die Linke?

Alexander Dobrindt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003516, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. ({0}) – Nein, definitiv nicht. Aber schön, dass Sie mich an dünnes Eis erinnern. Sie haben ja Kollegen Hofreiter reden lassen. Es wäre auch möglich gewesen, Kollegin Göring-Eckardt, vielleicht Ihren Affront aus der letzten Bundestagssitzung zu korrigieren, als Sie der Landwirtschaft vorgeworfen haben, dass sie die Landschaft zerstört. Diese Gelegenheit haben Sie heute leider verpasst. ({1}) Wissen Sie, es gibt da einen Unterschied, lieber Herr Hofreiter. Sie haben uns vorgeworfen, dass es eine ganze Reihe von Wissenschaftlern gibt, die zu anderen oder auch umfangreicheren Ergebnissen – wie auch immer – kommen, wie man ein Klimapaket hätte schnüren können. Ich will Sie einfach mal daran erinnern: Es gibt einen Unterschied zwischen Politik und wissenschaftlicher Beratung. Wir haben doch keinen Lehrstuhl für ausschließlich ein Fachgebiet, sondern wir haben Verantwortung für die ganze Gesellschaft. Deswegen liegt es an uns, darauf zu achten, dass Klimaschutz eben nicht zur sozialen Frage wird, ({2}) sondern dass der Erfolg eines Klimapaketes von der Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger und der ganzen Breite der Gesellschaft abhängt. Darauf achten wir. Das setzen wir auch entsprechend um. ({3}) Wir haben in unserem Konzept zwei Stufen vorgesehen. Als Erstes wirken Fördermaßnahmen und Anreize. Dann kommt es zu einer Bepreisung von CO2 im nationalen Emissionshandel. Das ist der Pfad, den wir aufgezeigt haben. ({4}) Das ist ein Gesamtkonzept, das wir entwickelt haben. Das ist natürlich wirkungsvoll vor dem Hintergrund, dass wir erst dafür sorgen, dass CO2 mit Anreizen aus dem Markt genommen und später dann einer Bepreisung zugeführt wird. Klimaschutz darf nicht einfach von der Politik eingefordert werden. Er muss auch gefördert werden. Deswegen sind der Austausch der Ölheizungen und das Förderprogramm dazu so bedeutsam. Gleiches gilt für die energetische Gebäudesanierung. Deswegen senken wir auch die Preise beim Bahnfahren und beenden die Dumpingpreise im Flugverkehr. Deswegen geben wir wirksame Anreize sowohl bei der Mobilität als auch beim Wohnen, um Emissionen dauerhaft zu senken, und das mit einem Paket, das 60 Milliarden Euro umfasst. Dass Sie, Herr Hofreiter, hier 60 Milliarden Euro als „Paketchen“ beschreiben, kann ich beim besten Willen nicht begreifen. 60 Milliarden Euro für den Klimaschutz: Das ist das größte Klimaschutzpaket, das hier jemals verabschiedet worden ist, meine Damen und Herren. ({5}) Außerdem haben Sie hier wieder Vorwürfe dahin gehend vorgetragen, wir würden den Ausbau der erneuerbaren Energien im Bereich der Windkraft nicht ausreichend fördern. Auch dieser Vorwurf ist falsch. ({6}) – Es gab hier den Zuruf „10H-Regelung in Bayern“. Jetzt will ich Ihnen an dieser Stelle einfach mal sagen: Wenn Sie sich den Ausbau der erneuerbaren Energien in Deutschland anschauen: Da steht Bayern auf Platz eins bei den erneuerbaren Energien und kein anderes Bundesland. ({7}) So ist es übrigens auch in anderen Bereichen, etwa beim Anteil des Ökolandbaus: in Bayern 10 Prozent, in Schleswig-Holstein 5,6 Prozent. Wer war da eigentlich noch mal Umweltminister? Robert Habeck. Die staatliche Förderung für den Ökolandbau in Bayern: 30 Prozent mehr als in Schleswig-Holstein. Wer war da Umweltminister? Robert Habeck. Die Nitratbelastung liegt in Bayern bei 9 Prozent, in Schleswig-Holstein bei 30 Prozent. Wer war da Umweltminister? Robert Habeck. ({8}) Ich würde sagen, lieber Herr Hofreiter: Lassen Sie Ihre Belehrungen. Fangen Sie endlich an, da zu arbeiten, wo Sie Verantwortung tragen. Da können Sie Wirkungsvolleres ermöglichen als hier mit Ihren Reden, Ihren Wissenslücken und all dem, was Sie an Schwachheiten von sich gegeben haben. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Lorenz Beutin, Die Linke.

Lorenz Gösta Beutin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004672, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Dobrindt, Sie haben eben gesagt, die Energiewende dürfe nicht mit sozialer Kälte einhergehen. Ich kann Ihnen da zustimmen. Nur stellen sich da für mich einige Fragen. Wir kennen ja den Entwurf des Klimapaketes vom Donnerstag. In diesem Entwurf des Klimapaketes vom Donnerstag stand unter anderem, dass einkommensschwache Regionen – Regionen, in denen Menschen mit einem geringen Einkommen leben und in denen trotzdem relativ hohe Mieten gezahlt werden müssen – finanziell unterstützt werden, um die Häuser dort energetisch zu sanieren. Dafür war ein sozialer Ausgleich vorgesehen. Des Weiteren war in dem Entwurf vom Donnerstag die Absenkung der Stromsteuer vorgesehen. Auch das wäre eine Maßnahme gewesen, um einkommensschwache Haushalte tatsächlich zu unterstützen. Jetzt finden wir allerdings in diesem Klimapaket beide Maßnahmen nicht mehr, die tatsächlich dafür gesorgt hätten, dass wir einen sozialen Ausgleich gehabt hätten. Stattdessen haben wir die Erhöhung der Pendlerpauschale, von der wir wissen, dass sie vor allem Haushalte mit hohen Einkommen unterstützt, was sozial höchst ungerecht ist, und von der wir wissen, dass einkommensschwache Haushalte gar nichts von ihr haben werden, weil – das hat meine Kollegin Sahra Wagenknecht hier eben ausgeführt – sie davon steuerlich nicht profitieren. Wenn Sie behaupten, dass Sie gegen soziale Kälte sind: Wie kann es sein, dass aus dem Entwurf vom Donnerstag auf den Freitag genau diese Maßnahmen für sozialen Ausgleich herausfallen? Das, was Sie sagen, stimmte einfach nicht. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Dobrindt, mögen Sie antworten? – Dann haben Sie das Wort. Bitte sehr.

Alexander Dobrindt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003516, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Kollege, Ihre Annahmen sind falsch. Klar ist, dass der soziale Ausgleich für uns ein wesentlicher Bestandteil des Klimapaketes ist. Genau deswegen nehmen wir darauf besonders Rücksicht und sorgen für Entlastungen auf der anderen Seite. Sie haben den Strom angesprochen. Bei der EEG-Umlage werden wir entlasten und diese Entlastungen zukünftig aufwachsen lassen, so wie auch auf der anderen Seite die Bepreisung im Bereich von Heizöl und Benzin steigt. Das ist genau das, was wir unter sozialem Ausgleich verstehen: dass man diese Maßnahmen zusammenbringen muss, wenn man Menschen bei diesem ganzen Projekt mitnehmen will. Akzeptanz ist eines der größten Erfolgsrezepte für einen wirkungsvollen Klimaschutz. Deswegen bleiben wir dabei, dass wir den sozialen Ausgleich natürlich mit dem Anstieg der Bepreisung einhergehen lassen und die Menschen entlasten werden, wenn sie beim Klimaschutz mit dabei sein wollen. Danke schön. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Karsten Hilse, AfD. ({0})

Karsten Hilse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004752, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kohlekumpel, vor allem in Jänschwalde! In New York tagt die UNO. Die derzeit stattfindende Generalversammlung begann mit einem Klimagipfel. Zu diesem Gipfel machte sich auch die bedauernswerte Greta mit der Supersegeljacht eines Milliardärs auf und verursachte damit mindestens sechsmal so viel von dem Teufelszeug CO2, als wenn sie sich wie die meisten ins Flugzeug gesetzt hätte. Am Rande des Klimagipfels sprach Greta in „Was erlauben Strunz?“-Manier zu den an ihren Lippen klebenden Politikern, NGOs und Lobbyvertretern. Die einen nannten es eine emotionale Rede, die sie aufgeweckt habe, andere nannten es die typische Ausdrucksweise eines am Asperger-Syndrom leidenden bedauernswerten Kindes. ({0}) Diejenigen, die dieses Kind wiederholt ins Rampenlicht zerren, seine Kindheit zerstören und es als Legitimation für ihre kranke Politik benutzen, machen sich zwar nicht juristisch, doch aber moralisch des Kindesmissbrauchs schuldig. ({1}) „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, das ist wohl der wichtigste Satz in unserem Grundgesetz. Sie treten die Würde dieses Kindes mit seiner Zurschaustellung mit Füßen. ({2}) Und wofür? Um Ihre desaströse Politik und die Interessen des ökoindustriellen Komplexes durchzusetzen! ({3}) Schämen Sie sich! ({4}) Es gab aber auch gute Meldungen im Vorfeld des Klimagipfels. Ein Gericht überführte Michael Mann, den Erfinder der Hockey-Stick-Kurve, dem Gral der Klimahysteriker, praktisch des Betruges. Die Kurve sollte beweisen, dass die Temperaturen in den letzten Jahrhunderten leicht sanken und seit der Industrialisierung steil ansteigen. Die Hockey-Stick-Kurve wurde seitdem als Beleg für eine unnatürliche Erwärmung genutzt und allein im dritten Bericht des sogenannten Weltklimarats fast 70-mal erwähnt. Das Gericht hatte, so wie viele Wissenschaftler vorher, Mann aufgefordert, seine Rohdaten und Algorithmen, mit denen er seine Kurve berechnet haben wollte, offenzulegen. ({5}) Mann weigerte sich, und somit ist die Hockey-Stick-Kurve tot, mausetot. ({6}) Die Klimahysteriker, die „Wir verbrennen“ schreien, haben ihr Hauptargument verloren; sie stehen quasi nackt da. ({7}) Herr Taalas, Generalsekretär der Weltorganisation für Meteorologie, einer der größten Klimaalarmisten in der Vergangenheit, warnte vor einer Klimahysterie und skurrilen Forderungen wie beispielsweise der, wegen des Klimawandels keine Kinder mehr zu bekommen. Ja, solche Forderungen gibt es – ausgelöst von einer Hysterie, die keine wissenschaftliche Grundlage hat. ({8}) Schließlich haben mehr als 500 Wissenschaftler in einem Brief an UN-Generalsekretär Guterres ({9}) mit dem Titel „Es gibt keinen Klimanotstand“ der These vom menschengemachten Klimawandel widersprochen, unterschrieben unter anderem vom früheren Hamburger Umweltsenator Fritz Vahrenholt von der SPD. In dem Brief heißt es: Die Klimamodelle, auf denen die internationalen Politikansätze derzeit aufbauen, sind ungeeignet. Es sei „grausam und unklug, sich auf Basis der Resultate von solch kindischen Modellen dafür einzusetzen, Billionen zu verschwenden.“ ({10}) Am Montag war ich bei einer Podiumsdiskussion mit allen anderen im Bundestag vertretenen Parteien. Zum Abschluss stellte mir die Moderatorin die Frage, ob wir als AfD beim Klimapaket nicht mit allen anderen Parteien an einem Strang ziehen könnten. Ich antwortete ihr: Diese Energiewende zerstört unsere Autoindustrie, unsere Kraftwerks- und Schwerindustrie. Sie zerstört unsere Kern- und Kohlekraftwerke. Mit den anderen Parteien an einem Strang zu ziehen, würde bedeuten: Wir beteiligen uns an der Zerstörung der wirtschaftlichen Existenz unseres Landes, und das werden wir niemals tun. ({11}) Wir werden uns dieser Zerstörung mit aller Kraft entgegenstemmen. Darauf mein Wort. Ein freundliches Glückauf in meine Heimat, vor allen Dingen nach Jänschwalde! Vielen Dank. ({12})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort der Kollege Dr. Matthias Miersch, SPD. ({0})

Dr. Matthias Miersch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003809, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Abgeordneter Hilse, wie Sie über andere Menschen hier reden, das ist wirklich unmenschlich, unerträglich und verletzt aufs Empfindlichste die Würde dieses Hauses. ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, an der Debatte heute sehen Sie, was es heißt, eine der größten Menschheitsaufgaben in der Demokratie anzugehen. Wir haben gesehen, dass einige am Anfang der Legislaturperiode nicht die Kraft hatten, einen Konsens, einen Kompromiss zu suchen. Deswegen sage ich: Natürlich ist auch dieses Paket ein Kompromiss, aber es ist eine gute Grundlage, um die Ziele zu erreichen, nämlich den Zusammenhalt dieser Gesellschaft und die Einhaltung der Klimaziele. ({1}) Ich will etwas ganz bewusst sagen, Herr Lindner, weil Sie hier fordern: Der Markt soll es klären. – Wer sagt: „Über eine CO2-Bepreisung führe ich eine Lenkungswirkung herbei und garantiere damit die Einhaltung der Klimaziele“, ({2}) der nimmt soziale Spaltung in Kauf. ({3}) Deswegen sagen wir: Unsere Antwort ist das Klimaschutzgesetz; der Primat der Politik. Dass wir jährlich sehen, ob wir unsere Ziele erreichen, das ist die Garantie. Das ist politisches Handeln. ({4}) Ich finde es schon interessant, dass hier bis jetzt an keiner Stelle erwähnt worden ist, dass in diesem Paket etwas drinsteckt, was eine völlige Umwandlung unserer Energiepolitik bedeutet, nämlich: Neben dem Ausstieg aus der Atomenergie steigen wir auch aus der Kohle aus, ({5}) und dies auf einem Weg, bei dem die IG BCE, der Bundesverband der Deutschen Industrie, Greenpeace und auch Potsdamer Forscher zusammengewirkt haben. Nur so geht Transformation. Nur so geht Zusammenhalt. ({6}) Ein weiterer Punkt – er ist hier schon angesprochen worden –: das Thema der erneuerbaren Energien. Da, lieber Toni, ist das, finde ich schon, ein bisschen, na ja, auf Kante genäht.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Miersch, die Kollegin Baerbock würde gern eine Zwischenfrage stellen.

Dr. Matthias Miersch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003809, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Selbstverständlich. ({0})

Annalena Baerbock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004245, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wenn Sie Englisch sprechen können, wissen Sie auch, dass auf Englisch „cobalt“ mit „O“ ausgesprochen wird. ({0}) Fremdsprachen liegen Ihnen ja nicht so, weil Sie rein deutsch sprechen wollen. Herr Miersch, vielen Dank für die Zulassung der Zwischenfrage. – Ich finde es vollkommen richtig, dass Sie unterstreichen, dass man mit dem Preis allein das Klima nicht retten kann. Das würde weder sozial funktionieren, noch würde es mit Blick auf die Mengen, die wir reduzieren müssen, funktionieren. ({1}) Deswegen kann der CO2-Preis nicht das einzige Element in diesem Klimaschutzgesetz sein. Mit Blick auf das Klimaschutzgesetz habe ich jetzt eine Frage. Wir alle wissen: Die Bundeskanzlerin hat gerade bei der Ehrung von Klaus Töpfer noch mal deutlich gemacht, dass im Umwelt-, Natur- und Klimaschutz das eigentliche Instrument das Ordnungsrecht ist. Daher die Frage: Warum haben Sie hier die ordnungsrechtlichen Instrumente nicht verankert, die notwendig sind, damit wir das 2030-Ziel erreichen, sowohl mit Blick auf den Verkehrssektor – emissionsfreie Autos – als auch mit Blick auf den Kohleausstieg, den Sie erwähnt haben, der hier aber nicht in Gesetzesform gegossen ist und auch nicht erwähnt wird, als auch mit Blick auf das Klimaschutzgesetz? Das Wort „Klimaschutzgesetz“ taucht hier nicht auf, sondern nur „Klimaschutzplan“. Ich hatte es auch erst überlesen, Sie gelobt; dann wurde ich korrigiert, dass da nur „Plan“ steht. ({2}) Vor allen Dingen: Das Eigentliche, was ein Gesetz beinhaltet, nämlich Sanktionsmaßnahmen, die Frau Schulze auch vorgeschlagen hatte – es geht darum: was passiert eigentlich, wenn die Klimaschutzziele, die jährlich überprüft werden, nicht eingehalten werden, damit sich was ändert? –, findet man auch nicht. Also: Wie soll der Klimaschutzplan ohne jegliche Sanktionen bei einer Überprüfung überhaupt Wirkung zeigen? Was passiert, wenn Sie 2026 feststellen, dass Sektoren noch kein CO2 reduziert haben? ({3})

Dr. Matthias Miersch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003809, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Frau Kollegin Baerbock, dass Sie mir die Möglichkeit geben, dieses Instrument noch mal ein bisschen ausführlicher zu erläutern. Aber lassen Sie mich zunächst darauf hinweisen: Sie sind ja nicht ganz weit gekommen bei Jamaika. ({0}) – Jetzt müssen Sie auch aushalten, dass ich Ihnen antworte. ({1}) Ich habe mir das ganz genau angeguckt. Sie haben einiges versucht. Aber uns jetzt vorzuwerfen, dass der Begriff des Klimaschutzgesetzes so nicht im Eckpunktepapier steht, sondern der Mechanismus, den ich Ihnen gleich erkläre, das geht gar nicht. Denn Sie sind bei Jamaika nicht mal darauf gekommen; ({2}) in allen Papieren ist von diesem Mechanismus oder von einem Klimaschutzgesetz überhaupt nicht die Rede. Jetzt will ich Ihnen das erklären, und die Bundeskanzlerin wird das sicherlich mit Kopfnicken gleich noch bestätigen, dass wir das machen. ({3}) Das schließt daran an, dass wir, wie der Kollege Brinkhaus gesagt hat, Regierung und Parlament an dieser Stelle vereinigen. Wir werden jedes Jahr von der Bundesregierung Rechenschaft darüber abgelegt bekommen, und zwar für jedes Ministerium, ({4}) ob die jährlichen Einsparziele erreicht worden sind oder nicht. Werden sie nicht erfüllt – nicht die Bundesregierung beurteilt das, sondern ein Expertengremium, das beim Umweltbundesamt angesiedelt ist –, folgt ein Mechanismus. ({5}) – Sie müssen es ertragen, und es wird noch schlimmer für Sie. ({6}) Erfüllt ein Minister diese Verpflichtung nicht, dann muss er binnen drei Monaten selbst Vorschläge machen, wie er die Lücke schließt. Ich sehe jetzt schon die Schweißperlen bei Andi Scheuer, aber gut. ({7}) Wenn das nicht reicht, dann greift und hilft uns die Europäische Union; ({8}) denn daneben bekommen wir das sogenannte Effort Sharing. Bei Nichterreichen der Ziele kommen Milliardenforderungen auf die Bundesrepublik Deutschland zu. ({9}) Deswegen haben wir hier, glaube ich, richtig Druck auf dem Kessel, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wenn wir das beherzigen, was der Kollege Brinkhaus uns vorgeschlagen hat, dass das nicht nur eine Sache der Bundesregierung ist, sondern auch hier im Parlament die Debatte über Nachsteuerung stattfindet – einschließlich der Frage von Ordnungsrecht –, dann, glaube ich, haben wir das erste Mal die Dynamik, die ein Riesenfortschritt für die Klimapolitik der Bundesrepublik Deutschland ist, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({10}) Jetzt kommen wir nach dem Kohleausstieg, nach dem Klimaschutzgesetz zum dritten Part. Anton, ich finde es wirklich unredlich von dir, wenn du hier – erstens – sagst, wir würden den Photovoltaik-Deckel anheben. Dieser Deckel wird aufgehoben, und das ist ein Riesenerfolg. ({11}) Du sprichst – zweitens – davon, dass man eigentlich finanzielle Anreize bei Windkraft geben müsste. Genau das steht in diesem Eckpunktepapier, genau diese finanziellen Anreize wollen wir. Warum erwähnst du das nicht? Warum verschweigst du es? ({12}) Ich finde, solche Angriffe muss man eben auch mit dem eigenen Handeln vergleichen. Zur 1000-Meter-Regelung. Ich hätte mir auch etwas Besseres vorstellen können, als in der Nacht mit Peter Altmaier im Kanzleramt darüber zu verhandeln. ({13}) Wir wollten keine bundesweite Abstandsregelung, aber letztlich ist das ein Kompromiss, und der Kompromiss sieht vor, dass Länder und Kommunen nach unten abweichen können. Die 1 000 Meter, die ihr mit Robert Habeck an der Spitze kritisiert, habt ihr in vielen, vielen Landesregierungen selbst vereinbart; daher finde ich das doppelzüngig. ({14}) Und jetzt versucht Robert Habeck noch, sich zu retten – der Koalitionsvertrag ist eindeutig; lest ihn euch durch –, ({15}) indem er sagt: Na ja, die 1 000 Meter gelten ja nur, wenn wir die Ausbauziele erreichen. ({16}) Weil ihr mir anscheinend nicht glaubt, will ich euch sagen: Es ist in Schleswig-Holstein noch viel schlimmer. Ich zitiere mal den Landesgeschäftsstellenleiter des Bundesverbandes WindEnergie – vielleicht glaubt ihr dem –: Sie – die schleswig-holsteinische Landesregierung – muss daher jetzt alles dafür tun, dass ein den eigenen Zielen entsprechender Zubau gewährleistet wird. ({17}) Wenn der Zubau wie aktuell weiterläuft, wird diese Legislaturperiode ein Totalausfall für den Klimaschutz. ({18}) Schleswig-Holstein muss seine Hausaufgaben machen. Die Landesregierung macht es sich zu leicht, wenn sie die Verantwortung an die Bundespolitik in Berlin weiterreicht. ({19}) Die Verantwortung beim Zubau Erneuerbarer Energien in Schleswig-Holstein liegt in erster Linie bei der Landesregierung. Meine Damen und Herren, dem ist nichts hinzuzusetzen. ({20}) Daran, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen Sie sich messen lassen. Sie können hier in der Opposition nicht so reden und dann anders handeln. Ich glaube, nur gemeinsam geht es. ({21}) Lassen Sie mich zum Schluss noch sagen: Neben dem Kohleausstieg, neben dem Klimaschutzgesetz, neben dem Thema „erneuerbare Energien“ ist das vierte Thema, dass dieser Staat zukunftsfit gemacht werden muss, ({22}) und das ist das Entscheidende für uns Sozialdemokraten. Ja, mit der Natur können wir nicht verhandeln; die Ziele müssen eingehalten werden. ({23}) Aber wir dürfen auf diesem Weg niemanden zurücklassen, und deswegen brauchen wir eine ganz starke staatliche Infrastruktur, die Mobilität der Zukunft für jeden gewährleistet. ({24}) Insofern begrüßen wir ausdrücklich das Milliardeninvestitionsprogramm für die Zukunft. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({25})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Lukas Köhler, FDP. ({0})

Dr. Lukas Köhler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004786, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zum Klimaschutzpaket gerne Frau Merkel zitieren: „Politik ist das, was möglich ist.“ Wenn das, was für die Bundesregierung möglich ist, in diesem Klimapaket steht, dann ist die Bundesregierung in einer größeren Krise, als ich gedacht hätte. ({0}) Sie haben ein Paket vorgelegt, von dem jeder Wissenschaftler und jeder Verband sagt, dass es zum Klimaschutz nichts beitragen wird. Und, Herr Miersch, ein Preis ist dann unsozial, wenn er nichts bringt, sondern die Leute nur belastet. Das kann doch nicht das Ziel Ihrer Klimapolitik sein. ({1}) Aber ein bisschen Bewunderung muss man für die Bundesregierung schon aufbringen. ({2}) – Warten Sie, es kommt! ({3}) Sie haben es geschafft, den Wettstreit zwischen CO2-Steuer und Emissionshandel zu lösen, und zwar indem Sie das Schlechteste aus beiden Systemen genommen und daraus ein unwirksames System geschmiedet haben. Das ist wahrlich beeindruckend. ({4}) Auf der einen Seite lassen Sie das Element des CO2-Limits weg, das Element also, mit dem Sie Ihre Ziele genau erreicht hätten; das ist raus, Sie haben keinen Deckel. Auf der anderen Seite setzen Sie einen Preis fest, der so niedrig ist, dass dabei nichts rumkommt. Das heißt, er ist völlig unwirksam. Und das Schlimmste kommt noch: So wie es aussieht, ist er auch noch verfassungswidrig. Das ist wahrlich beeindruckend. ({5}) Dass Sie, Herr Miersch, und die SPD dieses Paket feiern, kann ich verstehen. Sie haben sich mit dem Klimaschutzgesetz durchgesetzt, und Sie haben die CO2-Steuer reingeschrieben. Sie, liebe Union, haben am Anfang gesagt, Sie wollten keine Steuererhöhungen, beschließen dann aber eine CO2-Steuer ({6}) und wählen beim Klimaschutzgesetz auch noch den Weg in die Klimaplanwirtschaft; das sind nicht meine Worte, lieber Herr Nüßlein, das sind Ihre Worte. Sie wollen also ein Gesetz beschließen, in dem es darum geht, das BMU zu einem Superministerium zu machen, das darüber wacht, dass der Rest der Bundesregierung seine Ziele einhält, und wenn das nicht passiert, werden die Leute mit Sofortmaßnahmen vor den Kopf gestoßen. Sofortmaßnahmen, meine Damen und Herren, sind im Verkehrsbereich Fahrverbote. Das ist das Einzige, womit Sie in einem halben Jahr CO2-Emissionen signifikant reduzieren können. Das kann doch nicht das Ziel der Union sein. Ich bin wirklich schockiert! ({7}) Immerhin: Irgendwann in ferner Zukunft wollen Sie dann ein System – wie auch immer Sie das machen wollen, wenn es verfassungswidrig ist – in den europäischen Emissionshandel integrieren. Warum in ferner Zukunft? Meine Damen und Herren, wir haben Ihnen vorgelegt, wie das innerhalb eines halben Jahres funktioniert. Damit würden Sie die Ziele von Paris erreichen. Wir haben das Übereinkommen von Paris als Ziel vorgegeben. Lassen Sie uns noch heute die Emissionen festlegen und den Senkungspfad ganz klar beschreiben. ({8}) Dann haben wir erreicht, was wir erreichen wollen. Das funktioniert; das sagt Ihnen jeder Experte, jeder Wissenschaftler. Das wäre das Richtige, um ein Paket zu schnüren, das die Ziele von Paris wirklich einhält. Meine Damen und Herren, wir beteiligen uns aber gerne am Klimakonsens, und da kann die Sternstunde des Parlaments ja noch kommen. In diesem Klimakonsens kann es ja noch passieren, dass Sie zur Vernunft kommen und zumindest dieses sinnvolle Instrument des Marktes formulieren; denn Marktpreise sind die unbestechlichsten Instrumente, die es gibt. Niemand kann mit dem Markt verhandeln, aber Steuern können Sie rauf- und runtersetzen, wie Sie wollen. Das kann nicht das Ziel einer Klimapolitik sein. Wir müssen die Ziele von Paris einhalten. Das tun wir gerne zusammen im Konsens. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Andreas Jung, CDU/CSU. ({0})

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der neueste Bericht des IPCC zeigt uns ein weiteres Mal in dramatischer Weise, worum es beim Klimawandel geht. Papst Franziskus spricht dabei von der vielleicht wichtigsten Aufgabe; er nennt es die „Verteidigung der Mutter Erde“. Wir haben mit dem Pariser Klimaabkommen den Rahmen, um auf die Herausforderungen des Klimawandels mit Klimaschutz eine überzeugende Antwort zu geben. Das alles ist Maßstab unserer Politik. Das alles bleibt aber nicht ohne Konsequenzen, und deshalb muss selbstverständlich die Lücke, die entstanden ist, konsequent geschlossen werden; deshalb müssen wir selbstverständlich die Weichen überzeugend und glaubwürdig stellen, damit wir unsere Klimaziele erreichen. Das alles hat also ganz konkret Folgen für die Politik. Deshalb ist die Botschaft nicht „Weiter so!“ – sie wäre ganz falsch; denn das würde heißen, die Lücke wird größer –, sondern die Botschaft ist: Es sind tiefgreifende Veränderungen notwendig. Wir müssen unsere Klimapolitik aufforsten. Wir müssen unser Land von Grund auf energetisch sanieren und den CO2-Ausstoß drastisch reduzieren. Das ist unser Maßstab, und das ist unsere Linie. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Jung, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der FDP?

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte. ({0})

Dr. Christoph Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Jung, vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage gestatten. – Wir haben vorher gerade über Photovoltaik gesprochen. Der Deckel ist ja aufgehoben; das ist, glaube ich, begrüßenswert. Aber haben Sie auch die EEG-Umlage für PV-Eigenstromverbrauch gestrichen? Die würde nämlich wirklich neuen Wind für den Mittelstand bringen, und wir hätten eine Photovoltaik 2.0. Haben Sie die in dem Paket gestrichen? ({0})

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, es geht ja darum, dieses Paket jetzt umzusetzen. In dem Paket ist die Aufgabe angesprochen, die EEG-Umlage Stück für Stück aufzuheben. Ich finde es einen besonders guten Gedanken, gerade beim Eigenverbrauch mit erneuerbaren Energien und PV anzufangen. ({0}) Das steht in dem Paket noch nicht konkret drin; aber ich finde, es muss in den weiteren Beratungen der Maßstab sein. Der Kollege Nüßlein und ich haben das genau so vorgeschlagen, und wir werden in den weiteren Beratungen dafür kämpfen, auch bei der konkreten Umsetzung beim EEG. In einem zweiten Schritt muss dort, wo Strom aus erneuerbaren Energien bezogen wird, die EEG-Umlage wegfallen, weil in Zukunft doch nicht derjenige für den Ausbau der Erneuerbaren bezahlen soll, der zu 100 Prozent Ökostrom bezieht, sondern besser derjenige, der CO2 ausstößt. Das ist ein guter Gedanke für die Verwendung künftiger Einnahmen aus dem Emissionshandel. ({1}) Es beschreibt den Punkt, zu dem ich jetzt kommen würde – die Beantwortung der Frage ist damit abgeschlossen –: Dieses Paket der Bundesregierung, die Veränderungen, die notwendig sind, werden beschrieben mit Maßnahmen für erneuerbare Energien, Gebäudesanierungen, Heizungsaustausch und vielem mehr. Das bringt uns voran und zeigt: Wir brauchen nicht nur Veränderungen, sondern wir werden diese Veränderungen gestalten. Wir werden die Menschen mitnehmen auf diesem Weg im Sinne umfassender Nachhaltigkeit. Konsequenter Klimaschutz von vornherein verbunden mit sozialer Akzeptanz und wirtschaftlicher Entwicklung: Nachhaltigkeit in den Mittelpunkt – das ist unsere Linie. ({2}) Ein wichtiger Baustein dabei ist die CO2-Bepreisung, die zu einem tragenden Element aufwachsen soll. Sie wird derzeit in besonderer Weise diskutiert. Ich finde, die Architektur dabei stimmt: Einstieg mit einem Festpreis, der einen zeitnahen Einstieg ermöglicht, und dann Ausbildung eines Zertifikatesystems mit einem Mindest- und einem Höchstpreis. Jetzt kann man das kritisieren, wie es der Kollege Lindner vorher gemacht hat; er ist jetzt nicht mehr da, aber Sie werden es ihm ausrichten. ({3}) Ich möchte nur darauf hinweisen: Wenn er das kritisiert, dann kritisiert er die Empfehlung der Wirtschaftsweisen, die uns genau dies vorgeschlagen haben. ({4}) „Mindest- und Höchstpreis als soziale Haltelinie“ ist der Vorschlag der Wirtschaftsweisen. Sie können das kritisieren, aber tun Sie es nicht in der Attitüde der Gralshüter sozialer Marktwirtschaft. Da traue ich den Wirtschaftsweisen mehr zu als der FDP, mit Verlaub. ({5}) Und natürlich nehmen wir ernst, was die Wissenschaft sagt, Herr Kollege Hofreiter. Ich rate nur dazu, es konkret zu machen. ({6}) Derjenige, der die Bundesregierung beraten hat, nämlich der Vorsitzende der Wirtschaftsweisen, Professor Schmidt, sagte gestern bei einer Veranstaltung: Mit diesem Klimapaket ist die effektive Erreichung der Ziele angelegt. - ({7}) Angelegt! Und er sagte weiter: aber noch nicht gesichert. – Das zeigt jedoch, dass die Erreichung mit diesem Paket möglich ist, dass es jetzt darauf ankommt, was wir machen. ({8}) Damit bin ich bei dem früheren Kollegen Peter Struck und seinem Naturgesetz: Kein Vorschlag der Regierung ist so gut, dass er im Parlament nicht noch besser werden kann. ({9}) Das ist unser Anspruch.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Jung, Kollegin Verlinden würde gerne eine Zwischenfrage stellen.

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte.

Dr. Julia Verlinden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004429, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Jung, dass Sie die Frage zulassen. – Sie haben eben gesagt: Die Zielerreichung könnte gelingen, der Rahmen sei angelegt. – Es ist aber auch so, dass viele Wissenschaftler – fast alle, deren Stellungnahmen ich seit Freitag gelesen habe – sagen: Bisher reichen die Maßnahmen eben nicht, die Sie in dem Paket aufgeführt und sich vorgenommen haben. Ich begleite den Monitoring-Prozess zur Energiewende jetzt seit fast zehn Jahren. Da wird jährlich ein Bericht vorgelegt. Da werden jährlich Indikatoren überprüft. Da gibt es jährlich einen Bericht einer Expertenkommission, die die Bundesregierung beraten soll. Und jedes Jahr sagt diese Expertenkommission: Es reicht noch nicht, was die Bundesregierung tut, um ihre eigenen Ziele zu erreichen, die sie sich im Jahr 2010 vorgenommen hat. – Die Konsequenzen sind in der Regel gleich null. Ich frage mich jetzt: Warum soll es diesmal anders sein? ({0}) Warum soll es diesmal anders sein? Will die Bundesregierung mit einem Expertenrat andere Maßnahmen beschließen, weil sie ihre eigenen Ziele nicht erreicht hat? Wir haben in den letzten zehn Jahren doch erlebt, dass es eben keine Konsequenzen hat, wenn sie nicht auf dem Zielpfad ist. Nur noch ein kleines Beispiel, das meine Frage untermauert. Wir haben eben Herrn Miersch gehört, der mit einer flammenden Rede für diese Prämisse geworben hat, ({1}) dass es ein Klimaschutzgesetz geben wird, auf dessen Grundlage diese Fragen regelmäßig geklärt werden, die Zielerfüllung bei den jeweiligen Sektorzielen jährlich ressortspezifisch überprüft wird. Er hat von den Schweißperlen auf Herrn Scheuers Stirn gesprochen. Ich frage mich: Woher soll diese Bundesregierung nächstes Jahr bitte schön die Kraft nehmen, wenn sie dieses Jahr schon nicht die Kraft hatte, die notwendigen Maßnahmen zu beschließen? ({2}) Warum soll nächstes Jahr plötzlich ein Verkehrsminister innerhalb von drei Monaten die notwendigen Maßnahmen vorlegen, die zur Zielerreichung erforderlich sind, wenn es in diesem Jahr noch nicht einmal möglich ist, die wissenschaftlichen Grundlagen zur Verfügung zu stellen und der Verkehrsminister sich weigert, die Zahlen vorzulegen, damit wir alle sie überprüfen können? ({3})

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, ich würde Ihnen raten, von diesem Jahr nicht in der Vergangenheit zu sprechen. Nach meinen Berechnungen haben wir Ende September, und die parlamentarischen Beratungen beginnen gerade. ({0}) Ich habe eben unseren Anspruch formuliert, jetzt aus dem Vorliegenden das Bestmögliche zu machen und sicherzustellen, dass wir die Ziele erreichen. Das Weitere ist der Monitoring-Prozess, zu dem die Kollegen Brinkhaus und Miersch vorher das Entscheidende gesagt haben. Es war in der Vergangenheit anders. Es gibt keinen Expertenrat, der Empfehlungen gibt, die dann aufgegriffen werden oder nicht, sondern ein verbindliches, verlässliches, festgelegtes Szenario, um die Ziele, die möglicherweise in einem Jahr verfehlt würden, tatsächlich zu erreichen. Das ist der Unterschied, und das ist das, was wir neu auflegen. ({1}) Ich komme auch zu dem, was Sie gesagt haben. Sie sagten: die Wissenschaft. Das ist immer so allgemein. Auch bei der Frage der Ausgestaltung gibt es nicht den Hinweis der Wissenschaft oder den Preis der Wissenschaft. Ich jedenfalls lese eine Botschaft vieler Wissenschaftler heraus, die lautet: Es ist richtig, moderat einzusteigen. – Der Meinung bin ich auch. Moderat kann auch eine Etage weiter oben angesiedelt sein, zum Beispiel beim europäischen ETS-Preis. Das Entscheidende ist ein glaubwürdiger Pfad, der schrittweise begangen wird. Genau so haben wir es in der CDU übrigens beschlossen; das ist Maßstab für die weitere Debatte. Die Eckpunkte des Klimapakets der Bundesregierung beantworten ja noch nicht alle Fragen abschließend, sondern können und müssen noch konkretisiert werden, weil zum Beispiel für die Jahre 2027 bis 2030 noch keine genauen Marken festgelegt wurden. Ein Christdemokrat hat einmal gesagt: Es kommt darauf an, was hinten rauskommt. – Deshalb sollten wir uns in besonderer Weise gerade diesem Pfad widmen. Die Überlegung, die dahinter steht, heißt: Wir dürfen jetzt nicht überfordern. Nicht jeder kann sich gleich ein neues Auto oder eine neue Heizung kaufen. – Deshalb unterstützen wir bei Umbau und Umstieg. Aber wenn die Entscheidung das nächste Mal ansteht, dann muss klar sein: Es wird schrittweise teurer werden, daher entscheide ich mich besser für die sparsame, klimafreundliche Alternative. – Darum geht es jetzt. Das gilt es zu schärfen. Dazu sind die parlamentarischen Debatten da. Auf dieser Grundlage wollen wir auch in die Gespräche für einen nationalen Klimakonsens einsteigen. Wir wollen, dass sich am Ende ganz viele hinter einem Konzept versammeln können, damit es langfristig trägt. Ralph Brinkhaus hat gesagt: Das kann man nicht tun nach dem Motto „Vogel friss oder stirb“, sondern nur mit Offenheit. – Die bieten wir an, und wir erwarten sie von allen anderen. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Carsten Träger. ({0})

Carsten Träger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004426, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieses Klimapaket ist ein guter Anfang. Es ist ein gewaltiger Schritt in die richtige Richtung. Die SPD steht zu diesem Kompromiss, der viel besser ist, als die vielen ersten, schnellen Urteile meinen. ({0}) Dieses Klimapaket ist gut, weil es Weichen stellt. Dieses Klimapaket ist gut, weil es gewaltige Anreize setzt. Und es ist gut, weil es klarmacht, worauf sich die Menschen einstellen müssen. Mit diesem Paket weiß jeder, was auf ihn zukommt. Jeder kann sich darauf einstellen, und jeder muss sich darauf einstellen; denn dieses Paket zeigt auch unsere Entschlossenheit, auf Ordnungsrecht zu setzen, um Fehlentwicklungen zu stoppen. ({1}) Wir schaffen mit dem Paket etwas Neues. Zum ersten Mal gibt es einen Preis für die Verschmutzung der Umwelt; das ist neu. Das ist ein neuer Mechanismus, das ist ein Paradigmenwechsel. Ich spreche nicht nur vom CO2-Preis, sondern ich spreche auch von der Reform der Kfz-Steuer, und ich spreche von der Lkw-Maut. Hier wird in Zukunft der Grundsatz gelten: Wer viel verschmutzt, der zahlt mehr. ({2}) Wir schaffen das Klimaschutzgesetz. Wir geben der Energiewende mit der Abschaffung des PV-Deckels neuen Schwung, ({3}) und wir schaffen den Kohleausstieg, den schon viele, glaube ich, einfach abgehakt haben. Aber wir halten unser Versprechen. Wir lassen niemanden zurück. Kein Kumpel fällt ins Bergfreie. Und wir haben auch die Menschen im Blick, von denen wir jetzt fordern, dass sie ihr Leben zugunsten einer klimafreundlichen Lebensweise umgestalten. Niemand muss gleich morgen seine Ölheizung abschalten. Niemand muss morgen ein E-Auto kaufen. Aber jeder weiß, dass es nicht so weitergehen kann wie bisher und dass das nächste Auto dann eben ein sauberes Auto sein sollte, weil es sonst teuer wird. ({4}) Der entscheidende Unterschied ist: Wir geben den Menschen die Gelegenheit, umzusteigen. Wenn wir hier nicht ganz genau aufpassen, dann besteht die Gefahr, dass wir die Mehrheit der Gesellschaft verlieren. Hören Sie denn nicht die Unwahrheiten und Verdrehungen der Fakten? Hören Sie denn nicht den unversöhnlichen Hass, der aus den Reden der AfD tropft? ({5}) Spüren Sie nicht, dass der rechte Rand verzweifelt versucht, ein neues Hetzthema zu finden? Deshalb sage ich: Es ist richtig, dass wir behutsam vorgehen. Es ist richtig, dass wir die Rekordsumme von 54 Milliarden Euro, die der Bundesfinanzminister angeboten hat, in die Hand nehmen und damit Menschen mitnehmen, ihnen die Möglichkeit geben, umzusteigen. Wir wollen Anreize setzen, Innovationen und Investitionen fördern und Arbeitsplätze schützen. Das ist der richtige Weg. ({6}) Wenn wir den Menschen einen Fahrplan geben, wohin die Reise geht, wenn wir ihnen Zeit für ihre Reisevorbereitungen geben, wenn wir ihnen die Mittel für die Fahrkarte zur Verfügung stellen, dann werden sie mit uns auf die Reise gehen. Dafür ist dieses Paket gut. Das wollen wir mit ihnen gestalten. Vielen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit schließe ich die Aussprache.

Peter Altmaier (Minister:in)

Politiker ID: 11002617

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gerade weil wir es ernst meinen mit dem Klimaschutz und mit der Reduzierung von CO2, werden wir in den nächsten Jahren schrittweise aus der Kohleverstromung aussteigen. Das dauert ein paar Jahre länger als in anderen europäischen Ländern, weil wir gleichzeitig auch aus der Kernkraft aussteigen. Das zeigt, dass wir es ernst meinen mit Bezahlbarkeit und Versorgungssicherheit. Wir werden bis zum Jahr 2038 den CO2-Ausstoß um 30 Prozent, also um ein Drittel, dadurch reduzieren, dass wir Schritt für Schritt aus der Kohleverstromung aussteigen. Das darf nicht auf dem Rücken der Beschäftigten geschehen. Das darf nicht zulasten ihrer Familien und der entsprechenden Regionen gehen. Deshalb unternehmen wir zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, noch bevor der Strukturwandel stattfindet, eine Kraftanstrengung, um dafür zu sorgen, dass neue Arbeitsplätze entstehen und die Regionen Perspektiven haben. Wir wollen nicht nur den Strukturwandel mildern; wir wollen den Ausstieg aus der Kohleverstromung zu einer Chance für die Lausitz, das mitteldeutsche Revier und das rheinische Revier machen. Wir geben Geld an die Länder, um die Wirtschaftsstruktur der Reviere zu modernisieren, und wir nehmen Geld aus dem Bundeshaushalt in die Hand. Wir werden bis zu 40 Milliarden Euro zur Erreichung dieser beiden Ziele ausgeben. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es geht um Infrastrukturausbau, es geht um Breitbandnetze, es geht um Schienenwege und Straßen, aber auch um Forschungsprojekte und die Ansiedlung von Bundeseinrichtungen. Wir planen ein neues Bundesprogramm, das nicht nur Investitionen fördert, sondern auch die Kohleregionen zu Modellregionen einer treibhausgasneutralen und ressourcenschonenden Entwicklung macht. Wir haben Maßnahmen zur Planungsbeschleunigung vorgelegt und zusammengesetzt, und wir, Bund und Länder, werden gemeinsam dieses Paket durchführen. Ich füge aber auch hinzu: Strukturwandel kann nicht nur durch den Staat und öffentliche Stellen geschehen. Deshalb setze ich darauf, dass wir auch Anreize für privatwirtschaftliche Investitionen verabschieden. Im Zuleitungsgesetz ist das erwähnt. Wir möchten gerne die Frage einer Sonderabschreibung für diese Regionen prüfen. Es ist Aufgabe der Fraktionen, sich dem zu unterziehen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir wollen, dass Deutschland den Weg in die Klimaneutralität geht, aber ein erfolgreicher, wettbewerbsfähiger Industriestandort bleibt. Die Frage, wie wir den Kohleausstieg bewältigen, ist sozusagen die erste und wichtigste Nagelprobe, ob und wie das gelingt. Ich bin überzeugt: Am Ende des Strukturwandels werden wir nicht weniger, sondern mehr Arbeitsplätze haben. Am Ende des Strukturwandels wird die Akzeptanz unserer Klimaschutzpolitik nicht geringer, sondern größer sein. Wir werden unser Wort weiterhin halten. Wir haben heute diesen Gesetzentwurf vorgelegt. Wir werden noch vor Jahresende den Gesetzentwurf zum Ausstieg aus der Kohleverstromung vorlegen. Wir werden beides in der parlamentarischen Beratung zusammenführen. Und wir werden deutlich machen, dass der Kohleausstieg nicht erst im Jahr 2038 abgeschlossen sein wird, sondern dass wir bereits bis 2030 17 000 Megawatt Stromkapazitäten umweltfreundlich, aber auch industrieverträglich reduzieren können. Dafür, meine sehr verehrten Damen und Herren, bittet die Bundesregierung um Ihre Unterstützung. Vielen Dank. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Tino Chrupalla, AfD. ({0})

Tino Chrupalla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004695, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Abgeordnete! Liebe Landsleute! Mit dem Entwurf eines Strukturstärkungsgesetzes unterbreitet uns die Bundesregierung ihre Vision für Kohleregionen nach dem Ausstieg aus der Kohleverstromung. Der Gesetzentwurf sieht eine Förderung der regionalen Infrastruktur vor, darunter die Ansiedlung wissenschaftlicher Forschungsinstitute und Bundesbehörden – natürlich alles nach den allerneuesten digitalen Standards. Mir stellen sich hier ein paar ganz grundsätzliche Fragen. Ich spreche jetzt vor allem für die Region meines Wahlkreises, die Lausitz. Als zentrale Botschaft entnehme ich dem Papier, dass Sie die Lausitz als Energieregion erhalten wollen. Die Kohle soll durch neue Energien ersetzt werden. Das sind aber Energien, die es noch gar nicht gibt; sie müssen erst noch erforscht werden. Ich hoffe, dass es nicht die Windkraft ist. Es hätte uns nämlich gerade noch gefehlt, dass Sie die Lausitz in einen Windpark umgestalten. ({0}) Wenn ich das hier richtig verstehe, dann wollen Sie aus der Lausitz einen futuristischen Hightech-Forschungspark machen, mit noch nicht existenten Zukunftsenergien und noch nicht vorhandenen hochqualifizierten Fachkräften. Die Lausitz als Zukunftslabor – ({1}) – ich zitiere aus dem Gesetzentwurf –, „als Testregion und Reallabor für innovative Verkehrskonzepte“, zum Beispiel „autonomes und vernetztes Fahren, Drohnen/E-Flugzeuge/E-Taxis, etc.“ Also, ich habe wirklich ein großes Problem mit der Vorstellung von Reallaboren, Modell- und Testregionen in bewohnten Regionen. Die Einwohner unseres Landes sind Menschen und keine Versuchskaninchen. ({2}) Im Namen der Menschenwürde und der Demokratie fände ich es angebracht, diese Menschen erst einmal zu fragen, ob sie an Ihren Gesellschaftsexperimenten überhaupt teilnehmen möchten. ({3}) Dann kommt natürlich die Frage auf: Wo soll eigentlich die ganze Energie für die angestrebte Gigabit-Gesellschaft herkommen? Der Bundesregierung liegen ja nicht einmal Prognosen vor, mit welchem Energieverbrauch bei der Digitalisierung zu rechnen ist. Das haben Sie auch selbst zugegeben. Es ist aber davon auszugehen, dass der Energieverbrauch immens sein wird. Wie kann eine solche Gigabit-Gesellschaft dann eigentlich nachhaltig sein? Bitte erklären Sie mir noch, weshalb der Abbau von Braunkohle in Deutschland als Gefahr für das Weltklima eingestuft wird, während die Folgen des Abbaus von Lithium in Bolivien hinnehmbar sind. Oder wie wollen Sie Ihre Power-to-X-Energieforschung in der Lausitz umsetzen, wenn nicht mit dem Raubbau in Dritte-Welt-Ländern? Neben Lithium hat ja auch die Förderung von Kobalt und Seltenen Erden katastrophale ökologische Konsequenzen. In den betroffenen Ländern regt sich dazu auch schon Widerstand. Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie sich diesen Fragen stellt. ({4}) Übrigens, Frau Baerbock, ich bin in der DDR großgeworden, deshalb ist mein Englisch sicherlich nicht das Beste, aber Kobalt heißt im Englischen auch Cobalt. ({5}) Darüber hinaus ist mir auch schleierhaft, wie Sie diese futuristische Lausitzvision umsetzen wollen, wenn Sie die Lausitz gleichzeitig als „Region mit hoher Lebensqualität und kultureller Vielfalt“, mitsamt ihren „Kultur-, Natur- und Tourismuspotenzialen“ erhalten und „die regionale Identität stärken“ wollen. Sie geben ja selbst zu, dass es sich hier um einen „Kraftakt“ und einen ziemlich radikalen „Transformationsprozess“ handelt. Das sind alles Wörter aus dem Gesetzentwurf. Vielleicht können Sie bei Gelegenheit auch einmal erläutern, wie das zusammengehen soll. Ich habe nämlich inzwischen den Eindruck, dass Strukturwandel ein freundliches Wort für Zerstörung ist: ({6}) Zerstörung und Zerschlagung gewachsener Strukturen; frei nach der Kanzlerin: Wir krempeln alles um, was umgekrempelt werden kann. Ich gehe davon aus, dass Sie für diese wissenschaftlichen Forschungsinstitutionen mit englischem Namen auch andere Arbeitskräfte benötigen werden als die jetzt dort ansässige Bevölkerung. Sie wollen auf bestehenden Strukturen aufbauen, aber in dem Papier ist nirgends davon die Rede, dass Sie die vor Ort ansässigen Betriebe und Unternehmen unterstützen wollen. Das sind aber doch die wichtigsten Akteure, die unmittelbar auch neue Arbeitsplätze schaffen könnten. Übrigens ist die Lausitz nicht nur eine Kohle-, sondern auch eine Handwerksregion. Vom Handwerk lese ich hier aber nichts, vom Mittelstand auch nicht. Herr Altmaier, Sie haben doch gerade so schön Ihre neue Mittelstandsstrategie vorgestellt. Nun fördern Sie doch endlich die regionalen mittelständischen Unternehmen! Davon ist hier nichts zu lesen. Jetzt haben Sie die Gelegenheit. Das ist Ihre Chance, den Worten auch Taten folgen zu lassen. Zeigen Sie Deutschland, dass Sie es ernst meinen. ({7}) Zeigen Sie uns, dass Sie die regional verwurzelten mittelständischen Unternehmen, die Familienbetriebe und das Handwerk so wertschätzen, wie Sie das in Ihrer Strategie behaupten. Im Übrigen fordern das parteiübergreifend auch sämtliche Bürgermeister in meinem Wahlkreis, mit denen ich oft zusammentreffe – auch CDU-Bürgermeister, die mich gerne zum Kaffee einladen; das nur dazu, Frau Kramp-Karrenbauer. Wir haben gestern im Ausschuss beschlossen, dass zu dem Gesetzentwurf eine Anhörung stattfinden wird. Die AfD-Fraktion geht davon aus, dass der Entwurf noch einmal grundlegend überarbeitet wird. Vielen Dank. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Bernd Westphal, SPD. ({0})

Bernd Westphal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004442, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir erleben ja hier lebhafte Debatten über den Klimaschutz und die zukünftige Energieversorgung Deutschlands. Ja, wir nehmen internationale Abkommen, zu denen wir uns verpflichten, ernst, und deshalb ist das Klimaabkommen vom Dezember 2015 jetzt in der Umsetzung. Wir werden diese Klimaziele mit dem jetzt vorgelegten Paket erreichen. ({0}) Natürlich müssen wir unsere Lebens- und Wirtschaftsweise grundlegend wandeln. Deshalb werden wir in Zukunft auf fossile Energieträger wie Kohle, Öl und Gas verzichten. Das gelingt nur, wenn wir den massiven Ausbau der erneuerbaren Energien nach vorne treiben. Herr Minister Altmaier, vor genau drei Wochen fand bei Ihnen im Haus der Windgipfel statt. Sie hatten gesagt, dass wir in zwei bis drei Wochen Ergebnisse zusammenschreiben und Dinge auf den Weg bringen, die den Windenergieausbau beschleunigen. Insofern erwarten wir jetzt natürlich auch konkrete Ergebnisse in der Phase der Gesetzgebung mit der Bepreisung von CO2 und einem Klimaschutzgesetz, aber natürlich auch mit dem Ausstieg aus der Kohleverstromung, und zwar nicht nur, indem wir den Ausstieg beschließen, sondern auch, indem wir ihn sozial flankieren. Der jetzt vorliegende Gesetzentwurf umfasst das größte finanzielle Paket, das es jemals für einen Strukturwandel in Deutschland gegeben hat. Ich hoffe, dass wir gemeinsam mit den Menschen, mit den Kommunen, mit den Verbänden und Unternehmen in den Regionen diese Chancen nutzen und diesen Strukturwandel positiv gestalten. ({1}) Unsere jetzige Energieversorgung basiert zum großen Teil auf fossilen Energieträgern. Deshalb gilt unser Dank und Respekt auch der Arbeit der Menschen, die in den Tagebauen, in den Kraftwerken im Dreischichtbetrieb diese Energieversorgung garantieren, und deshalb wollen wir mit den Menschen zusammen in einem respektvollen Umgang miteinander diesen Strukturwandel gestalten. Wir haben mit der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ zwischen vielen Akteuren und in vielen Zielkonflikten einen Kompromiss erzielt, der so was von wertvoll ist, der im Grunde zeigt, dass dieses Land in der Lage ist, in einem großen Konsens diese historische Leistung zu vollbringen. Insofern brauchen wir keinen Populismus und keine Streitereien. Die AfD versucht, das hier zu instrumentalisieren, um zu spalten und zu hetzen. ({2}) Vielmehr brauchen wir eine zuverlässige Basis. Mit diesem Gesetz werden wir diesen Strukturwandel begleiten. ({3}) Wir schaffen mit Investitionen die Voraussetzung, dass dieser Strukturwandel gelingt – Investitionen in Infrastruktur, Investitionen in Forschung und Entwicklung –, und wir trauen den Menschen in der Lausitz mehr zu, als Sie eben hier vorgetragen haben. ({4}) Sie können mit ihren Qualitäten und mit ihren Qualifikationen, die sie heute zeigen, mit den neuen Technologien, den Zukunftsoptionen für neue Beschäftigung, für Arbeits- und Ausbildungsplätze sorgen. Deshalb brauchen wir Einigkeit, was diese Politik angeht, und nicht Hetze und Ausgrenzung. ({5}) Die Regionen werden mit den Forschungsinstituten, mit den unternehmerischen Aktivitäten, mit neuen Innovationen als Wirtschaftsstandort unverwechselbar werden. Wir haben vor, mit einer sozialdemokratischen Politik genau dieses Innovationspotenzial zu fördern, und wir werden zusammen mit den Kommunen, mit den Landkreisen und Unternehmen die Summen, die hier zur Verfügung gestellt werden, in den Revieren investieren. Wir haben eine große Chance, mit den finanziellen Mitteln den Strukturwandel zu gestalten. Wir haben genug Fantasie und Ideen und Kreativität, um den Menschen eine Perspektive zu bieten. Deshalb fordern wie Sie auf: Arbeiten Sie konstruktiv an diesen Dingen mit. Herzlichen Dank und Glück auf! ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Martin Neumann, FDP. ({0})

Prof. Dr. Martin Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Worum geht es denn bei dieser Thematik? Es geht darum, dass wir Strukturen und Voraussetzungen brauchen, damit in den betroffenen Kohleregionen Wachstum ermöglicht wird. Herr Minister, Sie haben gerade davon gesprochen, dass neben staatlichen auch unbedingt private Investitionen notwendig sind. Genau diese Anreize für Investitionen im privaten Bereich fehlen hier, Herr Altmaier. ({0}) – Sie kriegen es ja dann vielleicht nachgeliefert. – Die Gewährung von Finanzhilfen des Bundes auf der Basis von Artikel 104b des Grundgesetzes – das ist jetzt ganz wichtig, Herr Altmaier – ({1}) ermöglicht Investitionen der Länder und Gemeinden, aber keine Förderung von Unternehmensinvestitionen. Ich sage es noch mal: Das ist ausgeschlossen. Wieso sagen Sie hier, dass auch private Investitionen notwendig sind? Selbst wenn es bei einzelnen Projekten gelingen könnte, eine Gemeinde oder das Land als Antragsteller zu platzieren, wären doch nur investive Ausgaben möglich und noch dazu nur in Feldern, in denen der Bund gemäß Verfassung die Kompetenz hat. Das ist eine weitere hohe Hürde, und ich glaube, genau das hindert den weiteren Prozess.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Neumann, der Kollege Krischer würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.

Prof. Dr. Martin Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Krischer, bitte.

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Neumann, Sie haben gerade den Bundesminister angesprochen. Der Bundesminister ist aufgestanden und hat damit sein Desinteresse an Ihrer Ansprache dokumentiert. Finden Sie es wie auch ich eine Unverschämtheit, wenn ein Bundesminister, wenn er hier im Plenum angesprochen wird, einfach aufsteht und geht? ({0}) Würden Sie meine Einschätzung teilen, dass das nicht in Ordnung ist? ({1})

Prof. Dr. Martin Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das ist so nicht in Ordnung, Herr Krischer, ({0}) zumal es ja ganz konkret um die Festlegungen im Grundgesetz ging, die genau das verhindern, was Herr Minister Altmaier gerade gesagt hat. Wenn das so ist, teile ich Ihre Auffassung. Meine Damen und Herren, Bund und Länder sollen Freiheitszonen ausweisen. Egal ob das jetzt Freiheitszone, Sonderwirtschaftszone oder wie auch immer heißt: Mir geht es darum, dass wir in den Regionen weniger Bürokratie, zügigere Genehmigungsverfahren, digitale Angebote, Steuererleichterungen usw. bekommen, also alles das, was auch private Investitionen möglich macht. ({1}) Ein dritter Punkt, den ich für ganz wichtig erachte: Wir brauchen Verlässlichkeit im System. Das heißt, wir brauchen langfristige Verantwortlichkeiten, wir brauchen Verbindlichkeiten, die notwendig sind, damit sich bei den Investitionen tatsächlich auch etwas bewegt. ({2}) Stattdessen, meine Damen und Herren, hantiert die Regierung hier mit ungedeckten Schecks. Ein Großteil der Investitionssumme soll nämlich aus Einsparungen der Bundesministerien kommen. Das kann ja so sein. Aber warum sagen wir das nicht öffentlich? Warum sagen wir nicht, dass tatsächlich nur 10 Milliarden Euro zur Verfügung stehen und der Rest durch Umschichtungen erwirtschaftet wird? Vor dem Hintergrund der ausgabeintensiven Beschlüsse des Klimakabinetts und den offensichtlich zurückgehenden Steuereinnahmen ist ja nun nicht davon auszugehen, dass das dann wirklich grundlegend funktioniert. ({3}) Das ist meiner Ansicht nach ein großes Problem. Vierter Punkt. Ich denke, dass das Thema Strukturstärkung nicht nur eine Evaluierung mit angehängter Berichtspflicht erfordert, sondern eine echte Wirkungsprüfung. Das heißt, wir brauchen eine Art Revisionsklausel, um zu prüfen, ob der Prozess tatsächlich vorankommt, damit wir eine gewisse Erfolgskontrolle haben. ({4}) Zu guter Letzt geht es mir um – das haben wir immer wieder erlebt – die Vereinbarkeit der geplanten Maßnahmen mit EU-Beihilferecht. Das ist ein wichtiger Punkt. Ich sage es noch einmal: Eine Mammutaufgabe steht vor uns. Eine Mammutaufgabe, die eine wirkliche Sorgfalt erfordert. Es gibt eine ganze Reihe von Gründen für Maßnahmen zur Strukturentwicklung, die hier noch nicht diskutiert wurden. Wir haben die Beratungen in den Ausschüssen. Ich sage aus der jetzigen Situation: So wie dieser Gesetzentwurf vorliegt, können wir ihm nicht zustimmen. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Caren Lay, Die Linke. ({0})

Caren Lay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004088, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die 1,4 Millionen Menschen, die am Wochenende beim Klimastreik auf der Straße waren, ermahnen uns, dass wir endlich schnell und beherzt agieren. ({0}) Wir brauchen deswegen auf der einen Seite einen schnellen Kohleausstieg und auf der anderen Seite beherzte Strukturhilfen, sonst kann dieses Projekt nicht gelingen, zumal wir hier über strukturschwache Regionen reden, wie beispielsweise die Lausitz, an deren Beispiel ich das erläutern will, die ohnehin schon längst mehr Unterstützung von der Politik und vom Bund verdient hätten. ({1}) Wenn es jetzt Strukturhilfen gibt, dann ist es gut, aber es muss auch richtig gemacht werden. Erstens. Die Strukturmaßnahmen sind ein langfristiges Projekt. Das darf nicht von der Gnade des Haushaltes, von der Gnade der Regierung oder des Bundestages abhängen. Deswegen brauchen wir einen Staatsvertrag. Nur das schafft die Planungssicherheit, die wir in den Regionen brauchen. ({2}) Zweitens. Sie verlangen von den Kommunen tatsächlich Eigenanteile. Entschuldigung, das ist eine völlig realitätsferne Position. Diese Eigenanteile können die Kommunen doch gar nicht stemmen. ({3}) Deswegen haben Sie alle Post von den Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern aus der Lausitz im Briefkasten. Lassen Sie uns bitte auf die Leute hören. Wir müssen dafür sorgen, dass die Kommunen die Strukturgelder überhaupt abrufen können, sonst wird es nichts. ({4}) Drittens. Die Strukturhilfen auf der einen Seite müssen natürlich auf der anderen Seite auch mit verbindlichen Abschaltplänen einhergehen. Das ist doch völlig logisch. Und deswegen muss es parallel zu den Strukturhilfen auch ein Kohleausstiegsgesetz geben. Das wäre tatsächlich nötig. ({5}) Viertens. Die Strukturhilfen dürfen den Interessen und Zielen des Klimaschutzes nicht widersprechen. Hier muss ich sagen: Ich finde es schon befremdlich, dass ich im Gesetzentwurf sage und schreibe 69 Straßenbauvorhaben finde, unter anderem den Ausbau einer sechsspurigen Autobahn zwischen Dresden und Görlitz, zumal parallel dazu seit vielen Jahren eine Bahnstrecke auf die Elektrifizierung wartet. Polen ist seinen Verpflichtungen der Elektrifizierung längst nachgekommen und hat sie bis Görlitz geschafft. Deutschland hat noch nicht einmal damit angefangen. Ja, wo sind wir in der Bahnpolitik hingekommen? ({6}) Da möchte ich Sie fragen: How dare you? Wie können Sie uns den Ausbau einer sechsspurigen Autobahn hier als Klimaschutz verkaufen? Das ist doch völlig absurd. ({7}) Fünftens. Dieser Strukturwandel muss demokratisch sein. Das darf nicht alleine in den Staatskanzleien entschieden werden. Wir brauchen die Landtage und die Zivilgesellschaft, sonst wird es nichts. ({8}) Meine Damen und Herren, sechstens – das ist für mich entscheidend: Wenn wir hier den Kohleausstieg beschließen, dann müssten wir es so machen, dass wir den unmittelbar davon Betroffenen, also den Kohlekumpeln, auch noch ins Gesicht schauen können. Die stellen sich nämlich die Frage: Was wird aus meinem Arbeitsplatz? Haben meine Enkelchen auch noch eine Zukunft, und zwar hier in der Region? Oder müssen sie auch noch gehen? Die Antwort auf diese Frage sind wir den Leuten verdammt noch einmal schuldig. ({9}) Wenn wir die nicht liefern, dann laufen sie irgendwann auch einmal Klimaleugnern hinterher. Das können wir alle zusammen nicht wollen. Deswegen war es auch völlig richtig, dass im ursprünglichen Entwurf der Kohlekommission von einer Sicherheitszusage für die Betroffenen die Rede war. Aber keiner dieser arbeitsmarktpolitischen Vorschläge, nichts, was in Richtung Einkommens- und Beschäftigungsgarantie geht, findet sich in diesem oder einem anderen konkret vorliegenden Gesetz wieder. Dafür haben wir Linke kein Verständnis. ({10}) Zu guter Letzt war es nicht hilfreich – ich verstehe die Aufregung nicht, weil es die Fakten sind –, dass Sie mit Ihrer Energiepolitik die Solarenergie an die Wand gefahren haben, insbesondere in Ostdeutschland. ({11}) – Ja, Sie haben sich vorhin so aufgeregt. – Allein in meinem Wahlkreis in der Lausitz sind drei Solarfirmen nicht zuletzt dank Ihrer EEG-Novellen an die Wand gefahren worden. Das ist nicht korrekt. Das ist eine verpasste Chance. ({12}) Meine Damen und Herren, wir haben Verantwortung im Kampf gegen die Klimakrise.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Kollegin, bedenken Sie bitte, dass Ihre Redezeit abgelaufen ist.

Caren Lay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004088, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident. – Wir brauchen eine Lösung für Klima und Beschäftigte und nicht für Kohle und Konzerne. Vielen Dank. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Oliver Krischer, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hätte nie gedacht, dass ich in der Kohledebatte einmal Armin Laschet recht geben muss. ({0}) Aber er hat recht: Es ist ein absolutes Unding, dass eine Kommission mit Leuten, die überwiegend in ihrer Freizeit oder ehrenamtlich gearbeitet haben, innerhalb von sechs Monaten einen Kohlekompromiss schafft, aber eine Bundesregierung mit ihrem gesamten Apparat nach acht Monaten heute nicht einmal in Ansätzen erklären kann, wie der Kohleausstieg konkret laufen soll, und sich dann heute Morgen für den Klimaschutz feiert. Meine Damen und Herren, Herr Altmaier, das ist ein Armutszeugnis für diese Bundesregierung. ({1}) Das, was Sie hier vorlegen, ist nur ein Teil des gesamten Prozesses. Weil es zwei Landtagswahlen gab, mussten Sie schnell eine Shownummer mit großen Milliardenzahlen auf den Tisch legen. ({2}) Wie das Eigentliche, der Ausstieg, die Abschaltung der Kraftwerke, organisiert wird, worauf die Menschen in den Regionen warten, worauf im Übrigen auch die Beschäftigten warten, die noch Fragen zum Anpassungsgeld und anderen Dingen beantwortet haben wollen, dazu haben Sie nichts vorgelegt. Ehrlich gesagt, das ist ein Unding. Ich komme aus einer solchen Region. Ich höre das auch aus Ostdeutschland. Die Menschen verstehen nicht mehr, wieso es an dieser Stelle nicht vorangeht, wieso Sie nicht liefern können. ({3}) Schlimm ist es, dass Sie immer davon reden, dass das Ergebnis der Kohlekommission eins zu eins umgesetzt werden soll, aber wenn man dann in diesen Gesetzentwurf schaut, erkennt man, dass das überhaupt nicht stattfindet. Es ist keine Eins-zu-eins-Umsetzung. Sie suchen sich nur Dinge heraus, die Sie für richtig halten. Ich will das einmal konkret machen: Die Kohlekommission hat einvernehmlich und über alle Grenzen hinweg – meines Wissens gab es auch überhaupt keinen Streit – gesagt, dass Erneuerbare ein zentraler Bestandteil des Strukturwandels sein sollen, weil wir die Flächen, die Halden, die Tagebauflächen, die Kraftwerke haben, auf denen die Erneuerbaren ausgebaut werden können. Guckt man in den Gesetzestext, dann findet man nichts von den Erneuerbaren. Das passt zu dem Klimapaket, das Sie uns heute Morgen als Erfolg verkaufen wollten. Das ist nicht die Antwort auf die Klimakrise. Das ist auch nicht die Antwort auf das, was wir als Strukturwandel brauchen. ({4}) Dann komme ich zum Thema Infrastruktur. Es findet sich eine ellenlange Liste von Straßenbauvorhaben; die Kollegin Lay hat gerade darauf hingewiesen. Da fragt man sich ehrlich gesagt – ich komme aus dem Rheinland –: Was hat der Weiterbau der A 1 in der Hocheifel, 80 Kilometer vom Braunkohlerevier entfernt, mit dem Strukturwandel zu tun? Meine Damen und Herren, das ist ein Witz. Da sollen irgendwelche Schubladenprojekte realisiert werden und als Strukturwandel verkauft werden. Sie werden die Menschen vor Ort nicht dafür gewinnen, dass das ein wirklich zielführender Prozess ist. ({5}) Wenn man dann vor Ort fragt: „Was bräuchtet ihr an Strukturwandel?“, dann können Landräte und Bürgermeister – wir hatten dazu gestern noch ein Gespräch – einem ganz konkrete Eisenbahnstrecken nennen. Die führen Sie hier nicht auf. Da findet sich Ihre Politik wieder, die heißt: Straßenbaupolitik der 60er-Jahre, das ist Wirtschaftsförderung. Es ist ein völlig falscher Ansatz, den Sie haben. ({6}) Ich will eines auch noch sagen: Die Kohlekommission hat gefordert, es muss eine Beteiligung der Menschen vor Ort geben – völlig richtig; das ist gut. Guckt man aber in Ihr Gesetz rein, findet sich davon gar nichts. Sie nehmen ein Leitbild, das ordnen Sie an. Ich finde es, ehrlich gesagt, skandalös, dass man die Menschen vor Ort nicht selber darüber entscheiden lässt, wie ihre Zukunft aussehen soll. Sie machen da den preußischen Obrigkeitsstaat, indem Sie von Berlin aus anordnen, wie Strukturwandel zu laufen hat. Meine Damen und Herren, das ist nicht das, was Akzeptanz schafft – wovon Sie sonst reden. ({7}) Worum es bei diesem Thema geht, ist, dass wir den Kohleausstieg vorantreiben, dass wir alle Teile entsprechend beschließen. Dazu gehört das Anpassungsgeld genauso wie die Löschung von Zertifikaten. Es kann nicht nur darum gehen, dass die Bundesregierung am Ende in einem Torso eines Gesetzentwurfes ein paar Milliarden, garniert mit Straßenbauprojekten, ins Schaufenster hängt. Das ist kein Strukturwandel; das ist nicht die Antwort auf das, was die Kohleregionen brauchen. Die Menschen dort erwarten anderes. Wenn Sie dort hingehen, werden Sie das entsprechend hören. Deshalb muss dieses Gesetz noch ganz, ganz anders werden, wenn es wirklich zielführend sein soll. Danke schön. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Oliver Krischer. – Guten Morgen von mir Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen! ({0}) – Guten Morgen! Nächster Redner: Andreas Lämmel für die CDU/CSU-Fraktion. Herr Lämmel, Sie haben das Wort. ({1})

Andreas G. Lämmel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003796, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Guten Morgen, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem die Klimahysteriewelle aus New York über uns hinweggeschwappt ist, ({0}) nachdem die Bundesregierung das Klimapaket verabschiedet hat und da heute dieser Gesetzentwurf auf der Tagesordnung steht, haben wir ja die Chance, mal wieder etwas sachlich und realistisch über die Dinge zu diskutieren ({1}) und nicht nur Hysterie zu verbreiten. ({2}) – Wir brauchen weder von Ihnen noch von anderen Belehrungen über diese Dinge. Denn gerade die CDU hat in den letzten Jahrzehnten bewiesen, dass sie die Klimaschutzpartei ist. ({3}) Wir waren überhaupt die Ersten in diesem Lande, die einen Umweltminister berufen haben. ({4}) Das haben Sie, meine Damen und Herren, vielleicht alles vergessen. Und die deutsche Bundeskanzlerin war es, die letztendlich zum Klimaschutzabkommen ganz wesentlich beigetragen hat. Meine Damen und Herren, mit dem Kohleausstieg bis 2038, der nun beschlossen werden soll, tun wir einen gewaltigen Schritt nach vorne. Ich glaube, Sie sollten das eher honorieren, als zu versuchen, ständig mit Querreden zu stören. Und das ist ein großes Projekt, dieser Kohleausstieg. Das darf man doch nicht verheimlichen; noch kein Land hat das bisher geschafft. Wir steigen aus der Atomenergie aus und wollen parallel dazu noch aus der Kohle aussteigen. ({5}) Und dass die Menschen natürlich skeptisch sind, muss man doch einfach mal zur Kenntnis nehmen. Deswegen gilt das Versprechen, das Bundesminister Altmaier abgegeben hat: Zuerst neue Arbeitsplätze und dann Abschaltung der Kraftwerke. Das ist unsere politische Verpflichtung. ({6}) Daran werden uns die Menschen in der Region letztendlich messen. Der Gesetzentwurf, der nun vorliegt, ist erst mal ein guter Schritt und eine gute Basis, auf der man aufbauen kann – ohne Zweifel. Aber aus meiner Sicht fehlen schon noch ein paar Elemente, die ich ganz kurz hier vortragen möchte. Zum Ersten ist die Frage: Wie sichern wir das alles ab? Ein Gesetz ist gut und schön; aber jeder neugewählte Bundestag kann ein Gesetz wieder ändern. ({7}) Deswegen muss man sich schon überlegen, ob die Forderung nach einem Staatsvertrag zur Absicherung dieses Gesetzes realisiert werden kann. ({8}) Zum Zweiten ist die Frage zu stellen: Wie wird das denn alles administriert, also die im Gesetz stehenden Summen für den Strukturwandel, für Infrastruktur, für Bundes- und Länderaufgaben? Es gibt Vorschläge, dass man ein Sondervermögen bildet, das über viele Jahre hinweg aufgebaut werden könnte. Aus diesem Sondervermögen könnte der Strukturwandel finanziert werden. Auch hierzu sollte man, glaube ich, eine Diskussion führen; ich halte das für eine gute Idee. Aber das Wichtigste, was aus meiner Sicht in diesem Gesetzentwurf fehlt bzw. sehr unterbelichtet ist, sind die Anreize für die private Wirtschaft. Es ist doch ganz klar: Wir können zwar 3 000 staatliche Arbeitsplätze dort hintransportieren, und wir können auch wissenschaftliche Einrichtungen in diese Regionen bringen. Aber neue Arbeitsplätze schaffen oder Arbeitsplätze erhalten, das kann letztendlich nur die private Wirtschaft. ({9}) Hier steht die Frage: Was ist denn der Anreiz für private Investoren, jetzt in diese Reviere zu gehen? Ich glaube, das ist der wichtigste Punkt für das ganze Gesetz. ({10}) Hier sehe ich ganz klaren Anpassungsbedarf. Das andere sind Anpassungsgelder für die Kohlekumpel. Die Regelungen, die im Kommissionsbericht beschrieben worden sind, fehlen im Gesetz. Beim Thema Sonderwirtschaftszone sind wir uns, Herr Kollege, einig: Auch das ist ein Thema, worüber man reden muss; denn wir brauchen ein Bündel von Maßnahmen, um den Strukturwandel beschleunigt durchführen zu können. (Beifall des Abg. Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Die Diskussion wird jetzt beginnen. Wir hoffen, es kommt zu einem guten Ende. Vielen Dank. ({11})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Andreas Lämmel. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Thomas Jurk. ({0})

Thomas Jurk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004318, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach dem Willen der Bundesregierung sollen die Braunkohlegewinnung und ‑verstromung in Deutschland spätestens 2038 beendet werden. Das ist für die betroffenen Regionen im Rheinland, in Mitteldeutschland und in der Lausitz hart: Rund 60 000 Beschäftigte, die heute zumeist tariflich abgesicherte und gutbezahlte Jobs haben, sind davon betroffen. Ich spreche hier von den Bergleuten, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Kraftwerken, bei den Zulieferern und Dienstleistern. Gleichzeitig soll auch die Steinkohleverstromung enden. Auch hier sind Tausende Arbeitsplätze betroffen. Heute sorgen diese Menschen für eine sichere und noch halbwegs bezahlbare Stromversorgung. Ohne die Kohle würden in Deutschland die Lichter ausgehen. Darauf will ich stellvertretend für diese Beschäftigten noch einmal ausdrücklich hinweisen, die stolz auf ihre Leistung sein können. ({0}) Die SPD-Bundestagsfraktion hat immer wieder gesagt: Wenn aus klimapolitischen Gründen diese wirtschaftlich voll wettbewerbsfähige Industriebranche abgewickelt werden soll, dann müssen vorher neue zukunftssichere und gutbezahlte Jobs entstehen, insbesondere in den betroffenen Revieren. ({1}) Die Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ hat dazu Ende Januar sehr gute Vorschläge unterbreitet. Die Menschen in den Revieren erwarten zu Recht, dass diese Vorschläge möglichst vollständig umgesetzt werden; denn sie sind die Betroffenen! ({2}) Leider ist von der Umsetzung vor Ort bisher noch zu wenig zu sehen. Zwar hat die Bundesregierung Ende Mai Eckpunkte zur Umsetzung der strukturpolitischen Empfehlungen der Kommission beschlossen und jetzt den entsprechenden Gesetzentwurf dazu vorgelegt; allerdings lässt das mit den Ländern verabredete Sofortprogramm immer noch auf sich warten. Auch die wichtigen Fragen der sozialen Absicherung sind nicht ansatzweise geklärt. Der Tagebau Jänschwalde steht momentan still. Weitere Kraftwerksblöcke in Neurath und Jänschwalde werden nächste Woche in die Sicherheitsbereitschaft gehen, mit allen Konsequenzen für die Beschäftigten und ohne Kompensation dieser Arbeitsplätze. ({3}) Deshalb ist die Verunsicherung in den Braunkohlerevieren mit den Händen zu greifen und hat auch politische Konsequenzen! Der vorliegende Gesetzentwurf greift einige Kommissionsvorschläge auf. – Hören Sie doch bitte mal zu! Vielleicht muss ich lauter werden. ({4}) So werden die Errichtung einer Reihe von Forschungseinrichtungen in Braunkohlerevieren sowie zusätzliche Infrastrukturmaßnahmen vorgeschlagen, übrigens auch sehr wichtige Maßnahmen für die Schiene. Zudem sollen Einrichtungen des Bundes in den Revieren angesiedelt werden. Mir fehlt aber ein zentraler Punkt, der in der Debatte bereits angesprochen wurde und ohne den der Strukturwandel nicht gelingen kann: Es braucht zwingend neue Anreize für Unternehmensgründungen, ‑erweiterungen und ‑ansiedlungen. ({5}) Herr Altmaier, Sie haben gerade Ihr großes Vertrauen in das Parlament deutlich gemacht. Ich hätte mir gewünscht, dass die Regierung bereits auf Basis der Kommissionsempfehlungen zum Beispiel die Investitionszulage aufgegriffen oder das Thema Sonder-AfA jetzt nicht zur Prüfung delegiert hätte. Das sind sinnvolle Maßnahmen, auch für die Unternehmen, die bereits vor Ort sind, zur Unterstützung auch von Mittelstand und Handwerk, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({6}) Um es ganz klar zu sagen: Die Mittel für den dringend notwendigen Strukturwandel sind nicht dafür da, Radwege, Industriedenkmäler – davon haben wir schon genug – oder diverse Modellvorhaben zu finanzieren. Die Mittel sind dafür gedacht, dass in den Revieren wirtschaftliches Wachstum gefördert wird, dass Wertschöpfungsketten entstehen und die Wettbewerbsfähigkeit gestärkt wird. Bergleute und Kraftwerker sollen keine Radwege fegen, Museen bewachen oder in der Verwaltung Anträge abstempeln. Vielmehr brauchen sie neue gutbezahlte Arbeitsplätze in der gewerblichen Wirtschaft. ({7}) Kurz gesagt: Ich will bei aller Kritik nicht die Chancen verkennen, die im Gesetzespaket vorhanden sind, aber ich sehe noch viele Verbesserungsmöglichkeiten und hoffe daher auf die parlamentarischen Beratungen. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kollege Jurk. – Letzter Redner in dieser Debatte: Dr. Andreas Lenz für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Strukturstärkungsgesetz liegt vor. Wir halten also Wort. Dies zeigt Verlässlichkeit. Wir lassen die Menschen vor Ort eben nicht im Stich. Wir schaffen Perspektiven. Wir haben immer klargemacht: Wir wollen zuerst die Strukturstärkung beschließen und dann den energiewirtschaftlichen Teil. Aber natürlich laufen schon jetzt die Vorbereitungen für das Gesetz zum Kohleausstieg und auch dafür, dass wir den Ersatz energiewirtschaftlich organisieren. Man kann von Kohle halten, was man will, Herr Chrupalla, aber Fakt ist, dass ein großer Windanlagenhersteller seinen Sitz in der Lausitz hat. Sie müssen den Leuten sagen, dass Sie auf diese Arbeitsplätze gerne verzichten wollen. Wir brauchen eine kluge Strukturpolitik, die nicht zu Brüchen in den Regionen führt, sondern zu Chancen. Dabei brauchen wir vor allem auch die Bundesländer. Wir brauchen Kreativität bei der Umsetzung der entsprechenden Maßnahmen. Letzten Endes müssen die Maßnahmen dann auch vor Ort umgesetzt werden. Die Leitbildbeschreibungen sind hier ein guter Anfang, aber langfristig müssen wir aktivieren und dürfen nicht alimentieren, und, liebe Linke, das funktioniert eben nicht mit der Gießkanne. Das geht nur durch Kreativität und Innovationen. Die Grundlagen für Zukunftschancen müssen gelegt werden. Das Gesetz schafft hierzu Klarheit und eben auch Planungssicherheit. Der erste Teil regelt durch das Investitionsgesetz die Finanzhilfen für die Kohleregionen und die betroffenen Länder, gerade investive Maßnahmen bezüglich des öffentlichen Nahverkehrs, aber auch bezüglich der Breitbanderschließung usw. Die Investitionen sollen eine positive Entwicklung begünstigen. Im zweiten Teil des Gesetzes verpflichtet sich der Bund, weitere Maßnahmen zugunsten der Braunkohleregionen zu fördern, die in der eigenen Zuständigkeit liegen. Es geht wiederum um Infrastruktur, Schienen- und Straßenverkehr, aber auch um die Ansiedlung von Forschungseinrichtungen und Einrichtungen des Bundes insgesamt. Ich möchte betonen, dass es uns immer wichtig war, dass bestehende Projekte und bereits in Planung befindliche Projekte durch die zusätzlichen Maßnahmen nicht beeinträchtigt werden. Darauf werden wir im parlamentarischen Verfahren achten. Ich möchte noch einen Punkt herausgreifen, und das sind die Reallabore, die die Bundesregierung initiiert hat. Das ist eine sehr gute Sache. Hier werden Zukunftstechnologien wie Wasserstoffanwendungen, aber auch Power-to-X-Anwendungen wie Speicher hochskaliert, um dann in die großflächige Anwendung zu gehen. Hier gibt es noch einmal ein Sonderprogramm in Höhe von 200 Millionen Euro bis 2025, die eben in die Strukturwandelregionen fließen. Im Eckpunktepapier der Bundesregierung wurden auch die Einführung eines Kapazitätsbonus, Investitionsanreize für Gaskraftwerke und eine nationale Analyse der Versorgungssicherheit genannt. Außerdem brauchen wir Kraft-Wärme-Kopplung-Anlagen gerade im Süden der Republik. Diese Punkte sind nach wie vor wichtig. Die Punkte werden im Laufe des Verfahrens entsprechend umgesetzt. Wir haben jetzt einen ersten Entwurf, der sich auf die strukturellen Maßnahmen fokussiert. Ich denke, das ist ein erster guter Entwurf. Auf Basis dessen können wir in die parlamentarischen Verhandlungen gehen und die Maßnahmen so ausgestalten, dass die Menschen vor Ort Chancen haben. Die brauchen sie auch. Dazu sind wir verpflichtet. Die werden wir auch schaffen. Herzlichen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Andreas Lenz. – Ich schließe die Aussprache.

Astrid Grotelüschen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004046, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörer! „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“, so die Worte von Hermann Hesse in seinem Werk „Stufen“, mit dem er 1941 den Gang des Lebens beschrieb. Nun, auch für unsere heutige Debatte könnte Hesses Formulierung treffender nicht sein; denn was ist eine Gründung, ein Start-up, ein übernommenes Unternehmen anderes als genau dieser Schritt in die Selbstständigkeit? Nichts anderes als ein hoffnungsfroher Anfang! Die Zahlen des vergangenen Start-up-Monitors belegen allerdings auch, dass nach dem Zauber des Anfangs auch Ernüchterung folgt. So sind 90 Prozent aller Gründungen nicht langfristiger Natur. Und doch würden 60 Prozent, die im ersten Anlauf keinen Erfolg hatten, erneut gründen. Die Hälfte derer, die in Deutschland ein Unternehmen aus der Taufe heben, sind sogar Mehrfachgründer. Diese Zahlen belegen scheinbar, dass es der Gründerszene in Deutschland gut geht, und doch sinkt die Zahl der Gründungswilligen seit 2011 kontinuierlich. Das gilt es umzukehren. Daran, meine sehr geehrten Damen und Herren – und das eint uns –, wollen wir gemeinsam arbeiten. ({0}) Doch der Eindruck, meine sehr geehrten Damen und Herren, der heute mit den Anträgen der Opposition entstehen könnte – im Übrigen haben wir bereits vor der Sommerpause, das ist knapp zwei Monate her, über diese Thematik diskutiert –, dass wir als CDU/CSU-Fraktion bzw. in der Koalition diese Herausforderungen nicht kennen bzw. den Instrumentenkasten zum Thema Gründungen nicht längst geöffnet hätten, ist schlichtweg falsch. Wir handeln! Nach genauer Analyse, sehr differenziert und zielgerichtet, weil wir mehr Gründungen, mehr Investitionen und damit einen Beitrag für nachhaltiges Wachstum und für Wohlstand schaffen wollen. ({1}) In Richtung FDP-Antrag merke ich an: Wenn Sie von Freiheitszonen in den ostdeutschen Bundesländern – oder wie das Kind auch immer heißt – reden und diese Zonen, wie gesagt, vorrangig in den ostdeutschen Bundesländern installieren wollen, obwohl wir um die Strukturschwäche auch in westdeutschen Bundesländern wissen – diese Sinnhaftigkeit erschließt sich mir nicht. Daher lobe ich ausdrücklich die Initiative unseres Ministers Peter Altmaier, der im Frühjahr eine Geschäftsstelle für Reallabore eingerichtet und im Juli eine umfassende Strategie dazu vorgelegt und die zum Teil bereits umgesetzt hat. Darüber haben wir ja beim vorherigen Tagesordnungspunkt gesprochen. Es sind zum Beispiel 6 Reallabore von insgesamt 20 zum Thema Energiewende in Strukturwandelregionen in Ostdeutschland bereits am Start. Ich denke, kombiniert mit anderen Maßnahmen ist das ein guter Lösungsansatz, und zwar für ganz Deutschland. In Richtung der Kollegen der Grünen, die wiederum einen sehr umfassenden Antrag vorgelegt haben – den finde ich gut –, möchte ich sagen: Der Forderung etwa nach einer stärkeren Förderung nicht technologiezentrierter Gründungen oder von sozialen Unternehmen sind wir zum Beispiel mit dem „Innovationsprogramm für Geschäftsmodelle und Pionierlösungen (IGP)“ mit einer Ausstattung über 25 Millionen Euro in den nächsten Jahren ein Stück weit nachgekommen. Und das gilt tatsächlich für einen Großteil der heute in den Anträgen vorgebrachten Forderungen und Anregungen. Mit „GO!“, dem Zehnpunkteprogramm für mehr Gründungen, haben wir die Offensive längst gestartet. Auf einen Punkt der Offensive, nämlich die verbesserte Förderung von Frauen im Gründungsgeschehen, möchte ich ganz besonders hinweisen; denn leider liegt der Anteil der Frauen an allen Gründungen bei nur 39,5 Prozent. Um mit den Worten der KfW zu sprechen: Die Stärkung des Gründungsinteresses von Frauen ist … ein Schlüssel für eine nachhaltige Stabilisierung der Gründungstätigkeit in Deutschland. Daher ist es wichtig, dass wir unseren Fokus darauf richten. Deshalb nochmals Danke an das BMWi, nicht nur dafür, dass die Förderung weiblicher Gründungsaktivitäten als explizites Ziel in dieser Strategie sehr detailliert benannt wird, sondern auch dafür, dass es eine Gründerinnenplattform eingerichtet hat. Ganz besonders hervorheben möchte ich dabei die Initiative „FRAUEN unternehmen“. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat nämlich Vorbildwirkung, ist aus meiner Sicht ein wichtiger Baustein und ein klasse Beitrag, damit wir Frauen Mut zum Gründen machen. ({2}) Auch auf der Finanzierungsseite, nämlich der staatlichen Förderung des Gründungsgeschehens insgesamt, bauen wir unsere Aktivitäten kontinuierlich aus. Die Zahlen sprechen für sich. Innovative Unternehmensgründungen werden durch die Programme EXIST und INVEST mit 131 Millionen Euro gefördert. Zudem soll der ERP-Digitalisierungs- und Innovationskredit für Gründer sowie für Unternehmen geöffnet werden, die innovativ arbeiten. Insgesamt werden wir ausweislich des ERP-Entwurfs 2020 bis zu 500 Millionen Euro für die Bereitstellung dieses Beteiligungskapitals zur Verfügung stellen. Es gibt, meine sehr geehrten Damen und Herren, einen neuen Ansatz zur Anregung privater Investments, um mit einer adäquaten Finanzierung für Unternehmen in der Wachstumsphase an die gute Ausstattung in der Frühphasenfinanzierung anzuknüpfen. Hierzu soll es möglich werden, dass sich verstärkt auch institutionelle Investoren wie Versicherungen am Wagniskapitalmarkt betätigen können, um die erfolgreichen Aktivitäten der ausgegründeten KfW Capital zu ergänzen. Ich finde, auch das ist ein starkes Signal. ({3}) Zusammengefasst: Ich bin mir sicher, dass das Bündel der gesamten Maßnahmen wichtige Impulse geben wird, um Deutschland neuen Schwung als Gründungsstandort zu geben. Ich habe mit Hesse begonnen, möchte auch mit ihm schließen: Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen. In diesem Sinne: Die CDU/CSU-Fraktion hat das „Go!“ für mehr Gründungen bereits gegeben. Ich lade Sie alle dazu ein, mitzumachen. Vielen Dank fürs Zuhören. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Astrid Grotelüschen, für Ihre Rede. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Enrico Komning. ({0})

Enrico Komning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004787, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Der uns hier vorliegende Antrag der FDP wird nicht dazu führen, dass die Zahl der Unternehmensgründer wieder zunimmt; der von Gender- und Klimaideologie geprägte Antrag der Grünen ({0}) schon mal gar nicht. Wir beabsichtigen, für den kommenden Haushalt eine substanzielle Aufstockung der Mittel für das Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand zu beantragen. Ich lade Sie herzlich ein, hier mit uns zu stimmen. Wie Sie aber auch wissen, werden gerade die beim ZIM zur Verfügung gestellten Mittel vielfach gar nicht abgerufen – erst recht nicht in den neuen Bundesländern. Auch die KfW hat durchaus Schwierigkeiten, das Geld in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Brandenburg und Thüringen unter die Leute zu bringen. Wir brauchen einen sehr viel umfassenderen Ansatz als nur Werbung, Innovationszuschüsse oder ein bürokratiefreies erstes Jahr – so sinnvoll die Einzelmaßnahmen für sich betrachtet, meine Damen und Herren von der FDP, auch sein mögen. Es drängt sich aber der Eindruck auf, dass bei Ihrem Antrag sehr viel Einfallslosigkeit hinter verklausulierter Sprache versteckt werden soll. ({1}) Gerade in den neuen Bundesländern, in den strukturschwachen und strukturfreien Gebieten, fehlt es an grundlegenden gesellschaftspolitischen Voraussetzungen, die eine gesunde Gründerkultur entstehen lassen können. Häufig ist nicht die Finanzierung, noch nicht einmal die überbordende Bürokratie der Hauptgrund für fehlendes unternehmerisches Engagement. Es sind die Abwanderung aus den ländlichen Räumen, die Alterung der Bevölkerung und der damit verbundene Verlust der wichtigen Infrastrukturen. Es ist ein Teufelskreis, der durchbrochen werden muss. Ihr Antrag reicht dafür nicht aus. Wir müssen endlich zwischen Huhn und Ei entscheiden. Wir wählen das Huhn. ({2}) Der Staat muss sehr viel mehr tun. Als Erstes muss er sich tatsächlich dazu bekennen, gleichwertige Lebensverhältnisse in Deutschland schaffen zu wollen. Die groß angekündigte und am Ende im Sand verlaufene Regierungskommission und das kolportierte sogenannte Klimapaket lassen einen sehr deutlich an diesem Bekenntnis zweifeln; denn die Zeche der Pläne der Bundesregierung zahlen nun einmal mehr die Menschen in den ländlichen Räumen. ({3}) Und dann muss sehr viel mehr Geld in die Hand genommen werden, als ein paar Gründungszuschüsse zu geben. Allerdings würde schon ein Bruchteil des für die wirkungslose Klimapolitik sinnlos verpulverten Geldes reichen, um substanziell etwas zu tun. Wir brauchen ein sehr viel breiteres Verständnis für Daseinsvorsorge. Die komplette Infrastruktur muss vom Staat bedingungslos garantiert sein – natürlich gute Straßen, moderne Wasser- und Stromleitungen, aber eben auch Breitband und Mobilfunk, ärztliche Versorgung, öffentlicher Nahverkehr, Schulen. Kinder dürfen nicht einen halben Tag lang auf dem Schulweg verbringen. Busse und Vorortszüge müssen mindestens einmal stündlich fahren. Die Gewährleistung dieser Infrastrukturen – das ist Daseinsvorsorge, keinesfalls schon Förderung; denn fördern muss der Staat noch viel mehr. Durch Förderung muss sichergestellt sein, dass Lebensmittelmärkte überleben, Handwerker zur Verfügung stehen, kleine geförderte Dienstleistungszentren in Dörfern und Kleinstädten existieren. Sie wollen einen Gründungsmanager, meine Damen und Herren von der FDP, ich kann mir sehr gut einen Dorfmanager vorstellen, der sich umfassend um die Belange der Menschen kümmert ({4}) Und – um in Ihrer Sprache zu bleiben – um die sogenannten „soft assets“. Ich nenne: Kinderwillkommensprämien, substanzielle Zuschüsse für Eigenheime. Wir brauchen Strukturentwicklungsgebiete. Auch wenn sich das alles nach einem großen Wünsch-dir-was anhört: Wir müssen alles dafür tun, um den Gordischen Knoten endlich platzen zu lassen, der da heißt: Landflucht. Und dann, liebe FDP, erst dann kommen wir zu Ihren im Einzelnen durchaus sinnvollen Maßnahmen. Sie fassen das unter „Freiheitszonen“ zusammen, meinen aber natürlich klassisch „Sonderwirtschaftsgebiete“. Das fordern wir schon, seitdem wir hier in diesem Hause eine Stimme haben. ({5}) Nur, solche Sonderwirtschaftsgebiete müssen auf fertige und funktionierende Infrastrukturen draufgesetzt werden; sonst bringen sie nichts. Deswegen spreche ich von „vorgelagerten Strukturentwicklungsgebieten“. Eines kommt in Ihren Anträgen deutlich zu kurz: die viel zu hohe Steuer- und Abgabenlast der Unternehmen. Gerade Unternehmern, die sich in strukturschwachen oder ländlichen Räumen durchsetzen müssen, könnte man mit deutlich geringeren Gewerbe- und Körperschaftsteuersätzen das Leben erleichtern. Man könnte die Unternehmen und auch die Arbeitnehmer in Sonderwirtschaftsgebieten über einen befristeten Zeitraum bei Sozialversicherungsbeiträgen entlasten, ohne deren Ansprüche zu kürzen. Das alles bedingt hohe staatliche Investitionen, die sich dann aber auszahlen, wenn sich in diesen zu benennenden Sonderwirtschaftsgebieten ein Markt, der sich selbst trägt, und eine Gesellschaft, die vital und wachsend ist, etabliert haben. Wir lehnen Ihren Freiheitszonenantrag ab, weil er sich für uns als Schaufensterantrag darstellt, der kein wirkliches Engagement für mehr Unternehmensgründungen erkennen lässt. ({6}) Aber was mich geradezu wütend macht, ist, dass solche Anträge überhaupt notwendig sind. Dem Ausbluten der strukturarmen Gebiete, vornehmlich im Osten, ist jahrzehntelang von dieser Bundesregierung tatenlos zugesehen worden, und Sie machen immer alles noch schlimmer. Sie von der Regierung sind es, die mit Ihrer blinden, inzwischen religiös-fanatischen Politik nicht nur eine neue Gründerkultur jahrelang verhindert haben; Sie haben auch die heute bestehenden gesellschafts-, sozial- und wirtschaftspolitischen mittelstands- und gründerfeindlichen Verhältnisse zu verantworten. Und Ihnen nimmt man doch nun wirklich nicht mehr ab, dass Sie an diesen Verhältnissen noch was ändern wollen. ({7}) Sie schimpfen uns Populisten. Dabei sind Sie es, die entgegen besserer Einsicht, entgegen allen Fakten einem grün-rot-goldenen Kalb hinterherlaufen und den Hohepriestern des heiligen Klimas huldigen, um einer lauten Bioladen-Wohlstandsminderheit aus Influencern, Schauspielern und vermeintlichen Sängern hinterherzulaufen, statt verantwortungsvolle Politik für das ganze Volk zu machen. ({8}) Meine Damen und Herren, Verantwortung heißt eben, auch mal schwierige Entscheidungen zu treffen, Entscheidungen, die in Kreuzberg und Eppendorf vielleicht nicht gut ankommen, die aber die Menschen in Güstrow, Gelsenkirchen und Gera wieder in Lohn und Brot bringen. Bertolt Brecht hat einmal gesagt: Kein Vormarsch ist so schwer wie der zurück zur Vernunft. Ich beschwöre Sie, umzukehren und sich auf den Weg zu machen, auch wenn es noch so schwer wird, zum Wohle Ihres, zum Wohle unseres Volkes. Vielen Dank. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön, Enrico Komning. – Nächster Redner für die SPD-Fraktion: Falko Mohrs. ({0})

Falko Mohrs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004824, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen! Ich freue mich, dass wir hier über Maßnahmen diskutieren wollen und können, welche gerade den Menschen und Firmen helfen, die einen maßgeblichen Beitrag zur Bewältigung der Herausforderungen unserer Zeit leisten. Es sind Menschen in neuen und bestehenden Unternehmen, die nicht nur reden, sondern anpacken, neue Dinge ausprobieren, dabei auch scheitern, daraus lernen und dann wieder aufstehen, die nicht nur darauf hoffen, dass irgendwer etwas für sie besser macht, sondern bereit sind, selbst Verantwortung zu übernehmen. Deutschland muss für Unternehmen und für innovative Menschen, die etwas Neues aufbauen, mehr investieren und bessere Rahmenbedingungen schaffen; das ist klar. ({0}) Aber es ist eben auch nicht alles schlecht in Deutschland; das lassen wir uns auch von niemandem hier weismachen, weder in Oppositionsanträgen noch in schlechten Reden. Herr Komning, es ist ja irgendwie mein Schicksal, immer nach Ihnen reden zu müssen. Ich glaube, darüber müssen wir noch einmal nachdenken. ({1}) Was ich Ihnen schon mehrfach vorgehalten habe – das muss ich ehrlicherweise auch nach Ihrer Rede heute wieder tun –, ist: Sie reden von der Wirtschaftsfeindlichkeit der Regierung. Wissen Sie, was aus meiner Sicht nach dem Fachkräftemangel wahrscheinlich die größte Gefahr für die deutsche Konjunktur und die deutsche Wirtschaft ist? Das ist Ihre nationalistische, hetzende und ausgrenzende Politik. ({2}) Das ist eine Gefährdung für den deutschen Wirtschaftsstandort und gefährdet unsere internationale Reputation, Herr Komning. Wenn Sie anderen hier Einfallslosigkeit vorwerfen, fällt mir zu Ihnen vor allem Einfältigkeit ein, und dass Sie sich bei dem Gegacker eben für das Huhn entschieden haben, wundert mich wahrlich nicht. ({3}) Was wir brauchen, ist eine differenzierte Debatte über Ursachen und Ansatzpunkte, nicht sich wiederholende Anträge. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, zu den „gelockerten Freiheitszonen“. Wenn man sieht, was Sie an anderen Stellen mit dem Begriff „Freiheitszonen“ verbinden, dann wirkt das eben doch wie eine Spirale nach unten, wenn es um Sozialstandards und die Absicherung für gute, tariflich abgesicherte Arbeitskräfte geht. Das kann nicht im Interesse irgendeiner Region in Deutschland sein, weder im Westen noch im Osten. Das ist nicht unsere Vorstellung. ({4}) Wir werden – das hat meine Kollegin Frau Grotelüschen vorhin angesprochen – dort, wo wir Zukunftstechnologien den notwendigen Raum zur Weiterentwicklung geben wollen, Reallabore schaffen. Dort können Unternehmen und innovative Menschen neue Dinge ausprobieren, aber eben nicht in einer Spirale nach unten. Wenn Sie dann auch wieder vorschlagen, die Anteile an der Post und der Telekom zu verkaufen – ich habe Ihnen das schon ein paarmal vorgerechnet, und ich habe aufgehört, darauf zu achten, wofür Sie den Erlös diesmal ausgeben wollen –, sage ich Ihnen: Das ist mit uns nicht zu machen. Wir stehen dafür, dass der Bund auch weiterhin direkt und indirekt die Verantwortung für die Deutsche Post, die Telekom und auch andere Unternehmen wie die Deutsche Bahn behält. Ich bin froh, dass zu der Zeit, als Sie Regierungsverantwortung hatten, nicht die Aktien der Deutschen Post verkauft worden sind, obwohl Sie es gefordert haben. Damals waren sie nämlich nur halb so viel wert. So viel zum Unternehmertum der FDP, meine Damen und Herren. ({5}) In dem Antrag der Grünen habe ich viele positive, soziale Vorschläge entdeckt. Ich glaube, er ist eine gute Grundlage, um weiterzudiskutieren. Was mir ein bisschen gefehlt hat, war ein kohärentes Konzept bzw. ein Finanzierungskonzept. Aber insbesondere bei den Rahmenbedingungen für die Förderung von Genossenschaften gibt es, glaube ich, wirklich gute Ansatzpunkte. Hier können wir zusammen weitermachen. Was wir uns vorstellen, ist, dass wir die Finanzierung vor allem dort ansetzen, wo wir eine Hebelwirkung erzielen können, wo wir noch mehr privates Kapital von institutionellen Anlegern heben können. Da bietet sich übrigens kein dänisches Fondsmodell an, das nicht mit dem EU-Recht vereinbar ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie wissen wahrscheinlich, dass auch die Dänen das nicht notifizieren lassen. Wir stellen uns vor, dass wir für Deutschland einen Dachfonds nach einem Wasserfallmodell installieren, das am Ende das Risiko nicht allein auf den Staat abwälzt, sondern eine faire Verteilung von Risiko und Chancen zwischen Unternehmen und dem Staat beinhaltet. ({6}) Deutschland – damit möchte ich schließen – war, ist und muss ein Gründerland bleiben, in dem angepackt und verbessert wird, in dem Firmen wie Siemens und BASF gegründet werden. ({7}) Wir können stolz sein, dass es auch heute im digitalen Zeitalter Menschen und Unternehmen gibt, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, und die Innovationskraft an den Tag legen, um unsere Gesellschaft und unser Land besser zu machen und damit die Wirtschaftskraft von morgen zu sichern. Vielen Dank. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Falko Mohrs. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Thomas Kemmerich. ({0})

Thomas L. Kemmerich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004775, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr verehrte Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Zuschauer auf der Tribüne! Liebe Zuschauer im Netz und über sonstige Medien! Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und auch Gesamtberlin – das bedeutet Potenziale, Chancen und Zukunft. Der Mut und die Entschlossenheit der Menschen gerade auch in meiner Heimat Thüringen sind beispiellos. Sie haben für den Aufschwung der letzten knapp 30 Jahre Sorge getragen, oftmals trotz der Politik. ({0}) Der eine oder andere mag unseren Antrag mit einer allgemeinen Lagebeschreibung verwechseln. Uns geht es hier aber um den Mittelstand, das Unternehmertum. Wir wollen diesen Menschen in Ostdeutschland helfen, sich selbst zu helfen, sich selbst aus dem Schlamassel zu ziehen, indem wir die wirtschaftliche Betätigung fördern und die Anerkennung für wirtschaftliches Unternehmertum stärken. ({1}) Denn gerade der Mittelstand und insbesondere die Familienbetriebe sind der Garant für den Aufschwung und für lebenswerte, gute Verhältnisse im ländlichen Raum. Deshalb liegt hierauf unser Augenmerk. Oftmals treffen wir auf unnötige Verwaltung, unverständliche Verordnungen – ich nenne als Stichwort nur den Datenschutz – und allgemeines Misstrauen gegenüber dem Unternehmertum. Wir erleben eine überbordende Bürokratie durch Verwaltung, Finanzämter und Ähnliches. ({2}) Im Einzelnen: Herr Minister Altmaier wird dafür gelobt, Strategien zu entwickeln; die Umsetzung fehlt. Reallabore nützen der jungen Dame, die ich gestern in Kahla in Thüringen getroffen habe, überhaupt nichts. ({3}) Sie beklagt, dass sie jedes Jahr mit Auflagen für neue Registerkassen belegt wird, deren Verständlichkeit sie nicht mehr nachvollziehen kann, und sie deshalb überlegt, ihren Laden aufzugeben. Das führt dazu, dass wir Verdruss schaffen und den Herren, zu denen ich gleich noch komme, weiter Raum geben. Deshalb, meine Damen und Herren, brauchen wir Freiheitszonen, den Stopp von unnötiger Bürokratie und mehr Vertrauen in die Unternehmen. Wir brauchen Gebiete, wo die Rahmenbedingungen Unternehmensübernahmen und ‑gründungen leichter und einfacher machen, damit diese, auf Hochdeutsch, auch mehr Spaß machen. ({4}) Eine Umfrage der IHK belegt: Die Vorschriften zur Datenschutz-Grundverordnung sind unverständlich. Gestaltet sie praxisnah! Habt Mut! Es geht auch um Aufbewahrungsfristen und die zeitnahe Betriebsprüfung der Finanzämter. Thüringen ist Spitzenreiter, was die Schärfe der Finanzämter angeht; das darf nicht sein. Die Aufbewahrungs- und Dokumentationspflichten, wenn elektronisch möglich, sind undurchsichtig. Statistikmeldungen sind vielfach nicht nachvollziehbar. Bitte schafft eine Stelle, wo man sie erfassen kann. Förderverfahren müssen vereinfacht werden. Kaum jemand stellt noch einen Antrag. Der Antrag ist schon kompliziert genug; aber man ist dann auch noch jahrelang in der Nachhaftung, muss rechtfertigen, dass man das Geld sinnvoll ausgegeben hat. Ich gehe davon aus, dass das Geld nicht verschwendet wird. Ich vertraue dem Mittelstand. Auch das ist ein Aspekt des Wirtschaftswachstums: Man vertraut und glaubt, dass der Mittelstand das vernünftig macht. ({5}) Konkrete Vorschläge zum Thema Gründungen: Wir brauchen Starterzentren. Ein Betonbau hilft nicht weiter, sondern wir brauchen Leute, die das Geschäft verstehen, die den jungen Gründern die Hand reichen und ihnen helfen, ihr Unternehmen in die Spur zu bringen. Wir brauchen Digital Hubs in Ostdeutschland; dort gibt es sie bisher nicht. Wir brauchen eine einfache Erteilung von Steuernummern. Ich habe ein Unternehmen gegründet und neun Monate gebraucht, bis ich die Steuernummern hatte; in der Zwischenzeit liefen beim Finanzamt aber schon sechs Verfahren wegen Nichtabgabe einer Steuererklärung. Damit muss Schluss sein. ({6}) Wir brauchen die Stärkung von Hochschulkernen. An den Hochschulen entstehen die neuen Ideen. In Ostdeutschland gibt es nur eine Exzellenzuniversität, in Thüringen keine. Da läuft etwas falsch. An den Hochschulen entstehen die neuen Ideen, die wir für den Aufschwung Ost brauchen. Wir brauchen diese Ideen, damit Ostdeutschland nach vorne springt. Der Aufholprozess des Ostens im Vergleich zum Westen muss nicht nur beschleunigt werden; der Osten muss wirklich zum Westen aufschließen. Thüringen, Sachsen, Brandenburg und alle anderen neuen Länder wollen nicht länger Nehmerländer sein. Sie wollen nach vorne und auch Geberländer sein. Das haben Thüringen und die anderen ostdeutschen Länder verdient. Wir sind nicht schlechter. Wir sind genauso selbstbewusst. Wir brauchen nur die richtigen Rahmenbedingungen. ({7}) Nun zu den Parlamentariern, die oftmals meinen, hier die Interessen der Ostdeutschen zu vertreten. Das, was Sie hier gezeichnet haben, ist ein Zerrbild. Es gibt solche Gegenden; da gebe ich Ihnen recht. Aber glauben Sie, dass sich junge Menschen auf den Weg nach Ostdeutschland machen bzw. zurückkehren, weil es dort so ist, wie Sie es beschrieben haben? – Nein. Leipzig und Jena, das sind tolle Vorbilder. Auch Ilmenau hat eine tolle Universität. Solche Städte gibt es in ganz Ostdeutschland. ({8}) Deswegen sollten Sie nicht nur von abgehängten Gebieten reden. Unsere Aufgabe ist es, dafür Sorge zu tragen, dass der Aufschwung überall stattfindet, und wir wachsen aus den Kernen heraus, indem wir diese stärken. Es reicht eben nicht, bei uns etwas abzuschreiben. Die Sonderwirtschaftszonen sind 20 Jahre alt. Wenn Sie das aus dem Programm der FDP abschreiben, dann zeigt das, dass Sie keine eigenen Ideen haben. ({9}) Es reicht nicht, hier so zu reden; denn Ihr Vorsitzender hat auf dem Kyffhäusertreffen ganz anders geredet. Das sollen die Menschen wissen, bevor sie ihre Wahlentscheidung treffen. ({10}) Dasselbe gilt für die Statistiken, die wir immer gesundbeten. Wir alle haben in den Wahlkämpfen in den letzten Jahren, Monaten und Tagen gemerkt, dass die Leute keine Statistiken brauchen. Die Leute wollen echte Hilfe, und sie wollen Anerkennung für ihre Lebensleistung. Das bedeutet, dass wir sie mit ihren Sorgen ernst nehmen. Und die Kernsorge ist, dass das Aufstiegsversprechen, das immer ein Grundpfeiler der sozialen Marktwirtschaft war, nicht mehr gilt. ({11}) Das Einzige, was da hilft, ist, dass wir die Bürokratie nicht länger so organisieren, dass sich die Unternehmen und die Bürger nach der Bürokratie zu richten haben, sondern so, dass sich die Bürokratie danach richtet, was die Bürger wollen, so, dass es für die Unternehmer leichter ist, erfolgreich zu sein. ({12}) Kernpunkt ist tatsächlich, dass es immer komplizierter wird, die Infrastruktur auf einem aktuellen Stand zu halten, sie modern zu halten. Wir haben vor 30 Jahren in Ostdeutschland damit begonnen, eine Infrastruktur aus den maroden Überresten des Sozialismus aufzubauen. Diese Infrastruktur zerfällt gerade wieder, weil die Verfahren zur Genehmigung und zur Vergabe von Aufträgen zu kompliziert geworden sind. Macht diese Verfahren einfacher! Dann geht es schneller, und der Erfolg wird erlebbar. Für die Ostdeutschen ist es nicht wichtig, dass Windkrafträder im Wald stehen, sondern, dass es 5G an jeder Milchkanne gibt und auch im letzten Haushalt Breitband verfügbar ist. ({13}) Meine Damen und Herren, wir brauchen Mut, wir müssen den Menschen in Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Berlin etwas zutrauen. Sie wollen keine Almosen. Sie wollen Freiheit, um sich selbst zu verwirklichen. Wir stehen vor großen Aufgaben in diesen Gebieten. Aber die Menschen vor Ort können das selber regeln, wenn wir sie nur lassen. Vielen Dank. ({14})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Thomas Kemmerich, auch für die Punktlandung. Sie haben Ihre Redezeit auf die Sekunde genau eingehalten. Vielen herzlichen Dank. Nächster Redner: für Die Linke Matthias Höhn. ({0})

Matthias Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004759, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Kollegen von der FDP haben sich überlegt, dass sie auch mal mit einer Initiative zum Thema Ostdeutschland in dieses Haus vordringen wollen. Das ist am Anfang meiner Rede eine Bemerkung wert, weil es nicht die Stärke der FDP ist, Vorschläge zu unterbreiten, wie es in Ostdeutschland vorangehen kann. ({0}) Wenn man sich den Antrag, den Sie vorgelegt haben und über den wir heute abschließend beraten, anschaut, dann bleibt man schon bei der Überschrift hängen. Das Erste, was Ihnen eingefallen ist, ist der Begriff „Zone“. Ich würde es lassen, wenn wir über Ostdeutschland reden, über Zonen zu sprechen. Aber geschenkt! Sie reden über „Freiheitszonen“. Die erste Frage, die sich stellt, lautet: Was ist eigentlich außerhalb dieser Zonen? Gibt es außerhalb dieser Zonen keine Freiheit? Mein politisches Grundverständnis, mein Anspruch ist, dass wir in der gesamten Bundesrepublik Freiheit, ein freies Leben haben. Sie sollten diesen Begriff nicht überstrapazieren. ({1}) Dieser Begriff hat mit dem, worüber wir hier reden, herzlich wenig zu tun, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({2}) Die zweite Frage, die sich stellt, lautet: Was meinen Sie eigentlich mit Freiheit? ({3}) Der Antrag gibt eine sehr gute Antwort darauf. Wenn Sie den Antrag gelesen haben, wovon ich ausgehe, dann wissen Sie sehr genau, was Sie unter Freiheit verstehen. Sie verstehen darunter Deregulierung; ({4}) aber das ist das komplette Gegenteil von Freiheit. ({5}) Schauen wir uns das einmal an. Deregulierungsdebatten sind ja nun nicht neu; die führen wir heute nicht zum ersten Mal. Wir erleben sie seit Jahrzehnten, übrigens nicht nur in Ostdeutschland oder in Deutschland, sondern auch weit darüber hinaus. Was ist denn das Ergebnis der Deregulierungsdebatten und der entsprechenden Entscheidungen gewesen? Das war für sehr wenige ein Gewinn an Freiheit. Dass einige gewonnen haben, das mag wohl sein. Ich würde es Handlungsspielraum oder Gewinnmarge nennen. Für die Mehrheit der Leute hat Deregulierung aber Abbau von Rechten, Abbau von Sozialstandards, Rückbau des Staates und Privatisierungen bedeutet. Das war das Ergebnis solcher politischen Konzepte, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({6}) Weil Sie hier eben über das Aufstiegsversprechen geredet haben, sage ich: Ich stimme Ihnen zu; dieses Versprechen wird schon lange nicht mehr eingelöst. Nur, meine sehr verehrten Damen und Herren von der FDP, es wird gerade aufgrund solcher Konzepte, für die Sie heute hier im Plenum wieder werben, nicht mehr eingelöst. Der Abbau des Sozialstaates hat das Aufstiegsversprechen zunichtegemacht. ({7}) Ich will Ihnen aber eines zugutehalten: Der Beschreibung der Situation in Ostdeutschland in Ihrem Antrag stimme ich zu. Die Glücksversprechen, die wir noch gestern im Zusammenhang mit dem Bericht zur Deutschen Einheit bekommen haben – es wurde wieder gesagt, wie toll das alles läuft –, gehen in der Tat an der Realität vorbei. Aber Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren von der FDP, erwähnen nicht, dass genau die Konzepte, die Sie jetzt wieder vorgeschlagen haben, dafür gesorgt haben, dass wir bis heute den Aufbau Ost nicht geschafft haben und bis heute keine gleichwertigen Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik hergestellt haben. ({8}) Was wir für Ostdeutschland brauchen, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, ist ein aktiver und ein investierender Staat. ({9}) Ich will zwei Punkte nennen, die bei Ihnen eine Rolle gespielt haben. – Ja, das mögen Sie nicht hören; aber das ist nun einmal die Realität. Sie haben über die kleinen und mittelständischen Unternehmen geredet und – Sie haben das Stichwort „Universitäten“ genannt – die fehlenden Exzellenzunis beklagt. Woran liegt das denn? Die kleinen und mittelständischen Unternehmen, gerade auch in Ostdeutschland, sind doch auf öffentliche Investitionen angewiesen. Von wem sollen sie denn die Aufträge bekommen, wenn nicht von der öffentlichen Hand? ({10}) Und woran liegt es denn, dass die Hochschullandschaft in Ostdeutschland, dass die Universitäten in den neuen Bundesländern gegenüber den Universitäten in den alten Bundesländern immer noch im Nachteil sind? Das liegt ganz offensichtlich daran, dass die Investitionen in Forschung und Entwicklung immer noch nicht ausreichend sind, um diesen Rückstand aufzuholen. Wir brauchen einen aktivierenden, handlungsfähigen Staat, der investiert. ({11}) Und wir brauchen eine Rückkehr öffentlicher Strukturen. Das Ergebnis der Privatisierung in den letzten Jahren und Jahrzehnten sehen wir jetzt in Ostdeutschland. Was ist das Ergebnis? Die Privatisierungen haben dazu geführt – das hat heute schon bei mehreren Tagesordnungspunkten eine Rolle gespielt –, dass der Staat sich aus der Fläche komplett zurückgezogen hat, mit allen Angeboten, die dazugehören. ({12}) Wenn wir etwas tun wollen für den Aufschwung Ost, dann müssen diese Strukturen zurückkehren, damit sie die Zivilgesellschaft stabilisieren, Mobilität ermöglichen und Wirtschaftswachstum anregen. ({13}) Letztlich ist – auch darüber reden Sie von der FDP nicht so gerne – noch die Lohnfrage anzusprechen. Es ist nicht nur inakzeptabel, dass wir fast 30 Jahre nach der deutschen Einheit noch immer einen solchen Lohnabstand haben. ({14}) Es hat sich über die vielen Jahre hinweg auch als grandioser Trugschluss erwiesen, Niedriglöhne könnten in irgendeiner Form Wirtschaftswachstum auslösen. Ministerpräsident Haseloff, aus dessen Bundesland ich komme, ist gerne durch die Lande gereist und hat mit dem Niedriglohnstandort Sachsen-Anhalt geworben. Was ist das Ergebnis? Wir haben den Anschluss zum Westen nicht herstellen können. Wenn wir den Anschluss hinbekommen wollen, dann müssen wir endlich die Lücke bei Löhnen, Renten und Einkommen schließen, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({15}) Die Leute in Ostdeutschland werden ab und zu gefragt, welche Partei nach ihrer Einschätzung die sinnvollsten und besten Vorschläge mache, wie es in Ostdeutschland vorangehen könne. Der Anteil der FDP ist in diesen Umfragen meistens nicht messbar. Wenn man Ihre Anträge liest, dann weiß man, warum. Herzlichen Dank. ({16})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Matthias Höhn. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Claudia Müller. ({0})

Claudia Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004830, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! „Gründerrepublik Deutschland – Freiheitszonen für einen Aufschwung Ost“, theatralischer ging es nun wirklich nicht. ({0}) Hinter diesem Titeltheater verbirgt sich leider ein wenig innovativer Antrag der FDP, den wir in zweiter Lesung abschließen und – für Sie wenig überraschend – ablehnen werden. ({1}) Zu diesem Antrag habe ich, ehrlich gesagt, schon in der letzten Debatte alles gesagt, was zu sagen ist. Da mir Wiederholungen nicht liegen und ich theoretisch dann ja auch die Bundesregierung loben müsste, werde ich das einfach lassen. ({2}) Stattdessen möchte ich mich dem Thema zuwenden, das uns eigentlich beschäftigt, dem Kern Ihres Anliegens, und werde dabei auch auf die Anträge eingehen, die Sie im Ausschuss dazu gestellt haben. Es ist unbestritten, dass die Gründerkultur in Deutschland verbesserungswürdig ist. Hiermit sind ausdrücklich nicht der Innovationsgeist und der Ideenreichtum der Gründerinnen und Gründer gemeint, sondern ganz klar die Rahmenbedingungen. Unzureichende Infrastruktur, besonders die digitale, bürokratische Verfahren und eine noch immer überwiegend analoge Verwaltung, das alles nervt Gründerinnen und Gründer. ({3}) Das nervt aber auch Handwerksbetriebe, Landwirtinnen und Landwirte, Bürgerinnen und Bürger – ehrlich gesagt, uns alle. Diese Fragen beschäftigen uns gemeinsam. Ihnen aber fehlt – das zeigen all Ihre Anträge – der Blick auf das Gesamte. Sie wählen eine bestimmte Gruppe aus und schauen nur auf deren Bedürfnisse. Das macht insbesondere Ihr Antrag „Gründerrepublik Deutschland – Gründungen durch Zukunftstechnologien erleichtern“ deutlich, aus dem ich einige Punkte auswählen möchte. Sie mögen klein erscheinen, zeigen aber, wie Sie hier denken. Sie fordern in diesem Antrag, der heute noch nicht einmal im Plenum behandelt wird, dass zum Ende dieses Jahres Faxgeräte aus allen Verwaltungen verschwinden sollen. Sie sollen nicht mehr genutzt werden. Das klingt erst einmal ganz nett. ({4}) – Genau. – Sie überlegen sich aber nicht, was das für Verwaltungen bedeuten würde, bzw. es ist Ihnen vollkommen egal. Hinzu kommt, dass man für digitale Kommunikation eine entsprechende Infrastruktur braucht. Ich kenne Regionen, in denen selbst der einfache Versand von E-Mails schwierig ist. Was sollen die Menschen dort denn machen? Sollen sie zurück zum Brief? ({5}) Sie machen wieder einmal den zweiten Schritt vor dem ersten. Erst müssen die Infrastrukturen geschaffen werden, dann kann man die Alternativen wegnehmen. Es gibt einen zweiten Punkt, der erst einmal nett klingt, aber eigentlich an den Bedürfnissen vorbeigeht. Sie fordern die Einführung von Englisch als Verwaltungssprache überall, und Neueinstellungen dürfen nur noch mit nachgewiesenen Englischqualifikationen erfolgen. Erst einmal frage ich mich: Warum nur Englisch, warum denn nicht andere Sprachen? Gerade in Grenzregionen macht es doch viel mehr Sinn, die Sprachen dort zu fördern. Hinzu kommt: Es mag für junge Menschen heutzutage üblich sein, Englischkenntnisse zu haben, aber im Arbeitsleben stehen nicht nur Menschen unter 40 Jahren, sondern auch Menschen, die Anfang 50 sind. Bei vielen von ihnen war Englisch nie Pflichtfach in der Schule. Wollen Sie diese jetzt vom Arbeitsmarkt ausschließen? ({6}) Besonders perfide ist, dass Sie das in einen Antrag zum Thema „Aufschwung Ost“ schreiben. Das soll Ihr Ost-Antrag sein, und Sie schreiben so etwas hinein? Das hat mich, ehrlich gesagt, schockiert. Ich glaube, Ihnen ist das noch nicht einmal aufgefallen. Dieser Gedanke ist Ihnen noch nicht einmal gekommen, als Sie den Antrag geschrieben haben. ({7}) Ihnen fehlt der Blick auf die Gesamtheit. Wir haben zu diesem Thema einen einzigen Antrag gestellt und keinen gesonderten, da wir die Gesamtheit betrachten möchten. Die Frage ist: Wie können wir Gründerinnen und Gründer, wie können wir Nachfolgerinnen und Nachfolger in Gesamtdeutschland fördern, und zwar besonders in den strukturschwachen Regionen? Diese gibt es zwar mehrheitlich noch immer in Ostdeutschland, aber nicht nur. Wir haben darin Ideen entwickelt zur Förderung der Rahmenbedingungen für Bildung, für Forschung, für Innovation, für Bürokratieabbau, für die Stärkung der regionalen Wirtschaftskreisläufe. Wenn wir es schaffen, das umzusetzen, dann klappt’s auch mit der Gründerrepublik. Schauen wir uns die Kosten für Unternehmensgründungen und ‑übernahmen an. Wir schlagen ganz konkret eine Steuerermäßigung auf die Ausgaben für Forschung und Entwicklung vor. Die Sofortabschreibung für geringwertige Wirtschaftsgüter sollte auf 1 000 Euro hochgesetzt werden. Da springt die Bundesregierung in ihrem Entwurf zum Bürokratieentlastungsgesetz zu kurz. Es enthält zwar auch eine Erhöhung, aber nicht auf 1 000 Euro. Warum nicht? Das funktioniert auch. ({8}) Wir wollen eine Hochsetzung der Istversteuerungsgrenze bei der Umsatzsteuer, einen besseren Zugang zu Mikrokrediten und – das ist inzwischen ein Evergreen von uns – zinslose Darlehen für Gründungen. Frau Grotelüschen, ich fand es großartig, dass Sie das Thema „Frauen und Gründungen“ angesprochen haben. Ich hätte mir gewünscht, dass Ihre Fraktion an dieser Stelle besser zugehört hätte; denn es ist tatsächlich so: Frauen haben noch immer größere Hürden zu nehmen, wenn es um Gründungen geht. Für sie ist es schwieriger, an Kapital zu kommen. Gleichzeitig aber ist die Erfolgsquote der von Frauen gegründeten Unternehmen größer als die von Männern gegründeten Unternehmen. ({9}) Um den Bogen zu Ostdeutschland zu schlagen: Es wird immer gesagt, hier gebe es das Problem der Abwanderung. Dazu ist zu sagen, dass insbesondere die jungen, gut qualifizierten Frauen gehen. Frauenförderung ist also auch eine Förderung gegen die Abwanderung. Lassen Sie uns stärker gemeinsam darauf hinwirken. ({10}) Auch wir wollen den bürokratischen Aufwand verringern. Aber das bedeutet eben nicht, nur auf E-Government zu setzen. Das bedeutet auch eine Vereinfachung bzw. Aussetzung von Berichtspflichten. Wir wollen Ausgründungen aus Universitäten und Hochschulen fördern, und zwar so, dass die Menschen in den Regionen verbleiben können. Ganz ehrlich: Da helfen Sonderwirtschaftszonen nicht. Sonderwirtschaftszonen sind in erster Linie ein Anreiz dafür, dass Menschen in Gegenden gehen, in denen sie sich kurzzeitig ansiedeln; es entsteht ein Mitnahmeeffekt, aber sie haben keine wirkliche Verbindung zu der Region. Eine wirkliche Wirtschaftsförderung wären ein guter Ausbau der Infrastruktur, eine Förderung der regionalen Nahverkehre, Gesundheitsversorgung, Bildung und Kulturangebote – die Schaffung einer lebenswerten Region, in der Arbeitskräfte, Unternehmerinnen und Unternehmer, Gründerinnen und Gründer, Nachfolgerinnen und Nachfolger gerne leben. Dafür lassen Sie uns doch gemeinsam arbeiten! Vielen Dank. ({11})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Claudia Müller. – Nächster Redner in der Debatte: Mark Hauptmann für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Mark Hauptmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004293, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörer! Die Rede von Herrn Höhn von der Linken war nicht etwa die Höhe der Debattenkultur, sondern Hohn für die Aufbauleistungen der Menschen in den neuen Bundesländern in den letzten 30 Jahren. ({0}) Sie haben hier gesagt – ich zitiere Sie –, dass der Aufbau Ost nicht geschafft ist. ({1}) Das ist ein Schlag in das Gesicht vieler Menschen. Ihre Partei hat die marode Staatswirtschaft zu verantworten, einen Unrechtsstaat und den Schürer-Plan. Gucken Sie einmal dort hinein. Die DDR war bankrott. Wie war denn die Ausgangssituation? Die Flüsse, die Böden, die Luft, alles war verschmutzt. Wir haben heute über das Thema Klima geredet. Wie hoch waren hier denn die Belastungen? Und was ist in den letzten 30 Jahren geschehen? Von der Wismut zur Bundesgartenschau 2007 in Gera und Ronneburg, von einer verseuchten Region aus DDR-Zeiten, die Sie parteilich mit zu verantworten hatten, zu blühenden Landschaften – das ist die Leistung, die wir in den letzten 30 Jahren gesehen haben. ({2}) Wir haben gesehen, dass sich die Menschen aus dem Osten aufgemacht haben mit Innovationsgeist, der ihnen nicht in der Schule vermittelt wurde, mit vielen Unternehmern, die mit Mitte 40 noch einmal neue Unternehmen gegründet haben, nicht aus der Hochschule heraus, sondern mitten im Leben stehend. Wir haben erlebt, wie viele Menschen Unternehmergeist entwickelt haben, selber gegründet haben, reinvestiert haben, sich eigene Märkte erarbeitet haben, vom lokalen deutschen zum europäischen Binnenmarkt, und die heute im globalen Wettbewerb im Weltmarkt aktiv sind. Wir erleben, dass mittlerweile die Zahlen, die wir uns im 30. Jahr nach der Wiedervereinigung anschauen – die ganz nüchternen Fakten –, dafür sprechen, dass eine ungemein starke Aufbauleistung hier in diesem Land erbracht worden ist. Es gab vielleicht drei oder vier welthistorische Leistungen, die hier einzuordnen sind. Das ist einmal die Art und Weise, wie es die Chinesen in den letzten 40 Jahren geschafft haben, mehrere Hundert Millionen in die Mittelklasse zu holen, wie es ein Land wie Singapur geschafft hat, aus einem mückenverseuchten Sumpf eine starke Wirtschaftsleistung zu machen. Hinzu kommt die Leistung nach der Wiedervereinigung, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in Ostdeutschland, aber auch in Osteuropa, wie wir aus einem maroden System Marktwirtschaft gemacht haben und hier Millionen von Menschen in die Mittelschicht gebracht haben, die heute davon leben können. ({3}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, das ist die Aufbauleistung, für die wir uns nicht schämen müssen, wie Sie es uns einreden wollen. Ich komme zu einem Punkt, der uns alle, zumindest in der Mitte des Plenums – von der SPD, den Grünen, der FDP und der Union – eint: Wir wollen die Gründungskultur in Deutschland stärken. – Die geschätzte Kollegin Müller hat angesprochen: Wir müssen weg von der analogen Verwaltung. Wir müssen zukunftsfähig werden. – Sie hat recht. Dann schauen wir uns als Beispiel das Land Berlin an. Hier wächst eine Start-up-Kultur, die sich mittlerweile anschickt, London als Start-up-Platz Nummer eins in Europa zu überholen. Aber schauen wir in die Verwaltung des Landes Berlin: Da ist Grauen angesagt. Wenn Sie für die Anmeldung eines neugeborenen Kindes in Estland am Tag nach der Geburt eine E-Mail bekommen: „Herzlichen Glückwunsch zur Geburt Ihres Sohnes oder Ihrer Tochter; ab nächstem Monat überweisen wir das Geld auf das von Ihnen angegebene Konto“, dann ist das das Ergebnis einer digitalisierten Verwaltung. In Berlin – Rot-Rot-Grün – sorgt die Verwaltung dafür, dass man Wochen und Monate gar keinen Termin bekommt für die Anmeldung eines neugeborenen Kindes. Das geht weiter bei der Gründung von Unternehmen. Das geht weiter bei der Anmeldung von ausländischen Mitarbeitern. Die Start-up-Kultur in Berlin wächst nicht wegen der digitalen Verwaltung, sondern trotz dieser. Das ist der Zustand dieses Landes, das ist die Realität anschauen. ({4}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir stehen jetzt in dieser Debatte – heute Morgen haben wir über das Klima, dann über die Kohle gesprochen; jetzt reden wir über die Gründungen – vor der Frage: Wer schafft eigentlich die technologischen Antworten und Lösungen, auch im Hinblick auf das Klimaproblem, im 21. Jahrhundert? Ist das etwa eine Greta Thunberg, die mit erhobenem Zeigefinger in Rumpelstilzchen-Manier auf dem Surfbrett der Verbotsdebatte daherkommt und die vor allem ganz viel mediale Aufmerksamkeit von allen Seiten der Welt bekommt? Oder sind es vielleicht doch fleißige, interessierte Jungen und Mädchen, wie sie hier auf dieser Tribüne sitzen, die sich anschicken, jeden Tag mehr über Chemie, über Biologie, über Physik, über die Naturwissenschaften zu lernen, die keine Aufmerksamkeit bekommen, aber jeden Tag vielleicht etwas dafür tun, wie wir mit technischen Lösungen Innovationen von morgen schaffen? ({5}) Wenn Gottlieb Daimler und Carl Benz nur mit dem erhobenen Zeigefinger gekommen wären und Verbotsdebatten angerührt hätten, dann würden wir heute nicht so starke, global agierende, wirtschaftlich erfolgreiche Firmen haben. Sie haben einen anderen Weg gewählt. Es waren die Tüftler und Macher in diesem Land, es waren die Gründer von gestern, die den heutigen Wirtschaftserfolg Deutschlands garantieren, und genau diese Kultur müssen wir wecken, wenn wir junge Leute in den Schulen ansprechen. Wir müssen ihnen Mut machen, zu gründen und einen Unternehmergeist zu wecken. Da sind nicht nur wir im Bund gefragt, da sind auch die Länder gefragt. Denn wir brauchen in den Schulen „Wirtschaft“ als Schulfach, mehr Unternehmenspraktika, „Jugend forscht“ und andere Programme, die unterstützt werden müssen. Der Businessplan gehört ins Schulcurriculum, und Coding gehört als Fremdsprache genauso unterrichtet wie Französisch oder Englisch. Testen wir doch, wer bei Coding gut ist. Ein Teil von denen, die eine solche Sprache gut beherrschen, wird morgen und übermorgen den Wohlstand dieses Landes mit sichern. Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Antrag der FDP und der Grünen, der zum Ziel hat, die Gründungskultur zu stärken, deckt sich in vielerlei Hinsicht mit dem, was die Bundesregierung aktuell schon macht. Wenn wir uns EXIST anschauen – ein Programm, bei dem es darum geht, aus der Hochschule heraus zu gründen –, dann sehen wir, dass drei Viertel der geförderten EXIST-Gründerstipendiumprojekte und mehr als 80 Prozent der EXIST-Forschungstransferprojekte zu einer Unternehmensgründung führen. Wenn wir uns den Bereich Finanzierung anschauen, dann sehen wir, dass wir auf den Stufen eins und zwei die Erstfinanzierung von Start-ups in Deutschland in den letzten zehn Jahren auf gute Beine gestellt haben. Jetzt arbeiten wir daran, wie wir die Wachstumsphase von Gründungen hier in Deutschland weiter finanzieren können. Das heißt, wir sehen in ganz vielen Bereichen sehr klar, dass wir, erstens, den Osten nicht schlechtreden müssen, sondern die Lebensleistung der Menschen von dort anerkennen müssen, dass wir, zweitens, viel für den Bereich Gründung tun und dass es, drittens, nicht nur eine Aufgabe des Bundes, sondern vor allem auch der Länder ist, sich hier mehr zu engagieren. Herzlichen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Mark Hauptmann. – Nächster Redner: Frank Junge für die SPD-Fraktion. ({0})

Frank Junge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004317, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte zunächst ebenfalls die Gelegenheit nutzen und all denen entgegentreten, die die Entwicklung im Osten per se so schlechtreden, wie wir das hier von rechts und von links gehört haben. ({0}) Schaut man auf klare Indikatoren, schaut man auf Beschäftigungsentwicklungen, Investitionen, auf die Entwicklung des Bruttoinlandsproduktes und auch auf die Löhne, dann sieht man, dass im Osten seit der Wende enorm viel passiert ist, und das ist vor allen Dingen ein Verdienst der Menschen im Osten. Das darf man nicht schlechtreden. ({1}) Ihr Antrag, liebe FDP-Fraktion, ist leider, seitdem wir ihn im Juni das erste Mal diskutiert haben, nicht besser geworden. Ich sage das so ganz klar, weil Sie mit Ihren Freiheitszonen im Kern fordern, dass – Sie haben es ja, Herr Kemmerich, ausgeführt – für das Ziel, Unternehmensneugründungen vorzunehmen und um einen Aufschwung Ost zu kämpfen –, wie Sie sagen, bundesrechtliche Regulierungen und Vorschriften gelockert und beseitigt werden sollen, dass unnötige bürokratische Hemmnisse abgeschafft werden sollen und dass Ausnahmen zugelassen werden sollen, mit denen – um das Kind beim Namen zu nennen – dann im Kern auch der Verschlechterung von Arbeitsbedingungen Tür und Tor geöffnet werden kann. ({2}) – Man muss ja nur Ihren Antrag lesen. Solche Sonderwirtschaftszonen, wie Sie sie in Ihrem Antrag fordern, führen nicht nur zu Abgrenzungs- und Wettbewerbsproblemen zwischen den Regionen, sondern sie sind auch EU-rechtlich problematisch, und sie bedeuten eine Abkehr von unserem Steuer- und Rechtssystem. Vor allem aber steht zu befürchten, dass mit der Einführung der von Ihnen geforderten Sonderwirtschaftszonen Arbeitnehmerrechte und Sozialstandards, die wir zusammen mit den Gewerkschaften über eine lange Zeit hart erkämpft haben, beschnitten und ausgehöhlt werden. Das darf es so nicht geben. Das wird es mit der SPD-Bundestagsfraktion so nicht geben. ({3}) Ein Unterlaufen von Kündigungsschutz, eine Lockerung bei Regelungen in der Leih- und Zeitarbeit oder eine Unterschreitung des Mindestlohns kann doch niemand in diesem Haus ernsthaft wollen. ({4}) Oder ist das bei Ihnen der Fall? Dabei haben wir solche Experimente gar nicht nötig; denn Deutschland hat bereits eine hervorragende Förderkulisse, um Wirtschaftsstandorten und benachteiligten Regionen zu helfen, und sie entfalten seit Jahr und Tag ihre Wirkung. Eine der wertvollsten Förderkulissen ist und bleibt hier die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“, mit der jährlich ungefähr 600 Millionen Euro zur Verfügung stehen. Allein in den Jahren 2012 bis 2017 sind insgesamt 5 Milliarden Euro in verschiedene Regionen Deutschlands geflossen. Es wurden Investitionen von über 30 Milliarden Euro angestoßen, und 80 Prozent dieser Mittel sind dabei an kleine und mittelständische Unternehmen in den neuen Ländern gegangen. ({5}) Das ist ein Sachverhalt, der auch im Osten entsprechend Wirkung gezeigt hat. Damit ist das eine riesige Erfolgsgeschichte.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Junge, erlauben Sie eine Bemerkung oder Zwischenfrage von Herrn Kemmerich?

Frank Junge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004317, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja bitte, Thomas.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kemmerich.

Thomas L. Kemmerich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004775, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Junge, Sie führen aus, dass Sonderwirtschaftszonen Europarecht widersprechen könnten. Ich denke, wir beide wissen, dass Sonderwirtschaftszonen in Polen, also in unmittelbarer Nachbarschaft zu den teilweise benachteiligten Gebieten in Ostdeutschland, existieren; insofern besteht ein Wettbewerbsnachteil für die Gebiete auf deutschem Boden. Ich denke, dass Sie da falschliegen. Bitte, bestätigen Sie, dass Sonderwirtschaftszonen europarechtlich möglich sind.

Frank Junge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004317, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe, Herr Kemmerich, nicht gesagt, dass sie nicht möglich sind. Ich habe in den vorherigen Sätzen ganz klar beschrieben, dass es so, wie Sie es in Ihrem Antrag fordern, nicht geht. Wäre es so, wie Sie es fordern, würde es bedeuten, dass wir unter diesen Umständen vor allen Dingen arbeitsrechtliche und soziale Standards in Mitleidenschaft ziehen würden. Dagegen verwahren wir uns ausdrücklich. ({0}) Das ist der Hauptkritikpunkt an dem, was ich hier zum Tragen bringen will. ({1}) Lassen Sie mich meine Rede in den restlichen Sekunden zu Ende bringen. Ich habe darauf verwiesen, dass die GRW aus meiner Sicht eine Erfolgsgeschichte für den Osten ist. Wer es demnach also wirklich ernst meint mit dem weiteren Voranbringen der neuen Bundesländer, wer es ernst meint mit einem Aufschwung Ost, der sollte mit uns zusammen dafür sorgen, dass gerade solche Förderkulissen zukünftig weiter gestärkt und ausgebaut werden. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, bringt den Osten voran. Ich denke, Ihre Freiheits- oder, besser gesagt, „Sonderwirtschaftszonen“ bringen das nicht. Vielen Dank. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frank Junge. – Nächster Redner: Uwe Kamann.

Uwe Kamann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004772

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die FDP hat sich ein hübsches Schlagwort für ihren Antrag ausgedacht: „Gründerrepublik Deutschland“. Das klingt großartig. Aber jeder weiß, dass wir keine Gründerrepublik mehr sind, sondern vielmehr eine Gründerverhinderungsrepublik. Ein Rückgang der Gründungen um 40 Prozent in den letzten acht Jahren sollte uns allen ein deutliches Alarmsignal sein. Sie und auch die Grünen versuchen, mit teilweise sogar vernünftigen Einzelmaßnahmen ein paar Akzente zu setzen, was im Einzelnen ja auch nicht falsch ist. Was wir aber brauchen, um Deutschland wirtschaftlich voranzubringen, sind keine Einzelaktionen, sondern verlässliche, umfassende und vor allem durchdachte Rahmenbedingungen, im Grunde nur drei Maßnahmen. Erstens: vereinfachen. Wir müssen den Gründern bei der Finanzierung helfen, aber nicht mit Risikokapital, sondern mit Chancenkapital. Für die Finanzierung brauchen wir einen Ansprech- und einen Entscheidungspartner. Gründen Sie mal ein Unternehmen; ich habe es gemacht. Da müssen Sie mit den einen, mit anderen und dann mit noch ganz anderen reden. Diese müssen dann alle noch miteinander reden. Das dauert unendlich lange. Das ist eine Farce. Zweitens: unterstützen. Wir müssen Strukturen schaffen, die es ermöglichen, dass Gründer über einen längeren Zeitraum von erfahrenen Managern in der Aufbau- und vor allen Dingen in der Stabilisierungsphase unterstützt werden. Das Problem ist oftmals nicht die Gründung als solche, auch wenn sie mit bürokratischen Hürden behaftet ist, sondern das Problem ist in der Stabilisierungsphase zwei oder drei Jahre später: wenn man die PS, die man geschaffen hat, auf die Straße bringen will, wenn man entsprechende Märkte bedienen möchte und dafür einfach nicht die Kompetenz und die Erfahrung hat. Daran scheitern verdammt viele Unternehmen. Das sollte uns auch zu denken geben. Drittens: erleichtern. Wir müssen Gründungen dadurch erleichtern, dass wir Bürokratie abbauen – das wurde oftmals gesagt – und zielführende Steuer- und Abgabenmodelle schaffen, damit Start-ups nicht gleich beim ersten Windzug umfallen. Diese drei Maßnahmen lösen fast die meisten Probleme, unter denen unsere Gründer ächzen. Wir brauchen aber eine ganzheitliche Gestaltung. Nur dann funktionieren Unternehmensgründungen auch in der Masse, die wir benötigen. Solange wir dies aber versäumen, wird es weiterhin immer weniger Gründer, immer weniger Betriebe und immer weniger Wirtschaftskraft in Deutschland geben. Zum Schluss möchte ich der Regierungsbank noch einen Hinweis geben. Bei der Gestaltung des Klimapakets haben Sie es versäumt, die Brücke zum innovativen Klimaschutz zu schlagen. Eine echte Förderung mit Chancenkapital für Gründer, die innovative Umwelt- und Klimatechnologien entwickeln, fehlt. Sie hätten die Transformation Deutschlands vom Verbots- und Verzichtsweltmeister hin zum Innovationsweltmeister in Sachen Klima- und Umwelttechnologien nachhaltig unterstützen können. Aber vielleicht finden Sie ja noch Gelegenheit zur Nachbesserung. Herzlichen Dank.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kollege Kamann. – Nächster Redner in der Debatte: Hansjörg Durz, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Hansjörg Durz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004264, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Schon die erste Diskussion dieser Anträge im Parlament hat gezeigt und die heutige Debatte zeigt es wieder, dass wir uns im Ziel einig sind: Wir brauchen und wollen mehr Gründerinnen und Gründer in Deutschland, insbesondere für Innovationen. Zum Beispiel fehlen uns im Digitalsektor junge Unternehmerinnen und Unternehmer, die kreative Ideen für die digitale Welt von heute und von morgen umsetzen. Müssen wir Unternehmensgründungen vereinfachen? Ganz bestimmt. Brauchen die Gründer in Deutschland mehr Wagniskapital? Ohne Zweifel. Müssen wir den Transfer von der Wissenschaft in die Wirtschaft stärken? Unbedingt, und zwar in ganz Deutschland. Bereits in der letzten Debatte über diese Anträge sowie auch in den Beiträgen meiner Vorredner konnten wir feststellen: Vieles von dem, was dort gefordert wird, wird so oder so ähnlich bereits umgesetzt oder ist in Planung. Die Widersprüche in den vorliegenden Anträgen und unsere Gegenpositionen haben wir sowohl in der ersten Lesung als auch heute als auch im Ausschuss deutlich gemacht; meine Vorredner haben sie erneut herausgearbeitet. Doch manchmal, insbesondere beim Blick auf den Grünenantrag, der ein wahres Dickicht an Maßnahmen bereithält – mit Sicherheit auch vieles Richtige –, gerät in solchen Debatten das Wesentliche aus dem Blick, nämlich der entscheidende Grund, warum wir in Deutschland so wenige Gründungen haben. Unternehmen aus Amerika und Asien gestalten die digitale Welt, wie sie ihnen gefällt. Europa importiert dann die Innovationen und Produkte, die andernorts erdacht und erarbeitet wurden. Doch wenn wir an dieser Wertschöpfung teilhaben wollen, müssen wir nicht bloß die Endprodukte auf den alten Kontinent verschiffen, sondern wir müssen unsere Rohstoffe heben; denn neben einer guten Idee ist es vor allem der Mut, diese Ideen in die Realität umzusetzen, der Wille, die Hürden auf dem Weg dorthin zu meistern, und die positive Grundeinstellung, bei der der Glaube an die eigene Schaffenskraft die Angst vor dem Scheitern überwiegt. Kurzum: Deutschland braucht mehr Gründergeist. ({0}) In einer Umfrage eines internationalen Finanzdienstleisters vom Mai dieses Jahres wurde nach den größten Hemmnissen für eine Unternehmensgründung gefragt. Über 1 000 junge Menschen in Deutschland gaben Antwort. Erstaunlicherweise waren es nicht die fehlende Lust auf das Unternehmertum, eine nicht vorhandene Geschäftsidee oder der enorme bürokratische Aufwand, die junge Menschen in erster Linie an der Gründung hindern. Stattdessen waren die beiden meistgenannten Begründungen erstens die fehlende Sicherheit und zweitens die Angst vor dem Scheitern. Das heißt nicht, dass an den vielen anderen Schrauben nicht gedreht werden muss. Doch wir müssen uns ab und an aus dem Klein-Klein der deutschen Gründungsförderung herausbegeben und den Blick auf das eigentliche Ziel lenken, um es nicht aus den Augen zu verlieren. Ich will deshalb in dieser Debatte ein positives Beispiel aus meiner Geburtsstadt Augsburg vorbringen. Woran es in Deutschland mangelt, sind Vorbilder. Meine Heimatregion kann so ein Vorbild sein; denn die Fuggerstadt schafft etwas, was wir in Deutschland und auch in Bayern aktuell nicht schaffen: Die Gründerrate ist dort im Jahr 2018 angestiegen. Was ist das Erfolgsrezept? Die meisten Gründer in Augsburg sind junge Akademiker; denn die Hochschule und die Universität unterstützen auch dank Förderung durch den Bund die Gründungsaktivitäten ihrer Absolventen. Die Stadt beherbergt Gründerzentren. Damit ist nicht nur die Verfügbarmachung von Räumen gemeint, sondern auch ein umfassendes Beratungsangebot. Gründerinnen und Gründer werden dort somit bei typischen Problemstellungen im Laufe der verschiedenen Gründungsphasen unterstützt und begleitet. Auch die lokale Wirtschaft unterstützt diese Entwicklung. Bereits vor zehn Jahren ist hier zum Beispiel das Forum Unternehmerkapital entstanden. Gestandene Unternehmer haben sich zusammengetan, um jungen Start-ups finanziell unter die Arme zu greifen. Der Weg zum Business Angel ist somit für die Gründer nicht weit. ({1}) Es ist dieses Ökosystem, das jungen Menschen das Selbstvertrauen gibt, eine Unternehmung zu starten. Solche Strukturen werden von der Bundesregierung mit dem EXIST-Förderprogramm maßgeblich unterstützt. Im aktuellen Haushaltsentwurf sind für das Programm 80 Millionen Euro vorgesehen. Das ist sinnvoll und gut investiertes Geld. ({2}) Mit EXIST wird meist ausschließlich die Zahlung von Stipendien für Gründer verbunden. Dabei ist das Programm vielfältiger und macht es sich zur Aufgabe, das Grundübel der mangelnden Gründungsaktivität in Deutschland zu bekämpfen. Neben Gründerstipendien und Forschungstransfer ist ein weiterer wichtiger Bereich die Förderung der Gründungskultur. Im vergangenen Jahr hat die Bundesregierung eine neue Wettbewerbsrunde dieses Förderzweiges gestartet. Mit dem Programm EXIST-Potentiale werden Hochschulen dabei unterstützt, ein gründungsfreundliches Ökosystem aufzubauen. Die Projektanträge müssen darauf abzielen, eine nachhaltige Vernetzung von Akteuren aus Wirtschaft und Wissenschaft zu generieren, also ein Ökosystem, um Lust auf Gründungen zu machen. Das Bundeswirtschaftsministerium ist mit Förderanträgen geradezu überhäuft worden – ein sehr positives Zeichen. Die Juryentscheidung zum aktuellen Förderaufruf steht kurz bevor und Deutschland damit vor einem weiteren Schritt in die richtige Richtung. Diese Linie des EXIST-Programms ist von enormer Wichtigkeit; denn die Entwicklung von Gründungskultur ist kein Schalter, der sich einfach umlegen lässt. So etwas verändert sich nicht von Jahr zu Jahr oder von Legislaturperiode zu Legislaturperiode. Stattdessen geht es um eine schrittweise langfristige Veränderung der Einstellung der Deutschen zum Unternehmertum. Unsere Debatten und Entscheidungen im Bundestag tragen übrigens ihren Anteil dazu bei. Wie sprechen wir über Menschen, die anpacken? Wir müssen denjenigen Wertschätzung entgegenbringen, die Mut haben und anpacken. ({3}) Die Bundesregierung hat sich mit EXIST-Potentiale entschieden, das Grundproblem der viel zu geringen Gründungsrate in Deutschland anzugehen und eine Gründungskultur langfristig in unserem Land zu verankern. Diesen Weg müssen wir unterstützen; denn unsere wichtigsten Rohstoffe der Zukunft sind nicht unter der Erde zu finden, sondern in den Köpfen der Menschen, und die müssen mit genügend Gründergeist gesegnet sein. Vielen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Hansjörg Durz. – Augsburg ist wirklich eine schöne Stadt; das darf ich sagen. ({0}) Letzte Rednerin in der Debatte: Elisabeth Kaiser für die SPD-Fraktion. ({1})

Elisabeth Kaiser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte ich festhalten, dass ich mich gefreut habe, dass nun auch die FDP sich mit den Ostdeutschen auseinandersetzt. Wenn ich mir aber die Historie Ihres Antrags so ansehe, dann weiß ich nicht, ob es Ihnen wirklich um die Interessen der Ostdeutschen geht oder vielleicht doch eher um die Wahlen in Thüringen. Sie stellen den Ladenhüter „Freiheitszone“ wieder ins parlamentarische Schaufenster und hoffen jetzt, dass Ihr Marketing wirkt. Dabei hat das schon bei der Bayern-Wahl nicht geklappt. Da wollte die FDP nämlich auch schon die Freiheitszone einführen. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP-Fraktion, in Ihrem Antrag nehmen Sie die ostdeutsche Gründerszene in den Blick. Das ist schon mal gut, und dagegen ist auch nichts einzuwenden. Nur finde ich das Instrument der sogenannten Freiheitszone, mit dem Sie die Innovationskultur im Osten fördern wollen, fragwürdig; denn Ostdeutschland leidet noch immer unter den Folgen der Politik der Deregulierung nach der Friedlichen Revolution. Das Ergebnis ist: Es gibt auch heute noch deutliche Unterschiede im Lohnniveau. Wenn man den Antrag der FDP so liest, möchte man meinen, der Osten sei wirtschaftlich unterentwickelt und ohne Perspektiven. Aber das Gegenteil ist der Fall. Unser Standbein sind die innovativen kleinen und mittelständischen Betriebe, die sich häufig spezialisiert haben und in so mancher Nische auch Weltmarktführer sind. In meinem Bundesland Thüringen arbeitet der Wirtschaftsminister Wolfgang Tiefensee erfolgreich daran, alles dafür zu tun, dass sich innovative Ideen zu vielversprechenden Unternehmen entwickeln. ({1}) Das Ziel des Wirtschaftsministers ist es, Thüringen zum gründerfreundlichsten Bundesland zu machen. Die Weichen dafür sind gelegt. So fördert das Land Thüringen Unternehmensgründungen finanziell durch die Thüringer Gründerprämie und Mikrokredite. Thüringen verfügt mit dem ThEx über ein deutschlandweit einmaliges Beratungsangebot für Existenzgründungen. So veranstaltet das ThEx zum Beispiel auch eine Roadshow für Unternehmensnachfolge und unterstützt dabei interessierte Gründerinnen und Gründer durch Nachfolgelotsen dabei, die Unternehmensnachfolge zu bewerkstelligen. ({2}) Die Ergebnisse können sich sehen lassen. Erst kürzlich, im Frühjahr, besuchte ich in meiner Heimatstadt Gera die ad hoc gaming GmbH, die 2017 gegründet wurde und sich mittlerweile zu einem E-Sport-Zentrum in Thüringen mit einer eigenen Mannschaft entwickelt hat. Das ist schon eine Erfolgsgeschichte, aber auch kein Einzelbeispiel. In den letzten 30 Jahren hat sich Ostdeutschland in wirtschaftlicher Hinsicht sehr positiv entwickelt; das möchte ich festhalten. Nach dem Zusammenbruch der DDR kam es peu à peu zur Angleichung der Wirtschaftskraft und zum Aufbau einer wettbewerbsfähigen Unternehmenslandschaft. Dabei haben die Struktur- und Regionalförderung sowie zahlreiche Förderprogramme des Bundes natürlich einen wichtigen Beitrag geleistet; das wurde schon ausgeführt. Natürlich ist aber auch der Verlust der industriellen Entwicklungsbasis nach der Wende immer noch spürbar. Aber der Strukturwandel, den die Ostdeutschen schon vor 30 Jahren durchmachen mussten, findet verzögert nun auch in anderen Teilen der Bundesrepublik statt. Klar ist dabei Wirtschaftsförderung essenziell. Aber gerade mit Blick auf die demografischen Aspekte braucht es eben auch auf anderen Feldern Unterstützung für strukturschwache Regionen, von denen viele in Ostdeutschland liegen, gerade auch abseits der großen Städte. ({3}) Ganz konkret geht es um eine gute Verkehrsinfrastruktur, komfortablen ÖPNV, schnelles Internet und Gesundheitsversorgung, gute Wohn- und Arbeitsbedingungen, bedarfsgerechte Kinderbetreuung und ausreichend Freizeitangebote. Die Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ hat vor der Sommerpause die Ergebnisse ihrer Arbeit vorgelegt. Die Bundesregierung hat daraus zahlreiche Maßnahmen abgeleitet, die nun in die Umsetzung gehen. Für besonders wichtig halte ich dabei die Stärkung des zivilgesellschaftlichen Engagements; denn gerade das ist der Kitt unserer Gesellschaft. ({4}) Aber wenn der Osten zukünftig wirtschaftlich mithalten soll, braucht es einen schnellen flächendeckenden Ausbau von Glasfaser-Breitband und Mobilfunk sowie eine bevorzugte Ansiedlung von Behörden und Forschungseinrichtungen. Wer sich ernsthaft mit den Problemen Ostdeutschlands auseinandersetzt, der weiß, Herr Kemmerich, dass im 30. Jahr nach der deutschen Einheit immer noch enorme Ost-West-Unterschiede da sind: bei den Löhnen, bei den Renten und bei den Vermögen. Deswegen setzen wir, die SPD, uns dafür ein, dass es eine flächendeckende Tarifbindung gibt und auch eine Grundrente, die einem langen Arbeitsleben Respekt zollt. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin, Ihre Zeit ist deutlich überschritten.

Elisabeth Kaiser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluss. – Ich möchte noch sagen: Der Osten wird im Wettbewerb um Fachkräfte nur mithalten können, wenn es auch bei uns gute Arbeitsbedingungen und faire Löhne gibt. Arbeiten Sie lieber mit daran, dass wir gleichwertige Lebensverhältnisse haben, anstatt hier Freiheitszonen vorzuschlagen! Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Elisabeth Kaiser. – Ich schließe die wirklich spannende Aussprache.

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin mir sicher, dass sich an der Frage, wie wir mit Pflege in den nächsten Jahren in Deutschland umgehen, am Ende des Tages bemisst, wie menschlich unsere Gesellschaft bleibt. Es geht um die wachsende Zahl von pflegebedürftigen Menschen in diesem Land, es geht um die Angehörigen – wir werden morgen ein weiteres wichtiges Gesetz, das Angehörigen-Entlastungsgesetz, auf den Weg bringen –, es geht aber nicht zuletzt auch um die Menschen, die jeden Tag in der Pflege arbeiten, um die Pflegerinnen und Pfleger in diesem Land. Diese Menschen haben nicht nur Respekt und Anerkennung verdient; sie brauchen auch bessere Löhne und Arbeitsbedingungen, und darum geht es heute. ({0}) Ich habe wie viele hier im Haus als Abgeordneter in meinem Wahlkreis einmal für einen Tag ein Praktikum in einer Pflegeeinrichtung gemacht. Ich bin da morgens hingekommen, und dann fragte mich die Pflegedienstleiterin, ob ich in meinem Leben schon einmal mit demenzkranken Menschen zu tun gehabt habe. Ich habe dann mit ein bisschen Stolz gesagt: Ja, in meinem Zivildienst vor vielen Jahren habe ich Menschen, die dement waren, zu Hause besucht und versucht sie zu unterstützen. – Da sagte die Pflegedienstleiterin: Dann haben Sie ja noch die einfacheren Fälle in den Familien kennengelernt. Wir haben hier, in der stationären Einrichtung, die schwierigen Fälle. – Ich will hier offen bekennen: Ich war nach einem halben Tag Praktikum ziemlich, sagen wir, gestresst, weil es sehr herausfordernd ist, mit Menschen zu arbeiten, deren Persönlichkeit sich tatsächlich schwer verändert hat, die zum Teil sehr aggressiv sind, obwohl sie nichts dafür können. Aber, meine Damen und Herren, die Pflegekräfte in diesem Land, die machen das nicht als Tagespraktikum, die machen das jeden Tag. Deshalb ist es Zeit, dass wir aufhören, einfach nur darüber zu reden, und stattdessen jetzt handeln und dafür sorgen, dass diese Menschen bessere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen bekommen. Das ist das Gebot der Stunde. ({1}) Wir haben als Bundesregierung im Rahmen der Konzertierten Aktion Pflege dafür die Voraussetzungen geschaffen. Mein Kollege Jens Spahn, meine Kollegin Franziska Giffey und ich haben alle, die in dieser Branche etwas zu sagen haben – Wohlfahrtsverbände, Gewerkschaften, Arbeitgeber, Wissenschaft, Bund und Länder –, an einen Tisch gebracht und haben in vielen Bereichen Lösungen erarbeitet, auch bei der Frage der Löhne und Gehälter. Genau das setzen wir mit diesem Gesetzentwurf, der heute auf den Weg gebracht wird, um. Worum geht es? Der Grund dafür, dass vor allen Dingen in der Altenpflege so schlecht bezahlt wird, liegt nicht darin, dass das so unwichtig ist, was Menschen da tun, sondern schlicht und ergreifend in der Tatsache, dass nur gut 20 Prozent der Altenpflegerinnen und Altenpfleger – wir können aber getrost bei der weiblichen Form bleiben; es sind überwiegend Frauen – tarifgebunden sind. Noch immer gilt: Wo ein Tarifvertrag ist, sind die Arbeits- und Lohnbedingungen in der Regel besser als in Bereichen, in denen es keinen Tarifvertrag gibt. ({2}) Wenn ich mit Pflegekräften rede, dann sagen die mir: Hört auf, über unsere Branche und unseren Beruf so schlecht zu reden. Das ist nicht das Hinterletzte in dieser Gesellschaft. Wir wollen nicht, dass elendig über unseren Beruf geredet wird. Aber ihr müsst als Politik etwas dafür tun, dass es bessere Lohn- und Gehaltsbedingungen gibt. – Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf schaffen wir jetzt die Voraussetzungen dafür. Wenn ein Tarifvertrag Pflege zustande kommt – Gott sei Dank hat sich endlich ein Arbeitgeberverband gegründet, der bereit ist, entsprechende Tarifverhandlungen mit den Gewerkschaften zu führen –, ermöglicht dieses Gesetz, dass ich diesen Tarifvertrag als Arbeitsminister für ganz Deutschland als allgemeinverbindlich erkläre. Das führt zu besseren Löhnen und Arbeitsbedingungen in der Pflege, meine Damen und Herren. ({3}) Aber selbst wenn kein Tarifvertrag zustande käme – wir als Politik können keinen erfinden; ich betone: unser Ziel in der sozialen Marktwirtschaft bleibt, dass Arbeitgeber und Gewerkschaften die Löhne ausverhandeln –, haben wir für diesen Fall einen zweiten Weg im Gesetzentwurf verankert, damit es zu besseren Löhnen und Arbeitsbedingungen kommen kann. Wir dürfen nicht wieder fünf oder zehn Jahre warten. Wenn kein Tarifvertrag zustande kommt, werden wir im nächsten Jahr gesetzliche Lohnuntergrenzen einführen, und zwar einen Pflegemindestlohn nicht nur für Hilfskräfte, sondern auch für qualifizierte Pflegekräfte in Deutschland, meine Damen und Herren. ({4}) Es geht um Fachkräfte, die wir dringend brauchen, es geht um die Attraktivität dieses Berufs, es geht, wie gesagt, am Ende des Tages auch darum, dass diese Gesellschaft menschlich bleibt. Jeder von uns kann pflegebedürftig werden. Das heißt, jeder muss sich selbst fragen, ob er dann gut versorgt wird. Da brauchen wir Menschen, die anständig bezahlt werden. Dafür sorgen wir als Bundesregierung mit diesem Gesetzentwurf. Ich bitte um Ihre Unterstützung im parlamentarischen Verfahren. Herzlichen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Hubertus Heil. – Nächster Redner: Uwe Witt für die AfD-Fraktion. ({0})

Uwe Witt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004937, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Geschätzte Gäste des Hohen Hauses! Lassen Sie uns zunächst einen Blick auf den Istzustand in der Pflege werfen. Zurzeit sind 1,6 Millionen Arbeitnehmer in der Pflege tätig. ({0}) Davon sind lediglich 65 000 Pflegekräfte aus dem Ausland; das entspricht 4 Prozent. Wie viele Stellen in der Pflege sind denn tatsächlich unbesetzt? Nach Aussage der Bundesagentur für Arbeit waren im Mai 2019 23 900 Stellen im Bereich der Altenpflege sowie 15 700 Stellen in der Krankenpflege nicht besetzt. Welche Überraschung! Lediglich 40 000 Stellen sind vakant; das entspricht einer personellen Unterdeckung von lediglich 2,5 Prozent. ({1}) Nach Ihrer Statistik, werter Arbeitsminister Heil, hatten wir im August 2,3 Millionen Arbeitslose – tatsächlich sogar 3,2 Millionen, wie Sie alle wissen, wenn man die von Ihnen herausgerechneten Arbeitslosen wieder hereinrechnet. Dass es Ihnen seit Jahren nicht gelingt, diese 40 000 unbesetzten Stellen in der Pflege aus 3,2 Millionen Arbeitslosen zu besetzen, ist schon schlimm genug. Aber dass weltweit, zum Beispiel in Mexiko und Vietnam, Pflegekräfteanwerbeaktionen auf Kosten der Steuerzahler gemacht werden und Herr Heil weiterhin seine Sandkastenspiele eines fiktiven Arbeitsmarktes spielt, setzt dem Ganzen die Krone auf. ({2}) Zu Ihrem Gesetzentwurf. Sie wollen als Staat zum wiederholten Male einen Eingriff in die soziale Marktwirtschaft vornehmen. ({3}) Das hat ja mittlerweile System: Zuerst schaffen Sie untragbare wirtschaftliche Zustände für Unternehmer und Beschäftigte, und dann spielen Sie sich als Retter auf, um die von Ihnen verursachten Missstände zu beheben. In der Pflege arbeiten, wie Sie richtig gesagt haben, 20 Prozent aller Pflegekräfte unter tariflich geregelten Bedingungen. Oder anders ausgedrückt: 80 Prozent der Betriebe sind nicht tarifgebunden, und die Werbevereine der SPD, die Gewerkschaften, sind außen vor. Dieser Zustand ist natürlich für die stark angeschlagene SPD untragbar. Also möchte Genosse Hubertus Heil einen branchenweiten Tarifvertrag im Pflegebereich installieren und der Gewerkschaft Verdi die Tür öffnen. Sollten die Unternehmen dies nicht wollen, wird im zweiten Akt dieser Farce gedroht: Gibt es keinen brancheneinheitlichen Tarifvertrag, wird Herr Heil eine Kommission einsetzen, ({4}) die höhere Mindestlöhne diktiert. Dazu passt auch wunderbar Ihr Vorschlag, ({5}) den wir gestern im Ausschuss diskutiert haben, Beiträge zu Gewerkschaften zukünftig steuerlich komplett absetzen zu können. ({6}) Meine Damen und Herren, wenn das in einem sozialistischen Dritte-Welt-Land passieren würde – aber hier, mitten in Europa, in Deutschland? Da würde sich Ludwig Erhard im Grabe umdrehen. ({7}) Unstrittig ist, dass, um den Herausforderungen der Zukunft in der Pflege Rechnung tragen zu können, Veränderungen im Pflegebereich erforderlich sind. Wir müssen, wie es andere Wirtschaftsnationen, wie zum Beispiel Japan, seit Langem vormachen, Digitalisierung und Robotik einsetzen, insbesondere um die körperliche Belastung der Pflegekräfte zu reduzieren. ({8}) Denn 2 Euro mehr Stundenlohn nutzen ihnen nichts, wenn sie mit 50 aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in der Lage sind, ihre Arbeit auszuführen. ({9}) Kommen wir zu den Kosten Ihrer Gewerkschaftshilfeaktion. Die Deutsche Stiftung Patientenschutz rechnet mit 5 Milliarden Euro Mehrausgaben durch Ihr Gesetz, Herr Minister Heil, aber Sie handeln getreu dem sozialistischen Motto: ({10}) Geld ausgeben können wir, bezahlen müssen andere. – Diese anderen sind zum einen die Patienten und zum anderen der Steuerzahler; denn zurzeit ist bereits mehr als ein Drittel der Heimbewohner auf staatliche Unterstützung angewiesen. Eine Erläuterung zur Finanzierung Ihres Gesetzesvorhabens bleiben Sie leider schuldig. Natürlich sollen die Arbeitnehmer in der Pflege eine ihrer außerordentlichen Leistung entsprechende Entlohnung erhalten. ({11}) Aber dies geht auch durch Umstrukturierung von Arbeitsabläufen und den vermehrten Einsatz von Digitalisierung und Robotik. Ein weiterer Baustein ist die verstärkte Förderung der heimischen Pflege. Dazu kommt, dass eine Pflegekraft rund ein Drittel ihrer Arbeitszeit allein für die Dokumentation der Pflegetätigkeiten und das Ausfüllen von Formularen verwenden muss. Auch hier muss eine drastische Reduzierung erfolgen. Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. ({12}) Bei Umsetzung der vorgenannten Maßnahmen wäre nicht nur eine bessere Entlohnung möglich, sondern auch die personelle Unterdeckung im Pflegebereich wäre kein Thema mehr. Aber wozu innovativ und kreativ sein? ({13}) Dafür bietet Ihr Sozialismus, werte Kolleginnen und Kollegen der SPD, schon lange keinen Raum mehr. Danke schön. ({14})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Uwe Witt. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Peter Weiß. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In allen Umfragen spielt das Thema Pflege für die deutschen Mitbürgerinnen und Mitbürger eine ganz große Rolle. Es steht an der Spitze der Themen, die die Menschen bewegen, weil sie sehen, wie es den eigenen pflegebedürftigen Angehörigen geht, und weil sie sich die Frage stellen: Wie wird es mir einmal ergehen? Eine gute Pflege hängt an vielem. Es hängt an Menschen – Männern und Frauen –, die bereit sind, in diesen Beruf zu gehen. Deswegen begrüße ich heute auf der Tribüne besonders einen Ausbildungsjahrgang einer Pflegeschule, drittes Ausbildungsjahr. Herzlich willkommen bei uns im Deutschen Bundestag! ({0}) Es hängt an guten Arbeitsbedingungen. Es hängt an guter Ausbildung, auch an guten und ausreichend vorhandenen Praxisanleitern. Aber es hängt natürlich auch an der Frage: Was ist uns als Gesellschaft die Pflege wirklich wert? Sorgen wir dafür, dass Menschen, die sich bereit erklären, in der Pflege zu arbeiten, einen guten Lohn bekommen? Deswegen beraten wir heute ein Gesetz, das eines sagt: Wir wollen, dass junge Menschen sich für die Pflege entscheiden, und wir wollen, dass sie einen guten Lohn für ihre in der Tat harte und fordernde Arbeit erhalten. – Darum geht es. ({1}) In der Tat: Lohnfindung ist nicht Aufgabe des Staates, sondern der Sozialpartner. Mit diesem Gesetz bewegen wir uns im Bereich dessen, was die soziale Marktwirtschaft ausmacht. Wir wollen sozialpartnerschaftliche Lösungen ermöglichen, die für gute Löhne und für gute Arbeitsbedingungen sorgen. ({2}) Wir haben bereits seit 2008 das Instrument, durch eine paritätisch besetzte Kommission – vier Arbeitgebervertreter, vier Arbeitnehmervertreter – Mindestlöhne in der Pflege festzulegen. Diese Kommission hat bereits mehrmals einen Pflegemindestlohn festgelegt. Das Interessante ist: Trotz der divergierenden Auffassungen, die es dort gibt, wurde der Beschluss jedes Mal mit acht zu null gefasst. Eine großartige Leistung, die Sozialpartnerschaft funktioniert. Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter finden gemeinsam zu einer Lösung beim Pflegemindestlohn. Die neue Kommission ist gerade berufen worden. Am Montag kommender Woche findet die erste Sitzung statt. Wir fordern die Pflegemindestlohnkommission auf, wieder sozialpartnerschaftlich eine gute Lösung, was Mindestlöhne in der Pflege anbelangt, zu finden, und ermuntern sie dazu ausdrücklich. ({3}) Das Erste, was wir mit diesem Gesetz ändern, ist: Statt ständig neu zu berufen, schlagen wir vor, die acht Personen dieser Mindestlohnkommission jeweils für eine Amtszeit von fünf Jahren zu berufen, also eine dauerhafte Mindestlohnkommission einzusetzen. Die nächste Berufung kommt nach fünf Jahren. Ich finde, das ist eine vernünftige Lösung. Das Zweite und natürlich Wichtigere ist: Schön wäre es, wenn wir im Bereich der Pflege mehr Tarifverträge und nach Möglichkeit einen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag hätten, der für alle Stufen – Fachkräfte, angelernte Kräfte, Hilfskräfte – Gültigkeit besitzt. ({4}) Nach wie vor ist nämlich die Altenpflege, was die Belohnung anbelangt, ein bisschen hintendran; im Schnitt 8 Prozent Unterschied zur Krankenpflege. Dass die Altenpflege genauso gut vergütet wird wie die Krankenpflege, müsste doch ein Ziel sein, das wir schaffen können. Ich finde, darauf hat sie einen Anspruch. ({5}) Wir haben ein Spezialproblem, das wir schon bei der Besetzung der Pflegemindestlohnkommission hatten, nämlich dass wir zwei große kirchliche – katholische und evangelische – Träger, Caritas und Diakonie, haben, die zwar gute Löhne zahlen, die aber nicht in klassischen Tarifverhandlungen verhandeln, sondern in eigenen Tarifkommissionen, die paritätisch besetzt sind, sogenannter Dritter Weg. Natürlich kann man das nicht außer Acht lassen. Deswegen regeln wir mit diesem Gesetz, dass diese paritätisch besetzten Kommissionen, die eigene Tarifvertragssysteme verhandeln, an dem Zustandekommen beteiligt werden durch ein Anhörungsrecht, das wir ihnen einräumen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, das Arbeitnehmer-Entsendegesetz, das wir jetzt reformieren, macht nur eines: Es schafft einen Ordnungsrahmen, in dem ein allgemeinverbindlicher Tarifvertrag möglich wird. Wir schaffen ihn nicht. Wenn wir dieses Gesetz verabschiedet haben, kommt es auf die Arbeitgeber und auf die Gewerkschaften in der Pflege an, ob sie sich entschließen, einen Tarifvertrag zu verhandeln, der auch die Kriterien erfüllt, die für eine Allgemeinverbindlichkeit notwendig sind. Ich finde, für eine gute Pflege haben wir Politiker jetzt unsere Hausaufgaben zu machen, nämlich einen Rahmen zu schaffen. Wir fordern die Arbeitgeber und die Gewerkschaften in der Pflege auf, diesen Rahmen für gute Löhne und für gute Pflege zu nutzen. Vielen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Peter Weiß. – Nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion Nicole Westig. ({0})

Nicole Westig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004931, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Pflegende verdienen eine bessere, eine angemessene Vergütung. ({0}) Insbesondere bei den Löhnen in der Altenpflege herrscht Nachholbedarf; wir haben es gerade schon gehört. Dabei sind diese bereits gestiegen, und zwar in den Jahren 2015 und 2018 um mehr als 12 Prozent im Vergleich zu rund 7 Prozent in der Gesamtwirtschaft. In diese richtige Entwicklung will die Bundesregierung nun mit einem allgemeinverbindlichen Tarifvertrag eingreifen. ({1}) Damit ich nicht missverstanden werde: Wir Freie Demokraten sind nicht gegen Allgemeinverbindlichkeitserklärungen. ({2}) Doch dafür müssen die Voraussetzungen stimmen. Dieser Gesetzentwurf aber ist tarif- und verfassungsrechtlich fragwürdig. ({3}) Die Tarifbindung liegt nur bei 20 Prozent. Weniger als 10 Prozent der Pflegenden in Deutschland sind gewerkschaftlich organisiert. Die neugegründete BVAP spricht für weniger als die Hälfte der Pflegeeinrichtungen. Verhandlungen der BVAP mit Verdi sind deshalb nicht repräsentativ. ({4}) Den Kirchen – der Kollege Weiß hat es erwähnt – eine Art Vetorecht über das Verhandlungsergebnis einzuräumen, wäre ein Novum in der deutschen Tarifgeschichte. ({5}) All das würde einen eklatanten Eingriff in die Tarifautonomie bedeuten, und dieser ist mit der FDP-Fraktion nicht zu machen. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Debatte um Pflegelöhne wird beherrscht von der Unterstellung, Löhne würden bewusst und mit böser Absicht gedrückt. Fakt ist: Der Arbeitsmarkt ist leergefegt. Es herrscht extreme Konkurrenz um die wenigen Fachkräfte. In dieser Situation kann sich keine Pflegeeinrichtung wirklich leisten, Lohndumping zu betreiben. Deswegen steigen die Löhne ja auch langsam, aber mit ihnen leider auch die Eigenanteile der Bewohner. Aber dieses Problem, Herr Minister, geht der Gesetzentwurf überhaupt nicht an. Viel schlimmer: Er drückt sich regelrecht um die Frage der Refinanzierung. ({7}) Dabei hat ein eigens vom Ministerium in Auftrag gegebenes Gutachten bei einem allgemeinverbindlichen Tarifvertrag Mehrkosten von – je nach Szenario – 1,4 bis 5,2 Milliarden Euro errechnet. Wenn diese Zahlen bekannt sind, warum spricht der Gesetzentwurf dann von nicht quantifizierbaren Kosten? ({8}) Entweder die GroKo traut ihren eigenen Experten nicht, oder sie traut sich nicht, den Bürgerinnen und Bürgern reinen Wein einzuschenken. ({9}) Die Regierung betont einerseits, Familien vor Überforderung bei den Eigenanteilen schützen zu wollen; das ist richtig und gut. Andererseits will sie den Anteil der Sozialbeiträge zu Recht unter 40 Prozent halten. Jetzt werden den überbelasteten Pflegenden bessere Löhne in Aussicht gestellt, ohne auch nur mit einer Silbe zu erklären, wie diese refinanziert werden sollen. Gleichzeitig höhere Löhne, Entlastung bei den Eigenanteilen und stabile Beitragssätze erreichen zu wollen, bedeutet die Quadratur des Kreises. ({10}) Die Regierung muss erklären, wie das funktionieren soll; sie tut es allerdings nicht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Menschen in der Pflege arbeiten hart und vielfach am Rande ihrer Kräfte.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Entschuldigung, Frau Kollegin, erlauben Sie eine Frage oder Bemerkung?

Nicole Westig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004931, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, ich möchte jetzt zum Ende kommen. – Auch wir Freie Demokraten wollen ihre Löhne verbessern. Ein Pflegelöhneverbesserungsgesetz muss jedoch die Tarifautonomie wahren und mit einem schlüssigen Finanzierungskonzept hinterlegt sein. ({0}) Pflegende und Pflegebedürftige dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Vielen Dank. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Kollegin Westig. – Das Wort zu einer Kurzintervention hat Frau Baehrens.

Heike Baehrens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Kollegin Westig, zum einen möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass sich die Zahl, die Sie vorhin genannt haben – 12 Prozent –, auf die Preissteigerungen in der Pflege bezieht. Das waren keine Tarifsteigerungen, im Gegenteil: Das Personal hatte in diesem Zeitraum wesentlich niedrigere Tarifsteigerungen zu verzeichnen. Die Pflege ist seit Mitte der 90er-Jahre dem Wettbewerb ausgesetzt. Das hat genau zu dem geführt, was heute der Fall ist, nämlich Preiskampf, Personaleinsparung und Arbeitsverdichtung – all das ist für das Personal unerträglich. 25 Jahre Wettbewerb in der Pflege zeigen: Im Bereich der Daseinsvorsorge für die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land richtet es der Markt eben nicht. ({0}) Vielmehr hat er dazu geführt, dass wir heute in Deutschland Gehaltsunterschiede in der Altenpflege bei gleicher Qualifikation von bis zu 800 Euro haben. Damit macht man das Ansehen der Pflegeberufe in diesem Land kaputt. Deshalb braucht es ordentliche tarifliche Rahmenbedingungen. ({1}) Meine Frage an Sie wäre gewesen: Wie rechtfertigen Sie es, die Sicherung einer würdevollen Pflege auch nach einer solchen Bilanz weiterhin dem freien Markt überlassen zu wollen? ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Frau Westig, Sie haben jetzt die Möglichkeit, zu antworten.

Nicole Westig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004931, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Frau Kollegin, ich glaube nicht, dass wir in der aktuellen Situation auf die privaten Anbieter in der Pflege verzichten können. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Moment, jetzt hat sie die Möglichkeit, zu reden.

Nicole Westig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004931, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich bin regelmäßig in den verschiedensten Einrichtungen unterwegs. ({0}) Ich erlebe Arbeitgeber, die sich um die Pflegekräfte bemühen, die in Sachen Vereinbarkeit von Familie und Beruf alles möglich machen und die auch gute Löhne zahlen wollen. Aber wenn die guten Löhne gezahlt werden sollen, dann muss man diesen Leuten auch erlauben, Gewinne zu erzielen. Die Diskussion, die darüber geführt wird, geht auch am Thema vorbei. Der Gesundheitsminister spricht davon, man müsse die Gewinne in der Pflege begrenzen. Es gibt schwarze Schafe, aber in der Regel liegen die Gewinnmargen bei bis zu 4 Prozent. Davon sollen Investitionen getätigt, gute Löhne bezahlt werden und vieles Weitere. ({1}) Vor diesem Hintergrund glaube ich nicht, dass es hilfreich wäre, alles zu verstaatlichen, um eine gute Pflege zu gewährleisten. Das entspricht nicht meiner Erfahrung. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Westig. Vielen Dank, Frau Baehrens – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Susanne Ferschl. ({0})

Susanne Ferschl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004715, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister, es kommt ja nicht allzu oft vor, dass ich Sie lobe; also genießen Sie den seltenen Augenblick. ({0}) Die Linke begrüßt ausdrücklich die Gesetzesinitiative mit dem Ziel, tarifliche Löhne verbindlich zu machen. ({1}) Es gibt in der Pflege starke Lohnunterschiede: regional und auch zwischen ambulanter und stationärer Pflege. Wir brauchen aber eine einheitliche tarifliche Bezahlung und gute Arbeitsbedingungen für alle Pflegekräfte. ({2}) Genau daran muss sich das Gesetz auch messen lassen. Wir als Linke haben immer gesagt: Mindestlöhne sind nur die zweitbeste Lösung, besser sind tarifliche Löhne. Die verhandelt Verdi gerade für die Pflege. Diese müssen dann über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz auch verbindlich gemacht werden. ({3}) Das wäre ein mutiger Schritt, um die Tarifbindung in diesem Bereich wirklich zu stärken. Die spannende Frage wird sein: Hat die Bundesregierung diesen Mut? Die privaten Arbeitgeber – wir haben es hier wieder gehört – und Rainer Brüderle von der FDP allen voran speien Gift und Galle und sprechen von „Zwangstarifverträgen“ und „marktfernen Regulierungsfantasien“. Auch die AfD hat heute bewiesen, auf wessen Seite sie sich schlägt: jedenfalls nicht auf die Seite der Pflegenden. Davon dürfen Sie sich nicht beeindrucken lassen. ({4}) Dieser Gesetzentwurf lässt allerdings eine Frage offen: die Finanzierung! Ihr Kollege Gesundheitsminister hat ein wenig Licht ins Dunkel gebracht, weil er gesagt hat: Die flächendeckenden Tariflöhne werden sich auf die Eigenanteile in der Pflege auswirken. – Diese Eigenanteile betragen aber zurzeit im Durchschnitt schon nahezu 2 000 Euro pro Monat für die Pflegenden. Das kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein. ({5}) Das geplante Angehörigenentlastungsgesetz wird Verbesserungen bringen; das ist richtig. Aber die Bundesregierung bleibt dabei und schickt Menschen in hohem Alter weiterhin aufs Amt. Das ist nicht zu akzeptieren! ({6}) Damit spielt man nämlich die Interessen der Pflegekräfte gegen die Interessen der Pflegebedürftigen aus. Das ist zumindest mit der Linken nicht zu machen. ({7}) Dabei gibt es schnelle Lösungen, um die Pflegeversicherung zu entlasten. Zum Ersten: den Pflegevorsorgefonds auflösen. Zum Zweiten: Die Krankenkassen übernehmen auch die Finanzierung der medizinischen Behandlungspflege in den Pflegeheimen. ({8}) Durch diese milliardenschwere Entlastung kann man die Eigenanteile nicht nur deckeln, sondern sofort senken. Das wäre doch nötig. ({9}) Insgesamt bleibt es dabei: Wir brauchen eine solidarische Gesundheits- und Pflegeversicherung, so wie sie Die Linke schon seit Langem fordert. ({10}) Pflege geht alle an; das ist heute schon mehrfach gesagt worden. Jeder von uns kann pflegebedürftig werden, und jeder hat auch in die Pflegeversicherung einzubezahlen. Punkt! ({11}) Hier muss auch die angekündigte Reform der Pflegeversicherung ansetzen. Ich bin allerdings etwas skeptisch, weil sich diese Bundesregierung bislang noch nicht durch allzu große Würfe ausgezeichnet hat. ({12}) Pflege muss bezahlbar sein; das ist auch Aufgabe des Staates. Mittlerweile ist es aber so, dass fast die Hälfte aller Pflegeeinrichtungen in privater Hand sind. Es ist doch so: Um Gewinne zu erwirtschaften, müssen entweder die Löhne gedrückt werden oder die Qualität der Pflege leidet – im schlimmsten Fall sogar beides. Es gab doch nicht umsonst diese Skandale in den Altenpflegeeinrichtungen. Die haben es letztendlich doch bewiesen. Gewinnorientierte Unternehmen haben in der Pflege nichts verloren, Menschen vor Profite! ({13}) Für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen braucht es tarifliche Regelungen. Das haben die Beschäftigten in der Pflege verdient; denn mehr von ihnen ist besser für alle. Vielen Dank. ({14})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Susanne Ferschl. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Beate Müller-Gemmeke. ({0})

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste! Im Gesetzentwurf steht als Ziel, dass die Arbeitsbedingungen in der Pflege besser werden müssen, damit in Zukunft ausreichend Pflegekräfte zur Verfügung stehen. Das ist nicht falsch, und doch ist mir das zu funktional gedacht. Wir haben einen anderen Fokus. Uns geht es in dieser Debatte in erster Linie um die Aufwertung der Pflege, um Anerkennung und Wertschätzung. ({0}) Pflege ist ein schöner Beruf. Die Beschäftigten machen eine gesellschaftlich wertvolle Arbeit, die verantwortungsvoll ist, die viel Empathie benötigt, die körperlich schwer und emotional häufig belastend ist. Dafür ist die Bezahlung – später auch die Rente – viel zu niedrig. Genau das wollen wir ändern: Die Pflege muss in der Gesellschaft einen höheren Stellenwert bekommen, und zwar spürbar, auch mit einer angemessenen Bezahlung. Die Pflegekräfte haben einfach bessere Löhne verdient. ({1}) Deshalb fordern wir Grüne schon lange einen Tarifvertrag. Weil es in der Pflege keinen Wettbewerb über die Löhne geben darf, soll dieser Tarifvertrag für alle in der Pflegebranche für allgemeinverbindlich erklärt werden, auch für Pflegekräfte aus dem Ausland. Jetzt wissen wir aber alle, dass die Strukturen in dieser Branche nicht so einfach sind: Es gibt kommunale Träger, die freien Wohlfahrtsverbände, die Kirche mit eigenen Entgeltregelungen, und es gibt noch Private, die Tarifverträge ablehnen und sich bereits gegen das Gesetz in Stellung bringen. Das können wir – das möchte ich ganz deutlich sagen – gerade jetzt in Zeiten des Pflegenotstands überhaupt nicht nachvollziehen. ({2}) Deshalb rechne ich es Verdi, den Kirchen, den freien Wohlfahrtsverbänden hoch an, dass sie lange, sehr lange Zeit miteinander geredet und auch gerungen haben mit dem Ziel, bessere Löhne auf den Weg zu bringen. Dafür braucht es jetzt gesetzliche Regelungen. Die sind wichtig, und deshalb unterstützen auch wir das Gesetz. ({3}) Das neue Verfahren für eine Tarifvertragslösung im Arbeitnehmer-Entsendegesetz ist gut. Die Kirchen werden gestärkt, ihre Anliegen werden ausreichend berücksichtigt. Empfehlungen durch die Pflegekommission kann es weiterhin geben. Ein Tarifvertrag aber hat Vorrang – das ist uns wichtig –, und deshalb begrüßen wir diese gesetzliche Klarstellung ganz ausdrücklich. ({4}) Wir haben aber auch Kritik. Erstens. Bessere Löhne bedeuten natürlich auch höhere Kosten für die Pflegeversicherung. Darauf wird ja auch im Gesetz hingewiesen, und es wurde eben auch öfters angesprochen. Die Frage der Finanzierung bleibt aber noch immer offen, und die Finanzierung darf nicht zulasten der Pflegebedürftigen gehen. Hier müssen Sie also noch liefern. ({5}) Zweitens. Bessere Löhne sind wichtig, aber es braucht mehr als nur mehr Geld, nämlich auch gute Arbeitsbedingungen. Die Pflege braucht eine Personalausstattung, die sich am Pflegebedarf der Menschen ausrichtet. Statt Personaluntergrenzen brauchen wir eine realistische Personalbemessung. Nur so entstehen bessere Arbeitsbedingungen mit genügend Zeit für die pflegebedürftigen Menschen, und zwar ohne Stress und Hektik. ({6}) Wir unterstützen trotzdem das Gesetz – auch gegen Kritik –, und das werden wir auch in der Anhörung deutlich machen. Denn wir wollen – ich sage es noch mal – den Pflegeberuf aufwerten und attraktiver machen, und das funktioniert eben nur mit Anerkennung und Wertschätzung. Das muss sich auch auf dem Lohnzettel widerspiegeln, und zwar für alle Pflegekräfte. Deshalb brauchen wir einen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag. Vielen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Antje Lezius für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Antje Lezius (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004341, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit Mitte des 20. Jahrhunderts haben wir das große Glück, dass immer mehr Menschen in Deutschland ein hohes Alter erreichen. Wir profitieren von unserem steigenden Wohlstand, vom medizinischen Fortschritt, von besseren Arbeitsbedingungen und einer gesünderen Lebensweise. Vielen von uns werden Jahre, wenn nicht Jahrzehnte geschenkt. Das bedeutet jedoch auch, dass wir uns in allen Bereichen diesen gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen anpassen müssen. Ein höheres Alter bringt nicht nur Ruhe und Gelassenheit und im besten Falle auch etwas Weisheit mit sich, sondern oft auch körperliche und geistige Einschränkungen. Wir sind auf Unterstützung angewiesen, auf helfende Hände. Sie ermöglichen uns ein Leben bis ins hohe Alter. Einer Prognose des Instituts der deutschen Wirtschaft zufolge werden bis 2035 4 Millionen Menschen in Deutschland auf Pflege angewiesen sein. Im Vergleich: 2015 waren es erst rund 3 Millionen Menschen. Und das wiederum waren bereits 50 Prozent mehr als 1999. Das heißt auch: Die Zahl der Beschäftigten im Pflegesektor muss massiv zunehmen – um bis zu 150 000 in den nächsten 16 Jahren. Für die Pflege haben wir in den vergangenen Jahren viele wichtige Verbesserungen beschlossen: die Pflegestärkungsgesetze, das Gesetz zur Reform der Pflegeberufe, das Triple-Win-Programm zur Anwerbung von Arbeitskräften für den Gesundheitsbereich, seit diesem Jahr die Konzertierte Aktion Pflege. Was will die gemeinsame Aktion der Ministerien für Gesundheit, Arbeit und Soziales sowie Familie erreichen? Einen besseren Personalschlüssel, die schnellere Anwerbung ausländischer Pflegekräfte, mehr Auszubildende und Ausbildungseinrichtungen, eine angemessene Bezahlung in der gesamten Branche. Dass es bisher keinen bundesweiten Tarifvertrag in der Pflege gibt, liegt an der Struktur der Branche. Hier sind private, kommunale, freigemeinnützige und kirchliche Arbeitgeber vertreten. Mit dem nun vorliegenden Entwurf zum Pflegelöhneverbesserungsgesetz – Bundesminister Heil hat es anfangs erläutert – sollen bessere Löhne in der Pflegebranche durchgesetzt werden. Zwei Wege führen hier zum Ziel: Zum einen der allgemeinverbindliche Tarifvertrag. Die Tarifparteien schließen einen flächendeckenden Vertrag ab, den das Bundesarbeitsministerium für alle Arbeitgeber und Arbeitnehmer in der Pflege für allgemeinverbindlich erklärt. Wichtig ist, dass das kirchliche Selbstbestimmungsrecht dabei gewahrt bleibt. Vor Abschluss des Tarifvertrags müssen die kirchlichen Pflegelohn-Kommissionen angehört werden. Mindestens zwei von ihnen müssen zustimmen, damit die Tarifpartner die Ausdehnung des Vertrages auf die gesamte Branche beantragen können. Zum anderen soll über höhere Lohnuntergrenzen die Bezahlung in der Pflege insgesamt angehoben werden können; wir haben davon schon mehrfach bei den Vorrednern gehört. Die Vorschläge hierfür kommen von der paritätisch besetzten Pflegekommission, die zukünftig als ständiges Gremium etabliert und für die Dauer von fünf Jahren berufen wird – eine gute Neuerung, um die Funktionsfähigkeit der Kommission zu verbessern. Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Attraktivität eines Berufes bemisst sich nicht nur an der Bezahlung. Gerade in der Pflege bedarf es neben medizinischem Interesse auch Empathie, bedarf es Nächstenliebe, oft einer Engelsgeduld und körperlicher und seelischer Belastbarkeit. ({0}) Ich danke allen, die sich für diesen Beruf entschieden haben. Dass diese so wichtige Tätigkeit jedoch sehr unterschiedlich und häufig zu niedrig entlohnt wird, das darf nicht sein. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf gehen wir einen wichtigen Schritt hin zu einer angemessenen Vergütung in der Pflege. Vielen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Kerstin Tack das Wort. ({0})

Kerstin Tack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004173, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Arbeitsbedingungen in der Pflege zu verbessern, ist eine Aufgabe, die ganz und gar im öffentlichen Interesse liegt. Sie liegt deshalb im öffentlichen Interesse, weil wohl kaum ein Bereich so sehr im Fokus der Wahrnehmung steht; denn jede Familie, jede Person, jeder Angehörige, jeder ist betroffen – heute oder morgen. Und die Pflege ist deshalb so im Fokus, weil wir in der Pflege Bedingungen haben, die wir für nicht hilfreich halten, um die Ausübung dieses wichtigen und großartigen Berufes und dieser wichtigen Aufgabe gut und vor allem mit hinreichend vielen Fachkräften auch in der Zukunft sicherzustellen. Es ist viel dazu erforderlich, diesen Beruf attraktiv zu machen und wirklich den Wert dieses tollen Berufes in den Vordergrund zu stellen. Denn es ist eine wichtige Aufgabe, Menschen zu pflegen, sie zu begleiten in einer Lebensphase, die für die Betroffenen und die Angehörigen schwierig ist. Sie ist von allergrößter Empathie geprägt, und deshalb verdient die Pflege all unsere Anerkennung, unsere Wertschätzung, unsere Unterstützung und vor allen Dingen da unser Handeln, wo erforderlich. ({0}) Insofern ist es gut, dass wir heute mit dem Gesetz Rahmenbedingungen schaffen, damit ein Tarifvertrag, der ausgehandelt wird, auch am Ende des Tages in eine Allgemeinverbindlichkeit münden kann und damit für ganz Deutschland greift. Aber es ist auch richtig und wichtig, zu sagen: Sollte das nicht geschehen, dann wird der Gesetzgeber das über die Mindestlohnkommission machen. ({1}) Und das ist auch gut und richtig. ({2}) Zur Finanzierung, die heute mehrfach angesprochen wurde, will ich sagen: Wir haben die Frage der Finanzierung bereits geregelt. Wir haben schon in der letzten Legislatur mit dem Pflegestärkungsgesetz I – der eine oder andere mag sich erinnern – gesetzlich definiert, dass Tariflöhne bei der Aushandlung der Pflegesätze nicht als unwirtschaftlich gelten dürfen und deshalb zu refinanzieren sind. ({3}) Diese Refinanzierung, die sozusagen bereits gesetzliche Grundlage ist, ist deshalb in diesem Gesetz nicht neu und erweitert zu regeln. Vielmehr wird hier die Umsetzung bereits bestehender Gesetze erwartet. Jetzt gibt es die privaten Träger von Pflegeeinrichtungen, die sich einer Aushandlung von Tarifverträgen verweigern. Ich will hier einmal die Erwartungshaltung ganz deutlich formulieren: Wer sich jetzt – mit diesem Gesetz im Rücken – hinstellt und an den Verhandlungen nicht teilnimmt, sondern sie den Gemeinnützigen, den Kommunen und Verdi überlässt, der soll sich hinterher nicht beklagen, dass er unbeteiligt gewesen sei und einer Finanzierung skeptisch gegenüberstehe. Jetzt, mit diesem Gesetz, ist der Zeitpunkt, nicht am Spielfeldrand zu stehen und böse reinzurufen, sondern mit aufs Spielfeld zu gehen, mitzuverhandeln, Tarifverträge stark zu machen, dabei zu sein und gute Grundlagen zu schaffen. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Tack, gestatten Sie eine Frage?

Kerstin Tack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004173, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich nehme die Frage sehr, sehr gerne an. – Hier also Grundlagen zu schaffen – –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ja, das ahnte ich. Ich habe die Uhr angehalten. Dann müssen Sie jetzt auch die Frage oder Bemerkung entgegennehmen.

Kerstin Tack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004173, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ach so, Sie haben die Uhr schon angehalten. – Aber selbstverständlich.

Nicole Westig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004931, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Frau Kollegin, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Sie haben gerade gesagt, die Privaten würden sich diesen Verhandlungen verweigern, diesem neugegründeten Arbeitgeberverband nicht beitreten. ({0}) Wie erklären Sie sich das in Bezug auf das Deutsche Rote Kreuz? Verstehen Sie es als einen privaten Träger? Denn das DRK ist meines Wissens da als Erstes ausgeschieden.

Kerstin Tack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004173, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das DRK ist gar nicht erst beigetreten. Von daher: Man kann nicht ausscheiden, wenn man nicht beigetreten ist. Die Argumentation bzw. der Verweis auf andere ermöglicht aber keinem einzigen privaten Träger, zu sagen: Wir, die wir angeblich 49 Prozent aller Pflegeeinrichtungen in unserer Trägerschaft haben, verweigern uns der Ausarbeitung eines Tarifvertrages. – Das ist nicht einmal im Ansatz eine Rechtfertigung, diesen wichtigen Schritt für die Beschäftigten jetzt nicht mitzugehen. Eines will ich auch sagen: Dass wir gute Löhne in der Pflege haben, ist auch für die privaten Einrichtungen von allergrößtem Interesse. ({0}) Denn auch sie brauchen in der Zukunft Fachkräfte. Auch sie müssen in ihrem Bereich qualifizierte, vernünftig bezahlte und gute Arbeitsbedingungen ermöglichen, damit die Pflegekräfte, denen in ihren Einrichtungen die Menschen anvertraut werden, auch eine gute Refinanzierung bekommen. Deshalb ist es nicht nachvollziehbar, dass auch mit Unterstützung Ihres ehemaligen Kollegen Herrn Brüderle verweigert wird, diese Gespräche zu führen. Sie können sie auch selber führen. Sie müssen dem Arbeitgeberverband nicht beitreten. Aber zu sagen: „Wir stehen für Tarifverhandlungen gar nicht zur Verfügung“, halte ich für mindestens sehr schade. Deshalb geht mein Appell heute sehr deutlich an die vielen, vielen Privaten. Jetzt ist der Zeitpunkt, legitimiert durch dieses Gesetz, zu sagen: Das wollen wir gemeinsam machen; denn es ist gut. Ich würde mir auch wünschen, dass das Deutsche Rote Kreuz mindestens in Teilen, wenn nicht schon gesamt, auch dem Arbeitgeberverband beitritt. Natürlich gilt all das, was ich für die Privaten gesagt habe, für das Deutsche Rote Kreuz. Ich freue mich sehr, dass wir die Arbeiterwohlfahrt, die Paritätischen, die Kommunen, die Volkssolidarität, den ASB dabeihaben und viele andere, die dem Arbeitgeberverband beigetreten sind, und all diese stellvertretend für all die Kollegen der Verbände, die nicht beigetreten sind, gute Löhne verhandeln. Es ist ein gutes Zeichen und sorgt für eine gute Aufstellung der Pflege in Zukunft. ({1}) Am Ende des Tages eint uns in diesem Hause eines: Wir wollen nämlich, dass wir für die Zukunft Pflegekräfte haben, die nicht nur Spaß an ihrer Arbeit haben, sondern die von ihrer Arbeit auch leben können, eine Familie ernähren können und selber für das Alter vorsorgen können. Wir sind nur einer der Player, um das sicherzustellen; das Entscheidende machen die Tarifpartner in Deutschland. Aber wir haben die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass künftig alle Pflegekräfte in Deutschland von ihrem Lohn leben können. Der werden wir gerecht, indem wir nach Tarifverhandlungen allgemeinverbindliche Tarife für ganz Deutschland festsetzen. Ein guter Tag für die Pflege. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Erich Irlstorfer für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Erich Irlstorfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004311, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Präsidentin! Pflege ist ein Zukunftsthema, und Pflege ist ein Zukunftsberuf. Ich kann Ihnen, liebe Auszubildende auf der Tribüne, nur gratulieren, dass Sie die Ausbildung in diesem Beruf machen und wünsche Ihnen viel Freude und Spaß in Ihrem Beruf. ({0}) Ich möchte aber auch klarstellen, meine sehr geehrten Damen und Herren – von daher verstehe ich hier die Emotionen und die Aufregung teilweise nicht –: Wir wissen doch, dass Pflege nur gelingen kann, wenn wir zusammen die ganzen Hürden überwinden. Ich glaube auch, dass es nichts bringt, wenn man Organisationen und Einrichtungen hier einander gegenüberstellt, ob das die Wohlfahrtsverbände sind, ob das die Kirchen sind, ob das die privaten Anbieter oder auch die Kommunen sind. Alle wollen natürlich ihre Einrichtungen betreiben. Zu dem Ganzen, was wir hier diskutieren, kann ich nur sagen: Scheitern wird dieses System nicht am Geld, nicht am politischen Willen, sondern scheitern wird es nur, wenn es uns nicht gelingt, Menschen in diese Berufe zu bringen. ({1}) Und wie bringen wir Menschen in diese Berufe? Ich höre immer wieder die ganzen Begriffe, auch heute: Wertschätzung, Respekt, Anstand, Aufwertung, Anerkennung. Alles wunderbar, das stimmt alles. Nur was nützt es der Pflegekraft, wenn man ihr die Wertschätzung gibt, wenn sie aber ihre Miete nicht bezahlen kann, ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten kann? Dann können diese Menschen nicht in diesen Berufen bleiben. Deshalb brauchen wir Gesetze und Rahmenbedingungen, die das ermöglichen, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({2}) Dass wir allein heute fünf Reformpakete im Bereich der Gesundheit diskutieren werden – drei Pakete werden heute auch verabschiedet –, zeigt doch, wie wichtig dieses ganze Zukunftsthema Pflege ist. Man kann zur Großen Koalition stehen wie man will – ich sage Ihnen aber eines: Die Große Koalition ist in diesem Bereich besser als ihr Ruf. Das möchte ich heute hier schon einmal festhalten. ({3}) Wenn wir über ordentliche Löhne und Gehälter sprechen, dann muss ich ansprechen, dass es dabei auch um das Thema Leiharbeit – das erleben wir ja – geht. Und das wissen auch die privaten Anbieter. Ich weiß, das ist ein heikles Thema. Wir wissen aber auch, dass man Leiharbeit nur dann eindämmen kann, wenn man das Personal ordentlich bezahlt; das ist notwendig. Ich glaube, das wissen alle Beteiligten. Es ist doch völlig klar – ich unterstreiche das noch einmal, möchte dabei aber nicht gegen die Leiharbeit reden –: Die Leiharbeit ist nur ein Instrument und ein Werkzeug in Notsituationen und kein Dauerzustand, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({4}) Deshalb brauchen wir eine klare und richtige Struktur bei Löhnen und Gehältern. Das ist mit eine der grundlegenden Fragen, die wir heute hier zu entscheiden haben. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Irlstorfer, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Zimmermann?

Erich Irlstorfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004311, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Selbstverständlich, gerne.

Pia Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004454, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Irlstorfer, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Ich möchte einmal etwas zur Leiharbeit sagen. Ich glaube, Sie sind nicht ganz auf dem neuesten Stand. Pflegekräfte arbeiten nämlich sehr gerne als Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter, weil sie dort ein gesichertes Einkommen haben, weil sie dort gesicherte Arbeitszeiten haben, weil sie einen Dienstplan haben, der es ihnen ermöglicht, auch mit der Familie zu planen. Es ist nicht so, dass sie in der Pflege selbst gut verdienen. Was wir aber in der Pflege brauchen, damit wir weiterkommen, vor allen Dingen auch in der Altenpflege, sind Arbeitsplätze, auf denen man sich wohlfühlt, bei denen man die Arbeit, die man gelernt hat, auch schaffen kann, sodass man gerne zur Arbeit geht, und Arbeitsplätze, bei denen man im April weiß, dass man im Dezember noch einen Arbeitsplatz hat. Es gilt, diese Arbeitsplätze vernünftig zu entlohnen, damit Menschen nicht nur Spaß an der Arbeit haben, sondern sich und ihre Familie auch ernähren können. Da können wir doch nicht so über Leiharbeit sprechen! ({0})

Erich Irlstorfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004311, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Zimmermann, ich hätte nicht geglaubt, dass wir mal so nah beieinander sein würden. Ich kann Ihnen sagen: Das, was Sie hier angesprochen haben, kann ich nur unterschreiben. Denn ich bin komplett dafür – das habe ich ja gerade versucht zu erklären –, dass natürlich diejenigen, die solche Häuser betreiben, ihre Leute auch ordentlich bezahlen und für gute Arbeitsbedingungen sorgen, damit man das, was man tut, auch gerne tut. Das ist wichtig. Mit den Regelungen, über die wir heute entscheiden, muss, glaube ich, ein Stück weit auch dafür gesorgt werden, dass Pflegekräfte nicht in die Leiharbeit abwandern, sondern sich klar zu ihrem Betrieb oder Unternehmen bekennen, und dafür, dass die Arbeitgeber mit sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen ein Instrument haben, um die Leute zu halten. Es hat ja auch eine Bindewirkung, wenn man die Leute ordentlich bezahlt. Deshalb ist es, glaube ich, kein Widerspruch, was wir beide hier gerade vortragen. Ich unterstreiche es noch einmal: Leiharbeit ist ein Instrument für eine Notsituation und kein Dauerzustand. ({0}) Ich glaube, da sind wir uns auch einig. – Danke schön. ({1}) In den Sitzungswochen haben wir immer wieder folgende Situation: Eine Woche geht es darum, Eigenanteile für die Pflegebedürftigen einzufrieren, dann geht es darum, die Pflegeversicherung vielleicht zu einer Vollversicherung umzubauen. Ich möchte zum Abschluss einfach klarstellen, dass all diese Maßnahmen, die wir hier diskutieren und vorhaben, richtig und zielführend sind, dass, auch wenn wir über manche diskutieren müssen, die Grundrichtung stimmt. Es ist aber auch klar, dass das alles Geld kostet. Hier werden wir vor der Entscheidung stehen, wie viel Geld wir in die Hand nehmen und wo wir die Prioritäten setzen wollen. Für die Union kann ich nur sagen: Wir setzen die Priorität bei den Menschen, bei den Unternehmen, bei all denjenigen, die ins Gelingen verliebt sind, darin, dass Pflege in Deutschland auch weiterhin ordentlich und menschlich gemacht werden kann. Herzlichen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Lisa Badum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004659, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Sie verkaufen seit Freitag Ihre Klimaeckpunkte als großen Wurf. Sie sprechen von einem Paradigmenwechsel. Sie verkaufen der internationalen Staatengemeinschaft einen CO2-Preis von 10 Euro pro Tonne als die Innovation deutscher Klimapolitik. Meinen Sie das ernst? Vielleicht von mir eine ganz kleine Hilfe zur Beantwortung dieser Frage: Ihr eigener wissenschaftlicher Berater bescheinigt Ihnen, ein wirkungsloses Sammelsurium zusammengeschmissen zu haben, mit dem Sie die Pariser Klimaziele nicht nur nicht erreichen werden, sondern das sogar zu mehr Emissionen führt. SPD-Abgeordnete sprechen von einem „fatalen Signal“ und „teurem Murks“. Parents for Future ruft zu mehr zivilem Ungehorsam auf, weil sie sagen: Die Politik schützt unsere Kinder nicht genug. „Paradigmenwechsel“ sagen Sie; „Pillepalle“ sagt eine Mehrheit der Gesellschaft. Nur so zum Realitätsabgleich: Die Rettung des GroKo-Klimas ist nicht die Rettung des Weltklimas. Sie lösen da Ihre Probleme und kehren im Scherbenhaufen der vergangenen Jahre umher. ({0}) Ich weiß, es ist schwer; ich weiß, Sie durchwachen die Nächte. Aber ich sage Ihnen: Es dient niemandem, nicht diesem Land, nicht dieser Welt. Sie haben letzten Freitag die Absage an die Pariser Klimaziele unterschrieben! ({1}) Und wie rechtfertigen Sie diese Bankrotterklärung? Was haben wir heute von Ihnen, von den verschiedensten Rednern gehört? Sie sprechen von einem schwierigen Balanceakt zwischen Sozialverträglichkeit und Umweltschutz. Hier liegt schon das ganze Problem: Ihre Art und Weise, Klimaschutz zu denken und darüber zu sprechen, spaltet diese Gesellschaft und schadet der Klimapolitik und dem politischen Klima nachhaltig. ({2}) – Ja, Frau Weisgerber. – Ich sage Ihnen die drei Beispiele dafür: Sie spielen das Land gegen die Stadt aus. Ihr eigenes Versagen, den ÖPNV auszubauen, nehmen Sie jetzt als Argument für weniger Klimaschutz und einen niedrigeren CO2-Preis. Das ist Populismus in Reinform. Das ist aber noch nicht alles. Sie spielen Arme gegen Reiche aus. Sie begründen einen niedrigeren CO2-Preis mit sozialer Gerechtigkeit und begünstigen auf der anderen Seite mit der Pendlerpauschale die Besserverdiener. Sie behaupten, Mieterinnen und Mieter zu schützen; aber Sie geben vor allem Anreize für Immobilienbesitzer. Und: Sie spielen ein ganz gefährliches Spiel mit der Glaubwürdigkeit von Politik. Wenn Sie ständig von Verboten und Planwirtschaft faseln, ja, dann machen Sie das, was wir hier tun, schlecht, dann stellen Sie das, was wir tun, infrage. Die Politik ist dafür da, Regeln zu setzen. Dafür sind wir gewählt, auch und gerade in der Klimapolitik. ({3}) Ich habe in den letzten zwei Jahren – seit genau zwei Jahren bin ich im Bundestag – viele Begründungen für Ihr Nichthandeln gehört. Mal ist der Pendler auf dem Land schuld, den Sie schützen müssen, mal ist es der Bergbauarbeiter in der Lausitz, oder mal ist es Oma Erna und ihre Ölheizung. Hören Sie auf, die Bevölkerung als Geisel für ihre eigene Unfähigkeit zu nehmen! ({4}) Hören Sie auf, die Bevölkerung vorzuschieben, weil Sie Angst haben, der Wirtschaft Regeln aufzuerlegen! Es gibt mehr als genug Begründungen fürs Handeln. Erst letzten Freitag wieder haben wir ganz viele Stimmen gehört – 1,4 Millionen Menschen –, die Ihnen diese Begründungen entgegenrufen, und die haben eben keine Geduld mehr für Spielchen. Ein solches Spiel – das muss ich als Fränkin und Bayerin sagen – spielt natürlich auch der selbsternannte Klimaschützer Herr Söder. Neben dem Ende des Ausbaus der Erneuerbaren in Bayern hilft er auch im Bund mit, die Erneuerbaren zu bremsen. Aber Sie spielen dieses unsägliche Spiel auch beim Waldschutz. Ich sehe, einige Personen von der CSU sind da. Wir reden ja über den Waldschutz. Ich sage Ihnen eines: Es nutzt nichts, sich an Bäumen fotografieren zu lassen, wenn man sie hinter den Kulissen abholzt. ({5}) Wenn Sie Waldschutz in Bayern machen wollen, dann ist ganz klar, was jetzt zu tun ist: Es gibt ein Gebiet in Bayern, das UNESCO-Weltnaturerbe sein könnte: der Steigerwald als Buchenurwald. Da könnten Sie einen dritten Nationalpark machen. – Sie machen es nicht, weil Sie Spielchen spielen. ({6}) Und was steht am Ende aller Spielchen, meine Damen und Herren? Frau Merkel war ja ganz gerührt, dass Greta Thunberg die Menschheit aufrief, sich hinter der Wissenschaft zu vereinen. Tja, lassen wir in diesem Sinne einen Wissenschaftler das letzte Wort haben. Herr Mojib Latif hat zu Ihrem Klimapaket gesagt: Das ist Sterbehilfe für das Weltklima. Vielen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Anja Weisgerber für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Anja Weisgerber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004440, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Der Wald ist ein gigantischer CO2-Speicher und leistet Enormes für den Klimaschutz. Unser deutscher Wald ist gleichzeitig auch der stumme Zeuge des Klimawandels. Die Waldbesitzer stehen vor großen Herausforderungen, und die Waldbauern brauchen unbedingt mehr finanzielle Unterstützung. Deswegen ist es gut, dass die Bundesregierung gestern beschlossen hat, dass in den nächsten vier Jahren knapp 550 Millionen Euro für Aufforstung und Anpassung zur Verfügung stehen. Mit Mitteln der Länder wären das insgesamt 800 Millionen Euro. Dafür haben wir uns eingesetzt, und wir werden uns auch in Zukunft für die Waldbauern einsetzen und uns für sie starkmachen. Letzten Freitag hat das Klimakabinett das Klimaschutzprogramm 2030 beschlossen. Mit Erlaubnis der Präsidentin zitiere ich „Zeit Online“: „Das Klimapaket ist besser als sein Ruf.“ Ein solch umfassendes Klimapaket mit dieser Architektur und weit über 70 Maßnahmen hat es bislang noch nie gegeben. ({0}) Mit einem Finanzvolumen von 50 bis 60 Milliarden Euro haben wir hier wirklich ein Paket geschnürt und nicht nur ein Paketchen. Die Eckpunkte des Klimakabinetts sind ja auch der Startpunkt eines Gesetzgebungsverfahrens, in dessen Rahmen die Details auch wirklich noch ausdekliniert werden. Am Ende wird es eine Klimaschutzgesetzgebung geben mit Maßnahmen und Anreizen in allen Sektoren: mit einer CO2-Bepreisung, mit einem Aufwuchspfad und einer Entlastung für die Menschen und – das haben Sie auch immer gefordert – mit einer regelmäßigen Überprüfung, einem Kontrollmechanismus, der die Zielerreichung garantiert. Während Sie die Beschlüsse die ganze Zeit nur kleinreden und kritisieren, werden wir uns an die konkrete Umsetzung machen. Ich rufe alle, auch die Opposition, dazu auf, sich konstruktiv – ({1}) – an der Weiterentwicklung und der Umsetzung der Vorschläge des Klimakabinetts zu beteiligen, meine Damen und Herren. ({2}) Wir wollen Anreize statt Verbote, wie die Grünen sie jetzt wieder in ihrem Antrag vorschlagen. Zum Beispiel ist wieder das Verbot des Verbrennungsmotors enthalten. Statt auf Verbote setzen wir auf Bepreisung. Klimaschädliche fossile Technologien werden teurer, Strom wird billiger – das ist auch notwendig für den Umstieg –, und die Bürger profitieren in einem ersten Schritt, wenn sie auf klimafreundliche Technologien umsteigen. Das ist ein Konjunkturprogramm für den Klimaschutz. ({3}) Wir machen den Menschen ein Angebot, die bisher noch keine Klimaschützer sind und denen bisher die entsprechende Überzeugung gefehlt hat. Wir nehmen sie mit und lassen niemanden am ökologischen Wegrand stehen, wie Sie das machen, meine Damen und Herren. ({4}) Das Paket wird von der Opposition massiv kritisiert. Ich frage Sie: Sind Sie dagegen, dass Bahnfahren billiger wird und Elektroautos massiv gefördert werden? Sind Sie dagegen, dass die Rahmenbedingungen beim Mieterstrom verbessert werden? Sind Sie dagegen, dass der 52-GW-Deckel bei der Förderung der Photovoltaik aufgehoben wird? – Nein, das sind Sie natürlich nicht, weil Sie selbst für die Förderung der Maßnahmen sind. Ich sage Ihnen: Sie sind nur deswegen gegen diese Maßnahmen, weil sie Teil unseres Klimapaketes sind. Das ist die Wahrheit. ({5}) Wir setzen auf Innovationen, und wir setzen auf Technologieoffenheit. Deshalb ist neben der Förderung der Elektromobilität auch die Unterstützung der synthetischen Kraftstoffe und der Wasserstofftechnologie im Paket enthalten. Auch im Gebäudebereich nehmen wir die Menschen mit. Wir führen eine Prämie für den Austausch von alten Heizungen ein. Unser Leuchtturmprojekt für Anreize im Gebäudebereich, die steuerliche Förderung der energetischen Gebäudesanierung, ist im Klimapaket enthalten. Damit werden die Bürger in Zukunft Steuern sparen, wenn sie ihr Haus klimafreundlich sanieren. Auch die Länder sind nun gefragt, mitzumachen und das Instrument zu unterstützen. Nach den Anreizen und Förderprogrammen starten wir in die Bepreisung von CO2; denn Bepreisung ist in unseren Augen besser als Verbote und Ordnungsrecht.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Weisgerber, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung?

Dr. Anja Weisgerber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004440, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe noch 30 Sekunden und würde gerne erst zu Ende ausführen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Na ja, danach geht es nicht mehr, also entweder … oder.

Dr. Anja Weisgerber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004440, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danach kommt ja die Kurzintervention.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die muss ich erst mal zulassen, und ich habe nicht vor, eine solche zuzulassen. Gut, dann haben Sie jetzt Ihre letzten 29 Sekunden.

Dr. Anja Weisgerber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004440, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Okay, danke schön. – Wir wollen eine gezielte Steuerung und keine Steuererhöhung. All diejenigen, die kritisieren, dass der CO2-Preis zu Beginn zu niedrig ist, müssen sich das Ende anschauen. Das Entscheidende ist der Endpunkt. Wir werden eine Spreizung hinbekommen. Wir werden einen Preiskorridor von 35 bis 60 Euro in 2026 und eine freie Preisbildung am Markt haben. Ich warne davor: Klimaschutz darf nicht zur sozialen Frage in unserem Land werden. Deswegen steigen wir moderat ein, – ({0}) – deswegen entlasten wir die Menschen, deswegen erhöhen wir die Pendlerpauschale, und zwar progressionsunabhängig durch Abzug von der Steuerschuld, und deswegen senken wir den Strompreis. Genau das ist unser Weg. Klimaschutz soll Spaß machen, und wir müssen alle mitnehmen. Das ist unser Ansatz. Vielen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Peter Felser für die AfD-Fraktion. ({0})

Peter Felser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004714, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Verehrte Kollegen! Liebe Gäste! Gestern war ein guter Tag. Auf dem Nationalen Waldgipfel haben wir endlich einmal nicht über Regenwälder auf fernen Kontinenten gesprochen, sondern über die Situation im deutschen Wald. So möchte ich es auch heute halten. Gestern war Konsens: Wir müssen etwas machen im Wald, wir müssen die 1 Million Festmeter Schadholz aus dem Wald rausbekommen, und wir müssen den Borkenkäfer bekämpfen. – Das war gestern glücklicherweise die einstimmige Meinung. Gerade den Besitzern kleiner Privatwälder muss geholfen werden. Die gestern auf dem Waldgipfel versprochenen 547 Millionen Euro allein vom Bund waren ein richtiges Zeichen. Es zeigt sich aber auch, was in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten alles versäumt wurde. Dürre, Sturm, Käfer, Schneebruch – das alles sind Kalamitäten, die von außen kommen. Was nicht von außen kommt, liebe Kollegen, das ist das totale Unvorbereitet-Sein auf solche Naturereignisse. Es herrscht völliges Versagen, und man tut so, als hätte man das vorher nicht wissen können. ({0}) Wer hat denn das Forstpersonal abgebaut, das wir jetzt so dringend in den Wäldern brauchen? Wer hat geschlafen, als es um die Erforschung und Züchtung neuen Forstsaatgutes ging? Wo sind Konzepte erstellt worden, den deutschen Wald in seiner Gesamtheit zu schützen? Wer hat es versäumt, eine durchdachte Digitalisierung voranzutreiben, um die Interessen der 2 Millionen Kleinstwaldbesitzer und Kleinwaldbesitzer zu bündeln und sie schlagkräftig und fit zu machen für die Situation im deutschen Wald? – Keiner von Ihnen, liebe Kollegen, hat sich darum gekümmert. Es ist genau so, wie die Bundesregierung in Bezug auf den Schutz der Bevölkerung auf eine Kleine Anfrage von uns geantwortet hat: Es gibt zwar irgendwelche Konzepte – die gab es auch hier –, aber entsprechende Szenarien und die Vermeidung möglicher Bedrohungen wurden nicht geübt. Es wurde nicht ausgebildet. Fazit: Totalausfall! ({1}) Was wir jetzt brauchen, das ist eine Beförsterung in der Fläche. Wir brauchen ausgebildetes Personal, das den Klein- und Kleinstwaldbesitzern vor Ort helfen kann. Wir brauchen jetzt die Unterstützung für die Kleinstwaldbesitzer. Diese müssen die Möglichkeit bekommen, Sammelanträge zu stellen. Die Förderung muss im Wald vor Ort ohne bürokratische Hindernisse ankommen. Wir brauchen eine Holzbau-Renaissance. Wir haben jahrhunderte-, jahrtausendelang mit Holz gebaut. Wir müssen an die Bauvorschriften ran. Hier muss sich etwas tun. In Finnland werden 14-stöckige Holzhochhäuser gebaut. Das müssen wir auch in Deutschland hinbekommen. Liebe Kollegen von den Grünen, zu Ihrem Antrag. Was gar nicht geht, ist, in dieser schwierigen Situation ideologisch nach vorne zu gehen. Wer nach der massiven Käferkalamität nach einer Urwaldoffensive, nach einem Urwaldkonzept ruft, der hat vom Forst gar nichts verstanden. ({2}) Gehen Sie bitte in den sogenannten Nationalpark im Harz, und schauen Sie sich an, wie der Wald dort vergammelt, wie er vor sich hin rottet, wie der Käfer alles kaputtgemacht hat. Den Wald schützen wir nur, wenn wir ihn nutzen, wenn wir Schadholz so schnell als möglich rausholen und angepasste Bäume nachpflanzen. Sie leisten Sterbehilfe für den deutschen Wald. ({3}) Und wenn man genauer hinschaut: Man glaubt es nicht, wen Sie als Sündenbock für die Waldmisere ausgemacht haben. Sie fordern ein – Zitat – „angepasstes Wildtiermanagement“. Jetzt sollen also die Wildtiere für das herhalten, was Sie verbockt haben. ({4}) Nein, die Sündenböcke sind in Ihren eigenen Reihen zu suchen. Wald mit Wild, Wald mit Wildtieren, das ist die Lösung. ({5}) Wer seine Heimat wirklich schützen will, der verprasst nicht Milliarden Euro in einem irren Klimaaktionismus. Wer echten Umweltschutz will, wer wirksamen Naturschutz leben will, der hilft heute und jetzt unserem angeschlagenen Wald. Ich danke Ihnen. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Johann Saathoff für die SPD-Fraktion. ({0})

Johann Saathoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004393, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu diesem Tagesordnungspunkt liegen einige Anträge vor. Ich nehme es mir heraus, in meinem Beitrag zu dieser Debatte auf zwei Anträge der Grünen einzugehen. Sie haben zum einen einen sehr umfassenden Antrag mit sehr gut ausgearbeiteten Instrumenten vorgelegt, aus dem hervorgeht, wie man die Ziele in den einzelnen Sektoren erreichen kann. Herzlichen Dank für diesen Antrag. Das ist ein Antrag, der wirklich Hand und Fuß hat, überhaupt keine Frage. ({0}) Es gibt zum anderen auch einen extrem kurzen Antrag der Grünen zur Abschaffung des PV-Deckels; dazu komme ich gleich noch. Die Debatte zum Klimaschutzprogramm hat schon lange begonnen. Schon bevor das Ergebnis, das Klimaschutzprogramm, am Freitag überhaupt feststand, gab es eine breite gesellschaftliche Debatte. Besonders nach Freitag wurde diese dann insgesamt sehr intensiv. Ich habe mich im Nachhinein gefragt: Was wäre eigentlich ein Ergebnis gewesen, das alle Beteiligten hier im Hause gefeiert hätten? ({1}) Ich bin letzten Endes nicht zu einem Ergebnis gekommen, das diese Kriterien erfüllt hätte. Ich muss mich aber schon über den einen oder anderen Kommentar wundern; denn – das wollen wir an dieser Stelle deutlich sagen – das Klimapaket ist weit mehr als das, was mit anderen Koalitionsversuchen in dieser Legislaturperiode überhaupt auf die Beine gestellt wurde. Von daher, finde ich, ist die Kritik an der einen oder anderen Stelle ein Stück weit scheinheilig. ({2}) Es handelt sich bei dem Klimapaket um nichts weniger als den Einstieg in einen Systemwechsel. Ob dieser zu spät kommt oder nicht, spielt dabei überhaupt keine Rolle. Jedenfalls ist dieser Einstieg in den Systemwechsel dringend erforderlich. Dieser Einstieg, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist gelungen. Er ist gelungen, ohne – eben ohne! – die Gesellschaft zu spalten in Arm und Reich, ohne die Gesellschaft zu spalten in Land und Stadt. Dieser Einstieg ist erst mal ein konsensualer Einstieg. Er mag dem einen oder anderen nicht weit genug gehen, aber es ist auf jeden Fall ein Einstieg, der auch in der gesellschaftlichen Mitte tragfähig ist. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es handelt sich um eine Prozesslösung. Es ist keine Lösung, die auf einen Schlag greift. Ich finde, an dieser Stelle darf man auch mal feststellen: Wer geglaubt hat, dass am letzten Freitag sozusagen mit einer Lösung alle Probleme beseitigt gewesen wären, der weiß nicht, wie es im politischen Geschäft wirklich läuft. ({4}) Wird dieser Einstieg ausreichen, um die Klimaziele 2030 zu erreichen? Das weiß im Moment kein Mensch. Deswegen ist das jährliche Monitoring vorgesehen. Außerdem haben wir das Klimakabinett entfristet. Das heißt, die Einhaltung der Einsparziele der jeweiligen Ressorts wird jedes Jahr neu überprüft. Und falls die Einsparziele nicht eingehalten werden, werden konkrete Gegenmaßnahmen ergriffen, sodass wir bis 2030 auf einem guten Weg sein werden. ({5}) Kein ressortverantwortlicher Minister kann die Einhaltung und die Erfüllung der Klimaziele auf Wiedervorlage in fünf Jahren legen. Hiermit haben wir erstmalig verbindliche Ernsthaftigkeit geschaffen. 10 Euro pro Tonne CO2 reichen nicht aus; da brauchen wir gar nicht drum herumzureden; das ist unbestritten der Fall. Dass wir aber nun einen CO2-Preis bekommen werden, ist doch der eigentliche Erfolg. Den lassen jedenfalls wir Sozialdemokraten uns nicht kleinreden. ({6}) Es führt aus meiner Sicht auch kein Weg daran vorbei, dass sich der CO2-Preis angesichts der Klimaziele 2030 dynamisch entwickeln muss. Auf dem Weg zu höheren CO2-Preisen müssen wir alles, auch die Bürgerinnen und Bürger, im Blick haben, damit sie sich nicht zu den Klimawandelleugnern hingezogen fühlen und diesen vielleicht auf den Leim gehen. ({7}) Meine Damen und Herren, wir haben in dem Paket auch den Ausbau der Erneuerbaren – Stichwort: 5 Gigawatt Offshore – vorgesehen. Das ist sehr zu begrüßen. Es gibt im Bereich der Onshorewindenergie aber leider auch die Regelung, 1 000 Meter Abstand zu Anliegern einzuhalten. Ich habe mir diese Regelung, ehrlich gesagt, nicht gewünscht. Ich finde es aber noch viel schlimmer, dass wir in Bayern eine Ausnahmeregelung haben. Das haben wir auf dem Kompromisswege miteinander vereinbaren müssen. Am Ende werden wir den Onshorewindenergieausbau aber deutlich voranbringen. ({8}) Der PV-Deckel ist weg; darauf können wir stolz sein. Beim Mieterstrom werden wir nachlegen. Wir sind also auf einem guten Weg. Es liegt viel Arbeit vor uns, liebe Kolleginnen und Kollegen. Den Anträgen, die zu diesem Tagesordnungspunkt vorliegen, wollen wir uns gerne widmen und sie in die Arbeit einfließen lassen. Viele wissen jetzt alles besser und haben einfache Antworten auf komplizierte Fragen. Aber ich würde – –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Saathoff, Sie können gern weitersprechen, tun das dann aber auf Kosten Ihrer Kollegen.

Johann Saathoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004393, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Einen Satz noch: Ich möchte meinen Kollegen Lischka zitieren, und zwar auf Plattdeutsch, in meiner Sprache: Achtern schkitt Aant. Besten Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Christoph Hoffmann für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Christoph Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich spreche heute als einziger Förster im Deutschen Bundestag und als Naturwissenschaftler zum Antrag „Weltweit mehr Wald für den Klimaschutz“ zu Ihnen. Sehen Sie das ruhig mal überparteilich. Meine Försterkollegen draußen sehen, dass sich der Wald vor ihren Augen verabschiedet. Die Klimakatastrophe hat schon bei den Waldbesitzern eingeschlagen, während ansonsten noch business as usual herrscht. Im deutschen Wald haben wir schon heute einen Temperaturanstieg von etwa 1 bis 1,5 Grad. 180 000 Hektar Wald in Deutschland sind kaputt. Das hat Milliardenschäden zur Folge, und es ist nicht zu Ende. Sie sehen: Eine recht klein erscheinende Temperaturerhöhung von 1 oder 1,5 Grad hat gravierende Auswirkungen und eine enorme Zerstörungskraft. Und diejenigen, deren Wald eigentlich CO2 speichert, die Waldbesitzer, werden nun über die steigenden Temperaturen enteignet. ({0}) Jahrzehntelanger Waldaufbau wird zerstört. Wenn 100 Jahre alte Buchen bei uns vertrocknen – die Buche ist der Kern unserer natürlichen Waldgesellschaft –, dann ist das gravierend. So etwas haben wir im Wald noch nicht erlebt. Das zieht den Förstern den Boden unter den Füßen weg. ({1}) Wären Förster nicht naturverbundene starke Frauen und Männer, wären sie schon in einer Traumatherapie. Aber nein, die wenigen, die noch da sind, sind draußen und kämpfen – für ihren, für unseren Wald. Dafür haben sie unseren Dank verdient. ({2}) Weltweit verlieren wir in diesem Jahr ungefähr 10 Millionen Hektar Wald. Das entspricht der Größe des gesamten deutschen Waldes. Die Wälder Brasiliens brennen. In Indonesien sehen Sie vor lauter Rauch die Hand vor Augen nicht. Auch in Afrika brennt es. 20 Prozent des CO2-Ausstoßes dieser Welt kommen aus Landschafts- und Waldbränden. Wir können uns keine weiteren Waldverluste mehr leisten. In der Luft ist schon viel zu viel CO2. Die Entwicklung des Klimas ist dramatisch. ({3}) Es darf und kann so nicht weitergehen. Das wird die Menschheit nicht überleben. Der Schutz der Wälder ist eine Menschheitsaufgabe und ist vordringlich. Deshalb fordern wir in unserem Antrag heute die Ächtung negativer Waldbilanzen von Staaten durch die Vereinten Nationen. ({4}) Wir fordern auch ökonomische Modelle, die dafür sorgen, dass sich der Wald für die Kleinbauern in den tropischen Breiten rechnet. Nur so werden wir die Waldbrände tatsächlich stoppen. Ja, Minister Müller hat recht, wenn er jetzt von der Weltbank mehr Geld für den Wald fordert. Das entspricht genau dem, was auch wir in unserem Antrag gefordert haben. Leider hat es die CDU/CSU im Ausschuss abgelehnt, dem Antrag zuzustimmen, und zwar mit der Begründung, sie seien noch nicht so weit. Ich hoffe, jetzt ist es so weit, dass Sie zustimmen können. ({5}) Um die Klimaentwicklung überhaupt noch im Griff zu behalten, müssen wir etwa 350 Millionen Hektar Wald aufforsten. Damit kann ein Großteil der Übermenge an CO2 in der Atmosphäre gebunden werden. Worauf warten wir eigentlich noch? ({6}) Packen wir es doch an! Machen wir das! ({7}) Der Weltklimarat hat gestern Zahlen vorgelegt. Diese beweisen, dass wir den Tipping Point eigentlich erreicht haben. Es geht alles schneller als prognostiziert. Wir dürfen jetzt wirklich keine Zeit mehr verlieren. Beweisen wir den Bürgern hier und heute, dass ein nationaler Konsens für Klimapolitik möglich ist – zumindest beim Thema „Weltweit mehr Wald für den Klimaschutz“. ({8}) Fangen wir damit an – jetzt, hier und heute! Sie haben nachher bei der namentlichen Abstimmung Gelegenheit dazu. Biegen wir ab von der Straße des kollektiven Selbstmords, die mit einer Mischung aus Bequemlichkeit und Ignoranz gepflastert ist. ({9}) Sie haben es heute also in der Hand, mehr Wald für den Klimaschutz zu fordern.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ihre Redezeit ist leider überschritten. Das heißt, ich kann Sie gar nicht mehr fragen, ob Sie eine Frage oder Bemerkung zulassen, sondern Sie nur auffordern, einen Punkt zu setzen.

Dr. Christoph Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Noch einen Satz: Die Bürger haben sicherlich kein Verständnis für parteitaktisches Geplänkel. Mehr Wald für den Klimaschutz ist etwas Grundvernünftiges. Stimmen Sie unserem Antrag zu! ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat nun Lorenz Gösta Beutin das Wort. ({0})

Lorenz Gösta Beutin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004672, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Diese Große Koalition hat bereits jetzt ihr Versprechen, die Klimaziele 2020 einzuhalten, gerissen. Seit Freitag wissen wir aber, dass diese Große Koalition auch nicht bereit ist, sich überhaupt zu bemühen, die Klimaziele für 2030 einzuhalten. Das ist der große Skandal. ({0}) Wir Linke haben nachgerechnet. Wir haben uns die Zahlen vorgenommen. Sie standen im ersten Entwurf vom Donnerstag sehr deutlich drin. Wenn man nachrechnet, zeigt sich: Diese Zahlen liegen weit unter dem, was notwendig ist. Damit haben wir eine Klimaschutzlücke ausgerechnet. Nur höchstens die Hälfte der Klimaschutzlücke wird mit diesen Maßnahmen geschlossen und das wird nicht ausreichend dazu beitragen, die Klimaschutzziele zu erreichen. Das ist ein verheerendes Signal, weil Deutschland eine zentrale Verantwortung hat. Nur die USA, Russland und China haben mehr CO2 in die Welt geblasen als Deutschland. Deutschland ist historisch gesehen der viertgrößte Klimasünder. Deswegen haben wir eine Verantwortung, und deswegen sagen wir als Linke: Wir werden dieses Klimapaket nicht mittragen. ({1}) Am Mittwoch hatte ich im Wirtschaftsausschuss die Möglichkeit, Herrn Altmaier zu befragen. Herr Altmaier sagte: Ich nehme die 1,4 Millionen Menschen auf der Straße und auch die Kritik der Verbände und der Wissenschaft zur Kenntnis, aber wir sehen keine Möglichkeit, etwas zu ändern. Dieses Klimapaket ist so, wie es ist, genau richtig. – Ich darf Ihnen sagen: Angesichts dessen, was wir beim Klimastreik am Freitag auf der Straße gesehen haben, ist diese Ignoranz der Politik genau das, was wir in dieser Situation gerade nicht brauchen. ({2}) Ich könnte an dieser Stelle jetzt lange ausführen, warum dieses Klimapaket so nicht funktionieren wird. Ich will das aber lassen und stattdessen deutlich machen, wie eine linke Klimapolitik aussehen müsste und wie es mit einem echten Klimaschutz besser laufen würde. Im Bereich der Energie und des Stroms brauchen wir nicht nur den Kohleausstieg bis 2030 und damit früher, sondern wir müssen auch über die Strompreise sprechen. Wir müssen darüber sprechen, dass einkommensschwache Haushalte durch steigende Strompreise überproportional belastet sind, während weiterhin große Energiekonzerne von der Erneuerbare-Energien-Umlage ausgenommen sind. Genau das muss geändert werden. Wir müssen endlich die Verursacherinnen und Verursacher zur Rechenschaft ziehen statt die Verbraucherinnen und Verbraucher. ({3}) Wir müssen auch darüber reden, wem die Energiewende gehört. Diese Bundesregierung ist leider auch mit diesem Klimapaket wieder dabei, die Energiewende an die großen Konzerne zu verscherbeln. Das muss ein Ende haben. Wir müssen über Bürgerinnen- und Bürgerenergie sprechen. Wir müssen sprechen über die direkte Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern an der Energiewende, über Genossenschaften, Stadtwerke und kommunale Beteiligungen. Nur wenn die Energiewende demokratisch ist und von den Bürgerinnen und Bürgern mitgestaltet wird, wird sie gelingen. ({4}) Oder sprechen wir über den Verkehrsbereich. Da ist nicht nur vom Umweltbundesamt, sondern mittlerweile sogar auch aus dem Bundeswirtschaftsministerium gesagt worden, dass das, was Minister Scheuer vorlegt, Luftbuchungen sind. Genau deshalb weigert er sich auch, seine Zahlen offenzulegen. Es ist doch ein Skandal, hier mit einem Klimakabinett anzutreten, bei dem man von vornherein weiß: Der Verkehrsbereich wird nicht liefern. ({5}) Was wäre denn angesagt? Es geht doch nicht nur darum, über günstigere Ticketpreise bei der Bahn zu sprechen. Ja, die brauchen wir. Aber jeder, der regelmäßig mit der Bahn fährt, weiß, dass diese profitorientierte Aktiengesellschaft nicht zukunftsfähig ist, eben weil sie auf Profit getrimmt ist. Das heißt, wir müssen die Eigentumsform der Deutschen Bahn ändern. ({6}) Wir müssen dahin kommen, dass diese Bahn wieder eine Bürgerinnen- und Bürgerbahn für alle wird und nicht auf Profit ausgerichtet ist. ({7}) Wir müssen die Strecken ausbauen. Wir müssen alte Strecken reaktivieren. Wir müssen Strecken elektrifizieren, und wir müssen dafür sorgen, dass die Bahn endlich pünktlich und zuverlässig wird. ({8}) Wir müssen den Autoverkehr reduzieren. Wir müssen es schaffen, dass die ländlichen Regionen viel mehr an den öffentlichen Nahverkehr angebunden werden, damit die Menschen nicht mehr unbedingt darauf angewiesen sind, jeden kleinen Weg mit dem Auto zu fahren. Wir brauchen Alternativen zur Automobilität. Genau darum geht es: Es reicht nicht aus, die Technik zu ändern; wir müssen das System ändern. ({9}) Reden wir über die Land- und Forstwirtschaft: Wir brauchen eine nachhaltige und zunehmend mehr ökologische Landwirtschaft. Wir müssen raus aus der Agrarindustrie und dem System der Fleischfabriken. Wir brauchen eine vollkommen andere Landwirtschaft, die nicht auf Düngemittel setzt und die nicht darauf setzt, dass die Waren um die Welt gekarrt werden, sondern die auf Regionalisierung und regionale Kreisläufe setzt. ({10}) Das bedeutet: Im Kontext des Waldes müssen wir auch über Maßnahmen der Aufforstung reden. Das stimmt, aber das kann doch nicht nach dem Gießkannenprinzip passieren. Es kann doch nicht angehen, dass überall in Deutschland das Geld ausgeschüttet wird, sondern wir müssen es punktgenau machen. Wir müssen uns anschauen, in welchen ländlichen Regionen bzw. in welchen Bundesländern der Wald gerade bedroht ist. Ich nenne hier beispielsweise Thüringen und Rheinland-Pfalz. Das heißt, wir brauchen ein Nothilfeprogramm für den Wald. Wir müssen Geld freimachen: für Personal, Ressourcen und Forschung, beispielsweise auch über Saatgut. Und last, but not least: Wir brauchen den Systemwandel. Wir müssen anders wirtschaften und anders konsumieren. Nur so wird es uns gemeinsam gelingen – aber nicht mit Marktwirtschaft und nicht mit diesem Klimapaket. Vielen Dank. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Hans-Georg von der Marwitz das Wort. ({0})

Hans Georg Marwitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004107, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In diesen Tagen begreifen wohl auch die naturfernsten Biografien, dass sich etwas zu verändern scheint, nämlich das Klima. Das sieht man am deutlichsten in den Wäldern unserer Tage. An sich ist der Wald ein wahres Multitalent und Diener unserer Gesellschaft. Er bindet CO2, produziert Sauerstoff, reinigt die Luft und das Wasser, stellt Raum für Sport und Erholung und liefert nicht zuletzt den wundervollen Roh-, Bau- und Werkstoff Holz, den wichtigsten nachwachsenden Rohstoff Deutschlands. Allerdings ist die Situation derzeit durch Stürme, Dürre, Käferkalamitäten, Schadholzanfall und Preisverfall für viele Waldbauern existenzbedrohend. Der gestrige Waldgipfel von Frau Klöckner war ein wichtiger Aufschlag. Ich glaube, wir alle suchen Lösungen und Antworten auf das derzeitige Drama. Wir sind uns einig, dass wir artenreiche, vielfältige Wälder brauchen, bevorzugt naturverjüngt, standortangepasst und kahlschlagsbefreit. Nur sind dies keine forstlichen Neuigkeiten und schon gar keine Ideen der Grünen in 2019 als Antwort auf den Klimawandel im Wald. Dies alles ist sehr wohl bekannt und seit Jahrzehnten in der Umsetzung. Lieber Kollege Felser, längst ist das, was Sie gerade als mangelhaft kritisiert haben, gängige Praxis. Wir haben doch aus den Stürmen der vergangenen Jahrzehnte gelernt. Ich frage mich immer wieder, ob Sie in den gleichen Wäldern unterwegs sind wie ich, und als Biolandwirt mit Waldparzelle bin ich wirklich oft draußen. Liebe Grüne, hören Sie bitte auf, Bilder zu zeichnen, in denen ständig von Kahlschlägen, Pestizideinsatz mit Hubschraubern, Plantagenwirtschaft und Holzfabriken die Rede ist! Die Wahrheit ist doch, dass der Waldumbau seit Jahrzehnten in vollem Gange ist. Die Schwierigkeit ist nur, dass es im Wald nicht die eine Wahrheit gibt. An dieser Stelle nenne ich ein paar Zahlen: Der Nadelholzanteil in Reinbeständen – Ihre sogenannten Plantagen – beträgt schon jetzt nur noch 27 Prozent. In der nächsten Waldgeneration werden es gerade noch 10 Prozent sein. Wir haben in den letzten Jahrzehnten wirklich gelernt. ({0}) Der von Ihnen geforderte Verzicht auf Kahlschlag ist über die Landesverordnungen schon längst gesetzlich umgesetzt. Und zum Pestizideinsatz: In Deutschland werden jährlich nur 15 Tonnen auf weniger als 1 Prozent der gesamten Waldfläche zum Einsatz gebracht. Was ist das im Vergleich zur Landwirtschaft oder zum Landschafts- und Gartenbau, wo wir von 100 000 Tonnen sprechen? ({1}) Übrigens sind unsere Wälder die Ökosysteme mit der höchsten Artenvielfalt in Europa. Ich zitiere aus dem jüngsten Bericht zum Indikator „Artenvielfalt und Landschaftsqualität“ des Bundesamtes für Naturschutz: Bei der Artenvielfalt und Landschaftsqualität der Wälder sah es im Vergleich zu den anderen Lebensraumtypen zuletzt deutlich besser aus: 2015 wurde hier mit 90,1 Prozent des Zielwerts der im Vergleich zu anderen Teilindikatoren höchste Wert erzielt. Liebe Grüne, die Urwaldoffensive ist jedoch Ihre interessanteste Forderung. Sie fordern einen Nutzungsverzicht auf 5 Prozent der Waldfläche und sogar auf 10 Prozent der Fläche in öffentlicher Hand. Der Wildnisfonds von 500 Millionen Euro lässt vermuten, dass dies noch lange nicht das Ende der Fahnenstange sein soll. Wenn wir aber wissen, dass die höchste CO2-senkende Leistung im vitalen, bewirtschafteten Wald und in der vielseitigen Nutzung des Werkstoffes Holz liegt, dann wundere ich mich doch sehr über diese Forderung. ({2}) Holz ersetzt energieintensive und zum Teil problematische Materialien wie Plastik, Stahl, Aluminium und Beton. ({3}) Dies ist doch wohl uns allen geläufig, und wir sind dankbar, dass wir diesen wertvollen Werkstoff haben. ({4}) Die Holznutzung wird bei Ihnen, wie auch im Antrag zu lesen, ständig mit Einschränkungen und Verboten belegt.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege von der Marwitz, erlauben Sie eine Zwischenfrage?

Hans Georg Marwitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004107, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. – Bauholz ja, Papier nein, thermisch eventuell oder nur am Ende des Nutzungszyklus. Holz nutzen zu wollen, aber die Ernte ständig mit dem Vorwurf der Profitgier und des Raubbaus zu belegen, das passt nicht zusammen. ({0}) Erzählen Sie den Menschen draußen diese Geschichte doch einmal zu Ende. Wenn es, wie einige Walderklärer auf Ihren Veranstaltungen fordern, eine Holznutzungssteuer gibt und Flächen zur Realisierung von Urwaldfantasien stillgelegt werden, dann hat das folgende Konsequenzen: Erstens. Holz wird wieder durch Materialien wie zum Beispiel Plastik ersetzt. Zweitens. Holz wird über Tausende von Kilometern aus problematischen Herkunftsregionen wie Südamerika oder den Primärwäldern Russlands importiert. – Dieser Ansatz ist ökologisch nicht zu Ende gedacht und ökonomisch ein Desaster. ({1}) Mit Ihrem Antrag diskreditieren Sie 1,1 Millionen Menschen des Clusters Forst und Holz, der nachhaltigsten Branche unserer Volkswirtschaft. Deshalb komme ich nicht umhin, diesem Antrag meine Unterstützung zu verweigern. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Heiko Wildberg für die AfD. ({0})

Dr. Heiko Wildberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004935, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Angesichts der Kritik an der bisherigen Klimapolitik der Regierungsparteien durch die Grünen, die ich aus anderen Gründen teile, ist es vielleicht angebracht, zu schauen, welche Politik die Grünen betreiben. Im Antrag „Handeln jetzt – Auf dem Weg zum klimaneutralen Deutschland“ der Grünenfraktion steht vieles; aber nur vordergründig handelt es sich um Klima und Umwelt. Als Mitglied des Umweltausschusses hege ich die Sorge, dass die Umwelt hier nur instrumentalisiert wird, ({0}) frei nach Helmut Schmidt: Der Antrag enthält viele Visionen, nur leider ist der Antragsteller nicht zum Arzt, sondern in den Bundestag gegangen. ({1}) Das sind keine Pläne für eine intakte Umwelt, glückliche Menschen, Freiheit oder Gerechtigkeit. Nein, das sind grüne Visionen von Macht, Bestrafung, Gängelung und staatlicher Bevormundung. Einige Beispiele: Sie sprechen von einer Vorreiterrolle in allen Sektoren in einem einmaligen globalen Transformationsprojekt; hierbei seien alle mitzunehmen. – Dies, meine Damen und Herren, sind nicht meine, sondern die Worte der Antragsteller. Ziel scheint hier eher zu sein, eine bürokratische Herrschaft aufzumachen, in der persönliche Freiheiten, Privateigentum und des Volkes Wille nur eine sehr, sehr untergeordnete Rolle spielen. Es ist eine Vision von Abhängigkeit und staatlicher Alimentierung. Es ist, kurz gesagt, ein Albtraum. ({2}) Hier einige Beispiele: Die Grünen wollen, dass die Klimareligion, wie ich das nenne, im Grundgesetz verankert wird, um eine „hohe Durchschlagskraft“ zu erzielen, wie es im Antrag heißt. Der CO2-Ablasshandel soll forciert werden. Allerdings dürfen wir gnädigerweise auf ein staatliches Almosen in Form eines Energiegeldes hoffen. So schafft man Abhängigkeiten und macht den Bürger gefügig. ({3}) Sie wollen den Ausbau der Bahn und anderer öffentlicher Verkehrsmittel. Das ist richtig – das wollen wir auch –, aber warum knüpfen Sie dieses Vorhaben an eine Ideologie? Es ist auch ohne Ideologie ersichtlich, dass wir da einiges tun müssen. Und warum gehen Sie, meine Damen und Herren, nicht in den Bundesländern mit gutem Beispiel voran, in denen Sie an der Regierung beteiligt sind und der öffentliche Nahverkehr trotzdem marode ist? Da hätten Sie doch schon mal zeigen können, was Sie draufhaben. ({4}) Zum Individualverkehr. Die Antragsteller gehen diesmal sogar über den gewohnten grünen Dreiklang – Verbieten, Verteuern und Fahrradweg – hinaus und fordern Strafen und Punkte, abhängig vom Wohlverhalten der einzelnen Bürger. Das erinnert mich an andere Systeme, die so etwas Ähnliches machen. Sie wissen vielleicht, was ich meine. Wenig Rücksicht wird auf die Landbevölkerung genommen – zugunsten Ihrer Wähler in Ballungsräumen und großen Städten. Sie betreiben mit Ihrem Antrag eine knallharte Klientelpolitik. Landwirte oder Bauern beispielsweise sollen durch ausgeklügelte bürokratische Umverteilungssysteme in staatliche Abhängigkeit überführt werden. Die Grünen wollen neben Ölheizungen nun auch noch die Gasheizungen verbieten. Hauseigentümer sollen noch mehr Vorschriften erfüllen. Produktive, gut bezahlte Arbeitsplätze geraten in Gefahr – das kann man an diesem Antrag sehen –, durch unproduktive, überflüssige Stellen in noch zu schaffenden staatlichen Bürokratien ersetzt zu werden. ({5}) Meine Damen und Herren, Sie sehen, ich habe nicht zu viel versprochen. In Ihrem Antrag ist für fast alle Bundestagsausschüsse etwas drin. Im Umweltausschuss wird – das kann ich Ihnen versprechen – die AfD immer wieder aufzeigen, dass der Kaiser, Ihre Klimareligion, nackt ist.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Heiko Wildberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004935, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ja. – In den letzten Wochen gab es zahlreiche Ereignisse, die das Gebäude der Klimareligion zum Einsturz bringen werden. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Michael Schrodi für die SPD-Fraktion. ({0})

Michael Schrodi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004884, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Beschluss des Klimakabinetts zeigt, dass wir die Herausforderung Klimaschutz ernst nehmen und wir uns insbesondere der Bedeutung des Waldes für den Klimaschutz bewusst sind. Das möchte ich an drei Punkten verdeutlichen: Erstens. Ja, die Forst- und Holzwirtschaft ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Wälder sind aber keine Holzfabriken. Sie sind Ökosysteme, die wichtige Leistungen für Natur und Gesellschaft erbringen. Wir werden diese ökologischen Leistungen stärker in den Vordergrund rücken: der Wald als Klimaschützer, der Treibhausgase bindet und für sauberes Wasser, saubere Luft und Bodenschutz sorgt. Wir stellen dafür hohe finanzielle Mittel bereit. Der Waldklimafonds wird aufgestockt, von 19,5 auf 24,5 Millionen Euro für Maßnahmen zur Anpassung der Wälder an den Klimawandel, weg von den Monokulturen hin zu stabilen, widerstandsfähigen und naturnahen Laubmischwäldern mit bevorzugt standortheimischen Baumarten, die dem Klimawandel gewachsen sind. Da brauchen wir klare Förderkriterien. Unser Finanzminister, Olaf Scholz, stellt für den Wald zusätzlich Mittel aus dem Energie- und Klimafonds bereit: 547 Millionen Euro für vier Jahre. Gemeinsam mit den Ländern sind es 800 Millionen Euro. Wir wollen den Wald schützen und zukunftsfest machen. Dafür stellen wir jetzt viel Geld zur Verfügung. Das ist ein wichtiges Signal, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({0}) Ziel ist es nicht nur, den Wald an den Klimawandel anzupassen, sondern auch, den Klimawandel an sich zu bekämpfen. Das wollen wir unter anderem erreichen, indem wir Menschen alternative Angebote unterbreiten. Deshalb ist zweitens festzuhalten: Mit den Beschlüssen des Klimakabinetts, mit dem Weg, auf den wir uns jetzt begeben, starten wir ein richtig großes Investitionsprogramm zur klimafreundlichen Modernisierung unseres Landes. 86 Milliarden Euro werden beispielsweise bis 2030 in das Schienennetz der Deutschen Bahn investiert. Das ist eines der größten Investitionsprogramme, das die Bahn je erlebt hat. Wir erhöhen die Bundesmittel für den öffentlichen Nahverkehr auf 1 Milliarde Euro, später auf 2 Milliarden Euro. Und wir fördern steuerlich die Elektromobilität. Auch das sind wichtige Maßnahmen für den Klimaschutz. Das sind Investitionen in die Modernisierung unseres Landes. ({1}) Eines sei verdeutlicht: Es steht nicht nur in den Beschlüssen des Klimakabinetts, dass wir ein Klimaschutzgesetz auflegen, lieber Kollege Hofreiter, sondern wir sind schon in der Ressortabstimmung. Wir sind schon viel weiter. Das haben Sie noch gar nicht gelesen. Das Ding ist schon in der Ressortabstimmung. Außerdem machen wir – drittens – den Kohleausstieg möglich. Von all dem stand übrigens in den Jamaika-Vereinbarungen nichts drin. Wir handeln. Wir machen uns auf den Weg, und das mit großen Schritten. ({2}) All diese Maßnahmen sind zielgenau. Das habe ich bei Ihren Anträgen an der einen oder anderen Stelle vermisst. Sie wissen genau, dass eine nationale Regelung zur Kerosinsteuer keinen Sinn macht, deswegen wollen wir eine europäische Lösung. Aber an den Punkten, an denen wir das machen können, planen wir eine zielgenaue, wirksame Regelung auf nationaler Ebene. So planen wir eine Erhöhung der Luftverkehrsabgabe für Inlandsflüge. Damit werden wir die Senkung der Mehrwertsteuer auf Bahnfahrten im Fernverkehr auf 7 Prozent finanzieren. Das ist eine sinnvolle Maßnahme, die wir auf den Weg bringen. ({3}) Damit bringen wir Umweltpolitik, Klimaschutzziele und moderne Industriepolitik zusammen. Wir als Koalition haben bereits Anträge zum Schutz des Waldes beschlossen. Das Klimakabinett hat Weichen gestellt. Wir als Koalition haben also vorgelegt. In den Anträgen zum Thema Wald, die jetzt vorliegen, steht vieles, was die Beschlüsse, die wir gefasst haben, schon enthalten. Das ist also eine Bestätigung, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Ich lade alle ein, sich an diesem Zukunftspaket, an den Debatten zu mehr Klimaschutz zu beteiligen. Machen wir uns gemeinsam auf diesen Weg! Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun Dr. Lukas Köhler das Wort. ({0})

Dr. Lukas Köhler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004786, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Anja Weisgerber, du hattest gefragt, warum wir als Opposition gegen diese vielen Einzelmaßnahmen seien. Es gibt einen guten Grund dafür: Wir sind dagegen, sinnlos Geld auszugeben. Deswegen sind wir gegen dieses Paket an Einzelmaßnahmen, deren Ziele unklar sind, deren Effekte unklar sind. Um ein Beispiel zu nennen: Die Kfz-Steuer zu erhöhen, hat für das Klima überhaupt keinen Effekt. Durch die Kfz-Steuer wird ein Auto besteuert, auch wenn es nur herumsteht, nicht aber der CO2-Ausstoß. Das ist wirklich keine kluge Lösung. ({0}) Klimaschutz ist zu wichtig, um ineffizient zu handeln. Ich glaube, das ist der Punkt, um den es geht, das muss die zentrale Botschaft sein. Das Ziel ist dabei klar vorgegeben, nämlich das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Abkommens. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Das haben wir uns nicht politisch überlegt, das wurde nicht von irgendwoher gesteuert, sondern das gibt uns die Wissenschaft vor. Das Abkommen, das wir beschlossen haben, müssen wir einhalten. Der Weg wird vom IPCC vorgegeben; da beißt die Maus keinen Faden ab. Das bedeutet, wir können politisch ein CO2-Limit festlegen, und müssen dann einen Pfad designen, wie wir das festgelegte Ziel erreichen. Grundsätzlich sagen wir als Freie Demokraten: Wir sind gegen Verzicht, wir sind gegen Verbote. Diese bringen nichts außer der Einschränkung der Freiheit, vor allen Dingen bringen sie aber dem Klima nichts. Aber auch wir müssen zugeben, dass an einer Stelle ein Verbot eingeführt werden muss. Das muss das Verbot sein, mehr CO2 auszustoßen, als es das CO2-Limit nach dem Pariser Abkommen erlaubt. Das ist das einzige Verbot, das in irgendeiner Weise sinnvoll ist. Alles andere ist abzulehnen. ({1}) Es ist einfach, wirksam und vor allen Dingen schnell einführbar. Dazu müsste man jetzt den Antrag stellen, den Emissionshandel auszuweiten, könnte das im nächsten Jahr umsetzen und hätte dann die entsprechende Wirksamkeit. ({2}) Aber, liebe Grüne, das, was wir an einfachen, günstigen und effizienten Vorschlägen machen, steht im krassen Gegensatz zu Ihrem Antrag. Ich kann mir schon vorstellen, lieber Herr Kollege Saathoff, warum Sie diesen Antrag, der ja genauso bereits im letzten Jahr gestellt wurde, gut finden: Im Prinzip ist er nichts anderes als das Klimapaket – oder besser: Klimapaketchen – der Großen Koalition. Er enthält viele Einzelmaßnahmen ohne irgendeinen Sinn, ohne ein Ziel, ohne dass wir wissen, was passiert. ({3}) Der Vorschlag zur CO2-Steuer ist klimapolitisches Glücksspiel. Sie spielen mit dem Klima, liebe Grüne. Das kann doch nicht Ihr Ziel sein! Vor allen Dingen kann das doch nicht Ihr Ernst sein! ({4}) Einen letzten Hinweis müssen Sie mir noch gestatten. Wenn Sie schon aus Ihrem Antrag aus dem letzten Jahr einfach per Copy-and-paste Passagen übertragen, dann gucken Sie doch bitte noch einmal die Fakten durch. Ich zitiere aus dem Antrag aus dem letzten Jahr: Trotz Aktionsplänen und Programmen sind die Treibhausgasemissionen in Deutschland in den letzten Jahren wieder angestiegen. Im Jahr 2018 war diese Aussage richtig. Ich zitiere aus dem jetzt vorliegenden Antrag: Trotz Aktionsplänen und Programmen sind die Treibhausgasemissionen in Deutschland in den letzten Jahren wieder angestiegen. Diese Aussage ist 2019 falsch, denn im letzten Jahr sind die Emissionen gesunken. Ich finde, Sie können Ihre Anträge kopieren, noch einmal einbringen, der GroKo vorlegen, was Sie an Einzelmaßnahmen haben – alles gut –, aber Sie sollten wenigstens die Fakten durchgehen und das ein bisschen umschreiben. Das würde mich freuen, ansonsten freue ich mich auf die Debatte im Klimakonsens. Vielen lieben Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Harald Ebner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Harald Ebner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004215, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Gestern war Ministerin Klöckners Nationaler Waldgipfel. Herausgekommen ist dabei, wie leider schon beim Klimakabinett, viel zu viel heiße Luft. ({0}) Das ist aber das Letzte, was Klima und Wald gerade brauchen. Statt Holzbranche, Umweltschützer und Zivilgesellschaft zu gemeinsamen Kraftanstrengungen zu bringen, hat die Ministerin gestern nur einen Spaltkeil getrieben und ihre Kritikerinnen und Kritiker beschimpft. Das war wirklich der Gipfel! Der Wald braucht aber weniger Show und dafür mehr „Anpacken“. ({1}) Wir müssen den angeschlagenen Wald retten und ihn in die Lage versetzen, Kollege von der Marwitz, Klimaretter durch CO2-Bindung zu bleiben. Dafür müssen wir klug in seine Zukunft investieren. Nicht alles im Eckpunktepapier von gestern ist falsch, aber allzu vieles davon ist nur halbrichtig und halbherzig. Statt im Panel zu erörtern, „wie kommt das Geld in die Fläche“ – so steht es im Programm des gestrigen Tages –, ist doch die Frage, wie bekommen wir das Geld in den Wald! ({2}) Und zwar mit klaren Bedingungen und Kriterien.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Ebner, ich habe die gute Nachricht für Sie, dass ich gerade die Uhr angehalten habe. Lassen Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Weiler aus der Unionsfraktion zu?

Harald Ebner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004215, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gerne.

Albert Weiler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004439, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Kollege Ebner, Sie haben gesagt, wir müssten mehr anpacken. Darin stimme ich Ihnen zu, aber ich habe zwei Fragen. Die erste Frage ist – diese werden Sie sicherlich bejahen –: Hat jeder eine Verpflichtung, mit anzupacken? Die zweite Frage ist: Ich habe vor circa drei Wochen den Vorschlag gemacht, dass die Menschen, die Zeit haben, im Wald zu arbeiten, auch mitmachen müssen. Das heißt also, man müsste alle Hartz-IV-Empfänger, die Zeit haben, die nicht in einer Maßnahme, sondern zu Hause sind, verpflichten, dass sie beim Waldaufbau mitmachen. Das Gleiche gilt auch für Asylbewerber. ({0}) Diese Menschen sollten beim Waldaufbau mitmachen und somit den anderen vielen Ehrenamtlichen helfen, die das auch tun. Von Ihrer Fraktion gibt es dazu irritative Aussagen; diese habe ich auch über Facebook bekommen. Ich finde, jeder, der kann, sollte mitmachen. Ich frage Sie, ob Sie mir da zustimmen. Danke schön. ({1})

Harald Ebner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004215, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Kollege! Ich finde Ihre Frage an dieser Stelle ziemlich sachfremd. Gestern wurde aber auf dem Waldgipfel auch angesprochen, dass die Zahl der Toten im Wald mit zunehmenden Schäden enorm angestiegen ist. Waldarbeit ist gefährlich. Da schicken wir niemanden in den Wald, der nicht dafür ausgebildet ist. Das sollten Sie bitte berücksichtigen. ({0}) Die Frage war, wie bekommen wir das Geld in den Wald, und zwar mit klaren Bedingungen und klaren Kriterien, wofür wir das Geld investieren. Das müssen ökologische Kriterien sein. Wir müssen, wenn wir die Flächen räumen, das so schonend machen, dass Naturverjüngung eine echte Chance hat. Wir müssen zudem in den Aufbau vielfältiger Laubmischwälder als Waldökosysteme investieren. Das ist der Wirtschaftswald der Zukunft. ({1}) Das muss viel schneller gehen, Kollege von der Marwitz. Der Anteil der Urwaldfläche in Höhe von 5 Prozent steht übrigens in der Biodiversitätsstrategie der Bundesregierung. Schützen wir unseren Wald also bitte vor zu panikartigen Schnellaufforstungsattacken mit Wunderbaumarten, die es gar nicht gibt. Setzen wir bitte auch auf eine Holzbaustrategie, um das CO2 möglichst lange in Bauwerken zu binden. Das hilft dem Wald, dem Klima und den Waldbesitzern bei einer ökologischen naturnahen Waldbewirtschaftung. Danke schön. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Karsten Möring das Wort. ({0})

Karsten Möring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004356, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir eine Bemerkung vorweg aufgrund der bisherigen Diskussion. Ich habe heute das erste Mal erlebt, dass aus der Fraktion der AfD Stimmen für eine Unterstützung zur Beseitigung von Klimaschäden oder ‑folgen kamen, nämlich für eine Unterstützung von Waldbesitzern. Das finde ich insofern bemerkenswert, als ich bisher von der AfD immer nur gehört habe, der Klimawandel sei ein natürlicher Prozess, man müsse nichts machen, menschengemacht sei er sowieso nicht, alles andere sei nur Hysterie. Da frage ich mich nämlich: Wenn akzeptiert wird, dass es diesen Klimawandel gibt, nehmen Sie die Konsequenzen nur bei den Waldbesitzern so beliebig hin, oder würden Sie mir zustimmen, dass es Handlungsbedarf auch in zahlreichen anderen Feldern gibt, bei denen Sie sich bisher verweigert haben, irgendetwas zu tun? ({0}) Liebe Frau Badum, auch zu Ihnen muss ich eine kleine Bemerkung machen. ({1}) – Ja, es war schön. Es geht halt nicht immer; sonst säßen wir ja alle in einer einzigen Fraktion. – Mit Blick auf das, was Sie zum Hambacher Forst gesagt haben, darf ich Sie daran erinnern: Es war eine Entscheidung der rot-grünen Regierung – mit Ihrer Beteiligung an der Leitentscheidung –, zu sagen: RWE darf die Braunkohle unter dem Hambacher Forst abbaggern, ({2}) und im Gegenzug wurde an anderer Stelle gekürzt. Sie haben sozusagen das Beseitigen von Siedlungen – das war die andere Belastung – wegen des Abbaggerns von Braunkohle unter dem Hambacher Forst beschlossen. ({3}) Dann können Sie sich nicht heute hinstellen und so tun, als hätten Sie damit nichts zu tun. ({4}) Daran muss man hin und wieder erinnern, damit da keine Legenden entstehen. Jetzt aber zum eigentlichen Thema. Der Kulturraum Wald dient uns zur Erholung. Er stabilisiert Wasser- und Temperaturhaushalt. Er weist eine hohe Biodiversität aus; aber er ist auch ein Wirtschaftsgut von erheblicher Bedeutung, und er ist eine nachhaltige CO2-Senke. Er wächst in Generationen. Das bedeutet aber auch, dass Waldschäden sehr langfristige Folgen haben und zu lang andauernden Belastungen führen. Deswegen müssen sie möglichst klein gehalten werden, und das ist eine gemeinsame Aufgabe von uns allen. Unsere Wälder sollten naturnah sein, ein stabiles Ökosystem bilden. Das kräftigt ihre Widerstandskraft. Dazu brauchen wir aber auch Baumarten, die besser mit Trockenheit zurechtkommen und widerständiger gegen Schädlingsbefall und klimaresilienter sind als bisher. Da müssen wir dann aber auch die Möglichkeiten von Züchtungen schaffen und dabei den Einsatz genetischer Methoden prüfen; denn die Zeit drängt, und biologische Züchtung dauert eben auch lange. Im Übrigen müssen wir sowohl die Naturverjüngung als auch die Aufforstung und standortgerechte Nachpflanzungen – alles zusammen – in den Blick nehmen. Anders als die Grünen sind wir der Auffassung, dass wir diese drei Methoden brauchen und dass wir uns nicht auf eine Naturverjüngung kaprizieren sollten. Liebe Grüne, auch die Einbeziehung invasiver Arten müssen wir in den Blick nehmen. Wir sollten sie nicht von vornherein ausschließen. (Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wissen Sie, was invasive Arten sind? – Pardon? ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Wir sind jetzt hier aber nicht im Dialog, sondern das Wort hat der Kollege Möring.

Karsten Möring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004356, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir haben über Jahrhunderte hinweg die Einwanderung standortfremder Pflanzen als Folge von Klimaänderungen erlebt, und deswegen ist es nicht grundsätzlich schädlich, zu sagen: Wir nehmen auch Pflanzen, die hier zurzeit nicht wachsen, und kucken, inwiefern wir sie für die Verbesserung unserer Waldökologie nutzen können. Das Ganze müssen wir dann auch mit einer Forschung begleiten. Denn wir wollen vor allen Dingen eins: Wir wollen faktenbasierte Entscheidungen und keine Entscheidungen, die nur auf Glaubensbekenntnissen beruhen. Deswegen bin ich der Landwirtschaftsministerin und auch dem Finanzminister dankbar, dass sie sich bereit erklärt haben, mit einer erheblichen Summe einzuschreiten. Ich bin ihnen deswegen dankbar, weil auch in meinem Heimatland Nordrhein-Westfalen unsere Landwirtschaftsministerin Ulla Heinen-Esser und der Ministerpräsident letztens nicht nur im Kölner Königsforst unterwegs waren – ein wichtiger Erholungs- und Wirtschaftswald auf dem Stadtgebiet –, dort nicht nur den Schaden betrachtet haben, sondern auch ein Landesprogramm über 100 Millionen Euro in zehn Jahren aufgelegt haben. Ich finde das hervorragend und vorbildlich auch für andere Länder. Nur Bund und Land gemeinsam werden dieses Thema bewältigen können. ({0}) Zusammengefasst: Sturm, Trockenheit und Schädlinge greifen den Wald an. Wir werden ihm in einem Bündnis für den Wald beistehen, ihm bei seiner Verteidigung helfen. Also, packen wir es an! ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Marco Bülow.

Marco Bülow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003512

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir kennen das so ein bisschen von Lieferungen: Man erwartet ein Paket. Es kommt vielleicht deutlich später, als man es braucht. Dann kommt ein Riesenpaket an. Man freut sich. Man öffnet – viel Papier, viel Luft, viel Plastik –, und das, was man am Ende auspackt, wird immer kleiner. So ist das Klimapaket, das für mich nicht mal ein Päckchen ist: Es ist mutlos, ({0}) es ist hilflos, es verteilt ein paar Geschenke, aber vor allen Dingen packt es nicht das an, was wir jetzt brauchen, und das wäre eben der große Wurf, von dem gesprochen worden ist. Wir brauchen eben auch den Mut, uns mit denen anzulegen, bei denen wir das vielleicht die ganze Zeit nicht gemacht haben. Es gibt auch Beispiele dafür, wo wir anfangen können, wo es eben nichts kostet, wo es sogar Geld bringen würde. Ich nehme mal zwei Punkte heraus. Der eine ist das Tempolimit. In der SPD wurde es auf einem Bundesparteitag – ich war damals dabei; das habe ich mit initiiert – beschlossen. Aber dies ist hier im Bundestag nie angekommen, weil die Bundestagsfraktion einen entsprechenden Vorschlag in die Koalitionsverhandlungen überhaupt nicht eingebracht hat. Ein Tempolimit würde zwischen 3 Millionen und 5 Millionen Tonnen CO2 einsparen. Bei einem Tempolimit würde es weniger Verkehrstote und weniger Stickoxide geben; es hätte nur Vorteile, auch weil dadurch Sprit gespart und Staus vermieden würden. Aber wir sind zu mutlos, es umzusetzen. ({1}) Ein zweiter Punkt. Damals hat der Abgeordnete Uli Kelber von der SPD sehr stark dafür gestritten, das Top-Runner-Modell, das in Japan sehr erfolgreich ist, einzuführen. Dort werden nämlich Produkte danach getestet, wie energieeffizient sie sind, und das effizienteste Produkt wird als Maßstab genommen für alle anderen, die diesen Maßstab in fünf oder sieben Jahren ebenfalls erreichen müssen. Das führt zum Beispiel dazu, dass in Japan Klimaanlagen innerhalb von zehn Jahren 60 Prozent an Energie einsparen konnten. Auch das konnten wir hier nie durchsetzen, und auch das ist mutlos; denn man hatte wieder Angst, sich mit einigen anzulegen. Auch die Einführung dieses Modells würde Geld für den Verbraucher einsparen; aber letztendlich würden auch die Unternehmen profitieren, weil sie nämlich effizienter sind. Das wären Maßnahmen, die wir hätten ergreifen müssen. Die Gesamtliste solcher Maßnahmen ist ungleich länger. Wir müssen solche Maßnahmen ergreifen. Wir müssen gerade mit den Dingen anfangen, die kostenlos sind oder sogar Gewinne einbringen. Ich spreche am liebsten von Klimagerechtigkeit. Eins ist ja auch klar: 10 Prozent in dieser Welt sind für über 50 Prozent der Emissionen verantwortlich. Auch in Deutschland ist es so, dass diejenigen, die reicher sind, die mehr haben, viel mehr Emissionen verursachen und dass diejenigen, die weniger Geld haben, meistens die sind, die durch den Klimawandel und die damit verbundenen Gesundheitseffekte am meisten geschädigt werden. Deswegen brauchen wir eine Klimagerechtigkeit, und wir brauchen ein Paket, das randvoll ist mit Maßnahmen und nicht mit heißer Luft und vor allen Dingen nicht mit Plastik. Vielen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Klaus Mindrup für die SPD-Fraktion. ({0})

Klaus Mindrup (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004354, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor uns steht ein tiefgreifender Strukturwandel, und da ist es wichtig, im Dialog mit den Betroffenen zu sein. Ich habe letzte Woche mit 50 Betriebsrätinnen und Betriebsräten der IG Metall gesprochen, die aus betroffenen Branchen kommen. Sie haben ein unglaubliches Wissen über Energie, über Strom. Sie wissen auch, dass der Klimawandel menschengemacht ist. Sie wollen zukunftsträchtige Jobs haben, die klimafreundlich sein müssen. ({0}) Diese Menschen haben ein Bild gemalt, wie die Energieversorgung der Zukunft aussehen soll. Da steht an erster Stelle die Versorgung mit erneuerbaren Energien. An zweiter Stelle stehen die Speicher, und das ist ganz entscheidend; das ist ein wesentlicher Aspekt, den wir viel zu sehr vernachlässigt haben. ({1}) Die dezentrale Energie schafft Arbeitsplätze, Arbeitsplätze für die Kolleginnen und Kollegen, die in den nicht zukunftsträchtigen Branchen im Augenblick keine Beschäftigung haben. Daher begrüße ich es ausdrücklich, dass das Klimakabinett den Weg freigemacht hat für Speicher, für Wasserstoff, für den Mieterstrom. ({2}) Ich bin fest davon überzeugt, dass wir eine ganz breite Zustimmung von den Bürgerinnen und Bürgern erhalten werden, dass wir die dezentrale Bürgerenergie wieder stärker fördern, gerade auch in den ländlichen Regionen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Das Ausbremsen der Bürgerenergie ist klar mit dem Namen des damaligen Energiestaatssekretärs Baake verbunden. ({4}) Erst unter der Bundeswirtschaftsministerin Brigitte Zypries hatte er keine freie Hand mehr, und wir konnten mit dem Mieterstrom in die richtige Richtung gehen. Mein Dank gilt vor allen Dingen dem damaligen Kollegen Josef Göppel von der CSU und Johann Saathoff, die damals noch Mut hatten und das freigekämpft haben. Danke schön! ({5}) Aber allein mit der PV geht die Energiewende nicht. Wir brauchen auch Wind. Die SPD hat für die Windenergie gekämpft, und sie wird es weiter tun, auch für die Arbeitsplätze bei Vestas in der Lausitz. Teile der Union haben es uns nicht einfach gemacht. Aber mit den beschlossenen Anreizen für die Standortgemeinden werden wir die Akzeptanz und den Ausbau wieder steigern. Ich rechne an dieser Stelle mit einer Rückendeckung von vielen Bundesländern. ({6}) Wir haben in den letzten Tagen viel über Abstandsflächen in Schleswig-Holstein geredet. Ich kann Ihnen sagen: Ich habe mir jetzt den Koalitionsvertrag dazu durchgelesen. Die Wahrheit ist viel, viel schlimmer als das, was in den Zeitungen steht. In dem Koalitionsvertrag sind Abstandsflächen vereinbart, die an die Höhe der Windkraftanlagen gekoppelt sind: bis zur fünffachen Höhe. Das ist absurd. Je höher die Windkraftanlagen sind, umso mehr Strom erzeugen sie, umso gleichmäßiger erzeugen sie den Strom, umso billiger wird er. Wie man so etwas ausschließen kann, ist völlig absurd. Das ist innovationsfeindlich. Diese Jamaika-Koalition in Schleswig-Holstein ist überhaupt kein Modell. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Mindrup, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen?

Klaus Mindrup (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004354, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, gerne. Bitte.

Ingrid Nestle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004119, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Herr Mindrup, da Sie heute nun schon der Dritte sind, der auf den Windenergieausbau in Schleswig-Holstein schimpft und meint, wir würden in Schleswig-Holstein nichts hinbekommen: Ist Ihnen bekannt, dass wir schon deutlich mehr Strom aus erneuerbaren Energien produzieren, als wir im ganzen Land verbrauchen, dass wir in Schleswig-Holstein selbstverständlich auch mit etwas niedrigeren Mühlen – wir haben nämlich nicht so viele Berge wie andere Länder in der Bundesrepublik – sehr gute Ernten einfahren, und zwar bessere Ernten als in Süddeutschland, und die 5H-Regel deshalb keine Verhinderung ist, dass wir jede Menge Strom aus Erneuerbaren produzieren können? Des Weiteren ist diese Regel nicht absolut gesetzt. Wir in Schleswig-Holstein haben anders, als es heute mehrmals behauptet worden ist, im Koalitionsvertrag ganz klar das 10-Gigawatt-Ziel als oberste Priorität gesetzt. Wir haben ebenfalls gesagt: Wir versuchen, auch andere Dinge zu erreichen, wenn der Spielraum dafür da ist. Aber der Ausbau der Windenergie steht nicht infrage. ({0})

Klaus Mindrup (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004354, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie haben in Schleswig-Holstein eine längere Küstenlinie, und Sie haben bessere Windbedingungen. Damit haben Sie auch eine größere Verantwortung. Man kann aber nicht negieren, dass Sie im Koalitionsvertrag diese Höhenfestlegung drin haben. Das schränkt das Potenzial ein, das Sie haben. Darum geht es an dieser Stelle. ({0}) Sie unterstellen uns, dass wir unsere Ziele nicht einhalten wollen. Wir wollen das genauso wie Sie. Wir haben das 65-Prozent-Ziel vereinbart. Wir haben es durchgesetzt, und wir werden es umsetzen. Das heißt, wir machen es genau so wie Sie an dieser Stelle, und zwar ohne pauschale Abstandsflächen. ({1}) Herr Dr. Hoffmann hat hier sehr nachdrücklich die Lage unserer Forste und Wälder in Deutschland geschildert. Aber wenn wir das Verursacherprinzip ernst nehmen, dann müssen wir eines tun: Wir müssen die Ursachen bekämpfen. Die Ursache ist der CO2-Ausstoß. Insofern kann ich nur die FDP und die CDU in NRW auffordern, das Verbot der Windkraft im Wald endlich aufzugeben, weil sie damit den Forst und den Wald in Deutschland schädigen. ({2}) Abschließend möchte ich zu zwei Punkten kommen, die immer kritisiert werden. Der erste Punkt ist: Die Ziele werden nicht erreicht. – Es ist hier schon mehrfach deutlich gemacht worden, dass Planerfüllung durch Plankorrektur durch den Mechanismus im Klimaschutzgesetz und durch die unabhängige Überprüfung einer unabhängigen Expertenkommission aufhört. Wir werden uns jedes Jahr mit dieser Frage beschäftigen, und wir werden handeln; das kann ich Ihnen an dieser Stelle versprechen. Der zweite Punkt ist: Die Ziele sind nicht ehrgeizig genug. – Dabei muss man sehen: Wir sind Teil der Europäischen Union. Wir gehen mit dem Kohleausstieg freiwillig voran. Wir haben den Konsens in der Kohlekommission geschafft, und wir schließen Kohlekraftwerke. Wir reduzieren die Emissionen dadurch, dass wir die Zahl der zu versteigernden Zertifikate verringern. Das machen wir freiwillig, und das machen wir als Vorbild in Europa. Wir haben extra dafür gekämpft, dass das Emissionsrecht in Europa so geändert wird, dass wir das tun konnten; das müssen Sie auch einmal zur Kenntnis nehmen. ({3}) Dann gelten für uns, weil die EU ja auch Teil des Pariser Klimaabkommens ist, die Ziele der EU. Sie wissen: Im Augenblick wird darüber nachgedacht, die Ziele zu verschärfen. Die Kommissionspräsidentin von der Leyen hat ja gesagt: Wir müssen das Ziel schärfer fassen. – In dem Beschluss der Koalition steht, dass wir das unterstützen. Das hat natürlich auch Folgen für uns in Deutschland. Ich kann nur an Sie appellieren, dass wir hier europäisch vorgehen – gemeinsam in der Solidarität mit unseren Nachbarn. Es ist klar: Die Ziele werden verschärft. Wir müssen besser werden. Aber wir müssen die Menschen mitnehmen. Das tun wir mit dem, was wir hier getan haben. Man sollte aufhören, das schlechtzumachen. ({4}) Es geht darum, dass dieses Industrieland Deutschland es schafft, Klimaschutz, Industriepolitik, Wohlstand, Arbeitsplätze und einen Sozialstaat zusammen hinzubekommen. Das werden wir schaffen. Ich hoffe auf die breite Unterstützung dieses Hauses. Danke schön. ({5})

Alois Gerig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004040, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als letzter Redner in dieser Debatte habe ich die Gelegenheit, das Wichtigste noch einmal zusammenzufassen. Ich will aber auch noch den einen oder anderen neuen Aspekt hinzufügen. Ich freue mich, dass ich eine stattliche Zuschauerkulisse habe. Vor einem Jahr wussten wir durch die Trockenheit: Der Wald ist angeschlagen. Wir haben unsere Sorgen: Sturm, Trockenheit und Käferbefall haben ihr Übriges getan. Aber niemand hätte damals tatsächlich gedacht, dass sich die Katastrophe mit einem zweiten Trockenjahr derart ausweiten wird. Jetzt sind es nicht nur die Fichte und die Kiefer, die sich verabschieden. Nein, auch die Buche und die Eiche sind betroffen. Das macht die Dramatik aus. Es geht um mehr als 100 Millionen Festmeter Schadholz; das haben wir gehört. Ich sage auch: Leider ist ein Ende noch immer nicht absehbar. Ich will mit einem herzlichen Dank an die vielen Forstleute draußen auf der Fläche, in der Basis beginnen, die eine gute Arbeit tun. Ich habe bei meinen vielen Besuchen Förster mit Tränen in den Augen gesehen. Ich grüße ganz herzlich meine Forstleute aus der Heimat, die da oben zuschauen. ({0}) Sie werden sich die Augen über manchen Redebeitrag reiben, den sie hier gehört haben. Der Job ist extrem schwierig, ja, gefährlich. Herr Martin Empl von der landwirtschaftlichen Sozialversicherung hat gestern gesagt: Die Anzahl von Verletzungen und Todesfällen im Wald hat sich verdoppelt. – Auch das muss uns zu denken geben. Auch da müssen wir bereit sein, zu helfen. Es braucht mehr Schulungen, und es braucht auch an dieser Stelle mehr Geld. ({1}) Mein weiterer Dank gehört unserer Bundeskanzlerin, die bei ihrer Haushaltsrede ein klares Bekenntnis zur Hilfe für den Wald gegeben hat. Ganz besonders will ich unserer Bundesforstministerin Julia Klöckner danken, die sich des Themas vor gut einem Jahr in einem frühen Stadium angenommen hat. Sie hat nicht nur zahlreiche Waldbesuche gemacht sowie Gespräche und harte Verhandlungen geführt. Nein, mit dem gestrigen Waldgipfel hat sie Experten zusammengerufen. Das war ein sehr konstruktiver Dialog, abgesehen von wenigen ideologisch geprägten Ausnahmen. Dem Kollegen Ebner, der mir gerade nicht zuhört, will ich sagen: Wären wir nicht nebeneinandergesessen, hätte ich gesagt: Sie waren auf einer anderen Veranstaltung. ({2}) Es war sehr, sehr gut, was gestern beim Waldgipfel an Fachexpertise von Praktikern vorgetragen worden ist. Ja, 800 Millionen Euro aus Bundes- und Landesmitteln sind in der Tat eine Ansage. Das ist zudem ein großes Zeichen der Wertschätzung. Jetzt geht es freilich darum – das haben manche hier gesagt –, dass wir schnell und unbürokratisch in die Umsetzung gehen. Die GAK ist sicher eine gute Möglichkeit dafür. Ich sage aber auch: Weil wir nicht wissen, wie lange die Situation im Preissegment Holz anhält, müssen wir zur Nachhaltigkeit auch über Flächenprämien für den Wald nachdenken. Kein Waldbesitzer ist aktuell auch nur annähernd in der Lage, Geld zu verdienen; nein, alle Waldbesitzer müssen drauflegen. Kurzfristig muss Schadholz aus dem Wald. Es muss eine Förderung für mehr Holzbau geben. Das ist auch CO2-bindend und nachhaltig. Wir müssen den Holzexport weiter fördern. Ich sage auch: Wo wir überschüssiges Restschadholz haben, muss eine energetische Nutzung möglich sein. Auch das ist ökologisch durchaus sehr sinnvoll. ({3}) Der Waldumbau muss vorangetrieben werden. Professor Spellmann hat gesagt: Wir sind seit 30 Jahren dabei. Aktuell sind in den Beständen der Bäume bis zu 4 Meter 72 Prozent Laubholz vertreten. – Also dürfen wir die Welt nicht immer schönreden; wir müssen auf das schauen, was unsere Förster aktuell schon machen. ({4}) Ich sage auch: Das Gequassel über heimische Baumarten mag ich nicht mehr hören. Wir befinden uns im Klimawandel – ich glaube, alle Kollegen haben das in ihren Reden heute gesagt –, und deswegen muss es möglich sein, auch angepasste Baumarten in unseren Wäldern zu pflanzen, ({5}) damit sie eine Chance haben, wieder hochzukommen. Dazu braucht es die Balance zwischen Wald und Wild. Wir müssen die Besitzer kleiner Wälder stützen, damit sie motiviert sind, wieder in ihren Wald zu gehen und dort ihre Arbeit zu machen. Schützen durch Nützen, das geht nirgendwo so nachhaltig wie im deutschen Wald. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Gerig.

Alois Gerig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004040, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin gleich fertig.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Nein, Sie müssen jetzt einen Punkt setzen.

Alois Gerig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004040, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Jawohl. – Die Ökosystemleistung des Waldes ist anzuerkennen. Dafür müssen wir alle gemeinsam kämpfen. Wir haben ein großes Ziel. Der Wald geht uns alle an. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Daniela Wagner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004184, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass Sie so zahlreich erschienen sind, um meinen Ausführungen zu einer Petition zu lauschen, die der Ausschuss einstimmig beschlossen hat. Worum geht es? Bislang dürfen gemäß § 35 Absatz 6 Straßenverkehrsordnung Fahrzeuge, die dem Bau, der Unterhaltung oder der Reinigung von Straßen und Anlagen im Straßenraum dienen, durch weiß-rote Warneinrichtungen gekennzeichnet sein, und sie genießen auf allen Straßen Sonderrechte. Sie dürfen zum Beispiel rechts überholen oder gegen die Fahrtrichtung fahren. Das soll nach dem Willen der Petenten auch für Pannen- und Bergungsfahrzeuge gelten; denn diese Fahrzeuge haben oft erhebliche Schwierigkeiten, auf blockierten Straßen zum Unfallort zu gelangen und ihre Aufgabe zu erfüllen. Sie genießen nicht diese Sonderrechte. Durch die eingeschränkten Rechte, die sie haben, sind auch die Bergung und das Abschleppen selbst erschwert. Mithin führt es sogar zu Lebensgefahr für die Beschäftigten. Mit dieser Petition begehrt der Verband der Bergungs- und Abschleppunternehmen, diese Fahrzeuge in den Geltungsbereich der genannten Bestimmung der Straßenverkehrsordnung aufzunehmen und damit Abschlepp-, Pannen- und Bergungsfahrzeugen die gleichen Rechte einzuräumen wie den Fahrzeugen, die die Sonderrechtsbefugnis nach § 35 Absatz 6 Straßenverkehrsordnung haben. Der Ausschuss hat befunden, dass das ein absolut vernünftiges Anliegen ist. Er hat es parteiübergreifend so befunden. Er hat gesagt: Diese Regelung ist aus der Zeit gefallen. Auch wenn die Unternehmen privatrechtlich organisiert sind, müssen sie dennoch die Möglichkeit haben, ihre Arbeit im Sinne von Unfallvermeidung, im Sinne einer schnellen Wiederherstellung des Verkehrsflusses und vor allen Dingen zur Vermeidung von Lebensgefahr zügig zu tun. Der Ausschuss begehrt deshalb, diese Petition der Bundesregierung zur Erwägung vorzulegen, und gibt sie auch Ihnen, den Fraktionen, zur Unterstützung zur Kenntnis, um diesem Zustand abzuhelfen und eine Gleichbehandlung der verschiedenen Fahrzeugarten zu ermöglichen. Deswegen bitte ich Sie, diese Petition, die ausgesprochen vernünftig ist, mitzutragen. – Und: Ich habe nur die Hälfte meiner Redezeit verbraucht. ({0})

Dr. Marc Jongen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004768, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Neben dem Mauerfall war die symbolisch bedeutsamste Errungenschaft der Friedlichen Revolution in der damaligen DDR zweifellos die Besetzung der Zentralen der Staatssicherheit überall im Land, dieser obersten Überwachungs- und Unterdrückungsbehörde, und die Sicherung der 111 Kilometer Akten, die sich dort im Verlauf von 40 Jahren flächendeckender Bürgerbespitzelung angesammelt hatten. ({0}) Die Bürgerrechtler und Dissidenten der DDR haben dafür gekämpft, dass diese Akten nicht einfach im Staatsarchiv der Bundesrepublik verschwinden, sondern dass sie in die Obhut eines unabhängigen Bundesbeauftragten gelangen, dass jeder DDR-Bürger die Möglichkeit erhält, seine Akte einzusehen, dass Wissenschaftler dort ungehindert forschen können und dass stark Stasi-belastete Personen identifiziert und vom Staatsdienst in der Bundesrepublik ferngehalten werden können. ({1}) Fast wäre noch der deutsche Einigungsvertrag gefährdet gewesen, hätte man diese unabhängige Behörde, später unter dem Namen Gauck-Behörde bekannt, nicht gegründet. Und jetzt, ausgerechnet im 30. Jubiläumsjahr der Friedlichen Revolution, fällt der Koalition von CDU/CSU und SPD, gebilligt von der rot-grünen und magentafarbenen Pseudoopposition, nichts Besseres ein, als die Stasiunterlagenbehörde heimlich, still und leise abzuwickeln ({2}) und die Akten doch noch dem Bundesarchiv zuzuschlagen. Meine Damen und Herren, das ist ein Hohn gegenüber den mutigen Bürgerinnen und Bürgern der DDR, die damals unter Einsatz ihres Lebens ({3}) gegen das sozialistische Zwangsregime auf die Straße gegangen sind. ({4}) Beim anschließenden Tagesordnungspunkt, bei dem diese Abwicklung heute beschlossen werden soll, haben Sie die Debattenzeit sogar noch auf lächerliche 27 Minuten gekürzt, damit alles möglichst geräuschlos über die Bühne geht. ({5}) Meine Damen und Herren, es drängt sich hier der Eindruck auf, dass der Stift angesetzt werden soll zu einem Schlussstrich unter die Aufarbeitung der Verbrechen des SED-Regimes. ({6}) Nicht mit uns, nicht mit der AfD! ({7}) Die Hinterlassenschaften der sozialistischen Diktatur, der zweiten auf deutschem Boden, sollen im Giftschrank eingeschlossen und einem weisungsgebundenen Beamten unterstellt werden. ({8}) Daher gilt auch das Argument nicht, die Akten seien weiterhin zugänglich. Der Fall Maaßen hat doch gezeigt, wie heute mit Beamten, auch mit Spitzenbeamten, verfahren wird, wenn sie einen eigenen Kopf haben ({9}) und sich schlicht an Recht und Ordnung halten. Sie werden einfach entfernt. ({10}) Vielleicht hängt das alles auch damit zusammen, dass wir von einer Kanzlerin regiert werden, deren erste Karriere – immerhin bis zum 35. Lebensjahr – im Rahmen des Staatsapparats der DDR verlief. ({11}) Von Henryk M. Broder, dem Journalisten, stammt der schöne Satz – ich zitiere –: Die Politik der Kanzlerin ist die späte Rache der DDR an der BRD. ({12}) Er bezog sich damals auf die desaströsen Folgen der sogenannten Flüchtlingspolitik. ({13}) Aber die Rache der DDR an der Bundesrepublik ist heute an sehr vielen Stellen zu konstatieren. ({14}) Die Bundesregierung beispielsweise fördert die Amadeu-Antonio-Stiftung mit Millionenbeträgen, die sich die Zensur des Internets und die Diffamierung und Ausgrenzung aller, die sich der Multikulti-Staatsdoktrin nicht unterwerfen wollen, zur Aufgabe gemacht hat. ({15}) Die Vorsitzende dieser Stiftung, Frau Anetta Kahane, war schon zu DDR-Zeiten als IM Victoria für die Stasi in Sachen Bürgerbespitzelung aktiv. ({16}) Ein Skandal in Permanenz ist das, und das ist nur ein Beispiel für die gespenstische Wiederkehr von DDR-artigen Verhältnissen in dieser Republik unter Frau Merkel. ({17}) Wenn in solchen Zeiten die Stasiunterlagenbehörde angetastet wird, dann ist das hoch alarmierend, ({18}) und dann muss man sich die Frage stellen: Cui bono? Wem nützt es? Könnte es sein, dass in Zeiten schrumpfender Volksparteien ein Klima geschaffen werden soll, in dem auch Koalitionen mit den geistigen und materiellen Erben der Mauerschützenpartei SED, nämlich mit der Linken, den Bürgern schmackhaft gemacht werden sollen? Es ist doch grotesk, wie Sie von der Linken sich als Wahrer der Demokratie und moralische Instanz aufspielen. Dass Sie eine freiheitliche und konservative Partei wie die AfD ({19}) großteils unwidersprochen mit antifaschistischer Hetze diffamieren können, ({20}) die aus dem rhetorischen Arsenal der DDR stammt, zeigt, wie weit es in diesem Land schon gekommen ist. ({21}) Ich kann nur an die Restkonservativen in der CDU/CSU und an die Restliberalen in der FDP appellieren: Spielen Sie dieses Spiel nicht mit! Machen Sie sich nicht zu den nützlichen Idioten der Linksradikalen in diesem Haus und außerhalb! ({22}) Passen wir bitte auf, dass sich kein antifaschistischer Schutzwall in den Köpfen bildet, der immun macht gegen freies Denken und bürgerliche Vernunft! ({23}) Antifaschismus klingt gut, ist aber in seiner heutigen Form nichts weiter als eine linksradikale Strategie ({24}) zur Diskreditierung genuin bürgerlicher Positionen. ({25}) Vor drei Jahren – ich komme zum Schluss – hat Volker Kauder, damals Unionsfraktionschef, noch persönlich interveniert, als die SPD die Stasiunterlagenbehörde abwickeln wollte. Jetzt ist die CDU/CSU dabei, einzuknicken, wie schon viele Male zuvor. Noch können Sie es abwenden, noch haben Sie es in der Hand. Wenn Sie auf uns nicht hören, dann hören Sie auf die über 60 DDR-Bürgerrechtler, die dasselbe fordern. Stimmen Sie nachher mit uns für den Erhalt dieser wichtigen, unabhängigen Behörde! Vielen Dank. ({26})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächste Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Elisabeth Motschmann für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Elisabeth Motschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004357, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Jongen, was Sie von sich gegeben haben, ist so falsch, so unverantwortlich und so unterirdisch. Tut mir leid. ({0}) Ich nehme Sie einmal mit ins Stasiarchiv. Wir schlagen die Stasiakte mit dem Namen „Märtyrer“ auf. Es ist die Akte eines Republikflüchtlings. Es ist die Akte meines Mannes, der hervorragende Kontakte zu Künstlern in der DDR hatte. In dieser Akte bin ich selber genau gescannt, obwohl ich immer im Westen gelebt habe. Meine Familie, mein Äußeres, meine Haarfarbe, meine Augenfarbe werden beschrieben, welche Veranstaltungen ich besucht habe, ja, wo ich konspirativ geparkt habe. Das klingt harmlos. Aber es ist nicht harmlos, meine Damen und Herren. Der Arm der Stasi reichte sogar weit in den Westen. Wie entsetzlich! ({1}) Unendlich mehr haben die DDR-Bürger unter der Stasibespitzelung gelitten. Sie mussten ständig befürchten, dass die Informationen zu endlosen Verhören, zu Verhaftungen, zu Berufsverboten führen. Letzte Konsequenz war eines der grausamen DDR-Gefängnisse. Ich stelle mich doch hier nicht vor den Deutschen Bundestag, um zu sagen: Deckel drauf, Schwamm drüber! ({2}) Wo sind wir denn? Mit über 280 000 Mitarbeitern war die Staatssicherheit, gemessen an der Bevölkerungszahl, der größte Geheimdienst der Welt. 111 Kilometer Stasiakten geben heute Zeugnis von Bespitzelung, Verfolgung und Zersetzung. Diese Akten gehören zu unserem nationalen Gedächtnis. Sie sind das Fundament für die Aufarbeitung der SED-Diktatur. Es wäre absurd, es wäre sträflich, das Stasiarchiv abzuwickeln, wie manche sich im Augenblick öffentlich äußern, oder zu schließen. ({3}) Da bin ich wie Hubertus Knabe, aber auch Frau Steinbach dezidiert anderer Meinung. Genau das wollen wir mit dem heutigen Beschluss nicht, niemals. Auf Befehl von Stasichef Erich Mielke wurden ab November 1989 Akten vernichtet. Den Erhalt der Akten verdanken wir der Bürgerrechtsbewegung. ({4}) „Stasi raus!“, riefen die Menschen vor 30 Jahren auf den Straßen. Wie mutig! Mit Mahnwachen, mit der Besetzung der Bezirksstellen haben DDR-Bürgerrechtler die weitere Vernichtung der Akten verhindert. Dafür können wir ihnen auch heute noch ganz herzlich danken. ({5}) Dieses Erbe werden wir mit der Überführung in das Bundesarchiv dauerhaft sichern. ({6}) Wir wollen das Archiv fitmachen für die Zukunft und die gesamtdeutsche Aufarbeitung stärken, genau so, wie eine Expertenkommission, die wir eingesetzt haben, es uns geraten hat. Wir wollen Kompetenztechnik, Ressourcen bündeln, digitalisieren, archivgerecht lagern. Wir wollen ein Kompetenzzentrum in Berlin-Lichtenberg für alle Dokumente der DDR-Diktatur einrichten. Wir wollen weiterhin den Opfern gerecht werden. Der Zugang zu den Akten bleibt wie bisher erhalten, soll noch schneller und besser werden. ({7}) – Nun hören Sie doch mal zu. Vielleicht würde Ihnen das ganz gut anstehen. ({8}) 3,2 Millionen Anträge auf Akteneinsicht gab es bisher insgesamt. Monatlich sind es noch immer 4 000. Wir haben das Konzept übrigens mit allen Beteiligten diskutiert. Roland Jahn und Michael Hollmann – ich begrüße sie auf der Tribüne – ({9}) haben nicht nur das Konzept erarbeitet, sondern auch mit den Beteiligten und Opfern wiederholt gesprochen. ({10}) Selbstverständlich danke ich Ihnen auch dafür. Ich habe selbst kürzlich in der Berliner Bartholomäus-Kirche mit Bürgerrechtlern unsere Planung diskutiert. Ganz nebenbei: Da habe ich von Ihnen von der AfD keinen gesehen; das wäre aber schön gewesen. – Dieter Dombrowski, Vorsitzender der Opferverbände, hat erklärt – ich zitiere –: Solange die Akteneinsicht sich für die Opfer nicht verändert bzw. sogar verbessert und das Stasi-Archiv auch in den Regionen für das öffentliche Bewusstsein deutlich sichtbar bleibt, tragen wir als Vertreter der Opfer diesen Prozess mit. Unverzichtbar bleibt für uns die Berufung eines Opferbeauftragten durch den Deutschen Bundestag. Diesen Wunsch unterstützen wir. Deshalb rufe ich von dieser Stelle alle Beteiligten und Betroffenen auf: Lassen Sie uns gemeinsam die Stasiunterlagen in eine gute Zukunft führen! Vielen Dank. ({11})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Thomas Hacker für die Fraktion der FDP. ({0})

Thomas Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004734, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Lieber Herr Jahn! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich müssten wir uns bei der AfD bedanken, dass sie uns ausreichend Zeit gibt, darüber zu reden, um welche Fragen es bei den zu treffenden Beschlüssen eigentlich geht: Wie wollen wir in Zukunft mit der Erinnerung an die düstere Zeit der Staatssicherheit, wie wollen wir mit der Friedlichen Revolution, mit den Erfolgen, die die Menschen in der DDR errungen haben, umgehen, und wie wollen wir dauerhaft die Bestände, dieses einzigartige Archiv sichern, nutzen und für die Betroffenen zugänglich machen? Eigentlich müssten wir der AfD danken. Aber der AfD geht es ja nur darum, auszugrenzen. ({0}) Es geht ihr vielleicht darum, neue Wählerschichten zu ermitteln, und es geht ihr darum, hier gespielte Empörung von sich zu geben. ({1}) Denn, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir diskutieren hier nicht heimlich, still und leise – der Deutsche Bundestag ist sicherlich alles andere als leise –; wir diskutieren im Ausschuss für Kultur und Medien seit Monaten die Konzepte. Bislang haben wir von der AfD dazu noch wenig gehört. Jetzt, in der Schlussphase, kommt Bewegung hinein. Jetzt, in der Schlussphase, legt die AfD plötzlich los. Worum geht es denn überhaupt? Wir wollen die Sicherung der Stasiunterlagen auf neue Füße stellen. Es ist doch eine Tatsache, dass säurehaltiges Papier zerfällt. Es ist doch eine Tatsache, dass Mitschnitte auf Kassetten – die üblicherweise aus den Westpaketen geklaut wurden, weil man nicht genug Tonträger hatte – auch im digitalen Zeitalter genutzt und gesichert werden müssen. ({2}) Es geht doch darum, die Archivstandorte so auszubauen, dass die Unterlagen nicht gefährdet sind. Die Unterlagen sind an den Standorten bisher nicht adäquat untergebracht. Es geht nicht darum, die Akten ein bisschen besser oder ein bisschen schöner hinzustellen, sondern darum, sie dauerhaft zu sichern. ({3}) In Halle befindet sich die Außenstelle in einem Hochwassergebiet. Ja, da kann schnell mal das Wasser die Unterlagen vernichten. Deswegen müssen wir hier auch bauliche Veränderungen vornehmen. Außerdem, meine Damen und Herren, glauben wir, dass es nach 30 Jahren tatsächlich an der Zeit ist, die Weichen richtig zu stellen, nach 30 Jahren, in denen sich die Bedürfnisse der Nutzerinnen und Nutzer, der Interessierten, der persönlich Betroffenen verändert haben, in denen neue Technologien entwickelt wurden, die wir anwenden müssen. Es kann doch nicht sein, dass bislang lediglich 2 Prozent der Akten digitalisiert wurden – erst 2 Prozent, wie wir heute Morgen beim Interview mit Roland Jahn im Deutschlandfunk erfahren haben. Wir müssen die Kräfte bündeln und nach vorne schauen. Nichts anderes wollen wir Freie Demokraten, wenn wir den Zukunftsprozess der Stasiunterlagenbehörde unterstützen. Diese technische, diese bauliche Aufstellung ist nur der erste Schritt. Wir müssen den Blick in die Zukunft richten. Ich erwarte von der Bundesregierung eine längst überfällige, zeitgemäße Novellierung der Gedenkstättenkonzeption von 2008. Wir müssen nachdenken, wie wir mit den Zeitzeugen umgehen, wie wir sichern und dokumentieren, wie wir die neuen Medien dafür nutzen, die Menschen mit ihren persönlichen Erfahrungen in den Mittelpunkt zu stellen, damit deren Erinnerungen der Nachwelt erhalten bleiben. Wir müssen nachdenken, wie wir mit den Mengen von Akten umgehen. Hier 111 Kilometer Akten, an anderer Stelle 1 450 Videos, alles nicht für den dauernden Zugang vorbereitet. Wir müssen nachdenken, wie wir mit den Unterlagen der DDR-Opposition umgehen, und sie zukunftsfest machen. Die Oppositionsgruppen haben kleine oder große, aber vor allem wertvolle Archive, die wir sichern müssen. Und bei einem Gedenkstättenkonzept müssen wir auch darüber nachdenken, wie wir mit einem klaren Kriterienkatalog sicherstellen, dass in jedem Bundesland Gedenkstätten vorhanden sind. ({4}) Dass wir in Mecklenburg-Vorpommern keine einzige haben, erschließt sich mir nicht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist der Kern des Auftrags, den wir hier diskutieren: Sicherung der Bestände auf der einen Seite, Zugänglichmachung auf der anderen Seite. Aber im Streit der Narrative, in der Diskussion in unserer Gesellschaft, die ja an vielen Stellen auseinanderzufließen scheint, müssen wir festhalten, dass es einen breiten Konsens in unserer Gesellschaft gibt, dass die Freiheitsrechte und die Bürgerrechte wertgeschätzt werden und alles dafür getan werden muss, dass wir auch in Zukunft in einer freien Gesellschaft leben. Wenn wir jetzt in diese Richtung gehen, ist das ein erster richtiger Schritt. Danke. ({5})

Katrin Budde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004686, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Ich darf noch ergänzen: Auch ein herzliches Willkommen an den Vorsitzenden des Beirates, der mit uns als Parlament unmittelbar zusammenarbeitet. Wissen Sie, Herr Jongen, ich habe schon lange nicht mehr so viel Unsinn aus so unberufenem Munde gehört. ({0}) Allein die Vorstellung, dass in einer Demokratie in einem Bundesarchiv Akten verschwinden, disqualifiziert Sie schon komplett. ({1}) Ihre Vorstellung von einem demokratischen Staat und seinen Institutionen ist schon sehr erschreckend. ({2}) Vielleicht ist Vater des Gedanken der Wunsch, dass Sie einen solchen Staat wieder haben wollen, in dem Akten verschwinden. Das könnte ich mir angesichts Ihrer Programmatik vorstellen. ({3}) Wissen Sie: Wir haben die Mahnwachen aufgestellt, damit die Akten nicht vernichtet werden. Wir haben die Stasizentralen überall vor Ort besetzt und haben dafür gesorgt, dass es die Akten heute noch gibt. Wir haben gemeinsam in der ersten frei gewählten Volkskammer dafür gesorgt, dass es eine gesetzliche Grundlage für den Aufbau einer solchen einmaligen Behörde gibt ({4}) und dass in den ersten 30 Jahren nach 1989 eine solche Aufarbeitung stattfinden konnte. ({5}) Das waren wir und nicht Sie. ({6}) Und in diesen Beständen sind unsere Akten, auch meine, und nicht Ihre, Herr Jongen. ({7}) Inzwischen ist das Stasiunterlagengesetz, das den Umgang mit den Akten und den Aufbau der Behörde regelt, zigmal novelliert, angepasst, verbessert und verändert worden. Heute liegt der neunte Änderungsvorschlag zum Gesetz vor. Es gab eine Expertenkommission, die von 2014 bis 2016 gearbeitet und einen Bericht vorgelegt hat. Das meiste aus diesem Bericht ist im Beschluss des Bundestages vom 9. Juni 2016 aufgenommen worden. Es geht darum, dass das Stasiunterlagenarchiv vollständig, aber mit eigenem Namen, mit eigener sichtbarer Eigenständigkeit, unter dem Dach, und mit den Vorteilen eines Bundesarchivs weitergeführt werden soll, dass nicht nur die Qualität der Lagerung, sondern auch die Aufarbeitung, die Sichtbarmachung und der Teil der Forschung, der in einem Archiv stattfindet, verbessert werden und der Umgang professionalisiert wird. Darum geht es. ({8}) Die Akten bleiben natürlich regional. Das war nicht nur Wunsch der Expertenkommission. Vielmehr ist es Wunsch von uns allen, dass es einen großen Standort je neuem Bundesland gibt und dass er modern, gut und neu ist. Ich glaube, das ist eine Riesenherausforderung für das Bundesarchiv. Herrn Hollmann wird nicht alles gefallen, zum Beispiel wie wir die Akten gesichert, gelagert und zugänglich gemacht haben wollen. Das wird ein ganz besonderer Archivteil werden, und wir werden eine gute Lösung dafür finden; denn das werden wir politisch entscheiden. Am Ende wird es eine Verbesserung sein. Es geht darum, dass wir bessere Voraussetzungen für die Digitalisierung schaffen, dass wir mehr rekonstruieren können. Die Aufgabe, dass der Präsident des Bundesarchivs und Herr Jahn zusammen einen Vorschlag vorlegen – das ist angesprochen worden –, ist bislang gut vollzogen worden. Wir haben ihn im Beirat nicht nur angehört, sondern auch darüber diskutiert, und werden den Ausschussbeschluss als ersten Schritt hier und heute verabschieden. – Wenn Sie und Ihre Mitglieder im Ausschuss zugehört hätten, dann wüssten Sie, dass Sie hier wider besseres Wissen reden; denn das ist ein erster Schritt auf dem Weg zur Fortentwicklung einer Institution, ein erster Schritt, die Akten für das Bundesarchiv vorzubereiten. Es ist nicht so, dass ab morgen alles weg ist. Vielmehr wird es zehn Jahre dauern – so jedenfalls die voraussichtliche Veranschlagung –, bis die Akten Teil des Bundesarchives werden. Je mehr ich mich in das Thema einarbeite, desto mehr merke ich: Der letzte Bundestag hat uns eine ganz schöne Schimäre hinterlassen. Die Aufgabe ist größer als die paar dürren Sätze, die in dem Beschluss formuliert sind. Deshalb bin ich froh, dass außer der AfD alle im Hohen Hause zusammenarbeiten und im Sinne der Beschlussfassung des letzten Bundestages dafür sorgen werden, dass die Akten sichtbar sind, dass sie besser aufbereitet sind, ({9}) dass die Zugänglichkeit gegeben ist und dass auch regional eine verbesserte Arbeit mit den Gedenkstätten und der Landeszentrale stattfindet, sodass die nächsten Generationen einen Vorteil davon haben werden. ({10})

Simone Barrientos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004660, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Dass sich heute ausgerechnet Rechtsradikale entblöden, von Bürgerrechten zu schwadronieren, das ist schon ein starkes Stück. ({0}) Und dass Sie es wagen, sich in die Tradition jener Menschen zu stellen, die damals auf die Straße gegangen sind, ist echt eine Unverschämtheit. ({1}) Sie arbeiten hier mit Lügen. Es ist gelogen, dass ein Schlussstrich gezogen werden soll, und Sie wissen das. Es ist auch gelogen, dass der Zugang zu den Akten erschwert wird, und auch das wissen Sie. Wir befürworten die Überführung der Stasiakten ins Bundesarchiv. ({2}) Allerdings werden wir uns trotzdem beim Gesamtpaket enthalten müssen. Ich sage Ihnen auch, warum. ({3}) Das Problem ist, dass uns hier ein trojanisches Pferd präsentiert wird. ({4}) Wir debattieren über die Stasiakten, aber es geht um mehr. ({5}) Es geht auch um die Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR, kurz SAPMO genannt. Ich zitiere – mit Ihrer Erlaubnis – Gregor Gysi: ({6}) Mich stört …, dass es ein zusammengefasstes Archiv unter dem Titel SED-Diktatur geben soll. ({7}) Die Unterlagen der DDR-Behörden und der Parteien und Massenorganisationen der DDR sollen … alle in das frühere Zentralgebäude des Ministeriums für Staatsicherheit umgelagert werden. Man kann die DDR nicht auf die Staatssicherheit reduzieren. ({8}) Und weiter: Die vorgeschlagene Bezeichnung ist … in Archiven nicht üblich. Die Unterlagen aus der Zeit der Nazi-Diktatur stehen nicht unter politischen Überschriften. Man verständigte sich darauf, dass es sich zum Beispiel um Unterlagen staatlicher Organe aus der Zeit von … bis … handelte. Hinzu kommt übrigens, dass die Menschen, deren private Nachlässe in der SAPMO liegen, nicht in die Überlegungen einbezogen wurden, was mit dem Material eigentlich passieren soll. 30 Jahre nach dem Fall der Mauer sollte es doch möglich sein, die Geschichte dieses Landes als gesamtdeutsche Geschichte zu behandeln. ({9}) Es ist doch nicht so, dass die DDR im luftleeren Raum existierte. Man muss doch Ursache und Wirkung mitdenken. ({10}) Man muss doch anerkennen, dass diese beiden Staaten aufeinander wirkten, dass also Entscheidungen auf der einen Seite zu Reaktionen auf der anderen Seite führten und umgekehrt. ({11}) Man kann doch nicht ausblenden, dass der Radikalenerlass zum Beispiel mit der DDR zu tun hatte ({12}) oder dass in ostdeutschen Gefängnissen auch politische Gefangene billig produzierten – für den westdeutschen Markt. ({13}) Zur Geschichte der DDR gehört auch die Geschichte der BRD. Das ist nicht zu trennen. Es wäre der richtige Weg, ({14}) die Akten zusammenzuführen und zeitlich einzuordnen. Das Problem ist doch, dass es allein durch die Mehrheitsverhältnisse im Land und in diesem Haus noch immer die Westdeutschen sind, die entscheiden, wie die Ostdeutschen mit ihrer Vergangenheit umzugehen haben. ({15}) Es ist aber nicht nur die Geschichte der Ostdeutschen; es ist auch die Geschichte der Westdeutschen. ({16}) Hinzu kommt übrigens, dass westdeutsche Eliten auch die Forschung zu diesem Thema dominieren. ({17}) – Als Ostdeutsche erwarte ich übrigens, dass Sie mir zuhören und dass Sie das, was ich gesagt habe, ernst nehmen. ({18}) Wir sind damals auf die Straße gegangen, damit man uns zuhört. ({19}) Die DDR-Eliten haben das am Ende getan. Wann fangen Sie damit an? Wann? ({20}) Sie wollen sich in die Tradition dieser Menschen stellen. ({21}) Ich sage Ihnen, in welcher Tradition Sie stehen. Sie stehen in der Tradition derjenigen, die Brandsätze geworfen haben in bewohnte Häuser in Mölln, Solingen und Rostock-Lichtenhagen; da stehen Sie. ({22}) Meine Stasiakte habe ich übrigens diese Woche gelesen. Die Lektüre war erschütternd; sie war auch spannend. ({23}) Aber wenn Sie mehr wissen wollen, wissen Sie ja, wo Sie mich finden. Vielen Dank. ({24})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Monika Lazar von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Monika Lazar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003714, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Roland Jahn! Das Vorhaben der AfD ist infam wie immer. Sie verbreiten falsche Informationen und hoffen, dass die Bevölkerung und auch die Bürgerrechtler auf Ihre Falschinformation hereinfallen. ({0}) Dass Sie sich hier als Hüter der Errungenschaften der Friedlichen Revolution aufspielen, ist an Absurdität schon nicht mehr zu überbieten. ({1}) Unerträglich ist aber, dass Sie versuchen, die Bürgerrechtler vor Ihren Karren zu spannen. ({2}) Die Menschen sind 1989 für Freiheit und Demokratie auf die Straße gegangen und nicht, weil sie Angst vor Fremden hatten. ({3}) Die Menschen forderten Einheit und keine Spaltung der Gesellschaft. ({4}) Die Menschen zeigten Mut, anstatt vor jedem gesellschaftlichen Wandel zu zittern. Wie auch einige Rednerinnen und Redner vor mir schon ausgeführt haben, möchte auch ich betonen, dass es überhaupt nicht darum geht, ({5}) dass die Stasiunterlagenbehörde und ihre Außenstellen heute abgewickelt werden. ({6}) Es wird ein längerer Prozess fortgesetzt, der in der letzten Wahlperiode mit einer Expertenkommission und einem Bundestagsbeschluss begann. Auch der Kulturausschuss hat sich in den letzten Monaten mehrfach ausführlich mit dem Thema befasst. Der Bundesbeauftragte war bei uns. Er war auch in allen ostdeutschen Bundesländern, in den Landtagen, und hat entsprechend informiert. Die Umsetzung des Konzeptes, das wir nachher beschließen, wird mehrere Jahre dauern. Keine Quelle belegt, dass irgendeine Außenstelle geschlossen oder die Akteneinsicht eingeschränkt werden soll. Das sind alles nur unsinnige Lügen, die Sie hier verbreiten. ({7}) Das Einzige, was sich verändern soll, ist, dass pro Bundesland ein Archivstandort gebaut werden soll, weil die archivgerechte Lagerung in den Außenstellen zurzeit nicht gewährleistet ist. Das muss in unser aller Interesse sein. Das wird von Ihnen seit Wochen völlig falsch behauptet und verdreht. Dann bilden Sie sich noch ein, dass Sie für die Stasiopfer eintreten. Es ist wirklich absurd. ({8}) Im Kulturausschuss hat die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen einen Entschließungsantrag eingebracht, mit dem wir vorgeschlagen haben, die Digitalisierung der Archivbestände voranzutreiben, die dezentrale Akteneinsicht für Betroffene weiter zu gewährleisten, die Bildungs- und Forschungsarbeit an den Außenstellen zu verankern und für eine Erhaltung der Außenstelle als authentischen Ort in Zusammenarbeit mit den örtlichen Initiativen zu sorgen. So kann das Wissen an die jüngeren Generationen weitergegeben werden. Im weiteren Prozess müssen wir jetzt darauf achten, dass wir die bestehenden Vereine, die Opferverbände, Forscherinnen und Forscher aus den Ländern einbeziehen. In den nächsten Wochen feiern wir den 30. Jahrestag der Friedlichen Revolution. In diesen Tagen vor 30 Jahren sind die Oppositionsgruppen „Neues Forum“ und „Demokratie Jetzt“ gegründet worden. ({9}) In Leipzig hielten am 4. September 1989 nach dem Friedensgebet in der Nikolaikirche zwei junge Frauen, Katrin Hattenhauer und Gesine Oltmanns, ein Transparent hoch. Auf diesem stand: „Für ein offenes Land mit freien Menschen“. Ich finde, dieser Spruch hat an Aktualität nichts verloren. ({10}) In diesem Sinne möchte ich die nächsten Wochen gerne begehen. Danke schön. ({11})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Christoph Bernstiel für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Christoph Bernstiel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Jahn! Am 5. Dezember 1989 stürmten 150 mutige Bürger in Halle die Stasizentrale. Sie hatten drei Ziele, nämlich die Aktenvernichtung sofort zu stoppen, die Archive zu versiegeln und dafür zu sorgen, dass alle Überwachungsmaßnahmen sofort eingestellt werden. Die Besetzung der damaligen Stasizentrale ist nach wie vor eine Sternstunde deutscher Demokratiegeschichte, und darauf können wir bis heute stolz sein. ({0}) Alles andere als eine Sternstunde der Demokratiegeschichte ist die Debatte, die wir gerade erlebt haben. Zunächst möchte ich auf die lieben Kollegen der AfD eingehen, die – meine Vorredner haben es schon gesagt – hier wieder mit Fake News um sich werfen, ({1}) die eine Stimmung erzeugen, die dieser Debatte nicht angemessen ist. Aber bevor ich darauf eingehe ({2}) – keine Sorge, Sie kommen dran –, muss ich doch auch noch mal etwas zur Kollegin Barrientos sagen. Wenn Sie sich hierhinstellen und sagen, dass die Politik der Bundesrepublik Deutschland dafür verantwortlich ist, dass es in der DDR die Stasi gab, dann muss ich sagen: Das schlägt dem Fass den Boden aus. Das kann man so nicht stehen lassen. ({3}) Zurück zur AfD: Ich habe gar nicht so viel Zeit, wie ich bräuchte, um alles Falsche, das Sie gesagt haben, richtigzustellen. Wir fangen einfach mal an. Sie sagen: Außenstellen sollen geschlossen werden. – Das stimmt nicht. Das ist nirgendwo niedergeschrieben. Richtig ist, dass wir sagen: Wir wollen neue Archivstandorte aufbauen, also etwas Zusätzliches schaffen. Die Abstimmungen in den Bundesländern laufen aktuell noch. Sie sagen: Zukünftig wird es weniger Bürgernähe geben. – Genau das Gegenteil ist der Fall. Ungefähr 60 Prozent der Antragsteller lassen sich aktuell ihre Akte nach Hause schicken. Indem wir diese Akten digitalisieren, sorgen wir dafür, dass das in Zukunft schneller geht. Das ist etwas ganz anderes als das, was Sie sagen. Sie sagen außerdem, dass ein Schlussstrich unter die DDR-Geschichte gezogen werden soll. Ich muss sagen: Das ist wirklich eine unverschämte Behauptung, und es ist auch eine Respektlosigkeit gegenüber dem Bundesbeauftragten ({4}) – hören Sie zu! – für die Stasiunterlagen, Roland Jahn, der hier anwesend ist. Ich sage Ihnen etwas zu diesem Mann. Er hat dieses Konzept geschrieben. Zur Erinnerung: Dieser Mann wurde von der Stasi exmatrikuliert. Er hat 1981 seinen guten Freund Matthias Domaschk im Stasiknast verloren. Ein Jahr darauf wurde er selbst inhaftiert und zu 22 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Diesem Mann, der das Konzept geschrieben hat, unterstellen Sie, dass er einen Schlussstrich unter die DDR-Diktatur ziehen will und damit die Geschichte beerdigen will? Wissen Sie, liebe AfD, das ist sogar unter Ihrem Niveau. ({5}) Zurück zum Kern der Debatte: Wir reden heute über die Zukunft der Stasiunterlagenbehörde. „Zukunft“ ist auch das richtige Wort; denn darum geht es uns als Unionsfraktion. Deshalb haben wir bereits im März dieses Jahres ein Positionspapier in unserer Fraktion einstimmig beschlossen, das 21 Punkte enthält, die beschreiben, wie wir uns diesen Prozess vorstellen. Für uns ist wichtig, dass die Verbrechen der SED-Diktatur nicht in Vergessenheit geraten. Dazu gehört eben auch, die – es sind übrigens nicht 100 Kilometer, Herr Jongen, sondern 111 Kilometer – Akten, 1,8 Millionen Fotos und über 2 800 Filme zu sichern. Die Wahrheit ist allerdings, dass diese Unterlagen und dieses Archivmaterial aktuell in einem sehr schlechten Zustand sind. Liebe AfD, wenn Sie sagen, die Archivstandorte sollen so bleiben, wie sie jetzt sind, dann sagen Sie auch, dass Sie nicht möchten, dass sie ertüchtigt werden, ({6}) dass eine Klimaanlage eingebaut wird, dass sie aus dem Hochwassergebiet umziehen und dass die in sehr schlechtem Zustand befindlichen Akten endlich in das Bundesarchiv umziehen können, wo sie professionell behandelt werden. Sie fordern genau das Gegenteil von dem, was wir wollen, nämlich dieses wichtige Stück gesamtdeutscher Geschichte zu sichern, und nichts anderes haben wir mit dem Antrag vor, der Ihnen heute vorliegt. ({7}) Lassen Sie mich noch etwas zu der Debatte des sogenannten Stasiunterlagenbeauftragten sagen, den wir abschaffen wollen. Eigentlich sagt schon der Name, was wir wollen: Wir wollen weg von einem Beauftragten für die Akten ({8}) hin zu einem Bundesbeauftragten für die Opfer, für die Menschen. Was wir wollen, ist: Wir wollen dieses Amt weiterentwickeln, natürlich weiterhin mit der Legitimation des Deutschen Bundestages, aber eben nicht mehr in einer originären Zuständigkeit nur für die Akten, sondern für die Menschen und für die Opfer. Das ist unser Ziel. Zum Schluss noch einige Sätze zum Konzept. Auch dazu ist momentan vieles unterwegs, und vieles stimmt einfach nicht. Es ist richtig, dass wir dieses Konzept auf den Weg bringen. Aber das gibt den Rahmen vor. Es sagt, wir möchten den gemeinsamen Beauftragten und die Sicherung der Akten. Es sagt aber auch, dass wir das gemeinsam mit den Bundesländern tun wollen, und wir laden herzlich jeden ein, der sich in diesen Prozess einbringen möchte, dort seine Ideen einzubringen, wie wir aus diesem Grobkonzept ein feines Konzept machen, mit dem alle leben können und das auch dem Anspruch dieser Debatte gerecht wird. Ich kann Ihnen sagen: Mit solchen Aktuellen Stunden und solchen Einlassungen, die ich leider von Ihnen hören musste, werden Sie dieser Debatte nicht gerecht, und Sie treten das Erbe der mutigen Männer und Frauen, die 1989 hier die Stasibehörden besetzt haben, mit Füßen. Herzlichen Dank. ({9})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der AfD der Abgeordnete Stephan Brandner. ({0}) – Das Wort hat der Redner.

Stephan Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004678, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ja, dafür bedanke ich mich auch sehr. – Meine Damen und Herren! Lieber Herr Jahn, ich stelle meine wichtigste Botschaft an den Anfang der Rede und verfeinere ein bisschen das, was der geniale Kollege Jongen vorgetragen hat: Der Sozialismus in all seinen Schattierungen ist eine zutiefst verbrecherische und menschenverachtende Ideologie, ({0}) eine Ideologie, die noch niemals und nirgendwo auf dieser Erde Gutes bewirkt hätte und dies auch niemals tun wird, ({1}) eine Ideologie, die immer und stets, wenn sie Staatsideologie war, verbrannte Erde hinterlassen hat, eine zugrunde gerichtete Umwelt hinterlassen hat, ermordete, gebrochene, drangsalierte und schikanierte Menschen zum Ergebnis hatte. ({2}) Die Wissenschaft bezifferte bereits 1997 alleine die Toten, die der rote Sozialismus auf dem Gewissen hat, mit mindestens 100 Millionen. Das ist inzwischen über 20 Jahre her, und noch immer gibt es sozialistische und kommunistische Verbrecherstaaten wie Nordkorea, China, Simbabwe, Kuba und Venezuela. Also, da kamen schon noch einige Tote dazu. Hinzu kommen natürlich die vielen Millionen Toten, die der braune Sozialismus, also der Faschismus und der Nationalsozialismus, zu verantworten hat. Meine Damen und Herren, die DDR mit ihrer Staatspartei SED, deren Fortsetzer und Profiteure heute hier als Die Linke immer noch sitzen, war die zweite verbrecherische sozialistische Diktatur auf deutschem Boden, die rote Diktatur nach der braunen Diktatur. ({3}) Die Spitzel- und Drangsalierungstruppen der SED – vulgo Die Linke – rekrutierten sich aus den Spitzel- und Drangsalierungstruppen der NSDAP und der Gestapo. ({4}) Diese SED, die heutige Linke, war verantwortlich und bediente sich zu ihrer menschenverachtenden Politik des Staatssicherheitsdienstes, der immer noch präsent ist in Deutschland. Immer noch werden zu Recht Debatten um die Parlamentsunwürdigkeit ehemaliger Stasimitarbeiter geführt. Ich komme aus Thüringen; wir kennen uns da aus. Die Einstimmenmehrheit von Rot-Rot-Grün in Thüringen hängt an einem ehemaligen Stasispitzel und einer ehemaligen Mitarbeiterin der politischen Polizei K I. Die Stasi ist immer noch präsent und regiert in Deutschland wieder mit. ({5}) Geradezu gegenwärtig ist die Stasiproblematik mit Blick auf die dubiose Amadeu-Antonio-Stiftung – der Kollege Jongen hat sie erwähnt –, an deren Spitze die IM „Victoria“ steht, Frau Anetta Kahane, die massiv und durch die Steuergelder, die Sie so großzügig verteilen, unterstützt, einen zum Krampf gegen rechts mutierten Frontalangriff auf alles Konservativ-Bürgerliche, also alles Nichtlinke, führt. ({6}) Meine Damen und Herren, von einer Historisierung der DDR und der Stasi und der SED kann somit keine Rede sein, sodass eine Überführung ins Bundesarchiv auch deshalb ausscheidet. Die Stasi: Schild und Schwert der SED, also der heutigen Linken. ({7}) Die Linke, die so tut, als hätte sie Menschenrechte, Demokratie und Freizügigkeit erfunden: In Wahrheit waren Sie die letzte Partei in Deutschland, die auf Flüchtende mit Maschinenpistolen hat schießen lassen wie auf Karnickel. ({8}) Sie sollten sich schämen und ausziehen aus diesem Bundestag. Sie haben hier nichts verloren. Das war ein großer historischer Fehler in der DDR, Ihren Misthaufen nicht zu verbieten; das sage ich Ihnen. ({9}) Meine Damen und Herren, auch heute noch arbeiten Kahane und Co mit den üblichen Methoden. Exemplarisch nenne ich den Fall des Leiters der hessischen Filmförderung, der seine Arbeitsstelle verloren hat, weil er mit einem Abgeordneten aus dem Europäischen Parlament gesprochen hat. Solche Methoden kennen wir aus düstersten SED-Zeiten: Zersetzung, Ausgrenzung, soziale Ächtung, Arbeitsplatzverlust. Das können Sie. ({10}) Auch die Sprache ist noch präsent und wird nun im Krampf gegen rechts gegen alles Bürgerliche und Vernünftige verwandt. Von Hetze ist die Rede, von Provokationen und Hass ist die Rede, wenn von Meinungsvielfalt die Rede sein sollte. Jeder politische Gegner wird von Ihnen zum Faschisten oder zum Nazi erklärt. Jeder Gute soll Antifaschist sein. Wir kennen alle noch den „guten“ antifaschistischen Schutzwall. So eine verlogene Politik wie von Ihnen gibt es in Deutschland kein zweites Mal. ({11}) Die Stasi ist nicht Geschichte, meine Damen und Herren. Und was Sie jetzt zum 30. Jahrestag machen – und Sie machen alle mit; grinsen Sie nicht so komisch! Sie machen da mit, auch Sie von der CDU/CSU –, ist an Instinktlosigkeit nicht zu überbieten. Ausgerechnet am 30. Jahrestag der Friedlichen Revolution ({12}) diese Behörde abzuwickeln, einzugliedern in die Staatsideologie, weisungsabhängig zu machen, tritt das, wofür die Bürgerrechtler vor 30 Jahren auf die Straße gegangen sind – im Übrigen die Bürgerrechtler, die Sie von den Linken damals als Faschisten bezeichnet haben –, mit Füßen. Es ist an Tollpatschigkeit und Blauäugigkeit nicht zu überbieten, meine Damen und Herren. ({13}) Wem nützt das? Es wird Ihnen wahrscheinlich in Thüringen nützen, wenn Mike Mohring demnächst eine Koalition mit den Linken eingeht. Da bin ich gespannt. Da werden die Lebensläufe geglättet. Sie sind auf der Suche nach stabilen Mehrheiten jenseits alles Konservativen, Bürgerlichen. Dazu brauchen Sie die Linken. Dazu müssen die Lebensläufe geglättet werden. Ich bin gespannt, wie viele Gutlinke noch in den Akten auftauchen werden, auch wenn ins Bundesarchiv eingegliedert wurde. All diejenigen, die diese SED-Unkulturen nun zu den Akten legen wollen, müssen sich fragen lassen – Frau Barrientos hat es ja vorgelebt –, ob das alles gar nicht so schlimm war, was da in der DDR passiert ist. Meine Damen und Herren, ich bitte Sie am Ende, unserem Antrag zum nächsten Tagesordnungspunkt zuzustimmen. Denn uns alle sollte doch einen: Nie wieder Sozialismus, weder brauner noch roter und auch kein grüner! Vielen Dank. ({14})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist für die Fraktion der SPD der Kollege Helge Lindh. ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Lieber Herr Jahn! Sehr geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Herr Brandner, Sie erwähnten gerade in Ihrer versuchten Philippika gegen die Linke, man sei gegen das Bürgerliche. ({0}) Wenn es einen Beweis gibt, dass die AfD keine bürgerliche Partei ist, dann war das Ihr feist-vulgärer Vortrag, den wir gerade ertragen mussten. ({1}) Diese Rhetorik, die gerade noch vermeidet, die Hose herunterzulassen, ist an Unerträglichkeit nicht zu überbieten. Des Weiteren ist ja ein Grund, wie wir leider alle wissen, für die Frustration in den ostdeutschen Bundesländern, dass ihnen Westdeutsche vor die Nase gesetzt wurden. Sie sind die lebendige Verkörperung der Zumutung des Westens für den Osten am Beispiel Thüringen. ({2}) Und als Sie jetzt eben auch noch erwähnt haben, dass die SED und letztlich in der Ableitung ja Die Linke von Gestapospitzeln abgeleitet sei, vergaßen Sie zu erwähnen, dass Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten und Kommunisten hier in diesem Land gegen den Nationalsozialismus gekämpft und diese Demokratie überhaupt erst ermöglicht haben. ({3}) Das ist ein Umgang mit dem Sozialismus, der so was von ahistorisch ist, dass man schreien könnte. Ihre Missinterpretation dieses ganzen Denkens geht ja noch weiter. Sie treten zusammen mit Herrn Jongen auf, in einer etwas intellektuelleren Variante, und behaupten, wir wollten die Stasiunterlagenbehörde abwickeln. Sie behaupten das unter kompletter Ignoranz der Ausführungen von Herrn Jahn. Das Einzige, was Sie hier abwickeln, und zwar wirklich erfolgreich, ist die Wahrheit – systematisch. Es gibt ja diesen bekannten Satz: Das Erste, was mit dem Krieg stirbt, ist die Wahrheit. Und genau so verhält es sich mit dem Populismus. Das Erste, was stirbt, sind Wahrheiten, ist das Argument. Unsere Aufgabe ist es hier eben nicht, Krieg zu führen und den Populismus zu fördern, ({4}) sondern ihn zu ächten. ({5}) In diesem Sinne ist Demut geboten gegenüber den Opfern der SED-Diktatur, denen Gerechtigkeit widerfahren soll. Gleichzeitig ist dafür zu sorgen, dass die kommenden Generationen, die nicht Erlebensgenerationen sind, Zugang zur Realität erhalten und zu ihrer Erfahrung von Wahrheit kommen. Genau das ist die Aufgabe dessen, was jetzt angegangen wird. Das ist die Idee, die hinter dieser Weiterentwicklung und der Integration ins Bundesarchiv steht. Ich glaube, es ist notwendig, ganz klar deutlich zu machen, welche Strategie Sie seitens der AfD hier verfolgen. Das, was Sie heute hier aufgeführt haben mit Ihrem Hose-runter-Vortrag – wie gesagt: unerträglich –, entspringt einer Strategie, zu der auch Plakate mit Aufschriften wie „Willy Brandt“, „Mehr Demokratie wagen“, „Vollende die Wende“ und „Wir sind das Volk“ gehören. Sie sagen ernsthaft im Wahlkampf im Osten: Vollende die Wende. – Sie sind doch das Gegenteil dessen. Sie sind die Antithese zur Wende. ({6}) Sie legen es doch darauf an, dass Einigkeit und Wende gerade nicht vollendet werden. Das ist es, was Sie geschäftsmäßig betreiben. ({7}) Sie missbrauchen die Ängste der Menschen im Osten. Und Sie wagen es ernsthaft, sich in die Tradition von Bürgerrechtlern zu stellen. ({8}) Des Weiteren behaupten Sie auch noch ernsthaft, Willy Brandt stehe in Ihrer Tradition, diese Persönlichkeit, die Exilant war, die dagegen angekämpft hat, dass der NS-Ungeist weiter in diesem Land lebt. Sie warfen vorhin uns vor – ich nehme da jetzt mal uns insgesamt, auch die Linken –, ({9}) wir hätten Gestapospitzel und die Tradition fortgeschrieben. Was Sie machen, was jede Woche Herr Curio und Herr Höcke machen, ist der Geist des Nationalsozialismus in seiner Fortschreibung. Genau das ist es, was Sie betreiben. ({10}) Deshalb kann man diesen Umstand nicht ignorieren. Sie wagen es ernsthaft, hier als Gralshüter der Demokratie aufzutreten. ({11}) Wenn man sich aber, wie ich es unlängst getan habe, mit AfD-Sympathisanten und -Funktionären im Streit auseinandersetzt, dann hört man ganz viele nostalgische Vorstellungen von der DDR und von diesem Staat, verbunden mit sehr verbrämten Heroisierungen des Putin-Regimes und postsowjetischen Vorstellungen, irgendwie verbunden mit Antisozialismus. Das ist das Gegenteil von Glaubwürdigkeit. Sie haben den besten Beweis selber hier im Parlament erbracht: Am 16. März 2018 habe ich hier geredet. Thema waren Grenzkontrollen. ({12}) – Schön, dass Sie sich erinnern. – Ich habe darüber berichtet, wie meine Verwandten und ich – ein Teil meiner Familie kommt nämlich aus Thüringen, aus Nordhausen und Rudolstadt – mit Herzrasen und Zittern den Grenzübertritt erlebt haben. Was war Ihre Reaktion? Im Video kann man sich das angucken, es ist auch protokollarisch erfasst: höhnisches Lachen der AfD-Fraktion. ({13}) Diese Reaktion sagt alles über das, was hier heute geschieht. ({14}) Sie sind nichts anderes als billige Instrumentalisierer der Bürgerrechtler. Sie sind der Gegensatz von Demokratie und Sie verhöhnen jeden einzelnen Ostdeutschen, ({15}) ob er im Widerstand war, ob er gekämpft hat oder ob er sich in irgendeiner Weise mit der Diktatur zu arrangieren versuchte. ({16}) – Gerade Ihr Einwurf zu den Wahlergebnissen ist nicht der beste Hinweis, Herr Gauland. Wir haben nämlich auch Zeiten erlebt, in denen bei einigermaßen demokratischen Wahlen – leider – die NSDAP über 40 Prozent erlangt hat und damit in dieser Stärke in diesem Parlament saß. Ist das der Beweis dafür, dass die NSDAP die richtige und eine demokratische Partei war? Nein.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ihre Wahlergebnisse sind kein Argument. ({0}) Solange wir hier als Sozialdemokraten, Sozialisten, Konservative und Liberale sprechen und atmen können, werden Sie in diesem Land nicht bestimmen, was Demokratie ist. Vielen Dank. ({1})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Martin Patzelt für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Martin Patzelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004372, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucher! Ich glaube, die vergangene Debatte hat hinreichend klargemacht, ({0}) dass es weiter Archive geben wird für die Akten, ({1}) dass es weiter eine Akteneinsicht gibt, dass es weiter Beratung gibt und dass kein Mensch in unserem Land daran zu zweifeln braucht. Wenn wir diese Akten sicher, ordnungsgemäß und fachlich richtig aufbewahren, dann ist das der Tatsache geschuldet, dass wir sie weiterhin brauchen. Diese Akten sind ein Lehrstück in Sachen Demokratie. Ich sage Ihnen: Wenn wir das, was damals geschehen ist, leichtfertig vergessen, dann werden wir immer die Demokratie gefährden. Schon allein deshalb brauchen wir die Akten. ({2}) Ich habe Ihnen die Dienstanweisung von Erich Mielke mitgebracht, Richtlinie 1/76; ich darf zitieren, Herr Präsident. Die Führungsoffiziere haben, getragen von einer SED-Funktionärskaste, dies alles mitbestimmt, auf den Weg gebracht, sie standen aber nie im Fokus der öffentlichen Auseinandersetzung; in der standen immer die IM. Und wie die IM gewonnen wurden, will ich hier zitieren: systematische Diskreditierung des öffentlichen Rufes, des Ansehens und des Prestiges auf der Grundlage miteinander verbundener wahrer, überprüfbarer und diskreditierender sowie unwahrer, glaubhafter, nicht widerlegbarer … Angaben; ({3}) systematische Organisierung beruflicher und gesellschaftlicher Mißerfolge … – um das Selbstvertrauen der Menschen zu untergraben – zielstrebige Untergrabung von Überzeugungen im Zusammenhang mit bestimmten Idealen, Vorbildern usw. … Erzeugen von Mißtrauen und gegenseitigen Verdächtigungen innerhalb von Gruppen, Gruppierungen und Organisationen; … ({4}) Beschäftigung von Gruppen, Gruppierungen und Organisationen mit … internen Problemen … – damit sie sich nicht um gesellschaftliche Fragen kümmern – örtliches und zeitliches Unterbinden bzw. Einschränken der gegenseitigen Beziehungen der Mitglieder … – gegebenenfalls durch Arbeitsplatzbindung oder Versetzung an einen entfernten Arbeitsplatz – … die Verwendung anonymer oder pseudonymer Briefe, Telegramme, Telefonanrufe …; kompromittierender Fotos … von stattgefundenen oder vorgetäuschten Begegnungen; die gezielte Verbreitung von Gerüchten über bestimmte Personen einer Gruppe, Gruppierung oder Organisation; ({5}) gezielte Indiskretionen … Vortäuschen einer Dekonspiration von Abwehrmaßnahmen … All diese Dinge – ich könnte hier noch ein bisschen zitieren – waren die Arbeitsanweisung von Erich Mielke, der sagte, dass er sein ganzes Volk geliebt hat. Zu diesen Repressalien, diesen, so möchte ich sagen, teuflischen Methoden, habe auch ich Akten gelesen. Dreimal war ich in so einer Kommission. Am Schluss konnte ich nicht mehr sagen, wie viel Schuld der einzelne IM an seinem Verhalten tatsächlich hatte. Wir hatten 30 Jahre Zeit, individuell wie gesellschaftlich wie wissenschaftlich, diese Akten zu prüfen und eigene Überzeugungen zu gewinnen. Wir sind damit noch lange nicht fertig. Menschen wollen selber auf die Suche gehen, und sie müssen das, um ihrer Identität willen. Sie wollen verstehen und vielleicht wissen: Wie bin ich in diese Lage geraten? Als Opfer oder als Täter? – Das war manchmal sehr schillernd. Es gibt von identischen Personen Täterakten und Opferakten. Das alleine macht deutlich, wie verquickt dieses System war. Meine Bitte, meine Aufforderung geht dahin, dass Sie miteinander verstehen, dass das alles nur möglich war, weil dieses ideologische System auf einem Menschenbild basierte, das nicht unser Menschenbild ist. Der Mensch war ein Objekt, er war kein Subjekt, er wurde eingeteilt danach – das habe ich erlebt in meiner eigenen Geschichte –, ob er nützlich für die Gesellschaft war oder ob er schädlich für die Gesellschaft war. Wenn er nützlich war, wurde er befördert, und wenn er schädlich war, wurde er in seiner Entwicklung behindert oder eliminiert. Das war die Philosophie. Wenn wir die Wurzeln eines solchen Denkens nicht verstehen, dann sind wir immer in Gefahr, dem Nützlichkeitsprinzip und ‑denken zu folgen, dann laufen wir Gefahr, nicht eine wehrhafte und demokratische Gesinnung zu entwickeln, die auf unserem Grundgesetz beruht. Das ist ein wunderbares Gesetz. Wenn wir uns daran orientieren und halten, dann werden wir den richtigen Weg gehen. Ich denke – das sage ich Ihnen, liebe Kollegin von der AfD –, eine Aktuelle Stunde kann bei diesem Thema nicht alles besser machen. Wenn wir es besser machen wollen, dann müssen wir Vorbild sein, und zwar, indem wir genau das, was die Stasi gemacht hat, in unserer politischen Praxis, in unserer menschlichen Praxis nicht versuchen. Das heißt, wer auch immer Menschen verängstigt, manipuliert, falsch oder fehlerhaft informiert, wer sie agitiert, der macht sich am Menschen und macht sich an der Demokratie schuldig. ({6}) Wir müssen uns bemühen, dass wir aufrecht, wahrhaftig und auch ohne Menschen zu verängstigen, miteinander in eine Zukunft gehen, die schwer genug zu gestalten sein wird. Aber wir haben eine historische Erfahrung – dafür brauchen wir die Akten –, und dafür haben wir ein gutes Miteinander zu pflegen. Danke. ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion der SPD die Kollegin Daniela Kolbe. ({0})

Daniela Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004079, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Jahn! Wenn ich über die Zukunft der Stasiunterlagenbehörde nachdenke, kommt mir ein Zitat von Gustav Heinemann immer wieder in den Kopf. Er hat einmal gesagt: Wer nichts verändern will, wird auch das verlieren, was er bewahren möchte. Ich stelle am Ende – fast am Ende – dieser Aktuellen Stunde einmal fest, dass eine übergroße Mehrheit dieses Hauses dieses Erbe, das wir hier vorfinden, bewahren möchte. Es ist ein einmaliges Erbe, das wir sehr mutigen Menschen – nach heutigen Maßstäben unglaublich mutigen Menschen – verdanken, die damals einfach diese Stasibehörden gestürmt haben. ({0}) Ich freue mich über die Einmütigkeit, dass wir das bewahren wollen. Bei Ihnen in der AfD kann man von Bewahren, glaube ich, nicht wirklich sprechen. Mein Eindruck: Das ist ein plumper Versuch, Bürgerrechtler für sich zu instrumentalisieren. Ich glaube, die werden sich doppelt bei Ihnen „bedanken“. Ich glaube nicht, dass Sie damit verfangen. Sie gehen an ganz vielen Stellen fehl. Sie tun so, als würden die Akten in den Archiven nicht altern. Das Gegenteil ist der Fall. An vielen Stellen findet sich überhaupt nicht die Möglichkeit, die Akten wirklich gut unterzubringen. Sie tun so, als würden die Menschen, die damals die Behörden gestürmt haben, und alle Menschen drum herum, nicht altern, als wären die Ansprüche an eine solche Behörde nicht auch einem Wandel unterworfen. Sie tun so, als wäre der Blick auf die Geschichte – das ist hier schon mehrfach, immer wieder angeklungen – ein monolithischer Block. Dabei ist es, glaube ich, 30 Jahre nach der Friedlichen Revolution und der Wiedervereinigung an der Zeit, festzustellen, dass wir durch die Stasiunterlagenbehörde, wenn es um das DDR-Unrechtsregime geht, einen ziemlich starken Fokus auf die Stasi haben. Zu einer Diktatur gehört aber nicht nur die Stasi, dazu gehören auch die Partei und die Massenorganisationen. Schon deshalb finde ich es hoch spannend, darüber nachzudenken, das alles unter einem starken, sichtbaren Dach zusammenzuführen und damit auch Funktionsweisen dieser Diktatur deutlicher sichtbar werden zu lassen. Sie tun so, als sei die Akteneinsicht nicht mehr möglich – was für ein Quatsch, was für ein Blödsinn! Gleichzeitig muss man vielleicht auch festhalten, dass sich 30 Jahre nach der Friedlichen Revolution die Bedürfnisse der Antragstellerinnen und Antragsteller schon ein wenig geändert haben. Es sind 30 Jahre vergangen. Wir sehen, dass es häufig Verwandte, Nachfahren sind, die Anträge stellen und ganz anders betreut und begleitet werden sollten. Sie tun so, als würden alle Außenstellen geschlossen – auch das wurde vielfältig widerlegt, ist Blödsinn. Aber, ich finde, wir müssen eben auch darüber diskutieren, ob es Sinn macht, an sehr vielen Stellen zu kleckern, oder ob wir – 30 Jahre nach der Wiedervereinigung – nicht anfangen sollten, einmal richtig zu klotzen für die Sichtbarkeit dessen, was hier an kulturellem Erbe da ist. Wer nichts verändern will, wird auch das verlieren, was er bewahren möchte. Deswegen geht es doch darum, dass wir die Akten sichern, dass wir professionalisieren, und zwar sowohl die Forschungs- als auch die Bildungsarbeit, dass wir einen breiteren Blick auf den DDR-Unrechtsstaat bekommen und das Erbe dieser mutigen Leute sichtbarer werden lassen. Ich bin sehr dafür, dass wir einmal darüber diskutieren, wie wir es schaffen, an einigen Stellen richtig zu klotzen: in der Sichtbarkeit, in der Öffentlichkeitswirksamkeit und auch in der Frage, was die Digitalisierung von Archiven angeht. In diesem Sinne freue ich mich, dass in diesen notwendigen Prozess endlich Energie hineinkommt. Ich freue mich auf die konstruktive Debatte einer breiten Mehrheit in diesem Haus. Vielen Dank. ({1})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion der CDU/CSU die Kollegin Dietlind Tiemann. ({0})

Dr. Dietlind Tiemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004918, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir alle haben – so konnten wir es vernehmen – doch mit einiger Verwunderung den Antrag der AfD wahrgenommen, hier eine Aktuelle Stunde in der Form abzuhalten, wie sie jetzt durchgeführt wurde – in der Form war sie sicherlich nicht so gut; etwas sachlicher wäre besser gewesen –, gewundert deshalb, weil das Kleinreden von extremistischen Vergangenheiten bei der AfD ja sonst kein solches Problem darstellt; bei ihren Mitstreitern sind das dann immer so Randnotizen der Lebensläufe oder kaum erwähnenswert oder nicht relevant für die heutige Tätigkeit. Bei der Debatte um die Stasiunterlagenbehörde scheint der Wind etwas anders zu wehen. Zwar holpert der Titel; aber er reiht sich bestens in die Wahlkampfsprüche ein, die wir leider noch im Kopf haben, wie: „Wende 2.0“ oder „Vollende die Wende“ – es passt einfach dazu. Es geht wie immer nicht wirklich um Bedenken bezüglich der Änderung des Stasiunterlagengesetzes oder den Entschließungsantrag zur Überführung der Stasiunterlagen in das Bundesarchiv, es geht darum, sich als Kämpfer gegen das DDR-Regime darzustellen – den Eindruck vermitteln Sie – oder, noch weiter, darum, zu suggerieren, es würden in Deutschland wieder DDR-ähnliche Verhältnisse herrschen – weit gefehlt! Als Mitglied dieses Hohen Hauses, welches mehr als die Hälfte ihres Lebens in der DDR gelebt hat, sage ich: Von DDR-ähnlichen Zuständen sind wir – zum Glück – Lichtjahre entfernt, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({0}) Ich darf auch sagen: Die AfD ist nicht der Nachfolger der Bürgerrechtsbewegung von 1989 ({1}) und sicher auch nicht der Gralshüter der Stasiunterlagenbehörde. ({2}) Mein Kollege Martin Patzelt und ich – ich will deutlich machen: wir brauchen nicht die AfD dazu – haben bereits vor über einem Jahr Bedenken bezüglich einer Reform gegenüber dem Bundesbeauftragten, Herrn Jahn, geäußert, schriftlich. Für uns sind der Erhalt der Behördenaußenstelle in Frankfurt an der Oder und der Gedenk- und Bildungs- sowie Begegnungsstätte in Cottbus von zentraler Bedeutung. Ähnlich kritisierte auch der Kollege Volker Kauder die Reform. Dass der CDU/CSU-Fraktion diese Bedenken nicht egal sind, zeigt allein der Umstand, dass wir die Diskussion über die Zukunft der Aufarbeitung innerhalb unserer Fraktion bereits seit mehreren Jahren führen, nicht in irgendwelchen Kämmerlein, sondern in der Öffentlichkeit. Wir setzen uns dabei natürlich ins Benehmen mit der Union der Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft, was dringend dazu gehört. ({3}) Ich darf hierbei meinen Dank der Kollegin Elisabeth Motschmann aussprechen; ihr ist es im Ausschuss für Kultur und Medien gelungen, die verschiedenen Standpunkte zu würdigen, Kompromisse zu schließen und in das vorliegende Konzept einzubeziehen. Herzlichen Dank dafür, liebe Elisabeth. ({4}) Deshalb lassen wir uns im Rahmen dieser Aktuellen Stunde nicht vorwerfen, wir würden mit einem Handstreich diese Behörde, die Altbundespräsident Gauck so passend als – ich zitiere – „ein Mittel gegen Legenden und Verklärung“ bezeichnet hat, mehr oder minder auflösen. Das ist einfach falsch. Für uns stehen auch in Zukunft die Aufarbeitung der Stasiunterlagen und die Aufdeckung weiterer DDR-Tätigkeiten an oberster Stelle. Zum Erhalt dieser braucht es spezielle Archive und vor allem notwendiges Fachwissen bei der Konservierung. So bündeln wir das Wissen um die Bewahrung dieser fortwährenden Aufarbeitungsaufgabe. Daneben schaffen wir mit der gleich folgenden Abstimmung mehr Raum für die Überprüfung von Stasitätigkeiten bis zum Jahr 2030; das will ich an dieser Stelle auch noch einmal hervorheben. So sieht zielorientierte und konstruktive Arbeit zum Erhalt einer der bedeutenden zeithistorischen Aufgaben Deutschlands aus. Das Stichwort „ehrliche Aufarbeitung“ bringt mich letztendlich wieder zum Ausgangspunkt meiner Rede: Was will die AfD eigentlich mit so einer Aktuellen Stunde bezwecken? Sie will ganz sicher nicht eine konstruktive Lösung mittragen, bei der es um die Zukunft und die Sicherung der Stasiunterlagen geht, sie will ganz sicher nicht, dass dem Unrecht des DDR-Regimes auch weiterhin die Aufmerksamkeit einer aktiven Aufarbeitung zukommt. Und sie trägt sicher auch nicht die Kritik des Bürgerkomitees „15. Januar“ in sich . Sie will lediglich ein für Millionen Ostdeutsche zu Recht noch immer hochsensibles Thema für sich in Anspruch nehmen und daraus einfach politisch Kapital schlagen. Sie sprechen davon, dass die Stasiunterlagenbehörde so einen Umgang nicht verdient hat. Ich spreche davon, dass die Opfer des DDR-Unrechts Ihr falsches Mitgefühl nicht verdient haben. ({5})

Yvonne Magwas (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004346, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir verabschieden heute das Neunte Gesetz zur Änderung des Stasiunterlagengesetzes. Seit 1991 ist dieses Gesetz Grundlage dafür, dass Bürgerinnen und Bürger Zugang zu den Informationen erhalten, die die Stasi über sie menschenrechtswidrig gesammelt hat. Die Stasiakten sind das Vermächtnis der Friedlichen Revolution und der deutschen Einheit, und ihre Zugänglichkeit für Bürger, Behörden und Forscher hat wesentlich zur Aufarbeitung der SED-Diktatur beigetragen, und das soll auch so bleiben. Das allgemeine Interesse ist weiterhin sehr groß, und es hält auch kontinuierlich an. Die hohen Antragszahlen zeigen das. Rund 5 000 Anträge monatlich gehen durch Bürgerinnen und Bürger, durch Behörden, durch Medien und durch Forschungseinrichtungen ein, und deshalb ist es so wichtig, dass wir den Zugang zu den Stasiakten auf Grundlage des Stasiunterlagengesetzes auch in Zukunft erhalten, verbessern und sichern. ({0}) Zum einen tun wir das durch die Verlängerung der Möglichkeit zur Überprüfung auf Stasitätigkeit von Personen, die in politisch oder gesellschaftlich herausgehobenen Positionen tätig sind. Nicht nur nach der Wiedervereinigung hatte diese Überprüfungsmöglichkeit große Bedeutung für den Aufbau demokratischer Strukturen, nein, es ist auch heute noch so, dass wir insbesondere den Opfern der DDR-Diktatur schuldig sind, hier größtmögliche Transparenz zu schaffen und auch Grundvertrauen in das staatliche Handeln aufzubauen. Darum ist diese Überprüfungsmöglichkeit so notwendig. Das ist keine graue Theorie. Das zeigt auch ein aktuelles Beispiel: In meiner Heimat werden auf Antrag der CDU-Kreistagsfraktion alle Mitglieder des Kreistags auf eine mögliche vergangene Stasitätigkeit überprüft werden. ({1}) Das ist auch kein Einzelfall. Im Jahr 2018 gab es 167 Anträge auf Stasiüberprüfung im öffentlichen Dienst und 446 Anträge auf Überprüfung von Mandatsträgern. Der Bedarf ist da, und deshalb haben wir die bis zum Ende 2019 auslaufende Überprüfungsmöglichkeit jetzt bis zum 31. Dezember 2030 verlängert, also um ganze elf Jahre. Über das Thema „Überführung der Stasiunterlagenbehörde in das Bundesarchiv“ wurde gerade ausführlich diskutiert. Klar ist: Es handelt sich hier keineswegs um eine Abwicklung der Behörde, sondern um eine Verbesserung und Aufwertung. Dazu kommt noch – dafür sprechen wir uns auch als Unionsfraktion aus – das neue Amt des Bundesbeauftragten für die Opfer der SED-Diktatur. Es ist eine Weiterentwicklung des Amtes des Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen. Ich denke, dass Menschen, die unter diesen Repressalien in der DDR gelitten haben, weiterhin auch einen direkten Ansprechpartner, eine Art wichtige Person, benötigen, von der sie Halt und Unterstützung erfahren. ({2}) Das ist ein ganz wichtiges Signal für die Opferarbeit und auch gegen das Vergessen. An dieser Stelle möchte ich Roland Jahn recht herzlich begrüßen und ihm auch recht herzlich für die vielen Gespräche danken, die Sie, Herr Jahn, mit Betroffenen führen. Das ist eine wichtige Arbeit. Das ist ein wichtiges Zeichen, und das ist vor allen Dingen für die Betroffenen, für die Opfer ein ganz wichtiger Punkt in ihrer Aufarbeitung. Danke schön dafür! ({3}) Ein dritter Punkt, den ich ansprechen möchte – auch durch die bildungspolitische Brille betrachtet –, ist, dass wir 14 Forschungsverbünde gegründet haben. Sie setzen einen Meilenstein für die gesamte DDR-Aufarbeitung, für die Erforschung von begangenem Unrecht, etwa in den Haftanstalten, in Erziehungsheimen der ehemaligen DDR. Dafür stehen über vier Jahre 40 Millionen Euro zur Verfügung. Damit wird die Forschung erstmals von der Stasiunterlagenbehörde etwas getrennt und dezentralisiert. Im universitären Umfeld besteht zudem die Möglichkeit, dass auch die junge Generation an der umfassenden Erforschung der DDR-Diktatur mitarbeiten kann. Dass diese Forschungsergebnisse natürlich auch öffentlich zugänglich gemacht werden müssen, das ist selbstverständlich. Ich könnte sie mir zum Beispiel als Bestandteil der Lehrpläne von Schulen gut vorstellen. Das sind wir den Opfern und ihren Familien schuldig. Das ist wichtig für eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit und wesentlich für eine freie, demokratische Gesellschaft in der Zukunft. ({4}) Meine Damen und Herren, in diesem Sinne kann ich auch dem Unken der AfD im Hinblick auf eine scheiternde Aufarbeitung der SED-Diktatur klar widersprechen. Wir haben im 30. Jahr der Friedlichen Revolution viel vorzuweisen, und wir stehen auch weiterhin an der Seite der Opfer und möchten in engem Austausch mit den Akteuren die Aufarbeitung der SED-Diktatur gesamtdeutsch, gesamtgesellschaftlich und dauerhaft stärken. In diesem Sinne bitte ich um Ihre Zustimmung. Vielen Dank. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Götz Frömming für die Fraktion der AfD. ({0})

Dr. Götz Frömming (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004722, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Gestern hatten wir im Kulturausschuss eine Abstimmung zu der Frage, ob die Überprüfungsmöglichkeit verlängert werden soll. Es gab eine erfreulich große Mehrheit, eine erfreulich große Koalition dafür. Nur eine einzige Fraktion hat sich dem verweigert, und das war Die Linke. Wir haben aber derzeit auch eine andere sehr große Koalition, und die hatte leider etwas weniger Erfreuliches vor, und darüber haben wir eben schon in der Aktuellen Stunde gesprochen. Leise und geräuschlos wollten Sie ein wichtiges Symbol des Widerstandes gegen die SED-Diktatur ins Archiv entsorgen. ({0}) Aber damit, meine Damen und Herren, haben wir Sie nicht durchkommen lassen, und deshalb beschimpfen Sie uns hier schon den ganzen Tag. Diese Behörde, meine Damen und Herren, ist eine ungewöhnliche Behörde. Sie verdankt ihre Existenz nicht der Obrigkeit, sondern dem mutigen Einsatz der Bürger. ({1}) Der Bundesbeauftragte ist nach wie vor eine wichtige Institution. Seine Bedeutung als Mahner und Aufklärer wird nicht geringer, sondern größer, je länger die SED-Diktatur zurückliegt. Der jetzige Amtsinhaber ist offenbar seines Amtes müde geworden und wirkt bei Ihnen nun als Kronzeuge an der Abschaffung seines eigenen Amtes mit. Das finde ich tragisch und bedauerlich. ({2}) Wie praktisch aber, dass die Auflösung seiner Behörde und das Ende seiner Amtszeit auf denselben Tag fallen sollen, und, wie man hört, ist an einen neuen, auf Herrn Jahn vielleicht schon zugeschnittenen Posten ja bereits gedacht. ({3}) Man kennt sich, man hilft sich; ({4}) aber diese Behörde darf für keinen Kuhhandel irgendwelcher Art missbraucht werden. ({5}) Diese Behörde ist nicht nur eine Behörde, sondern sie ist ein Denkmal. Sie ist ein sichtbares Symbol und ein Teil des Erbes der Friedlichen Revolution. Ich sage denen, die eben „Da redet schon wieder ein Westdeutscher“ gesagt haben: Diese Behörde gehört uns allen, meine Damen und Herren. ({6}) Es sind Sie, nicht wir, die diese Behörde und den Bundesbeauftragten und dieses Denkmal schleifen wollen – wir wollen es erhalten. Diese Behörde muss ausgebaut und darf nicht abgewickelt werden. Das wollen wir mit unseren beiden Ihnen vorliegenden Anträgen erreichen. ({7}) Mit der Überführung der Stasiakten in das Bundesarchiv entsteht der Eindruck, dass ein Teil unserer deutschen Geschichte entsorgt werden soll, ({8}) um insbesondere – das klang heute bei meinem Kollegen schon an – der CDU neue Koalitionsmöglichkeiten links der Mitte zu eröffnen, die sie ja dringend braucht. ({9}) Meine Damen und Herren, es hat bereits Mitte der 80er-Jahre einmal eine große Debatte um die Entsorgung der deutschen Vergangenheit gegeben. Damals war es Die Linke, die Helmut Kohl kritisiert hat. Wir erleben heute ein Déjà-vu dieser Debatte, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Heute sind Sie es, die einen Teil unserer Vergangenheit ins Archiv verbannen wollen. ({10}) Meine Damen und Herren, wir brauchen nicht weniger, sondern mehr historische Orte, ({11}) um an die Verbrechen der SED-Diktatur und Stasi zu erinnern.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Herr Frömming, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bernstiel?

Dr. Götz Frömming (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004722, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr gerne.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Bitte sehr, Herr Bernstiel.

Christoph Bernstiel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Kollege Dr. Frömming, Sie haben eben ausgeführt, dass Roland Jahn eine tragische Figur sei, weil er seine eigene Position abschaffen müsse, und wie furchtbar das sei. Wir haben mit Roland Jahn gesprochen. Es ist übrigens sein eigener Vorschlag: Er möchte dieses Amt nicht abschaffen, sondern er möchte es weiterentwickeln, und zwar zu einem Amt nicht nur für die Akten, sondern auch für die Menschen. Ich stelle Ihnen eine einzige Frage – sie ist ganz leicht mit Ja oder Nein zu beantworten –: Haben Sie in den letzten zwei Monaten ein einziges Mal direkt mit Herrn Jahn über diese Frage gesprochen?

Dr. Götz Frömming (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004722, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Zu Ihrer Frage: Mit Herrn Jahn habe ich im Ausschuss gesprochen. ({0}) Ich will auf den ersten Teil Ihrer Bemerkung eingehen. Ich hätte mir von Ihnen gewünscht, dass Sie den Mut und das Rückgrat gehabt hätten, sich nicht hinter Herrn Jahn oder irgendeiner Kommission zu verstecken, ({1}) sondern dass Sie selbst gesagt hätten, dass Sie es sind, die diese Behörde abschaffen wollen. ({2}) Die Behörde bleibt nämlich nicht erhalten, und auch die Stelle des Bundesbeauftragten bleibt nicht erhalten. Beides wird abgeschafft und entsorgt. Sie hätten den Mut haben sollen, zu sagen: ({3}) Wir sind es, die das wollen. – Dann hätten Sie dafür auch die Verantwortung gegenüber den Bürgern gehabt. So verstecken Sie sich hinter anderen. Schade! ({4}) Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss meiner kleinen, ja leider nur sehr kurzen Rede. Sie haben die Redezeit ja extra begrenzt, weil Ihnen dieses Thema offenbar unangenehm ist. ({5}) Wir sind der Meinung, dass alle Außenstellen als pädagogische Einrichtungen erhalten bleiben sollten. Es geht nicht nur um die Akten. Es geht auch um die Aufklärung der jungen Generation. ({6}) Diese Aufklärung ist offenbar dringender und notwendiger denn je, wie uns diese Debatte gezeigt hat. Vielen Dank. ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächste Rednerin ist die Kollegin Katrin Budde für die Fraktion der SPD. ({0})

Katrin Budde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004686, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist echt ein Angriff auf die körperliche Unversehrtheit, wenn man da zuhören muss. ({0}) So viel Ignoranz von Wahrheit und Realität, wie ich es in der letzten halben Stunde von Ihnen gehört habe, habe ich nicht einmal in der DDR erlebt. Das ist wirklich unglaublich. Ich meine, Herr Jongen und Herr Frömming, Sie können doch lesen. Es gibt unzählige Dokumente – öffentlich zugänglich. Es gibt Debatten über dieses Thema. Von wegen heimlich: Nichts wird öffentlicher diskutiert – aus gutem Grund – als die Fortentwicklung dieser Behörde. Sie beteiligen sich nur nicht daran, ({1}) außer mit falschen Unterstellungen. ({2}) Zum StUG. Ja, das StUG, das Stasiunterlagengesetz, hat sich bewährt. Wir hatten vereinbart, zu schauen, ob wir den überprüfbaren Personenkreis einschränken oder nicht. Wir haben uns entschlossen, ihn nicht einzuschränken. Es gibt auch wirklich keine gelungene Idee, wie man ihn jetzt einschränken könnte. Warum, war dann die Frage, verlängert ihr die Überprüfungsfrist? Sind nicht schon alle ausgestorben? Dazu sage ich: Nein, die Überprüfungsfrist ist aus gutem Grund bis 2030 verlängert worden. Sie betrifft zum Beispiel meine Generation, die Generation mittleren Alters, die 1989/90 Anfang/Mitte 20 war. Wenn man es gewollt hätte, hätte man in diese Dinge gut verstrickt sein können. Deshalb betrifft es auch diese Alterskohorten noch, für die ich die Überprüfung richtig finde. Es betrifft zum Beispiel fortlaufend auch immer solche Dinge wie die Verleihung von Bundesverdienstkreuzen. Da sind viele Träger noch sehr viel älter. Gerade da muss eine Überprüfung stattfinden, weil ich finde, wir müssen schon ganz genau hinschauen, wem ein Bundesverdienstkreuz verliehen wird. Allein diese beiden Argumente reichen, glaube ich, um zu sagen: Es macht Sinn und es ist richtig, die Überprüfungsfrist zu verlängern. ({3}) Jetzt zu dem Beschluss, was die Fortentwicklung der Behörde angeht. Noch einmal: zwei Jahre Kommissionsarbeit, öffentliche Anhörungen, öffentliche Ergebnisse, Minderheitenvoten. Ja, auch da ist man sich nicht immer einig gewesen. Die, die sich nicht haben durchsetzen können, kommen jetzt zum Teil wieder und sagen: Wir wollen das noch einmal neu anfassen. – Nein, das Ganze ist ein Prozess. Dann gab es einen Beschluss im Bundestag, auch dazu öffentliche Debatten, zugängliche Koalitionsverträge, in denen steht, was man weiter machen will. Anhörungen im Ausschuss, Debatten hier im Plenum: Nichts, aber auch gar nichts wird heimlich gemacht, sondern es wird alles gut und richtig, so wie es in einer Demokratie normal ist, öffentlich gemacht. Dazu gehört auch, dass Einzelne anderer Auffassung sind. Aber es gibt aus gutem Grund eine große Mehrheit, die sich für eine positive Fortentwicklung der Behörde entschieden hat. Dazu will ich heute sagen: Zuallererst gilt mein Dank denen, die im Herbst, im Spätherbst und im Winter 1989 die Stasizentralen besetzt haben und dafür gesorgt haben, dass wir die Akten überhaupt noch haben, dass sie überhaupt noch da sind. Das ist in anderen Ländern nämlich nicht so, sondern da konnten sie weggeräumt werden. ({4}) Mein Dank geht an zweiter Stelle an all die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die eben in den letzten 29, fast 30 Jahren seit der Wiedervereinigung in der Behörde gearbeitet haben, in der Zentrale, in den Außenstellen, die das Thema öffentlich gemacht haben, die pädagogische Arbeit geleistet haben, die mit Betroffenen geredet haben, die den Zugang zu den Akten sichergestellt haben, die überall dort in den Regionen gearbeitet haben. Sie haben Großartiges geleistet. Ihnen gebührt an dieser Stelle ein großes Dankeschön. ({5}) Darum ist es uns auch wichtig, um noch auf einen anderen Punkt einzugehen, dass wir in der Beschlussempfehlung das Thema haben: Wir wollen eine Fortentwicklung des Personals. Nicht nur, dass das Bundesarchiv mit neuem und zusätzlichem Personal für die neue Aufgabe ausgestattet werden muss: Nein, wenn wir über die Fortentwicklung der Außenstellen und die neuen Aufgaben reden und darüber, wie das aussehen soll, dann müssen wir uns vor Ort richtig umtun. Da wird es wahrscheinlich sehr viele, regional unterschiedliche Lösungen geben müssen. Dafür muss man aber auch vor Ort sein. Ich habe das getan, nicht nur in meinem Bundesland, sondern auch in anderen neuen Bundesländern, und werde das auch zukünftig noch tun, damit ich genau weiß: Was macht Sinn? Wie können wir die Akteure, die bei diesem Thema an der Aufarbeitung, Aufbereitung und politischen Bildung zusammenarbeiten, am besten stärken? Wie können diese neuen Außenstellen aussehen? Dazu gehört es auch, dass ein Personalkonzept erarbeitet wird. Wir haben gesagt: Das geschieht ohne Kündigung und mit einem Konzept, bei dem die Personen und die Anzahl der Personen der Aufgabe folgen müssen. Das ist das, was Daniela Kolbe zu Recht gesagt hat. Ich wünsche mir in diesem und vor allen Dingen im nächsten Jahr einen großen Wurf, dass wir diese neuen Außenstellen vernünftig ausstatten und dass wir bei der Aufarbeitung insgesamt ein Stück vorankommen. Es fehlt auch noch der ganze Komplex Forschung und Entwicklung. Er ist in der Beschlussempfehlung noch gar nicht enthalten. Auch den müssen wir uns noch anschauen. Wir müssen uns anschauen, welche Forschungsinstitutionen hier zusätzlich arbeiten können, welcher Teil im Archiv gemacht wird. Es gibt noch ganz viel Arbeit, die vor uns liegt. Diese werden wir nur mit großer, breiter Brust und mit ganz vielen, die hier im Hause mitziehen, leisten können. Deshalb freue ich mich, dass wir heute mit dieser Beschlussempfehlung den ersten Schritt tun, auch dem Auftrag an die BKM, zu schauen: Welche rechtlichen Regelungen müssen da angefasst werden? Da werden ganz viele Gesetze angefasst werden müssen, damit das funktioniert. Was muss verändert werden? Wir müssen irgendwann mit den Ländern auch entscheiden: An welchem Standort soll das neue Archiv sein? Wenn die Wahlen vorbei sind, wird das hoffentlich etwas schneller vorangehen, sodass wir dann auch eine Entscheidung über die Machbarkeitsstudie und die Standorte treffen können, dass wir die Gelder in dem Haushalt einstellen können. Wir brauchen dazu dringend diesen ersten Beschluss, damit wir alle für die Zukunft vernünftig weiterarbeiten können. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Thomas Hacker für die Fraktion der FDP. ({0})

Thomas Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004734, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Vor 30 Jahren veränderten die Menschen in der DDR die Welt. Sie gingen auf die Straße, ohne zu wissen, ob nicht Gewehre oder Panzer auf sie zielen würden. Sie erkämpften sich ihre Freiheit und überwanden den Repressionsstaat. Sie eroberten die Unterlagen, die das Ausspionieren und die Unterdrückung des Einzelnen durch den Staat bis ins Kleinste und persönlichste Detail hinein dokumentierten. Deshalb ist der spätere Umgang mit den Stasiunterlagen auf Basis des Stasiunterlagengesetzes eine der zentralen Errungenschaften der Friedlichen Revolution. Bei keiner anderen Revolution haben sich die Menschen selbst ein Gesetz geschaffen, das es ihnen erlaubt, geschützt in ihre eigene Vergangenheit zu schauen, und zwar vor allem, um Klarheit und Gerechtigkeit zu schaffen: Klarheit für jeden einzelnen Menschen, aber eben auch für den Staat. Die Überprüfungsmöglichkeit auf eine hauptamtliche oder inoffizielle Tätigkeit für den damaligen Staatssicherheitsdienst läuft Ende des Jahres aus. Die Koalition hat es gerade noch geschafft, dieses Auslaufen zu verhindern und die Überprüfungsmöglichkeit zu verlängern. Dabei ist die Verlängerung der Frist dringend notwendig. Es darf auch im 30. Jahr des Erinnerns an die Friedliche Revolution keinen Schlussstrich unter die Aufarbeitung geben. Als Freie Demokraten – wir haben darauf hingewiesen – begrüßen wir auch die Überführung des Stasiunterlagenarchivs in das Bundesarchiv. Wir bündeln damit Wissen und stärken Forschung und Wissenschaft. Damit bleiben die Bestände dauerhaft gesichert und in Nutzung. Das ist das richtige Signal zur richtigen Zeit. ({0}) Wie mag das Gefühl gewesen sein, seine Stasiakte das erste Mal in den Händen zu halten, Sicherheit zu haben, wer einen ausgehorcht hat, die Namen zu kennen? Im Laufe der Jahre wurden die Akten immer weiter erforscht und erschlossen. Neue Erkenntnisse kamen hinzu. Weitere Details wurden offenkundig. Deswegen ist die Fortführung dieser Arbeit so wichtig. Nur so können die vielen Bürgerinnen und Bürger gewürdigt werden, die im Ringen um Freiheit und Bürgerrechte erstmals die Akten einer Geheimpolizei öffneten und so die Grundlage für das Wirken der BStU schufen. Mit dem Konzept zur Überführung der Akten allein ist es nicht getan. Es liegt noch eine weite Wegstrecke vor uns. Unsere Vorstellungen haben wir Freie Demokraten mit einem eigenen Entschließungsantrag im Ausschuss für Kultur und Medien eingebracht. Uns ist es wichtig, dass die Digitalisierung der Stasiunterlagen zügig voranschreitet und die hohen Anforderungen des Datenschutzes und der Persönlichkeitsrechte auch erfüllt werden. Uns ist wichtig, dass Bildung und Forschung aktiv weiterbetrieben werden. Darum setzen wir uns für ein eigenes Institut für vergleichende geheimdienstliche Forschung ein. Die Sichtbarkeit des Stasiunterlagenarchivs darf auch bei der Eingliederung in das Bundesarchiv nicht verloren gehen. Das ist uns besonders wichtig. ({1}) Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal deutlich werden: Wir erwarten von der Bundesregierung die zügige Umsetzung des Konzepts. Wir erwarten die schnelle Schaffung des Opferbeauftragten; denn die Opfer können nicht warten. Vielen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Die nächste Rednerin ist die Kollegin Simone Barrientos, Fraktion Die Linke. ({0})

Simone Barrientos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004660, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! 30 Jahre – 30 Jahre! – nach dem Ende der DDR wird hier zum fünften Mal die Fristverlängerung der Regelüberprüfungen auf Stasimitarbeit beschlossen werden. Es wird ja nicht beschlossen, dass eine Möglichkeit bestehen bleibt, weiter zu überprüfen, sondern es geht darum, dass Regelüberprüfungen beschlossen werden sollen. Da kann ich nur sagen: Es lebe der Generalverdacht! Wir sind dagegen; das wird Sie nicht überraschen. ({0}) Und nein, wir sind nicht deshalb dagegen, weil wir einen Schlussstrich wollen; ganz sicher nicht. ({1}) Was wir wollen, ist eine – böses Wort – Normalisierung im Umgang mit der DDR-Geschichte, eine Versachlichung auch. Die DDR war sehr viel mehr als Stasi; das habe ich vorhin schon gesagt. ({2}) Nun sollen aber Personen in herausgehobenen politischen und gesellschaftlichen Positionen bis 2030 regelüberprüft werden. Das sind all die, die in der DDR gelebt haben und bis 1971 dort geboren wurden. Das betrifft ehrenamtliche Bürgermeisterinnen genauso wie Mandatsträger oder Menschen, die eine höhere Laufbahn anstreben. Sie werden 2030 mindestens 59 Jahre alt sein, und es ist wohl anzunehmen, dass die Frist dann noch mal verlängert wird, damit einem auch ja keiner durch die Lappen geht, bevor sie dann endgültig Abschied nehmen von dieser Welt. Und es ist völlig egal, wie sie nach der Wende gelebt haben. Das kann doch nicht sein! Das kann doch nicht Ihr Ernst sein! ({3}) Wolfgang Thierse ({4}) hat schon 2011 gesagt, dass Überprüfungen nur im konkreten Verdachtsfall und bei besonders herausgehobenen Funktionen zu rechtfertigen seien und dass – ich zitiere – das notwendige Vertrauen in die Demokratie und ihre Institutionen nicht dadurch zu gewinnen [ist], dass ein latentes Misstrauen gegenüber Mitbürgern ostdeutscher Herkunft in Gesetzen festgeschrieben wird. ({5}) Ich frage mich, wie die Aufarbeitung gelaufen wäre, wenn die DDR-Bürgerinnen und DDR-Bürger allein darüber hätten entscheiden können. Vielleicht hätte dann auch der Gedanke an Versöhnung, an Dialog eine Rolle gespielt. ({6}) Vielleicht gäbe es dann so was wie eine Wahrheitskommission. Wir werden es nie erfahren. Die Spaltung der Gesellschaft hat ihre Ursachen auch im arroganten Umgang mit den Ostdeutschen, und der fortlebende Generalverdacht ist nur ein Beispiel dafür. Ansonsten – schon mal mit Blick auf die nächste Debatte –: Wer Antifaschistinnen und Antifaschisten ächten will, der steht in der Tradition von Faschisten. – An der Stelle sind wir uns doch einig, oder? Danke schön. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als nächste Rednerin hat die Kollegin Monika Lazar, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. ({0})

Monika Lazar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003714, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestern vor 30 Jahren, am 25. September 1989, versammelten sich mehrere Hundert Menschen beim Friedensgebet in der Nikolaikirche in Leipzig. Ich war eine davon. Als wir nach dem Friedensgebet hinausgegangen sind, warteten dort viele Leute. Gemeinsam versuchten wir anschließend, über den Innenstadtring zu ziehen. Mit weichen Knien, noch ungläubig, dass wir überhaupt vorankommen, liefen wir ein Stück die Runde, noch nicht über den gesamten Ring; das haben wir erst am 9. Oktober 1989 geschafft. Am Rande des Innenstadtrings befand sich mit der sogenannten Runden Ecke, der Stasizentrale, der heikelste Punkt. Daran vorbeizuziehen hat erst am 9. Oktober geklappt, als wir es einmal um den Ring geschafft haben. ({0}) Am 4. Dezember besetzten dann mutige Bürgerinnen und Bürger friedlich die Leipziger Stasizentrale. So wurde der Grundstein für die Aufarbeitung des Stasiunrechts gelegt. An den Mut dieser Menschen in den verschiedenen Städten der DDR möchte ich heute erinnern. ({1}) Einer davon, unser ehemaliger Kollege Harald Terpe, war in Rostock bei der Besetzung der Stasizentrale dabei und hat diese Woche, wie ich finde, zu Recht das Bundesverdienstkreuz bekommen. ({2}) Das durch die Stasi verübte Unrecht – Überwachung, Zersetzung und Unterdrückung – hinterlässt seine Spuren bis heute, und dieses Unrecht darf nicht vergessen werden. Nach der Wiedervereinigung schuf man daher die Möglichkeit, Bewerberinnen und Bewerber für herausgehobene Ämter und Positionen auf eine Mitarbeit bei der Stasi zu überprüfen. Das finden wir richtig, und deshalb werden wir dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Verlängerung der Überprüfungsmöglichkeit auch zustimmen. ({3}) Zum Schluss möchte ich noch eine Bemerkung an die Kollegin Barrientos von der Linksfraktion richten: Hier von einem Generalverdacht zu sprechen, der alle Ostdeutschen trifft und von Westdeutschen ausgesprochen wird, halte ich für verfehlt. ({4}) Das Thema auszunutzen, um so Ost und West noch mal gegeneinander auszuspielen, das geht nicht; das ist wirklich der Sache nicht würdig. ({5}) Vielmehr sollten wir alle daran arbeiten, dass Ost- und Westdeutsche sich gegenseitig wieder mehr Aufmerksamkeit schenken, von ihren Erfahrungen vor und nach 1989 berichten und voneinander lernen. ({6}) – Ja, aber das ist eben das falsche Beispiel.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Kollegin, kommen Sie zum Schluss bitte.

Monika Lazar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003714, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich hoffe, dass in den nächsten Monaten, in denen wir an „30 Jahre Friedliche Revolution“ denken, auch daran denken und darauf achten. Vielen Dank. ({0})

Mario Mieruch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004822

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir feiern dieses Jahr 30 Jahre Mauerfall, und ich freue mich sehr darüber; denn auch ich hatte das zweifelhafte Vergnügen, als Jugendlicher im Oktober 1989, in ein FDJ-Hemd gepresst, hier in Berlin auf der Straße stehen zu dürfen, und kann daher sagen, dass auch für meine Generation das alles noch nicht aufgearbeitet ist. Insofern begrüße ich das Vorhaben, diese Aufarbeitung weiterhin, bis ins Jahr 2030, zu ermöglichen, stelle aber a) die Frage, was an der bisherigen Aufarbeitung unsachlich war, wie es vorhin zur Sprache kam – da kann ich nichts entdecken –, und b) ist die große Frage, ob das, was in der Theorie hier gerade sehr sinnvoll klingt und vielen richtig erscheint, in der Praxis dann tatsächlich der richtige Weg ist; denn es sind einfach sehr, sehr viele Fragen offen. Es gibt, wie heute auch schon angeklungen, noch kein zu Ende gedachtes Konzept. Es gibt die offene Frage der Finanzierung. Es ist die Frage, auf welche rechtlichen Füße man das Ganze stellt. Es ist die Frage, was man mit den Mitarbeitern macht, wie man mit denen umgeht; denn das Bundesarchiv hat – daran möchte ich erinnern – erst zum Jahresanfang die 250 Mitarbeiter der Wehrmachtsauskunftsstelle übernommen und musste diese integrieren. Es bleiben also viele Fragen offen: unter Umständen weniger Büros, unklare Zukunft, längere Bearbeitungszeiten – und das alles im Angesicht von heute immer noch 60 000 Anfragen pro Jahr. Das heißt, das Ansinnen dieses Gesetzesvorhabens zu dieser Zeit sendet, auch im Hinblick auf die vergangenen und noch anstehenden Landtagswahlen, zum Beispiel jetzt in Thüringen, Signale. Das sendet sehr wohl Signale an viel zu viele Menschen, auch wenn Sie hier immer das Gegenteil beteuern. Ich glaube Ihnen sogar, dass Sie es vielleicht gar nicht möchten; aber draußen kommt es eben anders an. Es hat dann eben doch etwas von Schlussstrich. Mit der Art und Weise, wie das Ganze hier vorangetrieben wird, schaffen Sie eins: Sie schaffen neue Wähler, Wähler für die AfD. Und da können Sie sich fragen, ob das Ihr Ziel ist. Vielen Dank.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als letzter Rednerin erteile ich das Wort der Kollegin Dr. Astrid Mannes, CDU/CSU-Fraktion, ({0}) mit der Bitte an das Auditorium, die Gespräche einzustellen. Von den Damen wäre es einfach nett, der Kollegin zuzuhören, von den Herren wäre es höflich. Ich werde den einen oder anderen, den ich hier erkenne, nur einmal bitten, der Kollegin zuzuhören. Frau Kollegin, Sie haben das Wort.

Dr. Astrid Mannes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004814, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Behörde für Staatssicherheit in der DDR war ab 1950 ein selbstständiges Ministerium, über das von der Stasi die Überwachung, Kontrolle, Beeinflussung, Gängelung und Unterwanderung ({0}) der DDR-Bevölkerung organisiert wurde. In den 1980er-Jahren waren über 100 000 hauptamtliche und rund 600 000 inoffizielle Mitarbeiter für die Stasi tätig. Angelegt wurden 40 Millionen Karteikarten und Akten. Es geht aber heute nur indirekt um diese Karteikarten. Vielmehr geht es um die persönlichen Schicksale, die mit diesen Karten verbunden sind. Diese oft quälenden Fragen, die sich so viele DDR-Bürger stellten und zum Teil immer noch stellen: Wurde ich auch bespitzelt? Was hat man über mich gewusst und ausspioniert? Wie weit ist man in meine Privatsphäre eingedrungen? Wer hat mich bespitzelt? Wurde ich auch von Freunden oder gar von Familienmitgliedern ausgehorcht? Wir feiern in diesem Jahr 30 Jahre Friedliche Revolution, und es gehört unzweifelhaft zu den großartigen Momenten jener Tage, dass Menschen durch überaus mutiges und beherztes Eingreifen viele Stasiakten vor der Vernichtung bewahren konnten. Wir erleben auch 30 Jahre nach dem Mauerfall immer noch ein sehr großes Interesse und große Nachfrage nach den Stasiakten. Noch immer bitten viele Bürger um Einsicht in ihre Akte. Und noch immer sind wir diesen Betroffenen größtmögliche Transparenz und Unterstützung schuldig. Dem wollen wir Rechnung tragen. Mitarbeiter im öffentlichen Dienst stehen in einem besonderen Treueverhältnis zum Staat. Mit der Verlängerung der Dauer der Möglichkeit, auf Stasitätigkeit im öffentlichen Dienst zu überprüfen, setzen wir einen weiteren Punkt aus dem Koalitionsvertrag um. ({1}) Es ist wichtig, dass auch die Stasiopfer ein Grundvertrauen in den Staat und in staatliches Handeln haben. Der Zugang zu den Stasiakten bleibt weiterhin auf Grundlage des Stasiunterlagengesetzes uneingeschränkt erhalten. Mit dem neuen Konzept zur Zukunft der Stasiunterlagen geht es uns um die Sicherung der Unterlagen auch für künftige Generationen. Es geht uns zweitens um die Anerkennung der Opferschicksale, und drittens geht es uns darum, durch die Integration dieser Aktenbestände ins Bundesarchiv dafür zu sorgen, dass dieses Thema als gesamtgesellschaftliche Aufgabe in Deutschland verstanden wird, welche sich eben nicht nur auf die DDR bzw. das ehemalige Staatsgebiet der DDR bezieht. Es wird künftig einen verbesserten Aktenzugang für die Opfer geben sowie eine verbesserte und modernere Aktennutzung. Die Opferverbände wurden in diese Überlegungen miteinbezogen. Es gibt – das will ich nicht verschweigen, und das kam hier auch schon zu Wort – einige kritische Stimmen. Ich bin mir sicher, dass wir in Kürze, wenn das Konzept umgesetzt ist, diese Sorgen durch die gelebte Realität ausräumen können. ({2}) Die Anträge zur Einsichtnahme in die Stasiakten sollen schneller bearbeitet werden, und die Grundlagenforschung im Stasiunterlagenarchiv bleibt bestehen. Uns ist der Opferschutz weiter wichtig. Daher bitte ich um Zustimmung für dieses Gesetz. Vielen Dank. ({3})

Martin Hess (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004749, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Politischer Extremismus, egal welcher Couleur, ist eine existenzielle Bedrohung für unseren Staat und für unsere Gesellschaft. ({0}) Alle Fraktionen in diesem Hohen Haus distanzieren sich von Rechtsextremismus. Insbesondere meine Fraktion hat mehrfach dargelegt, ({1}) dass sie Rechtsextremismus ebenso kategorisch ablehnt wie jede andere Form des Extremismus. ({2}) Aber ein großer Teil dieses Hauses hat ein veritables Linksextremismus-Problem. Anke Domscheit-Berg von den Linken schrieb am 29. Juli auf Twitter: Ich bin Antifa. ({3}) Am 29. Juli sagte Grünenchefin Baerbock bei der ARD: Für mich ist die Antifa nicht per se eine linksextremistische Organisation. ({4}) Und ganz aktuell fordert Frau Renner auf Twitter: Mehr Personal bei der Antifa statt bei der Polizei und den Sicherheitsbehörden. ({5}) Ich sage klar und deutlich: Wer als Politiker die Antifa unterstützt, macht sich mit gewalttätigen Verfassungsfeinden gemein. ({6}) Wir sind nicht bereit, dies weiter hinzunehmen. Der Kollege Grötsch von der SPD sagte bei der letzten Plenardebatte über Linksextremismus, die wahre Gefahr in diesem Land komme immer noch von rechts. ({7}) Herr Grötsch, Sie sind wie ich ehemaliger Polizeibeamter und sollten wissen, dass Linksextremismus anderen Extremismusformen in nichts nachsteht. Seit 2009 führt der Linksextremismus die Tabelle politisch motivierter Gewalttaten an. Im Wochentakt greifen linksextreme Hausbesetzer in der Rigaer Straße die Polizei mit Pflastersteinen an, werfen von Dächern Gehwegplatten auf Einsatzkräfte und locken die Polizei in brennende Hinterhalte. ({8}) Sogar Ihr Kollege Tom Schreiber vom Berliner Abgeordnetenhaus spricht von einem „rechtsfreien Raum“, und die Berliner Gewerkschaft der Polizei stellt unzweideutig fest, dass in manchen linken Stadtteilen Einsatzhundertschaften und Besatzungen von Funkwagen nicht aussteigen, wenn nicht gerade jemand blutend auf der Straße liegt. Meine Damen und Herren, das sind linksextreme No-go-Areas. Und No-go-Areas, egal welcher Art, sind in Deutschland nicht hinnehmbar und müssen konsequent bekämpft und beseitigt werden. ({9}) Es darf bei der Verteidigung unseres Rechtsstaates keinen Bonus für Linksextremisten geben. SPD, Linke, Grüne tragen die Verantwortung dafür, dass Linksextremismus in der Gesellschaft immer salonfähiger wird. Beispiele gefällig? ({10}) Der Deutsche Gewerkschaftsbund vergibt sein Münchner DGB-Haus diesen November erneut an die Antifa. ({11}) Die SPD im Rathaus von Potsdam lässt zu, dass die Antifa nächstes Jahr in einem mit Steuergeldern geförderten Jugendzentrum ein Kampfsportwochenende veranstaltet. Und die Evangelische Kirche duldet beim Kirchentag sogenannte antifaschistische Kirchen mit Antifa-ähnlichem Logo. Diese Förderung und Verharmlosung linksextremistischer Gewalttäter ist inakzeptabel und muss schnellstmöglich beendet werden. ({12}) Am 14. September dieses Jahres haben Linksextremisten das Privatgrundstück unseres sächsischen Wahlkampfmanagers mit einem Brandanschlag heimgesucht: Mehrere Fahrzeuge sind verbrannt, nur mit viel Glück haben die Flammen nicht auf sein Wohnhaus übergegriffen. Die Realität ist: Unsere Partei wird öfter angegriffen als alle anderen hier vertretenen Parteien zusammen. Und Sie akzeptieren diese Gewalt, weil sie sich gegen einen politischen Konkurrenten richtet, nämlich gegen die größte Oppositionspartei in diesem Haus. ({13}) Und das, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist eine Schande für diese Demokratie. ({14}) Der Linksextremismus unterwandert und instrumentalisiert mittlerweile immer mehr die Fridays-for-Future-Proteste. Schon seit März marschiert die Interventionistische Linke mit, die schon beim G-20-Gipfel und bei den Protesten im Hambacher Forst eine unrühmliche Rolle gespielt hat. Fridays-for-Future-Hauptorganisatorin Luisa Neubauer bezeichnet Ende Gelände, eine Initiative der Interventionistischen Linken, im ZDF als Partner und zweifelt offen deren behördliche Einstufung als linksextremistisch an. Zwischen gewaltorientierten Linksextremisten und Fridays for Future besteht offenbar ein strategisches Bündnis. Von Woche zu Woche ist die Eskalation der Klimaproteste zu beobachten: Es fing mit Sachbeschädigungen und Straßenblockaden an, dann rief Luisa Neubauer zu zivilem Ungehorsam auf. Davon inspiriert verübten Linksextremisten in Berlin einen Brandanschlag auf den Nahverkehr und legten den Berufsverkehr lahm. Die britische Vorbildorganisation von Fridays for Future – Extinction Rebellion – plante bereits, mit einem Drohnenangriff den Londoner Flughafen lahmzulegen. Um es klar zu sagen: Das ist kein legitimer Protest mehr. Hier werden Menschenleben gefährdet, und deshalb müssen solche Auswüchse im Keim erstickt werden. ({15}) Zeigen Sie den Bürgern, dass Sie es ernst meinen mit dem Schutz unserer Demokratie und unseres Rechtsstaates. Lehnen Sie unseren Antrag bitte nicht leichtfertig ab, nur weil er von der AfD kommt. Linksextremismus muss endlich ebenso verurteilt und geächtet werden wie andere Extremismusformen auch. Setzen Sie ein klares Zeichen für Meinungspluralismus und Demokratie. Werden Sie Ihrer Verantwortung für unser Land gerecht, und unterstützen Sie diesen Antrag. ({16})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Christoph Bernstiel, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Christoph Bernstiel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben hier wieder einmal einen wunderbaren Antrag der AfD zu behandeln. ({0}) Ich muss Ihnen sagen: Ihr Timing ist wirklich außerordentlich bemerkenswert. ({1}) Wir befinden uns gerade in einer Zeit, in der beim Bundesamt für Verfassungsschutz und beim BKA massiv die Stellen in der Rechtsextremismusprävention hochgefahren werden. ({2}) Erst vor Kurzem – Herr Baumann, hören Sie bitte zu; Sie machen sich ja selber lächerlich – hat ein bekennender Rechtsextremist Walter Lübcke erschossen, und heute – machen Sie bitte Ihren Twitter-Account auf – hat Mike Mohring eine ähnliche Morddrohung erhalten – aus genau dem gleichen Lager. ({3}) Und Sie machen hier eine Debatte zur Antifa. ({4}) Ich möchte Ihnen etwas sagen: Es braucht nun wirklich keine AfD in diesem Haus, um uns zu erklären, wie man den Rechtsstaat schützt, insbesondere auch vor Linksextremisten und der Antifa. ({5}) – Hören Sie doch zu! – Natürlich haben wir ein Problem mit der Antifa in unserem Land; das stellt auch niemand infrage. ({6}) – Was jetzt kommt, wird Ihnen gefallen. Warten Sie doch einfach ab. Sie geben mir nur mehr Redezeit. ({7}) Das Problem der Antifa ist auch bis hierher in unseren Deutschen Bundestag vorgedrungen; denn Die Linke unterhält maßgeblich die Kontaktstelle Soziale Bewegungen. ({8}) Auf ihrer Homepage sagt sie selbst, dass sie mit dieser Kontaktstelle dafür sorgt, „dass die Proteste … der Antifa … auch im Bundestag gehört werden“. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, ich frage Sie: Warum gibt man einer Organisation Gehör, die unsere Polizisten verletzt, Autos anzündet, Politiker bedroht und öffentlich die Sicherheit unseres Landes gefährdet? ({9}) Seit Jahren wird die Antifa vom Verfassungsschutz beobachtet, und das zu Recht. Heiligendamm, die EZB-Eröffnung und der G-20-Gipfel in Hamburg haben gezeigt, wozu die Antifa mit all ihren Untergruppierungen fähig ist. Das ist ganz klar abzulehnen und auch verfassungsfeindlich. Dennoch hält das die amtierende Vorsitzende der Linkspartei – ich sehe sie gerade nicht –, Frau Kipping, nicht davon ab, im Nachgang des G-8-Gipfels folgende Äußerung zu machen: Die Gipfelproteste haben bei mir zu einem großen Vorrat an Zuversicht geführt. Das macht mutiger und radikaler … ({10}) Meine Damen und Herren, bei den Protesten bei dem Gipfel in Heiligendamm wurden über 1 000 Menschen verletzt, darunter 430 Polizisten, 30 Polizeibeamte davon schwer. Was ist das für ein Demokratieverständnis, meine lieben Damen und Herren von der Linkspartei? Sie haben der Antifa ein verlässliches Sprachrohr hier im Herzen unserer Demokratie geschaffen. ({11}) – Doch. Warten Sie.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der AfD-Fraktion?

Christoph Bernstiel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, selbstverständlich.

Thomas Ehrhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004707, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Herr Kollege, für die Möglichkeit dieser Zwischenfrage. – Wir beobachten ja in der letzten Zeit diverse Demonstrationen der Initiative #Unteilbar, teilweise angemeldet von Anwälten der Roten Hilfe – vom Verfassungsschutz beobachtet –, organisiert von den deutschlandfeindlichen, linksextremistischen und verfassungsfeindlichen Gruppierungen der Antifa oder auch von der Interventionistischen Linken. In Dresden sind bei einer solchen Demonstration Herr Olaf Scholz, der Vizekanzler, wie auch Herr Ralf Stegner und andere maßgebliche Persönlichkeiten der Linken, Roten und Grünen dabei gewesen. ({0}) Ich würde Sie gern fragen, wie Sie das beurteilen, dass Ihr Koalitionspartner mit wesentlichen Persönlichkeiten hier bei einer solchen Veranstaltung mitläuft. Das würde doch viele Menschen in diesem Land interessieren. Danke schön.

Christoph Bernstiel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank für die Zwischenfrage. – Die Antwort ist ganz klar – es ist übrigens dieselbe, die die CDU seit ihrer Gründung immer wiederholt –: Wir arbeiten mit keinen Extremisten, weder links noch rechts, zusammen, und wir verurteilen jeden, der sich davon nicht distanziert. ({0}) Das ist eine ganz klare Aussage. ({1}) Aber damit Sie nicht denken, das sei hier eine einseitige Schelte der Linkspartei: Wir haben nicht nur ein Problem mit der Antifa hier im Deutschen Bundestag, sondern wir haben auch ein Problem mit den Neurechten der Identitären Bewegung und der sogenannten rechtsextremistischen Szene. Denn Sie, liebe AfD, geben auch diesen ein Sprachrohr. Sie sagen in Ihrem Antrag, dass Sie weder mit den Rechten noch mit den Linken zusammenarbeiten und dass Sie gerne möchten, dass alle Arten von Extremismus verurteilt werden. Leider ist es so: Seit Ihrem Einzug hier in den Deutschen Bundestag haben Sie nicht einen einzigen Antrag gestellt, der da lautet: „Rechtsextremismus bekämpfen“ oder „Die Identitäre Bewegung bekämpfen“. Das haben Sie nicht getan. ({2}) Und das lässt mich an Ihrer wirklichen Intention zweifeln. ({3}) Wenn dem also so ist, dass es Ihnen hier nur darum geht, einseitig auf ein Problem hinzuweisen, dann muss man sich die Frage stellen: Welchen Sinn macht Ihre Debatte heute? Ich könnte mir vorstellen, dass es vielleicht um die Landtagswahl in Thüringen geht. Mag sein. Aber dann muss ich Sie enttäuschen; denn wer sich wirklich von Extremismus abgrenzen will, der verurteilt sowohl die Rechten als auch die Linken, ({4}) und das nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten. Und das macht aktuell nur die CDU, meine Damen und Herren. ({5}) Ich komme zum Schluss. In Thüringen regiert momentan Die Linke in einer rot-rot-grünen Regierung. ({6}) Somit sitzen dort die Sympathisanten der Antifa in der Regierung. Ich bin der festen Überzeugung: Das muss sich am 27. Oktober ändern. Dafür drücke ich Mike Mohring mit seiner Thüringer CDU fest die Daumen und wünsche ihm alles Gute. Herzlichen Dank. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Unter Hinweis auf Ihr Alleinstellungsmerkmal gebe ich jetzt das Wort der Kollegin Linda Teuteberg, FDP-Fraktion. ({0})

Linda Teuteberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004913, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Schutz von Rechtsstaat und Demokratie ist uns Freien Demokraten wahrlich wichtig. Dafür brauchen wir keinen einäugigen Antrag der AfD. Gleichzeitig ist wichtig: Der Rechtsstaat und die Demokratie werden von verschiedenen Seiten gefährdet, von rechts und von links, auch durch religiös motivierten Extremismus. So einäugig der Antrag ist, so richtig und wichtig ist es, auch Linksextremismus in Deutschland zu bekämpfen. Es gibt ein Problem mit linker Gewalt – das ist nicht schönzureden – und ein Problem mit extremistischen Strukturen und Organisationen. Da ist nichts aufgebauscht, wie manche meinen. Der demokratische Rechtsstaat darf auf keinem Auge blind sein, auf dem rechten nicht und auch dem linken nicht. ({0}) Deshalb würde ich mir wünschen, dass das wirklich selbstverständlich ist und dass auch auf der linken Seite dieses Hauses extremistische Entwicklungen in diesem Spektrum ebenso ernst genommen werden. Ich erinnere an die bürgerkriegsähnlichen Szenen in Hamburg. Wer auf dem linken Auge blind ist, kann dann auch weniger glaubwürdig, obwohl ganz berechtigt, vor rechtsextremer Gewalt und Extremismus warnen. ({1}) Es gibt nämlich keine ethische Überlegenheit irgendeiner Variante des gewaltbereiten Extremismus, auf keiner Seite. ({2}) Wichtig ist deshalb übrigens auch, dass wir einerseits – das geschieht ja auch hier im Deutschen Bundestag im Innenausschuss, in Untersuchungsausschüssen – sensibel sind für extremistische Entwicklungen oder Strukturen, dass wir aber andererseits auch die Mitarbeiter unserer Sicherheitsbehörden, unserer Polizei nicht unter einen Generalverdacht stellen, sondern gerade denen, die in schwierigen Konfliktsituationen zum Beispiel Versammlungsrecht durchsetzen und verteidigen, die für unseren Rechtsstaat ihre Knochen hinhalten, den Rücken stärken und sie politisch nicht alleinlassen mit unserem Verhalten, unseren Stellungnahmen. ({3}) Die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu schützen, bedeutet allerdings, das Gewaltmonopol des Staates nicht infrage zu stellen – von keiner Seite – und übrigens immer öfter auch da Redefreiheit durchzusetzen, wo sich manche anmaßen, durch Lärm und Blockaden zu unterbinden, dass Veranstaltungen stattfinden, und so versuchen, Meinungen, die legitim und im verfassungsrechtlichen Rahmen sind, aber nicht ihrer Meinung entsprechen, zu blockieren. Auch da sollten wir für Redefreiheit eintreten und öfter das Hausrecht durchsetzen. ({4}) Deshalb bleibt es dabei. Zwei Grundsätze sind wichtig: Gegen andere Anti-Demokraten zu sein, macht einen selbst noch nicht zu einem Demokraten. Dazu gehört mehr. Und: Das Gewaltmonopol des Staates ist nicht infrage zu stellen, ohne Wenn und Aber. Vielen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Teuteberg. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Uli Grötsch, SPD-Fraktion. ({0})

Uli Grötsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004282, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe manchmal den Eindruck, als würde ich oftmals am Rednerpult stehen, um etwas zu den schrägsten Anträgen zu sagen, die von Ihnen kommen. Herr Hess, Sie haben sich eben selbst die Krone aufgesetzt. Dass Sie Fridays for Future, eine Bewegung, in der sich junge Menschen engagieren, denen die Zukunft dieses Planeten nicht egal ist und die sich für die Zukunft dieses Planeten engagieren, mit Straßenblockaden und Randale in Verbindung bringen und dass Sie über diese Bewegung sagen, dass man sie im Keim ersticken muss, ist wirklich der Gipfel von dem, was ich bisher von Ihnen gehört habe. ({0}) Dass der Herr mit der Zwischenfrage die Initiative #unteilbar als unredlich darstellt, dass man bei Hundertausenden von Menschen die Absicht infrage stellt, dass sie für ein freies Land, für Demokratie und ein Miteinander kämpfen und demonstrieren, sagt viel über Ihren wahren Charakter und über die Gründe aus, warum Sie hier sind. ({1}) Sie haben gestern im Innenausschuss gesagt, dass Sie Fridays for Future durch Linksextremisten unterwandert sehen. Heute geht es darum, die Antifa zu ächten. Wenn Sie ansonsten über Extremismus reden, dann geht es bei Ihnen um islamistischen Terrorismus. Über Antisemitismus sprechen Sie auch nur im Zusammenhang mit dem Islam, obwohl über 90 Prozent aller antisemitischen Straftaten von rechts kommen. ({2}) Sie haben hier seit Jahren keinen einzigen Antrag zur Bekämpfung des Rechtsextremismus eingebracht. Wo ist Ihr Antrag zum Verbot von Combat 18? Sie wissen doch genauso wie alle hier im Haus, dass das ein rechtsterroristisches Netzwerk ist, ({3}) das Verbindungen zum NSU hat sowie Verbindungen zum Mord an Walter Lübcke. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hess von der AfD-Fraktion?

Uli Grötsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004282, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, von Ihnen nicht, Herr Hess. – Wenn es Ihnen ernst ist mit der Bekämpfung von Extremismus: Wo ist Ihr Antrag für mehr Geld für das Bundesprogramm „Demokratie leben!“, ({0}) das Projekte für Demokratie und gegen Extremismus fördert? Stattdessen fordern Sie ganz aktuell, die Mittel für die Bundeszentrale für politische Bildung, die nächste Organisation, die für Demokratie kämpft und steht wie kaum eine andere, zu halbieren. ({1}) Ich sage Ihnen: Sie sind die Allerletzten in diesem Haus, von denen wir uns Ratschläge zur Extremismusbekämpfung abholen. ({2}) Sie, Frau von Storch – das sage ich, weil Sie schon wieder so aufgebracht sind –, haben doch den Film „Die Welle“ so umgedeutet, dass sogar der Regisseur des Films klarstellen musste, dass er mit diesem Film vor Faschismus warnt und nicht vor Klimaaktivisten oder Linken, wie Sie das behauptet haben. ({3}) Um es noch einmal zu sagen: Um den Kampf gegen alle Extremisten geht es Ihnen ganz bestimmt nicht. Rechtsextremismus wollen Sie nachweisbar und offensichtlich nicht bekämpfen. Das ist gut aufgehoben bei den demokratischen Kräften in diesem Haus, nicht zuletzt bei der Sozialdemokratie, der der Kampf für Demokratie, für ein freies und solidarisches Land sozusagen in der politischen DNA liegt, und das seit 156 Jahren. Deshalb sage ich für meine Fraktion, dass alle Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in diesem Land und auf der ganzen Welt immer auch Antifaschisten sind. ({4}) Bevor meine Redezeit abläuft, will ich noch kurz sagen: Die No-go-Areas haben Sie auch verwechselt, Herr Hess. Die hat man nämlich vor Kurzem noch nationalbefreite Zonen genannt. Das waren keine Linksextremisten, die in diesem Land Zonen geschaffen haben, in denen der Rechtsstaat nicht gegolten hat, sondern das waren diejenigen, die ich eher auf Ihrer Seite sehen würde. Da macht auch ein Anglizismus noch keinen Sommer. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.

Uli Grötsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004282, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich will zum Ende sagen: Schenken Sie den Bürgerinnen und Bürgern in diesem Land reinen Wein ein. Zeigen Sie Ihnen – und sagen Sie es doch offen –, was Ihr wahres Gesicht ist. Sie grenzen aus. Sie verbreiten völkisches Gedankengut.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Uli Grötsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004282, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie sind antibürgerlich, ({0}) um den Bundespräsidenten zu zitieren. Sie sind die Feinde der Demokratie und der Freiheit in diesem Land. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Hess, AfD-Fraktion. ({0})

Martin Hess (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004749, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Kollege Grötsch, die Wiederholung von Unterstellungen, Lügen und Unwahrheiten macht sie nicht wahrer. ({0}) Herr Grötsch, Sie haben offensichtlich – die anderen Vorredner auch – den Antrag nicht gelesen. Er bezieht sich nämlich explizit auf alle Extremismusformen. Da Lesen bildet, bin ich so frei und zitiere die Ziffern 1 und 2: Der Deutsche Bundestag stellt fest: 1. Der Deutsche Bundestag bekennt sich zu einem antiextremistischen Grundkonsens und erkennt dazu an, dass der gesellschaftlichen Polarisierung nur effektiv begegnet werden kann, indem man sich gemeinsam und in glaubhafter Form gegen alle extremistischen Strömungen rechter, linker oder islamistischer Art einsetzt. ({1}) 2. Für einen glaubwürdigen Kampf der Politik gegen gewalttätigen politischen Extremismus distanziert sich daher der Deutsche Bundestag in aller Deutlichkeit von jeglichen Strömungen, die das Demokratie- und das Rechtsstaatsprinzip sowie das staatliche Gewaltmonopol in Verkörperung durch die Polizei-/Sicherheitsbehörden und der Justiz in der Bundesrepublik Deutschland ablehnen. Herr Grötsch, so wie sich die AfD glasklar von Rechtsextremismus distanziert, ({2}) so klar würde ich mir eine Distanzierung Ihrer Partei vom Linksextremismus wünschen. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Grötsch, ich sehe, Sie wollen antworten. Sie haben das Wort.

Uli Grötsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004282, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr gern, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Hess, Sie sind doch der Wolf im Schafspelz. ({0}) Das macht es doch nicht besser, ({1}) dass Sie hier zum wiederholten Male sagen, dass Sie gegen alle Arten von politischem Extremismus sind. ({2}) Die Menschen in diesem Land wissen doch, dass Sie gegen alle Formen von Extremismus schreien, nur gegen die eine nicht, weil deren Anhänger diejenigen sind, die Sie hier hineingetragen haben – zu meinem großen Bedauern. ({3}) Es sind hoffentlich die demokratischen Kräfte in diesem Land, die Sie hier auch wieder hinaustragen. Vielen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Ich weise vorsichtshalber darauf hin, dass, wenn alle gleichzeitig etwas dazwischenrufen, man außer einem lauten Gemurmel nichts verstehen kann. Insofern wäre vielleicht eine Rangordnung bei den Zwischenrufen angebracht. ({0}) Als nächste Rednerin erhält das Wort die Kollegin Martina Renner, Fraktion Die Linke. ({1})

Martina Renner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004385, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! ({0}) Es liegt tatsächlich in der Natur der Sache, dass eine Partei von notorischen Antidemokraten, Antisemiten und Rassisten ein Problem mit Antifaschismus hat. Es lohnt sich nicht, darauf weiter einzugehen. ({1}) Stattdessen möchte ich auf die unheilvolle Tradition der Abneigung gegenüber linker Politik und Antifaschismus im Besonderen hinweisen. Diese Tradition und die damit einhergehende Gleichsetzung von Faschismus und Antifaschismus, von rechts und links, ist verheerend, geschichtsvergessen und falsch. ({2}) Wer käme eigentlich auf die Idee, Holocaustleugner und Holocaustforscher zum jeweiligen Befürworter zweier extremer Positionen zu erklären, deren Wahrheit irgendwo in der Mitte liegt? Wer würde behaupten, man müsste mit beiden Seiten reden? ({3}) Wer würde sagen, die Verfechter des allgemeinen Wahlrechts sind gleich zu behandeln wie deren Gegner? Es gibt Werte, für die es sich einzustehen lohnt. ({4}) Die Geschichte lehrt uns: Keine Wahrheit ist für sich stark genug, dass wir auf ihre Verteidigung verzichten könnten. ({5}) Eine dieser Wahrheiten ist und wird es immer bleiben: ({6}) Wer die Ungleichheit der Menschen aufgrund ihres Glaubens, ihrer Herkunft, ({7}) ihrer zugeschriebenen Kultur, ihrer sexuellen Orientierung behauptet, ({8}) egal ob offen oder indirekt, der hat Unrecht. ({9}) Mit solchen Leuten gibt es nichts zu diskutieren. Demokratinnen und Demokraten haben hier nichts zu gewinnen. ({10}) Im Gegenteil: Wer hier nicht widerspricht, wer nicht klar Haltung bezieht, der versagt vor dem demokratischen Auftrag und vor dem Anspruch unserer Geschichte. ({11}) Die Hetze gegen alles, was links ist, zeichnet seit jeher die Politik der extremen Rechten aus. ({12}) Deswegen ist dieser Antrag auch nicht verwunderlich. Aber diese Hetze hat am Ende eben nicht nur die bekennenden Linken zum Ziel, sondern sie trifft auch engagierte Christen, ({13}) sie trifft Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen, emanzipierte Frauen, Menschen, die sich für Minderheiten und Humanismus einsetzen. Kurzum: Die rechte Hetze trifft am Ende nicht gegen links; sie trifft alles, was nicht rechts ist. ({14}) Und wer ihr beipflichtet oder daran nur einen Funken diskussionswürdig findet, der gibt demokratisches Terrain auf und der gibt Menschen rechter Gewalt preis, ({15}) und das macht die weitverbreitete Haltung, die Antifa sei wegen ihrer extremen Position ebenso abzulehnen wie die Nazikameradschaften, so gefährlich. ({16}) Glauben Sie, die Sie im bürgerlichen Brustton der Überzeugung in den rechten Chor der anti-antifaschistischen Einstellung eintreten, ({17}) tatsächlich, der Rechtsruck macht vor Ihnen Halt, wenn die Antifaschistinnen und Antifaschisten besiegt sind? Die Geschichte zeigt: Das werden sie nicht tun. ({18}) Stattdessen sind die Gemäßigten die Nächsten, die freie Presse und schließlich alle, die noch den Mut haben, ein Wort des Widerspruches zu wagen. Wir haben hier gemeinsam als Demokratinnen und Demokraten die Chance verpasst, den Anfängen zu wehren. Dass wir heute diese Debatte führen, ist bitteres Zeugnis des Versagens. Aber wir haben die Chance, den Rechtsruck zu stoppen, und zwar gemeinsam! Statt also den rechten Hetzern auf den Leim zu gehen, indem wir Demokratinnen und Demokraten uns spalten lassen, –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Martina Renner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004385, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

– ich bin am Ende –, ({0}) stärken wir denen den Rücken, die jeden Tag an vielen Orten in diesem Land sich dem rechten Vormarsch entgegenstellen und sagen: Danke, Antifa! ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin Renner, darf ich Sie kurz zu mir bitten? ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Kollegin Renner trägt an ihrem Revers einen Sticker der Antifa. Ich erteile ihr dafür einen Ordnungsruf ({1}) und behalte mir vor, nach Erörterung im Präsidium des Deutschen Bundestages weiter gehende Ordnungsmaßnahmen gegen sie zu verhängen. ({2}) Frau Kollegin Kipping, ich erteile Ihnen ebenfalls einen Ordnungsruf für die Zwischenbemerkung. ({3}) Als nächste Rednerin spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Canan Bayram. ({4}) Frau Bayram, ganz kurz, bevor Sie anfangen: Wenn Sie weitere Ordnungsrufe haben wollen, melden Sie sich. Sitzungsleitende Maßnahmen des Präsidenten sind der Erörterung entzogen; das gilt grundsätzlich. Und noch einmal: Ich halte es nicht für opportun, Sticker der Antifa im Deutschen Bundestag zu tragen. ({5}) Frau Kollegin Bayram, Sie haben das Wort, und ich würde die Mitglieder der AfD-Fraktion bitten, auch dieser Rednerin zuzuhören, selbst wenn es Ihnen schwerfallen sollte.

Canan Bayram (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004665, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Lieber Herr Präsident! Vielen Dank! Beim zweiten Mal ist es Ihnen nicht nur gelungen, die richtige Rednerin aufzurufen, sondern auch meinen Namen richtig auszusprechen. ({0}) Dafür will ich mich nicht nur bedanken, sondern will auch aufklären. Dieser Name kommt ebenso wie ich aus Anatolien, und Sie alle nennen mich, wenn Sie den Vornamen rufen, „Liebling“ – was aber nicht heißt, dass ich Everybodyʼs Darling sein will. ({1}) Und bei all dem, was die AfD hier vorgetragen hat, habe ich mich gefragt: Warum haben Sie eigentlich nichts dazu gesagt, dass der Mörder von Walter Lübcke Geld an die AfD gespendet hat? ({2}) Wie sieht denn da eigentlich die Distanzierung aus, die Sie hier allen abverlangen? Es ist doch scheinheilig! Wenn die AfD Linksextremismus bekämpfen will, aber selbst in ihren Reihen, in der Fraktion, im Deutschen Bundestag den Chef der Identitären Bewegung, alte NPD-Kader und sonstiges Nazi-Geschnetz beschäftigt, ({3}) ist das doch in einer Art und Weise eine Missachtung nicht nur unseres Rechtsstaats und der Demokratie, sondern auch aller Migrantinnen und Migranten in diesem Land. Ja, was soll das eigentlich? ({4}) – Ja, Frau von Storch, mir könnte auch egal sein, dass hier immer der alte weiße Mann mit seiner Hundekrawatte sitzt. ({5}) Aber es ist mir nicht egal; denn er macht den Kindern Angst. Er macht den Kindern von Migranten Angst, und Sie machen das auch, Frau Weidel. Das muss doch auch mal hier ausgesprochen werden. ({6}) Sie lenken doch ab von Ihrer eigenen Verbindung zu den Nazis und anderen Kriminellen. ({7}) Sie haben ein Gutachten in Auftrag gegeben, in dem Sie gefragt haben: Was ist diese Antifa? Und der Wissenschaftliche Dienst des Parlaments hat Ihnen doch gesagt: Es gibt nicht die Antifa. ({8}) Dann verstehen Sie es doch mal; Sie können doch lesen. In Ihrem Antrag steht: Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages sollen sich distanzieren von Strömungen wie der Antifa und ihren Symbolen. Dann bin ich mal losgegangen und habe im Netz geguckt, was denn da so für Symbole von der Antifa unterwegs sind. Da habe ich mich gefragt: Ist das ein Symbol der Antifa, das in die Kategorie fällt, die Sie nicht haben wollen? ({9}) Oder ist das ein Symbol der Antifa, das Sie nicht haben wollen? ({10})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, bitte!

Canan Bayram (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004665, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ist das ein Symbol der Antifa, das Sie nicht haben wollen? Ich weiß es nicht. ({0}) Es ist unbestimmt; es steht nicht deutlich in Ihrem Antrag. Und wenn Sie sich hier so aufregen, scheint die Antifa ja eine gewisse Wirkung zu haben. Dann will ich nur noch mal abschließend sagen: Gerade gestern habe ich noch gelesen, dass es Leute in Ihren Reihen gibt, die auch im Rechtsausschuss sitzen und schon versucht haben, den Rassismus, den Sie in ihrem Herzen tragen, durch Prügel an ihren Sohn weiterzugeben – und sind daran gescheitert. Ja, Herr Maier, Sie sind damit gescheitert! ({1}) Und auch für den Rest der AfD gilt: Sie werden scheitern ({2}) mit diesem Rassismus, den Sie hierhin und in die Gesellschaft tragen wollen. ({3}) Deswegen ist es für mich ganz klar: AfD, eure Kinder werden so wie wir – und das ist auch gut so –, bunt und vielfältig! ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin Bayram, ich glaube nicht, dass Sie die Wirkung Ihrer Rede dadurch unterstreichen, dass Sie die Usancen des Deutschen Bundestages verletzen. Das Hochhalten von Emblemen ist nicht üblich. – Erstens. ({0}) – Lassen Sie mich einfach weiterreden. Zweitens gehe ich davon aus, dass die Bezeichnung „alter weißer Mann“ nicht altersdiskriminierend gemeint war, ansonsten müsste ich sehr intensiv darüber nachdenken, was ich mit dieser Klassifizierung anfangen soll. ({1}) Als Nächstes hat der Kollege Michael Kuffer, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({2})

Michael Kuffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004795, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Kollegin Bayram, man muss ja nicht immer so leise sprechen, wie ich das mache. ({0}) Aber ich hätte im akustischen Teil Ihrer Rede wirklich gerne etwas verstanden. Aber Sie haben so gebrüllt; es war einfach nicht möglich. Daher habe ich nur den optischen Teil gesehen ({1}) und musste feststellen, dass Sie hier im Deutschen Bundestag allen Ernstes unter anderem Kennzeichen verfassungsfeindlicher Organisationen hochhalten. Das ist wirklich beschämend! ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Toxische am Linksextremismus – daran kann ich jetzt nahtlos anknüpfen – ({3}) ist die Annahme, es gäbe eine Unterscheidung zwischen guter und schlechter Gewalt und zwischen gutem und schlechtem Extremismus. ({4}) Es gibt aber keine moralische Rechtfertigung für Gewalt im Rechtsstaat, und es gibt keine Rechtfertigung für Extremismus im demokratischen Staat. ({5}) Die Tatsache, dass die Kollegin Renner das Kennzeichen der Antifa, einer Organisation, die die Akzeptanz von Gewalt predigt und selbst anwendet, hier getragen hat, ({6}) brauche ich nicht weiter zu kommentieren. ({7}) Das ist hinlänglich gemacht worden. Es ist wirklich eine Schande für dieses Haus, was Sie heute hier für eine Vorstellung geboten haben. ({8}) Über die pseudomoralische Aufladung von dümmlichen und dümmsten Parolen gäbe es in unserer Zeit vieles zu besprechen. Damit komme ich zu Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD. Leider stolpern Sie mit Ihrem Antrag an diesem Kernpunkt – es wäre wert gewesen, ihn zu beleuchten – geradewegs vorbei hin zu den immer gleichen Mechanismen der Relativierung in Vergleichen. ({9}) Es ist zynisch, dass ausgerechnet Sie sich mit diesem Antrag als Hüter unserer Demokratie zu präsentieren versuchen. ({10}) Sie sind die größten Zündler, wenn es um extremistische Tendenzen in unserem Land geht. ({11}) Sie vollziehen keine klare und uneingeschränkte Abgrenzung an Ihren Rändern. Sie schaffen es einfach nicht. Ich will Ihnen an ganz konkreten Beispielen festmachen, wie Sie das auch in diesem Haus immer wieder tun. Nicht nur, dass es in Ihren Reihen Leute gibt – die Sie im Übrigen nicht nur dulden, sondern geradezu hofieren –, die die völkische Sprache wieder einführen und diese Sprache hoffähig machen: Sie alle sprechen sie immer öfter nach. ({12}) Sie haben antidemokratische Rhetorik als Form Ihrer politischen Kommunikation gewählt. Wer ankündigt, „andere zu jagen“, von „Lumpenpack“ oder „Volksverderbern“ spricht, lässt jedwede Form von Anstand im Umgang mit politischen Kontrahenten vermissen und definiert die Abgrenzung zum politischen Gegner in Feindschaft um. ({13})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen von Notz, Bündnis 90/Die Grünen?

Michael Kuffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004795, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. – In einem föderalen Staat wie dem unseren unterscheiden sich die politischen Sichtweisen auf ein Thema naturgemäß nicht nur hinsichtlich der Parteipräferenz, sondern auch regional ganz erheblich. Hinzu kommen in den letzten Jahren große Themen, die die Debatten noch erheblich aufladen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wäre unsere Pflicht hier in diesem Hause, die Dinge zusammenzuführen und nicht dauernd den Spaltpilz zu spielen und das Trennende zu suchen. ({0}) Zum Letzten: Wir sind hier, um Lösungen zu finden, und zwar solche, hinter denen sich möglichst viele Menschen in unserem Land versammeln können. Wir müssen zeigen, wie es geht, ({1}) und nicht, wie es nicht geht, und wir müssen Hoffnung machen, dass es geht. Auch das ist unsere Pflicht hier. Wir müssen das Beste hervorholen, was dieses Land zu bieten hat. Der schärfste, der größte Vorwurf, den ich Ihnen in diesem Zusammenhang mache, ist, dass Sie das Gegenteil machen. Sie appellieren an das Niederste in den Menschen. Sie kultivieren Instinkte und Reflexe, anstatt dass Sie der sachlichen Aufarbeitung auch nur ein einziges Mal Raum geben. ({2}) In diesem Sinne sage ich Ihnen zum Abschluss – und das sage ich nach dieser Debatte an alle Seiten in diesem Haus gerichtet – : Es gibt kein Thema, das die Spaltung der Gesellschaft rechtfertigt: kein Migrationsthema und kein Klimathema. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss?

Michael Kuffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004795, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Achten Sie alle darauf. Lassen Sie uns alle gemeinsam wieder stärker darauf achtgeben. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Helge Lindh, SPD-Fraktion. ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Abgeordnete der AfD, ich wäre eigentlich ein leichtes Opfer Ihrer demagogischen Verführungsstrategie. Vor ungefähr zwei Wochen wollte ich auf einer Anti-AfD-Demonstration eine Rede halten, ({0}) aber Leute, die sich eher im Antifa-Bereich bewegen, wollten das aufgrund unserer differierenden Positionen in der Migrationspolitik unterbinden. Das wäre der Moment, Ihnen leicht zuzustimmen, aber ich tue das Gegenteil und bekenne mich eindeutig zu den antifaschistischen Positionen. ({1}) Es war in dieser Situation niemand anders als unter anderem eine Stadtverordnete der Linken, die sich sehr wohl dafür einsetzte, dass ich reden konnte, und ich tat es bei diesem Anlass. ({2}) Das, was Sie hier versuchen, ist ein einfaches Spiel. Entweder – so denken Sie – stimmt man Ihnen zu und Sie verbreiten das dann als Zustimmung zu Ihrer Haltung oder man widerspricht Ihnen empört, solidarisiert sich mit der Antifa, und Sie skandalisieren das. ({3}) Dieses Spiel wird bei mir aber nicht funktionieren. Ihr Antrag bietet Gelegenheit einer eiskalten Sezierung Ihrer Strategie, sozusagen einer Vivisektion. ({4}) Es gibt zwei Voraussetzungen. Die eine ist: Sie spielen immer damit, die niederen Instinkte im Menschen anzusprechen, den inneren Schweinehund, Neid und Missgunst. ({5}) Das ist das eine. Das andere ist: Sie wollen – gerade mit diesem Antrag – im Mitte-links-Lager Spaltung betreiben. Aber ich sage Ihnen: Wir können im Ringen um Idealismus uns selbst zerstreiten – darin sind wir gut –, aber gewiss werden wir uns nicht von der AfD spalten lassen. ({6}) Ihre Methode, die Sie hier anwenden, nenne ich einmal den AfD’schen Dreisatz der Volksverdummung. ({7}) Die erste Stufe ist: Sie versuchen, die Bruchstellen des Bürgerlichen bzw. die scheinbaren Bruchstellen des Bürgerlichen zu finden, sozusagen ein Anti-Antifa-Impuls. Sie setzen auf die Verunsicherung und die Angst. Das ist Stufe eins. Stufe zwei: Sie wollen die antifaschistischen, prodemokratischen Strukturen im Westen, ({8}) aber auch im Osten, die es in vielen Städten gibt, bewusst schwächen. Sie machen das mit Anfragen, und Sie machen das mit Klagen. Sie machen das systematisch in vielen ostdeutschen Bundesländern. Das ist Stufe zwei.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der AfD-Fraktion? ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ach, wissen Sie, ich bin ein Freund der Verlängerung meiner Redezeit, –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Ich habe sie auch schon angehalten.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

– deshalb gestatte ich selbstverständlich eine Zwischenfrage. ({0})

Petr Bystron (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004692, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Herr Kollege. – Sie haben ein beeindruckendes Paradoxon vollbracht. Sie haben gesagt, die Antifa sei demokratisch. Könnten Sie aufklären, wie Sie das meinen? Ist vielleicht das Anzünden von Autos, das Plündern von Geschäften, das Verprügeln von Polizisten, das Bewerfen von Polizisten mit Kot demokratisch? Das soll demokratisch sein? – Danke. Ich bin sehr gespannt. ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

War das die Frage? Meine Gegenfrage lautet ({0}) – ich werde die Frage auch noch beantworten –: Sie stellen, wenn ich das richtig gelesen habe, einen anti-extremistischen Antrag. Wie können Sie den stellen? Sie sind doch selbst eine extremistische Partei, also stellen Sie einen Antrag gegen sich selbst. ({1}) Im Übrigen habe ich nicht von der organisierten Antifa gesprochen. Solche billigen Spiele funktionieren mit anderen, aber nicht mit mir, nicht mit uns. Ich habe vom antifaschistischen Denken gesprochen. ({2}) Wenn der Widerspruch gegenüber dem Faschismus nicht demokratisch ist, dann weiß ich auch nicht weiter. ({3}) Kommen wir wieder zum Dreisatz. Die erste Stufe waren Bruchstellen des Bürgerlichen, die zweite Stufe waren die Verängstigung der Gesellschaft, Desavouierung, Sabotage der antifaschistischen demokratischen Strukturen. ({4}) Die dritte Stufe ist: Ablenkungsmanöver. Wir sind nun wahrlich in einem Land, in dem der Mord an Lübcke, der Rechtsterrorismus und die systematische Unterwanderung vieler Strukturen durch den Rechtspopulismus hinein in die Mitte der Gesellschaft das Problem sind. Genau in diesem Moment kommen Sie dazu, die Antifa als das zentrale Problem dieses Landes darzustellen. Das können Sie gerne machen, aber so blöd sind wir nicht, uns auf diese Täuschung, auf dieses Ablenkungsmanöver einzulassen. ({5}) Ich habe versprochen, das an einem Beispiel deutlich zu machen. Wir machen jetzt Textarbeit bei Ihnen. ({6}) Sie warnen unter Punkt eins vor Polarisierung. Das ist ungefähr so, als wenn der Brandstifter anmahnt, dass ein Brand gesetzt worden ist. Das nenne ich – mit einem guten deutschen Wort – Heuchelei. ({7}) Aber es endet nicht damit. Sie beschwören nicht nur die angeblich schlimmen Polarisierungen, nein, Sie treten auch noch auf als angebliches Gegenmittel gegen die Polarisierung, wo Sie doch selbst diese Polarisierung maßgeblich erzeugen. Das ist so, als ob der Brandstifter ein paar Stunden später als Feuerwehrmann erscheint. Das nenne ich arglistige Täuschung. ({8}) Und als ob das nicht genug wäre! Sie kommen dann auch noch an und gebärden sich als Lehrmeister der Demokratie. Sie sind ja zum Teil auch in der Innenpolitik sehr aktiv. Wir kennen das unter anderem aus der Migrationspolitik.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das ist der Tatbestand der hartnäckigen Identitätstäuschung. ({0}) Damit ist hinreichend – –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Schluss.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Schluss? – Nein. Da ist noch nicht Schluss. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Doch, jetzt ist Schluss. Sie können noch einen Satz sagen.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Jedenfalls ist damit Ihre Strategie offengelegt. ({0}) Fazit dessen, was Sie hier versucht haben, ist – –:

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege!

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie wollen sich als große Demokraten darstellen. Dabei sind Sie nichts anderes als Antidemokraten und verkappte Faschisten im Tarnanzug der Bürgerlichkeit. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort der Kollege Marian Wendt, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Marian Wendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004441, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir Deutschen, also unser Volk, sind das einzige Volk der Welt, das sich ein Denkmal der Schande in das Herz seiner Hauptstadt gepflanzt hat. Liebe Kolleginnen und Kollegen, kennen Sie dieses Zitat? Oder kennen Sie vielleicht dieses? Sigmar Gabriel, dieser Volksverderber, anders kann ich ihn nicht nennen. Dies, meine Damen und Herren, sind Zitate Ihres Björn Höcke aus den Jahren 2016 und 2017, Zitate, die aus meiner Sicht diffamieren, die Vergangenheit relativieren und vor allem unsere Gesellschaft polarisieren. ({0}) Das kann die AfD leider besonders gut. Aber, meine Damen und Herren, wir werden das nicht kampflos hinnehmen. Wir werden die Polarisierung bekämpfen und die Spaltung unseres Landes verhindern. ({1}) Mit Ihrem Antrag wird dies nicht gelingen. Sie sind aus meiner Sicht eher der Wolf im Schafspelz ({2}) als ein Akteur zur Befriedung unseres Landes. ({3}) Sie selbst, die Höckes, Gaulands und Kalbitzes, sind Auslöser und Bestandteil der Polarisierung in unserem Land. Auch Maximilian Krah gehört dazu. Er ist stellvertretender Landesvorsitzender der AfD in Sachsen. Kurz nach der Landtagswahl am 1. September sagte er: Wir werden sie jagen. – Das Zitat kennen wir irgendwoher. ({4}) Es bedeutet doch im Kern: Die anderen Parteien sollen weggejagt, vielleicht sogar erschossen werden, so wie man das bei der Jagd mit dem Wild macht. ({5}) Aber das Zitat von Ihnen, Herr Gauland, stimmt so natürlich gar nicht. Das war wieder einmal vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen. Erst wird herausposaunt, um zu polarisieren, und wenn der Aufschrei – wie eben – groß genug ist oder ein Shitstorm über Sie hereinbricht, dann wird das Zitat wieder einmal aus dem Zusammenhang gerissen sein. Wie nennen Sie das? Mausgerutscht. Doch Ihre Taktik der Polemik, der Hate Speech und der Polarisierung zeigt sehr deutlich: Es geht Ihnen nicht um die Sache. Sie wollen nicht verändern. Sie wollen diese Gesellschaft nicht voranbringen. Sie stellen sich nur an die Seite von Sicherheitskräften, Bundeswehr, Rettungsdienst und zum Beispiel auch der Jüdischen Gemeinde, wenn es Ihrem eigenen Ziel nutzt. Es geht Ihnen gar nicht um Kinder und Menschen in Kitas, Kliniken oder Pflegeeinrichtungen. Um die wirklichen Probleme des Landes geht es Ihnen gar nicht. ({6}) Es geht Ihnen nur um die AfD und Ihre vermeintliche Macht. ({7}) Es geht Ihnen darum, Angst zu säen und unser Land schlechtzureden. Das beste Beispiel dafür, dass Rechtspopulisten das so machen, haben wir in Italien gesehen. Herr Salvini wähnte sich quasi schon an der Macht, spaltete die Regierung, spaltete das Land, aber die demokratischen Kräfte in unserem Partnerstaat haben das verhindert ({8}) und Salvini in die Opposition geschickt. So ist es richtig. ({9}) Sie streben eine Machtergreifung an und planen im Anschluss, all diejenigen leiden zu lassen, die sich Ihnen entgegenstellen. ({10}) Ich erinnere auch hier wieder an Ihren Freund und Kollegen Höcke und an das abgebrochene Interview. Was sollte „Das wird Konsequenzen haben“ denn bedeuten? Wie heißt es so schön? Wir haben das mit der Pressefreiheit nur wieder missverstanden. ({11}) Die Pressefreiheit dient Ihnen natürlich nur, wenn es Ihnen genehm ist, ansonsten ist diese für Sie nur ein Übel. ({12}) Meine Damen und Herren, bei allem Diskurs in dieser lebhaften Debatte möchte ich doch betonen: Es gibt nicht die einzig richtige Lösung, ({13}) um unsere Gesellschaft zusammenzuführen. ({14}) Es gibt im politischen Diskurs nicht Schwarz und Weiß, nicht Rot und Grün als richtige Lösung. Es muss immer wieder einen Kompromiss geben. Das Leben besteht aus vielen Farben und vielen Kompromissen. Wir müssen Debatten führen, um den richtigen Weg zu finden. Wir haben die richtigen Antworten weder von rechts noch von links. Wir brauchen die richtigen Antworten im Sinne eines bürgerlichen Kompromisses von der Mitte. Union und FDP – so habe ich das in der Debatte heute verfolgt – stehen für diesen Kompromiss. Wir wollen das Beste für unser Land tun: Nicht polarisieren und spalten, sondern zusammenführen. Vielen Dank. ({15})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich die Aussprache.

Not found (Minister:in)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir als Bundesregierung legen heute einen Antrag auf Verlängerung des Mandates im Kampf gegen den Terror des IS vor. Sie alle wissen: Wir haben in der Bundesregierung, in der Koalition intensiv um dieses Mandat gerungen. Das, was wir heute vorlegen, ist ein verantwortbarer und ein fairer Kompromiss. Mit Ihrer Zustimmung werden die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr in die Lage versetzt, ihren Einsatz gegen den IS, gegen ein Wiedererstarken des IS und für eine Stabilisierung der politischen Situation im Irak und in Syrien weiter zu leisten. Das ist eine gute Nachricht für den gemeinsamen Kampf gegen den Terror. ({0}) Vor vier Wochen habe ich mit einigen von Ihnen aus diesem Haus unsere Soldatinnen und unsere Soldaten im Irak und in Jordanien besucht und mit unseren Partnern in der Region gesprochen, und zwar mit allen Partnern, den zivilen und den militärischen. Das Ergebnis war eindeutig. Die Region befindet sich am Scheideweg. Der IS ist territorial zerschlagen, kontrolliert zwar keine Gebiete mehr, aber er ist noch nicht besiegt. Er hat sich im Untergrund neu gesammelt. Er verübt weiterhin terroristische Anschläge. Er strebt nach alter Stärke, und das macht die Lage in der Region so gefährlich. Die internationale Koalition muss deshalb den militärischen Druck auf den IS aufrechterhalten; denn nur so schaffen wir die Voraussetzungen für stabile Entwicklungen in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft vor Ort, die wiederum notwendig sind, um den Terroristen den Nährboden zu entziehen. Das ist unsere Aufgabe; hier dürfen wir nicht nachlassen. ({1}) Wir arbeiten in einem vernetzten Ansatz. Wir schaffen Sicherheit und Stabilität, damit wir zivil wiederaufbauen können. Der Beitrag unserer Bundeswehr ist und bleibt dabei besonders wichtig. Er ist für die Anti-IS-Koalition von hoher Einsatzrelevanz. Das gilt für beide Säulen des Einsatzes. Das gilt für die Aufklärung durch unsere Tornados in Jordanien mit ihren ganz besonderen Fähigkeiten, ihren flexiblen Einsatzmöglichkeiten, ihrer hohen Aufklärungsqualität, mit der sie ganz wesentliche Beiträge zum Lagebild für die Anti-IS-Koalition leisten. Schon im jetzigen Mandat war allerdings ein Endpunkt genannt. Schon dort war zugesagt, dass nach einer Ersatzgestellung gesucht wird, weil klar ist, dass ein ersatzloses Streichen dieser Fähigkeit missionskritisch wäre. Ein Ersatz ist bisher nicht gewährleistet. Deswegen haben wir uns darauf verständigt, den Einsatzzeitraum für die Luftaufklärung um ein halbes Jahr, bis zum 31. März 2020, zu verlängern. Deswegen wird das Verteidigungsministerium jetzt, anders als in der Vergangenheit, umgehend und systematisch die Gespräche mit den Partnerinnen und Partnern aufnehmen, um für einen Ersatz zu sorgen. Die Bundeswehr wird sich auf einen anschließenden Abzug ihrer Kräfte vorbereiten. Von hoher Relevanz ist für uns auch die zweite Säule des Beitrages, die nachhaltige Ertüchtigung der irakischen Sicherheitskräfte in Erbil und Taji. Unser Ziel ist es, dass die Peschmerga und die zentralirakischen Soldaten künftig eigenständig die Verantwortung für die Sicherheit im Irak übernehmen können. Damit entlasten wir unsere Verbündeten. Damit können diese Verbündeten andere Kernfähigkeiten in den gemeinsamen Kampf mit einbringen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, Deutschland kommt mit diesem Mandat seiner internationalen Verantwortung nach. Wir stärken die Bollwerke gegen den Terror. Bei unserer Einsatzreise ist von einer Kollegin aus diesem Haus gefragt worden: Wie soll ich meinen Wählerinnen und Wählern den Einsatz der Bundeswehr vor Ort erklären? Die Antwort der Verantwortlichen vor Ort war ganz klar. Sie haben deutlich gesagt: Es geht hier nicht um regionale Terroristen; es geht um ein internationales Krebsgeschwür, eine Terrororganisation, die unsere Art, zu leben, und unsere Grundwerte bekämpft, und zwar in jedem Menschen und überall auf der Welt. – Und deswegen ist es richtig, dass wir im Irak und in Jordanien sind und dass wir unseren Soldatinnen und Soldaten den Rücken stärken. Deswegen bitte ich um Zustimmung für dieses Mandat. Vielen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Ministerin. – Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Roland Hartwig, AfD-Fraktion, das Wort. ({0})

Dr. Roland Hartwig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004738, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordneten! Der Irak und Syrien waren lange Zeit stabile Staaten. Sie boten ihren Bürgern ein relatives Maß an Sicherheit, Bildung, Gesundheitsleistungen und beruflichen Perspektiven. Dies änderte sich im Irak 2003, als eine sogenannte Koalition der Willigen unter Führung der USA das Land angriff. Die meisten Völkerrechtler sind sich aber einig, dass dieser Angriff ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg war. Frau Merkel stimmte damals 2003 als Oppositionsführerin in den Kriegsgesang der US-Regierung ein und stellte sich damit gegen das Nein der deutschen Bundesregierung zum Irakkrieg. Franz Müntefering sprach damals von „einer Diffamierung der eigenen Regierung“ und einem „Bückling gegenüber der US-Administration“. Seitdem ist der Irak im Chaos versunken. Über 1 Million Menschen sind ums Leben gekommen. Viele Kulturgüter einer der ältesten Kulturnationen der Welt wurden zerstört – ein unwiederbringlicher Verlust für die gesamte Menschheit. Syrien nahm damals über 1 Million Iraker auf. Dies hatte einen entscheidenden Anteil an der Destabilisierung des Landes im Jahr 2011. Unter Verletzung der Souveränität, Unabhängigkeit und territorialen Integrität Syriens und auch des internationalen Rechts hat in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Staaten unterschiedliche bewaffnete Gruppen in Syrien unterstützt, die dort gegeneinander und gegen die syrische Regierung gekämpft haben. Hunderttausende von Menschen sind dabei ums Leben gekommen. Inzwischen hat die syrische Regierung die Kontrolle über einen Großteil ihres Territoriums wiedererlangt und eine Generalamnestie ausgesprochen. Wenn Ihnen wirklich daran gelegen wäre, das Leben der Menschen zu verbessern, wie Sie es in Ihrem Antrag vorgeben, dann müssten Sie gemeinsam mit der syrischen Regierung, Russland und anderen Akteuren konstruktiv darauf hinarbeiten, dass die ins Ausland geflohenen Menschen nach Hause zurückkehren und sich dort wieder eine Existenz aufbauen können. ({0}) Stattdessen bitten Sie in diesem Antrag darum, Ihren Plan abzusegnen, dass deutsche Flugzeuge ohne Zustimmung der syrischen Regierung in syrischen Luftraum eindringen und dort Ziele für militärische Aktionen ausspähen. Hiermit bewegen Sie sich im besten Fall in einer rechtlichen Grauzone, wahrscheinlich aber handeln Sie völkerrechtswidrig. ({1}) Die Missachtung des Rechtes, eine globalistische Agenda und die Zerstörung der Heimat von Menschen ziehen sich wie ein roter Faden durch die Kanzlerschaft von Frau Merkel, im Ausland, aber auch hier in Deutschland. ({2}) Die deutsche Außenpolitik hat unser Land in den letzten Jahren zunehmend in die Isolation geführt. Lassen Sie uns das beenden, und fangen wir noch heute damit an. Vielen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächster Redner hat Herr Staatsminister Michael Roth für die Bundesregierung das Wort. ({0})

Michael Roth (Gast)

Politiker ID: 11003213

Guten Tag, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Darüber, ob eine Verlängerung des sogenannten Anti-IS-Mandats angemessen und notwendig ist, gab es innerhalb der Koalitionsfraktionen und insbesondere in meiner eigenen Partei in den vergangenen Wochen unterschiedliche Auffassungen. Aber genau das zeichnet uns aus. Wir machen es uns mit militärischen Einsätzen niemals leicht. Wir prüfen, streiten, entwickeln Konzepte und kommen dann zu gemeinsamen Entscheidungen. Das ist eine Stärke, keine Schwäche unserer Parlamentsarmee. Ich bin froh, dass wir uns geeinigt haben. Denn eine Fortsetzung des Mandats ist aus Sicht der Bundesregierung wichtig, um bei der dauerhaften Stabilisierung des Iraks mitzuhelfen und für Syrien überhaupt erst die Grundlage für eine politische Lösung zu schaffen. So wichtig es ist, über die militärische Komponente zu sprechen, müssen wir aber auch über unser ziviles Engagement sprechen. Das darf nicht dahinter zurücktreten. Unsere zivilen Instrumente – Diplomatie, Stabilisierung und Entwicklungszusammenarbeit – spielen nämlich die zentrale Rolle. ({0}) Frieden und Sicherheit sind die Voraussetzung dafür. Genau das macht das Mandat notwendig. ({1}) Was hat sich vor Ort getan, liebe Kolleginnen und Kollegen? Der IS kontrolliert seit März dieses Jahres keine Gebiete mehr. In Irak sehen wir, dass bereits 4,3 Millionen Binnenvertriebene zurückgekehrt sind. Die Beziehungen zwischen Bagdad und Erbil haben sich spürbar verbessert; die hochgesicherte Grüne Zone wurde wieder für die Bevölkerung geöffnet. Und wie hat sich Deutschland engagiert? Das deutsche Engagement hat einen ganz wichtigen Anteil: Wir sprechen von ziviler Stabilisierung mit einem Beitrag von über 500 Millionen Euro und von humanitärer Hilfe, für die wir seit 2014 rund 550 Millionen Euro bereitgestellt haben. Aber was heißt das konkret? Das heißt konkret: Wir helfen beim Wiederaufbau zerstörter Infrastruktur. Wir unterstützen beim Minenräumen. Wir sorgen für eine bessere Versorgung mit Lebensmitteln, Wasser und Medizin. Genau das brauchen die Menschen vor Ort. Daneben hat die durchgeführte Ausbildung die regulären irakischen Streit- und Sicherheitskräfte dabei unterstützt, dass sich die Menschen vor Ort selbst Schritt für Schritt schützen können. In den ehemals vom IS terrorisierten Gebieten helfen wir den Menschen, dass sie sich eine Existenzgrundlage aufbauen können. Wir haben uns auch in den Vereinten Nationen bemüht, eine politische Lösung herbeizuführen. Aber unsere Bemühungen mit der eingebrachten Sicherheitsratsresolution um eine längerfristige Waffenruhe und den umfassenden Zugang für humanitäre Helfer sind abermals an einem russisch-chinesischen Veto gescheitert. Wir brauchen aber politische Lösungen. Wir werden niemals eine militärische Lösung finden. ({2}) Denn ohne Diplomatie und Verständigung kann der Konflikt in Syrien nicht beendet werden. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wäre natürlich schön, wenn ich nur über Erfolge sprechen könnte, aber neben Fortschritten sehen wir auch neue Bewährungsproben in Irak und Syrien. Der IS terrorisiert aus dem Untergrund heraus und versucht insbesondere in noch nicht vollständig gesicherten Gebieten, wieder Macht auszuüben. Sein langfristiges Ziel der Wiedererrichtung einer fundamentalistischen Terrorherrschaft hat der IS noch längst nicht aufgegeben, und bleibt damit eine massive Gefahr nicht nur für die Region, sondern auch für Europa. Gerade jetzt müssen wir mithelfen, die vom IS befreiten Gebiete zu stabilisieren und die IS-ldeologie durch Versöhnung zu überwinden. Sollte der IS wieder stärker werden, wird die schwierige Arbeit vieler ziviler Aufbauhelferinnen und Aufbauhelfer wieder zunichte gemacht. ({4}) Für Iraks Zukunft wird es ganz entscheidend sein, die Irakerinnen und Iraker so zu unterstützen, dass sie sich einem Wiedererstarken des IS mit eigener Kraft entgegenstellen. Dafür ist die Fortsetzung des deutschen Beitrags zur Ausbildung von Ausbildern im Rahmen der internationalen Anti-IS-Koalition wichtig. In Syrien muss insbesondere im Nordosten verhindert werden, dass der IS die Möglichkeit erhält, Rückzugsräume zu sichern oder ehemals kontrolliertes Territorium zurückzuerobern. Das setzt ein präzises Lagebild voraus. Daher sind Aufklärung und Luftbetankung notwendige Fähigkeiten. Aktuell können nur wir das leisten, ({5}) und deswegen bleibt die deutsche Bereitstellung derzeit noch unersetzlich. Aber wir haben die Befristung auch in Gesprächen mit den Koalitionsfraktionen auf den Weg gebracht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, niemand hier macht sich die Entscheidung über die Verlängerung des deutschen Beitrags zur internationalen Anti-IS-Koalition leicht. Aber damit unser ziviles Engagement Wirkung zeigen kann, bleibt die Bekämpfung des IS weiter erforderlich. Wir setzen damit unsere Unterstützung der leidgeprüften Menschen vor Ort fort und senden ein wichtiges Signal: Wir bleiben, auch wenn es schwierig ist, verlässliche Partnerinnen und Partner. Für diese Politik und für dieses Mandat bitte ich Sie um Ihre Unterstützung. ({6})

Bijan Djir-Sarai (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004029, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir können heute davon ausgehen, dass der IS aus weiten Teilen des Iraks und Syriens erfolgreich vertrieben wurde. Der IS ist aber immer noch eine gefährliche Terrororganisation, der IS ist immer noch eine Bedrohung für die gesamte Region, und er verfügt noch immer über Strukturen, die funktionieren. Ein internationaler Beitrag zu einer nachhaltigen Bekämpfung des IS und zur Stabilisierung des Iraks ist daher nach wie vor notwendig und sinnvoll. Als FDP-Bundestagsfraktion ist es uns wichtig, im Rahmen der internationalen Gemeinschaft Verantwortung für mehr Sicherheit und Stabilität in der Region zu übernehmen. Leider stellen sich im Zusammenhang mit diesem Mandat jedoch viele Fragen, die von der Bundesregierung noch immer nicht beantwortet wurden. Die Entscheidung, das Mandat der Tornado-Mission in Jordanien mit dem Mandat der Ausbildungsmission im Irak zu vermischen, ist und bleibt ein Fehler. ({0}) Beide Mandate sind von der Aufgabenstellung her völlig verschiedene Mandate und müssen auch so behandelt werden. Die Vermischung der beiden Mandate macht es uns leider unmöglich, diese Mission zu unterstützen. ({1}) Nicht erst seit gestern kritisieren wir die Unklarheiten und die Problematik der Ausbildungsmission im Irak. Bis heute ist man auf unsere Kritik nicht eingegangen. Meine Damen und Herren, der Bundesaußenminister ist bei dieser Debatte nicht anwesend. Der Bundesaußenminister reist permanent durch die Welt – das muss er auch –, und er erklärt uns bei jeder Gelegenheit, wie wichtig Multilateralismus ist; aber bei der erstbesten Gelegenheit geht er einen bilateralen deutschen Sonderweg, anstatt sich einer funktionierenden NATO-Mission anzuschließen. ({2}) Wir können diesen Fehler nicht nachvollziehen. Sie haben mit diesem Schritt nicht nur die Opposition in diesem Haus verwirrt, sondern, was viel schlimmer ist, Sie haben auch unsere NATO-Verbündeten, unsere NATO-Partner verwundert und irritiert, und das wiegt viel schwerer. ({3}) Diesen deutschen Alleingang kann niemand verstehen. Unsere im Irak stationierten Soldatinnen und Soldaten haben eine einfache Bitte an diese Bundesregierung: Klarheit über das Mandat und Planungssicherheit für alle, die inhaltlich und organisatorisch mit dem Mandat befasst sind. – Dass die Bundesregierung mit einer angeblichen Kompromisslinie die Soldatinnen und Soldaten in fünf Monaten wieder mit der gleichen Ungewissheit konfrontiert, ist für mich unbegreiflich. ({4}) Bei jeder Debatte in diesem Haus wird erzählt, dass es wichtig ist, dass Europa bei Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik mit einer Stimme spricht. Diese Bundesregierung ist nicht mal in der Lage, bei einem einfachen Mandat mit einer Stimme zu sprechen. Es gibt die Position des Bundesaußenministers, es gibt die Position der Verteidigungsministerin, und natürlich gibt es noch die Position des Schattenaußenministers Mützenich. ({5}) Das alles geht auf Kosten der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik und, was viel schlimmer ist, auf Kosten der deutschen Soldatinnen und Soldaten, die vor Ort einen außerordentlich guten Job machen, meine Damen und Herren. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss?

Bijan Djir-Sarai (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004029, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident, ein letzter Gedanke. – Solange die Stabilisierungsmission nicht auf eine verlässliche NATO-Grundlage gestellt ist und solange diese Mandate nicht voneinander getrennt betrachtet werden, können wir als FDP hier nicht mitmachen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Djir-Sarai. – Als nächste Rednerin spricht zu uns die Kollegin Heike Hänsel, Fraktion Die Linke. ({0})

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! Die Bundesregierung möchte nun also doch die Bundeswehr weiter in den Irak und nach Jordanien schicken, angeblich zur weiteren Bekämpfung des sogenannten Islamischen Staates. Bis heute ist aber völlig unklar, was eigentlich mit den Aufklärungsdaten der deutschen Tornados über Syrien passiert. ({0}) Das, was Sie hier betreiben, ist für uns völlig inakzeptabel. ({1}) Die politische Großwetterlage dieser Region hat sich zunehmend verschlechtert. Donald Trump droht mittlerweile dem Iran ganz offen mit einem Krieg. Und die Bundesregierung hat sich im Iran-Konflikt nun auch noch – völlig einseitig – auf die Seite Saudi-Arabiens gestellt und ihre uneingeschränkte Solidarität mit den Schlächtern am Persischen Golf erklärt. ({2}) Damit wird sie völlig parteiisch in diesem Iran-Konflikt. Wir halten das, was Sie hier betreiben, für eine katastrophale Außenpolitik. ({3}) Das erhöht die Kriegsgefahr in dieser Region. Jeder kann sich ausmalen: Sollte es zu einer Eskalation kommen, sind natürlich auch die Bundeswehrsoldaten in dieser Region Angriffsziel. Das ist doch völlig selbstverständlich. Das wissen Sie doch ganz genau. Deshalb halten wir es für unverantwortlich, dass Sie Soldaten in diese Region schicken. Wir lehnen diesen Einsatz der Bundeswehr auch aus diesem Grund ab. ({4}) Ich möchte den SPD-Fraktionsvorsitzenden, Rolf Mützenich, zitieren; denn er hat das im Sommer ähnlich gesehen. Er hat gesagt: Das Mandat endet am 31. Oktober dieses Jahres. Im Übrigen ist es angesichts der aktuellen Situation gut, sehr bewusst darüber zu reden, ob es richtig ist, einen militärischen Fußabdruck in einer Region zu hinterlassen, in der gegenwärtig neue Kriege drohen. ({5}) So Rolf Mützenich, SPD-Fraktionsvorsitzender. Recht hat er! Leider ist die SPD – das ist ein Trauerspiel – wieder umgefallen ({6}) und ihm in den Rücken gefallen. Sie verlängert nun doch wider alle Vernunft diesen Einsatz. ({7}) Auch alle Argumente der Verteidigungsministerin sind haarsträubend. Da kann man überhaupt nicht folgen. Ein Jahr lang hatten Sie Zeit, diesen Abzug vorzubereiten. Das ist anscheinend technisch nicht möglich gewesen; Sie haben keinen Ersatz gefunden. Das sind doch alles Märchen, Frau Kramp-Karrenbauer. Die glauben Sie doch nicht einmal selbst. ({8}) Der Bundeswehreinsatz ist – und das ist das Entscheidende – über syrischem Gebiet völkerrechtswidrig und verstößt somit auch gegen das Grundgesetz. Aber das scheint Sie hier schon überhaupt nicht mehr zu stören. Heiko Maas sprach gestern vor der UNO von einer neuen Allianz des Multilateralismus zur Stärkung des Völkerrechts. Und gleichzeitig entsendet diese Bundesregierung wieder die Bundeswehr ohne völkerrechtliche Grundlage in diese Region. Das, was Sie hier machen, ist völlig unglaubwürdig. Das sind internationale Doppelstandards. ({9}) Wir brauchen endlich eine glaubwürdige Außenpolitik, ({10}) die dazu beiträgt, dass Terrorismus ernsthaft bekämpft wird.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss?

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja, ich komme zum Schluss. – Und dafür müssen Sie endlich den Wiederaufbau in Syrien unterstützen und den Menschen eine Perspektive in dieser Region geben. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Der nächste Redner ist der Kollege Omid Nouripour, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! ISIS ist territorial besiegt, dennoch weiterhin eine massive Gefahr, auch für den Weltfrieden. Das liegt daran, dass sehr viel Notwendiges gemacht wurde im Repressiven, militärisch wie polizeilich, um ISIS zu bekämpfen. Zu wenig wurde jedoch gegen die Wurzeln, gegen die Ideologie getan in den letzten Jahren. ({0}) Das sieht man in al-Hol, dem größten Flüchtlingslager im Nordosten Syriens. 12 000 internationale Dschihadisten und ihre Angehörigen sind dort. Davon sind 300 Deutsche. Ich habe heute mit einer Ärztin gesprochen, die dort versucht hat, zu helfen. Ich habe gefragt: Was muss Deutschland tun? Ihre schnelle Antwort war: Mit der Bigotterie endlich aufhören und wenigstens die Kinder, deren Eltern hier in Deutschland radikalisiert worden sind, zurückholen. – Ich finde, sie hat verdammt recht, nicht nur weil wir eine moralische Verantwortung haben, sondern auch weil die unerträglichen Zustände in diesem Lager der Nährboden für eine neue radikalisierte Generation sind. ({1}) Leider gibt es bisher nur Lippenbekenntnisse der Bundesregierung. Eine einstellige Zahl von Kindern ist zurückgeholt worden. Das reicht schlicht nicht. Wir haben hier nun den Antrag auf Fortsetzung eines alten Mandates vorliegen. Es gibt die Pariser Erklärung vom September 2015, es gibt UN-Resolutionen, die in dem Mandatstext auch zitiert werden. Ja, sie sind richtig, und es gibt an der einen oder anderen Stelle auch Notwendigkeiten, militärisch gegen den IS vorzugehen. Aber wieder einmal hat die Bundesregierung versagt, wenn es darum geht, hier eine verfassungskonforme Mandatierung vorzulegen, und deshalb können wir dem Antrag nicht zustimmen. ({2}) Ich frage mich, was so schwer daran ist, sich einfach mal anzuschauen, was uns das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe vorgegeben hat. Darin steht eindeutig: Es muss ein System kollektiver Sicherheit vorliegen. – Dafür tut die Bundesregierung einfach nichts; sie verweigert das konsequent. Allein schon deswegen werden wir dieses Mandat weiterhin ablehnen. ({3}) Das Problem ist, dass dieses Schauspiel noch von dem getoppt wird, was die Sozialdemokratie in den letzten Monaten getan hat. Ich kann nur sagen: Wenn man sich so weit aus dem Fenster lehnt und dann auch noch umfällt, dann schmerzt das ungemein. Das ist nämlich passiert. Sie haben hier sehr viele Argumente dafür gebracht, warum dieses Mandat zu Ende gehen muss, und jetzt wird es mit dem Argument verlängert: Na ja, eigentlich haben wir keine Zeit mehr, um Ersatz zu suchen. Die Frage ist: Haben die beiden Verteidigungsministerinnen sich darum bemüht, und was hat die Bundesregierung dafür getan, dass die deutschen Fähigkeiten aufgefangen werden? Wenn man genau nachschaut, erkennt man, dass die Antwort lautet: Nada; da ist nichts dafür passiert, dass die Bundeswehr abziehen kann. ({4}) Das ist quasi die Arbeitsgrundlage dieser beiden Parteien hier: Die einen fordern etwas, die anderen sagen zwar, dass sie was machen wollen, tun es dann aber einfach nicht, und im Anschluss stellt man fest: Huch, wir haben gar keine Zeit mehr, also müssen wir das Mandat jetzt erst mal um ein halbes Jahr weiterverlängern. – Das hat mit Gestaltung und Politikmachen überhaupt nichts mehr zu tun. Das ist schlicht peinlich. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Nouripour; Sie haben die Redezeit vorbildlich eingehalten. – Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort der Kollege Thomas Erndl, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Thomas Erndl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004709, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Soldatinnen und Soldaten! Ende letzten Jahres konnte ich mir bei einer Reise mit dem Außenminister ein Bild von der Situation vor Ort machen. Besonders drei Punkte habe ich dabei mitgenommen: Erstens. Deutschland genießt durch den militärischen Beitrag und die zivile Unterstützung ein hohes Ansehen in der Bevölkerung vor Ort. Zweitens. Die militärische Unterstützung hat die bilateralen Beziehungen enorm gestärkt. Die irakische Regierung sieht in Deutschland einen vertrauensvollen und starken Partner. Herr Kollege Djir-Sarai, wir haben das am Anfang natürlich auch sehr kritisch gesehen, aber meines Erachtens kann man der Tatsache, dass wir nicht in die NATO-Mission eingebunden sind, mittlerweile durchaus auch positive Seiten abgewinnen. ({0}) Dem Ansehen des deutschen Einsatzes vor Ort hat das Ganze sicherlich nicht geschadet. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der FDP-Fraktion? Vielleicht kann man sich einigen, wer die Frage stellt.

Thomas Erndl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004709, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich lasse keine Zwischenfrage zu; dafür haben wir keine Zeit. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Dann müssen wir uns auch nicht einigen.

Thomas Erndl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004709, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Drittens. Es wurde hier mehrfach dargestellt: Der „Islamische Staat“ und seine menschenverachtende Ideologie sind noch immer nicht besiegt. Der Irak braucht uns auch weiterhin auf seiner Seite – sowohl zivil als auch militärisch. Deswegen, glaube ich, ist es wichtig, dass wir hier kein falsches Signal senden, sondern klarmachen, dass wir weiterhin Verantwortung für die Region in der Region wahrnehmen. Die Aktivitäten des „Islamischen Staates“ haben seit Jahresbeginn deutlich zugenommen: mehr als 700 Terroroperationen aus dem Untergrund. Mehrere Tausend ideologisierte radikale Kämpfer stehen dazu bereit. Die Finanzierung erfolgt durch Schmugglernetzwerke, Kidnapping und Erpressung. Das alles müssen wir vor dem Hintergrund betrachten, dass der irakische Staat trotz deutlicher Fortschritte nach wie vor ein fragiles Gebilde ist: fragil im Hinblick auf die innere Sicherheit und die grundlegende Infrastruktur sowie auf politischer Ebene. Mit Bezug auf die Sicherheit dürfen wir feststellen, dass die irakischen Streitkräfte zwar deutlich an konventioneller Schlagkraft dazugewonnen haben – auch durch die engagierte Ausbildung unserer Soldatinnen und Soldaten vor Ort –, aber der aktuelle Kampf gegen den IS im Untergrund erfordert spezifisches Training, technologische Hilfsmittel und eine präzise Aufklärung. Wir haben das Know-how und sollten und wollen dies vor Ort auch weiter einbringen. Meine Kolleginnen und Kollegen, ich verstehe, dass alle Fraktionen intensiv um ihre Haltung zu Auslandseinsätzen ringen. Bei manchen kommt „Geht uns nichts an“ heraus, andere sind sich ihrer Verantwortung bewusst. In jedem Fall muss sich der weitere Einsatz unserer Armee im Irak immer aus der Logik der Situation vor Ort und nicht aus der Logik innerparteilicher Befindlichkeiten ergeben. ({0}) Wir sind unseren Soldatinnen und Soldaten im Einsatz eine klare Vorgabe schuldig. Diese Vorgabe ist eindeutig: Zwei Jahre nach dem offiziellen Sieg über den IS steht der Irak immer noch vor großen Herausforderungen; 1,5 Millionen Binnenflüchtlinge sind immer noch in Camps. Deutschland muss deswegen an der Seite Iraks und seiner internationalen Partner die bisher erreichte Stabilisierung sichern, das Wiedererstarken des IS verhindern und die Versöhnung vor Ort fördern. Ein solches Mandat kann durchaus auch unterschiedliche Komponenten beinhalten. Unser vernetzter Ansatz funktioniert nur mit grundlegender Sicherheit, und deshalb stimmen wir dem Antrag der Bundesregierung zu. Herzlichen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Erndl. – Die FDP-Fraktion hat um eine Kurzintervention für den Kollegen Graf Lambsdorff gebeten. Ich habe lange mit mir gerungen, Graf Lambsdorff, aber ich lasse die Kurzintervention zu.

Alexander Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004798, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich bin tief bewegt und sehr dankbar, Herr Präsident. – Herr Erndl hat gerade gesagt, dass Deutschland in der Region ein hohes Ansehen genießt; das ist richtig. Ich kann Ihnen allerdings von einem Besuch in der Region bei den Soldatinnen und Soldaten vor zehn Tagen berichten, dass es nicht so ist, dass die Bundesregierung ein hohes Ansehen bei unseren Soldatinnen und Soldaten genießt. ({0}) Punkt eins. Eine Mandatsverlängerung so wenige Wochen vor Ablauf des Mandats, weil man in der SPD nicht in der Lage ist, eine klare Entscheidung zur richtigen Zeit zu treffen, führt zu ganz konkreten Konsequenzen. Wir haben schon Hunderttausende Euros an Steuergeldern ausgeben müssen, weil die Bundeswehr, die sich ja darauf vorbereiten musste, dass der Abzug unter Umständen kommen kann, bereits Verträge mit Logistikunternehmen geschlossen hat. Die Soldatinnen und Soldaten verstehen einfach nicht, warum es so ewig dauert, bis diese Bundesregierung ein Mandat vorlegt. Punkt zwei. Herr Erndl, einer der beiden Kommandeure, die dort waren, war der Kommandeur der deutschen Mission im Irak. Wenn Sie hier in diesem Haus allen Ernstes behaupten, dass die Nichtbeteiligung der Bundeswehr an der NATO-Mission positive Wirkungen hat, dann bitte ich Sie, mal darzulegen, welche das sind. Die NATO-Mission wird neun von zwölf Ausbildungszentren umfassen, und die Bundeswehr hat wegen der SPD und wegen dieser Koalition ein Kooperationsverbot in Bezug auf die NATO. Die Bundeswehr wird sich aus diesen Zentren zurückziehen und kann keine Ausbildung mehr machen. Das, was Sie hier beschließen, ist vor Ort ganz konkret ganz negativ. Deswegen ist unsere Haltung auch: Wenn wir uns beteiligen, dann wollen wir das im Rahmen der NATO machen, multilateral – so wie es der Außenminister in New York gerade verkündet hat. Was die Bundesregierung hier veranstaltet, ist das exakte Gegenteil dessen, was Herr Maas in New York erzählt hat. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Erndl, ich sehe, Sie wollen darauf antworten. Sie haben das Wort.

Thomas Erndl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004709, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, mit Punkt eins haben Sie, glaube ich, nicht meine Fraktion angesprochen. Wir haben deutlich gemacht, dass wir klare Vorgaben mit einem entsprechenden Vorlauf wollen. Ich glaube, dass wir in dieser Frage hier gar keinen Dissens haben. Zu Punkt zwei. Ich bin hier grundsätzlich bei Ihnen, aber ich habe erwähnt, dass man dem durchaus auch positive Seiten abgewinnen kann. Das Ansehen bestimmter Nationen in der Bevölkerung ist aufgrund ihrer Vorgehensweisen nicht besonders hoch. Wenn wir dort sozusagen separat tätig waren, dann gab es da durchaus auch positive Stimmen. Für die Operation insgesamt sehen wir das durchaus auch kritisch; da sind wir auch nicht so weit auseinander. Es gibt aber eben auch kleine positive Aspekte, die man durchaus erwähnen darf. Danke schön.

Martin Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004886, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die internationale Entwicklung stellt die Europäische Union und die Integration in Europa vor nie dagewesene Herausforderungen. Vor allen Dingen geht es um eine zentrale Herausforderung: Wird in der internationalen Entwicklung, in der weltweiten Entwicklung, die globalisiert und digitalisiert sein wird, ein System sich durchsetzen, in dem sich autoritäre Regierungen ihrer wirtschaftlichen Macht bedienen, um die zivilen Grundwerte, die wir mit unserer Wirtschaft in Europa verbinden – dass wirtschaftliches Handeln, transnationale Demokratie sich immer an der Garantie individueller, sozialer, ökologischer Grundrechte orientieren müssen; das ist die Idee von Europa –, auszuhebeln, oder werden diejenigen sich durchsetzen, die durch die Missachtung genau dieser Rechte auffallen, die den niedrigsten Lohn, das geringste Menschenrecht, die hemmungsloseste Ausbeutung der natürlichen Grundlagen zum Instrument ihres ökonomischen Erfolgs machen? Um diesen Kampf in der Welt geht es. Das ist in Peking ein Programm. Das ist in Moskau ein Programm. Wie wir von diesem verwirrten Präsidenten der USA wissen: Es ist auch sein Programm. Ist die Alternative dazu, dass Europa sich darauf besinnt, dass die transnationale Demokratie einen Zweck hat, nämlich individuelle Menschenrechte, die Garantie sozialer Rechte und den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen zur Grundlage des gemeinsamen Handels über staatliche Grenzen hinweg zu machen? Diese Idee von Europa wird innerhalb Europas bedroht, innerhalb der Mitgliedstaaten bedroht, in Deutschland wie in Frankreich; aber beide Länder haben eine überwältigende Mehrheit in ihrer Bevölkerung von Menschen, die eine Alternative dazu wollen, nämlich die, dass die Verfassungsdemokratien Deutschland und Frankreich an der Spitze eines sozial verantwortlichen, friedlichen und vor allen Dingen seine natürlichen Lebensgrundlagen schützenden Europas steht. Deshalb ist die deutsch-französische Zusammenarbeit wichtiger als je zuvor, wenn es darum geht, das europäische Gesellschaftsmodell zu stabilisieren und gegen die Angriffe zu verteidigen. ({0}) Das, meine Damen und Herren, ist der Sinn des Vertrages von Aachen. Die Konvergenz zwischen diesen beiden Ländern muss vertieft werden; denn ohne eine deutsch-französische Reformagenda, ohne eine deutsch-französische Reforminitiative wird Europa nicht vorankommen. Dabei ist dieser Vertrag kein exklusives Verhandeln von Deutschland und Frankreich. Es muss offen bleiben für all diejenigen, die mitmachen wollen. Aber es wird auch nicht funktionieren, wenn sich Deutschland und Frankreich nicht an die Spitze einer gemeinsamen Reformbewegung in Europa setzen. Diese beiden Länder machen 40 Prozent der Wirtschaftskraft der EU aus, und sie haben über 50 Prozent der Wirtschaftskraft innerhalb der Euro-Zone. Deshalb gibt es eigentlich für all diejenigen, die unser Gesellschaftsmodell verteidigen und stärken wollen gegenüber den dieses Modell infrage stellenden internationalen Bewegungen, keinen besseren Weg als den, den unser gemeinsamer Antrag hier beschreibt: die Vertiefung der deutsch-französischen Grundlage, unter anderem auch in dem Geist – das will ich hier zum Schluss sagen, Herr Präsident –, den ein heute verstorbener französischer Staatspräsident gemeinsam mit einem Bundeskanzler dieses Landes, wie ich finde, als Ruhmesblatt in der Geschichte unserer beiden Länder praktiziert hat: dass völkerrechtswidrige Kriege nicht zu führen sind. In diesem Sinne Respekt vor dem verstorbenen Präsidenten Jacques Chirac! Vielen Dank. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner: für die AfD-Fraktion der Kollege Norbert Kleinwächter. ({0})

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Werter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Martin Schulz, lassen Sie doch endlich mal die Feindbilder stecken. Was wäre denn die SPD noch ohne das Feindnarrativ in der heutigen Zeit? Ehrlich gesagt, bin ich besorgt. Frankreich ist unser größter und wichtigster Partner und Freund, und gerade mit so einem Land sollten wir keinen Vertrag machen, der keinen Bestand haben kann. Dieser Vertrag wird scheitern, und er muss scheitern; denn er ist hoch problematisch und dabei auch noch gefährlich. ({0}) Spätestens wenn die Bündnisverpflichtung greift oder wenn Deutschland oder Frankreich einmal wieder eine Regierung hat, die die Interessen ihres Volkes und ihres Landes tatsächlich vertritt, wird dieser Vertrag das deutsch-französische Verhältnis erheblich belasten. Er hätte jede Menge hoch ideologischer Komponenten. Da gibt es einen Bürgerfonds, und keiner weiß: Wer zahlt da überhaupt ein, und wer kriegt irgendwas raus? ({1}) Man träumt von deutsch-französischen Großprojekten wie der Eisenbahnstrecke zwischen Colmar und Freiburg. Dabei bröckelt bei uns schon die Infrastruktur. Unsere Pendlerzüge sind nicht pünktlich, und übrigens bedürfte auch die Bahnstrecke zwischen Berlin und Kostrzyn einer Sanierung. Es gibt Polizeieinheiten, die für Stabilisierungsoperationen in Drittstaaten wie Mali vorgesehen werden. Dabei haben wir im Inland schon nicht genügend Polizisten, und unsere Straftaten werden oftmals nicht aufgeklärt. ({2}) Gänzlich ideologisch wird es dann, wenn sich Deutschland und Frankreich in Artikel 18 des Vertrages von Aachen zum – festhalten! – „Umbau ihrer Volkswirtschaften“ verpflichten und diesen Umbau der Volkswirtschaften einem deutsch-französischen Zukunftswerk in die Hand legen, das nicht von Parlamentariern oder demokratisch Gewählten besetzt wird – wo kämen wir denn da hin, wenn wir Demokratie praktizieren würden? –, nein, von Interessenträgern und interessierten Akteuren. ({3}) Meine Damen und Herren, was mich aber besonders besorgt, das ist nicht das, sondern das ist die Bündnisverpflichtung, die in Artikel 4 Absatz 1 steht. Die beiden Länder sichern sich im Falle eines bewaffneten Angriffs auf ihre Hoheitsgebiete jede in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung zu. Dies schließt militärische Mittel ein. Liebe Kolleginnen und Kollegen, haben Sie sich überlegt, was das bedeutet? Wir haben aktuell zwei Bündnisstrukturen, in die wir eingebunden sind: Wir haben die NATO; wir haben die EU. In beiden Fällen ist eine militärische Hilfeleistung nicht verpflichtend; wir können auch nur zivil unterstützen. ({4}) Im Vertrag von Aachen – das bestätigt ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes – ist eine militärische Bündnisverpflichtung integriert, und das bedeutet: Wenn in Paris ein iranischer Terrorangriff oder ein russischer Cyberangriff oder was auch immer passiert, dann sind wir zur militärischen Hilfeleistung verpflichtet, dann gehen unsere Soldaten gen Iran oder gen Moskau. Wollen Sie das? ({5}) Das steht dadrin; das ist da integriert. Das können Sie mir ruhig glauben. Ich sage Ihnen ganz offen, sehr verehrte Damen und Herren: Sie sind hier in Ihren Abstimmungen nur Ihrem Gewissen verpflichtet. Ich appelliere an Ihr Gewissen: Ratifizieren Sie diesen hoch problematischen Vertrag nicht! Lassen Sie diese Bündnisverpflichtung nicht zu! Schützen Sie unser Land! Die Menschen werden es Ihnen danken. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion der CDU/CSU hat das Wort der Kollege Andreas Jung. ({0})

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir verlieren heute einen guten Freund und trauern mit unseren französischen Freunden um den früheren Präsidenten Jacques Chirac. Jacques Chirac war der erste ausländische Staatsgast, der an diesem Rednerpult im neugestalteten Reichstagsgebäude gesprochen hat, und er hat damals eine deutsch-französische Reformagenda für Europa in den Mittelpunkt gestellt. Er hat gemeinsam mit Gerhard Schröder den Vorschlag gemacht, zum 40. Jubiläum des Élysée-Vertrags den 22. Januar als Geburtstag dieses deutsch-französischen Freundschaftsvertrags zum Deutsch-Französischen Tag zu machen. Wir werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren und sind ihm dankbar für die vielen Impulse für die deutsch-französische Freundschaft. ({0}) Just an diesem 22. Januar ist es gewesen, als die Parlamente auf beiden Seiten, der Bundestag und die Assemblée nationale, im vergangenen Jahr gesagt haben: Ja, wir sollten die Initiative, das Angebot, den Vorschlag von Emmanuel Macron aufnehmen, und wir sollten gemeinsam einen neuen Freundschaftsvertrag erarbeiten. Es waren diese Parlamente, die gesagt haben: Wenn wir einen neuen Freundschaftsvertrag machen, dann darf sich dieser nicht in schönen Worten erschöpfen, sondern er muss ganz konkrete Fortschritte für die Menschen in Deutschland und Frankreich bringen. Er muss neue Impulse für Europa bringen. Der neue Vertrag muss, nachdem der Élysée-Vertrag für Freundschaft und Aussöhnung, für Partnerschaft und Begegnung gestanden hat mit dem Erbe des Deutsch-Französischen Jugendwerkes, auf die Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft Antworten geben. Das kommt im Übrigen durch das deutsch-französische Zukunftswerk zum Ausdruck, das in diesem Vertrag jetzt verankert ist. Das ist unser Anspruch. Deutsch-französische Partnerschaft wird heute dringend gebraucht. Sie wird für Europa in einer Zeit gebraucht, in der die transatlantische Partnerschaft nicht mehr in der Weise verlässlich ist, wie wir uns das wünschen würden, in der wir die Diskussion über den Brexit haben. Deshalb ist es richtig, dass wir die deutsch-französische Partnerschaft nie in dem Sinne eines Einigelns verstehen, sondern immer als Offenheit für alle europäischen Partner. Wir wollen gemeinsam Europa voranbringen. Von Jacques Chirac kommt das Zitat: Wenn der deutsch-französische Motor stillsteht, dann tritt Europa auf der Stelle. – Das gilt heute so wie damals. Wir wollen gemeinsam Impulse für Europa geben. ({1}) Es ist, wie ich finde, etwas sehr Besonderes, dass wir diesem Vertrag der Regierungen, den wir heute ratifizieren, ein Parlamentsabkommen an die Seite stellen, einen deutsch-französischen Parlamentsvertrag, dessen Herzstück die Deutsch-Französische Parlamentarische Versammlung ist. Sie wurde im Februar gegründet und hat an diesem Montag zum ersten Mal hier in Berlin getagt. Ich finde: Ein sehr besonderer Moment, wenn man sich vergegenwärtigt, dass es wenig mehr als hundert Jahre her ist, dass in den Parlamenten Kriegskredite beschlossen wurden, um gegeneinander Krieg zu führen. Dass jetzt 50 deutsche und 50 französische Abgeordnete gemeinsam ringen, gemeinsam Impulse geben, gemeinsam Vorschläge machen, gemeinsam an der deutsch-französischen Partnerschaft für Europa arbeiten, ist etwas sehr Besonderes, das seinesgleichen in der Zusammenarbeit anderer Parlamente sucht. Das hebt auch die Partnerschaft auf eine andere Ebene. Deutsch-französische Freundschaft ist mehr als ein Regierungsabkommen. Sie ist im Kern die Freundschaft der Menschen in unseren beiden Ländern. Wir als Parlamente haben dabei eine besonders wichtige Funktion. Die parlamentarische Komponente in der deutsch-französischen Partnerschaft wird gestärkt. Daran sollten wir weiter arbeiten. ({2}) Deshalb gibt es heute eine weitere Besonderheit: Wir ratifizieren nicht einfach das Regierungsabkommen, den Regierungsvertrag, sondern wir haben in der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung eine Entschließung vorgeschlagen, die heute im Deutschen Bundestag und am 3. Oktober in der Assemblée nationale ratifiziert wird; ich finde, es ist eine wunderbare Geste der französischen Freunde, dass sie an unserem Nationalfeiertag den gemeinsamen Vertrag ratifizieren. Dann werden die Franzosen eine gleichlautende Resolution wie wir heute verabschieden. Deren Gedanke ist, dass das, was im Vertrag steht, jetzt zügig und konsequent umgesetzt werden muss: das deutsch-französische Zukunftswerk, das ich erwähnt habe, der Bürgerfonds, der unbürokratisch die Initiativen in der Gesellschaft voranbringen soll, die grenzüberschreitende Partnerschaft, die Initiativen für künstliche Intelligenz, die Vertiefung eines deutsch-französischen Wirtschaftsraums und viele weitere Initiativen. Hier sagen wir: Wir bleiben dran. Als Parlamentarier werden wir dafür arbeiten, dass das, was auf dem Papier steht, nicht geduldig bleibt, sondern schnell, zügig und konsequent und im Sinne der Bürger umgesetzt wird. Das alles bringt uns voran. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Dr. Christoph Hoffmann. ({0})

Dr. Christoph Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Salut! Ganget aufs Trottoir, und nimm’ den Parapluie mit! So spricht man in Südbaden. Da gibt es viele französische Wörter in der Sprache. Das sind wir in unserem Dialekt gewohnt. Wir leben mit Frankreich, wir leben neben Frankreich, und wir leben sehr, sehr gut damit. ({0}) Nach dem Zweiten Weltkrieg haben uns die Franzosen mit dem Élysée-Vertrag in kluger Weise die Hand gereicht; klug deshalb, weil dies noch heute als beispielhafte Konfliktbewältigung gelten kann. Welche Weitsicht, welche Geste der Franzosen in dieser Zeit! Umso bitterer ist es, wenn ich hier diese Worte der AfD höre, die dem Geschichtsbild der letzten Jahrtausende entsprechen, aber überhaupt nicht dem heutigen Zustand. ({1}) Freundschaften muss man pflegen, sonst schlafen sie ein. Der französische Präsident Macron hat viele Vorschläge für Europa gemacht. Doch die Bundesregierung ist in der Europapolitik schlichtweg nicht sichtbar. Frau Merkel hat ihn am langen Arm verhungern lassen; inzwischen hat Macron eigentlich aufgegeben. Wir brauchen aber dringend Impulse und Geschlossenheit mit Frankreich. Denken Sie an die Themen Verteidigung, Diplomatie, Entwicklungszusammenarbeit. Zum Glück gibt es neben den Regierungen aber auch Parlamente, die dies antreiben. Wir haben am Montag in der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung – das war wirklich ein bewegender Moment – eine gemeinsame Vereinbarung verabschiedet. Diese fordert die umfassende Beteiligung der Versammlung an der deutsch-französischen Zusammenarbeit. Also, das ist die Umsetzung des Aachener Vertrags, und das ist gut so. Deshalb stimmen die Freien Demokraten als europafreundliche Partei heute zu. ({2}) Aber wir akzeptieren auch nicht, dass die Regierungen sich ohne Absprache mit uns, dem Parlament, auf drei Parlamentarier pro Seite für den bedeutenden grenzüberschreitenden Ausschuss geeinigt haben. Die Oppositionsfraktionen würden damit draußen bleiben. Das geht nicht, das ist keine demokratische Übung. ({3}) Das würde auch nur die Gerüchteküche der Selbstbedienung und der Geheimniskrämerei stützen. Deshalb unterstützen wir den Antrag der Grünen mit der Forderung nach sieben Parlamentariern pro Land, damit auch die Opposition vertreten ist. Aber ich möchte hier ausdrücklich Andreas Jung für seine Bemühungen für diesen Vertrag loben, auch für die Bemühungen, diese Regelung mit nur drei Parlamentariern pro Seite aufzuweichen. ({4}) Der Aachener Vertrag ist deshalb gelungen, weil er sehr, sehr konkret ist. Beispiel: die Bahnverbindung Freiburg–Colmar und eine neue Bahnbrücke über den Rhein. Der Breisacher Bürgermeister will gleich mit Neuf-Brisach und seiner Stadt eine gemeinsame Stadt machen. Nur so geht es. Wir müssen die Menschen an den Grenzen arbeiten lassen und die Grenzen noch weiter abbauen und gemeinsam an der Zukunft arbeiten. Wir wollen eine gute Nachbarschaft und eine verlässliche Politik. Die Bürger wollen Lösungen. Die Entsenderichtlinie zum Beispiel nervt viele Betriebe bei uns in Deutschland bei ihrer Arbeit jenseits der Grenzen. Der Zeit- und Kostenaufwand durch diese Regelung ist viel zu hoch, der bürokratische Aufwand immens. ({5}) Hier müssen wir dringend Lösungen finden, wie auch für die Nachfolge des Atomkraftwerks in Fessenheim, das hoffentlich bald stillgelegt wird. Ich nenne weiter: ein gemeinsamer Gewerbepark mit besonderen Regeln, auf die wir uns noch einigen müssen.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.

Dr. Christoph Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Kollege Fabio De Masi ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke. ({0})

Fabio De Masi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004817, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Heute ist der frühere Präsident Frankreichs, Jacques Chirac, gestorben. Ich habe als Schüler gegen seine Atomwaffentests demonstriert. Aber er hat mit seiner Ablehnung des Irakkrieges unseren Respekt verdient. ({0}) Meine Fraktion lehnt den Aachener Vertrag ab, nicht obwohl, sondern weil wir Anhänger der deutsch-französischen Freundschaft sind. Im Mittelpunkt des Aachener Vertrags steht die gemeinsame Rüstung. Meine Fraktion meint, es ist geschichtsvergessen, Europa ausgerechnet über die Rüstung einigen zu wollen. ({1}) Bei gemeinsamen Rüstungsvorhaben wollen Deutschland und Frankreich bei abgestimmten Schwellenwerten auf eine gegenseitige Blockade von Rüstungsexporten verzichten. Dies bedeutet im Klartext, dass zum Beispiel auch Panzer und anderes Kriegsgerät an Diktaturen wie Saudi-Arabien verkauft werden können, Saudi-Arabien, das einen blutigen Krieg im Jemen führt. In der gemeinsamen Erklärung der Bundeskanzlerin mit Boris Johnson und Emmanuel Macron zur Krise am Persischen Golf ist von „uneingeschränkter Solidarität mit Saudi-Arabien“ die Rede; ({2}) wohlgemerkt mit einem Regime, das den IS hochfinanziert hat, ({3}) gegen den Sie heute Bundeswehrsoldaten in den Antiterroreinsatz schicken; ein Regime, das Menschen hinrichtet. Das ist völlig inakzeptabel. ({4}) Meine Damen und Herren, Europa steht vor großen Herausforderungen: dem Brexit, der Klimakrise, dem Handelskrieg zwischen USA und China. Unsere Menschen wünschen sich Hoffnung statt Depression. Wir waren kürzlich mit dem Finanzausschuss in China und sind innerhalb von vier Stunden die Strecke von Peking bis Schanghai gefahren. Das ist weiter als die Strecke Berlin–Paris. Aber wir haben die Nachtzüge nach Paris eingestellt. Wir brauchen jetzt gegen den Abschwung Investitionen, und zwar in Bahnen statt Flugzeugträger. ({5}) Wir brauchen Investitionen zur Erreichung der UN-Klimaziele von Paris. ({6}) 1,5-Grad- statt 2-Prozent-Rüstung-Ziel der NATO, verehrte Damen und Herren! ({7}) In Frankreich sind Menschen in gelben Westen auf die Straße gegangen. Friseure, Taxifahrerinnen, Krankenschwestern hatten Angst, weil sie sich die Miete in den Innenstädten nicht mehr leisten können, und Angst, dass sie die Erhöhung der Benzinsteuern trifft. Deswegen müssen wir den Menschen doch Alternativen geben und wieder Hoffnung stiften, und dafür müssen wir die soziale Ungleichheit in unseren Gesellschaften bekämpfen. ({8}) Deswegen ist die Entsenderichtlinie nicht irgendein bürokratisches Monstrum; ({9}) vielmehr soll sie Deutsche und Franzosen links und rechts des Rheins vor Ausbeutung auf dem Arbeitsmarkt schützen. Darum muss es gehen in Europa. Das gelingt mit dem Aachener Vertrag nicht. Deswegen sagen wir: Es ist kein Dokument der Hoffnung; es ist ein Dokument der Vergangenheit. Meine Fraktion lehnt den Aachener Vertrag ab. ({10})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort die Kollegin Dr. Franziska Brantner. ({0})

Dr. Franziska Brantner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004255, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Jung hat es schon gesagt: Heute ist ein Trauertag in Frankreich. – Auch wir trauern mit unseren französischen Freunden um Jacques Chirac. Er hat das Denken von Franzosen und Deutschen einander nähergebracht, gerade auch mit seinem Anstoßen der Aufarbeitung der französischen Rolle während der Zeit von 1939 bis 1945. Das sollten wir nicht vergessen. Das hat uns einander wesentlich nähergebracht. ({0}) Der Vertrag von Aachen soll die deutsch-französische Freundschaft festigen und die europäische Integration vorantreiben. Das ist auch bitter nötig, wenn man sich Spalter wie Boris Johnson und Co anschaut. Aber der Vertrag dafür war von Anfang an nicht ambitioniert genug, und seit Januar wurde es auch nicht viel besser; im Gegenteil. Die Bundesregierung versagt nicht nur national beim Klimaschutz, sondern auch europäisch. Das unambitionierte Klimapaket wird nur noch übertroffen von Deutschlands Blockade bei europäischen Verhandlungen für mehr Klimaschutz. Dafür gebe ich mal ein deutsch-französisches Beispiel: Wir haben gerade die Verhandlungen über den nächsten mehrjährigen Finanzrahmen auf europäischer Ebene. Macron sagt: 30 Prozent davon fürs Klima, 10 Prozent für die Biodiversität. – Ihm haben sich mittlerweile mehr als zehn Länder angeschlossen. Was sagt die deutsche Bundesregierung? Weiterhin 25 Prozent für diesen Bereich! Wo ist denn da die deutsch-französische Kooperation fürs Klima? ({1}) Sie ist nicht existent, und es ist eine Schande, dass wir das nicht gemeinsam europäisch hinbekommen. Frau von der Leyen fordert 1 000 Milliarden fürs Klima in Europa. Und was sagt die deutsche Bundesregierung? Das 1-Prozent-Ziel für den europäischen Haushalt bleibt, und bitte an den Ausgaben darf man aber auch nichts ändern. Jeder Cent soll weiterhin fließen. Das bedeutet de facto: nicht 1 Cent mehr fürs Klima, ein Nein zu von der Leyens Programm. – Es ist eigentlich traurig, dass die CDU sie da nicht unterstützt. ({2}) Was in Deutschland die Obsession mit der schwarzen Null ist, das ist in Europa dieses 1-Prozent-Ziel. Ich kann nur sagen, auch an die liebe SPD: Ein Aufbruch für Europa sieht doch ganz anders aus. ({3}) Herr Staatsminister Roth, wenn Sie mir erlauben, das am Ende noch zu sagen: Wir waren echt, richtig enttäuscht, als wir gesehen haben, dass Sie für den neuen Ausschuss für grenzüberschreitende Zusammenarbeit, der die Grenzregionen, die unterschiedlichen Ebenen zusammenbringen soll, nur drei Abgeordnete aus dem Bundestag vorgesehen haben. Kein Platz für die demokratische Opposition! ({4}) Das ist ein Unding. Das sollten wir dringend ändern. ({5}) Wir haben unseren Entschließungsantrag hier eingebracht, damit die demokratische Opposition in diesem Gremium vertreten ist. Ich kann auch gar nicht nachvollziehen, dass Sie glauben, dass wir das den Bürgerinnen und Bürgern näherbringen, wenn wir das ohne demokratische Opposition machen. Herr Jung, ich zähle auf Sie, auf alle im Parlament, dass wir das noch ändern und dass wir am Ende da auch vertreten sind. Ich danke Ihnen und hoffe auf weiterhin gute Kooperation. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die Kollegin Angelika Glöckner ist die nächste Rednerin für die SPD-Fraktion. ({0})

Angelika Glöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege von der AfD, ich habe in Ihren Ausführungen vernommen: Die Artikel können Sie frei vortragen; den Geist des Aachener Vertrages haben Sie nicht verstanden. ({0}) Wir reden hier nämlich nicht über Krieg, sondern wir reden über Frieden. Wenn wir über die deutsch-französische Freundschaft reden, dann geht es hier nicht nur um gute nachbarschaftliche Beziehungen. ({1}) Es geht um mehr; denn die deutsch-französischen Beziehungen, sie sind der Beweis dafür, dass aus ehemaligen Gegnern Freunde werden können. Sie sind eine starke, eine stabile Gemeinschaft – das gerade in international schwieriger Zeit –, und sie sind die Basis für Wohlstand und Frieden für die Menschen in unserem Land. ({2}) Sie sind vor allem eines: Sie sind das Rückgrat der Europäischen Union. In diesem Wissen haben unsere Länder, aufbauend auf den Werten des Élysée-Vertrags, im Januar dieses Jahres den Vertrag von Aachen geschlossen. Heute wollen wir als Parlament einen weiteren wichtigen Schritt gehen, um diese deutsch-französischen Beziehungen weiter zu vertiefen. Am Montag haben sich 100 Parlamentarier aus Deutschland und Frankreich hier in Berlin getroffen und haben eine Entschließung auf den Weg gebracht, der wir heute in diesem Bundestag zustimmen sollen. Frau Brantner, ich kann mich wirklich nur wundern. Sie haben diese Entschließung unterschrieben. Ich verstehe den Turnaround in Ihrer Haltung, den Sie jetzt hier äußern, ehrlich gesagt, nicht. ({3}) – Sie haben etwas anderes artikuliert, als Sie das mit Ihrer Unterschrift getan haben. Das ist für mich eine sehr konträre Haltung, und das möchte ich hier einfach äußern. Ich finde, das hier ist einmalig und etwas sehr Besonderes.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Brantner?

Angelika Glöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich möchte gern weiter ausführen. – Ergänzend zu der Arbeit unserer Regierung können wir nämlich künftig als Parlamentarier das Heft in die Hand nehmen. Wir können uns regelmäßig treffen, um wichtige Themen für unsere Parlamente auf den Weg zu bringen. Das ist heute ganz besonders wichtig, in Zeiten des Brexit und in international unsicheren Zeiten. Und ja, natürlich werden wir uns mit Themen wie „faire Arbeit“ und „Wettbewerbsbedingungen“ befassen. Wir werden dafür sorgen, dass wir uns auch mit dem wichtigen Thema „künstliche Intelligenz“ beschäftigen. Natürlich ist es uns als Sozialdemokraten ganz wichtig, dass wir einen menschengerechten Umgang mit diesem wichtigen Thema finden. Genauso ist es für uns selbstverständlich, dass wir uns grenzüberschreitend um Klimaschutz kümmern. Ich habe mich auch gefreut, dass es möglich war, die grenzüberschreitende Zusammenarbeit und diese Initiativen in den Fokus zu nehmen. Mein Wahlkreis liegt an der deutsch-französischen Grenze, und ich weiß, wie spürbar es dort ist, wenn sich in den deutsch-französischen Beziehungen etwas tut. Ich will auch sagen: Bei allem, was wir tun, bei allen Entscheidungen, die wir als Parlamentarier gemeinsam treffen können: immer mit der ausgestreckten Hand zu unseren europäischen Freunden und den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir können vieles gemeinsam auf den Weg bringen, wichtige Entscheidungen auf den Weg bringen. Frankreich wird am 3. Oktober zustimmen – das ist, finde ich, eine sehr wichtige Geste –, am Tag unserer Wiedervereinigung. Ich bitte Sie sehr um Ihre Zustimmung. Vielen Dank. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Ich erteile das Wort zu einer Kurzintervention der Kollegin Franziska Brantner.

Dr. Franziska Brantner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004255, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Glöckner, Sie haben jetzt kritisiert, dass wir der Entschließung, die wir alle gemeinsam einbringen, zustimmen und dann kritisieren, dass nur drei Vertreter des Bundestages in dem Ausschuss sind. Ich lese Ihnen jetzt mal vor, was in der Entschließung steht: Der Deutsche Bundestag und die Assemblée nationale begrüßen – dann kommt es – die Einrichtung eines Ausschusses für grenzüberschreitende Zusammenarbeit. – Dazu stehen wir auch. Natürlich begrüßen wir die Einrichtung dieses Ausschusses für grenzüberschreitende Zusammenarbeit. Da steht aber nicht, dass da nur drei Mitglieder aus dem Bundestag drin sein sollen. ({0}) Und das kritisieren wir, und auch, dass da nur die Koalition mit der AfD drin ist und nicht die demokratische Opposition. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Wollen Sie antworten? – Bitte schön.

Angelika Glöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Dr. Brantner, ({0}) – wenn ich jetzt vielleicht ausführen darf! –, ich finde, Sie haben die Chancen des Vertrages, den wir hier jetzt auf den Weg bringen, nicht wirklich zum Ausdruck gebracht. Sie werden die Chancen so auch nicht nutzen. ({1}) – Ich würde gern ausführen. Sie reden viel über Klimaschutz. Wir sind fest davon überzeugt, dass es möglich ist, gemeinsame Lösungen zu erarbeiten, gerade als deutsch-französische Partner. Sie haben hier den Eindruck erweckt, als würde das alles nicht auf den Weg gebracht. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Liebe Kollegen, hören Sie doch bitte zu.

Angelika Glöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich hätte mir von Ihnen mehr Klarheit und mehr Deutlichkeit gewünscht. Vielleicht können wir das ja in einer späteren Plenardebatte hinbekommen. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dr. Reinhard Brandl, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Im Sommer hatte ich ein langes Gespräch mit einem Franzosen, der in Paris Deutsch unterrichtet. Er ist ein echter Deutschlandfan, aber er hat mir ganz nüchtern berichtet, wie schwer es in der Zwischenzeit für ihn geworden ist, junge Franzosen dazu zu motivieren, Deutsch zu lernen. Die deutsche Sprache verliert leider an Bedeutung, während Spanisch an Bedeutung gewinnt, und das nicht nur, weil die Sprache für die Franzosen leichter zu erlernen ist, sondern auch, weil Spanien und das südeuropäische Lebensgefühl den Franzosen in mancherlei Hinsicht näher sind. Das steht jetzt nicht stellvertretend für alle Franzosen und auch nicht für die deutsch-französischen Beziehungen; aber es war für mich doch ein Warnsignal: Die deutsch-französischen Beziehungen sind kein Selbstläufer, sie vertiefen sich nicht automatisch immer weiter, sondern sie brauchen immer wieder neuen Schwung, und wir in der Politik sollten diesen Beziehungen auch Schwung geben. Jetzt kann man sich fragen: Warum lassen wir das nicht einfach laufen? Es gibt doch viele Länder, zu denen wir gute Beziehungen haben. Warum müssen wir uns da einmischen? Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, das kann man für viele Länder sagen, aber die deutsch-französischen Beziehungen fallen unter eine andere Kategorie. Sie sind von strategischer Bedeutung nicht nur für unsere beiden Länder, sondern für ganz Europa. Nach dem Brexit werden Deutschland und Frankreich die beiden wirtschaftsstärksten Länder Europas sein. Die Zukunft und der Erfolg der Europäischen Union werden ganz wesentlich davon abhängen, ob diese beiden starken Länder gemeinsam an einem Strang ziehen oder ob sie in Konkurrenz zueinander stehen und vielleicht zwei unterschiedliche Blöcke in Europa – Nord und Süd – repräsentieren und sich gegenseitig und damit Europa blockieren und lähmen. Deutschland und Frankreich haben Europa schon einmal zusammengeführt, nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein wichtiger Meilenstein dabei war der Élysée-Vertrag. Aber das war die Herausforderung des 20. Jahrhunderts. Wir sind jetzt im 21. Jahrhundert und stehen vor einer ganz anderen Herausforderung. Wir stehen vor der Herausforderung, unser gemeinsames europäisches Modell von einem Leben in Freiheit, in Frieden, in Sicherheit und mit Demokratie gemeinsam zu verteidigen. Und dieses europäische Modell wird herausgefordert: wirtschaftlich, technologisch und militärisch. Der Vertrag von Aachen, den wir heute hier ratifizieren, ist das gemeinsame Versprechen unserer beiden Länder, auf diese Herausforderungen eine gemeinsame Antwort zu geben und unsere Politik besser aufeinander abzustimmen. Das gilt sowohl für die Wirtschaftspolitik, für die Außen- und Sicherheitspolitik, für die Technologiepolitik als auch für die Klimapolitik. Aber, meine Damen und Herren, der Vertrag geht darüber hinaus. Es geht nicht nur um Abstimmung. Es geht konkret um bessere Zusammenarbeit, insbesondere in den Grenzregionen. Ich grüße von dieser Stelle aus ganz besonders die Freunde in Karlsruhe, genauso wie die in Freiburg, in Saarbrücken, in Metz, in Colmar, in Straßburg und rufe sie dazu auf, die Instrumente der gemeinsamen verstärkten Zusammenarbeit, die sich aus dem Vertrag ergeben, auch zu nutzen. Wir wollen der deutsch-französischen Freundschaft, der deutsch-französischen Zusammenarbeit mit diesem Vertrag von Aachen neuen Schwung geben und die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts meistern. Ich hoffe, dass wir damit auch erreichen, Deutschland in Frankreich wieder populärer zu machen und auch wieder mehr Franzosen dazu zu motivieren, Deutsch zu lernen. In diesem Sinne bitte ich um Ihre Zustimmung. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, lieber Kollege Dr. Brandl. – Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.

Caren Lay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004088, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein Jahr nach dem Wohngipfel der Bundesregierung geht der Mietenwahnsinn ungebremst weiter. Die Preise für angebotene Wohnungen in Hamburg und Frankfurt, in Stuttgart oder Düsseldorf stiegen allein im ersten Halbjahr dieses Jahres um 3 Prozent und mehr. Das zeigt erneut: Ihre sogenannte Mietpreisbremse, die den Anstieg der Mietpreise bremsen sollte, war ein einziger Flopp. ({0}) Sie ist zwar rechtskonform – an der Stelle freuen wir uns über das kluge Urteil des Bundesverfassungsgerichtes –, ({1}) aber wirken tut sie nicht. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum Sie bis jetzt noch nicht die Verlängerung Ihrer eigenen Mietpreisbremse beantragt haben. ({2}) Das wäre auch unsere erste Forderung, meine Damen und Herren: Die Neuvertragsmieten müssen endlich richtig gebremst werden, ohne Ausnahmen und ohne Schlupflöcher. ({3}) Wenn Neuvertragsmieten ansteigen, dann steigen auf Dauer auch die Bestandsmieten, also die Preise bei alten Mietverträgen an. Und das hat dramatische Folgen: Die Leute, die den Laden hier am Laufen halten, die Pförtner und die Verkäuferinnen, können sich irgendwann die Wohnungen in den Städten nicht mehr leisten. Das werden wir als Linke niemals zulassen. ({4}) Genau deshalb, meine Damen und Herren, wollen wir den Mietenanstieg stoppen. Die Mieten sollen nicht stärker als die Inflation steigen. Das würde den Menschen doch schnell und unkompliziert helfen. Ich freue mich übrigens sehr, dass die SPD in dieser Woche unsere Forderung nach einem bundesweiten Mietenstopp übernommen hat. Das zeigt doch: Die Debatte geht voran. ({5}) Bei der anstehenden Mietspiegelreform, die hier noch nicht einmal eingebracht wurde, müssen wir dafür sorgen, dass zur Berechnung der Mietpreise nicht nur die Verträge der letzten vier Jahre herangezogen werden; das sorgt nämlich für eine dramatische Erhöhung der Mieten bei alten Mietverträgen. Wir wollen, dass alle Mietverträge in die Berechnung einbezogen werden. ({6}) Neben einem besseren Mieterschutz brauchen wir natürlich auch mehr Neubau. Das schließt sich doch überhaupt nicht aus. Das gehört doch zusammen. Doch was ist passiert? Im letzten Jahr sind 42 000 Sozialwohnungen weggefallen. Das belegen die Zahlen der Bundesregierung auf meine Kleinen Anfragen. Und was tut die Bundesregierung? Sie kürzt die Gelder für den sozialen Wohnungsbau um ein Drittel, versteckt sich hinter den Ländern. Ich finde das wirklich verantwortungslos. ({7}) Wenn Sie auf meine Argumentation nicht hören wollen, dann hören Sie wenigstens auf den Bauminister der CSU aus Bayern. Er hat nämlich erst heute die Bundesregierung aufgefordert, diese geplanten Kürzungen beim sozialen Wohnungsbau zurückzunehmen. Das ist eine richtige Forderung. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Frau Kollegin Lay, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kleinwächter?

Caren Lay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004088, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nein, vielen Dank. – Meine Damen und Herren, es ist übrigens auch ein Märchen, dass sich die Regulierung von Mieten und der Neubau von Wohnungen wechselseitig ausschließen. Wir haben beispielsweise nachgewiesen, dass in Berlin bei einer starker Regulierung in den 80er-Jahren deutlich mehr gebaut wurde als in Zeiten ohne Regulierung. Beides gehört also zusammen. ({0}) Apropos Länder. Ich möchte an dieser Stelle schon sagen, dass ich es gut und richtig finde, wenn die Länder ihre Kompetenzen einsetzen, Verantwortung für das Wohnungswesen übernehmen und das Ihrige tun. Berlin will als erstes Bundesland diese Verantwortung wahrnehmen; die rot-rot-grüne Koalition hat einen gemeinsamen Entwurf für einen Mietendeckel vorgelegt. Das ist gut und richtig. Daran sollten sich die anderen Länder ein Beispiel nehmen. ({1}) Ich finde es auch gut und richtig, dass wir damit als Linke dafür sorgen, dass sich auch Menschen mit geringem Einkommen eine Wohnung in guten Wohnlagen leisten können; denn auch ganz normale Leute haben das Recht, in Innenstädten zu wohnen. Es gibt kein Recht auf Rendite; aber es gibt ein Recht auf Wohnen. Das müssen wir endlich umsetzen, im Bund und in den Ländern. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist beendet.

Caren Lay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004088, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Zu guter Letzt: Es ist auch nicht falsch, die Städte unattraktiver für Spekulationen zu machen. Es wird nämlich höchste Zeit, dass wir den Beutezug des Finanzkapitals durch unsere Städte stoppen. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Kai Wegner. ({0})

Kai Wegner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003860, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein Jahr liegt der Wohngipfel jetzt zurück. Das bezahlbare Wohnen ist und bleibt die soziale Frage unserer Zeit. Und diese Koalition liefert. Wir haben ein Wohnungsbauprogramm aufgelegt, das seinesgleichen sucht. Wir setzen auf einen breiten Instrumentenmix. Frau Lay, ich möchte hier nur drei Stichpunkte nennen: Erstens. Die soziale Wohnraumförderung ist und bleibt für diese Koalition ganz wichtig. Daher: Sagen Sie nicht die Unwahrheit! Wir kürzen nicht bei der sozialen Wohnraumförderung. Vielmehr gibt die Koalition in dieser Legislaturperiode 5 Milliarden Euro für die soziale Wohnraumförderung aus. Ich würde mir wünschen, dass die Länder da eine Schippe drauflegen, auch das Land Berlin, liebe Frau Lay. ({0}) Zweitens. Wir haben die Sonderabschreibung für den Mietwohnungsbau auf den Weg gebracht. Diese ist nun endlich seit August in Kraft getreten. Auch hierüber werden neue bezahlbare Wohnungen entstehen. Uns als Union war es ganz besonders wichtig, dass auch der Dachgeschossausbau von dieser Förderung profitieren kann. Drittens. Das wird von den Linken immer kritisiert, aber wir fördern Wohneigentum.140 000 Anträge zeigen: Das Baukindergeld dieser Koalition ist ein Riesenerfolg. ({1}) Aber bei allen Erfolgen, die die Koalition bei diesem Thema schon verzeichnen konnten: Es ist noch lange nicht an der Zeit, sich auszuruhen. Wir müssen weiter für bezahlbares Bauen, für bezahlbares Wohnen arbeiten. Und das tun wir auch. Zum 1. Januar soll das Wohngeldstärkungsgesetz in Kraft treten. Das bedeutet mehr Wohngeld für mehr Menschen, eine zusätzliche Mietenstufe und die Dynamisierung der Leistung. Wir werden das Baurecht anpassen. Die Baulandkommission hat viele gute Vorschläge erarbeitet. Wir wollen die Hürden für den Neubau abtragen. Ein besonderes Anliegen für uns, auch für mich ganz persönlich – lassen Sie mich das sagen, weil ich mich in diesem Zusammenhang sehr über den Vorschlag des Koalitionsausschusses gefreut habe – ist ein Brachflächenprogramm. Dafür wollen wir im kommenden Jahr rund 100 Millionen Euro in die Hand nehmen. Familienwohnungen statt Industrieruinen, das ist unser Ziel. Brachland war gestern, ab morgen wird gebaut, liebe Kolleginnen und Kollegen! Und das ist auch richtig so. ({2}) Ja, die Richtung stimmt, aber die Zahlen im Neubau noch nicht. Da ist zweifelsohne Luft nach oben. Umso wichtiger ist, dass sich auch die Länder und die Kommunen an die Vereinbarungen des Wohngipfels halten. Hier sind mehr Anstrengungen nötig, unter anderem beim Bauland, aber auch bei der Mittelverwendung für die soziale Wohnraumförderung. Der Erfolg unserer Bauoffensive entscheidet sich vor Ort, in den Ländern und in den Kommunen. Hier darf sich keiner in die Büsche schlagen. ({3}) – Liebe Frau Lay, ich komme noch einmal auf Sie zurück. Wie man das Thema gegen die Wand fährt, zeigt sich ja gerade hier, im rot-rot-grünen Berlin. Das Gerede von Enteignungen, vom Mietendeckel hat bereits jetzt massiven Schaden angerichtet. ({4}) Mieter und Vermieter sind verunsichert, die Zahl der Baugenehmigungen bricht ein, Investoren machen einen Bogen um diese Stadt, Handwerker verlieren ihre Aufträge. Wer Berlin mit einem Deckel hermetisch abdichtet, erstickt die Freiheit. Er nimmt allen die Luft zum Atmen. Der Mietendeckel darf nicht zum Sargnagel des Wohnungsmarktes werden. ({5}) Das gilt für Berlin, und das gilt – das sage ich auch in Richtung unseres Koalitionspartners – in gleicher Weise für den Bund. Wir handeln ja. Wir werden die Mietpreisbremse verlängern und nachschärfen. Wir verlängern den Betrachtungszeitrum bei den Mietspiegeln. Wir müssen aber auch die Zeit nutzen, damit endlich die fehlenden Wohnungen gebaut werden in den Bereichen, wo wir angespannte Wohnungsmärkte haben. Hier sind die Länder und die Kommunen mit in der Verantwortung. Wir dürfen sie hieraus auch nicht entlassen. Wenn wir diese großen Herausforderungen, gerade in den Ballungsräumen, bewältigen wollen, Frau Lay, dann brauchen wir keinen Deckel, sondern partnerschaftliches Agieren mit starken kommunalen Gesellschaften, mit den Genossenschaften, aber auch mit privaten Investoren als Partner. Sie dürfen Sie nicht als Feinde aus diesen Regionen verdrängen, liebe Frau Lay. Das macht Die Linke gerade hier in Berlin. ({6}) Lassen Sie uns weiter für bezahlbares Wohnen und Bauen arbeiten. Das ist die einzige richtige Antwort auf die soziale Frage unserer Zeit. Herzlichen Dank. ({7})

Marc Bernhard (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004669, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Schauen wir mal. – Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen! Stellen Sie sich ein Land vor, in dem Millionen Menschen keine Wohnungen bekommen, nicht weil sie sie nicht finanzieren könnten, sondern weil zu viele Bewerber da sind. Stellen Sie sich ein Land vor, in dem Millionen Menschen mehr als 30 Prozent ihres Einkommens aufwenden müssen, um dort leben zu können, wo sie arbeiten. Und dann stellen Sie sich ein Land vor, in dem der Staat durch horrende Mieten und Immobilienpreise Steuern in Milliardenhöhe einnimmt, jedes Jahr und immer mehr. Wenn sich dieses Bild vor Ihrem geistigen Auge zusammenfügt, dann sind Sie angekommen in der Realität, im Deutschland des Jahres 2019. ({0}) Es ist kein Zufall, dass 2 Millionen Wohnungen in Deutschland fehlen. Es ist kein Zufall, dass unsere Familien mit Kindern keine bezahlbaren Wohnungen in der Nähe von Kitas, Schulen und Arbeitsplätzen finden, unsere Studenten keinen bezahlbaren Wohnraum in der Nähe ihrer Unis und unsere Rentner oft von ihrer Rente die Miete nicht mehr bezahlen können. Diese katastrophale Entwicklung war absehbar und ist die direkte Folge Ihrer verfehlten Politik. ({1}) Was haben Sie denn in den letzten 14 Jahren, in denen Sie regieren, gegen die Wohnungsnot unternommen? Nichts, überhaupt gar nichts. Ganz im Gegenteil: Sie haben jahrelang die Wohnungsnot in diesem Land ignoriert, das Wohnen weiter verteuert und alles dafür getan, dass nicht genug gebaut wird, und das, obwohl Sie durch Ihre Migrationspolitik dafür gesorgt haben, ({2}) dass die Bevölkerungszahl durch Zuwanderung in den letzten Jahren um 4 Millionen gestiegen ist. ({3}) Auf dem Wohngipfel vor einem Jahr sind Sie dann plötzlich aufgewacht, so wie Sie jetzt auch alle, und haben offenkundig selbst bemerkt, dass Sie mit Ihrer Politik auf dem Wohnungsmarkt komplett versagt haben. ({4}) Im Zuge einer Politik leerer Ankündigungen haben Sie dann vollmundig eine sogenannte Wohnraumoffensive mit 1,5 Millionen neuen Wohnungen versprochen. Angesichts der Tatsache, dass bereits damals 2 Millionen Wohnungen in Deutschland gefehlt haben, ist das nichts weiter als ein schlechter Witz. Und jetzt? Was ist Ihre Bilanz? Was ist denn Ihre Bilanz nach einem Jahr? Die Zahl der Baugenehmigungen geht zurück. Der Staat ist und bleibt der größte Kostentreiber des Wohnens. Und jetzt setzen Sie mit Ihrem Klimapaket sogar noch einen drauf und machen das Bauen und Wohnen noch teurer. Sogar der Mieterbund bestätigt, dass Ihre angebliche Wohnraumoffensive komplett gescheitert ist. ({5}) Nun kommen die Grünen – ausgerechnet die Grünen – scheinheilig mit ihrem Antrag um die Ecke, ({6}) den ländlichen Raum attraktiv und lebendig halten zu wollen, um den Druck auf die Städte zu verringern. (Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Einer muss es ja machen! Aber gleichzeitig wollen Sie das Auto abschaffen. Das ist doch schizophren. ({7}) Sie von den Linken verunsichern Wohnungseigentümer mit Ihren Enteignungsfantasien und Mietendeckeln und vergrößern damit die Wohnungsnot weiter. Im rot-rot-grünen Berlin hat dieser Wahnsinn bereits zu einem Rückgang der Zahl der Baugenehmigungen um 27 Prozent geführt. ({8}) All diese sozialistischen Zwangsmaßnahmen helfen den Menschen nicht, ({9}) sondern verschlimmern nur das Problem. ({10}) Das Einzige, was hilft, sind mehr neue und bezahlbare Wohnungen, und dafür brauchen wir eine massive Vereinfachung der Bauvorschriften und eine Beschleunigung der Genehmigungsverfahren. Wir könnten mehr Wohnungen in kürzerer Zeit und zu bezahlbaren Mieten bauen. Das würde den Steuerzahler keinen einzigen Cent kosten, aber den Menschen wirklich helfen. ({11}) Zudem müssen wir die Nebenkosten für alle spürbar reduzieren, indem wir die Grundsteuer völlig abschaffen. ({12}) Außerdem haben wir die Menschen zu unterstützen, die heute noch so mutig sind, sich unter Ihrer Regierung eine Immobilie zu kaufen, indem wir die Grunderwerbsteuer deutlich senken und dafür sorgen, dass Familien mit Kindern beim Kauf einer Wohnung in Zukunft überhaupt keine Steuern mehr zahlen müssen. ({13}) Denn ob Sie es glauben oder nicht: Die Aufgabe des Staates ist es nicht, Menschen fürs Wohnen abzukassieren, sondern, im Gegenteil, dafür zu sorgen, dass sich jeder ein Dach über dem Kopf leisten kann. ({14})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion die Kollegin Ulli Nissen. ({0})

Ulli Nissen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004363, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gut, dass wir heute das Thema „bezahlbares Wohnen“ diskutieren. ({0}) Dies hat in meinem Frankfurter Wahlkreis eine hohe Brisanz. ({1}) Zu geringer bezahlbarer Wohnraum birgt gewaltigen sozialen Sprengstoff. Dies ist auch ein Thema der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung mit den 17 UN-Nachhaltigkeitszielen, den SDGs. Diese erwähne ich gerne immer wieder. Im Unterziel 11.1 heißt es: Bis 2030 den Zugang zu angemessenem, sicherem und bezahlbarem Wohnraum und zur Grundversorgung für alle sicherstellen … Wohnen ist ein elementares Grundbedürfnis. Deshalb war es für uns für den Koalitionsvertrag wichtig, dass wir günstigen Wohnraum schaffen, Mietwucher eindämmen und jungen Familien beim Traum vom Eigenheim helfen. Wir haben schon viel erreicht. Wir geben 5 Milliarden Euro für den sozialen Wohnungsbau. Gemeinsam mit den Mitteln von Ländern und Kommunen können damit über 100 000 Sozialwohnungen geschaffen werden. 2,6 Milliarden Euro für Baukindergeld mit bislang rund 135 000 eingegangenen Anträgen von Familien mit Kindern! Im Durchschnitt haben diese ein Jahreseinkommen von 40 000 Euro. Das ist also genau die Einkommensgruppe, die wir erreichen wollten. Und wir haben die haushaltsrechtlichen Voraussetzungen für die verbilligte Abgabe von BImA-Liegenschaften zur Schaffung von sozialem Wohnraum geschaffen. Das Mietrechtanpassungsgesetz ist am 1. Januar dieses Jahres in Kraft getreten. Bundesweit darf die Miete nach Modernisierung nur noch um maximal 3 Euro pro Quadratmeter innerhalb von sechs Jahren erhöht werden. Bei Mieten unter 7 Euro sind es sogar nur 2 Euro. Das ist besser als im Koalitionsvertrag vereinbart. Und nun gute aktuelle Beschlüsse aus dem Koalitionsausschuss: Verlängerung des Betrachtungszeitraums bei der ortsüblichen Vergleichsmiete von vier auf sechs Jahre, die Mietpreisbremse wird bis 2025 verlängert, und künftig können Mieterinnen und Mieter zu viel gezahlte Miete bis zu 30 Monate zurückfordern. Das hatten wir auch nicht im Koalitionsvertrag. Dafür bin ich sehr dankbar, dass wir das geschafft haben. Das ist großartig. ({2}) Die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen soll deutlich erschwert werden. Gestern hatte die SPD-Bundestagsfraktion eine große Konferenz zur Wohnungspolitik. Dort haben wir unser Positionspapier „Eine sozialverantwortliche Wohnungspolitik für Menschen, nicht für Märkte“ vorgestellt. Ich nenne nur wenige Forderungen. Dazu gehören mindestens 100 000 neue Sozialwohnungen jährlich. Und wir wollen den Missbrauch der Eigenbedarfskündigung eindämmen. Wir wollen einen Mietenstopp. In Gebieten mit angespannten Wohnungsmärkten dürfen die Mieten für fünf Jahre nur in Höhe der Inflation steigen. Danach sollte die Miete innerhalb von drei Jahren um maximal 10 Prozent erhöht werden dürfen. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie können auch selber vor Ort handeln. Seitdem die SPD in Frankfurt Peter Feldmann als Oberbürgermeister und Mike Josef als Planungsdezernent stellt, hat die Welt sich für die Mieterinnen deutlich verbessert. ({4}) Bei der städtischen Wohnungsbaugesellschaft ABG Frankfurt Holding mit mehr als 50 000 Wohnungen darf die Miete nur noch um maximal 1 Prozent jährlich steigen, festgeschrieben für zehn Jahre. Beim Neubau der ABG Frankfurt Holding liegt der Anteil an sozial gefördertem Wohnungsbau bei 40 Prozent. So geht gute Wohnungspolitik, liebe Genossinnen und Genossen ({5}) – und Kolleginnen und Kollegen. ({6}) Besonders freut mich, dass mein Ansinnen, das Schlupfloch „möblierte Wohnung“ zu schließen, von meiner Fraktion übernommen wurde. In Frankfurt, in meinem Wahlkreis, werden inzwischen circa 45 Prozent aller Wohnungen möbliert vermietet, zum Teil mit Quadratmeterpreisen von mehr als 70 Euro. Wir wollen dem einen Riegel vorschieben, indem wir verlangen, dass Miete und Möbelzuschlag getrennt ausgewiesen werden müssen. So kann die Mietpreisbremse wieder voll wirken. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen: Wir handeln. Schön, dass ich daran mitwirken darf. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Der nächste Redner: für die FDP-Fraktion der Kollege Daniel Föst. ({0})

Daniel Föst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004716, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Am 9. November feiern wir den 30. Jahrestag des Mauerfalls. Wir feiern die Überwindung des menschenverachtenden Sozialismus, den Sieg der Freiheit, den Sieg der liberalen Demokratie und der sozialen Marktwirtschaft. ({0}) Aber, Freunde von den Linken, wenn ich mir euren Antrag hier anschaue, ({1}) dann befürchte ich, dass Ihr ein anderes Jubiläum feiern wollt. Statt Mauerfall vor 30 Jahren wollt ihr die DDR-Gründung vor 70 Jahren feiern. ({2}) Denn Ihr Euphemismus „Mietendeckel“ ist nichts anderes als Sozialismus. Ihr Euphemismus „Mietendeckel“ ist nichts anderes als staatlich organisierte Mangelwirtschaft, ({3}) ist nichts anderes als die Rückkehr zur Planwirtschaft, von der wir froh waren, dass wir sie endlich überwunden haben. ({4}) Hinzu kommt, wenn Sie sich einmal ehrlich machen: Dieser Mietendeckel ist die Bankrotterklärung Ihrer eigenen Politik. In allen Städten mit den größten Wohnkostenproblemen ({5}) – auch Frankfurt – regieren SPD, Grüne und Linke. Wir wissen aus der Geschichte, ({6}) wir wissen aus der Wissenschaft, wir wissen aus der gescheiterten Mietpreisbremse, dass solche Überregulierungen wie ein Mietendeckel gar nichts bringen, überhaupt nichts. Der Mietendeckel wird die Probleme am Wohnungsmarkt nicht lösen, sondern verschärfen. ({7}) Die Neubauzahlen – Berlin macht es vor – gehen zurück, weil niemand mehr in Wohnraum investiert. Die Schlangen bei den Wohnungsbesichtigungen werden deshalb noch länger. Statt 300, die keine Wohnung bekommen, müssen Sie Wohnraum für 500 regulieren. Die Klimaziele werden nicht erreicht, weil wegen des Mietendeckels niemand in den Klimaschutz investiert. Die Häuser werden vor sich hingammeln wie die Menschen. Die Menschen werden in Bruchbuden leben wie zu DDR-Zeiten. ({8}) Der Mietendeckel zerstört den Wohnungsmarkt. Er zerstört das Vertrauen und beendet den Neubau. Und damit schadet der Mietendeckel den Mietern. Das ist mit uns Freien Demokraten nicht zu machen. ({9}) – Es freut mich immer: Wenn die Linken nervös werden, kommen sie mit der AfD-Keule, meinetwegen. ({10}) Leider reden wir wegen der ständigen sozialistischen Nonsensideen nie über die tatsächliche Ursache des Problems. Die Mieten steigen, weil Millionen Wohnungen dort fehlen, wo die Menschen leben wollen, weil der ländliche Raum ausblutet. ({11}) Ich finde es beinahe traurig, dass ich in jeder Rede immer wieder erklären muss – ich sage es gern noch einmal, vielleicht bleibt es hängen –: ({12}) Wohnungsmangel kann man nicht verbieten, Wohnungsmangel kann man nicht verwalten, Wohnungsmangel muss man beheben. ({13}) Deswegen empfinde ich es als umso trauriger, dass die SPD als Regierungspartner diesen Überbietungswettbewerb mitmacht. ({14}) Ich will jetzt nicht beraten, aber, liebe Genossinnen und Genossen, Sie werden doch die Grünen und die Linken nicht links überholen können, sie haben dort dichtgemacht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, statt zu deckeln, statt zu enteignen, statt zu verteuern und zu besteuern, müssen wir schneller bauen, müssen wir günstiger bauen, und wir dürfen den ländlichen Raum nicht länger vergessen. ({15}) Das schaffen wir nur durch weniger Bürokratie, durch mehr Anreize, durch schnellere Verfahren, durch Planungssicherheit für Bauunternehmen, durch die Digitalisierung der Baubranche. Und das schaffen wir nur durch mehr Bauland. Genau dieses Bauland, das wir brauchen, liegt auf den Dachböden und den Dächern unserer Städte. Wir müssen das Potenzial des Dachausbaus heben. Wir, die FDP, haben das vorgelegt. ({16}) – Dann hätte sie es machen sollen. ({17}) Jetzt einmal ohne Scheiß: Dann hätte sie es machen sollen. Die SPD feiert sich für Ideen, die sie nie umsetzt. Das ist doch ein Käs. Sie verschärfen die Problematik. 1997 haben die Zeitungen getitelt: Die Mieten sinken.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Daniel Föst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004716, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Letzter Satz. Ich bin im Crescendo. – 1997 haben die Zeitungen getitelt: Die Mieten sinken. Grund war laut Berichterstattung, dass in drei Jahren 1 Million Wohnungen entstanden sind. So lösen wir das Problem, alles andere ist geschichtsvergessen und ein Schaden für den Mieter. Das machen wir nicht mit. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort der Kollege Christian Kühn. ({0})

Christian Kühn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004333, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Letzte Woche waren Menschen aus Deutschland hier in Berlin und haben eine Kette vom Bauministerium zum Kanzleramt gebildet. Sie haben für bezahlbaren Wohnraum und gegen Mietenexplosion in den Städten protestiert. Für ein Grundrecht auf Wohnen, für ein existenzielles Bedürfnis, für ein Menschenrecht sind diese Menschen auf die Straße gegangen. Diese Menschen haben klar gesagt, dass sie eines nicht mehr wollen, Herr Föst: diese neoliberale Wohnungspolitik, die uns in diese Misere geführt hat. ({0}) Dass Sie das in dieser Rede so wegwischen, ist geschichtsvergessen. ({1}) Unsere Stadtgesellschaften drohen an der Wohnfrage zu zerbrechen. Diese Koalition stellt sich heute hier hin und sagt: Ja, der Wohngipfel war erfolgreich. Wir haben in einem Jahr alles abgearbeitet. Alles ist super, Herr Wegner. Mitnichten ist das der Fall. ({2}) Schauen Sie sich einmal die Zahlen an. Wir haben in Deutschland 1,18 Millionen Sozialwohnungen. Das ist ein Drittel von dem, was wir 1989 hatten. Wir haben den niedrigsten Stand des sozialen Wohnungsbaus seit den 70er-Jahren, seit 50 Jahren. Weniger hatten wir nicht. Das ist ein Offenbarungseid. Da machen Sie einfach viel zu wenig. ({3}) Die Mieten in den großen Städten sind im letzten Jahr massiv gestiegen: in München um 3,2 Prozent – dort gibt es schon ein extrem hohes Niveau – und in Stuttgart – auch ein hohes Niveau – um 4,9 Prozent. Wissen Sie, woran es liegt? Das liegt nicht daran, dass in Stuttgart nicht gebaut wird oder Nicole Hoffmeister-Kraut von der CDU, die Bauministerin in Baden-Württemberg, beim sozialen Wohnungsbau kein Gas gibt. Es liegt auch nicht an den Kollegen in Bayern oder München. Es liegt daran, dass diese Bundesregierung bei der Regulierung der Mieten versagt, beim Mietrecht keine Antwort auf die Mietenexplosion gibt. Solange Sie das nicht machen, werden Sie der Situation nicht Herr werden. ({4}) In dieser Situation kürzt die Große Koalition den sozialen Wohnungsbau um eine halbe Milliarde Euro. Der Bauminister aus Bayern hat gesagt, dass der Etat wieder um 2 Milliarden Euro angehoben werden muss, so wie wir Grünen es sagen. Ich finde, der Bauminister aus Bayern sollte einmal mit dem Bundesbauminister ein Bier trinken und ihm klarmachen, wie sozialer Wohnungsbau funktioniert. ({5}) Was ist ihre Antwort auf diese Krise? Immer nur eine Antwort: Baukindergeld, Baukindergeld, Baukindergeld, ganz erfolgreich. Mitnichten ist es erfolgreich. Das Baukindergeld produziert Mitnahmeeffekte. Das sagen alle Ökonomen, die Sie fragen. Das Baukindergeld ist in der jetzigen Ausgestaltung – das sagt die EU-Kommission – wahrscheinlich europarechtswidrig. Wissen Sie, was das Baukindergeld ist? Es ist eine bayrische Stammtischidee, europarechtswidrig und am Ende teuer für alle, weil Sie 10 Milliarden Euro damit verschlingen. ({6}) In dieser Krise auf dem Wohnungsmarkt legen Sie ein Klimapaket vor, wo für Mieterinnen und Mieter nichts drin ist. Das zeigt doch, dass Sie in Zeiten der Klimakrise Mieterschutz überhaupt nicht verstanden haben. ({7}) Der Ordnungsrahmen, den Sie in dem Paket festlegen, der sozusagen der Korridor für den gesamten Wohnungsbau im nächsten Jahrzehnt ist, heißt: Wir bleiben erst einmal auf dem Stand, auf dem wir heute sind. Erst 2023 wollen Sie die Standards überprüfen. Das heißt, dass Sie erst in der zweiten Hälfte des nächsten Jahrzehnts zukunftsfähige Gebäude bauen werden und beim Bauordnungsrecht bezüglich der Energieeinsparung von Gebäuden auf den Paris-Pfad einschwenken wollen. Das ist klimapolitisches Versagen. Das werden wir Grüne Ihnen nicht durchgehen lassen. Da erwarten Sie von uns den höchsten Widerstand hier in diesem Haus. ({8}) In diesen Zeiten – in der Klimakrise und in der Wohnkrise – macht die SPD-Fraktion in dieser Woche einen Wohnkongress mit dem Titel „Wohnwende“. Ich muss leider sagen: Es wäre schön, wenn Sie die Inhalte durchsetzen würden. Aber im Handeln der Großen Koalition kann ich das nicht sehen. Sie machen weder eine Wohnwende, noch machen Sie eine Energiewende und schon gar keinen Klimaschutz. ({9}) Zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wenn man die Inhalte der Wohnwende, die die SPD aufgeschrieben hat, mit dem vergleicht, was die CDU/CSU erzählt, dann glaube ich, dass sie nicht mehr zusammenpassen. Deswegen rate ich Ihnen von der SPD: Lassen Sie es einfach. Ziehen Sie im Dezember die Konsequenzen und lösen Sie diese Koalition auch wegen der Wohnfrage auf. ({10}) Mit der CDU/CSU ist die Wohnkrise, an der unser sozialer Zusammenhalt hängt, nicht zu bewältigen. Lassen Sie die Menschen im Land darüber abstimmen, ob wir faire Mieten und ob wir mehr Klimaschutz wollen. Danke schön.

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Chris Kühn – das Gleiche gilt auch für Caren Lay –, ich weiß eigentlich gar nicht, was Sie in den letzten Monaten und Jahren gemacht haben. Vielleicht hätten Sie einmal aufmerksam zuhören sollen, was wir als Große Koalition beschlossen haben. Wenn Sie hier sagen, die Große Koalition habe beim Mietrecht versagt, habe nicht geliefert, dann schauen Sie sich einmal an, was wir ins Gesetzblatt geschrieben haben. Wir haben gerade zum Jahresanfang ein wirklich umfassendes Mieterschutzgesetz auf den Weg gebracht. Wir haben die Mietpreisbremse verschärft. Wir haben die Auskunftspflicht eingeführt und dadurch für mehr Transparenz auf dem Wohnungsmarkt gesorgt. Wir sind bei den Modernisierungskosten hart herangegangen, indem wir den Umlagesatz von 11 auf 8 Prozent gesenkt haben. Wir haben die Kosten gedeckelt, dass man nicht mehr als 3 Euro pro Quadratmeter umlegen kann und bei niedrigen Mietverhältnissen nur 2 Euro pro Quadratmeter. ({0}) Wir haben einen Ordnungswidrigkeitentatbestand geschaffen gegen die schwarzen Schafe, die es gibt und die die Leute bewusst herausmodernisieren. ({1}) All das haben wir gemacht, und es ist auch richtig so, dass wir das gemacht haben. ({2}) Wir sind noch weiter gegangen. Wir haben jetzt im Koalitionsausschuss vereinbart: Wir schauen uns die Mietpreisbremse noch einmal an und verlängern sie. Wir haben vor, den Betrachtungszeitraum bei der ortsüblichen Vergleichsmiete von vier auf sechs Jahre zu verlängern. Also: Man muss schon anerkennen, dass dort viel passiert. Ich will aber eines sagen – das gilt für Die Linke, die hier Vorschläge macht, aber auch für unseren Koalitionspartner –: Frau Nissen hat gerade dargestellt, was die SPD-Fraktion mit dem Papier zur Wohnwende noch alles machen will. Es zerstört das Vertrauen in die Verlässlichkeit der Politik, wenn wir hier im Wochenrhythmus neue Eingriffe in das Mietrecht fordern. ({3}) Das geht auch deshalb nicht, weil nämlich bei diesen Bedingungen irgendwann keiner mehr baut, weil niemand mehr Vertrauen hat, dass es verlässliche Rahmenbedingungen gibt. Deswegen müssen wir irgendwann zu einem Schluss kommen, die Dinge umsetzen und dann einfach wirken lassen, meine Damen und Herren. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Lieber Kollege Luczak, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der Fraktion der Grünen?

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte schön. ({0})

Canan Bayram (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004665, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Kollege, Sie haben in Bezug auf die Grünen und Rot-Rot-Grün in Berlin die ganze Zeit geschimpft. Jetzt ist es ja so, dass in Berlin der Mietendeckel diskutiert wird, weil es den Berlinern nicht reicht, was Sie hier auf Bundesebene für Gesetze auf den Weg gebracht haben. Das Bundesverfassungsgericht hat uns vor Kurzem bescheinigt, dass man im Mietrecht sehr wohl weitreichende Regelungen ergreifen kann, weil es einen besonderen Gehalt der Sozialpflichtigkeit hat. Deswegen meine ganz konkrete Frage an Sie und Ihre Fraktion: Werden Sie als Bundestagsfraktion gegen das Gesetz, in dem der Mietendeckel in Berlin geregelt wird, vor ein Gericht ziehen und es überprüfen lassen, was Sie theoretisch könnten?

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank für die Zwischenfrage. – Der Grund, weswegen in Berlin über Enteignung und über einen Mietendeckel diskutiert wird, ist, dass der rot-rot-grüne Senat in Berlin beim Neubau völlig versagt hat. ({0}) Es ist in dieser Stadt nichts passiert. Deswegen wird jetzt versucht, auf einem anderen Feld vom Versagen der eigenen Politik abzulenken. Das wird aber nicht funktionieren, weil die Menschen das nämlich sehr gut durchschauen. Das zeigt die Diskussion um Enteignung, bei der der Stimmungsumschwung ziemlich deutlich wurde. Zum Mietendeckel, den auch die Linksfraktion fordert, will ich Ihnen sagen: Es ist absurd, dass man glaubt, mit dem Mietendeckel an dieser Stelle etwas erreichen zu können. Es ist hier schon angesprochen worden: Wegen der Diskussion um die Enteignung und den Mietendeckel ist die Zahl der Baugenehmigungen im zweiten Quartal 2019 um über 10 Prozent und im Juni, als die Eckpunkte vorgestellt wurden, um über 25 Prozent zurückgegangen. Da muss man einfach ganz nüchtern feststellen: Wenn wir etwas gegen die steigenden Mieten machen wollen – und das wollen wir, weil wir nicht wollen, dass Menschen aus ihren angestammten Vierteln verdrängt werden –, dann ist der einzige Weg, dass wir mehr, schneller und kostengünstiger bauen. Wenn wir aber einen Mietendeckel machen, dann werden alle Investoren Abstand davon nehmen, wie das schon jetzt der Fall ist. Wir verzeichnen laut Handwerkskammer Auftragsstornierungen im zweistelligen Millionenbereich, weil keiner mehr in Berlin bauen will. Das sind die Auswirkungen des Mietendeckels. ({1}) Ich kann noch fortführen: Die Linksfraktion macht ein paar Vorschläge. Sie sagt unter anderem, dass man das System der Mietspiegel stärken, alle Entgelte in die Mietspiegel miteinfließen lassen und qualifizierte Mietspiegel, die überall gelten sollten, rechtsverbindlich ausgestalten müsste. Es ist wirklich völlig absurd, wenn Sie im gleichen Atemzug sagen: Die Länder sollen doch bitte einen Mietendeckel einführen. – Was passiert denn, wenn Länder wie Berlin, wo das konkret diskutiert wird, den Mietendeckel einführen? Wenn der Mietendeckel hier in Kraft tritt, tritt all das, was wir auf der Bundesebene gemacht haben, automatisch außer Kraft – die Mietpreisbremse, bei den Modernisierungskosten herunterzugehen und sie zu deckeln; das geht überhaupt nicht. Deswegen ist das, was Sie uns zum Mietspiegel vorschlagen, völlig widersprüchlich; das geht nicht zusammen. Wir werden das nicht mitmachen. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Eine Zwischenfrage reicht mir. – Vielen Dank. Zu einem Thema möchte ich noch etwas sagen: Natürlich gibt es die Frage, wie wir mit einem solchen Mietendeckel umgehen. Ich habe gerade schon skizziert, was die Auswirkungen dieses Mietendeckels sind. Er wird so, wie er jetzt geplant ist, dazu führen, dass der Neubau drastisch zurückgeht und damit am Ende den Menschen geschadet wird. Modernisierungsmaßnahmen müssen angezeigt und genehmigt werden. Das wird am Ende dazu führen, dass der Klimaschutz, worüber in den letzten Monaten so intensiv gerungen und gestritten wurde – der Gebäudebestand hat da eine ganz wesentliche Funktion –, am Ende nicht erreicht werden kann, weil weder in die energetische Modernisierung noch in den altersgerechten Umbau von Gebäuden investiert wird und schon gar nicht in den Neubau. Deswegen ist der Mietenspiegel eine populistische Scheinlösung. Er hilft den Menschen am Ende nicht, sondern schadet ihnen. Deswegen lehnen wir den Mietendeckel ab. Letzter Punkt. Weil Sie, Frau Bayram, das fragten, will ich ganz konkret darauf antworten: Ich bin ganz fest davon überzeugt, dass der Mietendeckel verfassungswidrig ist, weil er in unsere Kompetenz als Bundesgesetzgeber eingreift. Wir haben eine Abwägung vorgenommen zwischen den Interessen von Vermieterinnen und Vermietern auf der einen Seite und den Interessen von Mieterinnen und Mietern auf der anderen Seite. Diese Abwägung mag nicht jedem schmecken; aber es ist unsere Abwägung, die wir als Bundesgesetzgeber vorgenommen haben. Unsere Abwägung wird mit dem Mietendeckel vollständig außer Kraft gesetzt und ersetzt durch eine eigene Abwägung, die der Landesgesetzgeber vornimmt. Ich glaube, dass wir uns das nicht gefallen lassen dürfen. Ich bin sehr dafür, dass wir das an dieser Stelle auch in Karlsruhe klären. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Michael Groß das Wort. ({0})

Michael Groß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004045, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich wundere mich schon, wie viel Aufregung wir durch unsere gestrige Veranstaltung erzeugt haben. ({0}) – Ja, aber Sie sind darauf eingegangen; alle sind darauf eingegangen. ({1}) Ich kann Ihnen nur sagen: Die Überschrift war „Wohnungspolitik für Menschen, nicht für Märkte“. ({2}) Und das ist die richtige Überschrift. Sie erzählen hier seit Monaten in vielen Debatten: Der Markt wird es regeln. ({3}) Wir haben zehn lang Jahre erlebt, dass der Markt auf dem einen Auge blind ist, wenn es um bezahlbaren Wohnraum geht. ({4}) – Nein, das ist doch gar nicht wahr. ({5}) Ich will jetzt auf eines eingehen: Sie haben uns kritisiert, in allen möglichen Regierungen zu sitzen, die die Wohnungspolitik schlecht machen und Neubau verhindern. Ich kann Ihnen nur sagen: NRW 2015 – 9 000 Wohnungen sind in die Bindung gebracht worden. Schwarz-Gelb 2018 – nur noch 6 000 Wohnungen. ({6}) Was ist denn das für eine Wohnungspolitik für die Menschen? Sie vertreiben Menschen aus den Innenstädten, nicht wir. Sie sorgen dafür, dass immer weniger Wohnungen zur Verfügung stehen; das sind Sie. ({7}) Übrigens könnte ich die Diskussion noch verlängern, weil der Herr Kühn uns als Bundesregierung angesprochen hat: Wir haben die Mittel für den sozialen Wohnungsbau von 500 Millionen auf 1 Milliarde aufgestockt. ({8}) Damals waren Ihre Forderungen, glaube ich: Wir müssen jedes Jahr 2 Milliarden ausgeben. – Jetzt haben wir über die ganze Legislatur 5 Milliarden Euro etatisiert – 5 Milliarden! ({9}) Ich sage Ihnen: Wir könnten noch 5 Milliarden Euro aufbringen; aber die Länder müssen sie umsetzen. ({10}) Übrigens: Baden-Württemberg hat keine einzige neue Sozialwohnung mehr gebaut. ({11}) Deren Zahl stagniert seit Jahren; Sie haben sie abgebaut. Und wer regiert bei Ihnen? Nicht wir! ({12}) In Thüringen übrigens auch: Ihr Bestand liegt bei 50 000 Sozialwohnungen, in Thüringen liegt er bei 15 000. Also, Sie müssen uns nicht evangelisch oder katholisch machen; Sie müssen erst mal Ihr Handwerkszeug lernen. ({13}) Ich kann das gar nicht so schnell aufzählen wie Herr Luczak, der deutlich gemacht hat, was wir im Mietenpaket alles getan haben. Ich kann Herrn Luczak nur danken, dass er das hier mit so viel Enthusiasmus und so überzeugend vorgetragen hat. Wir waren ja häufig in der Auseinandersetzung. Ich freue mich, dass Sie sagen: Es war der richtige Weg, den Mietern eine Pause zu geben und das soziale Mietrecht wieder zu stärken. Herzlichen Dank auch an den Koalitionspartner. Ich finde auch wichtig, dass der erste Satz der neuen Justizministerin zum Thema Wohnungspolitik war: Wohnen darf Menschen nicht arm machen. ({14}) Deswegen werden wir die Mietpreisbremse weiter schärfen und Weiteres auf den Weg bringen. Im Koalitionsvertrag steht über den Mietspiegel hinaus, den Betrachtungszeitraum auf sechs Jahre zu verlängern und den Bindungszeitraum auf drei Jahre festzulegen. Auch da müssen wir uns noch einigen. Das steht im Koalitionsvertrag; wir sind ja beide koalitionstreu. Das wird helfen, den Mietenanstieg weiter zu bremsen. ({15}) Ein ganz wichtiger Punkt, über den heute noch viel zu wenig gesprochen wurde, ist: Was passiert eigentlich mit Grund und Boden? Ich kann Ihnen sagen: Das war auch gestern ein großer Diskussionspunkt. Wir müssen endlich die Spekulationen im Bereich des Bodens beenden. Wir müssen dafür sorgen, dass die Kommunen über Bodenfonds, über das Ankaufen von Grundstücken es schaffen, dass in den Innenstädten, aber auch in der Peripherie Bauen preiswerter wird, indem sie die Grundstücke denjenigen zur Verfügung stellen, die preiswert bauen und bezahlbares Wohnen absichern wollen. Mein letzter Satz, mit dem ich immer ende: Wir haben in Deutschland ein viel zu kleines Angebot durch kommunale Wohnungsunternehmen und Genossenschaften. ({16}) Wir müssen dafür sorgen, dass dieser Anteil wesentlich größer wird: 4 Millionen Wohnungen von 24 Millionen Wohnungen, das kann nicht funktionieren. Wir sorgen für eine soziale Marktwirtschaft, in dem wir mehr Sozialwohnungen zur Verfügung stellen. Herzlichen Dank. ({17})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der letzte Redner: der Kollege Michael Kießling, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michael Kießling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004779, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In einem Punkt sind wir uns einig: dass der Wohnungsmangel eine große Herausforderung für unsere Gesellschaft ist, aber auch für uns Politiker. Wir als verantwortungsvolle Politiker sollten an den Stellschrauben drehen, an denen wir drehen können. Auf den Antrag der Linken wurde schon Bezug genommen, deswegen gehe ich nicht näher darauf ein. Ein Mietendeckel hilft uns nicht weiter. Wir müssen für einen Ausgleich zwischen den verschiedenen Interessen sorgen, zwischen denen der Mieter, der Vermieter, der Investoren oder der Baugenossenschaften. Wir als Union stehen für einen Ausgleich zwischen den Parteien. Wir wollen sozial Schwächere unterstützen, aber auch die Investoren und die Baugenossenschaften im Blick haben, sodass Wohnraum entstehen kann. ({0}) Wir brauchen breite Lösungsansätze. Mit der Kommission „Nachhaltige Baulandmobilisierung und Bodenpolitik“ haben wir schon einiges auf den Weg gebracht. Es gibt gute Vorschläge, die wir im weiteren parlamentarischen Verfahren sicherlich noch behandeln werden. Unser AG-Vorsitzender, Herr Wegner, hat sie schon angesprochen: Wir haben Maßnahmen in den Bereichen Mietwohnungsbau, Sonder-Afa, sozialer Wohnungsbau und Eigentumsförderung auf den Weg gebracht. Zum Antrag der FDP zum Thema Dachgeschossausbau. Das scheint nicht so wichtig gewesen zu sein, da Sie hauptsächlich auf den Antrag der Linken eingegangen sind. Einige vorgesehene Maßnahmen können wir teilweise für den Dachgeschossausbau einsetzen. ({1}) Aber einen Fehler, liebe FDP, machen Sie schon in Ihrem Antrag zum Dachgeschossausbau: Sie vermitteln den Eindruck, dass durch den Dachgeschossausbau der Wohnungsmangel behoben werden kann. ({2}) Nun wissen wir, dass die Häuser, auf denen ein Dachgeschossausbau möglich ist, nicht unbedingt dort stehen, wo Wohnungsmangel herrscht. Das heißt, nicht alle potenziellen Gebäude befinden sich in den Regionen, in denen Wohnungsmangel besteht. Außerdem ist nicht überall ein genehmigungsfreier Dachgeschossausbau, den Sie in Ihrem Antrag fordern, sinnvoll. Stellen Sie sich vor, Sie leben in einer historischen Altstadt und durch Änderungen an Dachgauben und Fassaden würde sich das komplette Stadtbild verändern. Ich glaube nicht, dass wir das wollen. Um den Dachgeschossausbau wirklich zu erleichtern, sollten Sie sich die Frage stellen: Ab wann ist ein Dachgeschossumbau noch Bestand, und wann ist es Neubau? Und: Wann ist ein Dachgeschoss ein Vollgeschoss? Durch die Beantwortung dieser Fragen kommen wir schneller dazu, ein Dachgeschoss auszubauen, als mit Ihrem Antrag. Ihre Ideen zur Entbürokratisierung und Kostensenkung hören sich gut an, aber sie sind nur teilweise Grundlage für erschwinglichen Wohnraum. Sie vergessen auch hier die Anforderungen an den Umweltschutz – was mehrheitlich hier vom Bundestag getragen wird –, Sie vergessen den Bereich der Bürgerbeteiligung, gerade was die Bauleitplanung betrifft – es geht um Akzeptanz; es ist ein Zeichen, wenn Träger öffentlicher Belange und Bürger beteiligt werden, wenn große Wohngebiete ausgewiesen werden sollen –, und Sie vernachlässigen auch den Sicherheitsaspekt, zum Beispiel den Brandschutz. Ich glaube nicht, dass wir Abstriche beim Brandschutz machen können. Das wollen wir nicht verantworten. ({3}) Klar ist, dass wir nicht nur einen punktuellen Ansatz, sondern einen weitgefassten Antrag brauchen. Deshalb haben wir ein Bündel von Maßnahmen vorgelegt, zum Beispiel die Änderung des Baugesetzbuches Ende des Jahres. Herr Luczak hat für den Bereich Mieten ausgeführt, was wir in der Koalition auf den Weg gebracht haben. Ich denke, hier sind wir gut aufgestellt. Summa summarum: Bauen von Wohnungen geht besser, wenn man die Vorteile der Digitalisierung nutzt. Aber dieser Aspekt ist in Ihrem Antrag zur Entbürokratisierung nicht enthalten, wobei Sie als Partei eigentlich für Digitalisierung stehen. Mit den Maßnahmen aus unserem Koalitionsvertrag und unseren Haushaltsansätzen sind wir auf einem guten Weg, um Bauen voranzutreiben, Wohnungen zu schaffen, Mieter zu schützen, aber auch Sicherheit zu geben für Investoren, die bauen, bauen, bauen. Herzlichen Dank und Ihnen einen schönen Abend. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege Kießling. – Ich schließe die Aussprache.

Josip Juratovic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003782, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Zunächst meinen Dank an alle, die diese Anträge in gründlicher Abwägung der Lage auf dem Westbalkan und in der EU auf den Weg gebracht haben. Worum geht es heute? Es geht erstens um unsere Glaubwürdigkeit und Fairness sowie unsere Solidarität mit den Demokratinnen und Demokraten in der Republik Nordmazedonien und Albanien und zweitens um unsere Sicherheit. ({0}) Erstens. Den Menschen auf dem Westbalkan eine EU-Perspektive zu versprechen und nach 16 Jahren nicht mit dem Beitrittsprozess zu beginnen, wäre nicht mehr glaubwürdig. Dabei geht es heute nicht um einen Automatismus der EU-Erweiterung, sondern um eine gründliche Vorbereitung eines möglichen EU-Beitritts mit erneuter Zustimmung dieses Hauses. Kolleginnen und Kollegen, es gehört einfach zur Fairness, der Republik Nordmazedonien und Albanien eine Chance zu geben. ({1}) Es geht zweitens um unsere Sicherheit. Die Integration des Westbalkans ist keine Osterweiterung, sondern die Integration des Innenhofs der Europäischen Union. Leider ist der Westbalkan auch zum Tummelplatz von China, Russland und der Türkei geworden, die sich gerne als Partner und Alternative zur EU anbieten. Bei Ablehnung der Beitrittsverhandlungen besteht zudem die Gefahr, dass Populisten und Kriegsprofiteure wieder ganze Regionen in Brand stecken. Ein Ja zum EU-Beitrittsprozess ist somit ein von uns ernstgemeinter Beitrag zur Krisenprävention. Die EU ist die einzige Alternative zur Sicherung des Friedens. ({2}) Drittens geht es um die Bekämpfung der Korruption und der organisierten Kriminalität. Auf dem Westbalkan kann dies nur mit der Eröffnung der Kapitel 23 und 24 und deren Schließung nach Umsetzung gelingen. Bestes Beispiel dafür ist die Erfahrung mit Kroatien. Schließlich geht es um unsere Solidarität mit jenen Menschen, insbesondere den Demokratinnen und Demokraten, die trotz Gewalt und Missständen, die sie in den letzten Jahrzehnten über sich ergehen lassen mussten, ihr Land nicht verlassen haben. Stattdessen haben sie für einen funktionierenden Staat gekämpft und ihre Hoffnung auf unsere Solidarität nie aufgegeben. Deshalb bitte ich um Ihre Zustimmung und darum, der Demokratie in der Republik Nordmazedonien und Albanien eine faire Chance zu geben. Das sind wir vielen redlichen Menschen auf dem Westbalkan schuldig. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die AfD-Fraktion hat das Wort der Kollege Siegbert Droese. ({0})

Siegbert Droese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004704, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine sehr verehrten Kollegen! Zum jetzigen Zeitpunkt ist kein Land des westlichen Balkans aufnahmebereit. Das ist ein Zitat von Staatsminister Roth, das gestern bei uns im Ausschuss zu vernehmen war. Ende Oktober verlässt Großbritannien, ein enorm wichtiger Partner und Nettozahler, die EU. Mitte Oktober will Brüssel die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit zwei Problemländern, nämlich Albanien und Nordmazedonien, beschließen. Die AfD steht dieser Idee sehr kritisch gegenüber. Andere sehen das ähnlich, zum Beispiel Frankreich und die Niederlande. Präsident Macron selbst sagt völlig zu Recht, dass die EU erst ihre eigenen Probleme lösen muss, bevor Frankreich über neue Mitglieder nachdenkt. ({0}) Macron spricht hier mehr von Annäherung und nicht von Beitritt, eine Position, die unserem Standpunkt sehr nahekommt. Meine Damen und Herren, warum diese Eile? Juncker nennt sogar 2025 als Zielmarke. Das ist eine Tatsache, die in Tirana und Skopje wie ein Versprechen klingen muss. Die EU lernt nicht aus ihren Fehlern. Die Kopenhagener Kriterien müssen erst vollständig erfüllt sein; das ist die Position der AfD-Fraktion. ({1}) Wir fragen uns: Wo liegt denn der viel beschworene europäische Mehrwert, der ökonomische Nutzen für die EU, wenn zum Beispiel Albanien beitritt? Laut Kopenhagener Kriterien sind eine funktionsfähige Marktwirtschaft und die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck innerhalb des Binnenmarktes standzuhalten, nötig. Die AfD bekennt sich zu einer funktionierenden Wirtschaftsunion. Ein weiteres Kriterium für den Beitritt lautet Stabilität, vor allem institutionelle Stabilität. Die Realität sieht hier so aus, dass die Opposition in den Kandidatenländern das Parlament boykottiert, Verfassungsgerichte eingeschränkt oder gar nicht arbeiten. Meine Damen und Herren, die Pro-EU-Argumente finden wir absolut nicht überzeugend. ({2}) Die EU hat Probleme ohne Ende. Ich nenne die Stichworte „Brexit“ und „Migrationskrise“. Man könnte eine lange Reihe aufzählen. In dieser Situation sollen allen Ernstes neue Mitglieder aufgenommen werden. Natürlich gehören diese Länder des Westbalkans zu Europa, aber solange eine Vielzahl von Kriterien nur unzureichend erfüllt sind – das gilt für Albanien noch mehr als für Nordmazedonien –, so lange sollten keine Versprechungen gemacht werden und so lange kann man auch nicht über einen Beitritt verhandeln. ({3}) Die AfD als bürgerliche Fraktion möchte gute Beziehungen zum Balkan auf allen Ebenen, aber eher im Sinne einer echten privilegierten Partnerschaft. Die AfD als bürgerliche Fraktion möchte keine Beitrittsverhandlungen auf der Basis der jetzigen Realität. Zum jetzigen Zeitpunkt ist kein Land des westlichen Balkans aufnahmebereit. Ich zitierte schon Staatsminister Roth. ({4}) Wir lehnen die Anträge der Koalition somit ab. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Florian Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004048, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Bereits 2003 haben die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union bei ihrem Gipfeltreffen mit den Staaten des westlichen Balkans den Balkanstaaten die Perspektive einer EU-Mitgliedschaft in Aussicht gestellt – wenn sie dafür die Voraussetzungen erfüllen. Nordmazedonien hat sodann am 22. März 2004 einen Antrag auf Beitritt zur EU gestellt. Ende 2005 wurde dem Land der Status eines Beitrittskandidaten zuerkannt. Seither hat das Land große Reformanstrengungen unternommen – auch wenn nicht alles Gold ist, was glänzt. Nachdem der jahrelange Namensstreit mit Griechenland im Februar dieses Jahres beigelegt werden konnte, ist aber ein entscheidender Stolperstein für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen – nicht für einen Beitritt zur Europäischen Union, wie gerne dargestellt wird – ({0}) aus dem Weg geräumt. Deshalb sprechen wir uns in dem vorliegenden Antrag dafür aus, fordern aber zugleich die Fortführung von wichtigen Reformen. Albanien ist ein Land, an dem sich sicherlich die Geister scheiden. Auf der einen Seite sehen wir die eingeleiteten Reformen, gerade in den Bereichen der Justiz, der Wirtschaft und der Verwaltung, die zum Teil wirklich schwerwiegend sind und so ambitioniert vorangetrieben werden wie in kaum einem anderen Land. Auf der anderen Seite erleben wir aber, dass der Kampf gegen die organisierte Kriminalität und gegen den Drogenhandel noch nicht gewonnen ist. Auch werden wir Zeugen einer innenpolitischen Krise, die das Parlament lahmzulegen droht. Und auch die Sehnsucht nach einem Großalbanien, abseits der EU, scheint manchen zu verlocken. Was sollen wir jetzt tun? Sollen wir Albanien seinem Schicksal überlassen? Sollen wir Albanien den Mächten überlassen, die nur darauf lauern, einen breiten Fuß in die Tür Europas zu bekommen? Wollen wir eine politische Krise in den Nachbarländern Albaniens riskieren, die ein Nein mit auslösen könnte? Ich sage Ihnen: Wenn wir Albanien jetzt die kalte Schulter zeigen, könnten wir eine historische Chance verpassen. ({1}) Wir haben uns daher dafür entschieden, auch Albanien grünes Licht für die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen zu geben. Deshalb lehnen wir den Antrag der FDP ab, der eine Verschiebung des Beginns von Beitrittsgesprächen vorsieht. Anders als im Falle von Nordmazedonien wird die Zustimmung zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Albanien aber an sehr harte Kriterien geknüpft. Wir haben uns für ein zweistufiges Verfahren entschieden. Die Bedingungen: Bis zur ersten Beitrittskonferenz muss die Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Justizsystems, insbesondere mit Blick auf das Oberste Gericht und Verfassungsgericht, wiederhergestellt sein, und der Beschluss einer Wahlrechtsreform, die unter Beteiligung aller politischen Kräfte erarbeitet werden soll, muss vorliegen. Bis zur zweiten Beitrittskonferenz und zur tatsächlichen Eröffnung von Verhandlungskapiteln sollen noch weitere Beitrittsbedingungen erfüllt sein, wie die Einleitung von Verfahren gegen belastete Richter und Staatsanwälte, die Ahndung von Wahlfälschungen, Fortschritte bei der Verwaltungsreform, die Einsetzung einer Spezialstruktur gegen organisierte Kriminalität und Drogenhandel und die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Kommunalwahlen vom Juni dieses Jahres. Wir reden uns die Lage nicht schön. Die noch vorhandenen Defizite im Bereich der Rechtsstaatlichkeit, im Justizapparat, beim Kampf gegen organisierte Kriminalität werden schonungslos benannt. Deshalb sind diese harten Kriterien so wichtig. Deshalb lehnen wir auch den Antrag der Grünen ab, die auf diese verzichten wollen. Ja, es gibt noch viel Schatten. Manche Kritiker sagen: mehr Schatten als Licht. Dennoch sprechen wir uns dafür aus, dass wir das Land nicht länger warten lassen. Was wäre die Alternative? Lehnen wir ab oder sagen wir nur Ja zu Nordmazedonien, dann wäre Albanien für die Europäische Union nach meiner festen Überzeugung verloren. Außerdem: Im Beitrittsprozess können wir dem Land am besten helfen, an europäische Standards heranzukommen. Die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden erreicht dort eine ganz andere Stufe. ({2}) Eröffnungen von Beitrittsverhandlungen bedeuten noch keinen Beitritt. Sie sind der Beginn eines langen Prozesses. Das wird Jahre dauern – das kennen wir von den Prozessen, die zurzeit mit Serbien und Montenegro laufen –, und sie können auch einmal zum Stillstand kommen, so wie wir das bei der Türkei erleben. Manche Kritiker wenden ein: Wenn wir erst einmal Verhandlungen führen, wird nachher der Druck so groß, dass man den Beitritt vornehmen muss. – Diese Gefahr sehe ich so nicht. Wir haben es als Deutscher Bundestag mehr als alle anderen Parlamente in Europa in der Hand, Entscheidungen der Bundesregierung zu gestatten und zu verhindern, und noch nie haben wir so harte Kriterien formuliert wie in dem Antrag zu Albanien. Deshalb sage ich: Keine Angst vor der eigenen Courage! Die Menschen des Westbalkans schauen auf uns. Europa erwartet eine Entscheidung. Stimmen Sie der Eröffnung von Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien in der vorgeschlagenen Form zu! Herzlichen Dank. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist der Kollege Thomas Hacker für die FDP-Fraktion. ({0})

Thomas Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004734, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Europäische Union steht für die allermeisten Menschen in unserem Land für Freiheit, für eine Zukunft in Frieden und Sicherheit. Sie steht für Zusammenarbeit, gegenseitiges Vertrauen und wirtschaftliche Stärke. Sie ist eine Gemeinschaft, die auf gemeinsamen Überzeugungen beruht: Demokratie, Freiheitsrechte und Rechtsstaatlichkeit. Ja, wir Freien Demokraten wollen ein starkes Europa, wir wollen eine starke Europäische Union. Deshalb ist es notwendig, dass die Reform der EU im Inneren nicht mehr auf die lange Bank geschoben wird, ({0}) dass Mehrheitsentscheidungen im Europäischen Rat möglich werden und eine zahlenmäßig verkleinerte Kommission sich auf die wesentlichen Aufgaben beschränkt. Hier müssen wir vorankommen. ({1}) Eine ganze Generation schon lebt dieses freie Europa und kennt Grenzkontrollen, Mauern und Zäune nur noch aus den Geschichtsbüchern. Auch wenn Großbritannien sich anders entschieden hat: Dieses starke Europa der Freiheit zieht Menschen an. Länder, die vor nicht einmal 20 Jahren noch in Kriege verstrickt waren, bereiten sich intensiv vor, Mitglieder der Europäischen Union zu werden, und diese Länder kommen voran. Nordmazedonien hat den lähmenden Namensstreit mit Griechenland unter großen Anstrengungen beigelegt, sich mit Nachbarn ausgesöhnt und Reformen im Inneren vorangetrieben. Albanien hat seine Justiz in einem in seiner Intensität und seinem Umfang beispiellosen Vetting-Prozess überprüft. Zahlreiche Richter und Staatsanwälte wurden aus ihren Ämtern entfernt, der Kampf gegen Korruption und organisierte Kriminalität forciert und der Drogenanbau erheblich reduziert. ({2}) Diese erzielten Fortschritte machen zuversichtlich, dass beide Länder in ihren Anstrengungen nicht nachlassen werden. Wir sehen in beiden Ländern großen Reformwillen. In zukünftigen Verhandlungen sind weitere Herausforderungen zu klären. In Fragen der Migration und Freizügigkeit oder auch des Umgangs mit nationalen Minderheiten: Uns Freien Demokraten ist es wichtig, jedes Land für sich zu betrachten und jedes für sich zu prüfen, ob die Voraussetzungen zur Eröffnung von Beitrittsgesprächen erfüllt sind. Wir reden heute über den Beginn von Verhandlungen, noch nicht über den Beitritt der beiden Länder. Paketlösungen, wie wir sie in der Vergangenheit gesehen haben, oder politische Entscheidungen, Prozesse zu beschleunigen, darf es nicht wieder geben. Darin sind wir uns hoffentlich alle einig. ({3}) Die Bundesregierung will ihre Zustimmung, was Albanien angeht, unter den Vorbehalt weiterer Reformen stellen, zum Beispiel beim Wahlrecht, der Korruptionsbekämpfung oder beim Aufbau der Justiz. Wenn wir als Deutscher Bundestag heute unser Einvernehmen erklären, geben wir das Verfahren aus der Hand. ({4}) Meine Fraktion sieht das kritisch. Für uns ist es genau umgekehrt richtig: erst die Bedingungen erfüllen, dann das Einvernehmen herstellen. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns unsere gemeinsamen Anstrengungen für Freiheitsrechte, Bürgerrechte und Rechtsstaatlichkeit in den Ländern des Westbalkans fortsetzen. Geben wir vor allem der jungen Generation die Chance auf eine gemeinsame europäische Zukunft. Sagen wir Ja zum Beginn von Beitrittsverhandlungen für Nordmazedonien und Albanien: für Nordmazedonien heute und für Albanien, sobald die Bedingungen erfüllt sind. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner: der Kollege Andrej Hunko, Fraktion Die Linke. ({0})

Andrej Hunko (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004060, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden heute über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien. Grundlage dieser Beitrittsverhandlungen sind die sogenannten Kopenhagener Kriterien. Zu den Kopenhagener Kriterien gehören auch politische Kriterien, und all die Unterschiede, die wir gehört haben, beziehen sich auf die Frage, wie weit die politischen Kriterien in puncto Rechtsstaatlichkeit usw. erfüllt sind. Die Linke ist grundsätzlich für diese politischen Kriterien. Aber wir haben noch weitere Kriterien. Wir haben ökonomische Kriterien, die wir sehr kritisch sehen, was wir bei jeder Beitrittsrunde gesagt haben. Hier sehen wir ein großes Problem. In dem Antrag der Regierungsfraktionen, über den wir heute abstimmen, ist die Unterwerfung Albaniens und Nordmazedoniens unter den Stabilitäts- und Wachstumspakt bzw. unter den sogenannten Maastrichter Vertrag vorgesehen. Wir lehnen das ab. ({0}) Wir wollen eigentlich überhaupt keine Unterwerfung von anderen Ländern. Aber wir glauben, dass die Auswirkungen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes insbesondere auf dem Balkan dazu führen, dass dort die Löhne niedrig bleiben, dass dort zu wenig investiert wird und dass vor allen Dingen gute Bedingungen für ausländische Konzerne geschaffen werden. Das führt in diesen Ländern wiederum dazu, dass junge Menschen diese Länder verlassen und Braindrain stattfindet, und das schwächt wiederum die Perspektive für Reformen in diesen Ländern. Das ist ein Teufelskreis, den wir nicht wollen. Wir fürchten, mit dieser Orientierung wird dieser Teufelskreis fortgesetzt. ({1}) Ein Beispiel. In Albanien haben im letzten Winter über 30 000 Studenten gegen die Erhöhung von Studiengebühren protestiert und mehr Mitsprache an den Universitäten gefordert. Das ist die Kraft, aus der Reformen und die Erneuerung der Gesellschaften hervorgehen müssen. ({2}) Aber ich glaube – deswegen ist es so wichtig, dass wir einmal darüber diskutieren –, dass diese Kriterien alleine nicht ausreichen. Wir wären auch dafür, dass es soziale Kriterien für einen Beitritt gibt. Wir wären dafür, dass es Nachhaltigkeitskriterien gibt. All das ist leider nicht vorgesehen. Deswegen werden wir diesen konkreten Antrag ablehnen. ({3}) Aber man muss sich auch die Frage der Perspektive des Balkans stellen. Ich habe es schon gesagt: Wenn die jungen Menschen die Region verlassen, wird es in der Region sehr, sehr schwierig werden. Es wird auch sehr schwierig werden, wenn zum Beispiel Serbien, das ja Beitrittskandidat ist, in einigen Jahren vor die Alternative gestellt wird, entweder der EU beizutreten oder in der Eurasischen Wirtschaftsunion zu bleiben. Auch das ist eine falsche Perspektive. Wir brauchen hier auf internationaler Ebene gute Beziehungen – auch zu Russland – und nicht Russland oder Europa als Alternativen. Auch dafür tritt Die Linke ein. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege Hunko. – Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf der Ehrentribüne hat der Vizepremierminister von Nordmazedonien, Herr Dr. Osmani, Platz genommen. Ich heiße Sie herzlich willkommen! ({0}) Wir fahren fort mit der Aussprache. Das Wort hat für Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Manuel Sarrazin. ({1})

Manuel Sarrazin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003889, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrter Herr Osmani! Ich bin froh, dass wir heute endlich über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen entscheiden. Es ist ein längst überfälliger Schritt. ({0}) Beide Länder haben enorme Fortschritte erzielt. Nordmazedonien hat Geschichte geschrieben mit der Einigung im Namensstreit mit Griechenland. Albanien hat eine in der Region bisher beispiellose Korruptionsüberprüfung von Richterinnen und Staatsanwälten durchgezogen. Beide Länder haben die von der Europäischen Union gestellten Bedingungen für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen erfüllt. Die EU muss deshalb jetzt auch zu ihrem Versprechen stehen und diese beginnen. ({1}) Ich sage Ihnen: Nichts wird besser, wenn wir die Aufnahme der Verhandlungen weiter verzögern. Nichts wird besser, wenn wir damit den Reformprozess verzögern. Nichts anderes als das Verzögern, ja sogar das Torpedieren der Reformen, die diese Länder brauchen, ist es doch, wenn wir an dieser Stelle nicht zu unserer Zusage stehen. ({2}) Die Verpflichtung, beide Länder fair zu behandeln, wird Ihrem Antrag zu Albanien nicht gerecht. Die Konditionen sind nicht fair, nicht im Vergleich mit den anderen Ländern der Region und auch nicht mit dem Blick auf die Reformen in Albanien selber. Dieses Zögern, dieses Nichtzutrauen, diese vornehme Zurückhaltung, die Unentschlossenheit, ja, man könnte sagen, diese Große Koalition – all das beschädigt die Glaubwürdigkeit der Erweiterungspolitik der Europäischen Union und damit der entscheidenden Kraft für Veränderungen in der Region. ({3}) Der Glaube an eine europäische Zukunft ist in der Region immer noch Friedenspolitik. Eine Politik, die den Glauben an eine europäische Zukunft des eigenen Landes nährt, ist aber auch eine Politik, die dazu führt, dass die Menschen diese Zukunft im eigenen Land suchen und nicht woanders. Diesem Glauben, dieser Perspektive schadet Ihre Unentschlossenheit. ({4}) Jetzt kann man darüber streiten, inwieweit welche Bedingungen erfüllt sind oder nicht. Bei dieser Frage haben verschiedene Menschen immer verschiedene Perspektiven. Was aber gar nicht geht, ist, dass der Bundestag neue Kriterien erfindet, neue Verfahren einführt, die nicht innerhalb der Europäischen Union vereinbart sind. ({5}) Es ist doch nicht der Deutsche Bundestag, der final zu entscheiden hat, wie ein Land dasteht. ({6}) Dafür haben wir doch die Europäische Kommission. Dafür haben wir doch den Europäischen Rat. ({7}) Dass Sie in Ihrem Antrag auch noch eine vermeintliche Auftragsjustiz einfordern und der albanischen Opposition im Prozess vor der Aufnahme von Verhandlungen eine Spoilerrolle zuweisen, das ist eine Einmischung in die albanische Innenpolitik, die meiner Ansicht nach falsch und gefährlich ist. Das muss man Ihnen hier aufs Brot schmieren. ({8}) Ich bitte Sie deshalb: Stimmen Sie unserem Änderungsantrag zu. Er bringt den Bundestag zurück ins europäische Verfahren und raus aus der Rolle eines arroganten Besserwissers, der seine wohlverdienten Beteiligungsrechte, die wichtig sind, in diesem Fall schlecht benutzt, eigentlich sogar missbraucht. ({9}) Wir sind froh, dass wir jetzt endlich zu der Entscheidung kommen. Wir hätten schon letztes Jahr beiden Ländern das Go geben wollen. Wir stimmen Ihrem Antrag nur deswegen zu, weil wir die Beitrittsverhandlungen eröffnen wollen, und nicht, weil der Antrag zu Albanien unserer Ansicht nach inhaltlich gerechtfertigt ist. Danke sehr. ({10})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in dieser Debatte ist der Kollege Metin Hakverdi für die Fraktion der SPD. ({0})

Metin Hakverdi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004289, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie wichtig und auch richtig die heutige Entscheidung ist, zeigt ein nüchterner Blick auf die Landkarte Europas: Der Westbalkan liegt mitten in Europa, und wie eine Insel liegen die Länder des Westbalkans auch mitten in der Europäischen Union – als letzter nichtintegrierter Fleck. Die politische Integration in die Europäische Union ist natürlich im Interesse dieser Länder, aber eben auch in unserem nationalen und damit im europäischen Interesse. ({0}) Damit stabilisieren wir die Region, und damit leisten wir einen wichtigen Beitrag für die Sicherheit Europas. So verhindern wir nachhaltig, dass außereuropäische Mächte politisch Fuß fassen in der Region. China, Russland, Saudi-Arabien und auch die Türkei sind schon heute sehr aktiv auf dem Balkan. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir treffen diese Entscheidung auch zur richtigen Zeit. Es ist wichtig, jetzt den Weg für Beitrittsverhandlungen freizumachen. Wir leben in einer Zeit des globalen Umbruchs. Die Welt sortiert sich neu. Jetzt – heute – müssen wir auf dem Balkan für politische Orientierung sorgen. Das tun wir hier und heute im Deutschen Bundestag. Wir wissen dabei natürlich, dass auf dem Balkan noch viel zu tun ist. Albanien und Nordmazedonien haben noch einen langen Weg vor sich. Bis zum tatsächlichen Beitritt liegen noch viel Arbeit und erhebliche Mühen vor den beiden. Beitrittsverhandlungen führen nicht automatisch zum Beitritt. Auch das muss allen klar sein, auch allen hier bei uns. Kolleginnen und Kollegen, es ist wichtig, dass wir als Bundestag heute dies entscheiden. In dieser wichtigen sicherheitspolitischen Frage schaffen wir damit auch Orientierung für unsere europäischen Partner: Wir glauben an eine europäische Zukunft. ({1}) Zum Abschluss danke ich allen Kolleginnen und Kollegen für die intensive Arbeit der letzten Monate. Ich freue mich, dass wir uns in dieser sehr schwierigen Frage auf einen Kompromiss einigen konnten. Der heutige Tag kann historisch werden, wenn Nordmazedonien und Albanien diese Chance beim Schopfe packen und in ihrem eigenen Interesse den nun geforderten Reformprozess erfolgreich angehen. Glück auf! Vielen Dank. ({2})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Peter Beyer. ({0})

Peter Beyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004010, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es geht heute um Nordmazedonien und um Albanien. Das sind zwei Staaten des sogenannten westlichen Balkans, die umschlossen sind – Kollege Josip Juratovic hat das eingangs schon gesagt – von EU-Mitgliedstaaten. Sie liegen also, wie Josip es sagte, im Innenhof bzw., so würde ich es sagen, im Zentrum, im Herzen der Europäischen Union. Ich will auch darauf hinweisen, dass Albanien NATO-Mitgliedstaat ist. Es ist also kein unbekanntes Land für uns. Und wir arbeiten im Europarat bereits seit 1995 mit Albanien zusammen, das dort auch Mitglied ist. Um es hier ganz klar zu sagen: Wir von der Unionsbundestagsfraktion bekennen uns klar zu den EU-Beitrittsperspektiven von Thessaloniki aus dem Jahr 2003. Wir sollten uns hier unsere eigene Glaubwürdigkeit erhalten. Wer heute sagt, es sei immer noch zu früh, jetzt die Beitrittsverhandlungen zu starten, der muss sich sagen lassen, dass dadurch das gebetsmühlenartige Wiederholen des Satzes: „Wir stehen gleichwohl zur EU-Perspektive von Thessaloniki“, zu einem bloßen Lippenbekenntnis verkümmert. ({0}) Meine Damen und Herren, die Kritiker von Beitrittsverhandlungen sollten sich auch die Frage gefallen lassen, ob sie ernsthaft glauben, dass eine Zusammenarbeit, eine Kooperation zwischen den Sicherheitsbehörden der Staaten Albanien und Nordmazedonien mit den Sicherheitsbehörden der übrigen EU-Mitgliedstaaten leichter ist, wenn Albanien und Nordmazedonien draußen stehen, oder ob es nicht klüger ist, sie einzubinden in einen kontrollierten Prozess der Annäherung an unsere Standards. ({1}) Übrigens haben unsere Diskussionen in den letzten Wochen und Monaten, die ja durchaus kontrovers geführt wurden, aber auch qualitativ hochwertig waren, bereits Wirkung gezeigt. In Albanien beispielsweise wurde ein Round Table einberufen, um die Wahlrechtsreform anzugehen. Das reicht natürlich noch nicht. Wir wollen hier Ergebnisse sehen. Wir verschließen natürlich auch nicht die Augen vor der organisierten Kriminalität, insbesondere in Albanien, vor dem Drogenhandel bis in höchste Staatsämter hinauf. Deswegen möchte ich an dieser Stelle schon sagen, dass wir zur Kenntnis genommen haben, dass ein hochrangiges ehemaliges Mitglied der albanischen Regierung, nämlich ein ehemaliger Innenminister, verurteilt worden ist, das Strafmaß aber weit unterhalb der Forderung der Staatsanwaltschaft von zwölf Jahren Gefängnis wegen Drogenhandels blieb, er vielmehr nur wegen Amtsmissbrauchs zu einer Nichtgefängnisstrafe verurteilt wurde. Wir lassen uns von so etwas nicht blenden. Wir fordern auch für hochrangige Personen entsprechende Verurteilungen ein, meine Damen und Herren. ({2}) Von daher ist es richtig und klug, wie es die Großkoalitionäre gemacht haben, zwei Anträge zu verfassen, die strikte Konditionierungen und insbesondere in Bezug auf Albanien hohe Hürden beinhalten. Deren Einhaltung müssen wir aber einfordern, auch im Sinne und im Interesse der Menschen in den Ländern Albanien und Nordmazedonien, damit es einen geordneten Einzug, eine geordnete Hinführung zur Europäischen Union geben kann. Das ist ein guter Weg, den wir hier beschreiten. Wir als Bundestag werden es selbst in der Hand haben, mit dem Instrumentenkasten, den wir uns mit diesen Anträgen geben, auf den Prozess in den nächsten Jahren gestaltend einzuwirken. Ich möchte zum Ende meiner Rede noch zwei Punkte ansprechen: Erstens. Wir wollen heute ein starkes Signal in den Westbalkan senden, an die junge Generation in den beiden Beitrittsländern Albanien und Nordmazedonien, an die jungen Menschen, die allein mit dem Beitrittsprozess so viel Hoffnung auf eine positive Dynamik verbinden. Das zweite starke Signal, das wir aussenden – das ist mein letzter Punkt, Herr Präsident –, ist gerichtet an die Drittstaaten, die, wie es ein Vorredner in dieser Debatte gesagt hat, schon darauf lauern, dass die EU-Annäherung nicht stattfindet, also an die Türkei, Russland, China und Saudi-Arabien. Diese Staaten sollen gewiss sein, dass die EU diese Region nicht aufgibt; denn diese Länder liegen im Herzen Europas. Sie haben eine Zukunft in der EU. Das sieht auch die große Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten so. Ich persönlich sehe das auch so. Es ist in unserem ureigenen Interesse, heute diese zwei starken Signale in die Region des westlichen Balkans und übrigens auch in unser Land und die übrigen Länder der Europäischen Union zu senden. Herzlichen Dank. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist für die Fraktion der SPD der Kollege Christian Petry. ({0})

Christian Petry (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004605, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sehr geehrter Herr Osmani! Heute ist ein guter Tag für Europa. ({0}) Viele in Europa warten auf die Entscheidung, ({1}) wie wir uns als Deutscher Bundestag positionieren. Viele um uns herum orientieren sich an unserer Entscheidung, und es ist gut, dass wir diese Entscheidung heute treffen. Und wenn wir eine positive Entscheidung in dem Sinne treffen, wie sie in den Anträgen formuliert ist, ist dies ein guter Tag für Europa. ({2}) Die Europäische Kommission und die Hohe Vertreterin haben in ihren Berichten vom 29. Mai 2019 die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen empfohlen. An die rechte Seite dieses Hauses gewandt: Sie betreiben hier Demagogie. Wenn Sie die Kopenhagener Kriterien zitieren, die erst am Ende des Prozesses eingehalten werden müssen, dann weiß man, warum Sie das tun. Sie wollen nämlich Angst, Schrecken und Unsicherheit verbreiten. Das ist das übliche Schema. Es ist sehr wichtig, dass dieser Prozess jetzt losgehen kann; denn, Herr Hunko, die Zivilgesellschaft wartet auf diese Beschlüsse. ({3}) Das ist eine Hilfe dort vor Ort: für die Demokratisierung, für die Reformen in diesem Land. Das ist ein wichtiger Schritt. Auch die Regierungen und die politisch Beteiligten bekommen mit diesem Verfahren die notwendige Orientierung, um ihre Reformvorhaben durchzusetzen. Manuel, die Wahlrechtsreform soll sich an den Empfehlungen von OSZE bzw. ODIHR orientieren; das steht im Antrag. Außerdem soll die Einigung der politischen Kräfte – so steht es im Report – Voraussetzung sein. Das ist keine neue Erfindung; es steht nur zusätzlich drin. Ich persönlich hätte es nicht gebraucht, es schadet aber auch nicht. Dass dies so erfüllt sein muss, ist eine Bestärkung. Auch das ist in Ordnung, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Zum Schluss möchte ich noch eines sagen: Die Länder sind mit dem Prespa-Abkommen in Vorlage getreten. Ich weiß nicht, wie viele Regierungen in Europa in der Lage gewesen wären, auch gegen Stimmungslagen im eigenen Land ein sehr sinnvolles und gutes Abkommen zu schließen. Allein deshalb ist es wichtig, dass wir dies mit dem Eröffnen des Beitrittsprozesses honorieren, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({5}) Der Vetting-Prozess in Albanien ist genannt worden. Auch das ist ein Vorzeigeprojekt. Wir werden im Prozess kontrollieren, ob die Dinge, die zu tun sind, auch getan werden. Florian Hahn, bei dir möchte ich mich ganz herzlich bedanken. Es war zwar in der Sache ein schwieriges, aber ein kollegiales und gutes Zusammenarbeiten. Das, was heute hier vorliegt, kann sich, glaube ich, sehen lassen. – Herzlichen Dank. In diesem Sinne: Liebe Kolleginnen und Kollegen – auch die, die noch zögern –, stimmen Sie bitte zu! Dies wird ein guter Tag für Europa. Glück auf! ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe deshalb die Aussprache.

Markus Frohnmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004721, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Zeiten, in denen deutsche Politiker Wirtschaftsflüchtlinge per Wassertaxi nach Deutschland befördern wollen, Regierungschefs sich von einer 16-jährigen Schulschwänzerin vorführen lassen und Grünenpolitiker Drogendealer in Stadtparks für mindestens genauso schutzwürdig ({0}) wie Juchtenkäfer im Stuttgarter Schlossgarten halten, da war es ja nur konsequent, dass diese Regierung jetzt auch deutsche Arbeitsämter im Ausland baut. ({1}) Sie nennen das offiziell Migrationsberatungszentren. ({2}) Es gibt sie beispielsweise im Irak, in Afghanistan, in Nigeria oder im Senegal. Minister Müller hat dazu einen bunten Bauchladen an Dienstleistungen, die im Rahmen dieses Programmes angeboten werden: Berufs- und Ausbildungsberatung, Berufsmessen, Vermittlung in Jobs und in entwicklungspolitische Programme und sogar die Segnungen unseres Sozialstaates mit kostenloser Gesundheitsversorgung und Wohnungsvermittlung. Das hat den deutschen Steuerzahler alleine in den letzten zwei Jahren knapp 300 Millionen Euro gekostet. Diese Regierung bezeichnet „Perspektive Heimat“ offiziell als Rückkehrprogramm. Doch wie viel Rückkehr steckt in diesem Programm tatsächlich drin? Ungefähr so viel wie eigene Gedanken in Frau Giffeys Doktorarbeit. ({3}) Ihr Weltarbeitsamt steht jedem offen; jedem, also auch Migranten, die nie in Deutschland waren und auch nichts mit Deutschland zu tun haben, vor allem aber auch Einheimischen, die ihr Land noch nie verlassen haben. Das sind also de facto ausländische Sozialhilfeempfänger! Das ist weiß Gott nicht die Minderheit. Auf einen Rückkehrer aus Deutschland kommen neun dieser ausländischen Sozialhilfeempfänger. ({4}) Trotz der wenigen Rückkehrer weiß diese Regierung noch nicht einmal, ob das illegale oder legale Migranten waren. Sie hören richtig, meine Damen und Herren: Vom Programm „Perspektive Heimat“ können und sollen gerade auch illegale Asylforderer profitieren. Müllers Ministerium wirbt auf der eigenen Internetseite ganz offen damit. Da gibt es zum Beispiel den Fall von Mame Ndiaga. Herr Ndiaga kam 2015 aus dem Senegal nach Deutschland. Er stellte einen Antrag auf Asyl, der abgelehnt wurde. ({5}) – Das ist keine Volksverhetzung. Das können Sie auf der Seite des BMZ nachlesen. Einfach mal klicken und nachschauen. ({6}) Danach musste er in den Senegal zurückkehren, so wie es unsere Gesetze verlangen. Zurück im Senegal träumte Mame Ndiaga von der Wiedereinreise nach Deutschland. Also informierte er sich im Migrationsberatungszentrum über Müllers bunten Bauchladen, gefüllt mit einem Strauß an Sozialleistungen. Ruckzuck wird er von Müllers schneller Eingreiftruppe zum Gebäudemanager im „Bayerischen Haus“ im Senegal gemacht. Der ganze Arbeitsplatz existiert nur deshalb, weil der Freistaat Bayern und der Bund über die GIZ dafür bezahlen. Was lernen wir daraus? Nachdem Mame Ndiaga illegal nach Deutschland kam und das Land wieder verlassen musste, wird ihm jetzt eine Arbeit als Hausmeister vom deutschen Steuerzahler im Senegal finanziert. Mame Ndiaga freut sich natürlich und sagt dazu – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten –: So muss ich nun nicht mehr meine Heimat verlassen und nach Bayern auswandern – Bayern kommt stattdessen zu mir. ({7}) Da kann man dem Herrn Ndiaga nur sagen: Herzlichen Glückwunsch, Kerle! Die Dummheit dieser Regierung sofort erkannt und zum eigenen Vorteil genutzt. ({8}) Die deutsche Bundesregierung ist die einzige Regierung, die ein derartiges Programm betreibt, weil sie nicht möchte – ich zitiere Minister Müller –, dass Menschen wie Herr Ndiaga „als Loser irgendwo an der Gangway abgeladen werden“. Nur diese Regierung glaubt, dass unser Sozialstaat von Flensburg bis nach Kapstadt ausgedehnt werden muss. Diese Regierung erpresst das eigene Volk und sagt: Wenn wir nicht Herrn Ndiaga und allen anderen Menschen in Afrika Arbeitsplätze stellen, Wohnungen suchen und am besten noch die Krankenversicherung bezahlen, dann kommen diese Menschen zu uns. Sie nennen das „Rückkehrhilfe“ und „Fluchtursachenbekämpfung“, ich nenne das moralische Erpressung. ({9}) Das Programm „Perspektive Heimat“ gehört sofort eingestellt! Vielen Dank. ({10})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Volkmar Klein für die Fraktion CDU/CSU. ({0})

Volkmar Klein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004071, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, das wirklich einzig Gute an diesem hier vorliegenden Antrag ist, dass wir mal über das Programm „Perspektive Heimat“ reden können – ich meine, durchaus ein Erfolgsmodell – und dass wir darüber reden, was unsere Philosophie ist, nämlich Perspektiven für die Menschen dort zu schaffen, wo sie leben. ({0}) Das Programm „Perspektive Heimat“ ist ja ganz bewusst viel mehr als eine Rückkehrinitiative; das kann man im Übrigen auch nachlesen. ({1}) Da steht nämlich: Es geht vor allen Dingen um Bleibeperspektiven. Es geht um Rückkehr, und es geht um Reintegration. Eigentlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist das ja auch ein Stück Gesamtphilosophie unserer Entwicklungszusammenarbeit und des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Es geht uns doch darum, Perspektiven und Jobs für Menschen zu schaffen. Das ist etwas, was unseren Werten entspricht. Das ist etwas, was ethisch geboten ist. Aber Perspektiven für Menschen zu schaffen, ist auch ein Stück christlicher Nächstenliebe. Aber jenseits dieser ethischen Perspektive ist es natürlich auch in unserem eigenen deutschen Interesse, dass die Menschen dort, wo sie leben, Perspektiven haben. Da fragt man sich, warum die AfD das zum wiederholten Male infrage stellt – im Grunde ja nicht nur dieses Programm, sondern Entwicklungszusammenarbeit insgesamt. Warum polemisieren die ständig gegen die Entwicklungszusammenarbeit? Warum polemisieren die dagegen, dass es uns ein Anliegen ist, Perspektiven für Menschen zu schaffen? ({2}) Vielleicht weil sie gar nicht wollen, dass die Menschen woanders Perspektiven haben; vielleicht weil sie wollen, dass diese Menschen ihre Chancen woanders suchen; vielleicht weil sie wollen, dass sie anschließend gegen diese Menschen polemisieren und ihre dumpfen Thesen damit unterfüttern können. Das ist nicht anständig. ({3}) Wir wollen genau das Gegenteil. Wir wollen, dass Menschen Jobs und Perspektiven haben. Wir wollen, dass ein Programm wie „Perspektive Heimat“ erfolgreich ist. ({4}) Wir wollen, dass auch innerhalb dieses Programms Menschen über Gefahren informiert werden, die auftreten können, wenn man sich als Migrant auf den Weg macht, und dass vor allen Dingen auch über Alternativen in den betreffenden Ländern informiert wird. Das wollen wir. Ihr Anliegen schadet Deutschland. Ihr Anliegen ist falsch. Selbst die Zahlen in diesem Antrag sind falsch. Man muss schon ein bisschen zwischen ausgegebenem Geld und zugesagtem Geld, zwischen Barmitteln und Verpflichtungsermächtigungen differenzieren können. 300 Millionen Euro sind zugesagt, aber noch längst nicht ausgegeben. Dann die bisherigen Zwischenergebnisse mit den insgesamt zugesagten Mitteln zu vergleichen, ist nicht anständig. ({5}) Jetzt haben wir gerade gehört, dass es ganz schlimm sei, dass sich im Rahmen dieses Programms auch um Menschen gekümmert wird, die in den Ländern leben. Ich finde, das ist gerade das Gute. Wenn bisher, Stand jetzt, bereits 433 000 Einzelmaßnahmen aus genau diesem Programm finanziert werden konnten und davon weit über 80 Prozent für Menschen in ihren Heimatländern, dann entspricht das genau unserer Philosophie: Chancen für die Menschen dort, wo sie leben. Jeder, der das nicht will, schadet Deutschland. ({6}) Der muss nur auch die Traute haben, das zu sagen. ({7}) Abschließend: Das alles reicht uns aber bei Weitem nicht, auch wenn ich meine, dass die Zahl schon eindrucksvoll ist. Das, was über dieses Programm – das ist aber nur ein Teil unserer Entwicklungszusammenarbeit – gemacht wird, reicht uns bei Weitem nicht. Deswegen ist es richtig, dass wir hier Cash for Work machen. Da kann man von Sozialamt sprechen oder von was auch immer Sie eben geredet haben. Wenn im Nordirak Menschen dafür bezahlt werden, dass sie ihre Heimat wieder aufbauen und ihre Chancen eben nicht woanders suchen, dann ist das in unserem Interesse. Dann ist das im Interesse dieser Menschen. Die Reformpartnerschaften sind im Interesse dieser Menschen, sind aber auch in unserem Interesse. Deswegen würde ich vorschlagen – ohnehin lehnen wir den Antrag ab –: Lasst uns gemeinsam überlegen, wie wir mit unserem Anliegen in Zukunft noch mehr Erfolge erzielen. Aber lasst uns diesen Unfug eindeutig ablehnen. Vielen Dank. ({8})

Olaf In der Beek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Angesichts dieses AfD-Antrags bin ich ja schon fast geneigt, die Bundesregierung ein bisschen in Schutz zu nehmen, ({0}) aber auch nur fast; denn die Bundesregierung ist daran selbst schuld. Das Programm „Perspektive Heimat“ ist nichts anderes als ein weiterer Scheinriese aus Ihrem Haus, Herr Müller. Ob „Marshallplan mit Afrika“, milliardenschwere Sonderinitiativen oder eben „Perspektive Heimat“: Wenn es um Programmtitel geht, ist das Entwicklungsministerium wirklich ganz groß. ({1}) Wenn es um die Umsetzung geht, entpuppt sich der Scheinriese aber eher als Zwerg. Das Programm „Perspektive Heimat“ ist nichts anderes als bayerische Innenpolitik, Herr Minister, für Sie, für Herrn Seehofer, für Herrn Söder. ({2}) Damit können Sie sich ins bayerische Festzelt stellen und sagen: Guckt mal! Wir stecken zwischen 2017 und 2020 vielleicht eine halbe Milliarde in ein Programm, um dafür zu sorgen, dass wir den Migranten wieder wegschicken können. ({3}) Dabei weckt die Koalition mit den Namen des Programms und mit der Ankündigung, allen Rückkehrern aus Deutschland ein Jobangebot im Herkunftsland machen zu wollen, ({4}) Erwartungen, die sie nie und nimmer erfüllen kann. Weniger als 1 000 Rückkehrer aus Deutschland wurden seit Beginn des Programms 2017 in Beschäftigungsverhältnisse durch die Beraterzentren vermittelt. Die Unterstützung von über 200 000 Einheimischen, Binnenvertriebenen und anderen Personengruppen, die nichts mit dem ursprünglichen Ziel des Programms – Schaffung von Perspektiven für Rückkehrer aus Deutschland – zu tun haben, ist nichts anderes als Schönheitsreparaturen, damit die Zahlen stimmen. ({5}) Und nicht einmal hier gibt es vernünftige Daten dazu, ob das überhaupt erfolgreich war. ({6}) Für diese Bilanz, lieber Herr Minister, sind diese vielen Millionen definitiv zu viel. ({7}) Das Geld, liebe Koalitionäre, könnten Sie sinnvoller für den Aufbau von Arbeitsplätzen in Entwicklungsländern einsetzen, anstatt zu versuchen, Leute dort in Arbeitsplätze zu vermitteln, wo es überhaupt keine gibt. ({8}) Anstatt großer Namen für scheinbare Entwicklungsprojekte braucht es endlich große Maßnahmen. Wir können nicht immer nur Perspektiven versprechen; wir müssen auch Perspektiven schaffen. Und: Wir brauchen eine EZ, eine Entwicklungszusammenarbeit, die vor Ort Infrastruktur und Rahmenbedingungen schafft, damit sich mehr Unternehmen ansiedeln und gründen. ({9}) Dafür muss man endlich auch die Wirtschaft richtig mitnehmen, anstatt ihr Projekte einfach vorzusetzen. ({10}) Wir brauchen eine Entwicklungszusammenarbeit, die ehrlich ist und sagt: Da, wo Menschen keine Gesundheitsversorgung und keine Bildungschancen haben, schaffen wir erst mal diese Grundlagen. ({11}) Und wir brauchen eine Entwicklungszusammenarbeit, die mutig ist. Wir werden unserer internationalen Verantwortung nicht gerecht, indem wir uns immer weiter ins nationale Klein-Klein verstricken. ({12}) Drei Dinge sollten wir tun: Erstens. Wir müssen unsere eigene Entwicklungszusammenarbeit entrümpeln und verschlanken. Wenn 12 von 16 Ressorts der Bundesregierung im Bereich Entwicklungszusammenarbeit irgendwie und irgendwo aktiv sind, dann spricht das weder für Effizienz noch für Effektivität. ({13}) Zweitens. Wir müssen mit unseren europäischen Partnern endlich zusammenarbeiten. ({14}) Nicht jedes EU-Land muss in jedem Entwicklungsland alles machen; wir brauchen eine sinnvolle Arbeitsteilung. ({15}) Drittens. Wir müssen uns international stärker engagieren. Multilateralismus, also internationale Zusammenarbeit, darf nicht länger nur ein Lippenbekenntnis der Koalition vor UN-Gipfeln sein. Nur so wird es gelingen, dass wir Menschen Perspektiven verschaffen. Dafür braucht es keinen tollen Namen, nur gute Regierungsarbeit. Zum Schluss. Ich freue mich nun schon auf die Beratungen im Ausschuss und hoffe, dass wir wenigstens dort etwas Licht ins Dunkel der bisher dürftigen Zahlen der Bundesregierung zu diesem Programm bringen. Vielen Dank. ({16})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin in der Debatte ist für die Fraktion der SPD die Kollegin Ute Vogt. ({0})

Ute Vogt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002823, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege in der Beek, wenn Sie so von guter Regierung sprechen, kann ich mir nicht verkneifen, zu sagen: Sie hätten die Chance gehabt ({0}) und hätten es tatsächlich beweisen können, aber Sie haben gekniffen und es stattdessen vorgezogen, hier permanent infrage zu stellen, was die Große Koalition an, wie ich finde, richtigen Programmen auf den Weg bringt. Wir befassen uns heute mit dem Programm „Perspektive Heimat“. Da kann ich nur empfehlen, vor allem den Antragstellern: Befassen Sie sich mal mit dem Sinn der deutschen Sprache! Da steht „Perspektive Heimat“, und das bedeutet: Wir geben den Menschen in ihren Heimatländern Perspektive. ({1}) Es geht darum, dass Menschen eine Qualifikation erreichen können. ({2}) Es geht darum, dass Menschen Weiterbildung bekommen, die Chance bekommen, entsprechend in Berufe vermittelt zu werden. Das ist ein Teil, aber auch ein wichtiger Teil. ({3}) Ein anderer wichtiger Teil ist auch die psychosoziale Betreuung. Es geht darum, die Menschen zu begleiten, und natürlich werden auch Rückkehrer beteiligt. Es wird Rückkehrern eine Perspektive in der Heimat geschaffen, ({4}) aber nicht allein diesen. Es geht darum, die Heimatländer attraktiv zu halten. Das ist übrigens Sinn der Entwicklungszusammenarbeit. ({5}) Ich frage mich schon, warum der eine oder andere im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sitzt, ({6}) wenn er null Komma null Interesse daran hat, ({7}) dass wir in einer Weltgemeinschaft dafür sorgen, dass es Menschen in allen Ländern dieser Welt bessergeht, ({8}) weil wir wissen, dass die Probleme am Ende bei uns landen, wenn wir nicht vor Ort helfen, und genau dem dient dieses Programm. ({9}) Ich will Ihnen noch einen weiteren Hinweis geben: Menschen, die nach Deutschland einreisen und hier um Asyl bitten, dieses aber nicht bekommen können, ({10}) weil sie keine Verfolgungsgründe haben, sind ausreisepflichtig, aber noch nicht automatisch illegal; denn diese Menschen haben das Recht, dann, wenn sie eingereist sind, auch wieder auszureisen. Wir haben auch die Verpflichtung, dabei zu helfen, dass in den Heimatländern eine vernünftige Umgebung geschaffen wird, sodass es eben nicht zu einer Dauerwanderung kommt. Es geht darum, dass sich die Heimatländer stabilisieren und die Menschen dort in der Heimat bleiben können, was die meisten, die allermeisten Menschen auch am liebsten wollen. ({11}) Ich empfehle Ihnen wirklich: Befassen Sie sich tatsächlich mal mit dem Inhalt dieses Programms! Gehen Sie weg von falschen Fakten, die Sie verbreiten, ({12}) und konzentrieren Sie sich auch im Ausschuss vielleicht mal auf das, was dort berichtet wird! Nehmen Sie die Zahlen zur Kenntnis! ({13}) Schreiben Sie vielleicht mal mit! Dann wäre es vielleicht auch einfacher, hier mal Anträge zu schreiben, die ein gewisses fachliches Fundament haben. In diesem Sinne muss man sagen: So einen Antrag kann man leider nur ablehnen. ({14})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Eva-Maria Schreiber für die Fraktion Die Linke. ({0})

Eva Maria Schreiber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004882, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Rückkehr von Geflüchteten und Migranten in ihre Herkunftsländer ist seit 2017 zentrales Ziel des Entwicklungsministers. Deshalb begründete er das Programm „Perspektive Heimat“. Von Beginn an ging es um Entwicklungspolitik als Abschottungspolitik. Seehofer sei Dank! ({0}) Und das heißt: Rückkehrberatung in Deutschland. Das heißt: unterschiedliche Beratungsangebote in ausgewählten Zielländern. So soll Migration vorgebeugt werden . Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die AfD genau dieses Programm einstampfen möchte. ({1}) Wir lehnen den vorliegenden Antrag der AfD ab. ({2}) Ihre Kritik basiert wie immer auf einer einfachen Kosten-Nutzen-Rechnung. Das Programm sei teuer, habe bisher aber keine messbaren Erfolge bei den zentralen Aufgaben von „Perspektive Heimat“ vorzuweisen. Außerdem – das haben wir ja gerade gehört – kritisieren Sie, dass Entwicklungsgelder für Menschen in und aus Entwicklungsländern ausgegeben werden. Im Ernst? Und der nächste Antrag heißt dann sicher „Entwicklungsgelder nur an Deutsche“. ({3}) Doch zurück zu „Perspektive Heimat“. Meine Fraktion und ich – das wissen Sie – zählen seit dem Start zu den schärfsten Kritikern. Und das hat drei Gründe: Erstens. Es ist nicht hinzunehmen, dass Entwicklungsministerium und GlZ sich zu Erfüllungsgehilfen von Abschottungs- und Rückführungspolitik machen lassen. ({4}) Es ist zynisch, wenn die GIZ im Rahmen des Programms in bayerische AnKER-Zentren geht, um verzweifelten Geflüchteten die Rückkehr in den Nordirak schmackhaft zu machen. Wie müssen die Männer und Frauen sich fühlen, wenn sie in einem Workshop lernen, wie sie den Gefahren durch Sprengfallen oder Blindgänger begegnen? Die Aufgabe der Bundesregierung wäre es, diesen Menschen dauerhafte Bleibeperspektiven in Deutschland zu bieten. ({5}) Zweitens. Wo es keine Perspektiven in den Heimatländern gibt, darf das Programm „Perspektive Heimat“ auch keine vortäuschen. ({6}) Beispiel Afghanistan: Aufgrund der katastrophalen Sicherheitslage konnte die GIZ dort kein Migrationsberatungszentrum eröffnen. Deshalb soll die Internationale Organisation für Migration, IOM, diesen gefährlichen Job übernehmen. Nach Auskunft der IOM ist es aber nicht möglich, in Kabul einen sicheren Ort für ein Büro zu finden. Trotzdem werden immer wieder Menschen nach Afghanistan abgeschoben. Es ist menschenverachtend, Schutzsuchenden Perspektiven vorzugaukeln, um sie dann in die Hölle zu schicken! ({7}) Drittens. Aus unserer Sicht ist es nicht die Aufgabe des Entwicklungsministeriums, individuelle Beratungen für potenzielle Migrantinnen und Rückkehrerinnen zu fördern; das sollten andere machen. Genau dies passiert jedoch im Rahmen von „Perspektive Heimat“. Stattdessen sollte sich das Ministerium an strukturbildenden Maßnahmen beteiligen, wie der Einrichtung legaler Migrationswege, der Stärkung lokaler Arbeitsmärkte und dem Aufbau von öffentlicher Gesundheits- und Bildungsinfrastruktur. ({8}) Wir lehnen das Programm „Perspektive Heimat“ in seiner jetzigen Form ab. ({9}) Wenn es aber darum geht, den Aufbau langfristiger Entwicklungsperspektiven in den Ländern des globalen Südens zu fördern, können Sie mit der Unterstützung meiner Fraktion jederzeit rechnen. Danke. ({10})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Uwe Kekeritz. ({0})

Uwe Kekeritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004066, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Eines vorweg: Ich bin kein Freund dieses Programms. Die Menschen haben Besseres verdient. ({0}) Allerdings: Die AfD missbraucht wie immer das Thema Migration, um die Inhaltslosigkeit ihrer Arbeit zu kaschieren. ({1}) Dass sie an den oft tragischen Schicksalen der Ärmsten der Armen, also von Geflüchteten, ihr Mütchen kühlt, sagt weit mehr über die AfD aus als über die Politik dieser Regierung. ({2}) Ich finde auch, dass der Begriff „Volksverhetzung“ nach Ihrer Rede – der fiel hier drüben – der richtige ist. ({3}) Herr Frohnmaier, Sie üben sich doch hier tatsächlich darin, den großen … ({4}) – Sie wissen, wen ich meine – nachzuahmen. ({5}) – Ja, wen denn? ({6}) Den Namen brauchen wir hier nicht. Es ist auf jeden Fall einfach eine Schande, wie Sie hier reden, wie Sie die Sprache missbrauchen, wie Sie permanent versuchen, die Deutschen als Opfer darzustellen. ({7}) Und wir wissen es ja: Je dunkler die Gegenwart gezeichnet wird, desto heller leuchtet die Vergangenheit, in die Sie zurückmöchten, ({8}) und das kann und darf ja wohl nicht der Stil in diesem Hause sein. ({9}) Nun aber zum Programm „Perspektive Heimat“. Sie wissen alle, dass es eine Metamorphose gab: Aus Seehofer wurde ein neuer Seehofer, ein Seehofer plus. Aber noch im Frühjahr letzten Jahres hatte er seinen Masterplan Migration vorgelegt. Herr Müller – ich bin nach wie vor enttäuscht, wenn ich mir das jetzt wieder ins Bewusstsein rufe –, Sie waren der einzige Minister, der an diesem Programm mitgearbeitet hat, und Sie haben sich dessen auch noch gerühmt. Schon zuvor, zu Beginn der Legislatur, haben Sie, Herr Müller, auch deutlich gemacht, dass ein Schwerpunkt Ihrer entwicklungspolitischen Arbeit die Rückführung sein werde. Das war eine Leistung, die ich überhaupt nicht verstehe. Entwicklungspolitik und Rückführung gehören einfach nicht zusammen. Rückführung hat einen ganz anderen Hintergrund, und es kann nicht die Aufgabe des Entwicklungsministers sein, hier tätig zu werden. ({10}) – Ja, aber Sie haben gesagt, es ist ein Schwerpunkt. Das lässt sich nachlesen. ({11}) Wenn wir uns einmal anschauen, welche Länder denn alle in diese Kategorie hineingehören, stellen wir fest: Auch Afghanistan gehört zu den Zielländern dieses Programms. „Perspektive Heimat“ heißt das Programm. Welche Perspektive geben Sie eigentlich den Afghanen, die zurückgeführt werden? Sie wissen ganz genau, welche Perspektive sie erwartet. Das ist interne Flucht, das ist ein Kampf ums Überleben, und Sie wissen auch ganz genau, dass die Menschen, die zurückgeführt werden, dort ganz besonderen Gefahren ausgesetzt sind. ({12}) Afghanistan ist so gefährlich, dass selbst die Bundesregierung vor Ort keine Beratungen durchführt. Afghanistan ist nicht sicher, und das weiß auch die Bundesregierung. Trotzdem schieben Sie munter nach Afghanistan ab. Ihre Argumentation, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, man könne ja zurückführen, damit diese Menschen auch ihre Heimat wiederaufbauen, halte ich für zynisch. Herr Klein, das ist zynisch. ({13}) Wenn es um den Aufbau der Heimat geht, wenn es um Migration geht, dann hätten Sie Millionen von Flüchtlingen und Migranten vor Ort. Dafür brauchen Sie auf jeden Fall niemanden aus Deutschland zurückzuführen – wenn es Ihnen um den Aufbau ginge. Es ist ja gut, dass in diesem Migrationszentrum eine Migrationsberatung erfolgt. ({14}) Aber Sie wissen, Herr Müller, dass Sie sehr kurze Beratungszeiten haben; denn es gibt keine legalen Flucht- oder Migrationswege. Da muss ich mich schon fragen: Was wollen die Leute eigentlich beraten?

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Sie müssen zum Schluss kommen, Herr Kollege.

Uwe Kekeritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004066, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme ganz schnell zum Schluss. – Jetzt hat mich das doch etwas – –

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Ich meine jetzt den Schlusssatz.

Uwe Kekeritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004066, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja. – Der Schlusssatz lautet: Vernünftige Entwicklungspolitik ist Strukturpolitik. Sorgen Sie doch endlich dafür, dass wir eine andere Landwirtschaftspolitik kriegen. ({0}) Sorgen Sie dafür, dass in Kriegs- und Krisengebiete keine Waffen mehr exportiert werden. Und nehmen Sie vor allen Dingen endlich einen Perspektivwechsel vor. Das hilft, Herr Müller. ({1})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Letzter Redner der Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Dr. Wolfgang Stefinger. ({0})

Dr. Wolfgang Stefinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004414, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Programm „Perspektive Heimat“ macht eines deutlich: dass es uns, der Unionsfraktion, und der Bundesregierung ernst ist mit der Hilfe vor Ort, und zwar vor Ort in den Entwicklungsländern. Was heißt denn „Perspektive geben“? Perspektive geben heißt Chancen geben, Perspektive geben heißt Möglichkeiten aufzeigen, und Perspektive geben heißt auch, Hoffnung zu wecken und diese Hoffnung zu stärken, um sie in die Entwicklung und Verwirklichung von Plänen und Zielen umzusetzen. Es geht bei „Perspektive Heimat“ darum, die Chancen auch im eigenen Land zu erkennen und zu nutzen. ({0}) Es geht darum, sein eigenes Leben gestalten zu können, das eigene Leben in die Hand zu nehmen. Genau hier setzt das Programm „Perspektive Heimat“ an. Es geht nämlich um Beratung, es geht um Schulung, es geht um das Aufzeigen von Chancen, und es geht auch um die Ideenentwicklung, Ideen für das eigene Land. Es geht auch um die Aufklärung vor Ort in den Ländern, nämlich darum, mit Versprechungen aufzuräumen, die so manch krimineller Schlepper den Menschen macht, zum Beispiel von einem Wolkenkuckucksheim Europa. Es geht darum, an dieser Stelle mit Illusionen über das Leben aufzuräumen – Stichwort „Aufklärung“. Es geht darum, Alternativen aufzuzeigen, Alternativen im eigenen Land und Perspektiven – eben „Perspektive Heimat“ – in der eigenen Heimat aufzuzeigen. Es geht um Existenzgründungen. Es geht um Jobperspektiven. Es geht um eine Zukunft für die eigene Familie. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich war im Irak. Ich habe im Irak den 22 Jahre alten Abu kennengelernt, der nach Deutschland geflohen ist und über „Perspektive Heimat“ in den Irak zurückgekehrt ist. Er hat Unterstützung bekommen durch das Entwicklungsministerium, durch unser neues Beratungszentrum vor Ort. Er hat sich dort selbstständig gemacht und kann jetzt für sich selber sorgen – für sich, für seine kranke Mutter, für seine Familie. Er hat „Perspektive Heimat“ genutzt. ({1}) Die Zahlen, liebe Kolleginnen und Kollegen, sprechen für sich. In zwei Jahren sind in den zehn wichtigsten Herkunftsländern Beratungsstellen aufgebaut worden. Rund 33 800 Maßnahmen zur Reintegration von Rückkehrern aus Deutschland wurden durchgeführt, rund 36 000 Maßnahmen zur Reintegration von Rückkehrern aus Drittländern. 350 000 Maßnahmen wurden für die lokale, nichtimmigrierte Bevölkerung durchgeführt, das heißt für die Personen, die sich nicht auf den Weg gemacht haben, sondern dank „Perspektive Heimat“ im Land geblieben sind, liebe Kolleginnen und Kollegen. Hierfür war es zum Beispiel notwendig, dass man rund 13 000 Maßnahmen zur Förderung von kleinen und mittelständischen Unternehmen durchgeführt hat, die wiederum Jobs geschaffen haben. Und nicht nur das, sondern am Ende haben sie auch dazu beigetragen, dass Menschen in ihrer Heimat eine Arbeit gefunden haben. ({2}) 116 000 Menschen haben durch „Perspektive Heimat“ einen Job gefunden. Hiervon profitieren nicht nur die Arbeitnehmer, sondern am Ende auch die Familien. Das Programm „Perspektive Heimat“ richtet sich an Einheimische. Es richtet sich an Flüchtlinge, an Migranten und an Rückkehrer. Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei aller Diskussion darf man eines nicht vergessen: Es geht hier um Menschen. Es geht um Menschen, die in ihrer Heimat bleiben wollen. Kein Mensch verlässt gerne seine Heimat, wenn er nicht muss oder keine andere Wahl hat. Ich möchte schließen mit der Schilderung einer Begegnung auch aus dem Irak. Eine Familie mit zwei kleinen Mädchen kam zurück aus Deutschland. Die beiden Mädchen konnten nach einem Jahr sehr gut Deutsch und haben bei dieser Begegnung gesagt: Wissen Sie, in Deutschland war es sehr schön, und die Leute waren sehr nett. Aber hier bin ich zu Hause. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Deshalb schließe ich die Aussprache.

Sabine Weiss (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11004187

Schönen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon eine ganz besondere Aufgabe, vor der die Hebammen stehen: eine menschliche Ausnahmesituation vor, während und nach der Geburt mit all den Sorgen, Ängsten, Schmerzen und mit ganz viel Glück angesichts eines neuen und einzigartigen Lebens, das beginnt. Zu den besonderen Anforderungen gehört es, in einer solchen Ausnahmesituation Zuversicht, Gelassenheit, menschliche und professionelle Souveränität ausstrahlen zu können. Um diese professionelle Souveränität geht es heute hier ganz besonders. Es ist uns wichtig, dass die Hebammen mit einer modernen Ausbildung gut darauf vorbereitet sind, und zwar in Theorie und Praxis. ({0}) Deshalb freut es mich, dass im Ergebnis der parlamentarischen Beratungen die Stundenkontingente für den berufspraktischen und den hochschulischen Teil des künftigen Studiums um je 100 Stunden erhöht wurden. Das wertet diese beiden eng aufeinander abgestimmten Teile noch einmal auf. Es geht uns aber auch darum, dass die neue Ausbildung so attraktiv ist, dass junge Menschen den Beruf auch wählen. Dazu wird beitragen, dass angehende Hebammen auch im Rahmen des Studiums künftig durchgängig eine Vergütung erhalten. ({1}) Die Reform der Hebammenausbildung ist übrigens eines von vier Gesetzen, die wir in diesem Herbst abschließend beraten und mit denen wir dank modernisierter Ausbildungen etwas für die Fachkräftesicherung im Gesundheitswesen tun. ({2}) Das Gesetz ist zugleich auch Teil einer ganzen Reihe von Initiativen, mit denen wir die Geburtshilfe insgesamt stärken. Zuletzt haben wir mit dem Gesetz für schnellere Termine und bessere Versorgung dafür gesorgt, dass sich Schwangere und Hebammen besser finden dank eines neuen Hebammensuchverzeichnisses auf der Internetpräsenz des GKV-Spitzenverbandes. Außerdem haben wir mit dem TSVG die Hebammen in das Programm zur Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf einbezogen. Und uns werden in Kürze die Ergebnisse eines Gutachtens vorliegen, das einen genaueren Blick auf die Situation der stationären Hebammenversorgung wirft und das uns gegebenenfalls weitere Handlungsfelder aufzeigen wird. ({3}) Heute also die neue Hebammenausbildung, bei der übrigens ein Ergebnis der parlamentarischen Beratungen ein verlängerter Zeitraum ist, innerhalb dessen neben der Ausbildung nach dem neuen Hebammengesetz auch eine fachschulische Ausbildung oder ein Modellstudium nach dem alten Recht begonnen werden kann. Dieser Übergangszeitraum läuft bis Ende des Jahres 2022. So kann meines Erachtens der Übergang in allen Ländern nahtlos gelingen. Meine freundliche Bitte in diesem Zusammenhang an die Länder ist, ihre Verantwortung ohne Zögern wahrzunehmen und die neuen Studiengänge jetzt zügig einzurichten. ({4}) Denn wir wünschen uns nicht nur für alle Babys einen guten Start ins Leben, sondern auch für die Hebammen einen guten Start in die neue Ausbildung. Ich möchte allen Beteiligten für die guten und zügigen Beratungen zu diesem Gesetz danken und bitte um Ihre Zustimmung. Schönen Dank. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der AfD der Kollege Detlev Spangenberg. ({0})

Detlev Spangenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004898, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Paare, die sich für ein Kind entscheiden, haben Anspruch auf die bestmögliche Unterstützung von Anfang an. Schwangeren kompetente Hilfe zu geben, ist eine elementare Aufgabe für den Erhalt einer Gesellschaft. Die AfD steht der Akademisierung grundsätzlich kritisch gegenüber; wir kennen das Thema auch vom Handwerk. Das wird hier in Deutschland leicht übertrieben immer wieder nach vorne getragen. Das ist auch nicht das Allheilmittel, weil es als zweischneidiges Schwert gesehen werden kann; ich habe das im Ausschuss kurz angesprochen. Was ist mit denen, die wir automatisch ausgrenzen, die nicht akademisiert werden können oder wollen? Die haben wir in diesem Fall verloren, obwohl sie die Aufgaben vielleicht auch hätten durchführen können. Die Frage, die sich hier stellt: Waren denn die bisherigen Ausbildungsinhalte für Hebammen unzureichend? Ich glaube, kaum. Es kann auch bezweifelt werden, dass mit der Akademisierung eine Erhöhung der Hebammenzahl in der Geburtshilfe erreicht wird. Im Gegenteil: Die Ausbildungszeit verlängert sich. Vielleicht suchen sich diese dann hochqualifizierten Kräfte auch eine andere berufliche Tätigkeit, als unbedingt Schwangere zu versorgen. Wenn aber eine Hochschulausbildung gewollt ist, meine Damen und Herren, dann soll sie bundeseinheitlich sein und mindestens sieben Semester betragen. Es darf auch keine Verwässerung des Hochschulniveaus damit einhergehen. Das heißt, wenn keine der üblichen Hochschulzulassungen vorhanden sind, dann müssen verbindlich im Gesetz verankerte Aufnahmeteste erfolgen; denn – das wissen alle, die studiert haben – jahrelange Berufserfahrung deckt nicht die Anforderungen des Studiums an einer Hochschule ab. Eine weitere Hochschulzulassungsbedingung sollte auch unbedingt der Berufspraxisanteil sein, der keinesfalls gekürzt werden darf, da der akademische Grad – hier Hebamme – dann eine verbindliche Qualifikation ausweist. Die Frage, wo die Ausbilder für das Praktikum herkommen sollen, ist ebenfalls nicht geklärt. Die Vertragsgestaltung zwischen den Studenten und den Praxisausbildern sollte ebenfalls durch die Hochschule, aus unserer Sicht zumindest, vermittelt werden und Bestandteil des Studiengangs sein. Weiterhin fehlt die verbindliche Regelung hinsichtlich der sprachlichen Anforderungen. Wir finden, dass hier mindestens C 1 angesetzt werden sollte. Die Kommunikation zwischen Ärzten, Schwangeren und deren Hebammen kann auf keinen Fall eingeschränkt sein. Ich gehe noch auf die Kuriosität ein, die hier genannt wurde, und zwar Männer als Hebammen zu bezeichnen. Diese Berufsbezeichnung ist absurd, widerspricht jeder Sprachlogik und Etymologie und ist ein kleines, typisches Gendersternchen, das hier wieder eingebaut worden ist – eine kleine Gehirnverirrung, würde ich sagen. In unserem eigenen Antrag „Geburtshilfe in Deutschland flächendeckend sicherstellen“, Drucksache 19/10631, fordern wir noch einmal deutlich die Eins-zu-eins-Betreuung, die Senkung der Kaiserschnittrate als Zielvorgabe, und die Schließung von Geburtsabteilungen muss aufhören. Im Gegenteil: Wir brauchen eine flächendeckende Versorgung mit Geburtshilfestationen, insbesondere im ländlichen Raum. Einer der strittigsten Punkte, die hohen Versicherungspolicen für freiberuflich tätige Hebammen, ist immer noch nicht geklärt und stellt weiterhin ein Hemmnis für die Selbstständigkeit dar, was sich besonders im ländlichen Raum auswirkt.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Jetzt müssen Sie zum Schluss kommen.

Detlev Spangenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004898, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Letzter Satz. Die vielen Unzulänglichkeiten bedeuten, dass wir in diesem Fall keine Zustimmung geben können. Vielen Dank. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion der SPD die Kollegin Bettina Müller. ({0})

Bettina Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004358, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Jahr 2009 hat die erste Große Koalition die Modellklausel für die Erprobung der akademischen Ausbildung im Hebammengesetz verankert. Heute, genau zehn Jahre später, wollen wir mit dem Hebammenreformgesetz die hochschulische Ausbildung als regulären Weg in diesen wichtigen Beruf beschließen. Erstmals überhaupt wird in einem Beruf die Ausbildung vollständig von der schulischen auf die hochschulische Ebene verlagert. Das Hebammenreformgesetz ist insoweit ein Pioniergesetz; es leitet einen kompletten Systemwechsel ein. Es war daher völlig richtig, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Umstellung in diesem sensiblen Bereich erst nach einem sorgfältigen Abwägungsprozess einzuleiten. Und trotzdem erfüllen wir fristgerecht die Auflagen der EU zum Stichtag 18. Januar 2020. Es ist ein gutes Gesetz geworden, für dessen Zustandekommen ich mich auch ausdrücklich bei meiner Berichterstatterkollegin Emmi Zeulner von der Union bedanken möchte. ({0}) Die Überführung in eine hochschulische Ausbildung, die als duales Studium mit Ausbildungsvergütung ausgestaltet ist, erfolgt mit ausreichend langen Übergangsfristen. Bereits ab dem kommenden Jahr können die Hochschulen Studiengänge anbieten. Ab Januar 2023 muss die Ausbildung dann zwingend an der Hochschule stattfinden. Die Hochschulen und die zuständigen Bundesländer haben damit einen Zeitkorridor von drei Jahren zum Aufbau der nötigen Kapazitäten. Und das ist auch wichtig; denn die Entwicklung der Curricula, das Akkreditierungsverfahren, die Genehmigung durch die Landesregierung, die Ausschreibung, das Auswahlverfahren für Studiengangsleitung und Lehrende, all das braucht seine Zeit. In dieser Übergangsphase von 2020 bis Ende 2022 kann neben dem Studium – das ist schon angeklungen – auch weiterhin die altrechtliche Ausbildung an den Hebammenschulen begonnen werden. Später dann, ab 2023 bis ins Jahr 2030, unterstützen die Hebammenschulen die Hochschulen als Kooperationspartner für praxisorientierte Lehrveranstaltungen. Die Umstellung der Ausbildung führt also nicht dazu, dass die alten Strukturen einfach wegbrechen. Den bisherigen Fachschulen, dem Personal werden Bestandsschutz und Perspektiven geboten; denn nicht jede Lehrkraft will und kann an eine Hochschule wechseln. Wie hier Neues und Bewährtes in einer Übergangsphase sinnvoll miteinander verknüpft wird, gehört für mich auch zu den Stärken dieses Gesetzentwurfs. ({1}) Für uns Sozialdemokraten ist es zudem wichtig, dass die Zulassung zum Hebammenstudium auch mit einer abgeschlossenen Ausbildung in der Krankenpflege erfolgen kann. In den Ausschussberatungen ist es noch gelungen, die Kinderkrankenpflegerinnen und ‑pfleger in diese Regelung mit einzubeziehen; sogar Absolventen der Altenpflege mit Vertiefung in Generalistik sind zugangsberechtigt. Über diese Fachkraftausbildungen ermöglichen wir auch Interessenten mit mittlerem Bildungsabschluss den Zugang zum Hebammenstudium und über eine vorgelagerte Pflegehelferausbildung letztlich sogar auch Hauptschülern. Da ist die Durchlässigkeit, wie ich meine, geradezu vorbildlich gegeben. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, hochschulische Hebammenausbildung bedeutet nicht, praxisferne Wissenschaftlerinnen in den Kreißsaal oder ans Wochenbett zu schicken. Deshalb hat der berufspraktische Anteil den gleichen Umfang wie der hochschulische Anteil der Ausbildung. Wir haben es im parlamentarischen Verfahren sogar geschafft, diesen auf 2 200 Stunden zu erhöhen. Der Gesamtumfang der Praxisanleitung – auch ein wichtiges Thema – beträgt 25 Prozent und betont die besondere Bedeutung des berufspraktischen Teils. Bis jetzt gab es in dieser Richtung ja überhaupt keine Vorgaben. Wichtig ist, dass wir für die Praxisanleitung gut qualifizierte Personen in ausreichender Zahl bekommen. Das müssen nicht unbedingt Absolventen mit Bachelorabschluss sein. Ich kann mir hier auch sehr gut berufserfahrene Hebammen mit altrechtlicher Ausbildung vorstellen, die für die Vermittlung von Praxiswissen doch auch bestens geeignet sind. Auch die Länder sind jetzt gefordert, im Rahmen der landesrechtlichen Umsetzung pragmatische Lösungen zu finden. Das Gleiche gilt übrigens auch für die Nachdiplomierung der altrechtlich ausgebildeten Hebammen. Eine bundesgesetzliche Regelung ist hier aus unserer Sicht weder möglich noch nötig; denn die Länder können im Rahmen ihrer hochschulrechtlichen Zuständigkeiten bereits heute Hebammen die Möglichkeit eröffnen, den Bachelorgrad nachträglich zu erwerben; hierfür gibt es schon eine Rechtsgrundlage. In Berlin und Köln werden bereits Studiengänge angeboten, bei denen die altrechtliche Hebammenausbildung angerechnet wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen, so sehr ich die Option zur Nachdiplomierung begrüße, so großen Respekt ich auch vor den Hebammen habe, die noch einmal sozusagen die Hochschulbank drücken wollen, so wichtig ist es mir aber auch, zu betonen: Hebammen mit nichtakademischer Ausbildung sind keine Hebammen zweiter Klasse. ({3}) Die fachschulische Ausbildung war und ist, auch in der Übergangsphase, eine sehr gute Ausbildung. Wir werten mit der Neuregelung die Hebammenausbildung auf; wir werten aber die alte Ausbildung nicht ab. Altrechtlich ausgebildete Hebammen bleiben anerkannt, haben die gleichen Rechte, führen die gleichen ihnen vorbehaltenen Tätigkeiten aus, wie sie in dem neuen Berufsgesetz definiert sind. Wir sollten Schwangere hier auch nicht verunsichern. Daher sollte die Debatte um die Nachdiplomierung mit Bedacht geführt werden und nicht zu sehr im Vordergrund stehen. Im Vordergrund muss stehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir die Hebammenausbildung moderner und attraktiver gestalten, den Beruf zukunftsfest machen und damit einen wichtigen Beitrag zur Sicherung der geburtshilflichen Versorgung leisten. Weitere Maßnahmen, vor allen Dingen auch in der stationären Geburtshilfe, müssen folgen. Das wird dann Gegenstand kommender Gesetzgebung sein. Ich bedanke mich. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Katrin Helling-Plahr für die Fraktion der FDP. ({0})

Katrin Helling-Plahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004742, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe Ende Mai meinen zweiten Sohn zur Welt gebracht. Die Hebamme, die mich über Nacht betreut hat, hatte Hebammenkunde studiert. Da sie zunächst keinen Studienplatz bekommen hat, hatte sie sich für Jura eingeschrieben, bis sie zum Glück dann einen Nachrückerplatz erhielt. Nun kann sie ihren Traumberuf ausüben. Wir haben traditionell eine sehr hochwertige geburtshilfliche Versorgung in Deutschland. Die Frage: „Muss denn immer alles akademisiert werden?“, ist schon berechtigt. ({0}) Aber es gibt junge Menschen, die davon träumen, in der Geburtshilfe tätig zu sein, und ihre Tätigkeit auf ein akademisches Fundament stellen möchten. Wir sollten diesen jungen Menschen den Weg nicht verstellen, sondern ebnen. ({1}) Lassen Sie uns dabei verantwortungsvoll agieren. Und da habe ich wirklich ernstliche Zweifel und Sorgen. Zunächst muss man feststellen, Frau Staatssekretärin: Sie haben alle Beteiligten selbstverschuldet in massive zeitliche Bedrängnis gebracht. Die EU-Richtlinie, die Sie mit dem Gesetzentwurf hier heute umsetzen möchten, muss zum 18. Januar 2020 umgesetzt sein. Warum erst jetzt? ({2}) Wir haben schon Anfang des Jahres gemahnt, warum da nicht endlich etwas aus dem Ministerium kommt. Dann haben Sie offenbar überhaupt kein Problembewusstsein, was die Versorgungssituation Schwangerer und junger Mütter angeht. Landauf, landab wird Hebammenmangel beklagt. Egal ob in der Großstadt oder auf dem Land. Schwangere müssen sich am besten direkt nach dem Zeugungsakt um eine Hebamme kümmern, die sie im Wochenbett betreut. ({3}) Viele bleiben unversorgt. Der Wissenschaftliche Dienst berichtet von Betreuungssituationen in Kreißsälen von einer Hebamme auf sechs Gebärende. Und Ihr Haus schreibt in einer Antwort auf unsere Kleine Anfrage, dass Ihnen nichts vorläge, das die – ich zitiere – „pauschale Annahme eines solchen akuten Mangels“ belege. Da bleibt man doch sprachlos zurück. ({4}) In der Konsequenz des selbstgemachten Zeitdrucks und des fehlenden Problembewusstseins haben Sie die Umsetzung des Gesetzes überhaupt nicht vernünftig durchdacht. Nur drei Punkte: Erstens. Dadurch, dass Sie die bestehenden Hebammenschulen überhastet vom Netz nehmen, werden Ausbildungskapazitäten wegbrechen. Das können wir uns nicht leisten! ({5}) Zweitens: Woher soll das Lehrpersonal in ausreichender Anzahl denn kommen? Mit dieser Frage lassen Sie die Länder komplett alleine. Drittens: Wo ist Ihr schlüssiges Konzept für Weiterqualifizierung? Sie liefern mit Ihrem Entwurf mehr Fragen als Antworten. Statt hopplahopp den Hebammenmangel zu potenzieren, würden wir vorschlagen, die Studienplatzkapazitäten erst einmal planvoll hochzufahren und nicht alle Schulen überhastet vom Netz zu nehmen. ({6}) Diejenigen, die Hebammen werden wollen, werden dann mit den Füßen abstimmen. Nach alledem können wir uns heute, so richtig das Ziel ist, die Hebammenausbildung zukunftsfest zu machen, nur enthalten. ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke die Kollegin Pia Zimmermann. ({0})

Pia Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004454, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gemessen am klimapolitischen Vollversagen der Großen Koalition ist der hier vorliegende Gesetzentwurf fast okay. Gemessen an der desaströsen Situation in der Geburtshilfe, die eine Gefahr für Schwangere und Kinder darstellt, und dem enormen Handlungsbedarf hier – und das muss der Maßstab der Bewertung sein – werden aber die vielen Mängel deutlich. Die Reform der Hebammenausbildung ist überfällig. Die Vorgabe der EU-Richtlinie, nach der diese 2020 an die Hochschulen überführt sein soll, ist schon nicht mehr einzuhalten. Darüber ließe sich hinwegsehen, wenn dafür wenigstens sauber gearbeitet worden wäre. ({0}) Ja, wir begrüßen die Umstellung auf ein duales Studium; aber es fehlen Klarstellungen, zum Beispiel, dass der Vertrag zwischen den Auszubildenden und der verantwortlichen Praxiseinrichtung ein Ausbildungsvertrag ist mit Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerrechten. Und es muss ganz klar sichergestellt sein, dass Studierende für die Hebammenausbildung auch an privaten Hochschulen keine Gebühren zahlen müssen. ({1}) Ich könnte hier noch weitere Mängel in der Ausbildung aufzählen; davon gibt es genug. Aber der größte Mangel in der Geburtshilfe wird mit dem Entwurf der Großen Koalition überhaupt nicht angepackt, und das ist ein Skandal. ({2}) Wir haben eine Krise in der Geburtshilfe. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages hat dazu folgende Zahlen geliefert: Eine Hebamme in Deutschland begleitet knapp 70 Geburten pro Jahr, in Frankreich sind es 33, in der Schweiz sind es 22, und in Norwegen kommen auf eine Hebamme nur knapp 22 Geburten pro Jahr. Wen wundert es da, wenn die Hebammen in Deutschland über Überlastung klagen. Wer könnte behaupten, dass die Betreuungsqualität vor, nach und unter der Geburt trotz aller Anstrengungen die Qualität in den erwähnten anderen Ländern erreichen kann? Und nennen Sie mir einen guten Grund, warum Sie die Hebammen im Gegensatz zu den Pflegekräften weiter über die gescheiterten Fallpauschalen finanzieren wollen. Es gibt keinen Grund. ({3}) In Deutschland haben wir einen Teufelskreis: Wenige Hebammen führen zu hoher Arbeitsbelastung, hohe Arbeitsbelastung führt zu Berufsausstieg und Teilzeit, und das wiederum zu weniger Hebammen. Eine Ausbildung kann noch so gut sein, wenn in der Realität das, was gelernt wurde, nicht umsetzbar ist. Das ist eine Gefahr. An den Bedingungen nichts zu ändern, ist verantwortungslos, den Hebammen gegenüber sowie den Schwangeren, Gebärenden und den Kindern. Deshalb fordern wir unter anderem die Sicherstellung einer Eins-zu-eins-Betreuung, mehr Personal, um die Stressspirale zu stoppen, die Herauslösung der Geburtshilfe aus dem Fallpauschalensystem, und wir brauchen einen staatlichen Haftungsfonds für alle Gesundheitsberufe, um die Haftungsproblematik zu lösen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Dr. Kirsten Kappert-Gonther. ({0})

Dr. Kirsten Kappert-Gonther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004773, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn eine Frau heute schwanger wird, steht sie schnell vor einer Reihe von Fragen: Was ist zu tun? Finde ich eine Hebamme? In manchen Fällen ist die Frage auch: Wie bekomme ich Zugang zu einem medizinisch sicheren Schwangerschaftsabbruch? Unser Gesundheitssystem und die Politik von Jens Spahn machen es Schwangeren schwer – unnötig schwer. Das muss sich ändern. ({0}) Ein Kind zu bekommen, das ist für die meisten werdenden Eltern vor allem eine schöne Nachricht. Der Stress der Hebammensuche ist es nicht. Schwangere wären gern guter Hoffnung. Hebammen begleiten die Schwangeren und ihre Familien bis zur Geburt und, wenn es dann so weit ist, während der Geburt – im Krankenhaus, im Geburtshaus, zu Hause. Mit ihrer Hilfe bringen Frauen neues Leben zur Welt. Was könnte wichtiger sein? ({1}) Doch die Arbeitsbedingungen der Hebammen sind teilweise unzumutbar. Im Krankenhaus müssen sie oft zwischen mehreren Geburten hin- und herflitzen. Sie können nicht mit voller Aufmerksamkeit eine Gebärende unterstützen. Auch das muss sich ändern. ({2}) Eine Eins-zu-eins-Betreuung während der entscheidenden Phasen der Geburt muss endlich zum Standard werden. Wir brauchen einen Kulturwandel, der die Bedürfnisse der Gebärenden endlich ins Zentrum der Geburtshilfe stellt. ({3}) Es kann doch nicht sein, dass eine Geburt im Bett in der Rückenlage noch der Standard ist, obwohl Gebärende oft andere Stellungen vorziehen. Zeitdruck und ökonomische Fehlanreize dürfen nicht länger entscheidend sein. ({4}) Das Gesetz, das wir heute beschließen, ist ein wichtiger Schritt, den Hebammenberuf endlich aufzuwerten. Wir Grünen fordern diese Hebammenakademisierung seit vielen Jahren. Jetzt kommt sie endlich dank der EU-Verordnung; aber sie kommt sehr spät. Diese Verzögerung setzt die Länder unnötig stark unter Druck. ({5}) Das hätten Sie vermeiden müssen. Es war doch nicht so überraschend, dass das Jahr 2020 kommt. Dennoch: Wir stimmen dem Gesetz hier und heute natürlich zu. Das vorliegende Gesetz ist gut, greift aber leider zu kurz. Das legen wir auch in unserem Antrag dar und fordern entsprechende Verbesserungen ein. Das Entscheidende aber ist: Dieses Gesetz darf nicht das Ende der Fahnenstange sein. ({6}) Wir fordern: Stellen Sie endlich die strukturellen Weichen in der Geburtshilfe so, dass eine selbstbestimmte Geburt für alle Gebärenden selbstverständlich wird; denn auf den Anfang kommt es an. Vielen Dank. ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Die letzte Rede der Kollegin Zeulner nehmen wir zu Protokoll. ({0}) Das ganze Haus dankt. Wir lesen das nach. ({1}) Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.

Markus Herbrand (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004745, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Keine familienfreundliche Zeit. Aber es gibt keine schlechte Zeit, um über gute Anträge zu reden. Sehr geehrte Damen und Herren! Lieber Herr Präsident! Wie ein roter Faden zieht sich die Benachteiligung von Familien durch das deutsche Steuerrecht. Es sind nicht nur junge Familien über Jahre vergessen worden, auch alleinerziehende Mütter und Väter weisen – das entnehme ich dem Armutsbericht der Bundesregierung – ein hohes Armutsrisiko auf. Das ist beschämend und ein Fehler in unserem System. ({0}) Mit dem Antrag auf steuerliche Entlastung von Familien will die FDP mehr Gerechtigkeit im Steuersystem schaffen. Jahrelang wurden Familien im Steuerrecht vergessen. Sehenden Auges wird das Leben für Familien immer teurer. Pauschalen und Freibeträge werden jedoch nie angepasst. ({1}) Kinderbetreuung und Ausbildung gewinnen immer mehr an Bedeutung. Der Freibetrag für Betreuung und Ausbildung eines Kindes ist zuletzt im Jahr 2010 erhöht worden. Der Ausbildungsfreibetrag ist sogar letztmalig im Jahr 2001 erhöht worden, auf 924 Euro im Jahr, nicht im Monat. Anstatt auf veränderte Rahmenbedingungen für Kinder und Alleinerziehende einzugehen, lässt die Koalition die Sache einfach laufen. Wir wollen dafür sorgen, dass für Berufstätige die Aufwendungen für die Betreuung der Kinder endlich vollständig steuerlich abzugsfähig sind ({2}) und die Übernahme von Betreuungskosten schulpflichtiger Kinder durch die Arbeitgeber auch steuerfrei ermöglicht wird. ({3}) Dass es immer mehr alleinerziehende Eltern gibt, wird von den Finanzpolitikern der Regierung bisher knallhart ignoriert. Dabei ist in den letzten sechs Jahren das Armutsrisiko für genau diese Betroffenen um mehr als 4 Prozent gestiegen. Dem müssen wir gezielt entgegenwirken, zum Beispiel indem wir beim Alleinerziehendenentlastungsbetrag einen regelmäßigen Inflationsausgleich vornehmen, ({4}) wie beim Ausbildungsfreibetrag auch. So schaffen wir mehr Planungssicherheit für Alleinerziehende und auch für Familien. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es muss endlich mehr für Familien getan werden. Bis auf die ohnehin vorgeschriebenen Verbesserungen in diesem Bereich hat die Koalition bislang nur gekleckert. Ein Beispiel dafür war das Familienentlastungsgesetz. Vielleicht erinnern Sie sich daran, dass dort Kinderfreibetrag und Kindergeld unterschiedlich behandelt worden sind. Der Kinderfreibetrag wurde zum 1. Januar erhöht, das Kindergeld zum 1. Juli. Die FDP ist damals im Gesetzgebungsverfahren sofort dagegen angegangen, leider vergebens. Wir sehen aber auch grundlegenden Handlungsbedarf beim Kindergeld. Deshalb fordern wir, dass die Anpassung des Kinderfreibetrages an den Grundfreibetrag für Erwachsene ernsthaft von der Bundesregierung geprüft wird. ({5}) Zum Wohle der Familien blicken wir aber auch über den Handlungsbedarf im Steuerrecht hinaus. Mit unserem Antrag zum Kinderchancengeld streben wir eine Bündelung, Vernetzung und Vereinfachung von kindergeldbezogenen Leistungen an, die noch immer viel zu bürokratisch und aufwendig ausgestattet sind. ({6}) Diese alten verkrusteten Strukturen müssen wir endlich aufbrechen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns die Familien nicht vergessen. Vor den Benachteiligungen im Steuersystem dürfen wir nicht länger die Augen verschließen. Haben Sie herzlichen Dank. ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Johannes Steiniger für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Johannes Steiniger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004418, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Bänken! Es ist ja schon etwas später, und zu später Stunde kann man auch einmal ein Bekenntnis abgeben. Das Bekenntnis ist: Ich habe eigentlich relativ viele Sympathien für die Freien Demokraten. ({0}) Sie bringen durchaus oft Anträge ein, bei denen es an der einen oder anderen Stelle schwerfällt, dagegen zu stimmen. Sie sagen immer, dass Sie die Serviceopposition sind und uns als Regierungskoalition helfen möchten. Wenn ich allerdings diesen Antrag sehe, dann stelle ich fest, dass von Serviceopposition nicht so viel zu sehen ist. Das ist eher Servicewüste. ({1}) Wenn wir uns Ihren Antrag anschauen, dann stellen wir fest: Er ist relativ fantasielos. ({2}) In Ihrem Antrag machen Sie acht Spiegelstriche. Wenn man das zusammenfassen wollte, dann steht dort: Die Beträge, die es gibt, erhöhen wir alle. – Was mich, ehrlich gesagt, bei den Freien Demokraten, die auch das Thema Haushalt im Blick haben sollten, besonders ärgert, ist, dass sie an dieser Stelle keinerlei Gegenfinanzierung einbringen. Sie wird im letzten Satz der Begründung lapidar abgehandelt. Es wird gesagt: Na ja, wir schauen einmal, wo wir das im Haushalt entsprechend gegenfinanzieren können. – Das, was Sie uns ins Hausaufgabenheft schreiben wollen, ist etwas dünn, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Wir haben uns vorgenommen – das steht auch in unserem Koalitionsvertrag –, Familien und Kinder in den Mittelpunkt unserer Politik zu stellen. Deswegen bin ich Ihnen dankbar, dass Sie heute Abend diesen Antrag stellen, weil uns das die Gelegenheit gibt, noch einmal darzustellen, was diese Koalition schon erreicht hat. Die Große Koalition hat nämlich insbesondere im Bereich der Familienpolitik geliefert. Herr Herbrand, Sie haben vom Familienentlastungsgesetz gesprochen. ({4}) – Dann hätten Sie letztes Jahr mal bei den Debatten dabei sein sollen. – Das Familienentlastungsgesetz hat für die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land eine Entlastung in Höhe von 10 Milliarden Euro auf die Schiene gebracht. Das ist ja wohl nicht nichts. ({5}) Im Übrigen war dies auch ein Kraftakt. Das sollten Sie Ihrem Fraktionsvorsitzenden vielleicht auch noch mal sagen, der – ich erinnere mich – vor zwei Wochen in der Sitzungswoche darauf hingewiesen hat, dass wir die kalte Progression nicht angegangen hätten. Aber mit dem Familienentlastungsgesetz haben wir genau das gemacht. Sagen Sie ihm das bitte. Was haben wir beim Familienentlastungsgesetz noch gemacht? Wir haben das Kindergeld ab 1. Juli 2019 um 10 Euro erhöht, im Gleichlauf auch den Kinderfreibetrag, der natürlich ein Ganzjahresbetrag ist und deswegen für das aktuelle Jahr nur die Hälfte beträgt. Das ist im Übrigen mehr als der Inflationsausgleich, den Sie in Ihrem Antrag fordern. Also: Das, was Sie in Ihren Antrag geschrieben haben, haben wir an dieser Stelle schon geliefert. ({6}) Zweiter Punkt: Familienstärkungsgesetz. Wir haben uns vorgenommen, dass wir Familien aus verdeckter Armut holen; Sie haben das wichtige Thema der Kinderarmut angesprochen. Mit dem Familienstärkungsgesetz fördern wir besonders Familien mit schmalem Geldbeutel. Wir haben das Antragsverfahren vereinfacht. Wir haben festgelegt, dass das Kindeseinkommen beim Kinderzuschlag nur noch zu 45 Prozent und nicht mehr zur 100 Prozent mindernd wirkt. Das schafft dann auch die Abbruchkante ab, unter der so viele Familien gelitten haben. Wir können also sagen: Diese Große Koalition macht etwas gegen Kinderarmut. ({7}) Dritter Punkt: das Gute-KiTa-Gesetz. Wer arbeitende Eltern unterstützen möchte – das ist ja im Sinne von uns allen –, der muss dafür sorgen, dass die Betreuung der Kinder auch gut ist. Deswegen haben wir schon vor vielen Jahren den Anspruch auf Kitabetreuung durchgesetzt und setzen mit dem Gute-KiTa-Gesetz jetzt auf noch mehr Qualität – Stichpunkte sind hier: weniger Gebühren, besserer Betreuungsschlüssel, bedarfsgerechte Öffnungszeiten und stärkere Leitung. Wir tun dies, damit Eltern während der Arbeit ihre Kinder in guten Händen wissen. ({8}) Vierter Punkt – das ist, glaube ich, auch meinem Kollegen Michelbach, der seine Rede zu Protokoll gibt, ein besonders wichtiges Anliegen –: das Baukindergeld, welches wir als Union mit einer absolut erfreulichen Bilanz eingeführt haben. Es werden derzeit ganz viele Ein- und Zweifamilienhäuser in Deutschland gekauft und gebaut, dies auch wegen des Kindergeldes. Fast ein Drittel der Fördergelder sind weg. Rund – hören Sie zu! – 135 000 Familien können mit dem Bauerkindergeld bereits ihren Traum vom Eigenheim erfüllen. ({9}) Insgesamt 10 Milliarden Euro nehmen wir dafür in die Hand. Man könnte jetzt noch einiges mehr sagen. Auch die BAföG-Erhöhung unterstützt natürlich die Familien. Wir wollen die Beträge für den Schulbedarf erhöhen und vieles andere mehr. Es ist auch noch einiges mehr in der Pipeline. Wir werden das Kindergeld nochmals erhöhen. Wir als Große Koalition haben uns im Koalitionsvertrag vorgenommen, dass wir 2021 den nächsten Schritt machen. Zu den 10 Euro pro Monat und Kind, die wir jetzt schon haben, kommen dann noch mal 15 Euro dazu. Das macht dann pro Kind und Jahr 180 Euro, und das kann sich, glaube ich, sehen lassen. Wir starten eine Wohnraumoffensive. Das Wohngeld wird erhöht. Rund 660 000 Haushalte profitieren davon. Von daher ist es schön, dass Sie versucht haben, uns etwas ins Hausaufgabenheft reinzuschreiben. Vieles von dem sind wir aber schon angegangen. Diese Koalition liefert für die Familien in Deutschland – und ich schenke uns jetzt allen eine Minute, damit wir heute Abend noch etwas schneller durchkommen. Herzlichen Dank. ({10})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Das Geschenk wird gern angenommen. – Ich will bei der Gelegenheit die neueste Wasserstandsmeldung mitteilen: Nach derzeitigem Stand dauert unsere heutige bzw. morgige Sitzung noch bis 1.52 Uhr. Niemand, der oder die seine Rede – – ({0}) – Wenn Sie „das“ sind, mag das so sein. – Ich richte mich jetzt an die Kolleginnen und Kollegen, die ihre Rede zu Protokoll geben wollen: Sie müssen nicht fürchten, dass Sie vom Präsidium zurückgewiesen werden. ({1}) Wir machen weiter in der Debatte mit dem Kollegen Albrecht Glaser für die AfD. ({2})

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! ({0}) Lassen Sie mich zum Thema zurückkommen. Die Selbstbelobigungsorgie zwischendrin muss jetzt nicht unbedingt verlängert werden; das können Sie sich auch nicht leisten. In dem vorliegenden Antrag der FDP zum Thema Kinderchancengeld steht – ich zitiere –: Kinderarmut muss endlich durch effektive und nachhaltige Reformen bekämpft werden. Bildungszugang und Chancengerechtigkeit bilden die Grundlage für ein selbstbestimmtes Leben in sozialer Verantwortung. Die Frage ist: Kann mit den vorgeschlagenen Maßnahmen tatsächlich die Kinderarmut bekämpft werden, und das auch noch effektiv? Wie so häufig bei der FDP wird die Sichtweise sehr stark auf rein finanzielle Aspekte beschränkt. So sollen Kindern Unterstützungsleistungen aus unterschiedlichen Sozialgesetzen, welche die Familie als Ganzes betreffen, in einem Paket zusammengefasst, gewissermaßen herausgeschnitten, als eigenständiger Rechtsanspruch zuerkannt werden – eine kühne Operation. Das Konzept ignoriert den Sinn und Zweck einzelner Sozialleistungen. Jede derzeitige Sozialleistung versucht eine bestimmte Bedarfslage zu erfassen. So dient beispielsweise das Wohngeld dazu, ein angemessenes und familiengerechtes Wohnen abzusichern – Wortzitat aus § 1 des Wohngeldgesetzes. Durch das künstliche Herausschneiden der rechnerischen Anteile für das Kind besteht kein Sachzusammenhang mehr zwischen dem adressierten Zweck der Unterstützung und dem sogenannten Chancengeld. Nicht ein bestimmter sozialer Bedarf wird befriedigt, sondern es entsteht ein aus allen möglichen Bedarfsfällen rechnerisch abgeleiteter Geldanspruch. Nach dem bedingungslosen Grundeinkommen als Thema ist das nun eine Art Bürgergeld für Kinder. Noch ein weiteres und grundsätzlicheres Problem sticht hervor: Ein eigener, individualisierter Anspruch führt zur Zersplitterung der familienbezogenen Leistungen. Hatte bisher die Familie Anspruch auf eine Sozialleistung, so ist es jetzt das Kind. Dadurch wird nicht mehr die Familie unter Berücksichtigung ihrer sozialen Notlage unterstützt, sondern einzelne Familienmitglieder. Familie wird nicht als soziales Gefüge verstanden, sondern als Wohngemeinschaft von Anspruchsberechtigten. Vielleicht hilft hier ein Hinweis auf Artikel 6 des Grundgesetzes: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung.“ Deshalb gilt für die AfD: Die Familie ist unabdingbare Voraussetzung für den Fortbestand einer wirklich humanen Gesellschaft, meine Damen und Herren. ({1}) Von den Leistungen, die innerhalb der Familien aus Liebe und Fürsorge erbracht werden, profitieren alle. Unsere Gesellschaft schneidet sich ins eigene Fleisch, wenn sie dies nicht mehr honoriert. Der Initiator dieses Antrags wird folgendermaßen zitiert: Die Reform legt dabei den Fokus auf die individuellen Chancen und Selbstbestimmung für jedes einzelne Kind bei gleichzeitiger materieller Unterstützung durch einen unkomplizierten Staat. … Das ist unser Vorschlag für einen gesellschaftlichen Fortschritt. Die Familie kommt in dieser Begründung überhaupt nicht vor. Die Ursachen materieller Armut sind vielschichtig. Prekäre oder befristete Arbeitsverhältnisse tragen dazu bei; die Wurzel des Problems ist jedoch tatsächlich die geringe Wertschätzung der Erziehungsarbeit von Familien, und zwar von allen Teilen dieser Gesellschaft. ({2}) Diese eklatante Missachtung und der nahezu ersehnte Bedeutungsverlust der sozialen Institution Familie tritt im Antrag der FDP deutlich zutage. ({3}) Zukunftsfähig ist das nicht. Großzügige Entlastung und Förderung von Familien mit Kindern als Solidargemeinschaft – dafür steht die AfD. Entsolidarisierung des Familienverbandes und seine Entwertung stoßen bei uns auf strikte Ablehnung. Im völligen Gegensatz zum Konzept des „Bürgergelds für Kinder“ steht erstaunlicherweise der weitere von der FDP vorgelegte Antrag, Drucksache 19/13461, mit welchem „Steuerliche Entlastung für Familien“ eingefordert wird. Der Antrag soll heute nur überwiesen werden. Sein Inhalt wird in der Tendenz unserem Wohlwollen zugeführt, weil er tatsächlich die Familie als Solidargemeinschaft betrifft und nicht so tut, als könnte man ein Kind mit Teilleistungen aus dem Familienverband herauslösen ({4}) und das als intelligente Lösung verkaufen. Herzlichen Dank. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Die Rede des Kollegen Schrodi nehmen wir zu Protokoll. ({0}) Nächste Rednerin ist die Kollegin Doris Achelwilm für die Fraktion Die Linke. ({1})

Doris Achelwilm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004651, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe FDP, Sie preisen Ihren Antrag als Schritt hin zu mehr Kinder- und Familienfreundlichkeit an, aber durchdacht ist Ihre Allzweckwaffe der Steuerentlastung nicht. ({0}) Der Antrag widmet sich im Wesentlichen Familien, denen es finanziell sehr gut geht. Dabei wächst jedes fünfte Kind – es ist angeklungen, auch bei Ihnen – in Deutschland in einer Familie auf, die mit weniger oder deutlich weniger als dem Durchschnittseinkommen leben muss. Dieser verbreitete Zustand heißt Armut, auch wenn niemand diesen Stempel haben will, weil er alles noch viel schlimmer macht. Wir als Linke wollen auch nicht an Armut erinnern oder Sorgen vertiefen, sondern wir wollen sie zurückdrängen und Reichtum nicht weiter nach oben durchreichen. ({1}) Die ganzen Entbehrungen und Nachteile, mit denen betroffene Kinder trotz der allerbesten Eltern oder Lehrerinnen und Lehrer umgehen müssen, wiegen tatsächlich schwer und sind keine Privatsache. Sie müssen politisch gelöst werden, damit Kinder aus allen Familien gute Chancen, glasklare Rechte und ähnliche Startbedingungen haben. Kinderfreibeträge sind hierfür nicht die Lösung. Dadurch, dass Kinderfreibeträge umso mehr entlasten, je mehr Einkommen vorhanden ist, machen sie die sozialen Unterschiede noch größer, erst recht, wenn auf der anderen Förderebene das Kindergeld, wie jetzt ab Juli, gerade einmal um 10 Euro steigt. Um hier sozial auszugleichen, müsste das Kindergeld um ein Vielfaches von 10 Euro steigen. ({2}) Wenn Sie jetzt sagen: „Das ist zu teuer oder nicht darstellbar“, dann kann ich Ihnen nur erwidern, dass Familien allein 2017 fast 5 Milliarden Euro vorenthalten wurden, weil das Kindergeld auf Hartz IV angerechnet wurde. Höchste Zeit also für eine Form der Rückerstattung bzw. eine Verteilungsumkehr, statt zu sagen: Wir haben ohne Ende Geld reingegeben, und jetzt ist Schluss. Es ist angeklungen: Wir haben ein sehr großes Spektrum an familien- und ehebezogenen Leistungen, aber eine Förderung für Familien, die am Existenzminimum leben, findet in dieser Systematik praktisch nicht statt. Auch wenn die großen Stellschrauben zum Beispiel auf dem Arbeits- oder auf dem Wohnungsmarkt liegen, müssen wir an die Systematik ran. ({3}) Mit bestimmten Steuerentlastungen weiter anzukurbeln, dass die einen Familien profitieren und die anderen zurückfallen, ist keine gute Familien- und Kinderpolitik. Besser wären ein höheres Kindergeld für alle – wie gesagt: ohne Hartz-IV-Ausnahmen –, ein Vorankommen in der Kindergrundsicherung und ein höherer Spitzensteuersatz für echte Spitzenverdienerinnen und Spitzenverdiener. ({4}) Die Erhöhung des Entlastungsbetrags für Alleinerziehende im FDP-Antrag ist eine charmante Idee. Sie ist leider aber so gestrickt, dass sie finanziell Schlechtergestellte – Alleinerziehende sind in großen Teilen tatsächlich finanziell schlechtergestellt – komplett außer Acht lässt. Eine konsequentere Gleichstellung von Ein-Eltern-Familien und unterschiedlich einkommensstarken Familien, von Frauen und Männern wäre durch den überfälligen Abschied vom Ehegattensplitting umzusetzen. ({5}) Darüber müssen wir noch einmal reden, vielleicht können wir das sogar. Also bitte: keine weiteren Steuergeschenke mit der Gießkanne, ({6}) sondern gezielte Bekämpfung von Armutsgründen und nicht zu vergessen von frauenspezifischer Lohndiskriminierung. Damit ließen sich alle Kinder und Eltern aus der Armut holen, und darum muss es gehen. Vielen Dank. ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der FDP zur steuerlichen Entlastung von Familien ist mal wieder ein typischer FDP-Antrag; denn insbesondere diejenigen mit höchsten Einkommen werden durch Ihre Vorschläge am höchsten begünstigt. Es ist also ein Antrag für die Besserverdienenden bei uns im Land. ({0}) Das ist genau der falsche Weg. Wir müssen unten und in der Mitte entlasten. ({1}) Sie gehen an die Steuerfreibeträge ran. Bei Steuerfreibeträgen ist es immer so, dass die Besserverdienenden davon stärker profitieren als die, die weniger verdienen. ({2}) – Könnten Sie nicht die ganze Zeit dazwischenrufen, sondern entweder eine Zwischenfrage stellen oder still sein und zuhören? ({3}) Es geht um Entlastung von Familien, und das ist in der Tat wichtig. ({4}) Kinderarmut ist auch angesprochen worden. In der Mitte muss entlastet werden. Das Familienförderungssystem muss grundsätzlich umgebaut werden. ({5}) Was Sie in zwei Anträge aufteilen – in Bezug auf das Kinderchancengeld ist der eine oder andere Vorschlag vernünftig –, reicht als Maßnahme nicht aus, stattdessen brauchen wir insgesamt eine neue Leistungsarchitektur bei der Familienleistung und bei der Kinderleistung. ({6}) Unsere Lösung dafür ist die Kindergrundsicherung, die eine Steuerentlastung für alle darstellt. ({7}) In Deutschland gibt es aus unserer Sicht die Ungerechtigkeit, dass Familien mit mittleren Einkommen weniger Unterstützung vom Staat erhalten als diejenigen mit hohen Einkommen, also Bundestagsabgeordnete zum Beispiel. Wir kriegen über den Kinderfreibetrag, den Sie auch noch erhöhen wollen, mehr als jemand mit mittlerem Einkommen. Das heißt, mit Ihrem Vorschlag, den Kinderfreibetrag noch deutlich zu erhöhen, vergrößern Sie die Schere zwischen den ganz Reichen und denen mit mittleren Einkommen. Das ist ungerecht. Das ist der falsche Weg. ({8}) Wir schlagen vor, den Kinderfreibetrag in einen Auszahlungsbetrag umzuwandeln – zu später Stunde kann man auch mal technisch sein –, das heißt: Das, was die Reichsten an Entlastung über den Kinderfreibetrag erhalten, das wollen wir an alle auszahlen als Garantiebetrag in einer Kindergrundsicherung. ({9}) Laut unseren Berechnungen ist das ein Betrag von 280 Euro, den alle Kinder kriegen, weil jedes Kind dem Staat gleich viel wert sein soll. ({10}) Das ist dann die Basis für alle. Damit würden diejenigen mit mittlerem Einkommen endlich so viel kriegen wie die mit hohem Einkommen. Das ist gerecht. ({11}) Zusätzlich ist natürlich wichtig, den unteren Einkommensbereich zu entlasten. Ähnlich wie in Ihrem Vorschlag sagen wir bei der Kindergrundsicherung: Das ist eine Leistung für das Kind, nicht für die Familie. Sie wird nicht in der Bedarfsgemeinschaft auf die Grundsicherung angerechnet. Es geht um das Existenzminium des Kindes. 280 Euro reichen da nicht. Deswegen sagen wir: Im unteren Einkommensbereich gibt es eine einkommensabhängige Leistung, die obendrauf kommt. Wir nennen das Garantie-plus-Beitrag. Der ist nach Alter differenziert und entspricht einem erhöhten sächlichen Existenzminimum. Die Spanne liegt bei 360 Euro bei unter 6-Jährigen bis hin zu 500 Euro bei den älteren Kindern. Das ist eine Leistung aus einem Guss. Dann gibt es auch nicht mehr das Problem: Wenn der Kinderfreibetrag an dem einen Termin erhöht wird, was passiert dann mit dem Kindergeld? Ein Problem wäre auch, wenn sich bei Hartz IV überhaupt nichts verändert. Wir brauchen eine Kindergrundsicherung. Davon haben alle etwas. Dann fällt auch niemand mehr durchs Netz. Es gibt keine Transferentzugsraten von bis zu 100 Prozent. Da muss man ansetzen. Das wäre eine zielgenaue Maßnahme gegen Armut. Gegen Kinderarmut müsste man noch viel mehr tun; meine Zeit ist jetzt abgelaufen, darauf kann ich jetzt nicht mehr eingehen. ({12}) Die steuerliche Entlastung von Familien muss anders angegangen werden. Es geht nicht, dass wir – wie von der FDP gefordert – die Bezieher hoher Einkommen entlasten, sondern wir müssen die Bezieher mittlerer Einkommen und unterer Einkommen entlasten; ({13}) denn hier liegt das Problem, und das müssen wir angehen. Vielen Dank. ({14})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Herr Kollege, Ihre Zeit ist noch nicht abgelaufen, aber Ihre Rede ist zu Ende. ({0}) Die Rede des Kollegen Michelbach wird zu Protokoll gegeben. Letzte Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Ingrid Arndt-Brauer für die Fraktion der SPD. ({1})

Ingrid Arndt-Brauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003422, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber Kollege Herbrand, als Sie zu Beginn Ihrer Rede Armutsrisiko und Benachteiligung beschrieben und Gerechtigkeit gefordert haben, habe ich gedacht: Meine Güte, das überrascht mich jetzt aber. Das passt gar nicht zu Ihrem Antrag. Der Rest, den Sie gesagt haben, war dann wieder passend zum Antrag und zu Ihrem Familienbild. In Ihrem Familienbild verdienen die Menschen recht gut – man muss Steuern zahlen, um steuerlich entlastet werden zu können –, und sie haben sogar einen Arbeitgeber, der sich um die Kinder kümmert. Das ist eine schöne Sache – ich finde es gut, wenn das steuerfrei ist –, aber das ist natürlich nicht bei allen Familien so. Deswegen haben wir es eine bisschen anders gemacht. Wir würden es vielleicht mit einem anderen Koalitionspartner noch anders machen; aber ich finde, wir haben es mit unserem Koalitionspartner ganz gut hinbekommen. Wir haben natürlich auch eine sehr gute Familienministerin, die sehr gute Programme aufgelegt hat. ({0}) Mein Kollege Steiniger hat es schon ausgeführt: Wir haben in dieser Legislaturperiode sehr viele Verbesserungen für Familien und für Kinder auf den Weg gebracht. Wir haben dies vor allen Dingen vernünftig finanziert. Ich möchte nur mal erwähnen: Wir haben das Kindergeld, seit ich im Bundestag bin, noch nie so stark erhöht, wie wir das jetzt gemacht haben und in dieser Legislaturperiode noch vorhaben. ({1}) Das ist für die Familien richtig spürbar. Wir haben zusätzlich den Kinderzuschlag für einkommensschwache Familien erhöht und den Zugang erleichtert. ({2}) Wir haben das bereits bestehende Bildungspaket noch erweitert. Das haben wir gerade für die Familien, die Chancen brauchen, gemacht. Diese Familien brauchen nämlich nicht Ihr Kinderchancengeld, sondern sie brauchen richtig Geld und keine komische Umverteilung. ({3}) Sie bekommen zusätzliches Geld. Ich nenne nur ein Beispiel: Den Betrag, der im Bildungspaket für den Schulbedarf zur Einschulung vorgesehen ist, haben wir extrem erhöht. Das hilft den Eltern wirklich. ({4}) Auch dass wir das Elterngeld ausgebaut haben, hilft den Eltern. Und wir haben die Kinderbetreuung extrem erweitert. Wir stellen bis zum Jahr 2022  5,5 Milliarden Euro zur Verfügung. Das ist wesentlich mehr als die steuerfreie Übernahme der Betreuungskosten, die in Ihrem Antrag vorgesehen ist. Auch den Steuerfreibetrag für Alleinerziehende haben wir in dieser Legislaturperiode erhöht. ({5}) Wir würden gerne noch mehr tun. Ich denke, wenn wir in den nächsten Legislaturperioden weiter in der Regierung bleiben, ({6}) werden wir diese ganzen Maßnahmen noch weiter ausbauen. ({7}) Was wir allerdings nicht tun werden – das hat mein Vorredner von der CDU/CSU angedeutet –, ist, Ihrem Finanzierungsvorschlag zu folgen. Ich darf das mal vorlesen; denn ich finde es toll, wie man so was machen kann. ({8}) Das ist schon abenteuerlich. Sie schreiben am Ende Ihres Antrages: Insgesamt sollen die zu erwartenden Mindereinnahmen im Rahmen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel gegenfinanziert werden. ({9}) Das ist eine tolle Maßnahme. ({10}) Wenn wir das jedes Mal so machen würden, würden wir hier, glaube ich, nicht sehr weit kommen. Wir haben die Dinge, die wir erweitert haben, solide gegenfinanziert. Deswegen können wir hier zu Recht sagen: Wir haben die Situation für Familien in dieser Legislaturperiode bereits extrem verbessert. ({11}) Wir werden das auch weiterhin tun. Ich hoffe, dass wir noch sehr lange die Chance dazu haben werden. Es ist nämlich gut, wenn man Chancen hat, und ich glaube, die werden wir weiterhin haben. Es wäre schön, wenn Sie uns die Chance geben und helfen würden, weiterhin viel für Familien zu tun. Vielen Dank. ({12})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Ich schließe die Aussprache. Es ist keine weitere Wortmeldung vorgesehen.

Dr. Georg Kippels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004327, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Im Jahre 1998 wurde der Beruf des Psychotherapeuten bzw. der Psychotherapeutin zum ersten Mal gesetzlich normiert, weil die Praxis einen Bedarf dazu gesehen hat. Seit dieser Zeit hat sich in Praxis, Lehre und natürlich auch in der akademischen Ausbildung sehr viel geändert. Allein durch die Etablierung des Bachelor- und Masterstudiums hat der akademische Ausbildungsweg eine andere Prägung bekommen. Aus diesem Grund haben wir uns nun entschlossen, die Psychotherapie in einem eigenständigen Studium zu etablieren. Praxis, Lehre und Wissenschaft haben in den vergangenen 20 Jahren viele Verfahren vertieft, weiterentwickelt und auch neue Verfahren und Methoden vorangetrieben. Verhaltenstherapie, Psychoanalyse und systemische Therapie bilden ein breites Spektrum, das in der neuen Ausbildung unbedingt Niederschlag finden muss. Aber auch die Form und der Inhalt der Rechtsstellung in der Weiterbildung waren dringend einer Novellierung zu unterwerfen. Bei dieser Ausgangslage gab es nur die Auswahl zwischen einer grundlegenden Neuordnung oder einem Flickwerk durch Einzelkorrekturen. Die Neuordnung eines Berufsbildes erfolgt aber nicht in kurzen Abständen. Sie muss Vertrauen im System herstellen, sodass der große Wurf, den wir jetzt vollzogen haben, das einzig Richtige war. Die notwendigen Regelungspunkte wurden systematisch abgearbeitet. Mit Rücksicht auf eine überschaubare und vermutlich begrenzte Redezeit will ich mich auf eine schlagwortartige Wiedergabe der grundlegenden Regelungspunkte beschränken. Die Psychotherapie ist nun ein eigenes universitäres Studienfach mit drei Jahren Bachelor- und zwei Jahren Masterstudium, anschließender Approbation nach Prüfung, und dann schließt sich die Weiterbildung an. Die Berufsbezeichnung lautet Psychotherapeut bzw. Psychotherapeutin, und bei Ärzten gibt es einen berufsbezogenen Zusatz. Nach der Weiterbildung kann die Eintragung ins Arztregister und damit die Teilnahme am ambulanten GKV-Versorgungssystem erfolgen. Ausbildungsinhalt ist die gesamte Breite der aktuellen Lehre und Forschung. Er ist bei Anerkennung neuer Verfahren durch den Wissenschaftlichen Beirat jeweils anzupassen. Damit ist die wissenschaftliche Dynamik gewährleistet. Wir starten mit dem neuen Berufsbild bereits zum Wintersemester 2020. Die Rechtsstellung und Vergütung der sogenannten PiWs, Psychotherapeuten in Weiterbildung, wurden für die ambulante und stationäre Weiterbildung klar normiert. Dies wurde aber auch zum Anlass genommen, die PiAs, die Psychotherapeuten in Ausbildung, für den Übergangszeitraum in klinischen Einrichtungen mit 1 000 Euro bzw. in ambulanten Einrichtungen mit mindestens 40 Prozent der erhaltenen Leistungen zu vergüten. Damit wurden eine grundlegende Regelungslücke und damit wirtschaftliche Belastungen und Unsicherheiten in der Weiterbildung beseitigt. Für die Versorgung wurden ebenfalls Verbesserungen installiert. Für psychisch schwer kranke Menschen wird der Gemeinsame Bundesausschuss in einer neuen Richtlinie die Versorgungsbereiche umfänglich vernetzen. Für den Übergang aus der stationären Versorgung in die ambulante Versorgung sind nunmehr probatorische Sitzungen im Krankenhaus vorgesehen. Auch der Zugang zur Gruppentherapie wird erleichtert. Der Anreiz für die Schaffung weiterer Therapieplätze ist gesetzt. Natürlich gibt es noch eine ganze Reihe von Details, die im Gesetz Niederschlag gefunden haben. Im Rahmen der ausführlichen Fachdebatte, die wir vor, während und nach den Anhörungen in großem Umfang geführt haben, hat sich herausgestellt, dass in der Vergangenheit eine Vielzahl von Verbänden und Kammern und in den zurückliegenden 20 Jahren eine ganze Reihe von Positionen und Eigendynamiken entstanden sind, die nicht unbedingt zur Optimierung des Berufs bzw. der Versorgung beigetragen haben. ({0}) Versorgungsqualität und Patientensicherheit sind der Maßstab des neuen Berufsbildes. Wissenschaftliche Dynamik aus der Forschung und Vernetzung weiterer Fachdisziplinen tragen der Komplexität dieses Versorgungsbereichs Rechnung. Diese Punkte waren für mich als Berichterstatter entscheidend. ({1}) Die Übergangszeit von zwölf Jahren und mehr erscheint relativ lang, aber ich glaube, dass sich das in der Praxis letztlich relativieren wird. Das Gesetz ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Ich bedanke mich bei den Mitberatenden für eine sehr sachorientierte, wenn auch durchaus kontroverse Diskussion. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Kippels. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Udo Hemmelgarn, AfD-Fraktion. ({0})

Udo Theodor Hemmelgarn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004743, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Minister Spahn sagte in seiner Haushaltsrede zum Einzelplan 15 Folgendes: Wir brauchen mehr „Wir wollen anpacken“-Reden. Wir brauchen … mehr Wettbewerb darum, wer … unaufgeregt, pragmatisch Probleme löst … Ob dem Gesundheitsminister mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Psychotherapeutenausbildung eine unaufgeregte, pragmatische Lösung gelungen ist, bleibt zweifelhaft. Das hat mehrere Gründe. Gemäß seinem Wortlaut soll der Gesetzentwurf dazu dienen, den „Patientinnen und Patienten, die einer psychotherapeutischen Behandlung bedürfen, eine qualifizierte, patientenorientierte, bedarfsgerechte und flächendeckende psychotherapeutische Versorgung auf dem aktuellen Stand wissenschaftlicher Erkenntnisse zur Verfügung zu stellen.“ Die Fachwelt begrüßt das Gesetzgebungsverfahren, beurteilt den Entwurf aber kritisch. Sie sieht Nachbesserungsbedarf bei der Sicherung der Verfahrensvielfalt und der Studiendauer. Der Spitzenverband Fachärzte Deutschlands e. V. spricht in seiner Stellungnahme vom 5. September 2019 sogar von – ich zitiere –: „Täuschung der Patienten“ durch den Regierungsentwurf zur Reform der Psychotherapeutenausbildung und einem „Etikettenschwindel“ in Gesetzesform, der durch falsche Begrifflichkeiten den Strukturreformcharakter mit all seinen Implikationen verschleiern soll. Die von der Bundesregierung erarbeiteten Vorschläge werden von der Fachwelt jedenfalls nicht als die große pragmatische Lösung angesehen und sind mit viel Kritik bedacht worden: erst vorgesehene unpassende Modellversuchsstudiengänge, zu wenig Praxisbezug usw. usf. Diesem Gesetzentwurf folgten in der letzten Woche noch 33 Änderungsanträge der Koalitionsfraktionen – Änderungsanträge, mit denen dann im letzten Moment rechtssystematische und rechtstechnische Korrekturen durchgeführt wurden, die aber auch die wichtige Einführung von Härtefallregelungen beim Abschluss begonnener Ausbildungen oder die Finanzierung der Krebsberatungsstellen betrafen. Meine Damen und Herren, eine patientenorientierte Versorgung muss zweifelsohne die Patientensicherheit ausreichend gewährleisten. Hierzu braucht es bereits in der Ausbildung einen zusammenhängenden Praxisbezug und eine Vergleichbarkeit der Ausbildungsqualität. Ein weiteres Praxissemester und schriftliche Prüfungen der Fachkenntnisse sind dafür unerlässlich. Beides fordern wir in unserem Antrag zum vorliegenden Gesetzentwurf. Eine schriftliche Prüfung in Form der Protokollierung einer durchgeführten Patientenbehandlung durch den Prüfling selbst ist dabei nicht zielführend; denn der individuelle Charakter einer solchen Prüfungsform steht dem Anliegen der Vergleichbarkeit entgegen. Die Patientensicherheit endet nicht bei der Ausbildung. Daher fordern wir, zusätzlich im Rahmen der Berufszulassung für alle Antragsteller, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, eine verpflichtende Sprachprüfung einzuführen. Heilkunst braucht auch Sprachkunst. Das gilt in besonderer Weise für Psychotherapeuten. Bei ihnen ist das feinste Verständnis sprachlicher Äußerungen der Patienten ein unerlässliches Werkzeug. Ohne eine ausreichende Würdigung der Patientensicherheit bleibt der Gesetzentwurf seinen Zielen mehr schuldig, als er liefert. Pragmatische und unaufgeregte Lösungen sind nur ansatzweise zu finden. Wir werden uns enthalten. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Hemmelgarn. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Dirk Heidenblut, SPD-Fraktion. ({0})

Dirk Heidenblut (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004295, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren auf der Tribüne! Endlich ist es geschafft. Ich sage wirklich: Endlich. Ich freue mich, dass wir diesen Gesetzentwurf heute verabschieden können. ({0}) Wir, die SPD, haben die Überarbeitung des Gesetzes zweimal in den Koalitionsvertrag verhandelt, und beim zweiten Mal hat es geklappt. Das ist doch schon mal richtig gut, dass wir das durchziehen können. ({1}) Das ist etwas, worüber man sich wirklich freuen kann. Zu meinem Vorredner kann ich nur sagen: Wenn man zu diesem Gesetz reden möchte und hier darüber spricht, was die Fachwelt von diesem Gesetz hält, dann hätte man sich mal damit beschäftigen sollen, was die Fachwelt ist. ({2}) Dann hätte man auch erfahren, dass die Fachwelt von diesem Gesetz durchaus eine Menge hält und dieses Gesetz haben will. Den Spitzenverband Fachärzte Deutschlands e. V. hier als die Fachwelt anzuführen, ist völlig daneben. ({3}) Es hätte vielleicht geholfen, wenn man mal im Gesundheitsausschuss gewesen wäre oder eine der Anhörungen verfolgt hätte. Dann hätte man sich auch mit dem Gesetz beschäftigt. ({4}) Ähnlich gut ist übrigens der Antrag der AfD, weshalb man dazu nicht viel sagen muss. Ein bisschen Beschäftigung mit der Materie sollte schon sein, wenn man darüber redet und Anträge dazu verfasst. Jetzt aber zurück zum Gesetz. Es ist ein gutes Gesetz. Wir haben noch eine Menge nachgebessert. Der Kollege Kippels hat einiges zum Gesetz und zu seinen Details gesagt. Darauf möchte ich an dieser Stelle nicht mehr so detailliert eingehen. ({5}) Ich will aber noch mal auf ein paar Punkte eingehen, die wir nachgebessert haben. Wir legen den Entwurf eines Gesetzes vor, mit dem wir eine Ausbildung komplett umstellen. Bisher hatten diejenigen, die Psychotherapeutin oder Psychotherapeut werden wollten, die Möglichkeit, entweder den Weg über die Psychologie zu gehen oder den Weg über die Pädagogik. Im zweiten Fall konnten sie Kinder- und Jugendpsychotherapeutin oder ‑therapeut werden. Sie hatten bereits ein Hochschulstudium abgeschlossen und durften danach – das war eine absolut prekäre Situation – in eine Ausbildung – so wurde das bezeichnet – zum Psychotherapeuten oder zur Psychotherapeutin gehen; mit der Folge, dass sie als Praktikantinnen und Praktikanten im Zweifel entweder gar nichts bekamen oder nur ein bisschen, aber obendrein viel für die Ausbildung bezahlen mussten. Das war mit ein Grund dafür, dass wir gesagt haben: Dieses System kann man so nicht lassen, nicht bei einer Berufsgruppe, die wir dringend für die Versorgung psychisch erkrankter Menschen brauchen. Es kann nicht sein, dass sie sich diese hochkomplexe, hochschwierige Ausbildung selbst erkaufen müssen, ohne dass sie dafür bezahlt werden. Deswegen war es mir als Berichterstatter und uns als SPD-Fraktion ein besonderes Anliegen, diese Regelung zu ändern. Wir verändern die Ausbildung mit dem Gesetz grundlegend für all diejenigen, die nach der neuen gesetzlichen Regelung studieren. Sie werden die Approbation, wie das bei den Ärztinnen und Ärzten üblich ist, am Ende des Hochschulstudiums haben. Sie beginnen dann eine Weiterbildung und befinden sich damit auch sozialrechtlich in einer vernünftigen Situation und werden ordentlich bezahlt. Das ist ein wichtiger Schritt. ({6}) Wir wollten gerne auch eine Übergangslösung für all diejenigen finden, die noch nach den alten Regeln weitermachen. Diese Therapeuten brauchen wir. Denn wir können es uns nicht erlauben, zwischendurch ein paar Ausbildungsjahrgänge zu verlieren, was ja die Konsequenz gewesen wäre, wenn wir mal eben gesagt hätten: „Jetzt ist Schluss“; das geht natürlich nicht. Das ist uns leider nicht so gelungen, wie wir uns das vorgestellt haben. Der Koalitionspartner ist, sagen wir mal, zum Jagen getragen worden, um überhaupt eine Lösung zu finden. Ich behaupte, auf die Lösung, die wir gefunden haben, werden wir noch mal richtig draufgucken müssen. Ich greife da auf das zurück, was, glaube ich, die Kollegin von den Grünen im Zusammenhang mit dem Hebammenreformgesetz gesagt hat: Nach dem Gesetz ist vor dem Gesetz. – Auf einige Stellen werden wir noch mal draufgucken müssen, und aus meiner Sicht ist es die PiA-Frage, auf die man noch mal draufgucken muss. Grundsätzlich ist es ein gutes Gesetz. Es sieht grundsätzlich ein Hochschulstudium vor, das wir jetzt in die richtige Richtung bewegen. Die neue Regelung bewirkt genau das, was wir brauchen, nämlich dass wir hochqualifizierte Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten bekommen. Über die Härtefallregelung – das war ein großer Wunsch der Studierenden – kann die Ausbildung sogar noch bis zu 15 Jahre lang nach den alten Regeln abgeschlossen werden; denn es kann sein, dass sich in einem so langen Zeitraum die Lebensplanung der Menschen ändert; sie brauchen vielleicht eine etwas längere Übergangszeit als zwölf Jahre. Auch ihnen wollen wir ermöglichen, ihre Ausbildung abzuschließen. Auf diesen Wunsch sind wir eingegangen. Ganz kurz will ich noch etwas zum Versorgungsaspekt sagen, den wir in den Gesetzentwurf eingebaut haben. Zunächst hatten wir einen etwas vergurkten Ansatz des Ministeriums; vorgesehen war eine Regelung über das Terminservice- und Versorgungsgesetz. Die entsprechende Formulierung haben wir in Übereinstimmung mit unserem Koalitionspartner aus dem Gesetzentwurf rausgeschmissen. ({7}) Das war richtig; die war nichts. Dann gab es einen, sagen wir mal, nicht mehr so vergurkten, aber immer noch nicht passgenauen Ansatz im Gesetzentwurf. Daraus haben wir – und das ist ja die Aufgabe des Parlaments – etwas richtig Gutes gemacht, behaupte ich mal; denn wir haben eine passgenaue Regelung für die Personengruppe gefunden, die im Moment in einer schwierigen Versorgungslage ist. Das sind die Menschen, die schwer psychisch krank sind und die einen komplexen Behandlungsbedarf haben, bei deren Behandlung viele Berufsgruppen zusammenarbeiten müssen. Der G‑BA wird dazu eine Richtlinie aufstellen, und zwar eine eigenständige Richtlinie, die eine koordinierte, eine vernünftige Vorgehensweise ermöglicht. Ich sage mal: Es geht um so etwas wie eine Lotsenfunktion, damit man zu einer vernünftigen Versorgung kommt. Das ist gerade für schwer psychisch Erkrankte wichtig. Wir haben die Gruppenpsychotherapie aufgewertet, und wir sorgen dafür – das könnte vielleicht eine Blaupause dafür sein, wie wir künftig mehr auf Vernetzungsstrukturen setzen –, dass endlich ein vernünftiger Übergang in die ambulante Therapie stattfindet, und zwar schon in der Klinik. Das ist nämlich ganz entscheidend, damit es nicht zum Bruch kommt und vor allen Dingen nicht zum Abbruch von Therapien, was am Ende Probleme bereitet. ({8}) Ich will noch kurz etwas zu einer Idee sagen, die gut gemeint war, aber irgendwie schräg ankam. Wir wollten, dass in dieses neue ambulante Versorgungsmodell auch die Institutsambulanzen eingebunden werden. Dabei ist der Eindruck entstanden, dass die Regelung, die wir zur Finanzierung getroffen haben, eine grundsätzliche Veränderung der Regelungen zu den Institutsambulanzen darstellt. Das ist nicht der Fall. Die Regelung, die wir dazu getroffen haben, gilt nur für die neue Versorgungsform. Das haben wir im Ausschuss noch mal klargestellt; dafür bin ich den Kollegen dankbar. Das werden wir vielleicht noch mal nachpflegen müssen, damit es für alle verständlich und sauber ist. Ansonsten danke ich und wünsche mir eine breite Zustimmung. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Heidenblut. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Wieland Schinnenburg, FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Wieland Schinnenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004874, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden über einen Gesetzentwurf, der im Ansatz völlig richtig ist. Wir finden es gut, dass künftig Psychotherapeuten grundsätzlich so ausgebildet werden wie Ärzte: Erst ein Studium an einer wissenschaftlichen Hochschule, dann die Approbationsprüfung, dann die fachliche Weiterbildung. Der Ansatz ist gut, die Umsetzung ist Mist. ({0}) Und deshalb werden wir diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Lassen Sie mich die wichtigsten Mängel hier einmal vortragen: Da ist zunächst einmal die Sache mit der Berufsbezeichnung. Damit geht es schon los. Minister Spahn und die Koalition sorgen für Intransparenz. Bisher konnte man sicher sein: Entweder lasse ich mich von einem medizinisch ausgebildeten Psychotherapeuten behandeln oder von einem Psychologischen Psychotherapeuten. Den Unterschied werden wir künftig an der Berufsbezeichnung nicht mehr erkennen können. Alle Leute reden von Transparenz, Minister Spahn schafft sie ab. Das ist ein Fehler, meine Damen und Herren. ({1}) Der zweite Punkt: Es gibt viel zu wenig Praxis in der Ausbildung. Deshalb hatten wir ein Praxissemester gefordert. Die Koalition hat das abgelehnt. Für mich ist das ein dicker Fehler. ({2}) Der dritte Punkt: Minister Spahn und die Koalition zeigen wieder einmal, wie wenig sie von Sachverstand halten. Es gibt einen Wissenschaftlichen Beirat, der besetzt ist mit Vertretern der Bundesärztekammer und der Bundespsychotherapeutenkammer, eine sehr, sehr gute Einrichtung. In Zweifelsfällen soll er befragt werden. Und wer entscheidet, wann „im Zweifelsfall“ ist? Genau: die Behörde. Meine Damen und Herren, sie wird sich nicht dafür entscheiden. Wie kann man nur so dumm sein, so eine tolle Institution nicht in Anspruch zu nehmen? Auch das ist ein schwerer Fehler. ({3}) Viertes Problem: Wir sollen hier die Katze im Sack kaufen. Wenn Sie den Gesetzentwurf lesen, stellen Sie fest, dass die wesentlichen Aspekte – wie das Studium abläuft und welche Anforderungen gestellt werden – alle nicht drinstehen. Dazu verweist man auf eine Approbationsordnung. Doch die Approbationsordnung gibt es noch gar nicht. Wir wissen also nicht, ob die Ausbildung gut oder nicht gut ist und welche Anforderungen gestellt werden. Ich sage Ihnen eines: Die Freien Demokraten werden niemals die Katze im Sack kaufen. Das können wir weder den Patienten antun noch den Psychotherapeuten. Das allein ist ein Grund, nicht zuzustimmen. ({4}) Fünfter Punkt – für manche der wichtigste –: Es wurde schon erwähnt, dass die Psychotherapeuten in Ausbildung, die PiAs, jahrelang zu Recht sehr engagiert auf ihre prekäre Situation hingewiesen haben. Was bekommen sie jetzt? Viel zu wenig. Das Schulgeld müssen sie weiterhin zahlen. Es gibt immerhin eine gewisse Bezahlung, sie sind aber nicht sozialrechtlich abgesichert. Mit anderen Worten: So geht man mit den PiAs, die engagiert und zu Recht Forderungen gestellt haben, nicht um. ({5}) Minister Spahn und die Koalition lassen die PiAs alleine. Das kann die FDP nicht akzeptieren, meine Damen und Herren. ({6}) Ich fasse zusammen: Guter Wille reicht nicht; es muss auch vernünftig umgesetzt werden. Minister Spahn und die Koalition haben eine große Chance ausgelassen. Sie tun weder richtig etwas für die Patienten noch für die Psychotherapeuten. Und wir sollen die Katze im Sack kaufen. Ich verstehe gar nicht, warum die Koalitionsfraktionen so etwas mitmachen. Wir machen das nicht mit. Wir werden uns enthalten. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Harald Weinberg, Fraktion Die Linke. ({0})

Harald Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004186, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute tritt der langwierige Prozess der so dringend notwendigen Reform der Psychotherapeutenausbildung in die letzte und entscheidende Phase. Zehn Jahre haben die Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten in Ausbildung und Studierende für eine Reform dieser Ausbildung, die bislang nur unter äußerst prekären Bedingungen stattfindet, gekämpft. Doch gerade diese Menschen, die sich so viele Jahre zu Recht bessere Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen gewünscht haben, werden in diesem Gesetzentwurf ungenügend berücksichtigt. Die Übergangsregelung, die die Koalition in letzter Minute präsentiert hat, ist kaum mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Was hilft es, dass an die Auszubildenden 40 Prozent des Honorars weitergegeben werden, wenn sich das Ausbildungsinstitut, dem nun das Geld fehlt, das über das Schulgeld für die theoretische Ausbildung wieder reinholt? Überhaupt: Dass die Koalition es nicht hinbekommen hat, das Schulgeld für eine Weiterbildung abzuschaffen, ist aus unserer Sicht ein Trauerspiel. ({0}) Bis nach 2030 werden wir durch die Übergangsregelung die Situation haben, dass Menschen mit gleicher oder ähnlicher Qualifikation, die im selben Haus die gleiche Tätigkeit machen, ungleich bezahlt werden. Das ist aus unserer Sicht unakzeptabel. ({1}) Nicht nur die Forderung nach einer Übergangsregelung, sondern auch die Forderungen nach einer Vielfalt im Studium wurden nicht angemessen berücksichtigt, und das, obwohl alle Verbände in den Anhörungen, einschließlich der Vertreter der dominierenden Verhaltenstherapie, die fehlenden Maßnahmen zur Sicherstellung der Verfahrensvielfalt kritisiert haben. So wird die gravierende Einseitigkeit im heutigen Psychologiestudium auch im künftigen Psychotherapiestudium fortgeführt. Die künftigen Psychotherapiestudierenden müssen eine Wahl haben zwischen mehreren Therapieverfahren, und alle Verfahren müssen gleichermaßen kompetent vermittelt werden. ({2}) Die psychodynamischen Verfahren, die systemische Therapie und die humanistische Therapie werden leider weiter marginalisiert. Damit muss Schluss sein. ({3}) Eine weitere Verschlechterung betrifft die Hochschulen für angewandte Wissenschaften, die als Ort der Durchführung des neuen Direktstudiengangs ausgeschlossen werden. Dabei sind sie Orte praxisbezogener Lehre und inzwischen auch guter, weil praxisorientierter Forschung. Die Beschränkung auf Universitäten droht die Dominanz der Verhaltenstherapie weiter zu verfestigen. Wir fordern, dass die Hochschulen für angewandte Wissenschaften mit entsprechender Forschungsarbeit das Psychotherapiestudium anbieten dürfen. Gleichzeitig werden in dem Gesetzentwurf die Langzeittherapien gegenüber den Kurzzeittherapien ökonomisch benachteiligt. Dies greift massiv in die bisherigen Rahmenbedingungen der Richtlinien-Psychotherapie ein und untergräbt die erforderliche Sicherheit für den therapeutischen Prozess, auf die sich Patienten und Psychotherapeuten einstellen können und müssen. Diese ganzen Punkte, die ich jetzt genannt habe – die laschen Übergangsregelungen für die Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten in der Ausbildung, die Einseitigkeit im Studium, der Ausschluss der Hochschulen für angewandte Wissenschaften und die Gefährdung der Langzeittherapien –, sind gravierende Regelungslücken im Gesetzentwurf. Wir sagen voraus, dass das entsprechende Folgeprobleme nach sich ziehen wird. Wir werden deshalb diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Wir werden ihn ablehnen. Danke. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächste Rednerin spricht zu uns die Kollegin Maria Klein-Schmeink, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen hier im Haus! Liebe Gäste zu später Stunde! Wir müssen und können sagen: Es ist gut, dass wir heute ein Gesetz zur Neuordnung der Psychotherapieausbildung bekommen. ({0}) Damit wird ein Prozess abgeschlossen, der schon 2007 begonnen hat. Dieser Prozess führt jetzt endlich zu einem Gesetz. Das ist erst einmal gut. Das begrüßen wir. Aber man muss sagen: Das ist ausgesprochen schlecht umgesetzt worden. Und das hat dieser lange Prozess nicht verdient. ({1}) Anders als die Vorredner von der Koalition betont haben, ist es eben nicht gelungen, eine nach vorne weisende, nachhaltige und auch substanziell gut durchdachte Reform aufzulegen. Sie haben viele der Probleme, die der Grund für dieses Reformvorhaben waren, nicht wirklich aufgegriffen. Das muss man kritisieren. ({2}) Sie haben es weder geschafft, die prekäre Lage derjenigen, die nach dem alten Ausbildungssystem ausgebildet werden, also der PiAs, zu beheben, noch haben Sie es geschafft, sie für die neuen Psychotherapeuten in Weiterbildung vollständig zu beheben. Man muss einfach sagen: Die Menschen, die diesen wichtigen Beruf ergreifen wollen, haben einen ganz anderen Start und eine andere Ausbildungssituation verdient. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, diejenigen in einer so wichtigen Ausbildung mit einer Vergütung auf BAföG-Niveau abzuspeisen, und das nach einem abgeschlossenen Studium der Psychologie, ist dermaßen unter Wert. Dass Sie sich dafür nicht schämen und sich da nicht bewegt haben, nehme ich Ihnen tatsächlich übel. ({4}) Übel nehme ich Ihnen auch, dass der sozialrechtliche Status der vielen PiA, die noch in einer langen Übergangszeit weiter ausgebildet werden, nicht geklärt ist, dass wir also weiterhin in ganz vielen Bereichen von einem Praktikumsverhältnis reden. Auch das muss man hart kritisieren, und das muss noch geändert werden. ({5}) Die Chance, die Situation der Kinder- und Jugendtherapeuten einzubeziehen, haben Sie nicht genutzt. Im gesamten Prozess ist nicht klar geworden, warum Sie die Fachhochschulen, die Hochschulen für angewandte Wissenschaften, nicht einbeziehen, warum Sie den ganzen Bereich der pädagogisch Ausgebildeten nicht einbeziehen. Das ist ein so wichtiger Versorgungsbereich. Sie leisten im Bereich der Kinder- und Jugendpsychotherapie einen so wichtigen Beitrag, dass wir es uns gar nicht leisten können, sie nicht einzubeziehen. Auch dazu muss man sagen: Das ist ein großer Fehler. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ebenso muss man sagen: Die Neuordnung der Versorgung, die eben angesprochen worden ist, bleibt weit hinter dem zurück, was wir eigentlich brauchen würden.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, bitte kommen Sie jetzt zum Schluss. Sonst muss ich Ihnen das Wort entziehen.

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ganz am Ende des Prozesses noch eine Gesetzesänderung auf den Tisch zu legen, die nirgendwo diskutiert worden ist – die Abschaffung der Antragsverfahren –: Auch das ist nicht solide. Wir werden diesen gesamten – – ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, Sie dürfen Platz nehmen. Sie haben Ihre Redezeit um 35 Sekunden überschritten.

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Der Kollege Stephan Pilsinger, CDU/CSU-Fraktion, hat seine Rede, wie ich finde: beispielgebend, zu Protokoll gegeben ({0}) – Ja, man bekommt gelegentlich Applaus für nicht gehaltene Reden, der deutlich stärker ist als für gehaltene Reden.

Dr. Birke Bull-Bischoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004688, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Berufsbildungsbericht sagt uns: Seit 2017 ist der Anteil der Unternehmen, die ausbilden, gesunken. Vor allen Dingen kleine und Kleinstunternehmen ziehen sich zurück, nicht zuletzt aus finanziellen Gründen. Wenn Sie mit Praktikerinnen und Praktikern sprechen, dann erfahren Sie von der Sorge, dass gerade kleine und Kleinstbetriebe ausbilden und danach mit der Situation konfrontiert sind, dass ihre gut ausgebildeten Fachkräfte von größeren Unternehmen abgeworben werden. Das sorgt für Ärger, und das sorgt für weitere Zurückhaltung bei der Frage von Ausbildung. Wenn wir von einem auswahlfähigen Angebot an Ausbildungsplätzen reden, dann sprechen wir von einem Versorgungsgrad von 112,5 Prozent. Ausbildungsplätze anzubieten ist in Deutschland die Aufgabe von Unternehmen, und das ist gut so; denn es sichert die Güte unserer beruflichen Ausbildung. Aber der Ausbildungsmarkt ist damit auch konjunkturellen Schwankungen ausgesetzt. Wenn man auf die letzten 40 Jahre blickt, dann muss man sagen: Ausbildungsplatzmangel war eher die Regel als die Ausnahme. Aus diesen Gründen – mindestens aus diesen Gründen – brauchen wir ein grundsätzlich garantiertes Recht auf Ausbildung und eine solidarische Finanzierung von Ausbildung. ({0}) Eine solche solidarische Umlagefinanzierung kann kleine und Kleinstunternehmen entlasten, und zwar diejenigen, die ausbilden. Damit ist Ausbildung auch kein finanzieller Wettbewerbsnachteil mehr. Der Ausbildungsmarkt ist angemessen entkoppelt von betriebswirtschaftlichen Entscheidungen, und am Ende haben wir mehr Geld zur Verfügung, um tatsächlich das Recht auf Ausbildung, nötigenfalls auch öffentlich finanziert, zu sichern. Eine solidarische Umlagefinanzierung ist auch nicht wirklich vom fremden Stern. Es gibt eine ganze Reihe von positiven Erfahrungen; ich denke nur an die Umlagefinanzierung in der Bauwirtschaft, ({1}) die erst vor vier Jahren erweitert worden ist auf Solo-Selbstständige und andere Betriebe. Zweites Beispiel ist die Pflegeausbildung in Nordrhein-Westfalen, die durch den Landesfonds aller Pflegeheime und ambulanter Dienste finanziert wird ({2}) und einen Zuwachs, einen enormen Zuwachs, an Ausbildungsplätzen gesichert hat. Auch die großen juristischen Steine sind aus dem Weg geräumt. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages hat keine durchgreifenden finanz-verfassungsrechtlichen Bedenken festgestellt, und auch das Bundesverfassungsgericht hat sich bereits damit beschäftigt und hat zumindest im Inhalt keine grundlegenden Bedenken. Es ist Zeit für einen großen Wurf. Und wenn Sie denn sächsische Hilfe, Nachhilfe, brauchen: Zu Beginn des Sommers forderte der Präsident der Handwerkskammer Dresden im Wortlaut: Diese Umlage, die die ausbildenden Betriebe entlasten würde, wäre auch ein Zeichen der Wertschätzung. ({3}) Gute Ausbildung kostet Geld. Die Gesellschaft profitiere davon. – Das sagt Jörg Dittrich, Präsident der Handwerkskammer Dresden. Guter Mann, finde ich. Recht hat er! ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Oh; vielen Dank, Frau Kollegin. – Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Dr. Astrid Mannes, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Astrid Mannes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004814, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Linkspartei beklagt, ({0}) dass bei fast jedem siebten Bewerber die Suche nach einem Ausbildungsplatz erfolglos verläuft. Dies liegt aber nicht daran, dass wir in Deutschland zu wenige Ausbildungsplätze haben. In diesem Jahr wurden insgesamt knapp 543 000 Ausbildungsstellen angeboten. Über 207 000 davon sind bislang unbesetzt; das sind 38 Prozent. Demgegenüber stehen rund 134 000 Bewerber, die bislang noch keinen Ausbildungsvertrag unterschrieben haben. Anders ausgedrückt: Auf 65 unversorgte Bewerber kommen 100 freie Ausbildungsstellen. Wir haben also keinen Mangel an Lehrstellen; wir haben das Problem, dass nicht jeder Suchende exakt die Lehrstelle findet, die er haben möchte. Statt nun über Verkomplizierung und eine neue Abgabe für die Betriebe nachzudenken, müssen wir doch vielmehr überlegen, wie wir generell mehr junge Menschen für eine Ausbildung begeistern und wie wir ihnen dabei auch die Ausbildungsberufe vorstellen können, in denen viele Ausbildungsstellen unbesetzt bleiben. ({1}) Wir müssen dafür sorgen, dass die jungen Menschen die große Breite der Ausbildungsberufe kennenlernen und dass sie ihren Blick nicht auf ein paar Trendberufe verengen. Das Bildungs- und Forschungsministerium hat sich in diesem Bereich schon 2008 mit dem Berufsorientierungsprogramm eingebracht und die Bundesländer motiviert, sich im Bereich der Berufsorientierung verstärkt einzubringen. Industrie und Handwerk brauchen den Zugang zu den weiterführenden Schulen. Es ist wichtig, dass sich auch Gymnasien vor Ausbildungsmessen und Berufsberatungen nicht verschließen und ihren Schülern die Gelegenheit eröffnen, sich hier über Ausbildungsberufe zu informieren. ({2}) Deutschland findet international viel Anerkennung für sein gutes Ausbildungssystem, und nicht ohne Grund haben wir in Deutschland die geringste Jugendarbeitslosigkeit in ganz Europa. Die Union setzt sich für eine weitere Stärkung des dualen Ausbildungssystems ein. Der Meisterbonus ist ein richtiges Signal. Wir führen ab 2020 eine ausgewogene Mindestvergütung für Auszubildende ein und die verbesserte Möglichkeit der Ausbildung in Teilzeit. Mit der Novelle des Berufsbildungsgesetzes werden einheitliche und international anschlussfähige Abschlussbezeichnungen auf drei Stufen kommen. Damit zeigen wir, dass eine berufliche Bildung etwas Gleichwertiges zur akademischen Bildung ist. Wir zeigen über die Begrifflichkeiten, dass es keine verschiedenen Wertigkeiten gibt. ({3}) Dies soll helfen, mehr junge Menschen – auch Abiturienten – für die berufliche Bildung zu interessieren und auch den Eltern zu zeigen, dass es hier um unterschiedliche Talente und Neigungen, aber nicht um verschiedene Wertigkeiten geht. Ausbilden ist für Unternehmen die beste Möglichkeit, um den eigenen Fachkräftebedarf zu sichern. Doch gerade in den Kleinst-, kleinen und mittleren Unternehmen sind die Ressourcen „Zeit“ und „Personal“ oft zu knapp, um sich intensiver dem Thema Ausbildung zu widmen. Daher gibt es hier viele unterstützende Angebote. Ich nenne beispielhaft die Jobstarter- oder Jobstarter-plus-Projekte, mit denen kleine und mittlere Unternehmen rund um das Thema Ausbildung unterstützt werden. Diese Angebote sind sinnvoller als die solidarische Umlagefinanzierung. Denn damit können auch Fehlanreize gesetzt werden. Lassen Sie uns keine neue Bürokratie aufbauen, die zu keinen zusätzlichen Lehrstellen führt. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, die Wirtschaftszweige mit unbesetzten Ausbildungsstellen bekannt zu machen und mehr junge Menschen auch für diese Bereiche zu begeistern und ihnen dann auch in ihren Berufen gute Entwicklungsperspektiven aufzuzeigen. Ich danke Ihnen. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner ist für die AfD-Fraktion der Kollege Martin Sichert. ({0})

Martin Sichert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004892, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Praxis beweist, dass Sie von der Linken keine Ausbildungsförderung kennen. ({0}) Die Länder, in denen Sie regieren, sind Schlusslicht bei der Ausbildung. Während bundesweit 17,8 Prozent aller Betriebe ausbilden, sind es in den von Ihnen regierten Ländern: in Berlin winzige 10,3 Prozent, in Brandenburg mickrige 12,6 Prozent und in Thüringen maue 13,2 Prozent. Daran sieht man, dass Sozialismus immer nur eine Ursache für Probleme ist und niemals eine Lösung. ({1}) Kehren Sie doch bitte erst mal vor der eigenen Haustür, bevor Sie hier große Reden schwingen. Aber auch abgesehen davon ist Ihr Antrag in der aktuellen Situation eine einzige Themaverfehlung. Es wundert mich nicht, dass Sie von der Linken so einen Antrag stellen; denn in Bayern und Baden-Württemberg, wo das Rückgrat des deutschen Wohlstands gerade in die Knie geht, sind Sie ja nicht existent. Es ist völlig kontraproduktiv, Unternehmen staatlich zur Ausbildung zu nötigen, wenn man zugleich die Arbeitsplätze in großem Stil vernichtet und die jungen Leute nach der Ausbildung überhaupt keinen Arbeitsplatz mehr finden. Wer Ausbildungsplätze schaffen will, der sollte nicht Unternehmer gängeln, sondern der sollte ein politisches Klima schaffen, in dem Unternehmer auf Jahre hinweg planen können. ({2}) Ein Automobilzulieferer, der nicht weiß, ob es ihn Ende nächsten Jahres noch gibt, der Standorte schließen und Tausende Mitarbeiter entlassen muss, der wird keinen Azubi einstellen. ({3}) Und der Bäcker und der Metzger, deren Hauptkunden die Mitarbeiter dieses Zulieferers sind, werden auch keinen Azubi einstellen, wenn sie nicht wissen, wer die Leberkässemmel noch kaufen soll, wenn das Werk vor seiner Nase dichtgemacht hat. Im heutigen Klassenkampf ist der Gegner der Arbeiter bei Audi, BMW, Bosch, Continental und Siemens nicht der Arbeitgeber, sondern die Klasse der abgehobenen, machtgeilen sozialistischen Politbonzen, ({4}) die unter dem Vorwand angeblichen Klimaschutzes ihre Arbeitsplätze vernichten. ({5}) – Ja, schreien Sie nur. Politbonzen sind die, zu denen Sie hier alle gehören. Während Zehntausende ihre Arbeitsplätze verlieren und um ihre Existenz bangen, stellen Sie von der Linken bis zur FDP gemeinsam den Antrag, sich im Berliner Abgeordnetenhaus die Bezüge zu verdoppeln. Abgehobener kann man wohl kaum sein. Oder, um es mit den Worten eines 16-jährigen Kindes zu sagen: „Wie können Sie es wagen!“ ({6}) Wie können Sie es wagen, sich in Berlin die Diäten zu verdoppeln, während Sie zugleich mit Ihrer Politik die Existenz von Millionen Menschen in Bayern und Baden-Württemberg angreifen, ohne deren Finanzspritzen Berlin überhaupt nicht überlebensfähig wäre! Wie können Sie es wagen, die Zukunft der Jugend zu vernichten, indem Sie mit Ihrer Politik Deutschland deindustrialisieren! ({7}) Wie können Sie es wagen, hier über weitere Gängelung von Unternehmen nachzudenken, während bereits jetzt Hunderttausende Arbeitsplätze auf der Kippe stehen! Wie können Sie es wagen, die Zeit hier damit zu verschwenden, über eine Neuabgabe für Ausbildungen zu diskutieren, während Sie zugleich massenweise die Arbeitsplätze für die aktuellen Auszubildenden vernichten! ({8}) Wie können Sie es wagen, tatenlos wegzusehen, ({9}) wenn allein in den letzten Monaten bei der Stammbelegschaft in der Automobilindustrie über 30 000 Arbeitsplätze gestrichen wurden und Zehntausende Leiharbeiter ausgestellt wurden! Und dass Sie dazu nur „Oah!“ sagen – zu den 30 000 Arbeitsplätzen, die hier verloren gegangen sind, zu den 30 000 Schicksalen –, das sagt alles über Sie aus. ({10}) Während die Automobilproduktion weltweit steigt, ist sie in Deutschland in den letzten anderthalb Jahren um über 20 Prozent eingebrochen. In der Automobilindustrie, dem Rückgrat der deutschen Wirtschaft, geht die blanke Angst um. Ihre Politik macht aus topverdienenden Steuerzahlern arbeitslose Sozialleistungsbezieher. Jeder Arbeitsplatz, der verloren geht, der betrifft nicht nur einen Menschen, davon hängen meist eine ganze Familie ab und viele weitere Arbeitsplätze bei Dienstleistern und Handwerkern in der Region. Sie zerstören die Zukunft der jungen Menschen mit Ihrer Politik. Sie rauben ihnen die Kindheit, indem Sie ihre Eltern arbeitslos machen. Und obendrein schaden Sie damit auch der Umwelt; denn das Einzige, was Sie bewirken, ist eine Verlagerung der Produktion weg von Deutschland in Länder mit deutlich geringerem Standard beim Umweltschutz. Ja, wir sind in einem Massensterben: dem Massensterben der Arbeitsplätze im Herzen der deutschen Wirtschaft. ({11}) Das ist es, was unserem Land und unseren Kindern die Zukunft raubt. ({12}) Wie können Sie es wagen, diese Probleme immer weiter zu verschärfen und dann auch noch eine neue Abgabe für Ausbildungen zu beantragen! Wie können Sie es wagen! ({13})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Sichert, die Kolleginnen und Kollegen dieses Parlamentes können es deshalb wagen, weil sie durch Wahlen demokratisch legitimiert sind. ({0}) Die Kollegin Yasmin Fahimi, SPD-Fraktion, hat ihre Rede zu Protokoll gegeben. Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Jens Brandenburg, FDP-Fraktion. ({1})

Dr. Jens Brandenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Linke, Ihr Antrag ist ja ganz schön dünn. Sie wiederholen die uralte Forderung nach einer Ausbildungsumlage, ein konkretes Konzept bleiben Sie uns heute aber schuldig. Arbeitgeber sollen irgendwie Beiträge zahlen, die dann umverteilt werden an ausbildende Unternehmen. Mehr, Konkretes, erfahren wir von Ihnen nicht. Viele Fragen bleiben offen: Wie hoch soll dieser Beitrag sein? Zahlen alle Unternehmen gleich viel? Oder gibt es eine Bezugsgröße – Beschäftigte oder Umsatz? Nach welchen Kriterien wird das Geld verteilt? Wer verwaltet diesen Fonds? Ist die Umlage befristet oder dauerhaft? Ist sie bundesweit oder regional spezifisch? Gilt die Umlage über alle Branchen hinweg oder eben nicht? Und, liebe Linke, kennen Sie den Unterschied zwischen Unternehmen und Betrieb? Bei Ihnen sollen beide bezahlen. Wenn nun ein Unternehmen aus mehreren Betrieben besteht, wer zahlt denn dann? Wie sieht es aus mit Unternehmen, die Anforderungen, Qualifikationsanforderungen, außerhalb der beruflichen Bildung haben? Das ist ja beispielsweise im IT-Sektor keine Seltenheit. Und wie wollen Sie es mit dual Studierenden handhaben? Über all diese Fragen um die konkrete Umsetzung Ihrer Forderung haben Sie offensichtlich gar nicht nachgedacht. Die Dauer dieser Plenardebatte hätten Sie besser genutzt, einen konkreten Vorschlag zu formulieren. ({0}) Aber vielleicht haben Sie recht, und das lohnt sich gar nicht. Denn Ihre Problembeschreibung geht ja schon an der Realität völlig vorbei: Sie zeichnen hier ein Bild, als würden Hunderttausende Jugendliche ausschließlich daran scheitern, dass angeblich all die Unternehmen überhaupt gar nicht ausbilden wollen. Das Gegenteil ist doch der Fall. Immer mehr kleine Betriebe geben die Suche nach Auszubildenden auf, weil sie über Jahre hinweg keine passenden Bewerber finden. Zahlenmäßig gehen momentan Angebot und Nachfrage auf; aber wir haben ein Passungsproblem, sektoral und geografisch. Und Sie wollen nun den Bäcker aus Greifswald bestrafen, weil sein potenzieller Bewerber lieber Fotograf in Krefeld werden will! ({1}) Wir beobachten, dass immer mehr Jugendliche ihre Perspektive im Studium sehen und leider nicht in der beruflichen Bildung. Wir beobachten außerdem, dass über 50 000 Jugendliche jedes Jahr die Schule ganz ohne Abschluss verlassen. Und an all dem ändert Ihre Umverteilung gar nichts. ({2}) Auch zu Ihrer zweiten Forderung – nach einem Rechtsanspruch auf Ausbildung – erfahren wir nichts Konkretes. Aber sie lässt zumindest durchblicken, was Sie eigentlich vorhaben: Sie wollen junge Menschen nicht mehr so sehr in Betrieben, sondern in außerbetrieblichen Einrichtungen ausbilden und das von der Wirtschaft bezahlen lassen. ({3}) Damit legen Sie die Axt an die duale Ausbildung. Wer am tatsächlichen Bedarf auf dem Arbeitsmarkt vorbei ausbildet, erhöht die Jugendarbeitslosigkeit, und das lassen wir nicht durchgehen. ({4}) Nötig wären stattdessen eine praxisnahe Berufsorientierung an allen Schulen, individuellere Bildungswege mit Möglichkeiten zu Teil- und Nachqualifikation und eine echte Exzellenzinitiative „berufliche Bildung“, die die Attraktivität von Aus- und Weiterbildung weiter erhöht. ({5}) Als gute Serviceopposition haben wir diese Vorschläge und viel mehr natürlich schon längst eingebracht. Lassen Sie sich doch davon inspirieren. Eine letzte Anmerkung. Wir stehen ja alle auch in persönlicher Verantwortung. Laut Medienberichten gibt es in Ihrer Fraktion keinen einzigen Abgeordneten, der im eigenen Büro ausbildet. Mein geschätzter Kollege Otto Fricke – da sitzt er – hat zurzeit eine Auszubildende aus Brandenburg im zweiten Lehrjahr in seinem Büro. ({6}) Ich selbst bin recht neu dabei. Ich habe mir das für die nächste Legislaturperiode – die Wahl vorausgesetzt – auch persönlich vorgenommen. ({7}) Jetzt sind Sie am Zug: Wenn Sie schon nicht ausbilden, können Sie sich doch gerne in der Fraktion zusammentun und Herrn Fricke einen Teil Ihrer Mitarbeiterpauschale übertragen. ({8}) Ganz solidarisch und so, wie Sie es von der Wirtschaft einfordern. Herzlichen Dank. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Brandenburg. – Die Kolleginnen Beate Walter-Rosenheimer, Bündnis 90/Die Grünen, Dr. Dietlind Tiemann, CDU/CSU-Fraktion, und Ulrike Bahr, SPD-Fraktion, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben. ({0}) Damit schließe ich die Aussprache.

Sabine Weiss (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11004187

Schönen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Noch ein Gesetz aus dem BMG. Nun ist es ja kein Wert an sich, viele Gesetze zu machen; aber es ist ein Wert an sich, gute Gesetze zu machen, ({0}) Gesetze, die einen spürbaren Unterschied machen. Das Gesetz zur Errichtung des Implantateregisters ist so eins, weil es gut ist für alle Patientinnen und Patienten, die ein Implantat haben oder denen eine Implantation bevorsteht. Sie sollen mehr Sicherheit bekommen, gut versorgt werden mit hochwertigen Implantaten, in erfahrenen Einrichtungen. Dafür sorgt das Register mit mehr Transparenz über Qualität und Haltbarkeit der Produkte und auch über die Versorgungsqualität in den Kliniken. Wir werden mit der Erfassung von Hüft- und Knieprothesen und von Brustimplantaten beginnen. Alle Patientinnen und Patienten sollen davon profitieren. Sie haben künftig auch selbst die Möglichkeit, sich zu informieren. Das Register wird ihnen Gewissheit liefern, in welcher Klinik ein bestimmter Eingriff an der Tagesordnung ist, wo also ein großes Know-how dafür vorhanden ist. Sichtbar wird dies durch die jährlichen Berichte des Registers. Diese Berichte müssen auf validen und vollständigen Daten basieren; daher setzen wir auf eine verpflichtende Teilnahme für alle Beteiligten. Die Meldung an das Register ist für die Gesundheitseinrichtungen, die gesetzlichen und privaten Krankenversicherungen und alle Patientinnen und Patienten verbindlich. Auch die Hersteller müssen sich beteiligen; sie werden verpflichtet, ihre Produkte in der Produktdatenbank des Registers zu registrieren. Bei Meldeverstößen der Gesundheitseinrichtungen oder bei der Meldung von Implantaten, die nicht in der Produktdatenbank registriert sind, sieht der Gesetzentwurf einen Vergütungsausschluss vor. Versicherte sollen durch das Gesetz außerdem einen deutlich schnelleren Zugang zu medizinischem Fortschritt und zu Innovationen erhalten, in der Arztpraxis und im Krankenhaus. In der Vergangenheit hat das Bewertungsverfahren beim Gemeinsamen Bundesausschuss zu oft zu lange gedauert; deshalb führen wir kürzere Fristen ein, verkürzen Stellungnahmeverfahren. Wir wollen mehr Erprobungen von innovativen Methoden im GKV-System haben. Die Versorgung muss sich vor allem am Bedarf der Patientinnen und Patienten und an den bisher vorhandenen Behandlungsalternativen ausrichten. Das ist evidenzbasierte Medizin, und daran soll sich auch nichts ändern. Das Gesetz zur Errichtung des Implantateregisters hilft, die medizinische Versorgung von Patientinnen und Patienten weiter zu verbessern. Es ist ein weiteres Gesetz, das einen Unterschied macht, weil es Probleme zu lösen hilft, anstatt sie nur zu beschreiben. Herzlichen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Ulrich Oehme, AfD-Fraktion. ({0})

Ulrich Oehme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004843, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Das Implantateregister ist eine gute Sache, soll es doch die bisher schon bestehenden vielen Register ablösen und so Bürokratie abbauen. So weit, so gut. Den Ansatz, dass alle Implantate ohne Zustimmung des Patienten mit all seinen persönlichen Daten ins Register aufgenommen werden, halten wir für falsch, zeigt es doch einmal mehr, wie diese Regierung mit den Rechten ihrer Bürger umgeht. ({0}) Ob Organtransplantation, Impfpflicht oder Implantateregister, all diese Gesetzentwürfe greifen in die Freiheitsrechte unseres Volkes ein. Das Verständnis dieser Koalition bei Problemlösung ist Zwang und Eingriff in die Freiheitsrechte der Bürger. ({1}) Aus diesem Grund haben wir auch einen Änderungsantrag gestellt. Ein Rechercheteam des Bayerischen Rundfunks und der US-Investigativplattform ProPublica ist weltweit auf zahlreiche unsicher konfigurierte Server mit personengebundenen Patientendaten gestoßen. Dabei handelt es sich um hochsensible medizinische Daten, unter anderem auch von Patienten aus Deutschland. Über Jahre hinweg hätten Unbefugte darauf zugreifen können. So etwas darf sich unter keinen Umständen wiederholen! ({2}) Da es aber keine hundertprozentige Sicherheit gibt, soll der Patient selbst entscheiden, ob er Daten freigeben möchte, und, wenn ja, welche. Auf keinen Fall sollten die Daten ohne Zustimmung des Patienten gespeichert werden können. ({3}) Ja, wir brauchen eine allumfassende Registrierung von Implantaten. Ja, wir brauchen eine enge Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Forschung, um den Standort Deutschland zu erhalten. Nein, wir brauchen keinen Zwang, sondern Aufklärung und Prävention. Für den Patienten steht die Einhaltung des Datenschutzes im Vordergrund. Er möchte nicht, dass Krankenkassen oder Arbeitgeber irgendeine Möglichkeit erhalten, an diese Daten zu gelangen. ({4}) Nicht die zwangsweise Aufnahme seiner Daten schafft Vertrauen, sondern verständliche Information und die Gewähr von Datensicherheit. Denn wenn der Patient weiß, was mit seinen Daten passiert, ({5}) und er sich damit der Vor- und Nachteile der Aufnahme in das Register bewusst ist, wird er sich entsprechend entscheiden. Aber er soll die Entscheidung treffen ({6}) und nicht Minister Spahn. ({7}) Diese Regierung hat sich längst von der Idee eines intelligenten, hinterfragenden und aufgeklärten Bürgers abgewandt. Ihr geht es nicht darum, dass der Mensch selbst denkt, sondern dass der Staat ihm das Denken abnimmt, sei dies nun freiwillig oder erzwungen. ({8}) Vor allem aber wollen Sie im Gesundheitswesen einen sprichwörtlichen Kadavergehorsam. Wir wollen erstens, dass das Gesundheitssystem für den Patienten da ist und nicht umgekehrt, zweitens, dass die Patienten in die Entscheidungen über ihre Gesundheit einbezogen werden, und drittens, dass der Bürger selbst entscheidet, wem er wann und zu welchem Zeitpunkt seine Daten freigibt. ({9}) Wir fordern Vertrauen statt Zwang. Wir werden Ihrem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Danke. ({10})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Die Kolleginnen und Kollegen Sabine Dittmar, SPD-Fraktion, Katrin Helling-Plahr, FDP-Fraktion, Harald Weinberg, Fraktion Die Linke, Maria Klein-Schmeink, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben. ({0}) Der Kollege Dietrich Monstadt, CDU/CSU-Fraktion, hat seine Rede ebenfalls zu Protokoll gegeben. Die Kollegin Martina Stamm-Fibich, SPD-Fraktion, hat ihre Rede ebenfalls zu Protokoll gegeben.

Stephan Mayer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003589

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Die Bundesregierung legt Ihnen heute den Entwurf für das Besoldungsstrukturenmodernisierungsgesetz vor. Der Titel ist zugegebenermaßen sperrig, aber – und das ist mir weitaus wichtiger als der Titel – in diesem Gesetzentwurf verbergen sich nur positive Aspekte für unseren öffentlichen Dienst. Unsere Maxime – die Maxime der Bundesregierung – bezüglich des öffentlichen Dienstes ist: Wir brauchen einen öffentlichen Dienst, der da ist, wir brauchen einen öffentlichen Dienst, der gut ist, und wir brauchen einen öffentlichen Dienst, der motiviert ist. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir in Deutschland auf Bundes-, auf Landes- und auf kommunaler Ebene nicht nur einen hervorragend motivierten öffentlichen Dienst, sondern auch Hunderttausende von Beamtinnen und Beamten sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im öffentlichen Dienst haben, die hervorragend qualifiziert und motiviert sind. Und dafür von meiner Seite aus ein herzliches Dankeschön! ({0}) Wir müssen aber natürlich auch gewärtig sein, dass die Konkurrenz größer wird, dass in Zeiten der Digitalisierung, des demografischen Wandels und des zunehmenden Fachkräftebedarfs natürlich auch der Wettbewerb um die fähigen Köpfe härter wird. Deshalb müssen wir unsere Anstrengungen verstärken, damit wir wirklich die Fähigsten der Fähigen bekommen, und ich bin der festen Überzeugung: Mit dem Bundesbesoldungsstrukturenmodernisierungsgesetz wird diesem Anspruch entsprechend Rechnung getragen. ({1}) Was verbirgt sich in diesem Gesetzentwurf? Wir wollen – das ist uns sehr wichtig – die Struktur der Zulagen auf neue Beine stellen. Beispielsweise wollen wir die Polizeizulage, die seit 20 Jahren nicht mehr angetastet wurde, um 40 Prozent erhöhen. Ich glaube, das sind wir den Polizeibeamtinnen und ‑beamten des Bundes auch schuldig. ({2}) Daneben werden wir die Zulage für die Beamtinnen und Beamten im Bundeskriminalamt um 50 Prozent erhöhen. Wir werden die Struktur der Anwärterbezüge auf neue Beine stellen und auch die Anwärterbezüge adäquat erhöhen, weil wir erkannt haben, dass es insbesondere wichtig ist, junge Frauen und Männer auch mit einer interessanten Besoldungsstruktur für den öffentlichen Dienst zu begeistern. Seit 2012 gibt es die Möglichkeit, Personalgewinnungszuschläge zu gewähren. Wir haben aber die Erfahrung machen müssen, dass von diesen Personalgewinnungszuschlägen nur sehr unzureichend Gebrauch gemacht wird. Deshalb wollen wir diese Personalgewinnungszuschläge in ein neues Modell der Personalgewinnungsprämie transferieren. Wir sind der festen Überzeugung, dass es effektiver und sachgerechter ist, Prämien mit einer einmaligen Wiederholungsmöglichkeit zu zahlen, um wirklich die fähigen Köpfe für den öffentlichen Dienst zu gewinnen, die wir haben wollen. ({3}) Daneben werden wir die Auslandsverwendungszuschläge deutlich erhöhen. Wir wissen, dass insbesondere für Polizeibeamtinnen und ‑beamte der Einsatz in Krisengebieten nicht nur teilweise hochgefährlich, sondern im Hinblick auf die persönliche Inanspruchnahme auch sehr anspruchsvoll ist. Deswegen haben wir vorgesehen, dass die Auslandsverwendungszuschläge um 44 Prozent erhöht werden. Auch dies ist aus meiner Sicht vollkommen sachgerecht. ({4}) Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass wir die hier verabschiedete Verbesserung im Bereich der sogenannten Mütterrente, also die Verbesserung der rentenversicherungsrechtlichen Anerkennung von Kindererziehungszeiten für die Kinder, die vor dem 1. Januar 1992 geboren wurden, inhalts- und wirkungsgleich auch für die Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes umsetzen. Auch dies ist aus meiner Sicht eine positive Botschaft in Richtung des öffentlichen Dienstes. Ein weiterer wichtiger Aspekt, der den Löwenanteil an den Kosten ausmacht, ist die Verbesserung des Umzugskostenrechtes. Wir bauen die Wahlmöglichkeiten zwischen der Umzugskostenbeihilfe und dem Trennungsgeld aus – insbesondere bei Auslandsverwendungen. Auch dies ist aus meiner Sicht ein wichtiger Punkt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin der festen Überzeugung, dass wir mit diesem Gesetzentwurf ein wohlaustariertes Konzept vorlegen. Wir sind der festen Überzeugung: Wir haben einen guten, hochmotivierten öffentlichen Dienst, aber wir müssen noch mehr dafür tun, dass dieser öffentliche Dienst auch zukunftsfähig gestaltet wird, sodass wir auch in Zukunft einen wettbewerbsfähigen und attraktiven öffentlichen Dienst behalten. Vor diesem Hintergrund bin ich der Auffassung, dass dieser Gesetzentwurf schon sehr gut ist. Es steht dem Deutschen Bundestag aber natürlich frei, diesen Gesetzentwurf noch besser zu machen. ({5}) Dazu darf ich Sie auch ganz herzlich einladen. Ich möchte nur dafür plädieren, dass die Gesetzgebungsverhandlungen zügig erfolgen und die vereinbarten Maßnahmen zeitnah ins Werk gesetzt werden. Unser Ziel ist, dass dieses neue Gesetz, das Besoldungsstrukturenmodernisierungsgesetz, zum 1. Januar des kommenden Jahres in Kraft tritt. Ich freue mich auf konstruktive, aber auch zügige parlamentarische Verhandlungen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Lars Herrmann, AfD-Fraktion. ({0})

Lars Herrmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004748, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es vergeht selten eine Plenarsitzung, in der nicht unseren Sicherheitsbehörden – und insbesondere den Bundespolizisten – für ihre Arbeit gedankt wird, und das ist auch absolut richtig und korrekt so. Jedoch können sich meine Kollegen von den lauwarmen Dankesreden und feuchten Händedrücken nichts kaufen. ({0}) Deshalb freue ich mich sehr, dass die Bundesregierung mit dem Besoldungsstukturenmodernisierungsgesetz endlich die richtige Initiative ergriffen hat, um dies zu ändern. Besonders begrüßt meine Fraktion die geplante Erhöhung der Polizeizulage. Es grenzt aber fast schon an einen Taschenspielertrick, dass man im selben Atemzug den Familienzuschlag kürzen möchte. Sie wissen genauso gut wie ich: Der Familienzuschlag ist ruhegehaltsfähig, die Polizeizulage ist es eben nicht. Am Ende nehmen Sie unseren Bundespolizisten im Alter sogar noch Geld weg, und das spottet jeder Beschreibung. ({1}) Weiterhin verbesserungsbedürftig ist die Zulage für die PBLs, also die Personenbegleiter Luft, die im Bereich der Rückführungen tätig sind. Es ist ja durchaus zu begrüßen, dass der Innenminister seine Meinung wieder einmal geändert hat – diesmal zu Recht –; denn im Juni 2018 hatte er im Innenausschuss eine solche Zulage noch abgelehnt. Mir als Praktiker erschließt sich aber einfach nicht, warum man zwischen Rückführungen innerhalb der EU und Rückführungen in Drittstaaten unterscheiden möchte. In der Realität macht es nämlich keinen Unterschied, ob ich als Rückführer einen renitenten Ausreisepflichtigen – beispielsweise aus Eritrea – im Rahmen einer Dublin-Rückführung in ein Flugzeug nach Paris oder in einen Flieger nach Ostafrika setzen muss. In beiden Fällen ist das eine große Herausforderung für die eingesetzten Beamten, und daher sollte auch bei der Zulage keine Abstufung vorgenommen werden. ({2}) Wir müssen auch noch über eine Anpassung in Bezug auf den DuZ – Dienst zu ungünstigen Zeiten – sprechen. Damit ist der Dienst an Sonn- und Feiertagen und zu Nachtstunden gemeint. Auch da ist noch jede Menge Luft nach oben. Was ist mit den SKBs, den szenekundigen Beamten? Die hat man offenbar ganz vergessen – und das, obwohl die Kollegen vor keiner dritten Halbzeit zurückschrecken bzw. versuchen, genau so etwas zu verhindern. Das sollte also bitte auch in die Erschwerniszulagenverordnung aufgenommen werden. Was ist mit den Entschärfern? Die kann man doch nicht nur mit 35 Euro und ein paar Zerquetschten pro Einsatz abspeisen. Versuchen Sie einmal, mit der Berufsbezeichnung „Bombenentschärfer“ eine Lebensversicherung abzuschließen und vor allen Dingen zu bezahlen. Da kommt man mit 35 Euro nicht weit. ({3}) Mir fehlt leider die Zeit, auf den Antrag der FDP näher einzugehen, aber das ist auch nicht schlimm, weil der eher mäßig ist. Die FDP macht ja Klientelpolitik für die freie Wirtschaft und jetzt auch für den öffentlichen Dienst. In Ihrem Antrag sprechen Sie – das hätte ich nicht gedacht – nur vom gehobenen Dienst und vom höheren Dienst. Der mittlere Dienst kommt darin gar nicht vor. Wenn man nur Häuptlinge und keine Indianer hat, dann ist das schlecht. Umso mehr freue ich mich auf die Beratungen im Ausschuss. Herr Mayer, da werden wir bestimmt noch ganz viele Sachen haben, die wir hinzufügen können. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Helge Lindh, SPD-Fraktion. ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schon allein die Tatsache, dass ich Ihnen jetzt vielleicht die Minuten schenken kann, die ich vorhin überzogen habe, Herr Präsident, ist ein Grund, zu reden. Ich teile womöglich das Schicksal des Freiredenden und würde ansonsten mit meiner Faulheit konfrontiert werden. ({0}) Aber ernsthaft: Es gibt sehr gute Gründe für diesen Gesetzentwurf, und das ist sicher ausschlaggebend dafür, dass viele um diese Uhrzeit noch zu diesem sehr wichtigen und guten Gesetzentwurf sprechen. Deshalb ist es auch notwendig, dass die Koalition hier deutlich macht, warum wir uns zu diesem Gesetzentwurf entschlossen haben. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Freundinnen und Freunde! ({1}) – Herr Throm lacht zu dieser Stunde. ({2}) Es ist jetzt ein Moment, hier Einigkeit zu begreifen. Deshalb ist es mir auch wichtig – um jetzt auch ernst zu werden –, dass wir uns der Bedeutung dessen, was wir tun, vergewissern, wenn wir die Leistungen des öffentlichen Dienstes würdigen. ({3}) Wir haben Jahrzehnte erlebt, in denen private Leistungen gegenüber denen des Staates überwiegend bevorzugt wurden. Diese Zeit ist glücklicherweise vorbei, und daran, dass sich die FDP auch um die Verbesserung der Bedingungen im öffentlichen Dienst bemüht, sehe ich, dass das auch bei Ihnen angekommen ist. ({4}) Das halte ich für ein sehr erfreuliches Signal. ({5}) Das BesStMG hat, wie Herr Mayer schon erwähnte, eine etwas sperrige Gesamtbezeichnung. Deshalb nenne ich es jetzt einfach mal "Guter-Öffentlicher-Dienst-Gesetz“ oder auch „Glücklichere-Beamte-Gesetz“. Darum geht es auch; genau das soll das Ziel sein. Wenn wir eine funktionierende Daseinsvorsorge und immer höhere Leistungen von unserem BKA, von unseren Bundespolizisten und insbesondere auch von unseren Soldatinnen und Soldaten erwarten, dann ist es das Mindeste, dass wir nicht nur neue Stellen schaffen, sondern dass wir auch Menschen mit den entsprechenden Voraussetzungen finden, die diese Stellen auch bekleiden können. ({6}) Diese müssen für ihre Leistungen auch angemessen gewürdigt werden. Wir haben es manchmal leicht: Wir entscheiden hier über Auslandseinsätze und Mandate. Diejenigen, die das ausführen müssen, sind unsere Soldatinnen und Soldaten. Deshalb ist es wichtig, dass sie für ihre Auslandsverwendung entsprechende Zulagen bekommen. ({7}) Genauso ist es bei den Ausnahmetatbeständen: Es ist immer wichtig, nicht nur abstrakt eine Verbesserung anzustreben, sondern auch auf diejenigen zu schauen, die diese umzusetzen haben. Wenn wir manchmal über einen starken Staat schwadronieren, dann sollten wir uns auch daran erinnern, dass dieser Staat ganz viele Mitarbeiter an der Basis hat, die für dessen Funktionieren zuständig sind. Gucken Sie mal in die neueste Studie über Vertrauen in die Politik! Eine Erkenntnis dort ist, dass es zwar ein Grundverständnis für Demokratie gibt, dass aber zunehmend Zweifel hinsichtlich des Funktionierens dieser Demokratie vorhanden sind. ({8}) Deshalb brauchen wir einen starken öffentlichen Dienst, ausgestattet mit gut ausgebildeten, qualifizierten und motivierten Beamtinnen und Beamten. Deshalb ist dieses BesStMG ein kluges Gesetz, und es ist das richtige Gesetz zum richtigen Zeitpunkt. ({9}) Auch wenn Herr Notz hier offensichtlich einen viel größeren Wurf erwartet hat und wir auch an dem Antrag der FDP sehen, ({10}) dass man sich im Grunde ein Omni-Gesetz wünschen würde, das in allen Bereichen sofort optimale Verbesserungen umsetzt: Diese Detailarbeit, die wir hier erleben, macht deutlich, dass alle Gruppen, die wir hier bedenken, sehr differenziert von diesem Gesetz profitieren werden und dass alle Gruppen und ihre jeweiligen Situationen besser berücksichtigt werden. Deshalb gibt es gar keinen Grund, darüber zu lachen und das abschätzig zu beurteilen. ({11}) Im Gegenteil: Dieses BesStMG ist eine hervorragende Leistung dieser Regierungskoalition, und es wird eines der besten Gesetze sein, die wir hier auf den Weg bringen. ({12}) Außerdem haben wir im parlamentarischen Verfahren – Herr Mayer hat ja die Hand ausgestreckt – durchaus noch die Möglichkeit, Veränderungen zu prüfen. Es wird beispielsweise über den Familienzuschlag diskutiert. Wir werden sehen, was am Ende dabei herauskommt. ({13}) Wenn ich an die Ausführungen von eben denke: Die Ehrlichkeit gebietet es, sich anzugucken, wie der Familienzuschlag ursprünglich ausgestaltet war, um dann zu entscheiden, ob man unter Umständen Einzelne schlechterstellt, um andere besserzustellen. ({14}) Das ist eben nicht eine triviale Aufgabe, und es ist die Aufgabe der Politik, das genau auszudifferenzieren und nicht einfach global mit dem Rasenmäher über Zulagen oder Ähnliches zu gehen. ({15}) Sehr geehrte Damen und Herren, wir wollen einen starken Staat, und wir wollen auch bei kritischen Fragen, wie zum Beispiel bei den Personenbegleitern Luft – das wurde schon erwähnt –, nicht einfach nur Entscheidungen treffen, sondern auch diejenigen, die die Konsequenzen dafür zu tragen haben, entsprechend bedenken. Das Entscheidende ist, hier mit einer großen Mehrheit und mit einer großen Entschiedenheit das Signal auszusenden, dass wir uns vor denjenigen, die für uns einstehen – Soldatinnen und Soldaten, Bundespolizistinnen und Bundespolizisten, auch diejenigen in den Ministerien und beim BKA, all diejenigen, die tagtäglich für Sicherheit, Verlässlichkeit und all das sorgen, was sich Millionen von Menschen in anderen Ländern wünschen –, verneigen und dass wir alles dafür tun, bestmögliche Bedingungen für sie zu schaffen. ({16}) Das ist nicht nur eine Frage von Wettbewerbsfähigkeit gegenüber der privaten Wirtschaft.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe mein Versprechen leider nicht einhalten können. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie jetzt wirklich zum Schluss.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das ist eine entscheidende Frage für eine Bundesrepublik, die sich dazu bekennt, ein starker Staat zu sein, –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Lindh, ich muss Ihnen sonst das Wort entziehen.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

– der nicht Risiken an Private verlagert, sondern weiß, was er an seinen – – ({0}) Vielen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, Sie dürfen Platz nehmen, und ich hoffe wirklich inständig, dass nicht alle Ihre Geschenke so klein sind wie das, was Sie uns gerade gemacht haben; denn wir haben nicht mal eine Sekunde eingespart, sondern noch 18 Sekunden draufgelegt. Das war also ein negatives Geschenk. ({0}) – Das mag jeder beurteilen, wie er möchte. Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Konstantin Kuhle, FDP-Fraktion. ({1})

Konstantin Kuhle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004796, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Uns liegt ein Entwurf für ein Besoldungsstrukturenmodernisierungsgesetz vor, und die Freien Demokraten begleiten diesen Entwurf mit Wohlwollen; denn er enthält einige sehr wichtige Ausgangspunkte: Die Polizeizulage wird zum ersten Mal seit 20 Jahren um gleich 40 Prozent erhöht, es werden zusätzliche Möglichkeiten zur Personalgewinnung und zur Personalbindung eingeführt, und auch bei der Anwärterzulage bewegt sich etwas. Meine Damen und Herren, wenn das Bundesinnenministerium, wenn diese Bundesregierung neue Stellen in diesem Ausmaß, wie es geplant ist, schaffen wollen, dann muss man für den öffentlichen Dienst – gerade bei der Polizei – auch durch Attraktivität werben, und deswegen sind das richtige Schritte im Besoldungsstrukturenmodernisierungsgesetz. ({0}) Ich will aber einen Punkt ansprechen, lieber Kollege Lindh, den Sie am Rande Ihrer Rede ein bisschen gestreift haben. Es geht um den Bereich der Familienzuschläge. Im Titel dieses Gesetzentwurfs steht ja „...strukturenmodernisierungsgesetz“. Wenn man schon mit dem Anspruch, Strukturen zu modernisieren, einen Gesetzentwurf angeht, dann wäre es in der Tat gut, man würde nicht nur einzelne Zulagen erhöhen und verändern, sondern tatsächlich die Strukturen verändern. Da hat – das muss man leider sagen – dieser Gesetzentwurf im Verlauf der letzten Monate deutlich an Mut verloren; denn im ersten Entwurf war noch vorgesehen, den Verheiratetenzuschlag bei gleichzeitiger Steigerung des Kinderzuschlags zu halbieren. Das wäre ein richtiger Schritt gewesen, um die Mitarbeiter im öffentlichen Dienst sowie deren Kinder und Familien zu stärken. Man kann nur hoffen, dass das, was jetzt gestrichen worden ist – warum auch immer das zwischen den Koalitionsfraktionen vereinbart worden ist –, im Ausschuss wieder hineinkommt. Das wäre eine wirkliche Strukturmodernisierung, wie sie erforderlich ist. ({1}) Ich glaube auch, dass wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf einige Schritte in die richtige Richtung gehen, aber der große Wurf ist das nicht. Es ist ja angeklungen: Wir haben die Herausforderung der Digitalisierung, wir haben die Herausforderung des demografischen Wandels, viele Beamtinnen und Beamte sowie viele Tarifbeschäftigte gehen in Ruhestand, wir haben einen massiven Bedarf gerade an IT-Fachkräften. Da frage ich Sie: Wo sind die besonderen Instrumente und Vorschläge, um auf diese Themen zu reagieren? Deswegen haben die Freien Demokraten einen eigenen Vorschlag, eine eigene Liste mit Ideen vorgelegt, die wir gerne in das weitere Verfahren einspeisen würden, und dann wollen wir gerne über folgende Fragen diskutieren: Warum schaffen wir nicht eine spezielle Laufbahn für IT-Fachkräfte? Warum führen wir nicht ein flexibleres Pensionsalter im öffentlichen Dienst ein? Warum sorgen wir nicht dafür, dass praktische Erfahrungen besser anerkannt werden – auch bei Anwärterinnen und Anwärtern? Warum sorgen wir nicht dafür, dass Wechsel zwischen der Privatwirtschaft und dem öffentlichen Dienst einfacher und schneller möglich sind? Warum sorgen wir nicht dafür, dass es bessere Aufstiegsmöglichkeiten – auch von einer Laufbahn in die andere – gibt? Warum erkennen wir nicht neue Arbeitsformen, wie beispielsweise Homeoffice, an? Das sind Punkte, die zu einem großen Wurf dazugehören, und sie sollten im Ausschussverfahren berücksichtigt werden. Vielen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Kuhle. – Bevor ich der nächsten Rednerin das Wort erteile, möchte ich Sie mit einer frohen Botschaft beglücken: Wenn wir uns alle an die Redezeiten halten, werden wir spätestens gegen 1.20 Uhr das Sitzungsende erreichen. Das ist doch mal eine freudige Botschaft für die Mitarbeiter des Hauses. Als nächste Rednerin erhält das Wort die Kollegin Vizepräsidentin Petra Pau, Fraktion Die Linke. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! CDU/CSU und SPD wollen einen leistungsfähigen öffentlichen Dienst, der auch für Neueinsteiger attraktiv ist. So die Botschaft, und wer wollte das nicht? Doch so verheißend der Einstieg und so prall der Gesetzentwurf in seiner Fülle auch ist: Es mangelt der Vorlage aus linker Sicht nicht an Widersprüchen. Deswegen, Kollege Lindh, machen Sie die Drohung, die Sie eben ausgesprochen haben, bitte nicht wahr. Schreiben Sie im parlamentarischen Verfahren nicht etwa „Gute-Beamten-Gesetz“ darüber, sondern lassen Sie uns den Gesetzentwurf insgesamt verbessern. ({0}) Ich will auf einige wenige Merkwürdigkeiten eingehen: Erstens. Die IT-Bereiche sollen leistungsfähiger werden, und neue Experten sollen gewonnen werden. ({1}) Es bleiben aber erhebliche Zweifel, ob die öffentlichen IT-Bereiche durch die vorliegenden Vorschläge wirklich konkurrenzfähiger werden. Das ist also fragwürdig. Zweitens. Es soll Zulagen und Prämien für Auslandseinsätze geben. So weit, so gut. Ich möchte hier prinzipiell anmerken: Die Linke bleibt aus friedenspolitischen Gründen dabei: Der Auftrag der Bundeswehr ist auf die Landesverteidigung zu beschränken. Dann sind diese Auslandseinsätze auch gar nicht nötig. ({2}) Drittens. Die zu hohe Wochenarbeitszeit von 41 Stunden wir nicht etwa abgesenkt, sondern mittels Prämien und Zuschüssen soll sie sogar noch drastisch angehoben werden können. ({3}) Das ist rückwärts gerichtet. ({4}) Viertens. Etliche Zulagen, die für außerordentliche Leistungen vorgesehen werden, sind weiterhin nicht ruhegehalts- bzw. rentenrelevant. Sie wurden aber erbracht. Das ist kurzsichtig. ({5}) Fünftens. Auch Benachteiligungen von Beschäftigen mit DDR-Biografie, etwa derjenigen, die damals zum Bundesgrenzschutz wechselten, werden jetzt nicht etwa getilgt, sondern fortgeschrieben. Das ist ungerecht. ({6}) Ob der Kürze meiner Redezeit will ich es bei diesen Beispielen belassen. Gleichwohl merke ich an: Wir sollten uns in der Anhörung nicht nur ausführlich mit diesem Gesetzespaket beschäftigen, sondern wir sollten dort auch den Antrag der FDP hinreichend würdigen und gemeinsam daran arbeiten, ein tatsächlich gutes Gesetz zu schaffen. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Pau. – Die nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Irene Mihalic, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Irene Mihalic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004353, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll vor allem auf die Herausforderungen des demografischen Wandels und der Digitalisierung reagiert werden; denn beides kommt voll im öffentlichen Dienst an und hat deswegen natürlich auch erhebliche Auswirkungen. Von daher wird es tatsächlich langsam Zeit. ({0}) Um zukunftsfähiger zu werden, sollen nun also das Besoldungs-, das Umzugskosten- und das Versorgungsrecht geändert werden. Das alles klingt erst einmal sehr kleinteilig, ist aber grundsätzlich der richtige Ansatz, und überhaupt ist im vorliegenden Gesetzentwurf, Herr Mayer, vieles richtig, wenn es auch nicht der ganz große Wurf ist. ({1}) Die lange überfällige Anpassung der Polizeizulage zum Beispiel macht schon deshalb Sinn, weil damit erreicht wird, dass das Instrument auch nach Jahrzehnten der Preissteigerungen noch „zieht“, und deswegen ist das natürlich ausdrücklich zu begrüßen. Eines fehlt in Ihrem Gesetzentwurf aber völlig: Die Polizeizulage muss endlich wieder ruhegehaltsfähig werden. ({2}) Erst so wird nämlich aus der geplanten Erhöhung wirklich ein ganz klares Signal an die Beschäftigten und an alle, die sich mit dem Gedanken tragen, sich in ihrer beruflichen Zukunft vielleicht in den Dienst der Polizei zu stellen. Ich finde, Kollege Kuhle hat völlig recht, wenn er sagt, dass wir auch angesichts von Hunderten nicht besetzten Stellen im polizeilichen Bereich dringend etwas zur Verbesserung der Attraktivität des Polizeiberufs tun müssen. ({3}) Auch wenn einige Ihrer Vorschläge längst nicht mehr neu sind – das alles ist irgendwie schon mal dagewesen –, sind sie umsetzungstechnisch allerdings noch nicht voll ausgereift. Insbesondere bei den neugestalteten Personalgewinnungs- und auch Personalbindungsprämien stellt sich die Frage, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen im Gesetz, unter denen diese gezahlt werden sollen, klar genug geregelt sind. Wenn wir noch einmal auf die Zulagen zu sprechen kommen: Auch hier zeigt sich, dass man für eine gerechte Lösung ganz genau hinschauen muss. Die szenekundigen Beamten sind vorhin auch schon angesprochen worden. Deren besondere Situation bleibt natürlich völlig unberücksichtigt. Man muss sich vergegenwärtigen, dass diese Leute einen wichtigen Teil ihrer Erkenntnisse praktisch in ihrer Freizeit gewinnen – dort nehmen sie ihre Aufgabe also auch wahr –, dafür aber keinen Ausgleich bekommen. ({4}) Wir sehen also, dass noch viele Fragen zum Gesetzentwurf offen sind und dass es noch viele Unklarheiten gibt, die im Verfahren auf jeden Fall ausgeräumt werden müssen. Deswegen wäre es wichtig, wenn wir zu diesem Gesetzentwurf eine Sachverständigenanhörung im Innenausschuss durchführen würden. Im Rahmen dieser Anhörung können wir mögliche Änderungsanträge in der gebotenen Tiefe erörtern, ohne gleich das ganze Verfahren auszubremsen; denn die Beschäftigten – das halte ich wirklich für einen ganz wichtigen Punkt – warten zu Recht auf die Verbesserungen aus diesem Gesetz. Wenn wir das alles zügig auf den Weg bringen und in der Anhörung vernünftig beraten, dann steht einer Umsetzung nichts mehr im Weg. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Mit diesen Worten schließe ich die Aussprache, nicht ohne zu erwähnen, dass die Kollegin Petra Nicolaisen, CDU/CSU-Fraktion, ihre Rede zu Protokoll gegeben hat. ({0})

Uwe Kekeritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004066, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Agenda 2030 und das Pariser Klimaabkommen haben einen Aufbruch mit klaren Zielen versprochen: Hunger und Armut sollen weltweit abgebaut werden, Wohlstand soll gerechter verteilt werden, und in Zukunft wollen wir so wirtschaften, dass unsere Lebensgrundlagen überall auf dem Globus erhalten bleiben. – Auch unsere Bundesregierung hat das versprochen. Trotzdem stellen wir fest: Die Zahl der Hungernden steigt, die Ungleichheit nimmt zu, die Artenvielfalt nimmt ab, und die Klimakrise verschärft sich. Es gibt da nämlich ein kleines Problem: Die besten Abkommen bringen absolut nichts, wenn es dafür keinen politischen Willen gibt. Die Bundesregierung hat noch nicht verstanden, dass eine Feigenblattpolitik nicht ausreicht, um die Agenda 2030 umzusetzen. Das zeigt in trauriger Weise auch unsere Große Anfrage. Viele Antworten zeigen, dass die Bundesregierung noch nicht weiß, was sie zu tun hat. Eine Kostprobe: Deutschland gehört beim Gender Pay Gap europaweit zu den Schlusslichtern. Nur zwei europäische Länder sind schlechter, nämlich Estland und Tschechien. Auf die Frage, was die Bundesregierung gegen diesen Gender Pay Gap unternimmt, antwortete sie, dass sie ja immerhin einen Mindestlohn eingeführt habe, ({0}) der für Männer und Frauen gelte, und jedes Jahr würde sie auch einen Boysʼ and Girlsʼ Day organisieren. Das ist wirklich grotesk. ({1}) Dagegen helfen nur wirkliche Gesetze. Wir brauchen gleichen Lohn für gleiche Arbeit. ({2}) Auch international tut die Bundesrepublik zu wenig; sie investiert nämlich nicht einmal 1 Prozent der Entwicklungsgelder gezielt in Geschlechtergerechtigkeit. Eine zweite Kostprobe: Wir haben die Frage gestellt, was denn die ganzen Afrikainitiativen, wie der Marshallplan, Compact with Afrika und Pro!Afrika, im Kampf gegen die Armut bewirkt haben. Die Regierung antwortet darauf, sie habe bis 2017 über einem Viertel der afrikanischen Bevölkerung einen besseren Zugang zu Krankenversicherungen ermöglicht. Das ist hoch interessant. Wohlgemerkt: Mit Programmen der Außenwirtschaftsförderung und für Investitionsverbesserungen in Afrika haben wir den Zugang zu Krankenversicherungen in Afrika verbessert. Das ist schon ein Wunder. Aber das eigentliche Wunder kommt noch. Diese Maßnahmen, die hier abgefragt werden, haben erst nach 2017 begonnen, und die Bundesregierung sagt, sie hätten schon vor 2017 gewirkt. Da muss man sich schon fragen: Wie ernsthaft beantwortet diese Bundesregierung eigentlich Fragen von uns Parlamentariern? ({3}) Ich glaube eher, das ist eine Missachtung des Parlaments, nach dem Motto: Ihr könnt fragen, was Ihr wollt, und wir antworten euch, was wir wollen. – So geht’s nicht! ({4}) Besonders dramatisch ist natürlich auch, dass Deutschland Bremser statt Vorreiter ist. Das zeigt sich ganz besonders auch bei der Klimapolitik. Weder national noch international löst die Bundesregierung ihre Versprechen ein. Während letzten Freitag 100 000 Menschen für echten Klimaschutz auf die Straße gegangen sind, legt die GroKo ein Maßnahmenpaket vor, das an Bodenlosigkeit kaum zu übertreffen ist. ({5}) Wenn selbst die Maß Bier in München beim Oktoberfest mehr kostet als eine Tonne CO2, zeigt das doch, dass diese Regierung noch nichts verstanden hat. ({6}) Es geht um die Überlebensfrage der Menschheit. Es geht um den Erhalt unserer Lebensgrundlagen. Wir können uns hier keinen Aufschub mehr leisten. Streichen Sie endlich die umweltschädlichen Subventionen! Das bringt Milliarden ein. Beschleunigen Sie den Kohleausstieg! Bringen Sie eine CO2-Abgabe auf den Weg, ({7}) die den Wettstreit um den besten Klimaschutz verspricht und nicht den Klimawandel weiter befeuert.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Kekeritz, Sie müssen zum Schluss kommen.

Uwe Kekeritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004066, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich bin am Ende. ({0}) – Nein, ich nicht, aber die Rede. – Die Agenda 2030 ist natürlich für die gesamte Bundesregierung gültig; jedes Ministerium hat sich dazu zu verpflichten. Sie tun das momentan noch nicht. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Kai Whittaker für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Kai Whittaker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004443, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Diesen Sonntag findet in Berlin wieder der Marathonlauf statt. Über 60 000 Läuferinnen und Läufer wollen die gut 42 Kilometer bezwingen. Einige von ihnen laufen zum ersten Mal. Sie ahnen, welche Strapazen auf sie warten. Sie haben trainiert, um sich optimal vorzubereiten. Aber sie wissen nicht, ob sie durchhalten und am Ziel ankommen werden. ({0}) Was wünschen sich diese Läufer: dass man ihnen sagt, sie hätten nicht hart genug trainiert, zu spät mit dem Training angefangen. Oder ihnen gleich sagt, dass sie es nicht schaffen werden? Natürlich nicht! Jeder von uns würde einem Freund oder Familienangehörigen, der zum ersten Mal mitläuft, Mut zusprechen. Wir würden am Wegesrand stehen und anfeuern. Und umso mehr wundert es mich, dass viele hier bei der Mammutmarathonstrecke Nachhaltigkeit, zu der die Klimapolitik gehört, das Gegenteil tun. Zum Klimaschutzprogramm der Bundesregierung heißt es: „zu wenig“, „zu spät“, „wirkungslos“. Ich sage ganz klipp und klar: Wenn Sie mit dieser pessimistischen Haltung durch die Lande ziehen, Herr Kekeritz, werden wir als Deutschland diese Marathonstrecke nicht schaffen. ({1}) Sie sagen in Ihrem Antrag, dass wir 29 von 63 Nachhaltigkeitszielen nicht erreichen. ({2}) – Sagt auch die Bundesregierung. – Das heißt aber im Umkehrschluss, dass wir mehr als die Hälfte, die Mehrheit, erreichen, nämlich 34 Stück. ({3}) Sie sagen, dass die Nachhaltigkeitsstrategie dringend weiterentwickelt werden solle, übersehen aber, dass das schon längst in Planung ist und nächstes Jahr hier beschlossen wird. Und Sie fordern in Ihrem Antrag, dass die Nachhaltigkeitsziele mit Finanzen unterlegt werden sollen, übersehen dabei aber, dass die Bundesregierung vor Kurzem einen Beirat für Sustainable Finance gegründet hat, um genau das zu tun. Ihr Antrag ist eigentlich heute schon überholt. ({4}) Dem Ganzen setzen Sie noch die Krone auf, indem Sie sagen, es fehle der Wille, die Welt radikal zu verbessern. Meine Damen und Herren, es geht nicht darum, die Welt radikal zu verbessern, sondern sie beständig zu verbessern. Das ist das, was wir brauchen. ({5}) Hier ist die Klimapolitik ein gutes Beispiel. Wir haben jetzt ein Konzept auf den Tisch gelegt, mit dem wir CO2 zum ersten Mal einen Preis geben. Und dieser Preis ist nicht dazu da, die Bürger zu gängeln oder zu schröpfen, sondern er ist dazu da, drei Dinge zu tun: erstens alle Investitions- und Konsumentscheidungen in eine klimafreundliche Richtung zu lenken – wer sich also umweltfreundlich verhält, spart Geld –, zweitens die fossilen Energien zurückzudrängen – wer sich also weiterhin umweltschädlich verhält, der zahlt drauf – und drittens Einnahmen zu schaffen, damit wir den sozialen Ausgleich für besonders belastete Gruppen bezahlen können – wer also nicht anders kann, soll nichts befürchten müssen. Das ist für mich im besten Sinne nachhaltige Politik; denn nachhaltige Politik muss ja genau diese Aspekte – Wirtschaft, Soziales und Umwelt – abwägen. Das ist es, was mich bei dieser Debatte um Klimaschutz und Nachhaltigkeit auch so stört: Sie tun so, als gäbe es lauter einfache Lösungen, als ob dieser Marathonlauf ein Spaziergang wäre. Das ist er nicht. Deutschland hat sich nämlich nicht nur dazu bekannt, die Pariser Klimaschutzziele einzuhalten, sondern wir haben uns auch dazu bekannt, die UN-Nachhaltigkeitsziele einzuhalten. Und das bedeutet ganz konkret, dass wir zum Beispiel dafür sorgen müssen, dass der Strom weiter bezahlbar bleibt – Ziel Nummer 7 –, dass durch den Strukturwandel in der Lausitz und im Rheinischen Revier keine Armut entsteht – Ziel Nummer 1 – und dass keine Ungleichheiten zwischen Stadt und Land entstehen – Ziele Nummer 10 und 11. Ich könnte gerade so weitermachen. ({6}) Kritiker wie Sie unterstellen uns als Bundesregierung, wir wollten über den Klimaschutz verhandeln. Das Gegenteil ist der Fall. Wir ringen ja gerade um die Frage, wie wir mit den Folgeeffekten umgehen, wenn wir das fossile Zeitalter hinter uns lassen – darum geht es –, und genau das verlangt eben auch die Nachhaltigkeitspolitik. Wenn man etwas kritisieren will, dann, dass wir diese Abwägung viel zu selten vornehmen. Wir wägen zu wenig ab und überlegen auch nicht, welchen Nutzen jedes Gesetz konkret hat, welche Konsequenzen es hat. Beispiel Biolandwirtschaft: Eine Mehrheit des Hauses ist total für Biolandwirtschaft. Wir wissen aber, dass Biolandwirtschaft deutlich mehr landwirtschaftliche Fläche braucht, ({7}) und das ist wieder ein Verstoß gegen eine andere Forderung, nämlich gegen die Forderung, weniger Fläche zu verbrauchen. Gerade hat eine Studie der Uni Göteborg gezeigt, dass Biolandwirtschaft klimaschädlicher ist. Auch das ist ein Verstoß gegen die Nachhaltigkeitsziele. Deshalb sind wir als Union sehr dafür, der Nachhaltigkeit als Staatsziel wie in der Gesetzgebung mehr Bedeutung zu verleihen. Wir müssen stärker nach dem Nutzen von Gesetzen fragen. Die Maßnahmen des Klimapakets nutzen dem Klima. Wir können uns vielleicht darüber streiten, ob es wirksamer sein könnte; aber ich kenne wirklich keinen, der ernsthaft behauptet, dass die vorgeschlagenen Maßnahmen dem Klima schaden. Sicher, Sie können das Paket totreden. Ich wünsche mir, dass wir insbesondere mit dem Preismechanismus Erfolg haben. Gelingt es uns, dann wäre das ein Vorbild auch für viele andere ungelöste Probleme, die wir in der Nachhaltigkeitspolitik haben. Ich denke nur daran, dass wir immer noch sehr viele nicht nachwachsende Rohstoffe in unserer Produktion einsetzen, übrigens gerade auch im Bereich „Elektro und Batterie“. Auch das ist eine ökologische Katastrophe, die zurzeit nicht beachtet wird. Deshalb werbe ich darum, dass auch die Oppositionsfraktionen, insbesondere die Grünen, im Bundestag und auch im Bundesrat dem Klimaschutzprogramm zustimmen. Es mag Ihnen nicht weit genug gehen, aber auch Sie sagen, dass es in die richtige Richtung geht. Es wäre schon ein Treppenwitz der Geschichte, wenn ausgerechnet das Klimaschutzpaket im Bundesrat an Ihnen scheitern sollte. Ich werbe dafür, dass Sie lieber mit uns gemeinsam diesen Marathon laufen. Dann bin ich auch sicher, dass viele Bürger ihn mit uns laufen werden. Danke schön. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Markus Frohnmaier für die AfD-Fraktion. ({0})

Markus Frohnmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004721, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! ({0}) – Oh, Frau Präsidentin! Entschuldigung! – Kein Mensch auf der Straße weiß, was die Agenda 2030 überhaupt ist. Es handelt sich um den Masterplan dieser Regierung. Die Bundesregierung sagt ganz offen: Die Agenda 2030 ist der Maßstab unserer Politik. Ohne Einverständnis der Völker soll mit der Agenda 2030 unser Planet mit jakobinischem Eifer transformiert werden. Die Agenda 2030 setzt sich insgesamt aus 17 Zielen und 169 Unterzielen zusammen. Sie hat den totalen Anspruch – von der Wirtschaft über die Umwelt bis hin zum Denken der Menschen –, alle herrschenden Verhältnisse, also alles, was wir als normal begreifen, umzuwerfen. Die Agenda 2030 ist der Kommunismus des 21. Jahrhunderts. ({1}) In der Agenda 2030 heißt es – ich zitiere –: Wir sind entschlossen, die Menschheit von der Tyrannei der Armut und der Not zu befreien und unseren Planeten zu heilen und zu schützen. ({2}) Wir sind entschlossen, die kühnen und transformativen Schritte zu unternehmen, die dringend notwendig sind, um die Welt auf den Pfad der Nachhaltigkeit und der Widerstandsfähigkeit zu bringen. Amen! Meine Damen und Herren, man möchte nicht etwa Armut verringern, nein, man möchte ausnahmslos alle Erscheinungsformen der Armut ausradieren, lädt das Ganze noch moralisch auf und nennt es „Tyrannei“. Diese Regierung ist größenwahnsinnig! Jegliche Armut zu beseitigen, würde bei fast 8 Milliarden Menschen auf der Erde verlangen, dass der gesamte Wohlstand durch staatliche Nötigung und Ausbeutung der Bürger in den Industrieländern umverteilt werden müsste. Der globale Norden, also auch Deutschland, müsste bis ans Ende aller Tage für den globalen Süden bezahlen. Die hierfür benötigten Mittel würden laut einer Schätzung des „World Investment Reports“ der UN 5 bis 7 Billionen US-Dollar betragen. 5 bis 7 Billionen für ein linkes Wahnprojekt, das nicht einmal in Deutschland zu dauerhafter Beseitigung der Armut geführt hat! Selbst die UN stellt im Bericht zur Agenda 2030 fest: Wir erreichen die Ziele der Agenda 2030 nicht ansatzweise. – Daraus ziehen Sie jedoch nicht den Schluss, dass die Agenda 2030 utopisch, widersprüchlich ist ({3}) und folglich unmöglich zu erreichen ist. Nein, Sie wollen die Anstrengungen maximieren, Sie wollen noch ambitionierter, noch transformativer werden. So auch bei der Migration. ({4}) In Sure 10.7 der Agenda 2030 ist als Ziel formuliert: ({5}) Eine geordnete, sichere, reguläre und verantwortungsvolle Migration und Mobilität von Menschen erleichtern … Was Sie unter einer geordneten, sicheren und regulären Migration verstehen, haben Sie uns beim UN-Migrationspakt schon gezeigt. ({6}) Um die Mobilität von Menschen zu erleichtern, etikettieren Sie einfach illegale Migration zu legaler Migration um, ({7}) und die Agenda 2030 ist Ihre moralische Rechtfertigung dafür. ({8}) Der UN-Migrationspakt ist die Pestbeule der Agenda 2030. ({9}) Seitdem die Kanzlerin vor einigen Monaten angefangen hat, innerlich ihre Memoiren zu schreiben, hat sie eigentlich nur noch ein Thema: den Erhalt der gegenwärtigen Weltordnung inklusive dem fanatischen Eintreten für Multilateralismus. Dabei heißt Multilateralismus bei Merkel nicht: „Staaten kommen dort zusammen, wo sie gemeinsame Interessen haben“, nein, Multilateralismus à la Merkel funktioniert so: deutsche Interessen ignorieren und stattdessen den Interessen aller anderen Staaten Vorzug geben. ({10}) Würde Dante heute leben, würde er im innersten Kreis der multilateralen Hölle die Agenda 2030 finden; ({11}) denn hier geht es nicht darum, dass Deutschland möglichst frei von Armut ist oder dass eine verantwortungsvolle Migrationspolitik betrieben wird, nein, es geht um das ganz genaue Gegenteil: Sie möchten unsere Welt in einen multikulturellen Gulag verwandeln. ({12}) Sie möchten, so wie es Christian Lindner treffend formulierte, einen Morgenthauplan: Die Deutschen sind zusammen mit den anderen Völkern Europas die Gefangenen und müssen für ihren Wohlstand büßen. ({13}) Das lehnen wir nicht nur ab, das werden wir bekämpfen. Vielen Dank. ({14})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Bevor wir in der Debatte fortfahren, gratuliere ich dem Kollegen Dr. Roy Kühne zu seinem heutigen Geburtstag. ({0}) Schön, dass Sie diesen Tag mit uns hier beginnen. ({1}) Den Beitrag der Kollegin Ute Vogt für die SPD-Fraktion nehmen wir zu Protokoll, wie auch die Rede von Till Mansmann von der FDP-Fraktion. Das Wort hat die Kollegin Eva-Maria Schreiber für die Fraktion Die Linke. ({2})

Eva Maria Schreiber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004882, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Vor vier Jahren verabschiedeten 194 Staaten die Agenda 2030 und verpflichteten sich erstmals zur Nachhaltigkeit in allen Politikfeldern. Im Koalitionsvertrag vom März 2018 haben sich CDU/CSU und SPD zur ambitionierten Umsetzung dieser Agenda bekannt. Heute zeichnet der erste Globale Nachhaltigkeitsbericht ein sehr ernüchterndes Bild: Wenn es bei der aktuellen Umsetzungsgeschwindigkeit bleibt, werden lediglich 3 der 169 Unterziele erreicht, und von einigen der Ziele entfernt sich die Menschheit sogar. Das liegt unter anderem auch daran, dass sehr viele Regierungen die Ziele der Agenda umsetzen nach dem Motto: Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass! ({0}) Ich möchte mich hier auf einen zentralen Punkt konzentrieren, nämlich auf das Nachhaltigkeitsziel 10, Ungleichheit in und zwischen Ländern verringern. Das ist in meinen Augen entscheidend für die Erreichung der anderen Ziele. Aber was unternimmt die Bundesregierung, um dieses Ziel in Deutschland und weltweit zu erreichen? Der Oxfam-Ungleichheitsreport zeigt: Die Ungleichheit steigt weltweit wieder an. Auch im reichen Deutschland klafft die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander. Es gibt 2,5 Millionen arme Kinder, und 2 Millionen Menschen haben nicht genug Geld fürs Essen, sondern müssen zur Tafel gehen. ({1}) Die Bundesregierung jedoch stellt in der Antwort auf die Große Anfrage der Grünen fest, dass es extreme Armut hier gar nicht gebe, sie sieht hier keinen Handlungsbedarf. Das ist ein Skandal. ({2}) Wie sieht es nun in der Welt aus? Auch hier versagt die Bundesregierung. Die ärmsten Länder erhalten nur 0,11 Prozent der Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit. Zugesagt wurde fast das Doppelte. Das ist beschämend. ({3}) So verringert man Ungleichheit nicht, das reicht bei Weitem nicht. Wie können wir den Nachhaltigkeitszielen noch zum Erfolg verhelfen? Ich nenne jetzt nur zwei Beispiele einer ganzen Latte von Dingen, die ich jetzt noch sagen könnte: Erstens. Steuerschlupflöcher müssen geschlossen werden. Steuerhinterziehung entzieht den Entwicklungsländern Steuereinnahmen, die sie dringend benötigen, um beispielsweise öffentliche Gesundheits- und Bildungsstrukturen aufzubauen. Zweitens. Um die Ungleichheit wirksam zu verringern, braucht es in allen Sektoren verbindliche Regeln – zwischen den Vereinten Nationen, der EU, der Bundesregierung und dem Privatsektor. ({4}) Last, but not least: Auf der ganzen Welt gehen Millionen Menschen auf die Straße und machen Druck auf ihre Regierungen, damit die Klima- und Nachhaltigkeitsziele nicht halbherzig, sondern wirksam umgesetzt werden. „Endlich!“, möchte man sagen. Wir sind an ihrer Seite. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Mich erreichte gerade die Nachricht, dass der Kollege Ottmar von Holtz auch heute Geburtstag hat ({0}) und sich entschlossen hat, ihn mit uns gemeinsam zu begehen. Die Rede des Kollegen Peter Stein aus der Unionsfraktion nehmen wir zu Protokoll. ({1}) Das Wort hat nun der Kollege Michael Thews für die SPD-Fraktion. ({2})

Michael Thews (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004424, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! In der Agenda 2030 verabschiedeten die Staats- und Regierungschefs weltweit Ziele für die nachhaltige Entwicklung. Es gibt 17 Nachhaltigkeitsziele, die SDGs. Angesichts der weltweiten Herausforderungen für die Zukunft unserer Erde war das ein wegweisender Beschluss der Weltgemeinschaft. Der Antrag der Grünen – Agenda 2030 ernst nehmen – stammt aus dem Juni dieses Jahres. Aus meiner Sicht ist dieser Antrag angesichts des Treffens in New York etwas überholt. In ihm wird der Anschein erweckt, dass in Deutschland in Sachen Nachhaltigkeit eher wenig passiert. Nun hat aber die Bundesregierung die Nachhaltigkeitsstrategie im letzten Jahr freiwillig von Experten überprüfen lassen. Ich zitiere mal aus dem entstandenen Bericht, dem Peer Review 2018: [Deutschlands] Nachhaltigkeitsinstitutionen sind gut konzipiert, die erforderlichen Technologien stehen zur Verfügung, die Stakeholder sind engagiert und die finanziellen Mittel zur Unterstützung der Maßnahmen sind ebenfalls vorhanden. Die unabhängigen Experten bescheinigen Deutschland in diesem Bericht einen guten Fortschritt auf der nationalen Ebene. Ich will an dieser Stelle aber gar nicht den Eindruck erwecken, dass es nicht auch noch Herausforderungen gibt. Liest man den Indikatorenbericht – hier werden ja genau die Dinge aufgelistet, die wir abgearbeitet haben oder die noch offen sind, und auch getestet sozusagen –, dann sieht man, dass wir im Bereich der Nachhaltigkeit, im Bereich des Klimaschutzes, im Bereich der Nitratbelastung von Wasser und Boden noch einiges zu tun haben. Genau diese Dinge packen wir auch an. ({0}) Als SPD haben wir bereits 2010 ein Klimaschutzgesetz gefordert. 2013 war es die SPD, die das Klimaschutzgesetz ins Wahlprogramm aufgenommen hat. Mit dem jetzigen milliardenschweren Klimaschutzpaket investieren wir in die Zukunft. Wir werden dabei immer wieder überprüfen, ob die vereinbarten Ziele von Paris erreicht werden. Meine Damen und Herren, ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern, dass so ambitionierte Ziele im Rahmen des Jamaika-Pakets auch nur diskutiert wurden. ({1}) Deshalb fordere ich Sie auch auf, diese nachhaltige Entwicklung zu unterstützen und sie nicht im Bundesrat zu blockieren. Um eine nachhaltige Entwicklung in Deutschland zu erreichen, müssen wir alle mitnehmen. Dazu gehören auch die Vertreter der Länder und der Kommunen. Hier sind alle in Verantwortung stehenden Parteien – auch die Grünen – gefordert, auch einmal bestehende Umweltgesetze zu unterstützen und umzusetzen. Das ist aus meiner Erfahrung, von der ich viel im Bereich der Kreislaufwirtschaft gewonnen habe, leider oft nicht der Fall. Wie sonst könnte es sein, dass die Zentrale Stelle Verpackungsregister jetzt 2 000 Verstöße gegen das Verpackungsgesetz und die Verpackungsverordnung gemeldet hat und auch die Gewerbeabfallverordnung in vielen Bundesländern bei Weitem noch nicht umgesetzt wird? Also bitte nicht blockieren, sondern helfen Sie, Umweltgesetze durchzusetzen. Zum Schluss möchte ich noch eine Forderung der internationalen Expertinnen und Experten aufgreifen; sie betreffen den Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung. Sie haben mir gesagt, dass die Einflussmöglichkeiten des Parlamentes auf alle Fälle gestärkt werden sollen. Das kann passieren, indem aus dem Parlamentarischen Beirat ein ständiger Ausschuss wird, der auch Vetorechte bekommt. Ich möchte hier an dieser Stelle noch einmal die Chance nutzen, allen Mitgliedern, die momentan im Parlamentarischen Beirat daran arbeiten, das weiterzuentwickeln, zu danken. Ich glaube, das ist eine lohnenswerte Arbeit. So stärken wir das Parlament, und so bringen wir die Nachhaltigkeit in Deutschland nach vorne. Da wir heute zwei Geburtstagskinder haben, schenke ich Ihnen 30 Sekunden. Vielen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Danke. – Ich schließe die Aussprache.

Ingmar Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren das Gesetz zur Stärkung des fairen Wettbewerbs. Ich will mit der Frage beginnen, was denn eigentlich unfairer Wettbewerb ist. Unfairer Wettbewerb besteht dann, wenn zum Beispiel rezeptpflichtige Arzneimittel ohne Rezept vertrieben werden, wenn Kosmetikprodukte mit verbotenen Inhaltsstoffen vertrieben werden, wenn Glücksspiele ohne behördliche Erlaubnis betrieben werden. Das sind die klassischen Fälle, für die wir das UWG haben, und in diesen Fällen hat es sich bewährt. Dass Marktteilnehmer auf dem Wege von Abmahnungen und Unterlassungserklärungen selbst gegen unfairen Wettbewerb vorgehen können, lautere Zustände schaffen können, daran wollen wir nichts ändern, meine Damen und Herren. ({0}) – Ich wusste nicht, dass ihr da schon klatschen wolltet. ({1}) Unfair wird dieser Mechanismus aber dann, wenn professionelle Abmahnvereine, professionelle Abmahnanwälte massenhaft gegen Vereine, gegen Kleinunternehmer vorgehen und gar nicht das Ziel verfolgen, wettbewerblich lautere Zustände herzustellen, sondern nur das Ziel verfolgen, hohe Gebühren auszulösen, hohe Vertragsstrafen möglicherweise auszulösen, aber gar nicht mehr im Sinne des Wettbewerbs handeln. Dem müssen wir einen Riegel vorschieben, und dafür schafft dieser Gesetzentwurf eine gute Grundlage. ({2}) Alle, die sich näher mit diesem Thema beschäftigen, kennen den Fall der Unternehmerin aus Bonn, die einen Pullover angeboten und als Material „Kaschmir und Wolle“ angegeben hat. Das war falsch, sie hätte „50 Prozent Kaschmir, 50 Prozent Wolle“ angeben müssen. Das war möglicherweise tatsächlich sogar ein Verstoß. Sie wurde abgemahnt von einem Verein, der nicht abmahnbefugt war. Aufgrund der fehlenden Transparenzmöglichkeiten konnte sie das aber nicht überprüfen. Sie musste bis zum Oberlandesgericht gehen, war bis dort mit einer Vertragsstrafe von 250 000 Euro bedroht. Sie hatte keine Möglichkeit, das vorher klar zu überprüfen, weil die Transparenzpflichten, die sich in dem vorliegenden Gesetzentwurf befinden, nicht gegeben waren. Solche Fälle werden so nicht mehr vorkommen. Auch deswegen ist der Entwurf eine sehr gute Grundlage. Wir haben eine Anhörung vor uns. Es gibt da schon einige Punkte, bei denen wir als Unionsfraktion noch mal etwas genauer nachfragen wollen. Wenn wir die Frage der Abmahnbefugnis diskutieren, dann fällt sofort auf, dass die privatrechtlich konstituierten Landesinnungsverbände und Bundesinnungsverbände im Gesetz plötzlich nicht mehr auftauchen. Das sind nun wirklich nicht die Fälle, bei denen man einen Abmahnmissbrauch befürchten muss. Ich habe mal gehört, das sei unter den Wortlaut zu fassen; aber im Gesetz steht eindeutig „Körperschaften des öffentlichen Rechts“, da lassen sich privatrechtlich konstituierte wohl eher nicht mehr unter den Wortlaut fassen. Hier müssen wir im Rahmen der Anhörung noch einmal sehr genau hinschauen. An der Stelle müssen wir den Gesetzentwurf meiner Ansicht nach noch ändern. ({3}) Weiterhin bleibt das Thema des fliegenden Gerichtsstands. Diesen schaffen wir nun mehr oder weniger ganz ab. Wenn es um Kennzeichnungspflichten im Internet geht, um Impressumspflichten, um möglicherweise falsche Widerrufsbelehrungen oder DSGVO-Verstöße – wenn denn überhaupt –, dann ist das absolut in Ordnung. Wir dürfen aber nicht ganz vergessen: Es gibt auch die klassisch wettbewerbsrechtlichen Verfahren, bei denen hochspezialisiert vor Gericht Wettbewerbsfragen geklärt werden. Da kann es für beide Seiten sehr sinnvoll sein, am Ende vor ein hochspezialisiertes Gericht zu kommen. Hier müssen wir noch mal überlegen, wie wir eine Abgrenzung hinbekommen, dass auch diese Fälle wie bisher vor Spezialgerichten verhandelt werden. Für die Fälle, in denen Missbrauch betrieben wird – in denen einer massenhaft abmahnt und sich nur ein Gericht aussucht, das am Ende möglicherweise aufgrund ständiger Rechtsprechung für ihn entscheiden wird –, müssen wir diesen fliegenden Gerichtsstand abschaffen. Für die Fälle, in denen es um hochspezialisiertes Wettbewerbsrecht geht, müssen wir vielleicht versuchen, den fliegenden Gerichtsstand zu erhalten. Auch da sollten wir im Rahmen der Anhörung noch mal genauer nachfragen. Lassen Sie mich abschließend noch auf DSGVO-Verstöße eingehen. Da – das sage ich ganz offen – sind wir nach wie vor der Auffassung, dass die DSGVO keine Marktverhaltensregel darstellt. Wir hätten uns eine andere Regelung gewünscht als die, die jetzt im Entwurf enthalten ist. Wir hätten damit leben, dass Unternehmen, die im Kern mit Datenverarbeitung ihr Geschäft machen, in diesem Bereich abgemahnt werden könnten. Im Moment haben wir aber die Abgrenzung: Klein- und Kleinstunternehmen auf der einen Seite – hier wird die Erstattungsfähigkeit weggenommen – und der Rest auf der anderen Seite und gar keine inhaltliche Differenzierung. Damit stellen wir inzident fest, dass die DSGVO eine Marktverhaltensregel ist, wenn man das ernst nimmt. Darüber müssen wir uns noch sehr genau unterhalten. Das ist ein Streit, der schon vor der DSGVO bestand. Die Frage, ob der Datenschutz die Daten schützen oder das Marktverhalten regeln soll, ist für uns noch nicht beantwortet. Darüber sollten wir noch einmal diskutieren. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Fabian Jacobi für die AfD-Fraktion. ({0})

Fabian Jacobi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004767, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung legt, etwas kryptisch betitelt, ein Gesetz zur Stärkung des fairen Wettbewerbs vor. Dem stellen wir als AfD-Fraktion einen eigenen Entwurf gegenüber mit einem klareren Namen: Gesetz zur Bekämpfung des Abmahnmissbrauchs. Im Ausgangspunkt gibt es zu diesem Thema viel Konsens. Die deutsche Rechtsordnung setzt zur Verhinderung von Regelverstößen im Wettbewerbsgeschehen nicht primär auf staatliche Aufsicht, sondern zuerst auf die Marktteilnehmer und deren Verbände, die Verstöße durch Abmahnung unterbinden. Die im Grundsatz hohe Akzeptanz dieses Modells ist bedroht, wenn es entgegen seinem Zweck missbraucht wird durch massenhafte Abmahnungen, die nur darauf abzielen, sich durch Kostenerstattung und Vertragsstrafen zu bereichern. Dem Abmahnmissbrauch ist der Gesetzgeber bereits 2013 mit einem Gesetz gegen unseriöse Geschäftspraktiken entgegengetreten. Nunmehr stellt die Bundesregierung fest, dass jenes Gesetz zwar eine Verbesserung gebracht hat, aber immer noch Handlungsbedarf besteht, um solche Machenschaften weiter einzudämmen. Wie gesagt, bis hierher alles Konsens. Keine Überstimmung besteht dagegen in der Frage, wie dieses Ziel am besten erreicht werden kann. Der Entwurf der Bundesregierung bringt eine umfängliche Vorschrift, die regeln soll, wann die Geltendmachung von Unterlassungsansprüchen missbräuchlich und somit unzulässig sein soll. Allerdings enthält die Vorschrift zahlreiche unbestimmte Rechtsbegriffe, die es dem Betroffenen schwermachen, zu erkennen, ob die Abmahnung nun missbräuchlich ist, sodass er sie gefahrlos zurückweisen kann, oder nicht. Damit ist dem Betroffenen wenig geholfen. Ein zweiter Kritikpunkt, der von zahlreichen sachverständigen Stellungnahmen geteilt wird, ist die beabsichtigte Abschaffung des Gerichtsstandes am Ort der Rechtsverletzung. Dadurch, dass zum Beispiel bei Regelverstößen im Internet die Rechtsverfolgung bei allen Gerichten in Deutschland möglich ist, haben sich spezialisierte Gerichtsstandorte herausgebildet. Diese bewährten Strukturen zu zerschlagen, bringt keinen erkennbaren Nutzen für die Bekämpfung des Abmahnmissbrauchs. ({0}) Unser Entwurf belässt es daher insoweit bei dem bisherigen und bewährten Zustand. Ein dritter Aspekt sind die wettbewerbsrechtlichen Abmahnungen wegen Verstößen gegen die DSGVO. Dazu ist in dem Regierungsentwurf zwar vorgesehen, dass insoweit keine Abmahnkosten gefordert werden können; allerdings soll das nur für Abmahnungen durch Mitbewerber gegenüber Kleinunternehmen gelten. Wir wollen stattdessen wettbewerbsrechtliche Abmahnungen in diesem Bereich insgesamt ausschließen. Der Überweisung der Anträge an den Rechtsausschuss stimmen wir natürlich zu. Dann sehen wir mal, ob dort am Ende etwas Vernünftiges herauskommt. Vielen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun Roman Müller-Böhm das Wort. ({0})

Roman Müller-Böhm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004833, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Seit Jahren ist der Abmahnmissbrauch ein großes Problem, das es politisch zu lösen gilt. Vor über einem Jahr haben die Regierungsfraktionen SPD und Union im Deutschen Bundestag einen Antrag beschlossen, der die Regierung auffordert, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der sich mit dem Thema des Abmahnmissbrauchs beschäftigt. Frist dafür war der 1. September 2018. Heute darf ich feststellen, dass wir an diesem frühen Morgen den 27. September 2019 haben, 391 Tage später. Sie sind also über ein Jahr lang, liebe Bundesregierung, der Aufforderung dieses Hauses nicht gefolgt und haben einen solchen Gesetzentwurf nicht präsentiert. Damit kommen Sie nicht nur den Wünschen der Regierungsfraktionen nicht nach, nein – ich muss es schlimmer ausdrücken –, Sie sind damit indirekt mitverantwortlich für jede einzelne missbräuchliche Abmahnung der letzten 391 Tage. Zeit genug wäre nämlich gewesen, etwas zu tun. ({0}) Ebenfalls verstehe ich nicht, warum Sie die Unternehmen gegenüber den Verbänden schlechterstellen. Sie schließen die Wettbewerber teilweise vom Aufwendungsersatz aus, lassen aber den Verbänden weiterhin Möglichkeiten, diese zu tätigen. Das Ganze rechtfertigen Sie in der Gesetzesbegründung damit, dass angeblich die meisten missbräuchlichen Abmahnungen von Mitbewerbern gekommen seien und nicht von Verbänden. Ich habe in einer Kleinen Anfrage bei der Bundesregierung nachgefragt. Sie haben mir geantwortet, dass Sie dazu kein valides Zahlenmaterial haben. Also frage ich mich: Wie kommen Sie zu dieser Forderung? Wo sind evidente Beweise, die dafür sprechen, diese Formulierung zu wählen? Also ist das Ganze nicht faktenbasiert. Selbst wenn wir annehmen, Sie hätten damit recht, dann würde es in Zukunft nur dazu kommen, dass die bisherigen missbräuchlichen Abmahnungen durch Wettbewerber in Zukunft von neu organisierten Verbänden kommen. Also ist damit den ehrlichen Kaufleuten nicht wirklich geholfen. Ziel muss sein, dass nur noch derjenige abmahnt, der wirklich ein Interesse am fairen Wettbewerb hat. Deswegen brauchen wir das sogenannte Notice-and-take-down-Verfahren auch für Abmahnungen. ({1}) Wir Freie Demokraten haben den größten Respekt vor den Fleißigen in unserer Republik. Dafür brauchen wir, dass die erste Abmahnung grundsätzlich aufwendungsersatzfrei erfolgt. Wir wollen klar regeln, welche Teile der DSGVO abmahnfähig sind und welche nicht. Denn nicht jeder Verstoß ist so gravierend, dass er abgemahnt werden sollte. Wir wollen sicherstellen, dass Unterlassungserklärungen nicht über den Verstoß hinausgehen dürfen. Denn nicht jede Mücke von Verstoß sollte einen Elefanten von Unterlassungsanspruch nach sich ziehen; das ist nicht Praxis ehrlicher Kaufleute. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir brauchen mehr Fairness bei den Abmahnungen. Dazu trägt unser Antrag bei. Herzlichen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun Dr. Manuela Rottmann das Wort. ({0})

Dr. Manuela Rottmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004866, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Es wurde schon erwähnt: Das Thema Abmahnungen und wie man Missbrauch verhindern kann, ist vor allem von Vera Dietrich – über eine Petition, die 25 000 Menschen unterschrieben haben – in den Bundestag getragen worden. Wenn ich darüber nachdenke, wie man dieses Problem in den Griff bekommen kann, dann ist mein Maßstab Vera Dietrich. Sie hat sich übrigens in den letzten Wochen an alle Berichterstatter gewendet. Sie hat sich den Vorschlag der Bundesregierung sehr genau angeschaut und sich gefragt: Komme ich als Praktikerin damit zurecht? Mein Maßstab ist aber auch Gabriele Schäfer. Sie hat einen Spielwarenladen, Spielwaren Emmert, schräg gegenüber von meinem Wahlkreisbüro. Sie verkauft Spielwaren, auch über das Internet. Mein Maßstab für dieses Gesetz ist: Hilft es der Frau Schäfer, hilft es der Frau Dietrich? Das Problem bei Abmahnungen ist: Sie müssen im Vorfeld einer gerichtlichen Auseinandersetzung bewältigt werden. Was wir denen, die eine Abmahnung bekommen, an die Hand geben, muss für sie handhabbar sein, es darf sie nicht in die Irre führen. Das ist mein Vorwurf an den Gesetzentwurf. Ich weiß, es ist nicht einfach, das gut zu regeln. Aber festzulegen: „Wenn es nur ein ,unerheblicherʼ Verstoß ist, dann ist die Vertragsstrafe auf 1 000 Euro begrenzt“, oder: „Missbrauch soll vorliegen, wenn die Vertragsstrafe ,erheblich überhöhtʼ ist“, das führt die Leute in die Irre. Leute wie Frau Dietrich oder Frau Schäfer sagen: Eine Vertragsstrafe von 6 000 Euro – im Wettbewerbsrecht absolut üblich – ist doch erheblich überhöht; ich habe einen Jahresumsatz von nur wenigen Tausend Euro, weil ich das nebenhermache. Das heißt, sie vertrauen darauf: Das muss eine missbräuchliche Abmahnung sein, unterschreiben nicht, landen dann vor Gericht, und die Kosten sind höher. Das zweite Problem, das ich sehe, ist, dass Sie den Missbrauch an Faktoren knüpfen, die ein Abgemahnter gar nicht kennen kann. Ob ein Mitbewerber zahlreiche gleichartige Abmahnungen ausspricht, die in einem Missverhältnis zu seiner eigentlichen Geschäftstätigkeit stehen, das weiß eine Frau Schäfer nicht, das weiß eine Frau Dietrich nicht. Also kann sie damit wenig anfangen. ({0}) Wir haben einen anderen Vorschlag gemacht. Wenn jemand in einer solchen Drucksituation eine Unterlassungsverpflichtung unterschreibt, warum machen wir nicht das, was Sie an einer Stelle sogar tun, bei der Vertragsstrafe, nämlich sagen: Nur das Angemessene ist wirksam. Damit wenden wir einen Gedanken aus dem AGB-Recht an. Wenn jemand etwas unterschrieben hat, und sich herausstellt: „Die Abmahnung war missbräuchlich, weil es eine Massenabmahnung war“, dann soll dieser jemand sagen können: Ich fühle mich an diese Unterlassungsverpflichtung nicht mehr gebunden, und dann muss die Gegenseite vor Gericht gehen. Das würde zum Beispiel die Laien stärken. Ich will Ihnen noch einen Gedanken aus der Datenschutz-Grundverordnung mitgeben, auf die häufig geschimpft wird. Die Datenschutz-Grundverordnung knüpft Sanktionen an den Umsatz. Warum machen wir das nicht auch hier? Wir machen hier Private Enforcement von öffentlichem Recht. Warum knüpfen wir nicht einfach die Sanktion an den Umsatz? ({1}) Dann sind die Kleinen geschützt und verlieren nicht alles, was sie in einem Jahr verdient haben, und sie wissen, woran sie sind. Ich bin gespannt auf die Beratungen. Ich glaube, es geht noch besser als die Vorschläge, die wir bisher haben. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Beiträge des Parlamentarischen Staatssekretärs Christian Lange, der Kollegin Amira Mohamed Ali der Linken und des Kollegen Alexander Hoffmann für die CDU/CSU-Fraktion nehmen wir zu Protokoll.

Detlev Spangenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004898, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Entwurf eines Gesetzes für bessere und unabhängigere Prüfungen, MDK-Reformgesetz. Eine merkwürdigere Begründung für die Änderung einer Rechtsform habe ich noch nie gelesen wie in diesem herrlichen Antrag, meine Damen und Herren. Seit 1989 wird geprüft. Die Begründung war die Steigerung der Kosten bei den Krankenversicherungen. In den letzten Jahren wurde verstärkt gefragt, ob die Unabhängigkeit des MDK von den Kranken- und Pflegekassen gegeben ist. Man brauche eine neue Rechtsform, vom Verein hin zur Körperschaft öffentlichen Rechts, damit – so ist anscheinend der Wunsch – weniger Kosten erstattet werden müssen. Das Interessante dabei ist: 2018 wurden Rückzahlungen von Vergütungen in Höhe von 2,8 Milliarden Euro festgestellt. Das heißt, der MDK hat festgestellt, dass der Vertragspartner nicht ganz sauber gearbeitet hat. So kommt es jedenfalls hier an. Das Ziel ist also, die Unabhängigkeit zu stärken, damit nicht im Sinne der Kassen geprüft werden kann? Das ist eine sehr merkwürdige Begründung, die für eine Änderung der Rechtsform festgestellt wird. Wenn es Streitigkeiten über Kodierung und Abrechnung gibt, kann man die nicht so lösen, dass man eine andere Rechtsform einführt, sondern dann muss man klarere und bessere Abrechnungsmodalitäten einführen. Die DRG-Problematik haben wir auch, die Fallpauschalen sind hier auch zu hinterfragen. Aber die Rechtsform zu ändern, nur damit anders geprüft werden kann? Meine Damen und Herren, das ist abenteuerlich. Es gibt die weitere Kritik, dass aus Wettbewerbsgründen zu viel geprüft wird. Die Kasse würde zu viel prüfen, der Umfang wäre zu groß. Ein Vertragspartner hat jedoch das Recht, zu prüfen, wenn er meint, dass der andere Vertragspartner nicht korrekt abrechnet. Es sind Kosten, die dann unzulässigerweise in seiner Bilanz auftauchen. Da kann man nicht sagen: Du darfst nicht so viel prüfen, das ist Wettbewerbsverzerrung. – Das ist kompletter Blödsinn, meine Damen und Herren. So etwas habe ich noch nie gehört. ({0}) Es geht noch abenteuerlicher weiter. Man verlangt, den Krankenhäusern „Anreize“ dafür zu geben, dass sie – wie heißt das hier? – „regelkonform“ abrechnen. Das habe ich überhaupt noch nicht gehört. Ein Vertragspartner ist verpflichtet, korrekt abzurechnen. Dafür muss ich nicht einen Anreiz schaffen. Machen wir vorher ein Bankett, damit alle nett und freundlich sind und mir das Geld geben, das mir zusteht? Ich weiß nicht, ob der, der das aufgestellt hat, überhaupt schon mal eine Vorlesung in BWL gehört hat. Ich glaube, niemals. ({1}) Eine Abrechnung muss grundsätzlich immer korrekt sein. Sie sagen: Strittige Kodier- und Abrechnungsfragen werden weiterentwickelt. Das heißt: möglicherweise ausgeschlossen. Das ist ein positiver Ansatz, ganz klar. Das würde aber die bisherige Rechtsform des MDK nicht berühren. Wenn Sie diese Kritikpunkte ausräumen, brauchen Sie keine Rechtsform zu ändern. Der MDK kann weitermachen wie bisher. Dann stellen Sie in dem Regierungsentwurf ganz lustig fest: Ein hoher Anteil korrekter – das haben Sie geändert in „unbeanstandeter“ – Abrechnungen führt zu einer geringen Prüfquote. – Jetzt sind wir alle ganz schlau. Das macht das Finanzamt schon immer; das müssten Sie doch alle wissen. Wenn Sie keinen Anlass geben, wenn Ihre Einkommensteuererklärung stimmt, dann werden Sie auch nicht so häufig geprüft. Aber hier steht das als große Weisheit mit drin. Was für Schlaumeier! Ich muss wirklich sagen: Ich bin begeistert hiervon. Jetzt geht es aber noch weiter.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Spangenberg, weiter können wir leider nicht machen. Schauen Sie bitte auf die Uhr und setzen Sie einen Punkt. ({0})

Detlev Spangenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004898, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Darf ich einen Satz noch, Frau Präsidentin, einen einzigen? – Ein Verbot der Aufrechnung von Rückforderungen widerspricht § 387 BGB. Sie können immer mit gleichartigen Forderungen aufrechnen. Bei Geld ist das immer möglich. Meine Damen und Herren, das hier ist also eine Luftnummer. Recht vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Beiträge der Kolleginnen und Kollegen Harald Weinberg, Lothar Riebsamen, Dr. Andrew Ullmann, Sabine Dittmar, Maria Klein-Schmeink, Emmi Zeulner und Claudia Moll nehmen wir zu Protokoll.

Dr. Thomas Maizière (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004105, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich darf auch für die Kollegin Arndt-Brauer sprechen. – Dieses Gesetz, das neue Zollfahndungsdienstgesetz, ist ein sehr wichtiges Gesetz für die Zollfahndung, die ja auch eine Sicherheitsbehörde ist. Die Novellierung war notwendig geworden, weil das Gesetz über das Bundeskriminalamt verändert werden musste und weil europäische Datenschutzvorschriften umgesetzt werden mussten. Das hat das Finanzministerium zum Anlass genommen, eine komplette Novellierung dieses Gesetzes vorzulegen. Die Befugnisse der Zollfahndung werden nahezu wortgleich an die des Bundeskriminalamtes angeglichen. Das ist auch sehr sinnvoll für gemeinsame Ermittlungen. Der Gesetzentwurf ist gelungen. Wir freuen uns auf die Beratungen, und wir hoffen auf eine breite Zustimmung. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herzlichen Dank. – Der nächste Redner ist der Abgeordnete Albrecht Glaser für die AfD-Fraktion. ({0})

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Tat: keine Kleinigkeit! Das Ganze ist ausgelöst durch die Feststellung des Verfassungsgerichts, dass das BKA-Gesetz, das Sie 2008 in der Großen Koalition beschlossen haben – Anlass war der internationale Terrorismus – in verschiedener Hinsicht verfassungswidrig sei. Es zeigt sich aber ein weiterer Fall der Verfassungswidrigkeit der Gesetzgebung. Das heißt, das, was wir jetzt bei der Grundsteuer und vielen anderen Fragen haben, ist eigentlich immer dasselbe. ({0}) Wir gehen voran, und dann warten wir, bis die Verfassungswidrigkeit festgestellt wird. In diesem Fall war es sogar eine Verfassungsbeschwerde, die pikanterweise durch zwei frühere Bundestagsabgeordnete erhoben worden ist, die in beratenden Berufen tätig sind und die Verfahrensweisen unterworfen waren, die sich im Ergebnis als verfassungswidrig erwiesen haben. Am 20. April 2016 kommt noch eine EU-Richtlinie hinzu, die ebenfalls bestimmte Änderungen erzwingt. Beides ist der Anlass dafür, das Zollfahndungsdienstgesetz – eine nicht ganz erotische Bezeichnung, aber zutreffend – nunmehr ebenfalls anzupassen. Das ist angedeutet worden; ich will es nicht wiederholen. ({1}) Ich will aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 20. April zitieren. Das Verfassungsgericht sagt: Die heimlichen Überwachungsmaßnahmen zur Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus sind zwar im Grundsatz mit den Grundrechten vereinbar, die derzeitige Ausgestaltung von Befugnissen genügt aber in verschiedener Hinsicht nicht dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. – Das ist schon eine ordentliche Ohrfeige. In dem Urteil steht auch: Der Gesetzgeber eröffnet solche Maßnahmen nicht nur zur Abwehr von konkreten Gefahren, sondern auch zur Straftatenverhütung ... Dies ist zwar grundsätzlich möglich, unterliegt aber Grenzen, die die Vorschrift nicht wahrt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es fällt schon etwas schwer, das alles so hinzunehmen – bei aller Komplexität des Themas. Für die AfD sind die Freiheitsrechte der Bürger von sehr großer Bedeutung. Freiheit kann jedoch ohne Sicherheit nicht realisiert werden. ({2}) Deshalb sind die Gewährleistung von innerer Sicherheit und der Schutz von Grundrechten – Leben, Gesundheit, Eigentum – für unsere Bürger oberste Ziele unserer staatlichen Tätigkeit, wenngleich der frühere Justizminister das ja bestritten hat, indem er gesagt hat, es gebe keine Norm, die den Staat verpflichten würde, für Sicherheit zu sorgen. Das ist eine unauslöschlich in guter Erinnerung befindliche Bemerkung, deren Grad an Torheit kaum zu übertreffen ist. ({3}) Das Versagen der bisherigen Politik bei der Migration hat zu einer völlig neuen Bedrohungslage und Aushöhlung der inneren Sicherheit für die Bürger der Bundesrepublik geführt. ({4}) Sich in Deutschland radikalisierenden Personen, Schläfern aus Kriegsgebieten, geflohenen und zurückgekehrten militärisch ausgebildeten Personen, die in Deutschland Anschläge planen oder untertauchen wollen, muss mit rechtsstaatlichen Mitteln wirkungsvoll begegnet werden, um terroristischen Bedrohungen entgegentreten zu können. Das ist ein Spagat zwischen Rechtsstaatlichkeit und wirksamer Verbrechensbekämpfung. Ich will es gar nicht schönreden, und ich will es auch nicht schlechtreden; ich will nur darauf hinweisen. Das ist ein Thema, über das in Ruhe und tiefergehend beraten werden muss, wenn wir das im Ausschuss tun. Herzlichen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Beiträge der Parlamentarischen Staatssekretärin Sarah Ryglewski, des Abgeordneten Benjamin Strasser – – ({0}) – Tut mir leid; das ist hier nicht vermerkt. – Noch einmal: Den Beitrag der Parlamentarischen Staatssekretärin Sarah Ryglewski nehmen wir zu Protokoll. Das Wort hat der Abgeordnete Benjamin Strasser für die FDP-Fraktion. ({1})

Benjamin Strasser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Dazu müssen schon noch ein paar Worte gesagt werden; denn das neue Zollfahndungsdienstgesetz ist geradezu ein Paradebeispiel dafür, wie die Große Koalition arbeitet. ({0}) Wieder einmal müssen Sie nämlich bei einem Sicherheitsgesetz den Scherbenhaufen aufkehren, den Sie selber verursacht haben. Und nicht nur das: Sie versuchen jetzt, aus den Scherben ein neues tönernes Gebäude zu basteln. ({1}) Die Bundesregierung – der Kollege de Maizière hat es gesagt – stellt diese Gesetzesnovelle etwas beschönigend als bloße Gesetzesbereinigung aufgrund eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts dar. Sagen wir doch, was Sache ist: Die Große Koalition hat im Jahr 2016 vor dem Bundesverfassungsgericht eine krachende Niederlage kassiert. ({2}) Auch wir Liberale hatten damals gegen das BKA-Gesetz geklagt, und das Verfassungsgericht hat die Überwachungsbefugnisse des BKA zur Terrorabwehr sowie die Regeln zum Datenaustausch großenteils für verfassungswidrig erklärt. Dreieinhalb Jahre nach diesem Urteil legen Sie nun entsprechende Anpassungen vor. Sie kehren damit zwar einerseits Ihren Scherbenhaufen zusammen, andererseits testen Sie aber mit mehr Befugnissen wieder die Grenze des Machbaren, frei nach dem Motto: Den Datenschutz müssen wir halt auch irgendwie berücksichtigen. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, hier geht es um ein Grundrecht und nicht um eine lapidare Kleinigkeit. Sie machen immer wieder die gleichen Fehler. Wenn Sie ein Gesetz reparieren, dann melden sich sofort die Hardliner bei Union und SPD zu Wort und setzen ihre sicherheitspolitischen Fantasien durch, koste es, was es wolle. ({3}) So etwas wie einen Bürgerrechts-TÜV scheint es bei Ihnen gar nicht zu geben, und deshalb ist es gut, dass mit den Freien Demokraten wieder eine Bürgerrechtspartei im Parlament ist, die genau dafür sorgt. ({4}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, dass wir hier nachts um halb zwei diesen Gesetzentwurf beraten, ist der fadenscheinige Versuch, mit diesem Gesetzentwurf Pflöcke einzurammen, die sich Ihre Hardliner für ein Musterpolizeigesetz wünschen. Das ist ein netter Versuch, ist aber nicht mit uns Freien Demokraten zu machen; denn mit Ihrem Gesetz geraten jetzt Personen in den Fokus, die keiner konkreten Straftat verdächtigt werden, sondern die allein aufgrund ihres Verhaltens als gefährlich gelten sollen. So etwas ist mit der Rechtsstaatspartei FDP nicht zu machen. ({5}) Auch die Ausweitung des Aufgabenfelds des Zollkriminalamts sehen wir mehr als kritisch. Dass nun der Zoll mit Spähsoftware agieren können soll, findet unseren entschiedenen Widerstand. Mit Sorge betrachten wir auch, dass die Grenzen zwischen Polizei, Geheimdiensten und Zoll immer weiter aufgeweicht werden sollen. Das stärkt nicht unseren Rechtsstaat, sondern schwächt ihn. ({6}) Ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuss; denn auch da wird der freidemokratische Bürgerrechts-TÜV wachsam sein. Vielen herzlichen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Beiträge des Kollegen Fabio De Masi, der Kollegin Dr. Irene Mihalic, des Kollegen Sebastian Brehm und der Kollegin Ingrid Arndt-Brauer nehmen wir zu Protokoll.

Stephan Mayer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003589

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Die Bundesregierung legt Ihnen heute einen Gesetzentwurf vor, von dem wir inständig hoffen, dass er niemals in Kraft treten wird. Das mag skurril klingen, ist es aber im Grunde genommen gar nicht. Es geht um das Brexit-Aufenthalts-Überleitungsgesetz, das – wohlgemerkt – nur für den Fall in Kraft tritt, dass es einen ungeregelten, einen sogenannten harten Brexit – sprich: einen Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union ohne Abkommen – geben wird. Die Bundesregierung hofft und tut das ihre dazu, dass dieser aus unserer Sicht schlechteste Fall für alle Beteiligten vermieden wird. Wir hoffen, dass die Verhandlungsführer sowohl in London als auch in Brüssel alles dafür tun – und besonnen und vernünftig agieren –, dass der harte, der ungeregelte Brexit noch zu vermeiden ist. ({0}) Aber die Bundesregierung bereitet sich natürlich auf alle Eventualitäten vor. Deswegen haben wir einen großen Maßnahmenkatalog insbesondere zum Schutz der britischen Staatsangehörigen und deren Familienangehörigen, die in Deutschland leben, ins Werk gesetzt. Ein Teil dieses Maßnahmenkataloges ist das Brexit-Aufenthalts-Überleitungsgesetz, das am 31. Juli vom Bundeskabinett verabschiedet wurde und in den nächsten Wochen zu behandeln sein wird. Inhalt dieses Gesetzes ist, dass für den Fall eines ungeregelten Austritts Großbritanniens aus der Europäischen Union all die britischen Staatsangehörigen und – wohlgemerkt – auch ihre Familienangehörigen, die in Deutschland leben, weiterhin in Deutschland verbleiben können. ({1}) Im Ausländerzentralregister sind ungefähr 115 000 britische Staatsangehörige registriert. Es mag darüber hinaus noch einige mehr in Deutschland geben. Wir alle können, glaube ich, feststellen, dass die britischen Staatsangehörigen in Deutschland ein wichtiger Bestandteil unserer Gesellschaft sind. Viele von ihnen leben schon seit vielen Jahren in unserem Land, sind in Deutschland sesshaft geworden, haben in Deutschland Familien gegründet, haben in Deutschland ihren Lebensmittelpunkt gefunden, und es wäre aus meiner Sicht in jeder Hinsicht unverantwortlich und inhuman, wenn auch nur ein Teil dieser britischen Staatsangehörigen nach einem harten, ungeregelten Brexit Deutschland wieder verlassen müsste. ({2}) Wir schaffen jetzt mit diesem Gesetz die Rechtsgrundlage dafür, dass sie bleiben können. Es ist mit Sicherheit so – das möchte ich gar nicht verhehlen –, dass der Großteil der in Deutschland lebenden britischen Staatsangehörigen schon nach dem Aufenthaltsgesetz auch weiterhin vollkommen legal in Deutschland verbleiben und auch Aufenthaltstitel nach dem Aufenthaltsgesetz erwerben kann. Aber es mag durchaus einen kleinen Teil geben, der nicht unter das heutige Aufenthaltsgesetz fällt, aber EU-freizügigkeitsberechtigt ist, und Sie wissen: Am Tag nach einem harten, ungeregelten Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union würden aus diesen freizügigkeitsberechtigten Personen ganz normale Drittstaatsangehörige, die einen Aufenthaltstitel benötigen. Das gilt beispielsweise für einen Rentner, der mit seinem berufstätigen Sohn und dessen Familie in Deutschland lebt. Es gibt also kleine, aber nicht zu unterschätzende Fallkonstellationen, für die dieses Gesetz vorgesehen ist. Wir werden neben diesem Gesetz auch Vorbereitungen dafür treffen, dass eine Ministerverordnung erlassen wird. Diese Ministerverordnung sieht vor, dass für einen Übergangszeitraum von drei Monaten in Deutschland lebende britische Staatsangehörige von dem Erfordernis eines Aufenthaltstitels befreit werden. Wir geben also einerseits den Briten in Deutschland die Möglichkeit, in einem Zeitraum von drei Monaten einen Aufenthaltstitel zu beantragen, geben damit andererseits aber vor allem auch den Ausländerbehörden die notwendige Zeit, diese Anträge, die mit Sicherheit dann gehäuft bei ihnen eingehen würden, auch zu bearbeiten und zu bescheiden. Diese Dreimonatsfrist kann auch verlängert werden, dann aber nicht mit einer reinen Ministerverordnung, sondern mit der Zustimmung des Bundesrates. Bei der ersten Frist von drei Monaten würden auch „Neubriten“ mit umfasst werden, also Briten, die nach dem Austrittsdatum nach Deutschland neu einreisen. Von der weiteren Verlängerungsfrist würde dieser Personenkreis nicht mehr umfasst werden. Eines ist auch klar: Von dieser Regelung, die wir jetzt in dem Brexit-Aufenthalts-Überleitungsgesetz treffen, wären nur britische Staatsangehörige umfasst, die zum Zeitpunkt des Austritts in Deutschland leben. Für britische Staatsangehörige, die nach einem ungeregelten Brexit nach Deutschland einreisen würden, würde natürlich das ganz normale Drittstaatsangehörigkeitsrecht gelten, sprich: Sie müssten wahrscheinlich dann auch in erster Linie als Fachkräfte einen Aufenthaltstitel nach dem deutschen Aufenthaltsrecht erwerben. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wie gesagt: Wir hoffen, dass dieses Gesetz nie in Kraft tritt, verbinden mit diesem Gesetz aber auch den Wunsch, dass im Falle dieses wirklich abzulehnenden Umstands eines harten, ungeregelten Brexits wiederum auch deutsche Staatsangehörige, die in Großbritannien leben, ähnlich behandelt werden. In diesem Sinne hoffe ich auf konstruktive und angesichts des drohenden Austritts auch zügige Beratungen im Deutschen Bundestag. Ich danke ganz herzlich für die Aufmerksamkeit. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Lars Herrmann für die AfD-Fraktion. ({0})

Lars Herrmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004748, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte wirklich nur ungern als derjenige Oppositionspolitiker in die Parlamentsgeschichte eingehen, der ständig die Gesetzentwürfe der Bundesregierung lobt, aber hier hat die Bundesregierung offenbar tatsächlich einmal auf die entsprechenden Fachleute gehört. Auch wenn ich ehrlich zugeben muss, dass es mich persönlich durchaus gereizt hätte, einmal gegen einen Engländer wegen des Verdachts des unerlaubten Aufenthalts oder der unerlaubten Einreise zu ermitteln, ({0}) muss man ganz klar sagen, dass in dem Gesetzentwurf wirklich alles drin ist und an alles gedacht wurde, um zu verhindern, dass britische Staatsangehörige nach einem Brexit einfach zu Drittstaatsangehörigen werden. Normalerweise, meine sehr verehrten Damen und Herren, könnte dieser Gesetzentwurf geradezu als Musterbeispiel dafür dienen, dass sich die Welt auch nach dem 31. Oktober noch weiterdrehen wird. Vor allem das SPD-geführte Außenministerium sollte sich von der konstruktiven Arbeitsweise, die hier gezeigt wurde, eine Scheibe abschneiden. Es ist nämlich möglich und gar nicht einmal so schwierig, entsprechende Vorkehrungen dafür zu treffen, dass Briten auch nach einem Austritt aus der EU nicht im luftleeren Raum zurückbleiben. Man muss tatsächlich nur gewillt sein, eine Lösung zu finden, und darf nicht von vornherein auf Eskalation setzen. Das BMI hat hier – das muss ich ehrlicherweise sagen – ganz nüchtern und sachlich seine Hausaufgaben gemacht. Herzlichen Dank dafür. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Beiträge der Kollegen Dr. Lars Castellucci und Konstantin Kuhle, die Beiträge der Kollegin Gökay Akbulut und der Kollegin Dr. Franziska Brantner und auch der Beitrag des Kollegen Alexander Throm werden zu Protokoll genommen.