Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor zwei Wochen habe ich von diesem Pult aus für eine Lösung bei diesem schwierigen Thema, das Humanität und Verantwortung verbindet, geworben, für eine Lösung, die befriedet und mit der man das Thema nicht erneut lange vor sich herschiebt, sondern zu einem Ergebnis kommt.
Das Ergebnis, das wir jetzt haben, ist einfach zusammenzufassen: Die Aussetzung des Familiennachzugs wird bis zum 31. Juli dieses Jahres verlängert. Ab dem 1. August dieses Jahres gibt es dann keinen Anspruch mehr auf Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte. Stattdessen eröffnen wir im Rahmen eines Kontingents für 1 000 Personen pro Monat die Möglichkeit der Familienzusammenführung. Die bestehenden Härtefallregelungen bleiben bestehen und werden nicht auf das Kontingent angerechnet. Das Nähere – nicht zum Ob, aber zum Wie – regeln wir in einem Folgegesetz, das wir auch bis Ende Juli fertig haben wollen. – Das ist das Ergebnis.
Die meisten Praktiker begrüßen das Ergebnis. Manche Idealisten halten die Regelung für zu streng. Ja, wir haben einen Kompromiss gemacht.
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Für uns war wichtig, dass es nicht wieder zu einem Anspruch auf Familiennachzug kommt; für die SPD war wichtig, dass es überhaupt wieder Familiennachzug gibt. Ja, das ist ein Kompromiss. Gestern habe ich in einem Lexikon – in diesem Fall Wikipedia – nachgeguckt: Was ist eigentlich das Wesen eines Kompromisses?
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Das klingt so, als wäre es für uns geschrieben. Ich zitiere:
Ein Kompromiss ist die Lösung eines Konfliktes durch gegenseitige freiwillige Übereinkunft, unter beiderseitigem Verzicht auf Teile der jeweils gestellten Forderungen. Es wird von den Verhandlungspartnern ausgehend von den eigenen Positionen eine neue ...position gebildet und diese erzielte Einigung als gemeinsames Ergebnis dargestellt.
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Der Kompromiss ist die vernünftige Art des Interessenausgleichs ... Er lebt von der Achtung der gegnerischen Positionen und gehört zum Wesen der Demokratie.
Das ist ein Kompromiss.
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Nun ist dieser Kompromiss unterschiedlich bewertet worden, und es ist wiederum kritisiert worden, dass er unterschiedlich bewertet worden ist – ehrlich gesagt, sicher zum Teil zu Recht. Aber auch das ist ganz normal. Ich kenne keinen Tarifkonflikt, bei dem nicht am Ende jede Seite das Ergebnis unterschiedlich bewertet.
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Jeder will zeigen, dass er gut verhandelt hat; das ist okay, und das ist normal. Wir finden, dass die Union gut verhandelt hat. Die SPD findet – oder sollte auch sagen –, dass auch sie gut verhandelt hat. Das ist das Wesen eines Kompromisses.
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Nur, das Entscheidende ist: Wir müssen zum Inhalt des Kompromisses stehen.
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Aus dem Lateinischen übersetzt heißt „Kompromiss“, dass man sich gegenseitig etwas verspricht. Das heißt, der Kompromiss gilt.
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– Wir haben noch keine Koalition, Frau Haßelmann. Aber die CDU/CSU-Fraktion und die SPD-Fraktion haben einen Kompromiss geschlossen, und den vertrete und erläutere ich hier.
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Nun zu ein paar Kritikpunkten. Die FDP bzw. Herr Lindner hat gesagt: Warum 1 000? Die Zahl 1 000 ist doch willkürlich. – Dazu sage ich Ihnen Folgendes:
Erstens. Das Kontingent ist dem Resettlement nachgebildet. Da setzt man immer politisch eine Zahl fest. Wenn es um ein Einwanderungsgesetz geht, lieben Sie ja Kanada. Kanada legt per Beschluss durch das Parlament eine Zahl fest.
Zweitens. Die Zahl 1 000 ersetzt die bisher aus Italien und Griechenland kommenden Relocation-Fälle.
Drittens. Wenn man von einer Bearbeitungskapazität des Auswärtigen Amtes von insgesamt 40 000 bis 50 000 Fällen ausgeht und die Zahl der subsidiär Schutzberechtigen dazu ins Verhältnis setzt, dann ist die Zahl 12 000 genau angemessen.
Die nächste Kritik von einigen war: Warum sind denn die Härtefälle nicht Teil des Kontingents? Nun, dazu will ich sagen: Wir brauchen natürlich für die 1 000 Personen pro Monat Kriterien. Die werden wir besprechen. Aber dass es immer Härtefälle gibt, die sich einer Kriterienbeschreibung im Vorhinein entziehen, ist einfach Teil der Realität.
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Ein bisschen Großzügigkeit oder – unter Christenmenschen sage ich es einmal so – ein bisschen Barmherzigkeit braucht man hier leider auch.
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Nun zu den Zahlen. Die einen haben gesagt, die Zahlen sind zu niedrig, und die anderen haben gesagt, die Zahlen sind zu hoch. Auch dazu will ich etwas sagen. Denjenigen, die Hunderttausende befürchten, sage ich: Mit dem Kontingent gibt es eine Grenze, und die wird nicht überschritten.
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Herr de Maizière, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen?
Gerne.
Herr Minister, vielen Dank, dass Sie meine Zwischenfrage zulassen. – Wir reden in diesem Kontext viel über Härtefälle. Deshalb möchte ich Sie gerne mit einem Einzelfall konfrontieren, den ich kurz schildern muss.
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– Ja. Das ist hier der politische Anspruch, oder? Wir wollen eine Lösung für die Menschen finden, und wir reden über Härtefälle.
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Deshalb möchte ich Sie gerne mit einem Einzelfall konfrontieren, um einmal darzulegen, welche Probleme bestehen.
Aber es ist eine Zwischenfrage, Frau Kollegin.
Es ist eine Zwischenfrage. Ich muss den Fall allerdings darstellen,
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damit ich die Frage formulieren kann.
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Es geht um eine Familie in Husum.
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Ein Vater mit minderjähriger Tochter – –
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– Darf ich den Sachverhalt darstellen, Herr Minister?
Frau Kollegin, Zwischenfragen müssen Zwischenfragen sein und keine Redebeiträge.
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Stellen Sie bitte in einer begrenzten Zeit eine Frage.
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Es geht um einen Einzelfall aus Husum. Ein Vater mit seiner minderjährigen Tochter hat Asyl beantragt, subsidiären Schutz bekommen und den Nachzug seiner Familie beantragt. Es geht um seine Ehefrau
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und zwei minderjährige Töchter sowie zwei volljährige Söhne. Einer davon ist gerade 18 geworden und ist schwerstbehindert. Er braucht den ganzen Tag Betreuung, da er querschnittsgelähmt und Asthmatiker ist und regelmäßig Krampfanfälle hat.
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Die Mutter bekommt für ihre zwei minderjährigen Töchter ein Visum zum Nachzug, die beiden gerade volljährig gewordenen Söhne, darunter der schwerstbehinderte, nicht.
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Ich schließe jetzt meine Frage an.
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Ich habe mich für diesen Fall eingesetzt und vor dem Auswärtigen Amt eine Härtefallregelung geltend machen wollen. Das Auswärtige Amt hat mir geantwortet: Es ist menschlich nachvollziehbar, dass auch die bereits volljährigen Söhne, insbesondere der schwerbehinderte Sohn, gemeinsam mit ihren Familien nach Deutschland einreisen wollen. Dies genügt aber nicht für das Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte.
Ich frage Sie also, Herr Minister: Würden Sie persönlich sagen, dass es sich bei dem hier dargestellten Fall um einen Härtefall handelt? Bezug nehmend auf das parlamentarische Verfahren – durch die Härtefallregelung, über die wir sprechen, wurden im letzten Jahr 97 Menschen begünstigt; sie ist also ziemlich ins Leere gelaufen –: Was werden Sie persönlich dafür tun, dass ab August eine Härtefallregelung greift, die Menschen dann auch tatsächlich hilft?
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Frau Abgeordnete Amtsberg, es ist mir überhaupt nicht möglich, anhand Ihrer Sachverhaltsschilderung zu beurteilen, ob das ein Härtefall ist.
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Der Außenminister sitzt hier im Saal und hat zugehört. Wir hatten in den letzten zwei Jahren 1 300 Anträge auf Anerkennung eines Härtefalles; rund 200 sind bewilligt worden. Es muss natürlich eine Auswahlentscheidung geben. Ich glaube, diese Entscheidungen sind im Auswärtigen Amt in guten Händen und werden auch weiterhin verantwortungsvoll und menschlich getroffen.
({1})
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Ich hatte in Richtung derer, die sagen, es könnten Hunderttausende kommen, gesagt, diese Befürchtung brauche man nicht mehr zu haben; durch das Kontingent wird die Zahl begrenzt. Denjenigen, die sagen, es sind sowieso nur 50 000 bis 60 000, sage ich: Dann ist es aber auch nicht so schlimm, dass man drei bis vier Jahre wartet,
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in Anbetracht der Tatsache, dass die meisten europäischen Länder ohnehin Wartefristen von drei bis fünf Jahren haben.
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Meine Damen und Herren, am Ende einer harten Debatte muss ein Ergebnis stehen, wenn es um Menschen geht. Unser Ergebnis, unser Kompromiss steht für Humanität und Verantwortung,
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für Integration und Begrenzung, für Großzügigkeit und Realismus. In diesem Sinne bitte ich um Ihre Zustimmung.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Eva Högl, SPD.
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Einen schönen guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der eine oder die andere denkt vielleicht in diesen Tagen: Gibt es nicht wichtigere Themen in unserem Land als den Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte?
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Rente, Pflege, Wohnen, Bildung, Arbeitsmarkt, Sicherheit, die Zukunft Europas, das alles sind zentrale und wichtige Themen, um die wir gerade in diesen Tagen bei den Koalitionsverhandlungen ringen und über die wir darüber hinaus hier im Deutschen Bundestag und in unserer Gesellschaft natürlich intensiv beraten und debattieren.
Trotzdem ist es richtig und wichtig, dass wir gemeinsam in diesem Haus so engagiert um den richtigen Kurs in der Flüchtlingspolitik ringen; denn der Umgang in unserem Land mit Menschen, die bei uns Schutz und Sicherheit suchen, ist ein Gradmesser dafür, wie ernst wir es mit der Menschenwürde und dem Schutz der Familie meinen.
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Wir haben hier gestern in der Gedenkstunde zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus zusammengesessen. Anita Lasker Wallfisch hat – viele Kolleginnen und Kollegen waren dabei – eine wirklich bewegende und sehr beeindruckende Rede gehalten. Ich finde, sie hat uns für unsere Debatte heute Morgen und für unsere Entscheidung etwas mitgegeben.
({2}): Dann machen Sie was draus!)
Ich zitiere:
Für uns haben sich die Grenzen damals hermetisch geschlossen und nicht, wie hier, geöffnet, dank dieser unglaublich generösen, mutigen, menschlichen Geste, die hier gemacht wurde.
Ich finde, wir sollten gemeinsam stolz darauf sein, dass Deutschland ein Sehnsuchtsort geworden ist und ein weltoffenes Land, in dem die Menschenwürde unser wichtigstes Grundrecht ist.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, weil die Menschenwürde und der Schutz der Familie nicht nur für Deutsche gelten und nicht nur für Christinnen und Christen, ringen wir hier heute Morgen und an vielen Stellen in unseren Debatten um den richtigen Weg. Wir machen es uns nicht einfach;
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niemand macht es sich einfach, weder hier im Haus noch darüber hinaus.
Zur Wahrheit gehört auch, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass – das macht es ja so schwer – nicht alle Menschen, die verfolgt sind, nicht alle Menschen, die in einem Bürgerkriegsland leben, nicht alle Menschen, die in ihrem Heimatland keine Perspektive haben, bei uns Schutz und Sicherheit bekommen können oder eine Perspektive und eine gute Integration.
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Deswegen müssen wir hier im Bundestag entscheiden, wer zu uns kommen darf und wer hierbleiben darf. Dass wir uns heute Morgen die Entscheidung nicht leicht machen, das zeichnet uns auch aus, finde ich.
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Der Familiennachzug bietet alles, was wir bei der Zuwanderung wollen und uns wünschen. Er findet legal, sicher und geordnet statt, und zwar nicht durch Schlepper und Schleuser, und er ist absolut gut und wichtig für die Integration bei uns.
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Deshalb ist es für die SPD – das möchte ich hier heute Morgen noch einmal sehr deutlich sagen – immer sehr schwer, den Familiennachzug auszusetzen, zu begrenzen oder deutlich zu reduzieren. Aber ich sage auch sehr deutlich: Trotzdem ist der Kompromiss, wie Herr de Maizière schon gesagt hat – der Gesetzentwurf, den wir heute vorlegen und den wir mit vereinbart haben und auf jeden Fall mittragen –, akzeptabel.
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Das Wichtigste vorab, liebe Kolleginnen und Kollegen: Ab dem 1. August 2018 soll Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte wieder möglich sein. Das ist die gute Botschaft und wichtige Nachricht.
Damit es überhaupt wieder Familiennachzug gibt – auch wir kennen die Mehrheiten hier in diesem Haus –, haben wir uns darauf verständigt, den Familiennachzug jetzt für vier weitere Monate auszusetzen und diese Verlängerung zu beschließen.
Frau Högl, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kubicki?
Ja, bitte.
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Frau Kollegin Dr. Högl, gehe ich recht in der Annahme, dass wir ab 1. April dieses Jahres einen unbegrenzten Familiennachzug hätten und gar keine Härtefallregelung bräuchten, wenn die Sozialdemokraten diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen würden?
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Herr Kubicki, wir haben unter den gegebenen Umständen nach intensiver Debatte beschlossen, den Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte für zwei Jahre auszusetzen, und zwar bis zum März dieses Jahres. Die Rahmenbedingungen, unter denen wir das gemacht haben, sind hier, glaube ich, bekannt.
Ich lege in meiner Rede jetzt dar, warum uns allen, denen der Familiennachzug und eine humanitäre Flüchtlingspolitik am Herzen liegen, die Verlängerung der Aussetzung nicht leichtfällt.
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Trotzdem habe ich deutlich gesagt, dass der Gesetzentwurf, den wir heute beraten und beschließen, ein ganz wichtiger Schritt ist, ein Kompromiss, den wir jetzt eingehen, um eine gute Neuregelung ab 1. August 2018 auf den Weg zu bringen.
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Der einzige Zweck dieser Verlängerung, die wir heute Morgen beschließen, ist, eine neue Regelung zu formulieren, mit der wir gewährleisten, dass ab dem 1. August 2018 wieder Familienangehörige von subsidiär Schutzberechtigten zu uns kommen können.
In der ersten Lesung am 19. Januar 2018 habe ich für die SPD-Fraktion hier ausgeführt, dass wir wollten, dass in diesem Gesetzentwurf das Datum 31. Juli 2018 explizit genannt wird, und das ist jetzt der Fall. Bis dahin wird längstens verlängert, und danach ist Familiennachzug wieder möglich.
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Mit dieser Übergangsregelung greifen wir einer Neuregelung, die ab dem 1. August 2018 gelten soll, nicht vor; denn diese Neuregelung wollen wir hier im Deutschen Bundestag gemeinsam sorgfältig beraten, formulieren und dann miteinander beschließen. Das soll sicherstellen, dass ab 1. August 2018 wieder Menschen über den Familiennachzug zu uns kommen können.
Der zweite Punkt, der der SPD wichtig war und den wir auch gewährleistet haben, ist, dass wieder Anträge gestellt werden können. Wir haben entsprechende Informationen aus dem Auswärtigen Amt, dass bereits jetzt wieder Anträge entgegengenommen werden, Menschen eine Beratung bekommen und die Anträge, soweit möglich, auch bearbeitet werden.
Jetzt komme ich noch zu den Härtefällen, weil auch das etwas ist, was uns allen natürlich sehr am Herzen liegt.
Nach § 22 Aufenthaltsgesetz können bei Härtefällen Visa ausgestellt werden, sodass Menschen, für die diese Härtefallregelung gilt, eine Aufenthaltserlaubnis bekommen können. Im letzten Jahr waren das 66 Personen. Deswegen sage ich ganz deutlich, liebe Kolleginnen und Kollegen: Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, diese Härtefallregelung anders auszulegen und auszugestalten, damit darunter mehr als 66 Personen fallen. Diese Härtefallregelung muss vor allen Dingen, so wie es richtig und wichtig ist, im Sinne des Kindeswohls und unter Berücksichtigung der UN-Kinderrechtskonvention interpretiert werden. Das ist unsere Aufgabe.
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Wir gehen heute mit dem Gesetzentwurf – und ich werbe für die SPD-Fraktion um Zustimmung – einen ersten wichtigen Schritt. Wir verlängern die Aussetzung des Familiennachzugs längstens bis zum 31. Juli dieses Jahres. Das ist vereinbart, und das ist notwendig, um uns Zeit für eine Neuregelung zu schaffen. Dann wollen wir diese Neuregelung hier miteinander debattieren.
Ich hoffe sehr, dass es eine Neuregelung sein wird, mit der Menschen zu uns kommen können und die einen akzeptablen Kompromiss darstellt. Dafür werbe ich.
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Christian Wirth, AfD.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordneten! Guten Morgen! Die AfD beantragt den Wegfall des Anspruchs auf Nachzug der Familienangehörigen von subsidiär schutzberechtigten Migranten. Die Große Koalition will sich nunmehr dahin gehend geeinigt haben, dass die Aussetzung des Nachzuges für Migranten mit eingeschränktem Schutz bis zum 31. Juli dieses Jahres befristet werden soll und sodann auf 1 000 Menschen pro Monat begrenzt wird, ergänzt um eine bereits bestehende Härtefallregelung.
Die Interpretation der Koalitionspartner ist abenteuerlich. Warum die Aussetzung befristen, wenn seit 2016 die Einsicht bei den Regierungsparteien besteht, dass der Nachzug nicht angebracht ist? Wir sind der Auffassung, dass eine Familienzusammenzuführung nicht in unserem Land zu erfolgen hat, sondern zum Beispiel in Schutzzonen in Syrien, welches zum größten Teil befriedet ist.
({0})
Des Weiteren kann es Familienzusammenführungen in Schutzzonen und Schutzlagern in Nachbarländern geben, was Aufgabe der UNO ist und nicht der Bundesrepublik Deutschland.
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Die Entscheidung von Frau Merkel, 2015 die deutschen Grenzen von einer Flut Migranten überrennen und weiterhin offen zu lassen, ist ein eklatanter Rechtsbruch; so bereits die ehemaligen Verfassungsrichter Di Fabio und Papier, so die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages. Auch das OLG Koblenz hat in seiner Entscheidung vom 14. Februar 2017 zu Problemfällen der illegalen Einreise in das Bundesgebiet wörtlich festgestellt:
Die rechtsstaatliche Ordnung in der Bundesrepublik ist in diesem Bereich jedoch seit rund eineinhalb Jahren außer Kraft gesetzt ...
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Die Auswirkungen dieses permanenten Rechtsbruches werden die Bürger Deutschlands auf Generationen finanziell, kulturell und in der inneren Sicherheit massiv belasten. Die „Neue Zürcher Zeitung“ hat im Sommer 2017 veröffentlicht, was der Schweizer Finanzwissenschaftler Raffelhüschen errechnet hat, dass uns nämlich jeder Migrant zu seinen Lebzeiten aufgrund des geringen Bildungsniveaus per saldo 450 000 Euro kostet. Bei circa 2 Millionen Migranten von 2015 bis 2018 entspricht das Gesamtkosten in Höhe von etwa 900 Milliarden Euro. Einfach atemberaubend!
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Mit dieser Summe könnten die größten Probleme der Rentenversicherung, der Alters- und Kinderarmut und der Bildung in Deutschland behoben werden.
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Eine Regierung, die einen solchen Rechtsbruch verursacht, sollte bemüht sein, diese Schäden zu mindern bzw. zu beheben, etwa dadurch, dass die Grenzen nach geltendem Recht geschlossen werden und eine Rückführung bzw. Abschiebung der illegalen Migranten vorgenommen wird, wie auch schon von Frau Merkel gefordert: Das Wichtigste ist Rückführung, Rückführung und nochmals Rückführung, und es bedarf einer nationalen Kraftanstrengung bei der Abschiebung. – Schneller vergessen als gesprochen!
({5})
Aber will die Bundesregierung überhaupt die subsidiären Migranten zurückführen? Wir haben eine Antwort darauf: Nein, will sie nicht. Lippenbekenntnisse! Wie die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der AfD zeigt, ist seitens der Bundesregierung eine solche Rückkehr überhaupt nicht gewollt, unabhängig davon, ob eine Bedrohungssituation vor Ort in Syrien noch besteht.
In der Antwort auf die Kleine Anfrage schreibt die Bundesregierung:
Der Rückgang militärischer Gewalt in Teilen Syriens ist nicht mit einem Ende des Konfliktes gleichzusetzen.
Welchen Maßstab legt die Bundesregierung an, da die letzte Lagebeurteilung Syriens von 2012 stammt? Dies ergibt sich dann aus der weiteren Antwort:
Ein Ende des Konfliktes muss durch eine verhandelte, politische Lösung herbeigeführt werden, die derzeit auch wegen fehlender Teilnahme des syrischen Regimes am Friedensprozess der Vereinten Nationen in Genf nicht absehbar ist.
Hier sieht man, dass die Bundesregierung die Rückführung syrischer Migranten mit einem rhetorischen Trick auf ewige Zeiten verschieben kann. Hiermit begeht die Bundesregierung abermals einen erheblichen Rechtsbruch zulasten Deutschlands, da natürlich auf die tatsächliche Bedrohungslage abzustellen ist.
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Damit hat sich prinzipiell auch die derzeitige Diskussion über den seit knapp zwei Jahren ausgesetzten Familiennachzug von Syrern erledigt. Der vollkommene Familiennachzug wird kommen.
Doch der Hiobsbotschaften noch nicht genug. Denn der „Spiegel“ meldet in seiner Ausgabe vom 13. Januar 2018, dass der GroKo-Betrug mit dem Asylrecht noch viel schlimmer ist, als man sich je vorstellen konnte.
Bereits im November 2017 hat das Europaparlament eine Änderung der Asylbestimmungen beschlossen. Danach soll künftig nicht mehr das Land in der EU, das ein Migrant zuerst betritt, für dessen Asylverfahren zuständig sein, sondern das Land, zu dem bereits Verbindungen bestehen. Solche Verbindungen können aufgrund früherer Aufenthalte bestehen oder dadurch, dass sich bereits ein Angehöriger im Land befindet.
Nach Parlamentsvorschlägen soll „faktisch die bloße Behauptung einer Familienverbindung ausreichen“. Zitat:
Wenn jeder der über 1,4 Millionen Menschen, die seit 2015 in Deutschland Asyl beantragt haben, zur Ankerperson für neu in der EU ankommende …
Migranten
wird, reden wir über ganz andere Größenordnungen als bei der Familienzusammenführung.
So Innenstaatssekretär Ole Schröder, CDU.
({7})
Und was machen die Abgeordneten der CDU/CSU, SPD und FDP im Europaparlament? Sie stimmen dieser vollkommen irrsinnigen Regel zu und dürfen sich bald als Garanten einer neuen Völkerwanderung nach Deutschland feiern lassen.
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Hiermit sind auch sämtliche geplanten Pseudo-Obergrenzen bei der Migration in Höhe einer Sozialhilfegroßstadt von 220 000 Personen, also in der Größenordnung von zum Beispiel Freiburg, Makulatur – und es wird ein neues Geschäftsfeld für Schleuser eröffnet. Besonders pikant ist – das sage ich in Richtung der CSU, die in diesem Jahr in Bayern Landtagswahlen hat –, dass diese Regelung auch von der CSU-Europaabgeordneten Hohlmeier getragen wird, immerhin die Tochter von Franz Josef Strauß.
Und zur FDP: Nur im Wahlkampf bei der AfD abkupfern reicht nicht; man muss auch liefern.
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Die CDU/CSU hat in ihrem Wahlkampfprogramm behauptet, man habe aus 2015 gelernt, die Migration soll auf einem niedrigen Stand gehalten werden – was auch immer das ist. Der Bürger hätte aufatmen können, wenn da nicht zwei Anglizismen folgen würden, die die wahre Absicht der CDU/CSU verschleiern, nämlich dass die CDU/CSU jenem durch Resettlement und Relocation nachkommen will. Auf Deutsch: durch Neubesiedlung und Umsiedlung.
Nicht umsonst hat uns unser heutiger Präsident Herr Schäuble bereits 2016 belehrt, wir bräuchten die Migration aus Afrika und dem Nahen Osten, um in Europa nicht in Inzucht zu degenerieren.
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Meine Damen und Herren, dies ist das Vokabular der „Replacement“-Agenda der UNO und der EU, nachzulesen ab 2001 auf den offiziellen Seiten der UNO und der EU, wonach für Europa eine Migration aus Nahost und Afrika gefordert wird, um den Nationalstaaten in Europa das Rückgrat zu brechen, mit einer Quote für Deutschland von an die 12 Millionen Menschen.
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Nach diesem Abstimmungsverhalten im Europaparlament fordern wir die Altparteien auf, endlich Farbe zu bekennen: Wenn Sie weiterhin die Massenmigration nach Deutschland wollen, wie die beiden linkspopulistischen Parteien im Bundestag, dann sagen Sie es jetzt und ehrlich und machen den Weg für Neuwahlen frei! Ansonsten beginnen Sie endlich damit, Politik zu machen für die, die Sie gewählt haben und die Sie bezahlen: für das deutsche Volk und Deutschland!
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Stimmen Sie unserem Antrag zu!
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Stephan Thomae, FDP.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute vier Gesetzentwürfe und einen Antrag und hören von Ihnen, Herr Bundesinnenminister, dass Sie einen Kompromiss, also einen Ausgleich, zwischen den Vorstellungen der Union und den Vorstellungen der SPD gefunden haben. Sie haben uns auch erläutert, was ein Kompromiss ist. Was Sie aber nicht sagen, ist, dass dieser Kompromiss jemanden kompromittiert, nämlich die SPD. Denn die Streitigkeiten um die Lesart und die Deutung Ihres Änderungsentwurfs beginnen schon. Hat sich denn nun die Union auf ganzer Linie durchgesetzt, oder hat die SPD Spuren hinterlassen? Vielleicht kann ich bei diesem Streit für eine Lösung sorgen. Die Union hat sich auf ganzer Linie durchgesetzt.
({0})
Das, was Sie uns heute vorlegen, ist das, was Sie von der Union schon immer gesagt haben, nur sprachlich schlechter und eigentlich völlig unverständlich. Ich will kurz sagen, weshalb das so ist.
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Sie sagen: Bis zum 31. Juli dieses Jahres gibt es keinen Familiennachzug. Ab dem 1. August dieses Jahres gibt es ein Kontingent von 1 000 Menschen pro Monat aus humanitären Gründen. Schon hier beginnt die Unklarheit. Ist das ein Tatbestandsmerkmal? Können also maximal 1 000 Menschen aus humanitären Gründen nachziehen, oder erlauben Sie aus humanitären Gründen – sozusagen als Begründung – 1 000 Menschen den Nachzug plus Härtefälle, so wie es die SPD deuten will? Aber so steht es nicht im Gesetz. Dort heißt es: 1 000 Menschen aus humanitären Gründen – was auch immer das genau ist –, bis die Zahl von 1 000 erreicht ist. – Das ist immer Ihre Vorstellung gewesen, meine Damen und Herren von der Union. 1 000 ist nichts anderes als eine Obergrenze. Sie schaffen sogar eine Obergrenze für Härtefälle. Das kann nicht angehen.
({2})
Herr Kollege Thomae, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hagedorn?
Ja, gestatte ich.
Lieber Herr Kollege Thomae, ich finde das ganz spannend. Sie haben darauf hingewiesen, dass vier Gesetzentwürfe vorliegen, davon einer von der FDP. Sie arbeiten sich in Ihrer Redezeit hauptsächlich an dem zwischen CDU/CSU und SPD gefundenen Kompromiss ab.
({0})
Schon die Zwischenfrage von Herrn Kubicki an unsere Kollegin Eva Högl hat den falschen Eindruck erweckt, als ginge der FDP die Regelung zum Familiennachzug nicht weit genug.
Fakt ist aber,
({1})
– ich muss keine Frage stellen; lesen Sie einmal die Geschäftsordnung –
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dass die FDP einen Gesetzentwurf vorgelegt hat, der auf eine Aussetzung des Familiennachzugs für die nächsten zwei Jahre abzielt. Auch die Kollegen von den Grünen haben im Rahmen der Jamaika-Verhandlungen eine Aussetzung für ein Jahr vorgesehen. In Wahrheit bringt also der zwischen Union und SPD gefundene Kompromiss, was den Familiennachzug angeht, den Menschen, um die es geht, deutlich mehr Humanität als der Gesetzentwurf der FDP und übrigens auch mehr als der Vorschlag der Grünen.
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Frau Kollegin Hagedorn, bitte lesen Sie unseren Gesetzentwurf ganz und gründlich. Wir wollen in der Tat keinen ungeregelten, kompletten Nachzug, sondern einen geregelten Nachzug. Unsere Regelung sieht zwar eine weitere Aussetzung vor. Aber der springende Punkt ist – das haben Sie offensichtlich nicht gelesen – unsere Härtefallregelung. Ein Härtefall kann demnach sowohl in der Person, die bereits hier im Land lebt, als auch in der Person, die nachziehen will, begründet sein. Nun kommt der große Unterschied. Wir sagen: Warum wollen wir nicht auch den Menschen, die gut integriert sind, sich selbst versorgen, Arbeit gefunden haben, Deutsch sprechen, straffrei geblieben sind, Geld verdienen, Miete und Steuern zahlen, den Nachzug der Familie ermöglichen? Das ist der wesentliche Unterschied. Dazu finde ich in Ihrem Entwurf nichts, aber auch gar nichts.
({0})
Da Sie der Anhörung, die wir am Montag zum Familiennachzug durchgeführt haben, beigewohnt haben, haben Sie vielleicht bemerkt, dass dort etwas ganz Seltenes und Außergewöhnliches passiert ist. Sogar die von der Regierung benannten Sachverständigen haben klar und deutlich attestiert, dass die vorgesehene Kontingentierung auf 1 000 Menschen pro Monat eine Zwischenlösung sein kann, dass aber letztlich der Vorschlag der FDP richtig ist, die Härtefälle klar zu definieren.
({1})
Auch der Vertreter des Deutschen Städte- und Gemeindebundes hat deutlich gemacht, dass das, was die FDP vorgelegt hat, schon die endgültige Lösung durchschimmern lässt, dass unser Entwurf richtig ist und dass es in diese Richtung gehen muss. Es kommt ganz selten vor, dass sogar die von einer Regierung benannten Sachverständigen einen Oppositionsentwurf für richtig halten.
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Stattdessen sieht die jetzt beschlossene Regelung vor, dass ab 1. August 2018 bis zu 1 000 Betroffenen pro Monat der Nachzug ermöglicht werden soll; bei Ihnen ist sogar eine Kontingentierung der Härtefälle vorgesehen. Was bewirken Sie denn damit, Herr Bundesminister? Sie bewirken, dass sogar bei der Behandlung der Härtefälle Warteschlangen von Menschen entstehen. Gleichzeitig sagen Sie nicht, wie Sie bei den Härtefällen priorisieren wollen. Wie wollen Sie denn sicherstellen, dass nicht die schlimmsten, gravierendsten Fälle am längsten warten müssen? Keinerlei Antwort darauf findet sich in Ihrem Gesetzentwurf.
({3})
Herr Kollege Thomae, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Ich kann noch unendlich lange reden, sehr gerne.
Das fürchte ich schon.
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Ich rede mich gerade erst in Rage.
Frau Esken, bitte.
Herr Kollege Thomae, was schätzen Sie, wie viele Jahre ein geflüchteter Mensch hier bei uns gut integriert sein muss, um Deutsch zu sprechen, eine Wohnung zu haben, diese Wohnung bezahlen zu können, eine Arbeit zu haben, damit Sie ihm erlauben würden, seine Familie nachzuholen?
Frau Kollegin, da schätzen Sie mich völlig falsch ein. Wir haben bereits eine ganze Reihe von Menschen, die seit gar nicht allzu langer Zeit hier leben, gut Deutsch sprechen, sich redlich verhalten, gegen die kein Einwand besteht, die hier arbeiten und in der Lage sind, ihre Familie nachzuholen. Ich kann Ihnen keine Zahlen nennen. Aber dass es solche Fälle bereits jetzt gibt, daran kann in meinen Augen kein Zweifel bestehen.
({0})
Was wir erreichen wollen, ist, dass Menschen, die Leistung zeigen, ihre Familien nachholen können. Das aber ist in Ihrem Entwurf nicht zu erkennen. Deswegen sind wir der Meinung, dass das, was Sie uns hier vorlegen, für eine christlich ausgerichtete Regierung nicht der große Wurf sein kann. Ich glaube, Sie verschieben die Lösung dieses Problems auf einen noch zu erlassenden Gesetzentwurf, der dann kommen soll, wenn die Tinte unter dem Koalitionsvertrag trocken ist. Was dann kommt, darauf sind wir sehr gespannt. Ich bin jedenfalls gespannt, Frau Nahles, Herr Schulz, wie Sie Ihrer Partei das, was hier von Ihnen als Kompromiss ausgehandelt worden ist, schmackhaft machen wollen.
({1})
Wir sind sehr gespannt, wie es mit diesem Thema weitergehen wird.
Vielen Dank.
({2})
Danke sehr. – Jetzt hat das Wort der Vorsitzende der Fraktion Die Linke, Dr. Dietmar Bartsch.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was wir in den letzten Wochen von Union und SPD beim Thema Familiennachzug erlebt haben, das ist wirklich ein Trauerspiel.
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Es ist ein Trauerspiel zulasten der Menschlichkeit.
Diese Einigung ist offensichtlich ein Vorgeschmack auf die kommenden schwarz-roten Jahre, und wahrhaftig kein guter. Es ist doch so: Sie streiten wie die Irren, und dann machen Sie faule Kompromisse. Herr de Maizière, Sie hätten bei Wikipedia nicht unter „Kompromiss“, sondern unter „Fauler Kompromiss“ nachschauen sollen;
({1})
dann hätten Sie hier auch etwas anderes vorlesen können.
Dann haben Sie hier gesagt: Das ist so ähnlich wie in einem Tarifkonflikt. – Das ist es überhaupt nicht. Hier geht es um Menschen. Fragen Sie einmal die Leute, die da draußen demonstrieren. Das ist ein unzulässiger Vergleich.
({2})
Familienzusammenführung zu ermöglichen, ist eine moralische Pflicht. Die Aussetzung soll nun bis zum 31. Juli 2018 verlängert werden, und danach sollen 1 000 Familienangehörige pro Monat kommen können. Nun haben Sie erzählt: Das ist keine Willkür. – Natürlich ist es Willkür. Warum denn nicht 900 oder 1 500 Familienangehörige? Es ist reine Willkür.
Dann sagen Sie: Wir haben keine Kriterien. – Was ist denn das für ein Eingeständnis? Sie müssen dem Deutschen Bundestag einmal sagen, was es für Kriterien für diejenigen gibt, die kommen können.
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In einem hat der Kollege Thomae völlig recht gehabt: In dieser Frage hat sich die Union komplett durchgesetzt. Dobrindt sagt: Es gibt keinen Rechtsanspruch auf Familiennachzug mehr.
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Da hat er einfach recht, und das bedauere ich sehr.
({5})
Ersetzt wird die bisherige Regelung durch eine bloße Ermessensregelung. Sie beinhaltet, dass bis zu 1 000 Familiennachzüge pro Monat ermöglicht werden können. „... bis zu ... können“: Ich meine, es können auch 2 sein oder 1. Es ist eine Willkürregelung, und das geht so überhaupt nicht.
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Dazu kommt die Härtefallregelung. Auf Grundlage der Härtefallregelung wurden im gesamten letzten Jahr 66 Visa ausgestellt. Davon waren also gut 100 Leute betroffen – und das feiert die SPD. Es ist doch unfassbar, wenn diese Härtefallregelung jetzt verlängert wird. Es kann doch wirklich nicht wahr sein. Sie müssen sich einmal überlegen: In Nordsyrien flüchten jetzt Tausende Menschen, unter anderem vor deutschen Panzern. Da zeigen Sie kein Engagement, aber bei diesen wenigen engagieren Sie sich.
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Wenn das für die 45 000, 50 000, 60 000, wie viele auch immer das sein mögen, umgesetzt wird, dann dauert das vier, fünf Jahre – länger, als die Koalition bestehen wird. Meine Damen und Herren, das wird ein Lottospiel, aber Familie darf doch kein Lottospiel sein.
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Wir reden hier über Menschen, denen in ihrer Heimat eine Gefahr für das Leben droht, die aus Bürgerkriegsgebieten flüchten. Hinter dem sperrigen Begriff „subsidiär“ verstecken sich schwerste Schicksale, und mit dieser Regelung werden diese Schicksale noch mal gnadenlos erschwert.
Liebe Union: Familienpartei. Ich will mal Andy Scheuer zitieren:
Ehe und Familie stehen bei der CSU im Mittelpunkt. Ich wende mich gegen jegliche Relativierungsversuche.
Gilt das denn nur für einige, oder gilt das für alle?
({9})
Ich will Sie mal ans Grundgesetz erinnern:
Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.
Der Schutz der Familieneinheit ist ein Menschenrecht, meine Damen und Herren. Das ist es!
({10})
Das gilt nicht nur für diejenigen mit einem deutschen Pass, sondern das gilt generell. Wo bleibt denn da das „C“ in Ihrer Partei, meine Damen und Herren?
Wenn Sie uns, der Linken, das schon nicht abnehmen, dann hören Sie doch wenigstens auf die Kirchen. Wenn ich jetzt alle Zitate von den Kirchen in Deutschland hier anbringe, muss ich eine Stunde reden. Aber zumindest zwei will ich Ihnen nicht ersparen: Herr Jüsten, der Vertreter der katholischen Bischöfe in Berlin, sagt:
Es ist eine untragbare Härte,
– ein untragbare Härte! –
wenn Familien auf unabsehbare Zeit getrennt bleiben.
({11})
Herr Bedford-Strohm, der EKD-Vorsitzende, sagt: Wer um seine Familie fürchtet, der kann sich kaum integrieren. – Nehmen Sie doch wenigstens das Wort der Kirchen in Deutschland ernst, meine Damen und Herren von der Union! Das wäre das Mindeste.
({12})
Herr Kollege Bartsch, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Kollegen Ehrhorn, AfD? – Bitte.
Sehr geehrter Herr Kollege, wenn man Sie reden hört, hat man den Eindruck, dass Sie unter dem Aspekt der Menschlichkeit gar nicht genug Menschen in unser Land einwandern lassen wollen. Ist Ihnen dabei bewusst, dass für jeden, der in unser Land einwandert, irgendwo in Deutschland ein deutscher Familienvater oder eine andere Person mitarbeiten muss?
({0})
Sind Sie der Meinung, dass das Geld, das dafür verwendet wird – wir haben die Zahl eben sehr eindrücklich gehört; wir werden uns in der Größenordnung von vielleicht 900 Milliarden Euro in den nächsten Jahrzehnten bewegen –, das Sie hier so großzügig auszugeben bereit sind, Ihr Geld ist, oder glauben Sie nicht auch, dass das das Geld der Steuerzahler ist, mit dem man hier mit einer großen Verantwortung umzugehen hat?
Danke schön.
({1})
Sehr geehrter Herr – Ihren Namen habe ich nicht verstanden; muss ich mir aber vielleicht auch nicht merken –, um das ganz klar zu sagen: Was Sie hier gerade gefragt haben, geht an der Sache unendlich vorbei.
({0})
Wissen Sie, welche Personengruppe es betrifft? Für meine Fraktion, für Die Linke, will ich Ihnen eines ganz klar sagen – vielleicht begreifen Sie es ja sogar –: Wir wollen für solche Bedingungen sorgen, dass jedes Kind, egal wo es geboren wird, dort seine Entwicklungsmöglichkeiten entfalten kann und später auch entscheiden kann, wohin es geht.
({1})
Wir kritisieren, dass über Fluchtursachen nicht geredet wird, dass aus Deutschland sogar ein Beitrag zu Flucht und Vertreibung geleistet wird, aktuell in Nordsyrien.
({2})
Das ist unsere Position und nicht die Position der Fremdenfeindlichkeit, die davon ausgeht, dass möglichst abgeschottet wird und am Ende auf Flüchtlinge geschossen wird, wie das aus Ihrer Fraktion gesagt wird. Das wollen wir nicht, meine Damen und Herren.
({3})
Da sich die Union bei diesem Kompromiss, diesem faulen Kompromiss, durchgesetzt hat, will ich auch für die SPD noch eine Einschätzung zitieren, nämlich die Einschätzung des Deutschen Anwaltvereins. Frau Gisela Seidler sagt: Dieses Gesetz bedeutet eine unglaubliche Verschlechterung für die Menschen. Aus einem Rechtsanspruch wird reines Ermessen gemacht. Die SPD hat unsagbar schlecht verhandelt. – Liebe Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen, was habt ihr eigentlich im Wahlkampf gesagt? Wie habt ihr diesen Jamaika-Kompromiss kritisiert?
({4})
Das ist doch unfassbar! Das hier böte im Übrigen die Möglichkeit, glaubwürdig aus diesem Wahnsinnsprojekt Schwarz-Rot auszusteigen. Das wäre mal eine Idee. So könnte man da glaubwürdig herauskommen.
({5})
Ich will und meine Fraktion will, dass jedes Kind in Sicherheit bei seiner Familie aufwachsen kann. Das muss Normalität überall auf der Welt sein. Dieses Gesetz ist willkürlich, moralisch fragwürdig und unmenschlich. Sie haben die Gelegenheit, es abzulehnen.
Danke schön.
({6})
Jetzt hat die Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Katrin Göring-Eckardt, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir werden über dieses Gesetz abstimmen, und ich bitte Sie, jede Einzelne und jeden Einzelnen in diesem Haus: Überlegen Sie sich, was wäre, wenn es Ihr Kind wäre.
({0})
Ich nehme an, auch Sie haben Kinder, für die Sie Verantwortung haben, liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD. Stellen wir uns einmal vor, eines Ihrer Kinder würde irgendwo im Kriegsgebiet warten und Sie könnten es nicht nachholen.
({1})
Da würden selbst Sie mit Ihren menschenverachtenden Parolen sagen: Ich tue alles für dieses Kind.
({2})
Frau Kollegin?
Nein, das ist AfD-TV. Ich lasse keine Frage zu. Sie können das ohne mich machen.
({0})
Ich will auch die Kolleginnen und Kollegen von der CSU – christlich und sozial nennt sich diese Partei ja – einmal fragen: Wie kann es eigentlich sein, dass Sie die Frage, ob Familien zusammenkommen können, ob Kinder in den Flieger steigen und sicher nach Deutschland kommen können, zur Gretchenfrage einer Koalition machen, zur Gretchenfrage für dieses Land machen? Das ist doch nicht christlich, das ist doch nicht sozial. Das ist doch komplett absurd, meine Damen und Herren.
({1})
Heute Morgen hätten Sie vor dem Bundestag sehen können, dass dort eine Reihe von Demonstrantinnen und Demonstranten standen, mit denen unter anderem ich geredet habe.
({2})
Dort waren zwei Jungs aus Syrien, acht Jahre und sechs Jahre alt. Diese beiden Jungs sind mit ihrer älteren Schwester hierhergekommen. Ihre Eltern sind nach wie vor in Syrien. Sie sind genau dort in Syrien, wo gerade die Türkei mit deutschen Panzern angreift. Ich habe diesen beiden Jungs versprochen, dass ich Ihnen hier sagen werde: Diese beiden Kinder warten seit zwei Jahren darauf, dass Mutter und Vater zu ihnen kommen. Es wäre doch unmenschlich, wenn man nicht sagen würde: Selbstverständlich müssen die Eltern dieser beiden Jungs, die hier draußen standen, die schon Deutsch gelernt haben, die alles daransetzen, hier anzukommen, die alles daransetzen, hier in Frieden zu leben, nachkommen. Die Kinder brauchen doch Mutter und Vater. – Es ist doch absurd, zu sagen: Vielleicht ist das ein Härtefall – oder eben auch nicht, meine Damen und Herren.
({3})
Sie schaden auch dem Ansehen unseres Landes. Sie schaden aber auch dem Rechtsstaat. Die Leute da draußen haben nämlich vertrauensvoll gewartet. Sie waren die ganze Zeit ziemlich ruhig. Denen hatten Sie nämlich gesagt: In zwei Jahren geht es wieder. – Jetzt haben Sie die aber betrogen. Die fragen sich jetzt: Wieso ist das Land, in dem ich angekommen bin, ein Rechtsstaat, indem mir alle immer wieder sagen, ich müsse mich an Recht und Gesetz halten? Selbstverständlich wollen die das. Jetzt aber werden sie betrogen, und es wird ihnen gesagt: „April! April!“, und es ist doch nicht so. – Wie können Sie eigentlich dem eigenen Rechtsstaat, auf den wir so stolz sind, auf diese Art und Weise schaden?
({4})
Liebe Union und liebe SPD, ich verstehe es einfach nicht.
({5})
Frau Kollegin Göring-Eckardt, ich habe es richtig verstanden, dass Sie Zwischenfragen der AfD-Fraktion nicht beantworten wollen?
Das haben Sie richtig verstanden. Vielen Dank.
Herr Dobrindt hat leider recht; Herr Bartsch hat darauf hingewiesen. Herr Dobrindt hat sehr klar gesagt: Die neue alte GroKo schafft das Recht auf Familiennachzug ab. – Genauso ist es. Es geht um das, was eigentlich Völkerrecht ist, um das, was eigentlich selbstverständlich mit unserem Grundgesetz vereinbar sein muss, nämlich den besonderen Schutz von Ehe und Familie. Das schaffen Sie ab. Sie machen daraus nicht mehr ein Völkerrecht, nicht mehr ein Grundrecht – Sie machen daraus jetzt ein Gnadenrecht. Ich finde, bei Familie kann es kein Gnadenrecht geben.
Lieber Herr de Maizière, Sie sagten hier am Anfang, wir sollten doch einmal darüber nachdenken, dass es ein bisschen Barmherzigkeit geben soll. Dann machen Sie lange Ausführungen darüber, was bei Wikipedia über „Kompromiss“ steht. Haben Sie vielleicht einmal nachgeguckt, was bei Wikipedia über „Familie“ steht? Meine Damen und Herren, darum geht es doch; es geht hier nicht um irgendeinen Kompromiss, es geht um Familie und Kinder.
({0})
Nein, ein bisschen Barmherzigkeit gibt es nicht, und Härtefälle sind eben Härtefälle. Es ist sehr nett, Herr Gabriel, dass Sie auf die Anmerkung von Frau Amtsberg hier durch den Saal gegangen sind – ich nehme an, es gibt Fotos davon – und sich diesen einen Härtefall noch einmal genau anschauen wollten, um zu sehen, ob Sie nicht doch etwas tun können. Aber genau das ist der falsche Ansatz.
Was ist denn ein Härtefall? Sind diese beiden Jungs da draußen ein Härtefall? Muss man schwerstbehindert sein oder was auch immer? Nein.
({1})
Jeder einzelne Fall – wenn Familien getrennt sind, wenn Kinder von ihren Eltern getrennt sind, wenn Geschwister getrennt sind – ist doch ein Härtefall. Das ist die Wirklichkeit, wenn es um Familien geht, meine Damen und Herren.
({2})
Frau Högl, Sie haben darauf hingewiesen, dass Sie das alles unter der Berücksichtigung der Kinderrechtskonvention machen wollen. Das kann man nicht; man kann nicht nur ein bisschen die Kinderrechtskonvention berücksichtigen.
({3})
Die Kinderrechtskonvention gilt! Das ist der Unterschied: Sie gilt für jedes Kind und nicht nur für 1 000 oder für 1 000 plus 97. Für jedes einzelne Kind gilt die Kinderrechtskonvention. Das ist das Problem, das Sie mit Ihrem sogenannten Kompromiss geschaffen haben, meine Damen und Herren.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, man kann ja viel darüber reden, auf welche Art und Weise Sie verhandeln und was uns wahrscheinlich mit dieser Art von Großen Koalition – „kleine Koalition“ kann man ja eigentlich nur sagen – bevorstehen wird. Sie knicken in der Familienfrage ein. Du liebe Güte! Sie stellen sogar immer noch die Familienministerin. Ich frage: Wie klein will sich die SPD noch machen? Sie sind noch in keiner Koalition. Sie können heute hier zeigen, dass es Ihnen wirklich um die Familien geht. Sie können es heute hier zeigen, indem Sie diesem unsäglichen Kompromiss, den Ihre Führung gemacht hat, nicht zustimmen.
({5})
Jeder Einzelne von Ihnen kann heute entscheiden: Ich setze mich ein für die syrischen Familien. Ich setze mich ein dafür, dass jedes Kind das Recht hat, mit seinen Eltern zusammenzuleben.
({6})
Ich setze mich dafür ein, dass die Frage: „Was wäre, wenn es mein Kind wäre?“, beantwortet wird mit: Ja, ich würde alles dafür tun, dass diese Kinder hierherkommen können.
Vielen Dank.
({7})
Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Braun zu einer Kurzintervention.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich stelle ein sehr begrenztes Demokratieverständnis bei Frau Göring-Eckardt fest – ein sehr begrenztes.
({0})
Ihre Gesprächsbereitschaft gilt offenbar nur für Menschen, die Ihrer Meinung sind. Demokratie lebt aber von verschiedenen Meinungen. Deswegen ist die AfD hier im Deutschen Bundestag. Wir sind drittstärkste Kraft geworden, damit Pluralismus endlich auch wieder in diesen Deutschen Bundestag einzieht.
({1})
Frau Göring-Eckardt, ich finde es armselig, wenn Sie wie ein Bundestagsküken jegliche Zwischenfrage einer Fraktion ablehnen.
({2})
Ich finde es armselig. Es ist ein Zeichen von mangelnder Kollegialität in diesem Hohen Hause.
({3})
Ich spreche jetzt ein sehr unangenehmes Thema an, weil es die Menschen in unserem Lande bewegt. Ich frage: Wer ist Familie?
({4})
Wer gehört zum Beispiel nach Ihrer Auffassung, Frau Göring-Eckardt, zur Familie? Gehört dazu auch die Zweitehefrau? Gehört dazu die Zweitehefrau wie in Pinneberg, wo im Rahmen des Familiennachzugs bewilligt wurde, dass die Zweitehefrau eines Syrers nach Deutschland kommen durfte? Es ist unglaublich. Mittlerweile sind es zwölf Menschen, die auf Kosten der Steuerzahler unseres Landes in Pinneberg sind, weil Polygamie ermöglicht wird. Polygamie darf in Deutschland keine Zukunft haben.
({5})
Frau Kollegin Göring-Eckardt, Sie können antworten.
({0})
Erstens. Ich kann Ihnen eines sagen: Ich werde mir von Ihnen nicht erklären lassen, was Demokratie ist, meine Damen und Herren von der AfD.
({0})
Zweitens. Ihre Zwischenfragen hier im Parlament haben vor allen Dingen ein Ziel: Sie wollen noch ein bisschen mehr Redezeit haben für Ihre Schimpftiraden. In diesem Fall haben Sie übrigens auch Ihre Unmenschlichkeit unter Beweis gestellt. Das lasse ich in meiner Rede nicht zu. Daneben gibt es noch einen anderen ganz einfachen Grund: Ich fand, ehrlich gesagt, dass die Zwischenfrage aus Ihren Reihen überhaupt nichts mit dem Thema zu tun hatte.
({1})
Außerdem wollte ich mich mit dem auseinandersetzen, was die Große Koalition hier vorschlägt. Das ist Demokratie.
({2})
Drittens will ich Ihnen noch etwas sagen: „Was ist Familie?“, das war Ihre Frage. Worum geht es bei diesem Fall in Pinneberg?
({3})
Es geht darum, dass eine Mutter zu ihren vier Kindern, die hier in Deutschland sind, will. Mutter und Kinder, genau das ist für mich Familie.
({4})
Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Dr. Stephan Harbarth, CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Unser Herz ist weit. Aber unsere Möglichkeiten sind endlich.
Mit diesen Worten hat der ehemalige Bundespräsident Gauck uns den Weg zu einer verantwortungsvollen Flüchtlingspolitik gewiesen. Deshalb haben wir in den vergangenen Jahren, weil unser Herz weit ist, die Augen nicht verschlossen vor den Menschen, die Zuflucht in unserem Land gesucht haben, und wir haben Zuflucht in einer sehr großzügigen Weise gewährt.
({0})
Weil wir wissen, dass unsere Möglichkeiten endlich sind, wissen wir aber auch, dass man die Aufnahmefähigkeit und Integrationsbereitschaft eines Landes und einer Gesellschaft nicht überfordern darf.
({1})
Dem wird der Gesetzentwurf, den wir heute in diesem Parlament verabschieden werden, gerecht. CDU/CSU und SPD haben sich in einer schwierigen Phase einer schwierigen Aufgabe gemeinsam gestellt. Keine Partei hat es sich einfach gemacht, und auch keine beteiligte Person hat es sich einfach gemacht, weil wir wissen, dass es im Rahmen der Flüchtlingspolitik um den Umgang mit dem Schicksal von Menschen geht.
({2})
Herr Kollege Harbarth, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dr. Sitte?
Ich gestatte gerne eine Zwischenfrage der Kollegin Sitte.
Danke, Herr Harbarth. – Angesichts des Verhandlungsergebnisses zitiere ich einmal zwei Vertreter zwei verschiedener Parteien und schließe daran meine Frage an.
Martin Schulz hat gesagt – ich zitiere wörtlich –:
Die SPD hat über die im Sondierungsergebnis hinaus vereinbarten 1 000 Angehörigen pro Monat eine deutlich weiter gehende Härtefallregelung … durchgesetzt.
Dagegen Alexander Dobrindt – ich zitiere wieder –:
Mit der Neuregelung wird der Anspruch auf Familiennachzug für subsidiär Geschützte endgültig abgeschafft. … Neue Härtefallregelungen, die ein Mehr an Zuwanderung bedeutet hätten, gibt es nicht.
({0})
Nun frage ich Sie als Vertreter der Union: Wie ist es denn nun? Wo finde ich eine konkrete, klare Regelung in diesem Gesetz? Wo kann ich es nachlesen?
({1})
Wenn es nicht in diesem Gesetz steht, dann ist doch daraus zu schließen, dass es wieder nur eine Ankündigung ist, dass so eine Regelung kommen kann, aber nicht kommen muss. Auf jeden Fall ist das nicht verlässlich.
Wieso glauben Sie angesichts dieser unterschiedlichen Interpretationen, dass Ihnen die Leute – sowohl die in der SPD, die darüber entscheiden sollen, ob es diese Koalition geben soll, als auch die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land – glauben, dass Sie das gebacken bekommen?
({2})
Frau Kollegin Sitte, Sie haben mich gefragt, wo in diesem Gesetzentwurf die Regelungen stehen, die einerseits die Bereitschaft enthalten, Menschen in einer schwierigen Situation aus humanitären Gesichtspunkten Zuflucht zu gewähren, und die andererseits der Integrationsfähigkeit unseres Landes Rechnung tragen. Ich will es Ihnen gerne erläutern.
Wir haben vor dem Hintergrund unserer Überzeugung, dass Zuwanderung auch zahlenmäßig begrenzt werden muss, vorgesehen, dass es einen Maximalkorridor von 180 000 bis 220 000 Menschen pro Jahr gibt. Wir haben geregelt, dass es ab dem 1. August 2018 einen humanitär motivierten Zuzug von 1 000 Menschen pro Monat zu subsidiär Schutzberechtigten geben wird.
({0})
Die Kriterien, die im Einzelnen Anwendung finden, werden wir in einem weiteren Gesetz definieren, mit dem der Deutsche Bundestag in den kommenden Wochen befasst sein wird.
({1})
Für uns ist klar – so haben wir das mit den Sozialdemokraten vereinbart –, dass der Familiennachzug nur gewährt wird, wenn es sich um Ehen handelt, die vor der Flucht geschlossen wurden, wenn keine schwerwiegenden Straftaten begangen wurden und wenn es sich nicht um Gefährder handelt. Der Nachzug wird nur dann gestattet, wenn eine Ausreise kurzfristig nicht zu erwarten ist. Diese Kriterien werden wir in den Gesprächen mit Leben erfüllen. Wir haben in den vergangenen Tagen gezeigt, dass wir auch in einer Phase, in der es noch keine neugewählte Regierung gibt, unserer Verantwortung für dieses Land gerecht werden. In diesem Geiste werden wir miteinander die Kriterien in den kommenden Wochen in diesem Parlament verabschieden und auch gerne mit Ihnen diskutieren.
({2})
Herr Kollege Harbarth, jetzt hat sich noch die Kollegin Frau Dr. Rottmann, Bündnis 90/Die Grünen, zu einer Zwischenfrage gemeldet.
Sehr gerne.
Vielen Dank. – Sie beziehen sich immer auf die Integrationsfähigkeit dieses Landes. Eine Frage, die mich schon länger beschäftigt, ist: Mit welchen Vertretern von Kommunen haben Sie eigentlich gesprochen, außer mit dem Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, Herrn Landsberg von der CDU? Ich habe gestern Abend mit Stadträten aus Aschaffenburg gesprochen. Die haben vor diesem Sondierungsergebnis Angst, und zwar aus zwei Gründen.
Punkt eins. Sie haben die Flüchtlinge bisher dezentral untergebracht, professionell betreut. Sie drohen ihnen an, sie wieder in Gemeinschaftsunterkünfte zu stecken. Davor haben die Kommunen Angst.
Punkt zwei. Sie haben eine gut funktionierende Infrastruktur. Sie haben ehrenamtliche Helfer. Sie haben professionelle Helfer; 30 für ganz Aschaffenburg. Die Struktur ist vorhanden, sie ist aufnahmefähig. Mir wurde gestern gesagt: 60 000 Kinder nach Deutschland zu holen, ist für die Kommunen überhaupt kein Problem.
({0})
Sie haben mich gefragt, mit welchen Bürgermeistern und Oberbürgermeistern ich gesprochen habe. Ich kann Ihnen zunächst einmal sagen – jenseits der Gespräche mit Vertretern von Verbänden –: mit Bürgermeistern und Oberbürgermeistern meines Wahlkreises.
({0})
Ich gehöre diesem Bundestag seit gut acht Jahren als direktgewählter Abgeordneter an, für den es sehr naheliegend ist, dass er nicht nur mit Funktionären spricht, sondern auch mit den Bürgermeistern und den Oberbürgermeistern seines Wahlkreises.
({1})
Ich sage Ihnen: Ich kenne keinen einzigen Oberbürgermeister oder Bürgermeister, der in den letzten Wochen auf mich zugekommen ist und gesagt hat: Die Integrationsprobleme in meiner Kommune lassen sich dadurch lösen, dass mehr Menschen kommen. – Ich bin aber von vielen Oberbürgermeistern und Bürgermeistern um Gespräche gebeten worden.
({2})
Sie haben mir gesagt: Trotz besten Willens, Flüchtlinge in unsere Gesellschaft zu integrieren, sind wir an einem Punkt angekommen, an dem wir sagen müssen: Unsere Kapazitäten sind endlich. – Das ist die Realität in diesem Land.
({3})
Für uns ist es wichtig, dass wir die Bereitschaft, Menschen, die Schutz benötigen, in unserem Land Zuflucht zu gewähren, langfristig erhalten. Wir sind überzeugt: Die Bereitschaft, notleidende Menschen in unserem Land aufzunehmen, kann langfristig nur erhalten bleiben, wenn alle, die diese Bereitschaft zeigen, nicht überfordert werden. Ich finde es schade, dass von Teilen dieses Parlaments versucht wird, die große humanitäre Leistung, die dieses Land in den vergangenen Jahren erbracht hat, kleinzureden.
({4})
Wir haben in diesem Land in den vergangenen Jahren mehr Menschen, die in Not geraten sind, aufgenommen als der Rest Europas zusammen. Ich glaube, da sollten wir in puncto humanitäre Bereitschaft und humanitäres Wohlwollen unser Licht nicht unter den Scheffel stellen.
({5})
Wir sind nicht der Auffassung, dass Integration am besten funktioniert, wenn möglichst viele Menschen in unser Land kommen, sondern wir sind der Überzeugung, dass Integration dann am besten funktioniert,
({6})
wenn wir uns auf diejenigen konzentrieren, die eine langfristige Bleibeperspektive in unserem Land haben, und schauen, dass wir diese Menschen in puncto Sprache, Arbeitsleben und Gesellschaft in unser Land integrieren. Das funktioniert eben nicht,
({7})
wenn wir einen unkontrollierten Zugang bzw. eine unkontrollierte Zuwanderung in unser Land haben.
({8})
Deshalb sage ich Ihnen: Ich möchte Sie herzlich bitten, dass wir in einer schwierigen Zeit den Gesetzentwurf zu einem schwierigen Thema, den wir dem Deutschen Bundestag vorgelegt haben, heute verabschieden. Es ist unsere Überzeugung, dass wir damit die Weichen richtig stellen, auch für eine Gesellschaft, die in fünf und in zehn Jahren ebenfalls die Akzeptanz aufbringt, Menschen aufzunehmen, die tatsächlich in Not geraten sind. Dafür ist es erforderlich, dass wir diese Gesellschaft heute nicht überfordern. Ich bitte Sie um Ihre Zustimmung.
Herzlichen Dank.
({9})
Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Burkhard Lischka, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir spüren es auch in dieser Debatte: In den letzten Wochen und Monaten wurde über kaum ein Thema so erbittert diskutiert wie über das Thema des Familiennachzugs. Die Diskussion war kontrovers, teilweise heftig und auch unversöhnlich. Das ist auf der einen Seite verständlich: Familie ist etwas ganz, ganz Wichtiges. Unsere Verfassung schützt Ehe und Familie, und zwar aus gutem Grund. Überall auf der Welt gilt: Kinder gehören zu ihren Eltern, genauso wie Ehefrau und Ehemann zusammengehören. Andersherum ist aber auch nachvollziehbar, dass gerade Städte und Gemeinden auf eine Steuerung von Zuzug drängen. Denn sie sind es, die sich vor Ort um Schulplätze, Kitaplätze und Wohnungen kümmern müssen.
Gleichwohl sage ich bei aller Wichtigkeit dieses Themas: Manchmal konnte man in den letzten Wochen schon den Eindruck gewinnen, wir hätten in unserem Land sonst keine gravierenden Probleme. Der CSU möchte ich ganz ehrlich sagen: Die Hartnäckigkeit, die Sie beim Thema Familiennachzug an den Tag gelegt haben, würde ich mir hin und wieder auch bei anderen Problembereichen wie gute Pflege, faire Löhne und armutsfeste Renten wünschen.
({0})
Dieses Land hat sicherlich noch mehr Herausforderungen zu meistern als den geordneten Zuzug von 60 000 Kindern und Ehefrauen.
Damit kommen wir zu den Zahlen. Die meisten Experten und Studien sagen uns: Wenn wir den Familiennachzug wieder komplett zulassen, kommen etwa 60 000 Menschen zu uns ins Land. Das ist die eine Position. Die andere Position in dieser Debatte lautet: Wir setzen den Familiennachzug weiter komplett aus, dann kommt keiner.
Jetzt kommen wir zu den Planungen von Union und SPD, nämlich 1 000 Menschen pro Monat ab Sommer den Familiennachzug zu ermöglichen.
({1})
Das bedeutet, liebe Kolleginnen und Kollegen: bis Ende dieser Legislaturperiode etwa 40 000. Wenn man ganz nüchtern diese Zahlen betrachtet – null bei einer Aussetzung, 60 000 bei einer kompletten Wiederaufnahme des Familiennachzuges, und die Zahl von 40 000 mittendrin –, dann wird man doch nur zu dem Schluss kommen können, den auch Herr de Maizière gezogen hat: Das ist ein Kompromiss. – Die Zahl von 40 000 liegt zwischen null und 60 000. Das ist ein Mittelweg zwischen den Maximalforderungen.
Wir haben jetzt, ab Sommer, Planbarkeit für unsere Kommunen. Kein Bürgermeister muss irgendeine Turnhalle räumen, nur weil in den nächsten Jahren 40 000 Menschen zu uns nach Deutschland, einem Land mit über 80 Millionen Einwohnern, kommen. Aber ich sage auch ganz deutlich: 40 000 Menschen heißt, dass die Mehrheit der Betroffenen ihre Familienangehörigen in dieser Wahlperiode wieder wird in die Arme schließen können. Und ja, dass wir Familiennachzug in dieser Größenordnung überhaupt ermöglichen – was weit über die Verabredung von Jamaika hinausgeht –, ist ein Erfolg der Sozialdemokratie.
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Herr Kollege Lischka, Frau Kollegin Baerbock würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.
Ja, okay.
Vielen Dank, Herr Lischka. Da Sie gerade Jamaika angesprochen haben: Es ist ja gut, dass Sie etwas wissen, was da gar nicht vereinbart wurde; aber sei’s drum.
({0})
Ich komme zu meiner Frage. Sie haben gesagt, dass man es mit Ihrer Regelung innerhalb von vier Jahren schafft, 40 000 Menschen nach Deutschland zu holen. Sie haben by the way gesagt: Ach, was soll das Emotionale hier? – Wissen Sie, was vier Jahre bedeuten? Viele hier haben Kinder. Nehmen Sie meine zweijährige Tochter: In vier Jahren ist sie sechs. Es ist ja nicht so, dass sie vier Jahre in einem Land sind, in dem sie einfach mal zur Schule gehen können. Diese Kinder sind in einem Kriegsgebiet. Das heißt, vier Jahre setzen Sie diese Kinder jeden Tag der Gefahr aus, von einer Bombe getötet zu werden, Herr Lischka. Deswegen frage ich Sie jetzt: Wenn Sie sagen, dass eigentlich alle hierherkommen sollen, warum holen Sie sie dann nicht jetzt?
Zur Frage des Innenministers. Hier gab es jetzt unterschiedliche Ausführungen zu den Zahlen, auch schon auf die Zwischenfrage von Frau Sitte. Werden jetzt die 1 000 auf die Härtefälle angerechnet, oder werden die Härtefälle auf die 1 000 angerechnet?
({1})
Wir haben Herrn de Maizière ganz genau zugehört. Da kam auch noch der Punkt, dass die 1 000 auf die Flüchtlinge aus Italien und Griechenland angerechnet werden. Das sind ja Kontingente, die die Bundesrepublik Deutschland den europäischen Partnern zugesagt hat. Wenn stimmte, was Herr de Maizière gerade gesagt hat, dann hieße das ja, dass wir sogar die Kontingente für Flüchtlinge aus Italien und Griechenland kürzen, wo die Leute schon jetzt seit anderthalb Jahren warten. Was bedeutet das eigentlich für die Zusage der Bundesrepublik Deutschland gegenüber der Europäischen Union? Was wird denn dann die Antwort der anderen Länder sein? Erklären Sie: Was wird wo wie angerechnet? Sonst können Sie niemals sagen, dass in vier Jahren alle Menschen da sein werden.
({2})
Sehr geehrte Frau Kollegin, ich kann Ihnen ganz einfach erklären, was unsere Lösung bedeutet: dass ab Sommer Monat für Monat 1 000 Kinder hier nach Deutschland kommen können. Wo Sie den Familiennachzug ein Jahr ausgesetzt hätten, holen wir in einem Jahr 12 000 Kinder ins Land.
({0})
Das ist der Unterschied zwischen diesen beiden Konzepten.
Menschlichkeit und Steuerung – das ist die einfache Formel für unseren Kompromiss.
({1})
– Ja! – Ich finde, mit dieser Formel kann unser Land gut leben.
({2})
Ich weiß: Kompromisse sind nicht dafür da, jeden glücklich zu machen. Und ich weiß: Wer weiterhin seine Maximalforderungen vertreten wird, der wird an dieser Lösung kein gutes Haar lassen. Aber ich sage auch: Verantwortungsvolle Politik darf nicht auf Dauer bei Maximalforderungen verharren, sondern sie muss Brücken bauen, gerade bei solchen Streitigkeiten.
({3})
Ich finde, wenn wir das jetzt hier gemeinsam machen, ist das nicht das schlechteste Zeichen für Deutschland.
Danke.
({4})
Jetzt erteile ich der Kollegin Dr. Petry das Wort.
Sehr geehrter Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich finde es erstaunlich, auf welchem Niveau wir hier zum Teil wieder einmal diskutieren, in Verantwortung für die Bürger, aber dann im Grunde eines nicht sind: ehrlich.
Bei jeder Plenardebatte haben wir junge Menschen in unserem Parlament sitzen. Ich frage mich, ob Sie, die Sie Eltern sind – und viele von Ihnen betonen das –, als Eltern genauso agieren würden, wie Sie es hier als Politiker tun. Liebe Linke, Sie möchten gerne für alle Kinder alles Gute auf der Welt – und das ehrt Sie menschlich – und versprechen dies auch, aber würden Sie als Eltern Ihren Kindern auch alles versprechen und das als gute Erziehung bezeichnen? Nein, das ist leider das Gegenteil von guter Erziehung und auch das Gegenteil von guter Politik. Wir können als deutsche Politiker nicht allen Menschen auf der Welt alles versprechen.
({0})
Wir haben eine Verantwortung für dieses Land. Wenn es diesem Land gut geht, dann können wir in anderen Regionen der Welt helfen. Aber wahr ist auch: Wir werden nie allen Menschen auf der Welt helfen können.
({1})
An diejenigen, die Einzelfälle aus Syrien oder woher auch immer zitieren: Was macht denn eine Familie in Afrika, in Syrien oder in einem anderen notleidenden Land der Welt weniger wert, wenn sie keine Schlepper bezahlen kann? Sind diese Familien mit Kindern es nicht etwa auch wert, Unterstützung in dem möglichen Maße zu bekommen, oder sind es nur diejenigen, die sich auf den Weg nach Deutschland machen?
Dann noch ein Wort zum Begriff „Familie“, der hier von allen im Mund geführt wird. Wir wissen genau, dass Familien in Europa und Familien im Mittleren Osten zum Teil Lichtjahre auseinanderliegen. Hier reden wir von Gleichberechtigung – oder wenn es nach Ihnen geht, von Gleichstellung –, dort reden wir von der Unterdrückung der Frau, von der Benachteiligung von Mädchen, von nicht staatlich geahndeter Gewalt in der Familie. Und das wollen Sie alles in einen Topf werfen? Das ist eines Parlaments auf dieser Ebene nicht würdig.
Deswegen sollten wir uns ehrlich machen. Herr de Maizière, der Kompromiss ist faul – das wissen Sie selbst –, aber er ist in der Tat – das sagte ich das letzte Mal auch schon – besser als gar keine Begrenzung. Noch viel besser wäre eine ehrliche Asylpolitik, die endlich konstatiert, dass wir in Deutschland und in Europa nicht allen Menschen auf der Welt helfen können und dass wir aufhören müssen, so zu tun, als sei es das Heil der Welt, alle Menschen nach Europa und nach Deutschland zu holen. Solange wir bei dieser Ehrlichkeit nicht angekommen sind, wird die Debatte leider immer, je nach parteigefärbter Ideologie, ein Stück verlogen bleiben, und genau das ist schlechte Politik für dieses Land.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Stefan Ruppert, FDP.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben in den letzten Monaten oft gehört, dass es einen Konsens beim Familiennachzug gab. Ich habe der Fraktionsvorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen aufmerksam zugehört. Sie sprach lange Zeit von einem Durchbruch, von einem Konsens zwischen CSU und Grünen. Über den Inhalt des Konsenses haben wir in diesem Haus relativ wenig erfahren dürfen;
({0})
aber alle haben gesagt, sie seien vor einem Durchbruch gewesen. An diesen Durchbruch scheinen Sie sich – das legt Ihre heutige Positionierung nahe – nicht mehr besonders gut zu erinnern.
({1})
Wir Juristen sprechen von verstecktem Dissens, es scheint mir aber eher ein offener Dissens zu sein,
({2})
den es zwischen Sozialdemokraten und Union in dieser Frage gibt.
Sie haben sich auf eine Zahl, auf eine Obergrenze geeinigt. Nun stellt sich die Frage: Was passiert eigentlich, wenn in einem Land humanitäre Bedingungen herrschen, angesichts derer es gerechtfertigt wäre, dass in einem Monat 1 800 oder 2 000 Menschen nach Deutschland einreisen bzw. nachziehen dürfen, aber im nächsten Monat, weil sich die Verhältnisse, in Syrien etwa, nach einem halben Jahr drastisch geändert haben, vielleicht nur ganz wenige oder gar keine Menschen kommen dürfen? Laut Ihrer Regelung macht es Sinn, in einem Jahr Menschen nachzuholen, die vielleicht gar kein Recht auf Nachzug haben und in einem anderen Monat lassen Sie Menschen in ihrem Umfeld ohne Berücksichtigung der dortigen humanitären Verhältnisse. Das ist keine logische Vorgehensweise.
({3})
Die FDP – und hierin unterscheiden wir uns – hat einen konkreten Vorschlag gemacht und nicht von einem zukünftigen Konsens zwischen CDU/CSU und Grünen oder CDU/CSU und SPD gesprochen. Wir wollen, dass der Familiennachzug für die nächste Zeit ausgesetzt bleibt, dass es aber die Möglichkeit einer Härtefallregelung gibt, die weiter geht als die, die im Auswärtigen Amt unter einem Sozialdemokraten praktiziert wird, und dass es die Möglichkeit gibt, sich in Deutschland in den deutschen Arbeitsmarkt zu integrieren, hier zu leben, zu arbeiten, die Sprache zu erlernen und dann auch seine Familie nachzuholen.
({4})
Das alles kann aber nur eine Übergangslösung bis zum Inkrafttreten eines Einwanderungsgesetzes sein. Ich kämpfe seit 20 Jahren dafür, dass wir eine geordnete Einwanderung nach Deutschland bekommen. Dieser Kampf ist leider noch nicht von Erfolg gekrönt worden. Leider ist eine geordnete Zuwanderung in Deutschland immer noch in weiter Ferne. Das ist ausgesprochen bedauerlich. Wir Freien Demokraten werden weiter für dieses Einwanderungsgesetz kämpfen.
Vielen Dank.
({5})
Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Stephan Mayer, CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Wir führen heute eine offenkundig sehr intensive Debatte über ein sehr streitiges Thema, den Familiennachzug. Ich bin aber der festen Überzeugung, dass wir, die CDU/CSU-Fraktion – die SPD-Fraktion stimmt zu –, im Deutschen Bundestag mit dem vorliegenden Gesetzentwurf heute eine sehr tragfähige, verantwortungsbewusste und sachgerechte Vereinbarung zur Abstimmung stellen. Ich bin auch der festen Überzeugung, dass dieser Gesetzentwurf die Chance zur Befriedung in sich trägt.
Aus meiner Sicht sind drei zentrale Punkte zu erwähnen:
Erstens. Wir setzen das Regelwerk zur Migration, auf das sich CDU und CSU verständigt haben, um und schaffen den individuellen Rechtsanspruch von 280 000 eingeschränkt schutzbedürftigen Personen auf Familiennachzug ab.
({0})
Zweitens. Wir schaffen ab dem 1. August 2018 ein Kontingent für monatlich maximal 1 000 Personen, sodass im Rahmen einer Härtefallregelung aus rein humanitären Gründen Familienangehörige, die einen schweren Schicksalsschlag erlitten haben oder schwerstkrank sind, die Chance haben, nach Deutschland zu kommen.
Drittens. Wir als CDU/CSU halten Wort und erhöhen auch mit dieser Regelung die Nettozuwanderung nach Deutschland nicht.
({1})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, zum ersten Punkt möchte ich erläuternd Folgendes feststellen: Manche meinen, es gab schon immer den Familiennachzug für eingeschränkt schutzbedürftige Personen. Dem ist nicht so. Bis August 2015 war der Familiennachzug für eingeschränkt schutzbedürftige Personen ausgeschlossen. Nur in dem sehr kurzen Zeitraum zwischen August 2015 und dem 16. März 2016 gab es den Familiennachzug für eingeschränkt schutzbedürftige Personen.
Ich möchte einem weiteren Eindruck in aller Deutlichkeit entgegentreten, weil das immer wieder insinuiert wird, und sagen: Wir bewegen uns mit dieser Regelung, die wir heute zur Abstimmung stellen, vollkommen auf dem Boden des Völkerrechts und auf dem Boden des Europarechts.
({2})
Herr Kollege Mayer, die Frau Kollegin Roth möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.
Selbstverständlich, sehr gerne.
Vielen Dank, Herr Mayer. – Es gibt hier immer wieder interessengeleitete Behauptungen dazu, was im Rahmen der Jamaika-Verhandlungen tatsächlich sondiert worden ist oder auch nicht. Herr Dobrindt sagt zu Recht, dass er und die CSU sich mit ihren Positionen durchgesetzt haben. Herr Lischka hat diese Behauptung aufgegriffen und gesagt, unter den Jamaika-Sondierern sei eine einjährige Aussetzung verabredet gewesen. Herr Mayer, stimmen Sie mit mir darin überein, dass der Wahrheitsgehalt dieser Aussage gleich null ist? Weder die FDP hat einem solchen Vorschlag zugestimmt – dabei hatte sie eine andere Perspektive als wir –, geschweige denn wir Grüne.
({0})
Wir haben immer klargemacht: Wir werden so etwas wie das, was Sie heute beschließen, auf keinen Fall mittragen; mit uns wird es keine Aussetzung geben; mit uns wird es erst recht keine Abschaffung der Familienzusammenführung geben. Immer wieder haben CSU-Kollegen wie der Kollege Müller oder der Kollege Scheuer behauptet, wir hätten – –
({1})
– Lesen Sie einfach einmal die Geschäftsordnung. Darin steht, dass man auch Bemerkungen machen kann, ob Ihnen das passt oder nicht.
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Ich möchte Sie, Herr Mayer, bitten, klarzustellen, weil Sie ja ein wahrheitstreuer Mensch sind, dass es einen großen Unterschied zwischen Ihrer und unserer Auffassung zu Familienzusammenführung, Völkerrecht, Grundrechte und Menschenrechte gibt.
({3})
Herr Mayer.
Liebe Frau Kollegin Roth, zunächst einmal vielen herzlichen Dank für die Frage und vielen herzlichen Dank für die Vorschusslorbeeren, dass ich ein wahrheitstreuer Mensch sei.
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Ich möchte Ihnen aber deutlich entgegnen: Ich kann dem Anspruch, Ihnen eine zufriedenstellende Antwort zu geben, beim besten Willen nicht gerecht werden, schlichtweg weil ich in der Runde, die letzten Endes das Thema Migration verhandelt hat, und auch in der Schlussrunde, die über das Gesamtwerk verhandelt hat, nicht dabei war.
({1})
Um hier keine falsche Aussage zu treffen: Es ist doch vollkommen klar – das ist kein Geheimnis –, dass das Thema Migration, so wie es bei den Jamaika-Verhandlungen der Fall war, auch in den Koalitionsverhandlungen zwischen CDU, CSU und SPD eines der umstrittensten, wenn nicht das umstrittenste Thema ist. Natürlich hat jede Partei versucht, wie heute schon vom Bundesinnenminister klargemacht wurde, aufeinander zuzugehen und letzten Endes einen Kompromiss zu schließen. Es hat sich dort möglicherweise schon abgezeichnet, dass man, ähnlich wie bei der jetzt geplanten Regelung, eine weitere temporäre Aussetzung vornimmt. Wie diese dann genau und konkret ausgesehen hätte, entzieht sich beim besten Willen meiner Kenntnis. Aber ich lege wirklich Wert auf die Feststellung, dass es mit der Regelung, die wir heute zur Abstimmung stellen, gelungen ist, den Familiennachzug für eingeschränkt schutzbedürftige Personen endgültig abzuschaffen. Das ist aus meiner Sicht ein erheblicher Fortschritt.
({2})
Herr Kollege Mayer, Ihre Wahrheitsliebe wird weiter in Anspruch genommen. Der Kollege Sichert möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.
Selbstverständlich, sehr gerne.
Sie haben vorhin behauptet, die Nettozuwanderung würde sich nicht erhöhen. Wie können Sie das hier allen Ernstes vertreten, wenn Sie weiterhin für offene Grenzen einstehen, über die jeder in dieses Land kommen kann?
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Auch auf diese Frage, Herr Kollege, eine klare Antwort: Es ist für mich ein wichtiger Aspekt, dass die Nettozuwanderung durch die geplante Kontingentlösung nicht erhöht wird. Es wurde heute schon darauf hingewiesen, dass die Verpflichtung Deutschlands gegenüber Italien und Griechenland, die auf der Relocation-Vereinbarung basiert, monatlich 500 anerkannte Flüchtlinge zu übernehmen, ausgelaufen ist. Aus diesen beiden Ländern, Italien und Griechenland, kommen nunmehr pro Monat 1 000 Flüchtlinge weniger nach Deutschland, sodass, selbst wenn das monatliche Maximalkontingent, das es ab 1. August dieses Jahres im Hinblick auf den Familiennachzug für eingeschränkt schutzbedürftige Personen gibt, ausgeschöpft würde, die Nettozuwanderung nach Deutschland insgesamt nicht zunehmen würde.
Dieser Punkt steht dem entgegen, was heute immer wieder stereotyp behauptet wurde: dass die Festlegung eines Kontingents von 1 000 Personen willkürlich und nicht erklärbar sei. Das Kontingent von 1 000 Personen ist erklärbar, und zwar dergestalt, dass die Verpflichtung Deutschlands gegenüber Italien und Griechenland, monatlich 500 Personen zu übernehmen, ausgelaufen ist.
Um als Antwort auf Ihre Frage noch eines zu ergänzen: Selbstverständlich bewegt sich auch der Familiennachzug bei subsidiär schutzberechtigten Personen im Gesamtrahmen zwischen 180 000 und 220 000 Personen im Jahr; darauf haben wir uns mit der SPD verständigt. Deswegen kann man mit Fug und Recht und mit voller Überzeugung behaupten, dass durch die Neuregelung, die wir heute zur Abstimmung stellen, die Nettozuwanderung nach Deutschland nicht erhöht wird.
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Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, zum zweiten Punkt. Wir treffen eine Härtefallregelung, die insbesondere in humanitär schwerwiegenden Fällen den Familiennachzug – im Einzelfall wohlgemerkt – auf Basis einer reinen Ermessensentscheidung ermöglicht. Wir werden nach diesem Gesetz natürlich ein weiteres Gesetz erarbeiten, in dem wir die konkreten Kriterien bzw. Parameter festlegen, nach denen dann bemessen wird, wie sich das Maximalkontingent von 1 000 Personen im Monat zusammensetzt.
Bei der Erarbeitung dieses weiteren Bundesgesetzes wird uns natürlich, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, das Sondierungspapier von CDU, CSU und SPD eine klare Richtschnur sein. Dabei wird es darum gehen, vor allem die Personen zu privilegieren, die keine Gefährder sind und sich auch keine schwerwiegenden Straftaten haben zu Schulden kommen lassen. Es darf sich nur um Ehen handeln, die vor der Flucht geschlossen wurden, und es darf sich nur um Personen handeln, deren Ausreise nicht kurzfristig zu erwarten ist. Auch dieser Punkt ist wichtig, weil heute immer wieder die Bedeutung der Familie angesprochen und strapaziert wurde. Es geht bei dem Kreis der eingeschränkt schutzbedürftigen Personen nicht um Menschen, bei denen angedacht ist, dass sie sich dauerhaft in unsere Gesellschaft integrieren. Es handelt sich um Personen, die einen Fluchtgrund haben. Wir haben die klare Erwartung, dass sie Deutschland dann, wenn dieser Fluchtgrund wegfällt, wieder verlassen.
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Es geht also nicht darum, diese Personen dauerhaft in die deutsche Gesellschaft und in unseren Arbeitsmarkt, in unsere Berufswelt zu integrieren.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein klares Wort dazu, man könne, wie immer wieder auch von der SPD behauptet wird, an der Härtefallregelung noch einmal schrauben und drehen und könne sie öffnen. Auch hier gilt der Grundsatz: Man hat sich an geschlossene Verträge zu halten. An der Härtefallregelung und insbesondere an § 22 Aufenthaltsgesetz wird unsererseits nicht gerüttelt.
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Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich hatte schon erwähnt, dass sich die Nettozuwanderung nach Deutschland durch diese Regelung nicht erhöht. In diesem Zusammenhang möchte ich abschließend die Situation in den Kommunen ansprechen. Wir haben in der Anhörung am vergangenen Montag deutlich ins Stammbuch geschrieben bekommen: Was die Aufnahme von Migranten angeht, sind die Kommunen in Deutschland, sind unsere Städte und Gemeinden teilweise an der Belastungsgrenze. Das gilt auch für unsere Schulen und Bildungseinrichtungen. Ich sage es ausdrücklich: Es würde zu einer Überforderung des Wohnungs- und des Arbeitsmarktes in Deutschland führen, wenn wir eine ungezügelte Familienzusammenführung bei subsidiär schutzberechtigten Personen zulassen würden.
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Wir ermöglichen mit der Regelung, die wir heute verabschieden – auch das ist ein wichtiger Punkt –, Planungssicherheit, und zwar insbesondere für die Landkreise, für die Städte und die Gemeinden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin der festen Überzeugung, dass wir mit diesem Gesetzentwurf eine gute Lösung präsentieren. Mit diesem Gesetzentwurf werden wir einerseits unserem christlichen Anspruch auf Humanität gerecht, setzen aber auf der anderen Seite unseren klaren Kurs der Steuerung, der Begrenzung und der Reduzierung der Zuwanderung fort.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Andrea Lindholz, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute in der zweiten und dritten Beratung streckenweise emotional unterschiedliche Anträge zum Familiennachzug bei subsidiär Schutzberechtigten. Die Forderungen reichen von der Abschaffung des Familiennachzuges für subsidiär Schutzberechtigte – das ist der Antrag der AfD – bis hin zur Ermöglichung des unbegrenzten Familiennachzugs, wie in den Anträgen der Linken und der Grünen gefordert wird.
Subsidiär Schutzberechtigte sind Flüchtlinge, die nur einen vorübergehenden Schutzstatus besitzen und die nach europäischem Recht und nach dem Völkerrecht generell keinen Anspruch auf Familiennachzug haben.
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Wir haben im Juli 2015 diese Regelung geändert – damals hatten mit Blick auf das Jahr 2014 gerade einmal 2 000 Personen diesen Schutzstatus erhalten – und haben diese Menschen den Flüchtlingen nach der Genfer Flüchtlingskonvention gleichgestellt. Nachdem die Zahlen dann aber gegen Ende des Jahres 2015 und im Jahr 2016 signifikant in die Höhe gestiegen sind, haben wir uns in diesem Parlament dazu entschlossen, den Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte – nur für sie – zunächst für zwei Jahre auszusetzen. Im Jahr 2016 haben 153 000 Menschen – das sind 40 Prozent aller berechtigten Asylbewerber in diesem Jahr – diesen Schutzstatus erhalten, im Jahr 2017 waren es weitere 96 000 Menschen.
Die Aussetzung des Familiennachzugs läuft im März aus, daher besteht Handlungsbedarf. Es ist immer einfach, wenn man von Steuerung und Begrenzung spricht, nach Europa zu schauen und zu sagen, auf dieser Ebene müsse es geregelt werden. Es ist immer einfach, von Fluchtursachenbekämpfung zu sprechen. Das ist ein großer Begriff, hinter dem aber natürlich sehr viel steckt. Fluchtursachenbekämpfung ist wichtig und richtig. Schwierig wird es, wenn man in Deutschland Regelungen treffen muss. Das erleben wir heute.
Auch die Regierungsparteien machen es sich nicht einfach. Sie haben aus meiner Sicht einen guten Kompromiss gefunden. Die Vertreter der kommunalen Spitzenverbände haben in sämtlichen Anhörungen in den letzten drei Jahren und auch am Montag wieder darauf hingewiesen, dass die Kommunen überfordert sind, und haben uns gebeten, den Familiennachzug weiterhin auszusetzen und für Einzelfälle Ausnahmen zuzulassen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein. – Ich wiederhole, was der Vertreter des Städtetages am Montag gesagt hat. Er hat deutlich gemacht, dass man zur Integration Wohnraum, Sprachkurse, soziale Teilhabe, Kitaplätze, Jobs und Schulplätze braucht und dass das begrenzte Güter sind. Frau Rottmann frage ich, ob sie sich auch mit Herrn Palmer unterhalten hat.
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Wir haben im Sondierungspapier klar vereinbart, dass der Familiennachzug ausgesetzt bleibt. Wenn er wieder zugelassen wird, dann geht es um 1 000 Menschen pro Monat, und er wird an Bedingungen geknüpft. Warum haben wir das gemacht? Wir haben das gemacht, weil wir festgestellt haben, dass die Härtefallregelung, die es gibt, zu eng und zu starr ist und an manchen Stellen keine Möglichkeiten bietet, die wir gerne einräumen würden. Deswegen ist die Zahl von 1 000 Menschen pro Monat auch gut gewählt. Zahlen sind natürlich nie zufriedenstellend; man kann immer mehr fordern.
Mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf setzen wir genau unsere Forderung nach Begrenzung und Steuerung und genau das um, was im Sondierungspapier vereinbart wurde.
({1})
Es bleibt bei der Aussetzung des Familiennachzuges für subsidiär Schutzberechtigte, die nur einen vorübergehenden Aufenthalt in Deutschland haben sollen, bis zum 31. Juli 2018. Ab dem 1. August 2018 ist ein Nachzug von bis zu 1 000 Personen pro Monat möglich. Gleichzeitig läuft unsere Regelung mit Griechenland und Italien aus. Das heißt, die 1 000 Personen, die wir aufgrund dieser Regelung aufgenommen haben, und die 1 000 Personen aufgrund des Nachzugs halten sich dann sozusagen die Waage. Die Zuwanderung wird dadurch im Ergebnis also nicht erhöht. Die Entscheidung erfolgt im Einzelfall und im Ermessen, und das ist auch gut so, weil wir dann auch unsere Vorstellungen daran knüpfen können.
Ganz besonders wichtig ist uns, dass wir zumindest teilweise zur Rechtslage von vor August 2015 zurückkehren, indem wir den generellen Rechtsanspruch auf Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte beseitigen.
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Damit gibt es auch keinen generellen Anspruch auf einen Familiennachzug für die Menschen, die bei uns nur eine vorübergehende Aufenthaltserlaubnis haben.
Ja, die Härtefallregelung bleibt bestehen, und ich finde das auch gut so. Die Härtefallkommissionen in den Ländern entscheiden darüber, auf wen sie angewendet wird. Dort ist die Expertise, dort kann man sich die Einzelfälle besser anschauen. Nachdem sie im letzten Jahr gerade einmal 66 Personen betraf, brauche ich Ihnen nicht näher zu erklären, wie eng gefasst diese Regelung ist. An dieser Regelung wird nicht gerüttelt. Sie steht neben der Regelung über die 1 000 Personen pro Monat, und das ist eine gute Lösung.
Unser Gesetzentwurf mit den nachfolgenden Regelungen, die wir noch verabschieden werden – natürlich vertraue ich darauf, dass das mit der SPD einvernehmlich klappen wird –, ist ein guter Kompromiss. Ich bitte Sie daher ganz herzlich, diesem Gesetzentwurf heute zuzustimmen.
Man muss manchmal auch durchaus schwierige Entscheidungen treffen, wenn man sich in der Regierungsverantwortung befindet.
Vielen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Mir liegen eine Reihe von Erklärungen nach § 31 der Geschäftsordnung vor, die zu Protokoll genommen werden.
Bevor wir zu den Abstimmungen kommen, bitte ich alle Kolleginnen und Kollegen, bei der Stimmabgabe sorgfältig darauf zu achten, dass die Stimmkarten, die Sie verwenden, Ihren Namen und nicht einen anderen Namen tragen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Gesetzentwurf zur Verlängerung der Aussetzung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten. Der Hauptausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksachen 19/586 und 19/595, den Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 19/439 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Das sind CDU/CSU und SPD. Wer stimmt dagegen? – Das sind AfD, FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? – Eine Enthaltung. Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Je schneller die Plätze an den Urnen besetzt sind, desto eher können wir abstimmen. – So, jetzt sind alle Plätze an den Urnen besetzt. Damit eröffne ich die erste namentliche Abstimmung, und zwar die Schlussabstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgeben konnte? – Dann bitte. Nutzen Sie die Chance! Noch jemand? – Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird später bekannt gegeben.
Wir kommen damit zum Tagesordnungspunkt 3 b. Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der AfD zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes. Der Hauptausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksachen 19/586 und 19/595, den Gesetzentwurf der Fraktion der AfD auf Drucksache 19/182 abzulehnen. Wir stimmen nun über diesen Gesetzentwurf in zweiter Beratung auf Verlangen der Fraktion der AfD namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer wieder, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Plätze an den Urnen besetzt? – Dann eröffne ich die Abstimmung.
Hatten alle Kolleginnen und Kollegen die Chance, ihre Stimme abzugeben? – Das ist der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis wird später bekannt gegeben.
Ich komme zum Tagesordnungspunkt 3 c. Das ist die Abstimmung über den von der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, so können wir nicht abstimmen. Nehmen Sie bitte die Plätze ein, auch Sie, Frau Vizepräsidentin Roth. Mitglieder des Präsidiums müssen ein vorbildliches Verhalten zeigen.
Jetzt können wir über den von der FDP eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes abstimmen. Der Hauptausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksachen 19/586 und 19/595, den Gesetzentwurf der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/425 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist in zweiter Beratung der Gesetzentwurf gegen die Stimmen der FDP mit den Stimmen der übrigen Fraktionen abgelehnt. Damit entfällt nach der Geschäftsordnung eine weitere Beratung.
Damit sind wir bei Punkt 3 d der Tagesordnung. Abstimmung über den von der Fraktion Die Linke eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes – Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten. Der Hauptausschuss empfiehlt unter Buchstabe d auf Drucksachen 19/586 und 19/595, den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/241 abzulehnen. Wir stimmen über den Gesetzentwurf in zweiter Beratung auf Verlangen der Fraktion Die Linke namentlich ab. Ich sage noch einmal: Wir stimmen über den Gesetzentwurf ab, nicht über die Beschlussempfehlung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die Plätze an den Urnen einzunehmen. – Die Plätze sind an allen Urnen besetzt. Ich eröffne die dritte namentliche Abstimmung, die Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke.
Gibt es Kollegen, die noch keine Gelegenheit hatten, ihre Stimme abzugeben? – Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung der Stimmen zu beginnen. Auch das Ergebnis dieser Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben. – Bitte nehmen Sie wieder Platz.
Wir kommen damit zu Tagesordnungspunkt 3 e. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Hauptausschusses auf Drucksachen 19/586 und 19/595. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe e in seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 19/454 mit dem Titel „Familiennachzug auch zu subsidiär Schutzberechtigten ermöglichen“. Wer für diese Beschlussempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen? Das sind die Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und AfD. – Wer stimmt dagegen? Das sind die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. – Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Wir leben in einer wehrhaften Demokratie, und das ist auch gut so. Wer von diesem Staat für sein Engagement gegen Extremismus das Geld des Wählers und Steuerzahlers bekommt, hat auch die Verpflichtung, sich zu unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu bekennen.
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Wer es nicht tut, der verrät, wo er steht: ganz sicher nicht auf dem Boden des Grundgesetzes. So weit, so selbstverständlich.
Die Beweislast dafür, dass man keine Demokratieklausel braucht, liegt bei ihren Gegnern von Grün bis Rot und Dunkelrot. Ich will Ihnen ein paar Fälle nennen, die für jeden Demokraten ganz deutlich zeigen, wie nötig die Demokratieklausel ist.
Fangen wir an mit der größten Bedrohung für die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland, dem Islamismus. Der Deutsch-Islamische Vereinsverband Rhein-Main, kurz: DIV – ein Zusammenschluss von arabischsprachigen Moscheegemeinden im Rhein-Main-Gebiet –, wurde 2015/2016 durch das Bundesfamilienministerium unter der damaligen Ministerin Schwesig gefördert, um Projekte gegen die Radikalisierung muslimischer Jugendlicher durchzuführen. Das Pikante dabei: Zwei Mitgliedsverbände des DIV zählen zur vom Verfassungsschutz beobachteten Muslimbruderschaft, der größten islamistischen Organisation Deutschlands. Hier wurde also der Bock zum Gärtner gemacht. Islamistische Fanatiker setzten sich – unter dem Deckmantel der Islamismusprävention, wohlgemerkt – für offenen islamischen Faschismus ein.
({1})
Denken Sie bitte nicht, dass solche Fälle der Vergangenheit angehören, nur weil Frau Schwesig, die ja offensichtlich alle Arten des Extremismus, die nicht von rechts kommen, für aufgebauscht hält, zur Anschlussverwendung in den hohen Norden abkommandiert wurde. Nein, die staatliche Förderung von Islamisten ist Alltag im bundesdeutschen Absurdistan.
So wird der Zentralrat der Muslime, zu dessen Mitgliedsorganisationen die Islamische Gemeinschaft zählt, welche wiederum der Muslimbruderschaft angehört, für ein Projekt der Radikalisierungsprävention bei muslimischen Jugendlichen durch das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ gefördert. Meine Damen und Herren, das ist genauso absurd wie die Förderung der Jungen Nationalisten zur Vorbeugung von Rechtsextremismus.
({2})
Auf die Spitze getrieben wird die Unterstützung von Extremisten aus dem bereits erwähnten Bundesprogramm „Demokratie leben!“ durch Bundesmittel für den größten Islamverband in Deutschland, die DITIB. Dieser verlängerte Arm des türkischen Staates in Deutschland, der Regimekritiker auf deutschem Boden bespitzelt und als Propagandaorgan Erdogans fungiert, bekommt tatsächlich das Geld des deutschen Steuerzahlers, um – durch das Bundesfamilienministerium gemästet – gegen die Werte unseres freiheitlichen Rechtsstaates vorzugehen. Das waren alleine 6 Millionen Euro in den Jahren 2012 bis 2017. Das ist doch so, als ob Sie einem Dieb noch Geld dafür geben würden, dass er Sie ausraubt.
({3})
Im Bereich des Linksextremismus sieht es übrigens nicht besser aus. Auch hier: Staatsgeld für die Sturmabteilung der Antifa, Staatsgeld für Antidemokraten, Staatsgeld für Antideutsche.
({4})
Ich nenne Ihnen einen Fall, der exemplarisch für Hunderte Fälle in ganz Deutschland steht. In meinem eigenen Wahlkreis im schönen Südthüringen wird der Verein „Antifaschistische Kultur & Politik“ aus Bundesmitteln für Veranstaltungen gefördert, die er – man höre und staune – in Kooperation mit der Antifa Arnstadt-Ilmenau durchführt.
({5})
– Dass Sie hier klatschen, zeigt einfach, dass Sie Antidemokraten sind.
({6})
Wie kann es denn sein, dass der Staat die Feinde der eigenen Verfassung fördert? Wie kann es sein, dass Extremisten ihre krude Weltanschauung mit dem Segen dieses Staates verbreiten können, Herr Innenminister in Abwesenheit?
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Wer Extremisten fördert, der spricht jeder Extremismusprävention Hohn. Wir sagen: Kein Geld für Verfassungsfeinde! Kein Geld für Antidemokraten! Kein Geld für politische Gewalttäter!
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Wir fordern jeden Demokraten hier auf, uns dabei zu unterstützen.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist Marcus Weinberg für die Fraktion der CDU/CSU.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, am Anfang einer solchen Debatte sollten wir noch einmal Norbert Lammert zitieren, der in seiner Abschiedsrede vor dem Scheitern der Demokratie gewarnt hat und uns noch einmal ins Stammbuch geschrieben hat, dass die Demokratie keine Selbstverständlichkeit ist. Zitat:
Und wir wissen aus noch nicht ganz so lange zurückliegenden Phasen der deutschen Geschichte, dass auch Demokratien ausbluten können, dass sie ihre innere Kraft verlieren, wenn sie die Unterstützung der Menschen verlieren, für die es sie gibt.
Richtig ist, dass wir momentan erleben, dass Demokratie außerhalb Europas und außerhalb Deutschlands immer mehr durch autokratische, durch repressive Systeme in Bedrängnis kommt – auch an der Grenze zu Europa, wie man mit Blick auf die Türkei sagen muss. Aber wir erleben auch, dass bei uns in Deutschland demokratiefeindliche Radikalisierung mehr und mehr zunimmt, gesellschaftlich und teilweise auch politisch unterstützt und akzeptiert wird. Wir haben es gestern bei der Gedenkveranstaltung gehört: Passt auf, was in Deutschland passiert. – Dass Sie, werte Damen und Herren der AfD, jetzt kommen und sich als Retter der Demokratie aufspielen, das ist schon sehr skurril.
({0})
Denn, Herr Dr. Friesen, wir reden nicht nur über eine Klausel, wir reden nicht nur über die Frage, wie man Wahlsysteme gestaltet oder wer wen wählt – was bei einer Demokratieklausel möglicherweise von Bedeutung ist –, sondern wir reden auch darüber, dass Demokratie Bewusstsein voraussetzt. Das beinhaltet eine Haltung zur Demokratie, zu einer demokratischen Gesellschaft und zu demokratischen Werten.
({1})
Und wenn ich von Haltung rede, bin ich schnell bei Werten wie Toleranz und Respekt, bei der Ablehnung von Gewalt und bei einer humanen Gesellschaft. Und wenn ich von Werten rede, dann bin ich bei Freiheit, einer freien Gesellschaft, einer gerechten Gesellschaft und einer solidarischen Gesellschaft, möglicherweise auch denjenigen gegenüber, die nicht in Deutschland geboren sind, aber in Deutschland leben.
({2})
– Nein, liebe Kollegen, das lassen wir jetzt einmal. – Danke.
Die Gefahr ist, dass es Menschen gibt, die die Religionsfreiheit abschaffen wollen, Stichwort „Freiheit“. Da werden dann Direktiven ausgegeben, dass „am Bosporus mit den drei großen M – Mohammed, Muezzin und Minarett – Schluss ist“.
({3})
– Wir reden über Freiheit und Religionsfreiheit.
Die Gefahr ist, dass es in unserem Land Menschen gibt, die eine Ausganssperre für Flüchtlinge ab 22 Uhr wollen, dass es bei uns im Land Menschen gibt, die die Aufmärsche der Identitären Bewegung unterstützen, die ein deutlich rassistisches Bild von Deutschland haben, dass es bei uns Menschen gibt, die in irgendwelchen WhatsApp-Gruppen darüber sprechen, wie die Endlösung für die „Musels“ in Deutschland aussehen muss und dass man Tierversuche stoppen kann, weil man stattdessen Flüchtlinge nehmen kann. Dagegen Stellung zu nehmen, das ist demokratisches Bewusstsein; aber damit haben Sie nichts gemein und nichts am Hut.
({4})
Und Sie wissen ganz genau: Das sind nicht irgendwelche Menschen, das sind auch nicht irgendwelche Mitglieder der AfD, sondern das sind Ihre Mandats- und Funktionsträger, die das behaupten. Wenn Sie uns jetzt Nachhilfe geben wollen bei der Frage von demokratischem Bewusstsein, da kann ich nur sagen: „Schein“ hat mehr Buchstaben als „Sein“. Das nehmen wir Ihnen nicht ab und die Menschen in Deutschland auch nicht.
({5})
Kommen wir zur Demokratieklausel. Wir gestehen ja ein: Wir diskutieren mit unserem Noch-Koalitionspartner und Möglicherweise-bald-wieder-Koalitionspartner sehr intensiv darüber, wie wir dieses demokratische Bewusstsein auch dort verankern, wo Träger Geld bekommen für die politische Arbeit und für die Arbeit in der Kommune. Richtig ist, dass wir da unterschiedliche Auffassungen haben. Richtig ist auch, dass wir immer gesagt haben: Wir wollen ein proaktives Werben für die Demokratie und wollen das auch in einer Klausel festschreiben.
({6})
Richtig ist auch, dass das von anderen anders gesehen wird.
Aber jetzt kommen wir einmal zum Geist des Antrages bzw. zum Geist der Dinge, um die es uns da geht. Sie haben Ihren Antrag schon in Sachsen gestellt, in Sachsen-Anhalt, in Hamburg und auch im Kreistag Meißen.
({7})
Deswegen will ich ganz gerne das Begleitschreiben zum Zuwendungsbescheid im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ zitieren. Diejenigen, die Geld bekommen, müssen nämlich Folgendes unterschreiben – jetzt geht es um den Geist des Ganzen, der uns in dieser Frage verbindet –:
Im Umkehrschluss ergibt sich daraus jedoch gleichermaßen, dass extremistischen Organisationen oder Personen, die nicht die Gewähr für eine den Zielen des Grundgesetzes förderliche Arbeit bieten, keine direkte oder indirekte Förderung zuteilwerden darf. Unterwanderungsversuchen von geförderten Initiativen durch solche Personen oder Gruppen muss wirksam begegnet werden – ungeachtet dessen, ob sie den Bereichen islamistischer Extremismus, Rechts- oder Linksextremismus angehören.
Das ist der Geist, den wir tragen. Wir können über die Frage diskutieren, wie man das gestaltet. Richtig, da gab es verschiedene Positionen.
({8})
Damit komme ich zum letzten Punkt, der für uns in der Union wichtig sein wird, gerade mit Blick auf die veränderte Sprache in dieser Gesellschaft und auf die Gefahren für die Demokratie. Wir brauchen eine Renaissance der historisch-politischen Bildung. Wir brauchen ein stärkeres Bewusstmachen dessen, was Demokratie auszeichnet. Dabei kann es nicht nur um Verfahrensfragen gehen.
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Wir brauchen wieder eine Wertedebatte in Deutschland, damit wir einer freiheitlichen, einer solidarischen Gesellschaft näherkommen.
({10})
Ich will in diesem Zusammenhang noch einmal darauf verweisen, dass das eine die Klausel ist. Das andere ist das Thema der tatsächlichen politischen Arbeit, insbesondere mit jungen Menschen. Ich zitiere den ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog, der mit Blick auf die Ziele der politischen Bildungsarbeit deutlich formuliert hat: Ziel der politischen Bildungsarbeit ist es daher, für „die Demokratie zu werben“ und zu politischer Partizipation und Gestaltung zu ermutigen.
Deswegen wird es unsere Aufgabe sein, noch mehr als in der Vergangenheit den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken und die politische Bildung auszubauen, damit das überflüssig wird, was wir momentan erleben, nämlich eine der Sache nicht gerecht werdende Debatte. Deswegen: Bei allem Verständnis für Ihren Antrag: Wir werden ihn nicht mittragen. Wir werden das gemeinsam lösen; denn wir sind die Träger eines demokratischen Bewusstseins.
Vielen Dank.
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Für die Fraktion der SPD spricht jetzt der Abgeordnete Mahmut Özdemir.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Unser Zusammenleben in diesem Land wird von zwei Dingen getragen: dem Grundgesetz und dem Beherrschen der deutschen Sprache. Der Geist des Grundgesetzes wird beatmet von der niedergeschriebenen freiheitlich-demokratischen Grundordnung und den daraus folgenden Rechten, beispielsweise dem Recht auf Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und freie Wahlen.
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Unser Land ist eine Verantwortungsgemeinschaft, die auf den grundrechtlich garantierten und unumstößlichen Werten fußt. Keiner von uns hat sich je das Grundgesetz vorgenommen und handschriftlich unterschrieben als eine Sammlung von Klauseln, denen wir uns unterwerfen. Und doch: Es ist unser Gesellschaftsvertrag, den wir ehren, den wir achten, aber vor allem schützen. Zum Schutze des Grundgesetzes bestellt der Staat Polizeibehörden, Staatsanwälte und Richter. Doch der beste Schutz sind Menschen, die mit den Chancen, Rechten und Pflichten des Grundgesetzes aufwachsen. Gerade deshalb richten sie bewusst oder unbewusst ihr Handeln danach aus, weil sie die Freiheiten, die sie genießen, als Kehrseite desselben Freiheitsrechtes bewahren wollen.
Nach dieser idealisierten Betrachtungsweise gebe ich gerne zu, dass wir dennoch Anlass genug haben, mit Misstrauen und Argwohn auf Gesetzesverstöße zu blicken. Besonders verwerflich ist das, wenn das Vertrauen des Staates, etwa durch eine Zuwendung, enttäuscht würde. Was ist also der beste Schutz gegen eine solche Enttäuschung? Vertrauen oder Misstrauen zu Beginn? Die SPD-Fraktion hat sich damals für das Vertrauen in den Rechtsstaat und die Zuwendungsempfänger entschieden und diese Demokratieklausel hinsichtlich ihrer unbestimmten Rechtsbegriffe – ich zitiere: „Anschein der Unterstützung extremistischer Strukturen“ – kritisiert. Das Verwaltungsgericht Dresden bestätigte diese Haltung. Die Verpflichtung zu bestimmten Weltanschauungen oder Bekenntnissen und folglich damit einhergehende Grundrechtsbeschränkungen sind nur in bestimmten Gewaltverhältnissen zulässig. Einbürgerungen, das Beamtenverhältnis sind solche Fälle, ein Zuwendungsverhältnis zwischen Staat und Privaten sicherlich nicht.
Ein gesetzliches Förderprogramm ist durchdacht. Es setzt Vergabeverfahren voraus. Eine Armada von Verwaltungsvorschriften und eine Prüfung von Voraussetzungen und Bedingungen sowie die belebende Konkurrenz von sich bewerbenden Vereinen und Verbänden gehen einer solchen Förderung voraus. Viele würdigen das als Bürokratiewahn herab. Ich sehe darin ein Verfahren, das Recht und Gesetz in Entscheidungen konkretisiert und im Übrigen auch jetzt schon die Möglichkeit kennt, fehlerhafte Förderbewilligungen zu revidieren. Ein Blick in das Verwaltungsverfahrensgesetz würde die Rechtsfindung sicherlich erheblich erleichtern. Eine Institution, die demokratiefeindlich ist oder wäre, begibt sich doch nicht freiwillig unter das Joch einer staatlichen Überprüfung. Ich sage Ihnen: Selbst wenn – unsere Demokratie fürchtet sich nicht, nicht einmal vor ihren Feinden, sie hält Meinungen und Versammlungen und Menschen aus, die sich eines Schutzes bedienen, den sie nicht ansatzweise verdienen, ob sie dies nun mit offen zur Schau gestellten Absichten in Springerstiefeln tun oder ob in versteckten Chatprotokollen – ich zitiere – von „Grube auszuheben“ und „Löschkalk obendrauf zu streuen“ die Rede ist. Das dürfte Ihnen wahrscheinlich bekannt vorkommen. So sind selbst diese demokratiekritischen bis ‑feindlichen Äußerungen und Institutionen Dünger für unsere Demokratie, weil sie unseren Widerspruch hervorrufen und die Schwäche jener Menschen offenbaren.
({1})
Bertolt Brecht hat es einmal markanter formuliert:
Die Veränderbarkeit der Welt besteht auf ihrer Widersprüchlichkeit.
Ich bin der festen Überzeugung: Unsere Demokratie braucht keine zusätzlichen Klauseln. Für mich ist das Grundgesetz Garant gegen Extremismus genug.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vieles Notwendige und Richtige wurde hier gerade schon gesagt. Klar ist: Extremistische Organisationen und verfassungsfeindliche Aktivitäten dürfen nicht mit Steuergeld gefördert werden.
({0})
Entscheidend ist, dass dies auch um- und durchgesetzt wird. Gerade aus Respekt vor den Menschen, die sich redlich für unsere Demokratie engagieren, müssen wir garantieren, dass sich Extremisten keine Förderungen erschleichen können. Darauf werden wir Freien Demokraten sehr genau achten.
({1})
Ginge es Ihnen von der AfD um die Sache, dann hätten Sie allerdings auch einen hinreichend bestimmten Antrag vorgelegt. Denn bei Ihnen bleibt offen, wer eigentlich die Erklärung unterschreiben soll.
({2})
Das müssen die Erstantragsteller sein, die schließlich später auch den Gesamtverwendungsnachweis erbringen und dafür geradestehen müssen. Das aufzuführen, gehört zu einem ordentlichen Antrag dazu.
({3})
Jetzt könnte man versucht sein, zu denken: Viel Lärm um nichts. – Aber ganz so ist es nun auch nicht. Es ist doch verräterisch, wenn Vertreter der AfD Vertreter anderer Parteien regelmäßig mit dem Kampfwort „Systemparteien“ belegen.
({4})
Den Begriff hört man oft von Ihnen. Ob bewusst oder unbewusst – es ist Ihre Sprache, die Sie hier verrät. Es ist Ihre Sprache, die zeigt, wie Sie denken, und es ist Ihre Sprache, die zeigt, wo Sie stehen.
({5})
Unser System ist die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Das ist zugegebenermaßen ein ausfüllungsbedürftiger Begriff. Es ist kein Zufall, dass das Bundesverfassungsgericht ihn in seinen frühen Urteilen in erster Linie zu Parteiverboten am rechten und linken Rand des Parteienspektrums entwickelt hat.
({6})
Grundlegende Prinzipien, die dazugehören, sind insbesondere die Achtung der im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte, die Gewaltenteilung, die Unabhängigkeit der Gerichte und das Mehrparteienprinzip.
({7})
Diese Ordnung setzt auf die Kraft der Argumente statt auf Gewalt, Einschüchterung oder Lautstärke. In diesem Sinne sind wir Freien Demokraten eine Systempartei, und das ist auch gut so.
({8})
Diese freiheitlich-demokratische Grundordnung ist übrigens schon begrifflich das Gegenteil sogenannter illiberaler Demokratien, mit denen Sie sonst so gerne sympathisieren.
({9})
Der Präsident dieses Hauses hat gestern in der Gedenkstunde sehr zu Recht gesagt: „Geschichte verläuft weder zufällig noch zwangsläufig.“ Deshalb ist es an uns allen, dafür zu sorgen, dass Extremismus wirksam bekämpft wird. Richtig ist – deshalb gibt es so viel Aufregung um dieses Thema –: Gegen andere Antidemokraten zu sein, macht einen selbst noch nicht zum Demokraten. Dazu gehört mehr.
({10})
Es ist an uns allen, diese unsere Ordnung, dieses System, unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung, wirklich positiv zu besetzen – offensiv, nicht zögerlich, nicht schamhaft. Lassen Sie uns daran gemeinsam arbeiten und um Lösungen ringen!
Danke schön.
({11})
Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Abgeordnete Norbert Müller für die Fraktion der Linken.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Werte Gäste! Die AfD-Fraktion legt heute einen Antrag vor, mit dem sie die sogenannte Extremismusklausel wieder einführen will. Meine Damen und Herren der AfD-Fraktion, warum denn so ein verschwurbelter Antrag? In einigen Landtagen haben Sie ihn bereits gestellt. Das ursprüngliche Copyright dieser Extremismusklausel liegt doch aber eigentlich bei den Extremismustheoretikern der Unionsfraktion.
({0})
Sie sind doch sonst Freunde deutlicher Worte. Dann sagen Sie doch, worum es Ihnen hier eigentlich geht!
({1})
Sie wollen demokratiefördernden Projekten und zivilgesellschaftlichen Initiativen gegen Rassismus und rechte Gewalt die Förderung entziehen; darum geht es.
In den Ländern lassen Sie sehr deutlich die Katze aus dem Sack. In Berlin forderte die AfD die Streichung der Mittel der Amadeu-Antonio-Stiftung
({2})
– ja, genau –, die Rechte wegen ihres beherzten Engagements gegen die extreme Rechte – und da gehören viele von Ihnen dazu – ganz besonders hassen.
({3})
Amadeu Antonio Kiowa war das erste Todesopfer rassistischer Gewalt nach der Wende. Gegen die Amadeu-Antonio-Stiftung kämpfen die AfD, die mit ihr verbündete sogenannte Identitäre Bewegung und Rechtsextreme aller Couleur.
({4})
Herr Müller, gestatten Sie eine Zwischenfrage oder Zwischenbemerkung von der AfD?
Ich glaube, die AfD hatte ausreichend Redezeit. Das gestatte ich nicht.
({0})
In Mecklenburg-Vorpommern wollen Sie dem Landesjugendring, also dem Zusammenschluss aller großen demokratischen Jugendverbände, die Mittel entziehen, weil er mit Rassisten und Rechtspopulisten nicht zusammenarbeiten will; das schließen viele Landesjugendringe und auch der Deutsche Bundesjugendring zu Recht aus.
({1})
In Brandenburg forderte Herr Gauland die Auflösung des Aktionsbündnisses gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit. Das Aktionsbündnis wurde vor über 20 Jahren als Antwort auf den rechten Terror federführend von Manfred Stolpe und den Kirchen gegründet. Kirchenvertreter haben hier bis heute den Vorsitz, und es macht eine ausgezeichnete Arbeit.
({2})
In Baden-Württemberg – das ist jetzt der Hammer – haben Sie bei der Haushaltsaufstellung im Landtag gleich mal beantragt, die öffentliche Förderung für eine KZ-Gedenkstätte zu streichen,
({3})
weil Ihnen das nicht in Ihr Demokratiebild passt.
({4})
Ihnen geht es nicht um die Stärkung der Demokratie. Das ist ein Witz! Ihr Thema ist die Bekämpfung von zivilgesellschaftlichen Initiativen, die sich kritisch mit gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit auseinandersetzen.
({5})
Egal ob die Amadeu-Antonio-Stiftung, egal ob das Aktionsbündnis Brandenburg, der Bundesjugendring mit seinen Verbänden, von den Falken über die Gewerkschaftsjugend bis zu den großen katholischen Jugendverbänden – bei ihnen allen möchte ich mich für ihre großartige Arbeit gegen Fremdenhass und gegen rechte Gewalt bedanken.
({6})
Sie sind das Fundament für die Verteidigung unserer Demokratie auch gegen Sie.
({7})
Es ist doch so: Die AfD lebt von der Provokation. Sie lebt davon, zu Recht Unsagbares wieder sagbar zu machen und den gesellschaftlichen Diskurs systematisch nach rechts zu verschieben.
({8})
Das könnte man auch rechte Hetze nennen.
({9})
Es beginnt bei den unsäglichen Beleidigungen des Macheten-Brandner aus Ihrer Fraktion zum Beispiel gegen Heiko Maas. Es geht weiter, wenn Sie hier regelmäßig den Krieg erklären, zur Jagd aufrufen oder – Herr Gauland, das haben Sie selbst gesagt – „diese Politik bis aufs Messer bekämpfen“ wollen.
({10})
Es endet noch lange nicht, wenn Bernd Höcke oder Jens Maier NPD-reife Schlussstrichreden zum angeblichen Schuldkult halten oder Herr Gauland mal wieder die Verbrechen der Wehrmacht relativiert.
({11})
Ja, das sind bewusste Provokationen. Sie setzen auf einen langsamen Gewöhnungseffekt. Sie setzen darauf, immer größere Teile der extremen Rechten bei der AfD zu versammeln. Sie wollen entscheiden, wann Sie das nächste Mal die Maske ein Stück weiter nach unten ziehen. Da passen Ihnen Demokratinnen und Demokraten, Antifaschistinnen und Antifaschisten, Antirassistinnen und Antirassisten,
({12})
aber eben auch engagierte Journalistinnen und Journalisten überhaupt nicht in den Kram. Sie durchkreuzen Ihre Provokationsstrategie, weil sie rechte Netzwerke um die AfD enttarnen, rechtsextreme Biografien in Ihren Reihen offenlegen und für eine demokratische Öffentlichkeit sorgen.
({13})
Genau deswegen werden wir auch in Zukunft die Arbeit der durch „Demokratie leben!“ geförderten Projekte gerade gegen rechts unterstützen. Auf Die Linke ist da Verlass.
({14})
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Ein letztes Wort zur SPD. Manuela Schwesig verdanken wir, dass die unsägliche Extremismusklausel 2014 gekippt wurde.
({15})
Sie hat damals gesagt:
Die Extremismusklausel war ein schwerer Fehler. Sie stellte einen Generalverdacht dar. Sie war Misstrauen gegenüber Initiativen, Vereinen und Verbänden, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren. Was die zivilen Akteure vor Ort brauchen, ist: Vertrauen und Unterstützung.
Dem ist nichts hinzuzufügen. Das galt 2014 nicht anders, als es 2018 gilt.
Herzlichen Dank.
({16})
Nächste Rednerin ist Monika Lazar von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der AfD hat mich doch etwas verblüfft. Da fordert ausgerechnet eine Partei ein Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung, die selbst das demokratische Grundverständnis so manches Mal vermissen lässt.
({0})
Werte wie die gleiche Würde aller Menschen und die Gleichheit vor dem Gesetz werden von der AfD regelmäßig konterkariert; Beispiele sind hier schon genannt worden.
Auch scheint der AfD unbekannt zu sein, dass die Klausel schon 2012 vom Verwaltungsgericht Dresden für rechtswidrig erklärt wurde.
({1})
Der Pirnaer Verein AKuBiZ hatte sich damals geweigert, die Klausel zu unterzeichnen, geklagt und recht bekommen. Juristische Einwände gab es auch vom Verwaltungsrechtler Ulrich Battis, und auch ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages bescheinigte der Klausel rechtliche Mängel.
Die staatlich geförderten Träger sind zumeist langjährige und kompetente Ansprechpartner.
({2})
Es sind zivilgesellschaftliche Initiativen, die sich oft in schwierigen Regionen unseres Landes für die Demokratie engagieren.
({3})
Sie verdienen unseren Respekt, unser Vertrauen und unsere Unterstützung.
({4})
Wegen der Klausel hatten damals viele Träger auf Fördermittel verzichtet. Sie haben sie nicht unterzeichnet, weil sie sie als diffamierend empfanden. Einige Beispiele möchte ich Ihnen nennen.
Die Initiativen aus Sachsen waren damals doppelt gestraft, weil das Landesprogramm in Sachsen verlangte, dass nicht nur die Partner unterzeichnen, sondern sich auch alle anderen Beteiligten mit einer Unterschrift zum Grundgesetz bekennen müssen.
({5})
Das führte zu folgender völlig absurden Szene: 2012 lud die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit zwei tschechische Redner zu einer Diskussion nach Dresden ein. Der eine war ein Kind von Holocaust-Überlebenden, Vorsitzender der Föderation der jüdischen Gemeinden in der Tschechischen Republik und Vizepräsident des Jüdischen Weltkongresses, der andere der Stellvertretende Dekan der Karls-Universität Prag. Die tschechischen Redner sollten sich zum deutschen Grundgesetz bekennen. Die Bitte des Projektträgers an das sächsische Innenministerium, von der Unterschrift abzulassen, wurde ausgeschlagen. Daraufhin verzichtete der Verein auf die Fördermittel.
({6})
Frau Lazar, gestatten Sie eine Zwischenfrage von der AfD?
Nein, von der AfD nicht.
({0})
Die Stadt Riesa, ebenfalls in Sachsen, erhielt einen Zuwendungsbescheid. Die Stadt sollte sich jetzt schriftlich zur Verfassung bekennen. Der Finanzbürgermeister unterschrieb mit ungutem Gefühl und fragte, ob er jetzt auch für die Grundgesetztreue der damaligen NPD-Stadträte unterzeichnen solle. Er fragte die Rechtsaufsicht in Meißen. Der Amtsleiter wusste auch nicht so recht, was er von dem Fall zu halten habe.
({1})
Das soziokulturelle Zentrum „Die VILLA“ in Leipzig lehnte die Unterzeichnung der Klausel ab mit der Begründung: Seit 21 Jahren arbeiten wir wunderbar mit den Behörden zusammen. Warum müssen wir unsere Verfassungstreue mit einer Unterschrift bestätigen?
In Bayern wollte das Fürther Bündnis gegen Rechtsextremismus die Klausel nicht unterzeichnen.
({2})
Dadurch entfielen Projekte wie „Spurensuche in Fürth“ und eine Bildungsreise mit Jugendlichen nach Auschwitz.
All diese Beispiele zeigen: Diese Klausel braucht niemand.
({3})
Sie behindert bürgerschaftliches Engagement in unserem Land. Demokratie lebt von Menschen, die sich für die Werte des Grundgesetzes engagieren
({4})
und alle Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit klar zurückweisen. Insofern gehört die AfD nicht zu den Kämpfern für unsere Demokratie.
({5})
Wer wirklich Demokratie stärken will, steht an der Seite derer, die sich mit Projekten mutig gegen Rassismus, Antisemitismus und Diskriminierung engagieren. Dazu gehören eine solide und verlässliche Finanzierung
({6})
und eine gute Zusammenarbeit von Staat und Zivilgesellschaft, und zwar auf Augenhöhe und ohne Generalverdacht.
({7})
Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit. Wir müssen sie kontinuierlich weiterentwickeln und uns stets um sie bemühen.
Als Ostdeutsche, die 1989 bei der friedlichen Revolution mit dabei war und für Demokratie auf die Straße gegangen ist, weiß ich die Demokratie zu schätzen.
({8})
Eine Misstrauenskultur, wie sie von Ihnen in Ihrem Antrag vorgeschlagen wird, brauchen wir jedenfalls nicht.
({9})
Als nächste Rednerin rufe ich Dr. Frauke Petry auf, die keiner Fraktion angehört.
Sehr geehrter Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Alles, was es zum vorliegenden Antrag zu sagen gibt, hat die Familienministerin der Union im Jahr 2010, Frau Schröder, auf den Punkt gebracht – Zitat –:
Wer würde … einem bekennenden Pyromanen ein Feuerzeug in die Hand drücken, nur weil der sich auch bei der … Feuerwehr engagiert?
Genau darum ging es damals bei der Einführung der Klausel. Sie sollte dafür sorgen, dass der Bock nicht zum Gärtner gemacht wird.
({0})
Die Demokratieklausel ist keine neue Regel. Damals war man sich im bürgerlichen Lager übergreifend einig, dass sie notwendig ist. Deswegen hat eine schwarz-gelbe Regierung sie auf den Weg gebracht. Schön, dass sich die FDP zum Teil noch daran erinnert.
Frau Teuteberg, Ihre Kritik greift einfach zu kurz; denn jeder, der schon einmal einen Förderantrag gestellt und Fördermittel in Anspruch genommen hat, weiß, dass ein Antragsteller am Ende immer mit seinem Namen unterzeichnet und damit bestätigt, dass er die Regeln beachtet und in Förderberichten abschließend Auskunft über die Verwendung der Mittel gibt.
Insofern ist das ein ganz normales Prozedere. Warum sollte das bei staatlichen Geldern zur Demokratieförderung anders sein als bei wirtschaftlicher Förderung von Unternehmen?
Tatsache ist, dass diese Klausel gerade im links-grünen Spektrum, wie Sie sehr schön illustriert haben, Frau Lazar, auf große Ablehnung stößt, weil Sie statt Kontrolle nur Vertrauen möchten. Aber Sie sollten wissen, wie schnell Vertrauen zerstört werden kann, wenn Gelder zweckentfremdet werden, und Sie wissen ganz genau – wenn Sie ehrlich sind, geben Sie das zu –, dass dies in unserem Land regelmäßig der Fall ist.
({1})
Deswegen sollten Sie in diesem Hause ehrlich sein und die Kontrolle zulassen. Sie müssen sich gegen die Klausel gar nicht wehren. Wenn Ihre Vereine mit der Klausel kein Problem haben, dann können wir alle Inanspruchnehmer von Förderungen verpflichten, eine solche Klausel zu unterschreiben.
({2})
Wer dies nicht tut und stattdessen lieber Projekte sterben lässt, zeigt sehr deutlich, worum es ihm geht: nicht um die Projekte,
({3})
sondern darum, das Geld ohne Kontrolle in Anspruch zu nehmen. Genau das ist der Grund, warum man einst eine solche Klausel eingeführt hat.
({4})
Meine Damen und Herren, wenn sich die Bürgerlichen in diesem Parlament einig wären, hätten sie kein Problem, den Antrag auf Einführung dieser Klausel zu verabschieden. Allein die Zersplitterung des bürgerlichen Lagers ist das größte Problem der Demokratie in diesem Hause.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als Erstes möchte ich mit aller Deutlichkeit sagen, dass ich der felsenfesten Überzeugung bin, dass keine demokratische Partei in diesem Hohen Hause in irgendeiner Art und Weise Extremisten fördern möchte. Aber die AfD versucht mit diesem Antrag wieder einmal, wie schon in diversen Landtagen, die AfDler als die großen Demokraten darzustellen.
Man kann sich an dieser Stelle wirklich fragen: Was soll eigentlich dieser Antrag? Geht es hier wieder einmal nur darum, im Volk negativ Stimmung zu machen? Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass das Fundament unseres Handelns eine feste freiheitliche und demokratische Grundordnung sein muss.
Vereine und Verbände werden klar und deutlich vor Erhalt von Fördergeldern im Rahmen der Bundesprogramme zur Extremismusprävention und zur Demokratieförderung darauf hingewiesen.
Herr Beermann, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
({0})
Wir befinden uns in einer demokratischen parlamentarischen Debatte. Deswegen lasse ich die Zwischenfrage natürlich zu.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege. – Sie haben gerade erwähnt, Sie seien der Überzeugung, keine demokratische Partei in diesem Haus könne sich damit einverstanden erklären, dass Gelder an Extremisten fließen. Ich weiß nicht, ob Sie es genauso wahrgenommen haben wie ich: Als in der Debatte vorhin davon gesprochen wurde, dass eine Zusammenarbeit mit der linksextremen und verfassungsfeindlichen Antifa stattfindet, gab es aus den Reihen der Linken durchaus Applaus. Ich jedenfalls habe es so gedeutet, dass man eine solche Zusammenarbeit mit der Antifa positiv bewertet und für wünschenswert hält.
({0})
Ich weiß nicht, ob Sie das auch so wahrgenommen haben. Aber wenn es so ist, möchte ich Sie um eine kurze Bewertung bitten. – Danke schön.
({1})
Vielen Dank, Herr Kollege, für diese Nachfrage. – Erstens bin ich kein Mitglied der Fraktion Die Linke, sondern Mitglied der Fraktion der CDU/CSU.
({0})
Zweitens muss man natürlich immer wieder feststellen: Wir alle sind gewählte Mandatsträger mit einem freien Mandat. Ich sehe mich nicht in der Lage, hier zu bewerten, zu welchem Tagesordnungspunkt oder Zitat jemand klatscht oder nicht. Das liegt im Verantwortungsbereich der Personen selbst, von daher auch im Verantwortungsbereich der Kolleginnen und Kollegen, die in diesem Fall geklatscht haben.
({1})
Die AfD versucht durch ihren Antrag wieder einmal, bei diesem Thema Stimmung zu machen. Wir müssen uns immer fragen: Inwieweit wollen wir dies zulassen oder auch nicht? Wenn es in diesem Bereich darum geht, Demokratieförderung oder Extremismusprävention zu betreiben, dann sage natürlich auch ich, dass wir uns genau anschauen müssen, wofür Gelder ausgegeben werden bzw. wer sie bekommt. Wenn in irgendeiner Art und Weise Nachjustierungsbedarf besteht, dann müssen wir darüber diskutieren. Das werden wir auch tun, allerdings demokratisch und in den dafür vorgesehenen Ausschüssen. Insofern ist es manchmal besser, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen der AfD, wenn man als Erstes vor der eigenen Haustür kehrt.
Was heißt eigentlich heutzutage, sich demokratisch zu verhalten, die Demokratie in unserem Land zu achten und der Demokratie und Demokraten respektvoll zu begegnen? Von einer Partei, deren Abgeordnete unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel nur als die „Führungs-Fuchtel im Kanzleramt“ oder als „Kampf-Fuchtel“, die in den „Knast“ gehört, beschimpfen, müssen wir uns in Sachen Demokratieerklärung ganz sicher nicht belehren lassen.
({2})
Ich fahre gerne mit einigen Beispielen fort: Der sächsische Bundestagsabgeordnete Jens Maier hat auf seinem Twitter-Account erst kürzlich den Sohn von Boris Becker als „kleinen Halbneger“ beschimpft. Daraufhin kam Ihr Einwand, dass es auch bei Ihnen schwarze Schafe gebe. Meine Damen und Herren, für mich ist es mittlerweile schon eine ganze Herde von schwarzen Schafen, die es in Ihrer Fraktion gibt.
({3})
Es geht damit weiter, dass Ihre geschätzte Kollegin Beatrix von Storch dem Kollegen Maier in überhaupt nichts nachsteht. In einem Facebook-Post hieß es – ich zitiere –:
Wer das HALT an unserer Grenze nicht akzeptiert, der ist ein Angreifer. Und gegen Angriffe müssen wir uns verteidigen.
Auf eine Nachfrage, ob man den Zutritt von Frauen mit Waffengewalt verhindern wolle, gab es dazu nur ein kurzes „Ja“.
Ich fahre fort:
Diese Schweine sind nichts anderes als Marionetten der Siegermaechte des 2. WK und haben die Aufgabe, das dt Volk klein zu halten, indem molekulare Buergerkriege in den Ballungszentren durch Ueberfremdung induziert werden sollen.
({4})
Das hat Frau Alice Weidel in einer E-Mail über die Regierung geschrieben.
({5})
Die deutsche Volksgemeinschaft leide „unter einem Befall von Schmarotzern und Parasiten“, welche dem deutschen Volk „das Fleisch von den Knochen fressen“.
({6})
Das hat der neue Haushaltsausschussvorsitzende Peter Boehringer gesagt.
Und:
Ladet sie mal ins Eichsfeld ein und sagt ihr dann, was spezifisch deutsche Kultur ist.
({7})
– Ja, Herr Gauland, hören Sie es sich gerne noch einmal an.
({8})
Danach kommt sie hier nie wieder her, und wir werden sie dann auch, Gott sei Dank, in Anatolien entsorgen können.
So äußerte sich Herr Gauland über die Integrationsbeauftragte Aydan Özoğuz.
({9})
Einen habe ich noch – hören Sie es sich an –:
({10})
Das große Problem ist, dass Hitler als absolut böse dargestellt wird. Aber selbstverständlich wissen wir, dass es in der Geschichte kein Schwarz und Weiß gibt.
Das hat Björn Höcke gesagt.
Meine Damen und Herren, das ist Nazidiktion. Problem ist, dass Sie von der AfD noch nicht einmal erkennen, dass diese Aussagen falsch sind. Problem ist, dass das Ihre Geisteshaltung ist;
({11})
das macht es doch aus. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD, das ist Ihr Verständnis von Demokratie. Ich persönlich habe ein anderes. Hier werden Hass, Hetze und Gewalt gestreut. Genau dem dürfen wir in unserer Gesellschaft keinen Raum geben.
({12})
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Herr Präsident, ich komme zum Schluss.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn die AfD eine Demokratieerklärung fordert, sollten Sie selbst natürlich auch danach handeln. Sie repräsentieren hier schließlich auch das deutsche Volk. Ich sage Ihnen: Wäre diese Klausel an das Mandat eines jeden einzelnen Abgeordneten dieses Hauses gebunden, die rechte Seite wäre ziemlich, ziemlich leer.
({0})
Für die Fraktion der SPD spricht jetzt die Abgeordnete Susann Rüthrich.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ein Satz geht mir heute nicht aus dem Kopf: Wer im Glashaus sitzt, der sollte nicht mit Steinen werfen.
({0})
Die deutschen Gerichte nannte ein Mitglied der AfD-Fraktion „Justizhuren“. Er spricht von „Systemgerichten“ und „Systemmedien“. Sieht so ein Bekenntnis zu unserem Rechtsstaat und zur Pressefreiheit aus? – Männer und Frauen sind gleichberechtigt, der Staat hat auf die Durchsetzung hinzuwirken. So steht es im Grundgesetz. Wie verträgt sich damit die Aussage eines Ihrer Kollegen, Gleichstellungsmaßnahmen seien eine „gesellschaftspolitische Umerziehungsmaßnahme“? – Die Würde eines jeden Menschen ist unantastbar. So steht es in Artikel 1 Grundgesetz. Passt dazu die Aussage eines Ihrer Bundestagskandidaten, die „deutsche Volksgemeinschaft“ sei befallen von „Schmarotzern und Parasiten“, oder die Aussage Ihres Vorsitzenden, er wolle ein Mitglied der Bundesregierung „entsorgen“? – Werte Herren und Damen auf der rechten Seite: Ganz ehrlich, seien Sie froh, dass es keine Demokratieerklärung für Mitglieder des Deutschen Bundestages gibt.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich selbst habe während meiner früheren beruflichen Tätigkeit wohl Dutzende Klauseln unterschreiben müssen. Ich habe hier eine Version mitgebracht – ich zitiere –:
Hiermit bestätige ich, dass ich mich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland bekenne und keine Aktivitäten entfalte, die der freiheitlichen demokratischen Grundordnung widersprechen.
({2})
Eine Selbstverständlichkeit? Na klar! Warum musste ich das unterschreiben, Sie nicht?
({3})
Niemand sonst, der staatliche Mittel erhält – was sind denn Ihre Diäten sonst? –, muss so etwas unterschreiben, nur diejenigen, die sich für Demokratie, für die Betroffenen von Hass und Gewalt einsetzen.
({4})
Wenn das kein Misstrauensbeweis ist, was dann?
({5})
Kollegin Rüthrich, gestatten Sie eine Zwischenfrage von der AfD?
Sie können mir jetzt zuhören. Dafür wollten Sie in dieses Hohe Haus. Hören Sie sich das also bitte an.
({0})
Sie versuchen, diejenigen zu beschämen, die sich für unsere freiheitliche demokratische Grundordnung einsetzen, die Bildungsarbeit machen oder die Opfern beistehen, die von Rassisten und anderen Menschenverächtern angegriffen wurden. Dass Sie die nicht mögen, verstehe ich sofort; denn viele dieser Initiativen sensibilisieren für die Folgen von Diskriminierungen. Dabei fällt eben auf, dass unzählige Beispiele für die Abwertung von Menschen aus Ihren Reihen kommen. Sie können natürlich sagen, was Sie denken. Das gilt aber auch für diejenigen, die Ihnen widersprechen, die anderer Meinung sind. Die dürfen das; die sagen das. Das ist Demokratie, und das ist gut so.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das mit der Klausel geht aber noch weiter. Ich hatte dafür Sorge zu tragen, dass auch alle meine Projektpartner diese Klausel unterschreiben und sich zur fdGO bekennen. Dazu zählten alle unsere Ehrenamtlichen, der Redakteur der „Wochenzeitung“, der Techniker für eine Veranstaltung. Dazu zählte aber eben auch der Nachkomme von Holocaustüberlebenden, der aus Tschechien anreiste, eine Aufwandsentschädigung bekommen sollte, wenn, ja wenn er bestätigt, dass er kein Extremist ist.
Es war so übergriffig, dass der deutsche Staat genau diesem Menschen das Misstrauen ausspricht.
({2})
Schauen wir uns doch einmal Ihre Partner an. Bei einem Ihrer Fraktionsmitglieder lese ich beispielsweise, dass er die rechtsextreme Identitäre Bewegung als Vorfeldorganisation der AfD ansieht. Diese wird in einigen Ländern und vom Bundesamt für Verfassungsschutz so eingeschätzt, dass es dort Bestrebungen gegen die fdGO gibt. Der Kollege wird im Übrigen selbst vom Verfassungsschutz beobachtet. Mit welchem Recht fordern also genau Sie, andere sollten sich bekennen? Kehren Sie doch vor der eigenen Haustür!
({3})
Ganz praktisch gesehen ist die Klausel so ziemlich das wirkungsloseste Instrument, um sicherzustellen, dass die geförderten Projekte ihre Programmziele erreichen. Diejenigen, die tatsächlich ein undemokratisches Ansinnen haben, werden das mit leichter Hand unterschreiben.
Wir unterstützen wirksame und nachhaltige Projekte der Demokratieförderung und der Radikalisierungsprävention
({4})
allein durch das Programm „Demokratie leben!“ mit 100 Millionen Euro. Dafür gibt die Förderrichtlinie den Rahmen vor: Der Projektantrag muss plausibel sein, der Fördermittelgeber verlangt Projektdokumentationen, lädt zu Projekttreffen ein, stellt Begleitung sicher und macht Projektbesuche. Am Ende jedes Jahres gibt es einen Sachbericht samt Abrechnung. Wurde das Ziel erreicht, wunderbar.
({5})
Daneben gibt es eine Zielvereinbarung für die Folgezeit, und durch Evaluationen wird die Wirksamkeit geprüft. Wenn Verbesserungspotenzial gesehen wird, wird nachgesteuert, und wenn nicht gut ist, was herauskommt, endet die Förderung. Wo also ist das Problem? Eine Klausel ist dafür völlig unnötig.
({6})
Was aber nötig ist, ist, denen, die für die Demokratie einstehen, Planungssicherheit zu geben. Daueraufgaben müssen dauerhaft finanziert werden.
Es gibt jetzt seit fast 20 Jahren Demokratieförderprogramme. Daran wird deutlich: Die Aufgabe ist nicht einfach irgendwann erledigt. Deswegen wollen und werden wir die Engagierten weiter unterstützen und die Förderung verstetigen.
Vielen Dank.
({7})
Als letzter Redner in der Debatte hat der Kollege Martin Patzelt von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich versuche jetzt einmal, als Letzter den Sack zuzumachen und etwas zu sagen, was vielleicht noch nicht gesagt wurde.
Die Diskussion ist spannend, weil es um ein Thema geht, das uns allen sehr am Herzen liegt: das Wohl des deutschen Volkes.
({0})
Wir Christdemokraten und, wie ich denke, auch die übergroße Mehrheit aller Abgeordneten hier im Hause sind davon überzeugt, dass das Wohl des deutschen Volkes ganz eng mit der Demokratie verbunden ist.
Als wir uns zu Beginn der 18. Legislaturperiode – Herr Müller, ich bin Zeitzeuge – mit der SPD über die Abschaffung der Demokratieklausel verständigt haben – das war eine Abstimmung zwischen der CDU, der CSU und der SPD –, haben wir uns gefragt: Was bringt diese Klausel? Wenn bereits in allen Nebenbestimmungen das Erfordernis der demokratischen Grundhaltung und die Folgen der missbräuchlichen Nutzung von Fördergeldern geregelt sind, warum müssen wir dann all denen, die sich hier in langjähriger, nicht zu unterschätzender Arbeit vorwiegend um junge Menschen kümmern, dieses Misstrauen entgegenbringen? Viele haben in einer Kurzschlussreaktion gesagt: Dann verzichten wir eben auf das Geld. – Ich kann das nachvollziehen, aber es ist schade; denn im Grunde haben sie das ja mit ihrer Unterschrift unter den Förderbescheid schon zugesagt.
Ich frage mich auch, warum wir eine solche Extraklausel als Garantie für die Einhaltung demokratischer Verhaltensweisen – so verstehe ich die AfD – fordern sollen. Auch wenn Sie alle zu einem Notar schleppen würden und die Unterschriften notariell beglaubigt würden, würden Sie nicht verhindern können, dass es eine missbräuchliche Nutzung gibt und sich Wölfe im Schafspelz einschleichen, um Fördergelder zu bekommen. Nein, das ist keine Garantie.
Wir sorgen für vernünftige Lösungen. In der letzten Legislaturperiode haben wir zum Beispiel geregelt, dass die Förderung mit einem langen Begleitschreiben einhergeht. Wir haben eine Beratungsstelle eingerichtet und werden darauf achten – als Berichterstatter für diese Programme stehe ich persönlich hier als Zeuge –, dass wir weiterhin jedem Missbrauch, der durch die Medien oder andere Informationen öffentlich wird, nachgehen – wie bisher auch. In der Fülle der geförderten Projekte sind das ausnehmend wenige. Ja, es gab sie. Wir haben allen Grund, wachsam zu sein, und zwar nach allen Seiten: nach rechts und nach links. Da hoffe ich, dass auch Ihre Jugendorganisation und Ihre Politiker tatsächlich keinen Grund zur der Annahme geben, missbräuchlich erlangte Fördergelder zu verantworten. Das wünsche ich mir.
Jetzt komme ich zur pädagogischen Situation. Wissen Sie: Was brauchen denn junge Menschen? Junge Menschen sind in einer Lebensphase, in der sie sich in besonderer Weise für Werte engagieren. Sie haben noch nicht die Lebenserfahrung, aber sie stehen für eine veränderte Welt, weil sie wahrnehmen, dass die Welt, in der wir leben, nicht vollkommen ist. Dann ist es manchmal zufällig, ob sie sich mehr rechten oder linken Gedanken zuwenden. Ich wehre mich immer mehr dagegen, diese Kategorien zu wählen.
Ich denke, zunehmend wird es so, dass wir zwischen denen unterscheiden müssen, die in der Vergangenheit sitzen bleiben wollen, und denen, die die Zukunft gestalten wollen. Dann brauchen diese jungen Menschen eine Ermunterung. Dann brauchen sie Hilfen, dass sie nicht durchbrennen, dass sie eine Perspektive entwickeln und sagen: Es lohnt sich, sich in dieser Gesellschaft zu engagieren. Wir brauchen einen langen Atem. Wir brauchen viel Mut. Wir brauchen ein bisschen Geschichtsklärung, nicht Geschichtsklitterung, damit wir verstehen können, dass wir in einer Generationenabfolge sind, die damit beschäftigt ist, unsere Gesellschaft besser zu machen.
Ja, dafür werdet ihr gebraucht. Durchbrennen hat bisher keinem geholfen. Denken Sie an die Unmengen von Blut, das geflossen ist, als man versucht hat, Zustände mit Gewalt zu verändern.
Also, wir brauchen diese Programme. Wir brauchen Fachleute, Männer und Frauen. Wir brauchen Lehrer. Wir brauchen Eltern. Wir brauchen auch Politiker; Politiker, die mit gutem Beispiel vorangehen und sagen: Wir glauben an das Morgen. Wir glauben daran, dass wir die schweren Aufgaben – die will ich gar nicht abstreiten –, wie immer wir sie auch definieren, bewältigen können, und zwar gemeinsam, nicht durch Diffamierung von bestimmten Gruppen, die anders denken.
({1})
Es geht darum, in einer unermüdlichen und immer neuerlichen Mühe die Zeichen der Zeit zu erkennen und sich der Zukunft nicht zu versagen, sondern mit in diese Zukunft zu gehen.
Wir haben heute vielfach Zitate von einigen Politikern gehört. Ich habe gedacht: Warum wehren Sie sich so dagegen, Ihre eigenen Zitate zu hören? Ist das ein Zuwachs an Erkenntnis? Oder schämen Sie sich dafür?
({2})
Ich weiß es nicht. Aber auch ich habe mir welche aufgeschrieben:
Linksextreme Lumpen sollen und müssen von deutschen Hochschulen verbannt und statt einem Studiumsplatz lieber praktischer Arbeit zugeführt werden.
Wir müssen ganz friedlich und überlegt vorgehen, uns ggf. anpassen und dem Gegner Honig ums Maul schmieren, aber wenn wir endlich soweit sind, stellen wir sie alle an die Wand.
Oder: Den „widerlichen grünen Bolschewisten“ sollte man „eine Grube ausheben“, die, die sich um die Zukunft in besonderer Weise kümmern. „Wir sollten Tierversuche stoppen und Flüchtlinge dafür nehmen.“ „Wir sollten endlich über die Endlösung für die Musels in Deutschland nachdenken.“
({3})
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Meine lieben Damen und Herren, solange Sie solche Äußerungen machen, sind Sie ein demokratiegefährdendes Element in unserer Gesellschaft.
({0})
Ich will Sie dazu ermuntern, dass Sie einmal darüber nachdenken und dass Sie junge Menschen nicht zu extremen Positionen treiben, sondern sie dort abholen, wo sie in ihrer Lebensphase stehen, und ihnen helfen, Zukunft zu gestalten, statt die Ikonen der Vergangenheit zu putzen.
({1})
Herr Kollege, Sie haben Ihre Redezeit erheblich überschritten. Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Ja.
Kollege Baumann, bitte sehr.
({0})
Wir müssen und wollen sprechen.
Die Kollegen, die dort hinten stehen, bitte ich darum, die Plätze einzunehmen. Es gibt genügend freie Plätze im Bundestag.
({0})
Dies ist kein Stehparlament, sondern hier steht nur der Redner. Er hat nach der Zwischenfrage wieder das Wort.
({1})
Wir hatten bei der letzten Wahl 12,6 Prozent der Stimmen der deutschen Wählerschaft. Hinter uns stehen Millionen Wähler. Sie sagen, wir wären ein demokratiefeindliches Element in diesem Land.
({0})
Wissen Sie, wie weit das überhaupt geht, was Sie hier tun? Das, was Sie gerade tun, ist demokratiefeindlich.
({1})
Wenn Sie Zitate behaupten, belegen Sie sie bitte.
({2})
Die Belege für diese Zitate habe ich alle aufgeschrieben. Dafür reicht meine Redezeit nicht, Sie können sie sich gerne abholen.
Wenn ich mich hier demokratiefeindlich verhalten habe, dann tut mir das leid,
({0})
dann bedauere ich das außerordentlich. Dann habe ich das unwissentlich getan.
({1})
Aber dass solche Äußerungen aus Ihren Reihen kommen und dass die Mitglieder Ihrer Partei, die vom Verfassungsschutz beobachtet werden, weiterhin in Ihrer Partei sind, sind eindeutige Indikatoren dafür, dass die Demokratie bei Ihnen gefährdet ist.
({2})
Damit schließe ich die Aussprache zu Tagesordnungspunkt 4.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/592 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Aber die Federführung ist strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen Federführung beim Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, und die Fraktion der AfD wünscht Federführung beim Innenausschuss.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion der AfD – Federführung beim Innenausschuss – abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Bei Enthaltung der FDP und Zustimmung der AfD-Fraktion ist der Überweisungsvorschlag mit großer Mehrheit der anderen Fraktionen abgelehnt.
Jetzt lasse ich über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD – Federführung beim Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Bei Enthaltungen der AfD und der FDP mit großer Mehrheit der übrigen Fraktionen ist der Überweisungsvorschlag damit angenommen.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Europäische Kommission schlägt vor – darüber sprechen wir heute –, den Europäischen Stabilitätsmechanismus im Rahmen eines Europäischen Währungsfonds in Unionsrecht zu überführen. Der Deutsche Bundestag hat heute die letzte Chance, sich darüber eine Meinung zu bilden.
Ich will in aller Klarheit sagen: Wir wollen nicht nur die Währungszone erhalten, sondern wir wollen die Währungszone des Euros erfolgreicher machen, meine Damen und Herren.
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Die Voraussetzung eines Erfolgs ist aber, dass die Mitgliedstaaten zunächst ihre Selbstheilungskräfte nutzen. Das Geld aus den Mitgliedstaaten – auch aus Deutschland – darf nicht dazu genutzt werden, mangelnde Reformbemühungen in den Mitgliedstaaten der Euro-Zone zuzukleistern. Das muss die Richtschnur deutscher Politik sein, um das klar zu sagen.
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In diesem Haus und in der deutschen Politik galt immer eine klare rote Linie, die uns auch das Bundesverfassungsgericht mit auf den Weg gegeben hat. Dieses Parlament, der Deutsche Bundestag, muss über das Geld der deutschen Steuerzahler abstimmen, und niemand anders.
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Wir stellen uns deshalb nicht gegen die Überführung des ESM in einen Europäischen Währungsfonds. Aber auch für einen EWF müssen die gleichen Regeln gelten, meine Damen und Herren. Der Parlamentsvorbehalt darf nicht zur Disposition stehen. Das ist im Interesse Europas, damit die Akzeptanz insbesondere des Euro in Europa nicht gefährdet wird.
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Ich sage das insbesondere in Richtung der Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion. Der Wirtschaftsrat der CDU hat Ihnen gerade einen Brief geschrieben, in dem Wirtschaftswissenschaftler Otmar Issing zitiert wird. Er hat gesagt:
Das Ergebnis der Sondierungsgespräche muss man als Abschied von der Vorstellung einer auf Stabilität gerichteten europäischen Gemeinschaft verstehen. Damit werden die Versprechen gebrochen, die man den Bürgern in Deutschland vor der Einführung des Euros gegeben hat.
Herr Issing hat recht, um das in aller Klarheit zu sagen.
Ich frage Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union: Wie wollen Sie in den derzeit laufenden Koalitionsverhandlungen mit der SPD an dieser entscheidenden Stelle noch für Klarheit sorgen, wenn Sie heute gegen das stimmen, was immer die Richtschnur deutscher Politik war? Ich fordere Sie auf: Stimmen Sie dem Antrag der Freien Demokraten auf Subsidiaritätsrüge zu! Das ist an dieser Stelle der entscheidende Punkt.
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Im Übrigen ist das nicht nur eine politische Forderung. Vielmehr haben uns die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestags und zahlreiche Wissenschaftler in Deutschland klar gesagt: Das, was die Europäische Union an dieser Stelle vorhat, ist rechtswidrig. Dagegen muss sich der Deutsche Bundestag wenden, nicht gegen das europäische Projekt.
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Dafür sind wir. Man darf sich auch nicht gegen den Euro wenden. Auch für ihn sind wir. Aber es muss rechtmäßig ablaufen. Es ist unsere Verpflichtung, heute an dieser Stelle Klarheit zu schaffen.
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Wir zeigen mit unserem zweiten Antrag zur Einführung eines Europäischen Währungsfonds, welche Rahmenbedingungen erfüllt sein müssen, damit ein solcher EWF die gewünschte Wirkung hat. Eine solide Rechtsgrundlage ist wichtig; darüber habe ich gerade gesprochen. Es darf keine Aufweichung des ESM durch einen EWF geben. Hilfsmaßnahmen in der Euro-Zone müssen nach wie vor eine Ultima Ratio sein. Wir brauchen endlich für die Staaten der Euro-Zone geordnete Insolvenzverfahren. Es muss möglich sein, zur eigenen Währung zurückzukehren, ohne die Europäische Union als politische Gemeinschaft zu verlassen. Auch da muss der Deutsche Bundestag klar sagen, was er will.
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Ich fasse zusammen. Es geht darum, einem möglichen weiteren Tsunami, wie wir ihn im letzten Jahrzehnt erlebt haben, in der Währungszone entgegenzutreten. Da ist die Solidarität aller Staaten der Euro-Zone gefordert. Was aber nicht geht, ist, dass jeder Herbststurm bekämpft werden soll. Da müssen die Selbstheilungskräfte der Staaten wirken.
In Richtung der Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU sage ich zum Schluss: Ich bitte Sie ausdrücklich, dem Antrag der FDP bei der heutigen Sofortabstimmung zuzustimmen. Wir hätten hier ohne Schwierigkeiten eine namentliche Abstimmung beantragen können. Wir verzichten aus Fairnessgründen darauf; denn an dieser Stelle hat insbesondere zwischen Union und FDP immer Einigkeit geherrscht. Das ist heute auch für Sie eine Wegmarke in Ihrer Europapolitik; darauf lege ich an dieser Stelle wert. Ich bitte, Ihr Abstimmungsverhalten an dieser Stelle zu überdenken.
Herzlichen Dank.
({8})
Für die Fraktion der CDU/CSU spricht jetzt der Abgeordnete Eckhardt Rehberg.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erstens. Die Krise, die wir 2010 in Griechenland, Irland, Portugal, Spanien und Zypern erlebt haben, darf sich nicht wiederholen.
Zweitens. Wir müssen verhindern, dass die Zahlungsunfähigkeit eines Mitgliedstaats auf die gesamte Währungsunion übergreift und den Euro – das würde Deutschland besonders schaden – in seiner Existenz bedroht.
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Drittens. Wir müssen dafür sorgen, dass kein Mitgliedstaat in die Zahlungsunfähigkeit gerät, weder durch das Ausbleiben notwendiger Reformen noch durch eine Bankenkrise.
EFSF, ESM, Bankenaufsicht und der gemeinsame Restrukturierungsfonds haben gezeigt, dass die Währungsunion sicherer und stabiler geworden ist. Wir haben das Vertrauen in den Euro weltweit gestärkt.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, scheinbar leiden Sie an partieller Amnesie.
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Sie haben 2012 gemeinsam mit uns den ESM installiert und ausgeformt
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und alle Beteiligungs- und Parlamentsrechte des Deutschen Bundestags darauf ausgerichtet. Für uns ist eines wesentlich: Die Weiterentwicklung des ESM zum EWF muss ohne Reduzierung der Parlamentsrechte des Deutschen Bundestags und des Haushaltsausschusses vonstattengehen.
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Wenn wir aber Ihrem Wahlprogramm gefolgt wären und den ESM abgeschafft hätten, dann hätten wir die ganze Euro-Zone einschließlich Deutschland in eine existenzielle Krise gestürzt.
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Wie kann man so unvernünftig sein und das über Bord schmeißen, was man vor fünf Jahren für richtig gehalten hat?
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Der wichtigste Punkt für die Zukunft ist, dass wir den zentralen Fehler in der Euro-Zone, nämlich die Nichteinhaltung der Defizitregeln in einigen Mitgliedstaaten und die mangelnde Kontrolle durch die EU-Kommission, nicht dulden. Ich persönlich werde nicht lockerlassen, die Einhaltung der Fiskalregeln einzufordern, bevor wir mit immer neuen Geldtöpfen Risiken in der Euro-Zone umverteilen. Das Prinzip „Risiko und Haftung in einer Hand“ ist zentral für den Erfolg der Währungsunion.
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Ich sehe nicht ein, warum mehr Risikoteilung die Währungsunion sicherer machen soll, solange sich in vielen Staaten enorme Risiken in den Bankbilanzen auftürmen.
Für die Union ist eins wesentlich: Bevor die notleidenden Kredite nicht spürbar abgebaut sind, kann es keine Zugeständnisse bei der gemeinsamen Einlagensicherung und bei neuen Absicherungen für den Bankenrestrukturierungsfonds geben. Hier ist die Reihenfolge entscheidend: nacheinander, nicht nebeneinander.
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Herr Rehberg, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Fricke von der FDP?
Ja, klar.
Bitte, Herr Fricke.
Herr Kollege Rehberg, wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann sind Sie mit der FDP darin einig, dass das, was 2012 beschlossen worden ist, richtig und vernünftig war. Ich frage Sie deswegen: Können Sie diesem Hause hier für Ihre Fraktion die Zusage geben, dass das, was wir beschlossen haben – nämlich dass die Verantwortung für den ESM in der Hand der Mitgliedsländer bleibt –, für den ESM und seine Nachfolgeorganisationen auch weiterhin so bleibt und dass der ESM nicht in eine europäische Institution übergeführt wird? Oder bestätigen Sie uns, was wir auch heute in der Zeitung lesen können, dass in Ihrer Fraktion bereits heftig darüber diskutiert wird, aus dem ESM und seiner Nachfolgeorganisation eine europäische Institution zu machen?
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Lieber Kollege Fricke, ich bin hoch erstaunt, dass Sie den ESM als ein erfolgreiches Instrument beschreiben, obwohl Sie ihn laut Ihrem Wahlprogramm abschaffen wollen.
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Diesen Erkenntnisgewinn in so kurzer Zeit finde ich sehr beeindruckend. Dazu beglückwünsche ich Sie an dieser Stelle erst einmal.
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Es wird jetzt darauf ankommen, wie der Europäische Währungsfonds – wir sind schon dafür, dass der ESM weiterentwickelt wird – ausgestaltet wird. Es gibt erhebliche Meinungsunterschiede
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in der Unionsfraktion über das „Nikolaus-Paket“ der Europäischen Kommission. Das Problem behebt man aber nicht mit einer Subsidiaritätsrüge.
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Wir können unsere Position über eine Stellungnahme des Haushaltsausschusses nach Artikel 23 des Grundgesetzes deutlich machen; das ist aus unserer Sicht der richtige Weg an dieser Stelle. Dazu gehören zum Beispiel inhaltlich eine bessere Überprüfung der Haushaltsdisziplin der Mitgliedstaaten durch die EU-Kommission, eine frühzeitige Diagnose von Fehlentwicklungen in der Wirtschaft, ein Ersatz für die bisherige Troika aus EU, EZB und IWF bei der Überprüfung der Anpassungsprogramme. Das Ganze gilt aber nur unter der Bedingung, dass Sachverstand waltet und Unabhängigkeit von der EU-Kommission besteht, andernfalls Einbeziehung des IWF. Außerdem müssen striktere Bedingungen für die Vergabe von Finanzhilfen gelten und klare Insolvenzregeln eingeführt werden. Letztendlich darf es auf keinen Fall – das habe ich schon gesagt; das unterstreiche ich noch einmal – weniger Beteiligungsrechte des Deutschen Bundestages geben, als im ESM-Vertrag jetzt verankert sind.
Kollege Fricke, wir sollten uns gemeinsam auf diesen Weg begeben. Wie ich sehe, nicken hier auch Kollegen von den Grünen. Ich glaube, dieses Thema wird einer intensiven Diskussion bedürfen. Ich halte es für sehr richtig und wichtig – auch als Unterstützung für eine zukünftige Bundesregierung –, dass die Bundesregierung parlamentarische Hürden zu nehmen hat, bevor sie zu etwas Ja sagt, etwa im Gouverneursrat; nichts darf ohne eine Votum des deutschen Parlaments geschehen. Ich glaube, da liegen die FDP und wir gar nicht so weit auseinander.
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Lassen Sie uns das in aller Ruhe debattieren.
Ich nenne noch ein paar weitere Kernpunkte. Der EWF muss eine eigenständige, unabhängige EU-Institution sein; er darf nicht der EU-Kommission unterstehen, sondern er muss neben ihr angesiedelt sein, wie zum Beispiel die EIB oder die EZB. Die Mitgliedstaaten müssen weiter die Kontrolle über die eingezahlten Mittel ausüben. Letztendlich muss also der Deutsche Bundestag als nationales Parlament auch weiter an allen Entscheidungen beteiligt sein.
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Übrigens lassen uns Urteile des Bundesverfassungsgerichts da auch keinen großen Spielraum.
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Ich hoffe ganz einfach, dass mein Beitrag ein bisschen zur Versachlichung der Debatte beigetragen hat.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, ich hoffe, dass Sie mit uns – von der AfD erwarte ich das nicht – im Haushaltsausschuss konstruktiv zusammenarbeiten.
Herzlichen Dank.
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Für die Fraktion der SPD spricht jetzt der Kollege Johannes Kahrs.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte, die wir hier führen, wurde aufgesetzt, weil die FDP zwei Anträge zum gleichen Thema gestellt hat. Das zeigt: Die FDP weiß selbst, dass der erste Antrag nicht sonderlich sinnvoll ist,
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und hat deswegen einen zweiten Antrag nachgeschoben, der zumindest vom Verfahren her sinnvoller ist. Höchstwahrscheinlich das hat AfD und Linke herausgefordert. Die AfD hat einen Antrag eingebracht, der in seinen Forderungen so ein bisschen wie der erste FDP-Antrag ist, und Die Linke hat einen Antrag ähnlich dem zweiten FDP-Antrag vorgelegt. Wenn man sich das anguckt, dann stellt man eine heillose Verwirrung fest.
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– Selbstverständlich ist es bei uns nicht so.
Unsere Aufgabe ist es, den Vorschlag der Kommission vernünftig und mit der gebotenen Sorgfalt zu prüfen und als Bundestag Stellung zu nehmen. Gestern wurden die Ausschüsse konstituiert. Da wollen wir das tun. Der Kollege Ecki Rehberg hat fachlich das Wesentliche und Sinnvolle zu dem Thema gesagt.
Wenn man sich darüber unterhält, worum es bei der Weiterentwicklung des ESM zu einem Europäischen Währungsfonds geht, stellt man fest, dass die Kommission nicht als Erste oder gar allein auf die Idee gekommen ist, den Europäischen Stabilitätsmechanismus zu einem Europäischen Währungsfonds weiterzuentwickeln. Einer der Ersten, der diese Idee hatte, schon im Jahr 2010, war der heutige Präsident des Deutschen Bundestages Wolfgang Schäuble, damals noch Bundesfinanzminister. Auch der heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat sich als SPD-Fraktionsvorsitzender dafür ausgesprochen – genauso wie übrigens der damalige FDP-Außenminister Guido Westerwelle. Damit haben wir die Väter dieser Idee beieinander.
Die Idee ist also nicht neu. Wir machen aus dem Krisenmechanismus ESM eine dauerhafte europäische Institution,
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die sich am Internationalen Währungsfonds orientiert, nämlich den Europäischen Währungsfonds.
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Kollege Kahrs, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein. Ich finde, die können jetzt einfach einmal zuhören. Dann lernt man was. – Wir wären damit ein Stück unabhängiger vom IWF, der bisher vor allem wegen seiner Expertise unverzichtbar war. Wenn man ehrlich ist, muss man sagen, dass es mit dem IWF aber nicht immer ganz einfach war.
Mit dem Europäischen Währungsfonds hätten wir eine Institution, die längerfristige Aufgaben übernimmt: bei der Beratung der Mitglieder der Euro-Zone und bei der Krisenprävention; also nicht mehr als ADAC und Reparaturbetrieb, sondern mehr TÜV und DEKRA: regelmäßige Inspektion und Wartung, und das alles aus einer Hand und das alles aus Europa.
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Ich glaube, wir, die wir Europa stärken wollen, können dies nur wollen. Ich glaube, dass das richtig ist. Wir haben hier gemeinsam einen Weg beschritten. Ich habe es eben schon gesagt: Wolfgang Schäuble, Frank-Walter Steinmeier, Guido Westerwelle, sie hatten die Idee, die Vision. Diesen Weg wollen wir weitergehen.
Ich weiß, dass es wichtig ist, dass wir den ESM weiterentwickeln. Er ist nicht nur ein Bollwerk gegen Spekulanten, sondern er kann auch zusätzliche Aufgaben in der Krisenprävention und -bewältigung übernehmen.
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Wir werden das in den Ausschüssen noch genau diskutieren. Mir ist nur eines wichtig – ich habe entsprechende Anmerkungen hier heute gehört –: Wir als Sozialdemokraten wollen mehr Europa; wir wollen nicht weniger Europa. Deswegen haben wir auch dafür gesorgt, dass das Europakapitel am Anfang unseres Sondierungspapiers steht. Wir wollen Europa weiterentwickeln. Europa ist nicht Teil des Problems; Europa ist Teil der Lösung unserer Probleme.
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Wir alle müssen schauen, dass wir Europa stärken. Wir als Sozialdemokraten waren schon für Europa, als andere Parteien hier im Raum noch nicht einmal parlamentarisch vertreten waren. Deswegen können wir als Europapartei sagen, dass wir mit unserer 154-jährigen Geschichte weiterhin dafür stehen werden, dass Europa zusammengeführt wird und zusammenhält.
Gleichzeitig werden wir Sozialdemokraten aber auch sicherstellen, Ecki Rehberg, dass die nationalen Parlamente die Aufgaben für die nationalen Haushalte nicht aus der Hand geben. Darauf können sich die Bürgerinnen und Bürger verlassen. Dafür stehen wir Sozialdemokraten, dafür steht auch die künftige neue Koalition.
Vielen Dank.
({3})
Der Kollege Dürr von der FDP erhält Gelegenheit für eine Kurzintervention.
Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Herr Kollege Kahrs, herzlichen Dank für die klaren Worte an dieser Stelle; die hatte Herr Rehberg ja ein bisschen vermissen lassen.
Ich will noch einmal klar sagen, weil Sie auch den ehemaligen Bundesaußenminister der FDP, Guido Westerwelle, zitiert haben: Die FDP ist nicht gegen einen EWF. Wir haben ja in einem sehr langen Antrag dargelegt, unter welchen Voraussetzungen man einen EWF einführen könnte.
Sie haben gerade sehr klar gesagt, Sie wollen den ESM in einen EWF als europäische Institution überführen. Sie haben gerade auch sehr klar gesagt – wofür ich Ihnen danke –: Das ist das Ziel der SPD-Politik. Ich möchte Sie deshalb fragen – es wurde von nationalen Haushalten auf der einen Seite gesprochen, auf der anderen Seite von europäischen Institutionen –: Ist es auch das zentrale Ziel der SPD in den Koalitionsverhandlungen mit der CDU/CSU, durchzusetzen, dass der EWF zu einer solchen werden soll? Ein klares Ja würde uns an dieser Stelle weiterhelfen. Dann wissen wir noch nicht so ganz, woran wir bei der Union sind; aber die könnten es vielleicht auch noch aufklären.
Vielen Dank.
({0})
Ich finde es immer gut, wenn Kollegen Fragen stellen, weil man dadurch mehr Redezeit bekommen kann.
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Ehrlicherweise habe ich damit kein Problem. Die Antwort liegt in den beiden Reden, die Ecki Rehberg und ich gehalten haben.
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Wer zugehört hat, hat es verstanden. Für die, die nicht zugehört haben, könnte ich jetzt meine Rede wiederholen.
Wir als Sozialdemokraten finden natürlich, dass man Europa stärken muss und dass eine solche Überführung wichtig ist. Wenn Sie das hören wollten – Sie können es auch noch einmal nachlesen in meiner Rede eben –: Ich persönlich glaube, dass wir an dieser Stelle mehr Europa brauchen. Genau wie die CDU glaube ich aber auch, dass wir als Bundestag unsere Verantwortung für die nationalen Budgets und für das, was wir in Deutschland machen, weiterhin behalten müssen. Beides muss man zusammenführen.
({2})
Das, was Sie hier probieren, halte ich im Kern für unanständig, weil Sie hier antieuropäische Ressentiments bedienen
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und deswegen hier auf einer Welle reiten wollen, die nicht zielführend ist. Wir brauchen mehr Europa, aber gleichzeitig können wir als Deutsche selbstbewusst sein. Deswegen ist dieses Reiten auf der nationalen Welle eher schäbig und steht nicht in der Tradition einer liberalen FDP,
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wie übrigens heute auch Ihr Verhalten bei einigen anderen Punkten.
Vielen Dank.
({5})
Wir fahren fort in der Rednerliste. Das Wort hat Peter Boehringer von der AfD.
({0})
Geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die AfD-Fraktion und, wie sich zeigt, auch die FDP-Fraktion beantragen heute das, was unseres Erachtens zwingend von der Bundesregierung selbst hätte kommen müssen. Wir legen gerade noch fristgerecht die Subsidiaritätsrüge gegen einen Vorschlag der EU-Kommission ein, der ganz eindeutig die Kompetenzen der EU überschreitet. Der Bundestag muss den Verordnungsvorschlag zu einem EWF nach EU-Recht – nur darum geht es hier – heute per Sofortabstimmung rügen. Die Frist für die Rüge läuft morgen aus.
Ein EWF ist aber auch aus ökonomischen Gründen abzulehnen. Er steht in der unseligen Tradition des ESM, den wir Euro-Rettungskritiker schon vor sechs Jahren als planwirtschaftlichen Wahnsinn und Alptraum bezeichnet haben.
({0})
Er ist auch marktwirtschaftlich verfehlt. Der nun vorgeschlagene EWF würde die damals gerade noch geretteten, ganz wenigen Mitspracherechte des Bundestages nun endgültig kassieren. Der EWF soll zudem auch noch als Letzthafter bei der Bankenrettung einspringen, also genau das tun, was der ESM erklärtermaßen nie tun sollte. Dazu wurden hier im Hause im Jahr 2012 Eide geleistet. Einige werden sich erinnern.
Herr Boehringer, gestatten Sie eine Zwischenfrage von den Grünen?
Bitte hinterher als Intervention.
({0})
– Sie bekommen Ihre Antwort, aber nach der Rede. In Ordnung?
Schon das Tätigwerden der EU-Kommission für einen EWF nach Unionsrecht ist nicht in Ordnung. Man muss hier eine Subsidiaritätsrüge einlegen. Hier im Haus wird sonst in wenigen Monaten nur noch ein einziger platter Ja-Nein-Beschluss zu diesem Thema möglich sein. Wie das ausgeht, wissen wir; denn es steht im Sondierungspapier der GroKo.
Lieber Kollege Fricke, Sie hätten den Kollegen Rehberg gar nicht fragen müssen. Die Antwort auf Ihre Frage lautet: Ja, der EWF soll nach Unionsrecht verfasst werden. Das ist hier ganz eindeutig so; es steht schwarz auf weiß im Sondierungspapier der GroKo.
({1})
Die GroKo fordert also ohne Not ein weiteres Stück Selbstaufgabe dieses Hauses. Denn nach dieser letzten Ja/Nein-Entscheidung zum Thema EWF wird dieser EWF seinen transfersozialistischen Gang an diesem Haus vorbeigehen; das ist ganz sicher. Es ist die letzte Entscheidung, die Sie dazu treffen werden.
({2})
Der EWF-Gouverneursrat wird künftig Rettungshilfen, die teilweise Hunderte von Milliarden Euro umfassen können, geheim tagend, schnell, heimlich, willkürlich treffen. Der Bundestag wird diese Entscheidungen nicht mehr zu Gesicht bekommen – geschweige denn diese verhindern oder hinterfragen können.
({3})
Dieses in sich fast autarke Organ, der Gouverneursrat, wird nur noch vom EU-Parlament kontrolliert. Wer das EU-Parlament etwas kennt, weiß, dass es damit überhaupt nicht kontrolliert wird.
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– Wir haben es gelesen.
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Die Summen, von denen wir hier reden, übersteigen teilweise ganze Bundeshaushalte.
Juristisch sehen wir durch den Rückgriff der EU-Kommission auf Artikel 352 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union und damit auf Unionsrecht als Rechtsgrundlage des EWF eindeutig eine Verletzung der verfassungsrechtlichen Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit; das ist der Artikel 5 EUV.
Es ist eine Selbstermächtigungsklausel, die hier genutzt wird, um weitere Kompetenzen von den Nationalstaaten wegzunehmen und an die EU zu ziehen. Wir haben Urteile von EuGH und Bundesverfassungsgericht, die genau das in Abrede stellen – übrigens inzwischen auch die Wissenschaftlichen Dienste. Doch genau das geschieht hier. Der ESM ist nicht Teil einer Währungspolitik, sondern ganz eindeutig der Wirtschaftspolitik. Diese ist nicht voll vergemeinschaftet; das ist einfach so, das ist ein Fakt.
({6})
Das Haushaltsrecht ist das Königsrecht der Parlamente. Die Haushaltsverantwortung der nationalen Parlamente ist Teil der sogenannten identitätsbestimmenden Staatsaufgaben, die ohne vorherige Volksabstimmung nicht an die EU übergeben und damit hier im Haus aufgegeben werden können. Darauf läuft das hinaus.
({7})
Zur Erinnerung an die Macron-Fans auf der linken Seite und in der Mitte des Hauses: Artikel 110 Grundgesetz und das Lissabon-Urteil des Verfassungsgerichtes gelten weiterhin wie in Stein gemeißelt. Die nationale Wirtschaftspolitik ist weitgehend integrationsfest, darf also nicht supranationalisiert werden. Sie darf übrigens auch aus sozialpolitischen Gründen nicht supranationalisiert und an die EU übergeben werden. Das in Richtung der ach so sozialen Politiker hier links im Plenum, die permanent vergessen, wie viel Geld hierzulande für die nationale Wirtschafts- und Sozialpolitik und für Familienpolitik übrig wäre, wenn man die Hoheit über unsere Gelder nicht ständig immer weiter vergemeinschaften würde.
({8})
Einige Kollegen hier im Haus werden sich noch an die Redeschlachten und die medialen Schlachten erinnern, die Sie und auch wir Publizisten der APO damals um die wenigen Kontrollrechte des ESM für den Bundestag geführt haben.
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Am Ende kamen immerhin einige wenige Mitwirkungsrechte heraus.
Ich erinnere an den Artikel 4 ESM-Finanzierungsgesetz: Die Gewährung der Stabilitätshilfe muss hier im Hause noch einmal beschlossen oder zumindest genehmigt werden. Dieses letzte Recht wollen uns die GroKo und mitstimmende Fraktionen nun auch noch nehmen.
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Hinzu kommt noch, wie schon erwähnt, die Letztsicherungsfunktion des EWF für den Bankenabwicklungsfonds. Über all das wird man hier in diesem Hause künftig nicht mehr diskutieren können, sondern nur noch im kleinen Herrenklub des voll autarken EWF-Gouverneursrats,
({11})
wo garantiert kein nationaler Parlamentarier mehr reinschauen darf. Die EU-Parlamentarier werden das nicht mit Nachdruck tun.
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Der EWF soll also die totale suprastaatliche Blackbox für die Banken und für die Großunternehmen werden – alles ohne nationalstaatliche Kontrolle. Das ist ein Hohn gegen Artikel 110 Grundgesetz und gegen die freie Marktwirtschaft.
({13})
Sie müssen langsam zum Ende kommen, Herr Kollege.
Ich komme zum Ende. – Wir sehen hier, ebenso wie die FDP, einen Verstoß gegen das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nach Artikel 5 EUV und werden unserem Antrag auf Subsidiaritätsrüge natürlich zustimmen, ebenso dem sehr ähnlich lautenden der FDP. Die AfD-Fraktion befürwortet in diesem Fall auch die beantragte Überweisung des zweiten FDP-Antrags an den Haushaltsausschuss. Wir werden dort sicher differenziert darüber reden.
({0})
Der Überweisung stimmen wir zu.
Herzlichen Dank.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Fabio De Masi von der Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Europäische Währungsfonds als die Speerspitze des Sozialismus: Ich glaube, ich habe da etwas verpasst.
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Die Linke teilt viele der Bedenken gegen den Europäischen Währungsfonds, aber aus anderen Gründen als die FDP. Die FDP fordert in ihrem Antrag mehr Wettbewerbsfähigkeit. Was sonst? Auf Deutsch: Überall in Europa sollen Löhne und Renten sinken, damit Gewinne und Vermögen weiter zulegen.
({1})
Es ist wie Kindergeburtstag: Wenn ein Kind ein immer größeres Stück vom Kuchen will, muss es den anderen auf den Teller greifen. Mit Wettbewerb hat das übrigens nichts zu tun. Das ist dreiste Enteignung.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, wenn Sie sich einmal die Zahlen anschauen würden, dann würden Sie feststellen: Seit vielen Jahrzehnten sinkt der Anteil der Löhne am volkswirtschaftlichen Kuchen. Der Anteil der Gewinne und Vermögen hat zugelegt, aber die Investitionsquote der Unternehmen ist gesunken, weil niemand investiert, wenn man die Mehrheit der Bevölkerung auf Diät setzt und die Stimmung mies ist.
({3})
Die Enteignung der Beschäftigten in Deutschland durch die Agenda 2010 –
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Hartz IV, Leiharbeit, Befristung ohne Sachgrund – war die zentrale Ursache der Euro-Krise. Wir haben durch unser Lohndumping eine künstliche Abwertung bewirkt
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und mehr ans Ausland verkauft als von dort eingekauft. Es ist wie in der Kneipe: Wenn ich Ihnen immer mehr verkaufe, als ich von Ihnen einkaufe, müssen die anderen anschreiben und Schulden machen. Fakt ist: Griechenland hat seine Wettbewerbsfähigkeit dramatisch erhöht und liegt am Boden.
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Die Schulden sind wegen der Kürzungspolitik sogar gestiegen, weil die Wirtschaft einbrach. Portugal hat die Kürzungspolitik beendet und wächst wieder. So viel zu den Fakten.
({7})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, gerne.
Bitte schön.
Herr Kollege, kann es sein, dass Sie Ihre Weisheiten nur von Kindergeburtstagen und aus Kneipen haben?
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Ich bin Vater eines achtjährigen Sohnes. Ich verbringe sehr gern mit ihm den Kindergeburtstag. Ich glaube, Sie sind Zahnarzt. Ich weiß auch nicht, ob Sie Ihre Weisheiten nur aus Zahnprothesen beziehen. Ich glaube, wir wenden uns besser wieder dem Thema zu.
({0})
Wenn die Euro-Zone nun Deutschland weiter nacheifert und Exportüberschüsse anhäuft, drohen internationale Schuldenkrisen oder Strafzölle von Donald Trump, es sei denn, Sie wollen auf den Mars exportieren. Der Europäische Währungsfonds soll Schocks abfedern und Banken stützen. Die Euro-Rettung war ja eine Bankenrettung. Über 90 Prozent der Griechenland-Kredite flossen in den Schuldendienst, vor allem an deutsche und französische Banken. Die Deutsche Bank, laut IWF die gefährlichste Bank der Welt, hat weiter eine Bilanz, die so groß ist wie die italienische Volkswirtschaft. Sie wird daher vom Steuerzahler gerettet, wenn die Hütte brennt. Wer keine Transferunion will, liebe FDP, muss daher systemrelevante Banken wie die Deutsche Bank aufspalten und das Prinzip der Haftung durchsetzen. Wer keine Transferunion will, muss in Deutschland mehr investieren und die Exportüberschüsse abbauen, um neue Schuldenkrisen zu verhindern.
({1})
Mit dem Fiskalpakt und den Strukturreformen
({2})
– warten Sie ab, Geduld –, also Lohn- und Rentenkürzungen, vertiefen Sie Krisen und nehmen Euro-Staaten die Möglichkeit,
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die Wirtschaft im Abschwung zu stützen, also das Instrument, das Deutschland 2009 erfolgreich angewandt hat.
({4})
Ich sage nur: Abwrackprämie. Es soll aber Taschengeld vom EWF geben, wenn Löhne und Renten brav gekürzt werden und die Konjunktur hierdurch abschmiert. Das ist, als würde man einem Komapatienten eine Herzdruckmassage verpassen, ihm aber gleichzeitig Blut abnehmen. Fakt ist: Die EZB verfehlt permanent ihr Inflationsziel, weil die Löhne nicht vom Fleck kommen. Die Arbeitsmarktreformen haben die Geldpolitik kastriert.
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Es ist doch völlig verrückt, bei niedrigen Zinsen nicht mehr zu investieren. Wenn Staaten nicht investieren, landet das billige Geld der EZB auf den Finanzmärkten, nicht in der realen Wirtschaft, und neue Finanzblasen drohen.
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Ein Europäischer Währungsfonds würde ja Sinn machen, wenn er öffentliche Investitionen in der Krise stabilisierte. Hätte der EWF eine Banklizenz, könnte er sich bei der EZB refinanzieren, der ja bereits die Staatsanleihen ausgehen, weil Deutschland zu wenig investiert. Ein EWF, der die Kürzungspolitik in Europa vertieft, wird die Euro-Zone nicht stabilisieren, sondern die europäische Idee zerstören. Deswegen, lieber Herr Kollege Kahrs, geht es nicht um die Frage, ob wir mehr oder weniger Europa wollen, sondern um die Frage, welches Europa wir wollen. Die Linke steht für ein Europa von Wohlstand und sozialer Gerechtigkeit.
Vielen Dank.
({7})
Nächste Rednerin ist die Abgeordnete der Grünen Dr. Franziska Brantner.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir haben heute mehrere Anträge vorliegen. Zwei Fraktionen beantragen eine Subsidiaritätsrüge: Das sind die FDP und die AfD. Ihre Anträge sind gleichen Inhalts.
({0})
Sie beantragen diese, weil sie der juristischen Auffassung sind, dass die von der Kommission vorgeschlagene Vertragsgrundlage, Artikel 352 AEUV, nicht ausreicht.
({1})
– Falsch ist, auf jeden Fall nicht ausreicht für den Währungsfonds.
Der Juristische Dienst der Kommission sagt hingegen, dass diese Flexibilitätsklausel eine gute Grundlage sei.
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Es soll vorkommen, dass es zu einem Gegenstand zwei juristische Auffassungen gibt. Das ist ab und zu schon vorgekommen. Diese unterschiedlichen juristischen Auffassungen zeigen uns doch den Spielraum auf, in dem wir politisch zu entscheiden haben.
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Also: Worum geht es eigentlich inhaltlich? Worum geht es in dem Vorschlag der Kommission inhaltlich?
Erstens geht es um stärkere demokratische Rechenschaftspflichten des Rettungsfonds gegenüber dem Europäischen Parlament und den nationalen Parlamenten.
Zweitens geht es um einen Backstop der Bankenunion. Über diesen haben wir gestern in der Aktuellen Stunde ausführlich diskutiert.
Zu den Rechenschaftspflichten. Die Europäische Kommission schlägt vor: Raus aus den Hinterzimmerverhandlungen zur Euro-Rettung, rein in die Parlamente. Die FDP ist dagegen.
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Wenn es Ihnen, Herr Dürr, um die Bundestagsrechte und die Abstimmungsverfahren geht, dann machen Sie doch eine Stellungnahme im Haushaltsausschuss, wie es Herr Rehberg schon gesagt hat. Hier sind wir sogar bei Ihnen. Aber dann ist doch die Subsidiaritätsrüge das völlig falsche Mittel.
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– Eindeutig.
Außerdem will die FDP in ihrem Antrag, den sie noch zusätzlich gestellt hat, die Kontrolle über die Einhaltung des Stabilitätspakts von der Europäischen Kommission an den ESM übertragen.
Erstens braucht man dafür eine Vertragsänderung. Herr Dürr, Sie müssen mir einmal erklären, wie man die Vertragsänderung dafür hinbekommt.
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Zweitens müssen Sie mir einmal erklären, warum die Finanzminister untereinander – die sitzen ja im Gouverneursrat – kritischer sein sollen als die Europäische Kommission. Da wird doch das Prinzip gelten: Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Es ist doch total unlogisch, was Sie vorschlagen.
({7})
Drittens würde dieses Verfahren weniger Transparenz, weniger parlamentarische Rechenschaft und weniger demokratische Kontrolle bedeuten.
Die FDP schlägt uns heute also zweimal vor: weniger Transparenz, weniger parlamentarische Kontrolle, weniger europäische Demokratie. Da sagen wir Grüne klipp und klar: Nein und nein.
({8})
Wir lassen es auch nicht zu, wenn hier einige versuchen, den Bundestag gegen das Europäische Parlament auszuspielen.
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Das wollen wir auf keinen Fall. Wir sind für eine Partnerschaft der Parlamente, um die Regierungen gut zu kontrollieren. Wir sind für ein transparentes demokratisches Europa. Deswegen sind wir eindeutig gegen Ihre Anträge.
({10})
Liebe FDP, letztlich geht es hier aber um mehr. Bei Ihrem Dreikönigstreffen schwärmte Herr Lindner mal wieder von Macron. Macron will mehr wirtschaftliche Stabilität, soziale Kohärenz, gemeinsame Außenpolitik und mehr Demokratie.
({11})
Sie bejubeln Herrn Macron, aber sobald es konkret wird, kommt von Ihnen nur ein Nein. Nein zu Währungsfonds, Bankenunion, Stabilisierung, Demokratisierung – Nein von der FDP.
({12})
Liebe FDP, Sie müssen sich jetzt einmal entscheiden. Auf welcher Seite stehen Sie?
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Wollen Sie in Zukunft weiter Steilvorlagen für die AfD liefern?
({14})
Oder wollen Sie endlich mit Macron gemeinsam Europa nach vorne gestalten?
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Das ist die Frage, um die es heute geht. Wir sind ganz klar: Wir wollen nach vorne, und zwar europäisch.
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Nächster Redner ist der Abgeordnete Alois Rainer für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Weiterentwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion wird ein zentrales Thema dieser Legislaturperiode sein. Ich halte es für essenziell, dass sich der Deutsche Bundestag hierzu aktiv einbringt. Deswegen freue ich mich auch, dass wir heute anlässlich der von verschiedenen Fraktionen eingebrachten Anträge zu diesem Thema in eine erste Diskussion der bislang auf dem Tisch liegenden Vorschläge einsteigen.
Wir als Union haben gemeinsam mit der SPD in unserem Sondierungspapier bereits eine erste Positionierung vorgenommen. Ich möchte heute die Gelegenheit nutzen, detaillierter darzustellen, worauf es uns als CSU im Bundestag bei der Ausgestaltung dieser Positionierung besonders ankommen wird und wie wir zum Verordnungsvorschlag der Europäischen Kommission zur Errichtung eines Europäischen Währungsfonds stehen.
Zunächst einmal begrüße ich es, dass der ESM zu einem Europäischen Währungsfonds weiterentwickelt werden soll.
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Die Entscheidung über den Einsatz seiner finanziellen Ressourcen muss wie bisher einer parlamentarischen Kontrolle unterliegen, und zwar einer Kontrolle durch die nationalen Parlamente, denen die Budgethoheit obliegt.
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Die Weiterentwicklung des ESM zum Europäischen Währungsfonds ist zudem kein Selbstzweck, sondern muss einen echten Mehrwert für das Krisenmanagement in der Euro-Zone bringen. Hier sehe ich bislang Defizite, vor allem in der Krisenprävention. Die Haushaltsregelwerke der Euro-Zone wurden bislang regelmäßig gebrochen. Die Kontrolle der Einhaltung der Regeln durch die Kommission war oft von politischen Interessen statt von einem objektiven Urteil geleitet.
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Durch die Übertragung der Kontrolle des Stabilitäts- und Wachstumspaktes und des Fiskalvertrages von der EU-Kommission auf den Europäischen Währungsfonds ließe sich dieses Defizit beheben. Ergänzend dazu sollte der Europäische Währungsfonds analog zum Internationalen Währungsfonds ein Mandat zur stetigen Überwachung von Länderrisiken bekommen, um schon frühzeitig unterstützend zur Seite zu stehen, wenn sich Fehlentwicklungen abzeichnen.
Was beim europäischen Währungsfonds nichts zu suchen hätte, wären neue Finanztöpfe zum Zwecke der Umverteilung. Wir machen die Euro-Zone nicht krisenfester, wenn wir ihre Mitgliedstaaten für eine lockere Verschuldungspolitik mit unkonditionierten Mitteln aus gemeinschaftlich finanzierten Finanztöpfen belohnen.
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Für die CSU im Bundestag gehören Handeln und Haften in eine Hand. Nicht die Transferinstrumente der Euro-Zone sind zu stärken, sondern die Eigenverantwortung von Mitgliedstaaten und ihren Gläubigern.
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Dazu gehören für uns eine automatische Laufzeitverlängerung bei Staatsanleihen für Mitgliedstaaten, sobald ein ESM-Programm vereinbart wird, und eine Insolvenzordnung für Staaten.
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Eine automatische Laufzeitverlängerung hält den hilfesuchenden Staat und seine privaten Gläubiger in der Verantwortung und reduziert den Rückgriff auf Gemeinschaftsmittel. Mit einer Insolvenzordnung kann darüber hinaus verhindert werden, dass Staaten, die über keine tragfähige Schuldenlast mehr verfügen, dauerhaft künstlich mit Gemeinschaftsmitteln am Leben gehalten werden.
Ich begrüße, dass der Antrag der FDP-Fraktion viele dieser auch uns wichtigen Punkte aufgreift, und freue mich auf die intensiven Beratungen dieses Themas im Haushaltsausschuss.
Danke schön.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Metin Hakverdi für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor knapp zehn Jahren standen die Finanzmärkte am Abgrund. Damals hat die Finanz- und Wirtschaftskrise die Euro-Zone kalt erwischt. Ein Sturm zog über die Euro-Zone, und wir verfügten damals nicht über die geeigneten Instrumente, um mit dem Sturm fertigzuwerden. Der Euro drohte zu scheitern, und ganze Volkswirtschaften in der Euro-Zone drohten in einem finanzpolitischen Chaos zu versinken. Die gemeinsame Währung war für finanzpolitische Stürme dieser Art auf hoher See nicht gewappnet.
Der Euro wurde irrtümlich für unsinkbar gehalten. Nationale Egoismen, vielleicht auch falscher Nationalstolz hatten die Sicht auf mögliche Risiken verstellt.
Als die Krise kam und der Sturm auch über Europa zog, wurde schnell deutlich, dass die Mitglieder der Euro-Zone im gleichen Boot sitzen. Dieses Boot bringt allen Mitgliedstaaten der Euro-Zone grundsätzlich Vorteile, besonders uns. Der Exportweltmeister Deutschland hat besonders von der gemeinsamen Währung profitiert.
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Deutschland ist der Nettogewinner des Euros.
Im Zuge der Krise mussten dann eilig Entscheidungen getroffen werden. Viele Milliarden an Steuergeldern mussten aufgebracht werden, um Schlimmeres zu verhindern. Die Krise brauchte die Einsicht, dass in einem gemeinsamen Währungsraum nicht jeder Mitgliedstaat machen kann, was er will, sondern dass wir gemeinsame Regeln brauchen, dass eine gemeinsame Währung einer engeren Zusammenarbeit bedarf.
Seit vielen Jahren versuchen wir nun, dieses Versäumnis nachzuholen. Jetzt, wo die Sonne in einigen Mitgliedstaaten wieder am Himmel steht, meinen einige, alles wäre wieder in Ordnung, als könnte man einfach so weitermachen, als hätten wir unsere Hausaufgaben bereits erledigt. Das ist falsch.
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Glauben wir nach der Finanz- und Euro-Krise, die wir überstanden haben, denn wirklich, dass große asymmetrische Schocks besser innerhalb nationalstaatlicher Grenzen bewältigt werden können? Glaubt das wirklich jemand?
Die Sozialdemokraten haben zu einem Europäischen Währungsfonds eine klare Haltung. Wir sind überzeugt, dass ein Europäischer Währungsfonds im Interesse unseres Landes liegt. Mit der Schaffung europäischer Institutionen können wir unsere eigenen nationalen Interessen eben besser wahrnehmen. Da haben wir uns im Sondierungspapier mit der Union festgelegt:
Den Europäischen Stabilitätsmechanismus … wollen wir zu einem parlamentarisch kontrollierten Europäischen Währungsfonds weiterentwickeln, der im Unionrecht verankert sein sollte.
Die Kommission hat im Dezember letzten Jahres einen Vorschlag unterbreitet. Aus unserer Sicht handelt es sich dabei um eine geeignete Diskussionsgrundlage. Die Schaffung eines Europäischen Währungsfonds ist zunächst eine rein inhaltliche Frage. Wir sollten hier und heute nicht mit einer Rüge die Diskussion über die Gründung eines Europäischen Währungsfonds im Keim ersticken. Es ist nicht richtig, dass Verzicht auf eine Rüge heute bedeutet, dass die Dinge dann unabhängig vom Deutschen Bundestag ihren Lauf nehmen.
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Wir können und sollten uns hier in diesem Hause intensiv mit dem Thema befassen. Die Sorge, dass wir auf europäischer Ebene, bei der Kommission oder dem Rat, kein Gehör finden, ist völlig unberechtigt. Sowohl im Falle des Artikels 352 AEUV als auch im Falle einer intergouvernementalen Lösung – in beiden Fällen muss der Deutsche Bundestag beteiligt werden. Daher werden wir den Rügeanträgen heute nicht zustimmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen heute ein Signal aussenden, ein Signal des Aufbruchs, für einen starken Euro. Wir wollen gegenüber unseren Partnern in der Euro-Zone Entschlossenheit zeigen.
Vielen Dank.
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Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Dr. Heribert Hirte für die Fraktion der CDU/CSU.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zunächst einmal in Erinnerung rufen, worum es eigentlich im Grunde geht: Es ist die Stärkung der Euro-Zone. Genau dies soll mit dem, was wir hier überlegen und diskutieren – die Überführung des ESM in einen EWF –, bezweckt werden. Insofern geht es auch darum, den Akzent hin zu einem präventiven Krisenvermeidungsmechanismus zu verschieben, was mit einer ganzen Reihe von Begleitmaßnahmen einhergeht, über die wir hier zum Teil schon letzte Woche, als wir über das Aktionsprogramm der EU gesprochen haben, diskutiert haben.
Einen ganz wichtigen Punkt will ich nennen: die Stärkung, die Änderung, die Reformierung des nationalen Insolvenzrechts in vielen – insbesondere südeuropäischen – Mitgliedstaaten durch die von der EU geplante Restrukturierungsrichtlinie. Was sie bezweckt, ist die Reduktion sogenannter Non-performing Loans in den Bankbilanzen. Das steht in einem zwingenden Zusammenhang mit der Euro-Rettung und der Krisenvermeidung, um die es uns hier geht.
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Anlass der Diskussion ist die mögliche Überführung des ESM in einen EWF. Sie kritisieren in mehreren der Anträge die falsche Rechtsgrundlage. Auch darüber haben wir letzte Woche schon diskutiert. Ich selbst habe gesagt – mein Kollege Krichbaum hat es auch gesagt –: Artikel 352 AEUV ist nicht die richtige Rechtsgrundlage.
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Wir brauchen – das werden wir dann im Detail zu diskutieren haben – eine Vertragsänderung. Selbstverständlich wird der Deutsche Bundestag nicht nur da, sondern auch in der Folge daran mitwirken.
Wie gehen wir mit den augenblicklichen Überlegungen der Europäischen Kommission um? Kollege Hakverdi hat es eben gesagt: Das ist eine Diskussionsgrundlage, nicht mehr und nicht weniger.
Eines ist aus meiner Sicht klar: Eine Subsidiaritätsrüge ist der falsche Weg.
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Denn es geht nicht um Subsidiarität – in Ihren Anträgen steht das ja eigentlich auch –, sondern es geht um die richtige Rechtsgrundlage, die wir der Bundesregierung für die Verhandlungen mit auf den Weg geben müssen.
Im Übrigen: Wenn man sich das Thema Subsidiaritätsrügen genauer anschaut, stellt man fest, dass es durchaus noch einiges zu verbessern gibt. Ich habe mir angeschaut, Stand gestern, welche anderen EU-Staaten über das Thema Subsidiarität nachdenken. – Kein einziger.
Subsidiaritätsrügen funktionieren nur dann, wenn ein Drittel der Mitgliedstaaten sie erhebt. Sinnvoll wäre eine Koordinierung der nationalen Parlamente, und genau das haben wir in der letzten Woche, als wir über den Élysée-Vertrag gesprochen haben, gemacht: Wir haben mit den Kollegen aus der Assemblée nationale geredet. Das müsste man auch in diesem Zusammenhang tun, aber das haben Sie abgelehnt.
Kommen wir zu der weiteren Frage: Was machen wir mit einer möglichen Stellungnahme nach Artikel 23 des Grundgesetzes? Darüber kann man nachdenken. Das wird in den Ausschüssen zu beraten sein. Hierbei sind folgende Punkte wichtig: Natürlich geht es darum, die Eigenverantwortung der Staaten zu unterstreichen und die strikte Konditionalität etwaiger Hilfen wieder in Erinnerung zu rufen und es dabei zu belassen. Sie kritisieren, dass eine Weiterentwicklung des ESM in eine EU-Institution mit der Überführung in europäisches Recht einhergeht. Sie müssen sich die Frage stellen: Was bedeutet eine Überführung in europäisches Recht? Damit ist doch nicht gesagt, dass die Europäische Kommission zuständig ist. Das kann so ähnlich ausgestaltet sein wie bei der EZB oder der EIB. Das heißt nicht zwingend, dass auch Nicht-Euro-Staaten mitreden, lieber Herr Kollege. Das alles ist zu diskutieren.
Für all das brauchen wir die Risikogewichtung für Staatsanleihen und – das wurde schon mehrfach gesagt, auch letzte Woche – die Einführung eines Insolvenzverfahrens für Staaten. Die EZB diskutiert darüber, dies einzuführen, auch schon im Rahmen des ESM. Insofern gibt es keinen Grund, der deutschen Regierung irgendwelche Vorschriften zu machen.
Ich bin völlig zuversichtlich, dass alle diese Punkte berücksichtigt werden. Deshalb werden wir die Anträge, sofern wir sie nicht sofort ablehnen, in den Ausschuss überweisen und dort weiterberaten.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/582 mit dem Titel „Europäischer Währungsfonds darf nicht im EU-Recht begründet werden“. Ich frage Sie: Wer stimmt für diesen Antrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Antrag bei Gegenstimmen der SPD-Fraktion, der CDU/CSU-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und bei Zustimmung der Fraktionen der FDP und der AfD abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 5 b sowie Zusatzpunkt 4. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/583 und 19/579 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das der Fall, und damit sind die Überweisungen so beschlossen.
Zusatzpunkt 3. Antrag der Fraktion der AfD auf Drucksache 19/593 mit dem Titel „Unvereinbarkeit des Verordnungsentwurfs der EU-Kommission über die Einrichtung eines Europäischen Währungsfonds mit dem Subsidiaritätsprinzip“. Die Fraktion der AfD wünscht Abstimmung in der Sache und verlangt, über ihren Antrag namentlich abzustimmen. Die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD beantragen Überweisung an den Haushaltsausschuss.
Wir stimmen nach ständiger Übung zuerst über den Antrag auf Ausschussüberweisung ab. Deshalb frage ich Sie: Wer stimmt für die beantragte Überweisung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Bei Gegenstimmen der AfD und Enthaltung der FDP-Fraktion ist der Antrag angenommen mit den Stimmen der SPD-Fraktion, der Grünenfraktion, der CDU/CSU-Fraktion und der Fraktion Die Linke. Damit ist die Überweisung so beschlossen. Damit stimmen wir über den Antrag auf Drucksache 19/593 in der Sache heute nicht namentlich ab.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Zeit ist reif: Gestern, heute und morgen gehen eine halbe Million Menschen auf die Straße und kämpfen für ihre Forderungen. Die Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie beantworten die Frage „Wem gehört die Zeit?“ gerade sehr eindrucksvoll. Sie sagen: „Mein Leben – meine Zeit.“
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Damit ist die Frage der Arbeitszeit zurück im Zentrum der politischen Debatte. Ich als Gewerkschafterin im Bundestag verstehe das als politischen Auftrag.
Die Beschäftigten spüren es jeden Tag: Ihr Leben wird weitgehend von der Arbeit und damit vom Arbeitgeber bestimmt. Die Menschen müssen zu allen möglichen Tages- und Nachtzeiten arbeiten, egal ob an Feiertagen oder am Wochenende. Arbeitsverhältnisse werden dadurch zunehmend unsicher. Das öffnet der Ausbeutung Tür und Tor und hat mit Selbstbestimmung nichts zu tun.
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Je nach Auftragslage arbeiten die Beschäftigten bis zum Umfallen oder müssen zu Hause bleiben. So werden unternehmerische Risiken auf die Beschäftigten verlagert. Die Gesundheit, das Privatleben sowie Sorge- und Pflegearbeit bleiben auf der Strecke.
Es ist höchste Zeit, im Interesse der Beschäftigten und der Gesellschaft die wöchentliche Höchstarbeitszeit auf 40 Stunden zu begrenzen.
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Es darf nicht sein, dass jährlich 1,7 Milliarden Überstunden anfallen und nicht einmal die Hälfte davon bezahlt wird. Ich nenne das organisierten Lohnraub.
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Und dann stellt sich auch noch Gesamtmetall-Präsident Dulger hin und behauptet, dass ein Teillohnausgleich bei Pflege und Kinderbetreuung „Geld fürs Nichtstun“ ist. Es ist ein Schlag ins Gesicht von Millionen von beschäftigten Menschen und eine bodenlose Frechheit, so etwas zu sagen.
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Würden wir alleine diese 1,7 Milliarden Überstunden umverteilen, dann hätten wir laut Bundesregierung 1 Million Vollzeitstellen mehr. Mit der vorhandenen Menge an Arbeit ist es wie mit dem Reichtum: Es ist genug da, es ist nur falsch verteilt.
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Dieser Entwicklung müssen wir endlich einen Riegel vorschieben. Wir brauchen sichere Arbeitsverhältnisse für alle. Wir brauchen kürzere, aber ausreichende Wochenarbeitszeiten.
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Heben Sie den Schatz an Teilzeitbeschäftigten, die gerne länger arbeiten würden. Wie das Sondierungspapier zeigt, haben Beschäftigte in dieser Hinsicht leider auch von einer Großen Koalition nichts zu erwarten. Das Arbeitszeitgesetz soll im Sinne der Arbeitgeber verändert und der Gesundheitsschutz der Beschäftigten gleich mitverkauft werden.
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Das geplante Rückkehrrecht aus Teilzeit ist dabei ein Witz.
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Es betrifft die Beschäftigten in 95,5 Prozent der Betriebe nicht. Zudem schließt es von vornherein mehr als die Hälfte aller Frauen aus. Ich als Gewerkschafterin fordere ein echtes Rückkehrrecht von Teilzeit in Vollzeit.
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Es gibt nur einen Weg für die lohnabhängig Beschäftigten, damit aus fremdbestimmter Flexibilität eine selbstbestimmte Arbeitszeitrealität wird: Vertraut auf eure Kraft! Organisiert euch in den DGB-Gewerkschaften! Kämpft solidarisch für eure Interessen! Wir, Die Linke, werden euch unterstützen und den politischen Rahmen setzen, um gute, selbstbestimmte Arbeit für alle zu ermöglichen.
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Denken Sie bitte an die Redezeit?
Begrenzen wir die wöchentliche Höchstarbeitszeit! Schaffen wir einen echten Anspruch auf ein Rückkehrrecht in Vollzeit! Kolleginnen und Kollegen der IG Metall, wir solidarisieren uns mit eurem Kampf für mehr Lohn und eine Absenkung der Arbeitszeit. In ein paar Stunden fahre ich zu meinen Kolleginnen und Kollegen nach Gronau und werde an ihrer Seite gemeinsam mit ihnen kämpfen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Krellmann. – Wir reden ja jetzt über die Höchstarbeitszeit. Ich bitte, auch die Höchstredezeit einzuhalten.
Der nächste Redner: Wilfried Oellers für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Was das Leben der Menschen und die Arbeitszeit betrifft, so versucht der Gesetzgeber, das Arbeitsleben in einer gewissen Flexibilität zu regeln. Auf der einen Seite haben die Mitarbeiter oft den Wunsch, ihre Arbeitszeit flexibel zu gestalten. Auf der anderen Seite gibt es natürlich auch den Wunsch bzw. das Begehren des Arbeitgebers nach einer bestimmten Flexibilität,
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gleichzeitig aber auch nach geordneten Betriebsabläufen. Beides gilt es hier in Einklang zu bringen.
Bevor man gesetzgeberisch tätig wird, ist es eigentlich am besten, wenn sich diejenigen darüber unterhalten, die tatsächlich dafür zuständig sind, nämlich die Arbeitsvertragsparteien und die Tarifparteien, die hier auch gewisse Gestaltungsmöglichkeiten haben. Man muss sagen: In den allermeisten Fällen klappt das in Deutschland sehr gut, und es gelingt sehr gut.
Die Gestaltung hat allerdings auch eine gewisse Grenze, und zwar dort, wo man an die Grenze der Machbarkeit kommt. Da muss man dann zunächst einmal den Unternehmer fragen, inwieweit es möglich ist, auf Flexibilisierungswünsche der Mitarbeiter einzugehen. Auch hier sind die Interessen der geordneten Betriebsabläufe zu beachten.
Das Arbeitsrecht sieht aktuell entsprechende Möglichkeiten und Grenzen vor. Ich darf an dieser Stelle das Arbeitszeitgesetz, das Teilzeit- und Befristungsgesetz, aber auch das Mindestlohngesetz nennen. Die Vorschläge, die Sie unterbreiten, liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion der Linken, fördern das gerade Gesagte sicherlich nicht. Vielmehr schränken Sie die notwendige Freiheit der Unternehmer ein und
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ebenso die gewünschten Freiheiten der Arbeitnehmer; im Einzelnen komme ich gleich dazu.
Der erste Punkt, den Sie fordern, ist, die wöchentliche Höchstarbeitszeit von 48 auf 40 Stunden zu reduzieren. Dabei übersehen Sie allerdings, dass es auch unter Arbeitnehmern den Wunsch gibt – Sie werden es nicht glauben –, mehr als die 40 Stunden, die von Ihnen angesetzt worden sind, zu arbeiten. Warum? Weil sie sich aufgrund ihrer Mehrarbeit etwas leisten möchten.
Sie sprechen von einer Umverteilung der Arbeit. Herzlich willkommen in der Planwirtschaft! Es sollte Ihnen doch wohl bekannt sein, dass es bisher noch nie funktioniert hat, Wohlstand und Prosperität so voranzubringen.
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Auch den Menschen ist damit nicht gedient. Hier können wir uns die eigene Geschichte anschauen.
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Wir müssen auch betrachten, dass wir zurzeit einen Fachkräftemangel zu verzeichnen haben. Die Unternehmen leiden sehr darunter. Wenn Sie dann noch sagen: „Wir wollen die Arbeitszeiten reduzieren“, ist das sicherlich nicht im Interesse der Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft. Und wenn das dazu führt, dass Steuereinnahmen nicht mehr in dem Umfang sprudeln wie bisher, dann ist das sicherlich auch nicht im Interesse aller. Die Auswirkungen brauche ich hier nicht näher zu schildern.
In Ihrer Begründung sprechen Sie aber nicht nur von einer Umverteilung der Arbeit allgemein, sondern auch von einer Umverteilung unbezahlter Arbeit. In Deutschland ist nach dem geltenden Arbeitsrecht jede Arbeitsstunde zu vergüten.
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Fällt eine Überstunde an, ist diese entweder zu vergüten oder in Freizeit auszugleichen. Geschieht das nicht, dann ist das bereits jetzt rechtswidrig. Der Rechtsweg steht jedem offen. Jeder kann diesen einschlagen, um zu seinem Recht zu kommen.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder Zwischenbemerkung der Kollegin Krellmann?
Gerne.
Frau Krellmann, bitte.
Vielen Dank. – Erstens, Herr Oellers: Ich bin im Westen geboren. Sie müssen mir nicht ständig irgendetwas vorwerfen, was nicht dort passiert ist, wo ich gelebt und gearbeitet habe. Zweitens. Die Information, dass von 1,7 Milliarden Überstunden die Hälfte nicht bezahlt ist, haben wir uns nicht ausgedacht, sondern sie stammt aus einer Antwort der Bundesregierung.
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Sie sind Jurist, soviel ich weiß. Ich frage Sie: Was machen Sie als Jurist, um die Arbeitgeber darüber zu informieren, dass man so etwas eigentlich nicht tun darf? Die Hälfte der Überstunden wird nicht bezahlt. Das ist doch nicht vom Himmel gekommen! Das ist eine richtige Sauerei. Das ist Betrug an den Beschäftigten. Was tun Sie dagegen?
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Danke schön, Frau Krellmann. – Herr Oellers, Sie haben jetzt das Wort.
Punkt eins. Sie haben Ihre Herkunft angesprochen. Ich denke, man darf dennoch auf die Erfahrungen, die wir in unserer Geschichte gemacht haben, hinweisen.
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Punkt zwei. Ich habe gerade schon etwas zum Thema Überstunden gesagt. Wenn Überstunden nicht durch Freizeit ausgeglichen werden oder nicht bezahlt werden, dann ist das rechtswidrig. Damit habe ich meine Position dazu genannt. Ich habe auch schon ausgeführt, was das deutsche Recht dazu vorsieht. Es liegt allerdings auch bei den jeweiligen Betroffenen – das muss man ehrlicherweise dazusagen –, ihr Recht einzufordern. Wenn sie die Überstunden dokumentiert und nachgewiesen haben, dann glaube ich nicht, dass sie vor einem deutschen Arbeitsgericht kein Recht bekommen. – Vielen Dank.
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Wenn man im Rahmen des Arbeitszeitgesetzes über Veränderungen der Arbeitszeit nachdenkt, dann sollte man, anstatt eine Einschränkung der Höchstarbeitszeit in den Blick zu nehmen, eher darüber nachdenken, welche Möglichkeiten man hat, um im Rahmen der Eckpunkte, die wir haben, Flexibilisierungen zu ermöglichen, damit die Menschen ihr Leben entsprechend gestalten können.
Sie sprechen weiter die Dokumentation von Arbeitszeit an. Ich denke, dass es hierzu ausreichende Regelungen im Gesetz gibt. Das werden Sie wieder bestreiten; aber ich verweise auf § 16 Absatz 2 Arbeitszeitgesetz und auf § 17 Mindestlohngesetz, in denen ausreichende Dokumentationspflichten berücksichtigt worden sind.
Da ich gerade § 17 Mindestlohngesetz angesprochen habe: Hier ist es sicherlich wichtig und richtig, darüber nachzudenken, ob die Höhe der Lohngrenze, bis zu der entsprechende Dokumentationen erfolgen müssen – seinerzeit ist ein Bruttogehalt in Höhe von knapp 3 000 Euro festgelegt worden –, angemessen ist. Ich denke, dass man damals etwas über das Ziel hinausgeschossen ist.
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Dann sprechen Sie das Rückkehrrecht in Vollzeit an. Angemerkt haben Sie auch, dass wir in unserem Sondierungspapier dazu schon einiges vereinbart haben, und zwar unter bestimmten Voraussetzungen. Ich will jetzt nicht näher erläutern, was in unserem Sondierungspapier steht; aber ich will auf Folgendes hinweisen, was im Rahmen der Thematik Rückkehrrecht in Vollzeit zu berücksichtigen ist. Wenn man ein Rückkehrrecht in Vollzeit bzw. ein Recht auf Teilzeit festschreibt, dann muss man gleichzeitig auch zur Kenntnis nehmen, dass der Wunsch nach einem Recht auf Teilzeit für eine bestimmte Dauer gleichbedeutend ist mit der Entstehung von neuen befristeten Arbeitsverhältnissen; denn die Arbeitsleistung muss ja irgendwie erbracht werden. Darum braucht man für diese Übergangszeit Mitarbeiter. Wenn Sie auf der einen Seite solche Möglichkeiten einfordern, auf der anderen Seite die Möglichkeit einer Befristung aber an den Pranger stellen, dann ist diese Argumentation nicht ganz schlüssig.
Vor dem Hintergrund, dass man den Arbeitnehmern auch bei der Elternzeit Flexibilisierungen eingeräumt hat, ist es, denke ich, mehr als recht, darauf hinzuweisen, dass man an die Befristungstatbestände nicht weiter herangehen und insbesondere die sachgrundlose Befristung als einziges unbürokratisches – das betone ich – Flexibilisierungsinstrument beibehalten sollte.
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Letzter Punkt. Sie fordern eine Mindeststundenzahl von 22 Stunden pro Woche. Hier muss man fragen: Wo kommen wir denn hin, wenn wir den Leuten vorschreiben, wie lange sie mindestens zu arbeiten haben? Es gibt gute Gründe für Menschen, nur eine geringe Stundenzahl arbeiten zu wollen. Familiäre Gründe können hier eine Rolle spielen. Diesen Wunsch können wir den Leuten nicht verwehren. Bei dieser Forderung sind wir wieder mitten in der Planwirtschaft angekommen.
Wir müssen den Menschen ihre Freiheiten lassen, und das gelingt mit Ihrem Antrag ganz bestimmt nicht.
Danke schön.
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Vielen Dank, Wilfried Oellers. – Nächste Rednerin: Dagmar Schmidt für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Arbeit bestimmt einen wesentlichen Teil unseres Lebens. Wann wir arbeiten, wie lange wir arbeiten und wo wir arbeiten: Das bestimmt unseren Alltag.
Die Arbeitszeit und der Arbeitsort wirken also tief in unser privates Leben hinein. Sie bestimmen, ob wir uns um unsere Familie und unsere Freunde kümmern können, ob und welches Ehrenamt wir ausüben können, ob wir einen regelmäßigen Mannschaftssport machen können, ob wir im Chor singen können und ob wir zur Einsatzabteilung der Freiwilligen Feuerwehr gehören können. Daneben bestimmen sie über unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden. Unsere Lebensqualität hängt also in starkem Maße davon ab, wann, wie lange und wo wir arbeiten.
Die Anforderungen an eine gute und planbare Arbeitszeit sind allerdings sehr unterschiedlich. Die Unternehmen haben Anforderungen, die meistens sehr begründet sind, manchmal aber auch nicht. In jedem Fall sind sie sehr unterschiedlich, und die Digitalisierung entgrenzt die Arbeit zusätzlich aus Raum und Zeit. Deswegen ist ein Recht auf Nichterreichbarkeit genauso wichtig, wie es Regeln zum Arbeitsschutz auch für Telearbeit, Homeoffice und „Arbeit unterwegs“ sind.
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Abhängig davon, in welcher Lebensphase man sich befindet, sind auch die Wünsche und die Vorstellungen von einer guten Arbeitszeit sehr unterschiedlich. Vor allem Frauen wünschen sich oft, mehr zu arbeiten, und Männer wünschen sich oftmals, weniger zu arbeiten. Wir brauchen ein Rückkehrrecht in Vollzeit, damit Frauen nicht in einer Teilzeitfalle landen, sondern ein eigenes gutes Auskommen und eine anständige Rente erhalten.
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Wir brauchen das Rückkehrrecht auch, damit Männer sich trauen, ihre Arbeitszeit zu senken, um am Familienleben teilhaben zu können.
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Wir müssen – das ist angesprochen worden – Ordnung bei der Arbeitszeit schaffen. Es ist ein Unding, wenn schlechte Personalplanung und Unternehmensführung auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen werden, wenn Überstunden Neueinstellungen ersetzen und wenn Überstunden nicht dokumentiert und allzu oft auch nicht bezahlt werden.
Fast die Hälfte der Beschäftigten arbeitet mehr als zwei Stunden zusätzlich in der Woche, bei fast jedem Zehnten sind es mehr als zehn Stunden. Richtig gravierend wird es – das ist bereits angesprochen worden –, wenn man die unbezahlten Überstunden betrachtet. 2016 waren es laut IAB 947 Millionen. Es handelt es sich also um ein Massen- und nicht um ein Randphänomen, und dagegen müssen wir mit härteren Maßnahmen vorgehen.
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Hier stellt sich die Frage: Was hilft den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern wirklich? Eine Absenkung der gesetzlichen Höchstarbeitszeit und eine Mindestarbeitszeit helfen aus meiner Sicht so wenig, wie die deutsche Wirtschaft zugrunde geht, wenn man die Höchstarbeitszeit nicht ausweitet. Wir haben bereits zahlreiche Möglichkeiten für flexible Arbeit im Sinne der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, aber auch der Arbeitgeber. Um das in ein gutes Gleichgewicht zu bringen, haben wir starke Tarifpartner. Die Tarifpartnerschaft gilt es an dieser Stelle weiter zu stärken; denn jede Branche hat ihre eigenen Herausforderungen.
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Im Bereich der Pflege zum Beispiel hilft keine gesetzliche Höchstarbeitszeit, sondern da helfen ein allgemeinverbindlicher Tarifvertrag, Personalstandards und die Beseitigung des Fachkräftemangels.
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Wir haben starke Betriebsrätinnen und Betriebsräte, und auch die Mitbestimmung gilt es weiter zu stärken. Gerade bei Fragen der Arbeitszeit ist das ein starkes Recht, dem Geltung verschafft werden muss; denn am Ende ist es die betriebliche Ebene, auf der konkret die Bedürfnisse der Arbeiternehmer und Arbeitnehmerinnen und des Unternehmens zusammengebracht werden müssen.
Dazu gehört aber dann auch, dass wir es leichter machen müssen, Betriebsräte zu gründen, und dass wir diejenigen, die sich engagieren, besser schützen.
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Das Arbeitsrecht und Tarifverträge dürfen eben nicht nur auf dem Papier stehen, sondern sie müssen kontrolliert und sanktioniert werden. Dabei ist mit der Dokumentationspflicht im Rahmen der Mindestlohngesetzgebung ein wichtiger Schritt getan. Es gilt, die Kontrollen des Zolls weiter zu verstärken.
Die Arbeitszeit ist ein wichtiger Faktor für unsere Lebensqualität. Deswegen ist es wichtig, dass wir uns dieser Frage weiter annehmen. Ganz großkoalitionär möchte ich an dieser Stelle Norbert Blüm zitieren: „Arbeitszeiten nach Maß sind besser als von der Stange.“ In diesem Sinne wünsche ich maßvolle Arbeitszeiten.
Glück auf!
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Vielen Dank, Dagmar Schmidt. – Das Wort hat jetzt zu seiner ersten Rede im Bundestag Uwe Witt für die AfD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Vizepräsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Bei dem Antrag der Fraktion der Linken geht es zum wiederholten Mal um einen Ausflug in sozialistische Traumwelten. Hier soll den Bürgerinnen und Bürger vorgegaukelt werden, dass man etwas für sie Positives beabsichtigt; aber das Gegenteil ist der Fall. Die Linke ist Weltmeister darin, sozialistische Wolkenkuckucksheime zu versprechen,
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die sich in der realen Welt dann schnell als Mogelpackung zulasten der Arbeitnehmer herausstellen.
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Dass Ihre Anträge immer zulasten der Arbeitgeber gehen, gehört schon fast zu Ihrem Parteiprogramm.
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Kommen wir zurück zu Ihrem Antrag, den Sie seit 2012 offenbar mit steter Regelmäßigkeit hier im Bundestag stellen. Das ist die Art von Arbeit, die Sie präferieren: einfach zwei Drittel Ihrer bereits zigmal gestellten Anträge wieder einzureichen, obwohl sich die Grundvoraussetzungen dafür nicht geändert haben. Das führt dann dazu, dass Sie in dieser Legislaturperiode bereits über 140 Anträge gestellt haben.
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Damit vergeuden Sie nicht nur wichtige Sitzungs- und Arbeitszeit. Nein, Sie vergeuden auch noch Steuermittel und schwächen die Effizienz dieses Hohen Hauses.
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Aber vielleicht gehört auch das zu Ihrem Konzept.
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Zum Antrag. Da fordern Sie eine Begrenzung der wöchentlichen Höchstarbeitszeit auf 40 Stunden. Offenbar sind Ihnen die tatsächlichen Probleme der kleinen und mittelständischen Unternehmen und der dort beschäftigten Arbeitnehmer nur durch die rote Brille des Kommunismus bekannt.
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Gerade im Dienstleistungssektor und in Unternehmen, die von der Digitalisierung bereits verstärkt betroffen sind, ist eine Flexibilisierung der wöchentlichen Arbeitszeit erforderlich – also das Gegenteil Ihres Antrages.
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Wichtig wäre hingegen eine variable monatliche Höchstarbeitszeit, um den Veränderungen des Marktes bei gleichzeitiger Wahrung der Rechte der Arbeitnehmer Rechnung zu tragen. Starre Arbeitszeitmodelle führen hier lediglich zur Abwanderung weiterer Unternehmen in das europäische und außereuropäische Ausland und zur Schwächung des Wirtschaftsstandortes Deutschland.
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Die schwarz-rote Regierung hingegen spricht sogar von Vollbeschäftigung und ruft damit abstruse Forderung wie die Ihrige, werte Kollegen der Linke, auf den Plan.
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Die tatsächliche Situation des Arbeitsmarktes in Deutschland ist deutlich anders,
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als sie hier in diesem Hohen Hause dargestellt wird. Das müssten gerade Sie, die hier schon länger sitzen, meine Damen und Herren, doch alle wissen.
Da sprechen Sie von einer permanent sinkenden Arbeitslosenzahl und postulieren, es gebe nur 2,4 Millionen Arbeitslose. Schaut man jedoch in die offizielle Statistik „Migration im Arbeitsmarkt“, findet man dort schnell die tatsächliche Anzahl der Arbeitsuchenden, nämlich 4,6 Millionen. Dass davon 1,3 Millionen ohne deutschen Pass sind, will ich an dieser Stelle gar nicht weiter kommentieren.
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Neben angeblich sinkenden Arbeitslosenzahlen redet Frau Merkel, wie ich bereits vorhin erwähnte, von möglicher Vollbeschäftigung. Damit ist dann wohl gemeint, dass ein Job bei vielen zur Bestreitung des Lebensunterhaltes nicht mehr ausreicht und zwei bis drei Jobs angenommen werden müssen, um über die Runden zu kommen. Das bedeutet, man ist den ganzen Tag voll beschäftigt. Das verstehen weder ich noch die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes unter Vollbeschäftigung, Frau Merkel.
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Liebe Bürgerinnen und Bürger, Ihnen wird vorgegaukelt, uns geht es immer besser, wobei die Anzahl der Arbeitsuchenden bei fast 5 Millionen liegt, Altersarmut zu einem festen Bestandteil unseres Alltags geworden ist und die Steuern ins Astronomische gestiegen sind. Das ganze System ist nur noch durch ebendiese immer höheren Steuern und Abgaben zu finanzieren.
Leistungen, die Sie, verehrte Bürgerinnen und Bürger, erwirtschaften, werden in die Umsetzung unsinniger EU-Projekte oder den Wirtschaftsstandort Deutschland schädigende Maßnahmen investiert. Eine tatsächliche Verbesserung der Situation auf dem Arbeitsmarkt existiert lediglich auf dem Papier bei den geschönten Arbeitslosenzahlen.
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Ich vermute, dass einige Kollegen der Altparteien gleich versuchen werden, den Eindruck zu erwecken, dass ich ihre Statistiken nicht lesen kann und daher alles gar nicht stimmt.
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Meine Damen und Herren, die Sie hier schon länger sitzen und sich derartige Argumentationen jahrelang zu eigen gemacht haben: Unterschätzen Sie nicht die mündigen Bürger unseres Vaterlandes! Ich appelliere eindringlich an Sie, Probleme nicht zu verharmlosen, bis es nicht mehr möglich ist, sie dauerhaft zu beheben.
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Ich komme zum Schluss. In diesem Sinne bitte ich insbesondere die Abgeordneten der Linken, ab sofort die Worte, die draußen am Reichstag angebracht sind, täglich in ihr Tun und Handeln einfließen zu lassen – denn da steht: „Dem deutschen Volke“ –
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und nicht ihren parteipolitischen linken Präferenzen zu dienen.
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Die AfD stimmt einer Ausschussüberweisung nicht zu und lehnt den Antrag komplett ab.
Danke schön.
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Als nächster Redner im Deutschen Bundestag hält ein Herr Cronenberg seine erste Rede. Ich habe mich gewundert: Es kann doch nicht sein, dass das seine erste Rede ist. Aber es gab einen anderen Herrn Cronenberg, der hier unter anderem als Vizepräsident gewirkt hat: Ihr Vater. – Herzlich willkommen zu Ihrer ersten Rede, Carl-Julius Cronenberg für die FDP-Fraktion.
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Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor einigen Monaten, vielleicht im Oktober, sagte meine Frau: Sieh zu, dass du in der Sitzungswoche so richtig reinhaust! Dann hast du vielleicht in der sitzungsfreien Woche etwas mehr Zeit für die Familie.
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Sie ahnen schon die Schwierigkeit: Wenn ich in vorauseilendem Gehorsam den Vorschlägen der Linksfraktion nachkommen würde, könnte ich wohl weder den Erwartungen des Fraktionsvorstandes noch denen des Haushaltsvorstandes gerecht werden.
({1})
Gutgemeinte Gesetze können auch in die Fremdbestimmung führen, nämlich genau dann, wenn sie an der Lebenswirklichkeit der Menschen vorbei geschrieben werden, meine Damen und Herren.
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– Es geht nicht um mich; ich weiß.
Die Antragsteller beklagen, Flexibilisierung sei eine Einbahnstraße zulasten der Beschäftigten. Das sehe ich anders. Ich frage Sie: Wie soll sich denn ein junger Vater mehr Zeit für die Familie nehmen, wenn er nicht flexibel arbeiten kann? Warum soll er nicht am Montag früher gehen und das Kind aus der Kita abholen oder am Dienstag länger arbeiten?
Flexibilisierung führt nicht in die Fremdbestimmung, sondern zu mehr Eigenverantwortung. Und das ist die Voraussetzung für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
({3})
Zur Lebenswirklichkeit der meisten Beschäftigten gehört auch die Tarifbindung. Starke Tarifpartner brauchen Tarifautonomie und Vertragsfreiheit, besonders in Fragen der Arbeitszeitgestaltung. Sie sind schon darauf eingegangen: In diesen Tagen wird in der Metallindustrie heftig um moderne Arbeitszeitmodelle gerungen. Glauben Sie mir: Die Fachleute wissen besser als wir, was in ihrer jeweiligen Branche wirtschaftlich sinnvoll und sozial vertretbar ist.
({4})
Wenn Sie also jetzt eine pauschale Arbeitszeitverkürzung begrüßen, dann ist das nicht nur ein Angriff auf die Tarifautonomie, sondern es widerspricht auch dem Bedürfnis von Millionen von Beschäftigten, die mehr arbeiten möchten, aber in Ihrem Antragstext nicht erwähnt werden.
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Angesichts von Vollbeschäftigung in vielen Branchen und Regionen hätte die Überschrift Ihres Antrags also auch lauten können: „Acht Jahre Aufschwung und Jobwunder sind genug“.
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Des Weiteren fordern Sie eine kleinteilige verschärfte Dokumentationspflicht, wollen also ein neues Bürokratiemonster erschaffen. Ich sage Ihnen: Diese Forderung geht völlig an der Wirklichkeit einer Arbeitswelt 4.0 vorbei. Für uns Freie Demokraten besteht die Aufgabe darin, hier die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen, Chancen und Geschäftsmodelle zu ermöglichen sowie Missbrauch effektiv zu bekämpfen. Innovative Lösungen und Instrumente sind besser als die Rückkehr zur Stechuhr des vergangenen Jahrhunderts.
({7})
Bevor ich zum Schluss komme, erlauben Sie mir eine persönliche Bemerkung. Ich bin Familienunternehmer in zehnter Generation und nicht, wie der Antragstext suggeriert, ein Lohnräuber. Frau Krellmann, Sie sind herzlich willkommen, uns auf dem Sophienhammer im Sauerland zu besuchen sowie mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu sprechen. Aber bitte verzichten Sie auf diese Rhetorik!
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Sie verunglimpfen nicht nur Hunderttausende kleine und mittlere Unternehmer, sondern auch Millionen angestellte Leistungsträger in unserer Gesellschaft. Auf diese Weise säen Sie Misstrauen und ernten Spaltung, und das in Zeiten, in denen gesellschaftlicher Zusammenhalt wichtig ist.
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Die Freien Demokraten begrüßen die Initiative, die Arbeitszeit als Thema auf die politische Agenda zu setzen. Im Unterschied zu den Instrumenten aus der sozialen Mottenkiste plädieren wir für ein Modell, das zur Lebenswirklichkeit der Menschen von heute und morgen passt: weniger Bürokratie, mehr Eigenverantwortung, passende Rahmenbedingungen für eine Arbeitswelt 4.0. Ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuss.
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Vielen Dank, Carl-Julius Cronenberg. – Nächste Rednerin: Beate Müller-Gemmeke für Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Das Verhältnis zwischen Arbeitszeit und freier Zeit treibt die Menschen um, insbesondere junge Menschen. Dabei geht es um die Zeit, in der die Menschen zur Ruhe kommen, in der sie Sport treiben oder sich ehrenamtlich engagieren. Die Menschen müssen auch putzen, einkaufen, kochen und schlafen. Sie brauchen vor allem Zeit für ihre Kinder, Freunde oder Eltern. Das alles macht ein gutes Leben aus. Notwendig ist deshalb eine gute Balance; denn Arbeitszeit ist Lebenszeit.
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Gleichzeitig geht es auch um die Arbeitszeit im engeren Sinn, und auch hier besteht Handlungsbedarf. Nach einer Studie der BAuA wollen 55 Prozent der Beschäftigten ihre Arbeitszeit verkürzen, und 35 Prozent wollen sie verlängern. Andere sind mit dem Zeitumfang zufrieden, wünschen sich aber beweglichere Arbeitszeiten. Die Bedürfnisse verändern sich auch noch im Lebensverlauf. Wer Kinder bekommt, will anders arbeiten als beim Einstieg in das Berufsleben. Frauen wollen nicht mehr auf dem beruflichen Abstellgleis landen, wenn sie Kinder bekommen. Viele junge Männer wollen nicht mehr nur Feierabend- und Wochenendväter sein, sondern sich gleichberechtigt um die Kinder kümmern. Was wir also benötigen, sind beweglichere Arbeitszeiten, damit Arbeit besser ins Leben passt.
({1})
So sehen wir Grüne die Lage rund um die Arbeitszeit. Lese ich den Antrag der Linken, dann stelle ich fest, dass wir stellenweise wohl das Gleiche meinen. Aber es hört sich ganz anders an. Dementsprechend haben wir unterschiedliche Herangehensweisen und andere Konzepte. Bei uns stehen die Beschäftigten im Mittelpunkt. Es geht uns um ihre Wünsche und ihre Vorstellungen, wie sie arbeiten und leben wollen. Deshalb wollen wir den Beschäftigten mehr Zeitsouveränität ermöglichen.
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Ganz dringend notwendig ist ein Rückkehrrecht auf Vollzeit, und zwar für alle; da sind wir uns einig. Es muss Schluss sein mit der Formel „einmal Teilzeit, immer Teilzeit“. Das ist frauenpolitisch extrem wichtig. Vor allem aber sollen die Beschäftigten mehr Einfluss nehmen können auf die Gestaltung ihrer Arbeitszeit, und zwar ganz konkret auf den Umfang, die Lage und den Ort. Hier wollen wir die Rechte der Beschäftigten stärken. Entsprechende Forderungen fehlen in dem vorliegenden Antrag leider komplett. Solche Rechte sind aber wichtig; denn nur so entsteht tatsächlich mehr Lebensqualität.
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Stattdessen fordert Die Linke, dass die Höchstarbeitszeit auf 40 Stunden abgesenkt wird. Beispielsweise bei prekärer Beschäftigung oder beim Arbeitsschutz muss der Gesetzgeber klare Grenzen ziehen – das ist selbstverständlich –; aber bei der Arbeitszeit geht es um einen Ordnungsrahmen. Die Ausgestaltung ist dann Sache der Sozialpartner; das zeigt ja die IG Metall momentan wunderbar. Insofern lehnen auch wir Grünen diese Forderung ab. Das passt auch zu unserer eigenen Forderung; denn wir wollen die Zeitsouveränität für die Beschäftigten erhöhen. Das funktioniert eben nicht in einem engen und starren Rahmen.
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Natürlich brauchen die Beschäftigten Schutz; aber er ist gegeben, weil neben der wöchentlichen auch noch die tägliche Höchstarbeitszeit, die Ruhezeiten und auch die Sonntagsruhe im Arbeitszeitgesetz geregelt sind. Das muss auch so bleiben.
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Das sage ich in Richtung SPD im Hinblick auf die Koalitionsverhandlungen.
Wir wollen die Beschäftigten nicht einschränken, sondern ihnen passende Lösungen bei der Arbeitszeit ermöglichen; denn, wie gesagt, Arbeitszeit ist Lebenszeit. Alles Weitere – für mehr reicht die Zeit jetzt einfach nicht – diskutieren wir dann im Ausschuss. Ich bin mir sicher: Es wird spannend.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank, Beate Müller-Gemmeke. – Das Wort hat jetzt zu seiner ersten Rede im Bundestag der fraktionslose Kollege Mario Mieruch.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! In Zeiten von Vollbeschäftigung stellt sich die Frage, auf wen wir die Arbeit überhaupt verteilen wollen und woher die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer überhaupt ihre entsprechende Qualifikation nehmen.
In einer globalisierten und sich digitalisierenden Welt bleibt es schlicht und ergreifend ein Trugschluss, zu glauben, es sei möglich, den Menschen zu suggerieren, mit immer weniger Arbeit könne man den Wohlstand des Einzelnen mehren. Statt noch mehr Verwaltung brauchen wir wieder den Geist des Unternehmertums und ein Umfeld, in dem innovative Entrepreneure ihre Ideen ausleben können, in dem sie ohne staatliche Gängelung einfach einmal etwas machen können – „einfach machen“ als Stichwort. Dazu braucht es Steuerreformen, Steuersenkungen und die heute schon mehrfach angesprochene Arbeitszeitflexibilität.
Unternehmensgründungen wie Microsoft, Google, PayPal, Uber usw. wären in Deutschland niemals möglich gewesen. Diese Unternehmen können sich vor Bewerbungen aktuell gar nicht retten. Sie haben von ganz allein innovative Arbeitskonzepte gefunden. Zum Beispiel ist bei Google eine Viertagewoche völlig normal. Am fünften Tag hat jeder Arbeitnehmer dort die Möglichkeit, sich mit einem Projekt ganz nach seiner Wahl zu befassen. Das ist innovativ.
Die Umsetzung des vorliegenden Antrages würde am Ende die Leistungswilligen beschneiden. „Leistungswille“ ist das Stichwort: Leistungswille ist etwas, was wir als Wert in der Gesellschaft wieder verankern sollten, um bei dem sich stetig entwickelnden und verstärkenden Wettbewerb in dieser Welt mithalten zu können.
Vielen Dank.
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Danke schön. – Nächste Rednerin in der Debatte: Jana Schimke für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegin Krellmann, Sie haben Ihren Redebeitrag mit den Worten begonnen, dass der Ausbeutung im Arbeitsleben heutzutage Tür und Tor geöffnet sind. Ich frage mich manchmal: Was würden Sie eigentlich ohne Ihre Kampfrhetorik und die alten Feindbilder machen?
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Arbeitswirklichkeit, die Arbeitswelt von heute, ist in der Tat eine andere. Wenn man in eine Firma geht – es ist völlig egal, wie viele Beschäftigte dort tätig sind; sagen wir mal 200 –, dann sagt der Chef häufig, dass es dort auch 200 Arbeitszeitmodelle gibt. Flexible Arbeitszeitformen sind heutzutage auch auf unserem Arbeitsmarkt Realität. Da gibt es Teilzeit, individuelle Arbeitszeiten, Gleitzeit, Vertrauensarbeitszeit, mobiles Arbeiten, Jahres- und Lebensarbeitszeitkonten, Jobsharing usw. Damit beschäftigen sich inzwischen zahlreiche Studien. Es bestätigt einmal mehr, wie vielfältig unsere deutsche Wirtschaft ist.
Fakt ist: Unternehmen, die heute die Wünsche der Mitarbeiter nicht erfüllen, sind für die Beschäftigten auch nicht mehr attraktiv. Arbeitgeber sind deswegen – so ist meine persönliche Einschätzung; das erlebe ich immer wieder, wenn ich vor Ort unterwegs bin – noch nie so stark wie heute auf die Bedürfnisse ihrer Mitarbeiter eingegangen.
Natürlich gibt es dafür Gründe. Der Fachkräftemangel ist ein zentraler Grund. Es fehlen schlichtweg Beschäftigte. Man lässt sich unglaubliche Dinge einfallen, um Mitarbeiter zu gewinnen und auch zu halten. Arbeitnehmer und Arbeitgeber begegnen sich – auch das ist ein Kennzeichen der heutigen Zeit – auf Augenhöhe.
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Wir haben nicht mehr den unmündigen Arbeitnehmer. Das ist Quatsch. Das gab es früher mal. Das ist heute nicht mehr der Fall, zumindest nicht im größten Teil der deutschen Wirtschaft, liebe Frau Krellmann. Nicht umsonst sprechen viele Wissenschaftler inzwischen vom sogenannten Arbeitnehmermarkt. Der Arbeitnehmer gibt immer mehr den Ton an und bestimmt, in welche Richtung es geht.
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Ein weiterer Punkt – er ist heute auch schon mehrfach angesprochen worden – ist die Digitalisierung: Liebe Frau Krellmann, Smartphone und Tablet – das dürfte auch an Ihnen nicht vorbeigegangen sein – schaffen ein völlig anderes Arbeiten. Wir arbeiten heute nicht mehr nine to five; nein, wir arbeiten mobil, wir sind unterwegs.
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Arbeit verändert sich und wird auch neu. Beschäftigte wollten kein starres Arbeitszeitkorsett mehr. Das ist schlichtweg nicht mehr gewollt. Schauen Sie sich die neuen Branchen an, die digitale Branche mit ihren Berufen! Die wollen das alles nicht mehr. Die wollen Freiheit haben.
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Das ist das, worauf wir politisch antworten müssen.
Flexibles Arbeiten – das ist ebenfalls eine ganz interessante Erkenntnis, liebe Frau Krellmann – erhöht auch die Arbeitszufriedenheit. Warum? Weil wir Beruf und Familie besser miteinander vereinbaren können,
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weil wir dann alles auch mit dem Ehrenamt besser unter einen Hut bekommen! Wir wollen doch, dass die Menschen in ihrem Leben neben der Arbeit noch andere Dinge tun. Davon profitiert auch die Firma. Deswegen: Flexibles Arbeiten kann somit dem Stressabbau dienen; na selbstverständlich. Warum soll man den Menschen nicht die Freiheit lassen?
Sie fordern in Ihrem Antrag, zum Beispiel die 48-Stunden-Woche, die gesetzlich erlaubt ist, auf eine 40-Stunden-Woche zu reduzieren.
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Das ist eine völlig rückständige Forderung, weil sie keine Antworten auf die Fragen der Zukunft gibt.
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Sie propagieren einen Schutz, der keiner ist, weil Ihre Forderungen immer zulasten von Flexibilität gehen; sie gehen zulasten von Selbstbestimmung und natürlich auch zulasten von betrieblichen Erfordernissen. Die Auftragsbücher der Firmen sind voll. Die Firmen wissen nicht mehr, wie sie ihre Aufträge abgearbeitet bekommen. Das ist möglicherweise auch ein Grund für die hohe Zahl von Überstunden; das will ich gar nicht ausschließen. Darauf müssen wir Antworten geben. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, wollen Sie damit auch die Sechstagewoche abschaffen, von der das Arbeitszeitgesetz derzeit noch ausgeht. Im Grunde genommen schaffen Sie Kurzarbeit durch wirtschaftlichen Abschwung.
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Das ist etwas, was wir nicht verantworten können.
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Ein weiterer Punkt: Recht auf Nichterreichbarkeit. Da fragt man sich schon: Wo leben Sie eigentlich? Das ist ein alter Reflex gegen eine moderne Arbeitszeitpolitik. Flexibilität und Arbeitsschutz müssen sich nicht ausschließen; im Gegenteil.
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Wie ist die betriebliche Realität heutzutage? Nicht nur mitunter, sondern sogar sehr oft sind es die Arbeitgeber, die ihre Arbeitnehmer explizit darauf hinweisen – darauf weisen auch wir im Deutschen Bundestag unsere Mitarbeiter hin –, am Wochenende auch mal Wochenende sein zu lassen. Das gehört für einen guten Arbeitgeber einfach dazu. Immer mehr Firmen berichten mir davon, dass das auch Gegenstand von Betriebsvereinbarungen und natürlich ein ganz zentraler Bestandteil der Unternehmenskultur ist. Das muss man einfach mal anerkennen.
Dokumentationspflichten möchten Sie auch ausweiten. Sie wollen, auf Deutsch gesagt, die Stechuhr wieder einführen. Sie wollen die Vertrauensarbeitszeit damit abschaffen. 50 Prozent der Betriebe in Deutschland bieten Vertrauensarbeitszeit an.
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Wenn Sie Dokumentationspflichten in dieser Form einführen, dann schaffen Sie solch ein Arbeitszeitmodell faktisch ab. Genauso schaffen Sie dann auch Arbeitszeitkonten ab. Immerhin 20 Prozent der Betriebe bieten das an. Das ist damit nach meiner Lesart nicht mehr möglich.
Last, but not least: Was bedeutet eine Mindeststundenzahl von 22 Stunden in der Woche? Dass man letztendlich keine passende Stellenausschreibung mehr machen kann, wenn zum Beispiel ein Kollege oder eine Kollegin in Elternzeit ist und Teilzeit arbeitet. Es ist dann nicht mehr möglich, es irgendwie hinzubekommen, dass die Arbeit erbracht wird. Das ist auch ein Vorschlag, der zu einem Großteil den individuellen Wünschen von Beschäftigten, von Arbeitnehmern, von Arbeitsuchenden widerspricht.
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90 Prozent der Arbeitnehmer in Deutschland wünschen sich Flexibilität am Arbeitsplatz, und das ist damit dann letztendlich nicht mehr möglich.
Meine Damen und Herren, was wir brauchen, ist nicht mehr, sondern weniger Regulierung. Wir müssen uns überlegen: Wie gehen wir künftig, auch mit Blick auf Digitalisierung, mit den Ruhezeiten um? Wir brauchen nicht mehr eine Tageshöchstarbeitszeit, sondern eine Wochenarbeitszeit, um auch diesen Anforderungen gerecht werden zu können.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Kollegin Schimke. – Letzte Rednerin in der Debatte: Gabriele Hiller-Ohm für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eines ist doch völlig klar: Das Arbeitszeitgesetz hat sich bewährt. Wir haben den Achtstundentag, Sonn- und Feiertagsruhe, Pausen und Ruhezeiten, weitgehende Mitbestimmungsrechte der Personalräte, und wir haben für Jugendliche ein gesondertes Jugendarbeitsschutzgesetz. Dafür, liebe Genossen
({0})
– liebe Kolleginnen und Kollegen –, hat die SPD gekämpft.
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Ja, das war jetzt noch einmal eine direkte Ansprache an Ihre Genossinnen und Genossen aus der SPD.
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Ich glaube nicht, dass alle anderen sich angesprochen gefühlt haben.
Da habe ich doch gleich die Brücke zur SPD geschlagen; denn wir haben über Jahrzehnte und Jahrhunderte dafür gekämpft, dass es ein gutes Arbeitszeitgesetz gibt – gemeinsam mit den Gewerkschaften.
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Die Gesetze, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, sind sicherlich nicht in Stein gemeißelt, und es ist richtig, sich Gedanken über die Verteilung von Arbeit bei zunehmender Rationalisierung durch den Einsatz von Technik zu machen. Ihre Forderung, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, die Wochenarbeitszeit von 48 Stunden auf 40 Stunden zu verringern, lehnen wir jedoch ab. So weit gehen ja noch nicht einmal die Gewerkschaften.
Ich frage Sie: Ist es nicht viel sinnvoller, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer stärker über ihre Arbeitszeit mitbestimmen können? Es gibt Phasen im Leben, da muss oder möchte man mehr arbeiten, und dann gibt es wiederum Zeiten, da muss oder möchte man weniger arbeiten. Unsere Antworten darauf sind zum Beispiel Langzeitkonten, auf denen man Zeit ansparen kann, oder eine moderne Familienarbeitszeit, die Familien hilft, Kinder oder pflegebedürftige Angehörige und Beruf unter einen Hut zu bringen. Väter und Mütter sollen demnach ihre Arbeitszeit verkürzen können und dafür einen finanziellen Ausgleich erhalten. Das ist doch prima.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Arbeitszeitgesetz bietet einen fairen Ausgleich zwischen den Interessen der Beschäftigten und der Arbeitgeber. Daran sollten wir nicht rütteln.
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Der Schuss kann nämlich sehr schnell nach hinten losgehen, und ich sage: Vorsicht an der Bahnsteigkante! Als Tourismuspolitikerin bin ich seit Jahren mit einer völlig gegenteiligen Forderung konfrontiert: CDU/CSU und FDP wollen gemeinsam mit dem Hotel- und Gaststättenverband nicht weniger Arbeitszeit, nein, sie wollen das Gegenteil, nämlich mehr. So sollen die Arbeitszeiten in der Gastronomie auf bis zu 78 Wochenstunden ausgeweitet und das Jugendarbeitsschutzgesetz aufgeweicht werden.
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Hier, liebe Kolleginnen und Kollegen, sagen wir: Stopp!
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Das Arbeitszeitgesetz bietet in seiner heutigen Form schon sehr viel Flexibilität und darf nicht zulasten der Beschäftigten und ihrer Gesundheit angegriffen werden. Eine Reduzierung der Wochenarbeitszeit, wie sie Die Linke fordert, wäre allerdings ebenso kontraproduktiv wie eine Ausweitung; denn eine Reduzierung würde die Schwarzarbeit gerade in Saisonbetrieben in die Höhe schießen lassen. Ich komme von der Küste und weiß, wovon ich rede.
Es ist also gut, dass wir ein Arbeitszeitgesetz haben, das sowohl die Interessen von Beschäftigten als auch von Arbeitgebern gleichermaßen berücksichtigt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, mit einer Ihrer Forderungen sprechen Sie mir jedoch voll aus dem Herzen: Ja, wir brauchen dringend ein Rückkehrrecht von Teilzeit auf Vollzeit!
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Auch ich musste als alleinerziehende Mutter meine Arbeitszeit von Vollzeit auf Teilzeit reduzieren. Es war ein echter Kraftakt und nur dem Wohlwollen meines damaligen Chefs zu verdanken, wieder auf Vollzeit zu kommen und so die Existenzgrundlage meiner kleinen Familie zu sichern. Das möchten wir den vielen Frauen, die in eine Teilzeitfalle geraten könnten, ersparen. Sie sollen einen Rechtsanspruch auf Rückkehr in die alte Arbeitszeit erhalten. Dafür kämpfen wir, und wir hoffen da natürlich auch auf die Unterstützung der Linksfraktion.
Auch bei Ihrer Forderung auf ein Recht auf Nichterreichbarkeit haben Sie uns an Ihrer Seite. Hier sollten wir allerdings auch ein deutliches Signal gegen die Auswüchse bei der Arbeit auf Abruf setzen.
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Ihre Redezeit, Frau Kollegin.
Was hier zum Teil mit den Beschäftigten passiert, ist vollkommen inakzeptabel. Darüber finden wir in Ihrem Antrag leider nichts. Aber das kann sich ja noch ändern.
Danke, dass Sie mir die Minute noch gegeben haben.
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Alles klar, Frau Genossin. Vielen herzlichen Dank, liebe Gabriele Hiller-Ohm. – Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/578 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die fast schon rhetorische Frage: Sind Sie damit einverstanden? – Ja, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. – Jetzt bitte ich, mögliche Sitzplatzwechsel schnell vorzunehmen.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Derzeit werden auf europäischer Ebene neue Weichen für die Zukunft des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, dem GEAS, gestellt. Dabei geht es um nichts Geringeres als um die Frage, ob wir künftig in unserer Europäischen Union an einem individuellen Recht auf Asyl festhalten wollen oder ob wir den Flüchtlingsschutz und unsere Verantwortung vor die Tore Europas verlagern wollen.
Die bisherige Möglichkeit des Selbsteintrittsrechts beispielsweise erlaubt uns, das Asylverfahren eines Schutzsuchenden in Deutschland durchzuführen, der beispielsweise über Ungarn eingereist ist und somit eigentlich in ungarischer Zuständigkeit läge.
Die neue Regelung besagt, dass wir ihn zurückschicken müssen, obwohl – das zeigt die Absurdität dieser Regelung – Ungarn schon jetzt regelmäßig das Ersuchen der Bundesregierung ablehnt, Schutzsuchende zurückzunehmen und ihr Asylverfahren durchzuführen. Was passiert also mit diesen Menschen? Ungarn nimmt sie nicht auf, und wir führen kein Asylverfahren durch. Meine Damen und Herren, das ist abseits jeder Realität und wird weitere Härtefälle provozieren.
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Wir Grünen – das wird niemanden überraschen – wollen, dass das Selbsteintrittsrecht, das einen humanitären Charakter hat, erhalten bleibt.
Nach den aktuellen Vorschlägen des EU-Rats und der Kommission soll der Flüchtlingsschutz verstärkt auf Drittstaaten außerhalb der Europäischen Union verlagert werden; das habe ich schon angesprochen. Dafür soll das Konzept der sogenannten sicheren Drittstaaten ausgeweitet werden. Konkret bedeutet das: Sämtliche Asylanträge von Schutzsuchenden sollen – ohne Ausnahme – nach der neuen Asylverfahrensverordnung als unzulässig abgelehnt werden, wenn diese Menschen aus einem sicheren Drittstaat in die EU einreisen.
Jetzt muss man konsequenterweise fragen: Wer ist mit diesen Drittstaaten gemeint? Gemeint ist zum Beispiel die Türkei. Ich erinnere nur daran, wie viel wir hier im Deutschen Bundestag über die Rechtsstaatlichkeit in der Türkei sowie über die Verfolgung von Menschen in der Türkei gesprochen haben. Zuzulassen, dieses Land auf europäischer Ebene als sicher einzustufen, damit wir hier in Deutschland weniger Geflüchtete haben, finde ich den falschen Weg. Es ist auch außenpolitisch fragwürdig.
({1})
Ebenso – man muss es wirklich mehrfach lesen; perfider geht es eigentlich gar nicht mehr – können künftig Länder, die ein Flüchtlingslager haben, in dem Menschen Schutz suchen können, vorübergehend als sicher eingestuft werden, weil es diese Lager gibt. Also: sichere Gebiete in unsicheren Staaten gleich sicherer Drittstaat. Das ist die Politik, die die Europäische Union hier vornehmen möchte – im Übrigen nicht aufoktroyiert von Brüssel, sondern explizit auf Wunsch und mit Unterstützung der Bundesregierung.
Im Hinblick auf die Informationsrechte und auf das, was wir hier zum Thema Europa und europäische Flüchtlingspolitik diskutiert haben, muss man noch einen Gedanken dazu loswerden. Denn: Was derzeit in Europa verhandelt wird – ob es nun der Innenminister ist, der mit seinem französischen Amtskollegen neue Vorschläge für eine Verteilungspolitik in Europa macht, oder anderes –, sind immer Dinge, die wir als Opposition fast schon investigativ suchen müssen. Wir müssen nachfragen. Wir werden nie informiert, obwohl es unser Recht als Parlament und auch die Verpflichtung der Bundesregierung ist. So macht man auf jeden Fall keine solidarische Europapolitik, meine Damen und Herren.
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Aber zurück zu den sicheren Drittstaaten. Länder wie Libyen könnten nach der jetzt angedachten Regelung künftig ein sicherer Drittstaat werden. Da muss man schon sagen: Diese Logik ist nicht nur skurril, sondern sie ist auch irgendwie perfide. Diese Vorschläge sind im Übrigen auch nicht mit unserem Grundgesetz vereinbar; denn nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts darf ein Staat nur zum sicheren Drittstaat erklärt werden, wenn er die Genfer Flüchtlingskonvention uneingeschränkt ratifiziert hat und sie ausnahmslos gegenüber allen Flüchtlingsgruppen umsetzt. Das ist bei der Türkei mitnichten der Fall.
Hierzu noch ein weiterer Gedanke. Auch die Kanzlerin hat im August des vergangenen Jahres bei einer Pressekonferenz mit dem UNHCR und der IOM, also den Organisationen, die für die Flüchtlingsaufnahme und -registrierung zuständig sind, gesagt:
Wir haben lernen müssen …, dass das
– das Dubliner Übereinkommen –
nicht die Lösung des Problems ist und dass wir deshalb eine Veränderung des Dublin-Verfahrens brauchen.
Das ist eigentlich alles richtig, was sie gesagt hat. Nur: Die GEAS-Reform, die wir jetzt hier diskutieren, wird diesem Problem nicht gerecht. Sie verschärft Dublin, sie manifestiert dieses System. Wenn wir uns die Situation von 2015 anschauen und der Argumentation folgen, dass sich so etwas nicht wiederholen darf, dann kann man nur sagen, dass die jetzige Reform eigentlich die Schwächen des Systems weiter auf die Spitze treibt und es überhaupt nicht krisenfest macht. Wenn sich das Jahr 2015 wiederholt, wiederholen sich daher auch die Probleme, und zwar vor allen Dingen zulasten der Schutzsuchenden. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, sich diesen Reformen entgegenzustellen und ihren Einfluss an dieser Stelle geltend zu machen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Luise Amtsberg. – Nächster Redner: der Parlamentarische Staatssekretär – er ist schon angesprochen worden – Dr. Ole Schröder.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Neuordnung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems ist eine Kernaufgabe auf europäischer Ebene. Gerade für Deutschland hat diese Reform allergrößte Bedeutung.
Die vergangenen Jahre haben gezeigt: Das bisherige Asylsystem Europas ist zu bürokratisch und damit nicht ausreichend belastbar. Einige Mitgliedstaaten sind extrem von Migration nach Europa betroffen. Das gilt insbesondere für Zielländer wie Deutschland und Schweden. Das muss endlich auch Berücksichtigung finden. Wir brauchen daher ein krisenfestes, verlässliches und faires System, das Ungleichgewichte vermeidet. Gemeinsame Standards bei den Verfahren und der Versorgung von Asylbewerbern sind dafür die Grundvoraussetzung. Diese Standards müssen aber auch praxistauglich sein und einheitlich umgesetzt werden. Nur so verhindern wir Asylhopping in die Mitgliedstaaten mit besonders attraktiven Sozialsystemen.
Meine Damen und Herren, worum geht es konkret in dem Antrag? Der Entwurf der Asylverfahrensverordnung enthält Vorschläge zu den Konzepten sicherer Staaten. Wichtig ist mir dabei: Das geltende EU-Asylsystem ermöglicht schon heute die Einstufung von Staaten als sichere Herkunftsstaaten, sichere Drittstaaten und sogenannte erste Asylstaaten. Diese Instrumente sind extrem relevant, um Asylanträge aus sachfremden Motiven wirksam herauszufiltern. Das Asylsystem kann und darf kein Weg zur Einwanderung aus wirtschaftlichen Motiven sein, meine Damen und Herren.
({0})
Wer anderswo bereits sicher ist, braucht keinen Schutz in der EU bzw. in Deutschland. Kurz gesagt: Mit den Einstufungen schützen wir den Schutz. Das Asylrecht ist nicht das richtige Instrument, um die vielen wirtschaftlichen und sozialen Probleme in den Herkunftsländern aufzufangen. Drei Dinge sind dabei wichtig.
Erstens. Deutschland hat gute Erfahrungen mit der Einstufung von Staaten als sichere Herkunftsstaaten gemacht. So hat sich beispielsweise die Zahl der Asylbewerber aus den sicheren Westbalkanstaaten nach der Einstufung erheblich reduziert. Deshalb ist es dringend notwendig, dass wir auch die Maghreb-Staaten zu sicheren Herkunftsstaaten machen, meine Damen und Herren.
({1})
Zweitens. Die Einstufung sicherer Staaten beschleunigt die Verfahren. Sie ist somit ein wichtiger Baustein, um Asylmissbrauch zu bekämpfen und nicht Schutzberechtigte zügig zurückführen zu können.
Drittens. Ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem kann und wird kein hundertprozentiges Abbild des deutschen Asylverfahrens sein. Wir sollten uns im Zuge der europäischen Verhandlungen auch für praxistaugliche Vorschläge aus anderen Mitgliedstaaten öffnen. Die Niederlande oder Luxemburg stufen zum Beispiel bestimmte Herkunftsländer schon heute als partiell sicher ein. Diese Praxis finde ich auch angemessen. Manche Herkunftsländer sind zum Beispiel nur für Männer, nur für Heterosexuelle oder nur in bestimmten Regionen sicher. Es ist daher sinnvoll, dieses Modell auch im neuen Gemeinsamen Europäischen Asylsystem zu verankern, meine Damen und Herren.
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Wie sich die Asylverfahrensverordnung im Zuge der europäischen Verhandlungen entwickeln wird, ist noch offen. Klar ist aber, dass wir eine Einigung brauchen, mit der alle Mitgliedstaaten in der Praxis umgehen können.
Meine Damen und Herren, Leitlinie muss bleiben: Schutzgewährung für die, die wirklich Schutz benötigen, und rasche Beendigung des Aufenthalts bei denen, die aus anderen Motiven kommen.
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Das Asylverfahren ist kein Wunschkonzert; Asylhopping nenne ich absolut inakzeptabel. Es kann nicht sein, dass am Ende nur ganz wenige Mitgliedstaaten alle Asylbewerber aufnehmen müssen. Wenn wir die Sekundärmigration mit diesem neuen Gemeinsamen Europäischen Asylsystem nicht wirksam bekämpfen, dann sind auch alle Gedanken und alle Vorschläge für eine Verteilung innerhalb Europas Makulatur.
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Das Asylverfahren erfordert eine Balance zwischen den schutzwürdigen Interessen der Antragsteller einerseits und natürlich auch den Interessen des Staates andererseits. Diese Balance werden wir gemeinsam mit unseren europäischen Partnern finden und eine entsprechende Regelung auf den Weg bringen.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Dr. Schröder. – Ich habe meine Zustimmung körpersprachlich zum Ausdruck gebracht, weil er die Redezeit auf die Sekunde eingehalten hat. Jetzt liegt die Latte hoch für den nächsten Redner: Dr. Lars Castellucci von der SPD-Fraktion.
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Danke, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst einmal möchte ich den Antragstellern danken, dass sie dieses Thema hier aufgerufen haben, weil es ein wichtiges Thema ist und hier im Moment auf europäischer Ebene sehr viel passiert. Es ist wichtig, dass wir dazu unsere Stimme erheben.
Gleichzeitig habe ich ein gewisses Störgefühl. Das haben die Rednerinnen und Redner der SPD schon heute Morgen angeführt. Wenn wir und mit uns Millionen andere heute Abend wieder die „Tagesschau“ sehen, dann wird es wieder einer dieser Tage sein, an denen die Hauptthemen Geflüchtete und Migration sind. Ich glaube, schon seit einigen Monaten, vielleicht schon seit zwei Jahren fühlen sich viele in unserem Land nicht mehr wahrgenommen und haben das Gefühl, die Politik in Berlin kümmere sich nicht mehr um sie, sondern habe irgendwelche anderen Dinge zu tun. Das halte ich für sehr gefährlich.
({0})
Dem müssen wir hier entgegentreten, indem wir Debatten über die Zukunft unseres Landes führen, die angemessen sind. Die Menschen wollen wissen, ob es wirtschaftlich für dieses Land in eine gute Zukunft geht. Sie wollen wissen, ob und wie die Teilhabe am medizinischen Fortschritt auch in Zukunft gewährleistet ist. Sie wollen wissen, wie es beim Thema Wohnen weitergeht,
({1})
was in einer Nullzinsphase mit den Lebensversicherungen passiert etc. Wir müssen aufpassen, dass wir die Diskussion im Parlament nicht immer so verengen und draußen in Nachrichten der Eindruck erweckt wird, die Menschen würden mehr und mehr abgehängt.
Es gibt Stimmen, die nach weniger Europa rufen. Jetzt wende ich mich an Sie, die AfD, weil wir hier die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems beraten. Meine Damen und Herren, wir haben globale Phänomene. Dazu gehört der Klimawandel, dazu gehört auch die Migration. Dazu gehört auch die wirtschaftliche Entwicklung, der Kapitalismus, der global agiert. Wir müssen dafür sorgen, dass die Politik im Führerhäuschen bleibt. Angesichts dieser globalen Entwicklungen wäre es fatal, wenn wir uns in nationale Schneckenhäuser zurückziehen würden. Wir brauchen gemeinsame Antworten, um mitzuhalten. Wir brauchen diese europäische Zusammenarbeit.
({2})
Wir brauchen aber noch mehr als diese europäische Zusammenarbeit. Wir haben uns in New York im Rahmen der Erarbeitung der globalen Entwicklungsziele vorgenommen, uns weltweit um die Fragen von Migration und einer besseren Steuerung von Migration zu kümmern. Der Global Compact for Migration, der derzeit verhandelt wird, adressiert diese Fragen auch. Es ist nicht nur eine europäische Herausforderung, sondern eine Herausforderung, die sich an die gesamte Staatengemeinschaft der Welt wendet.
Wenn man zusammenarbeitet, kann man dadurch auch schlicht Vorteile haben, weil man gemeinsam stärker ist als alleine. Ich nenne dieses eine Beispiel, das Ihnen auch immer so besonders wichtig ist: 60 000 Menschen sind derzeit in Deutschland, die keinen Aufenthaltsstatus haben und eigentlich zurückgeführt werden müssten. Wir alle kennen die Gründe, warum dies nicht so passiert, wie wir uns das wünschen. Das liegt unter anderem daran, dass die Menschen, die hier nicht anerkannt sind und eigentlich zurückmüssten, von den Ländern, aus denen sie kommen, wieder aufgenommen werden müssten. Unser geschäftsführender Innenminister rennt nun in Nordafrika oder sonst wo herum und versucht, mit den einzelnen Ländern Verabredungen zu treffen, damit das mit den Rückführungen besser funktioniert. Ich bin der Meinung: Wenn Europa an dieser Stelle geschlossen auftritt, dann können wir auch mehr Druck ausüben und bei diesen Verhandlungen mehr erreichen. Europäische Zusammenarbeit in der Asylpolitik ist dringend notwendig und muss intensiviert werden.
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Durch eine Zusammenarbeit hätte man vielleicht die Chance, zu besseren Lösungen zu kommen. Aber an dieser Stelle ist Europa in den letzten Jahren leider ausgestiegen. Das müssen wir verändern. Wir müssen es hinbekommen, dass Europa endlich wieder liefert. Der neue österreichische Bundeskanzler hat sich in der „Bild am Sonntag“ an wen auch immer gewandt und dort gesagt, man könne den Staaten Europas nicht aufzwingen, Geflüchtete aufzunehmen.
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Wir haben aber Verträge geschlossen, und in den Verträgen steht, dass wir in Europa solidarisch miteinander umgehen wollen, dass wir eine gemeinsame europäische Asylpolitik und sogar eine gemeinsame europäische Einwanderungspolitik gestalten wollen. Es kann also für die Staaten in Europa nicht darum gehen, ob wir bei diesen Fragen zusammenarbeiten, sondern höchstens darum, wie wir zusammenarbeiten.
Ich möchte einen Vorschlag unterbreiten, der vielleicht dabei helfen könnte, bei dieser Blockade in den nächsten Monaten zu Lösungen zu kommen: Die Bedingungen sind unterschiedlich, und diesen unterschiedlichen Bedingungen in den Ländern Europas müssen wir stärker Rechnung tragen. Länder, die sich bereits an Einwanderung gewöhnt haben, haben eine andere Ausgangssituation als Länder, die sich an Zuwanderung und Einwanderung noch nicht gewöhnt haben.
Als mein Vater in den 60er-Jahren aus Italien kam, hat hier auch niemand auf ihn gewartet – außer seiner Frau. Mittlerweile sind Italiener, glaube ich, okay.
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Es hat aber Zeit gebraucht. Integration braucht Zeit. Integrationsbereitschaft muss wachsen können. Ich würde die osteuropäischen Länder gerne mitnehmen, damit sie langsam anfangen, sich an globale Phänomene zu gewöhnen, nachdem sie über Jahrzehnte hinter dem Eisernen Vorhang verbarrikadiert waren.
Wir sollten zu einer Arbeitsteilung in Europa kommen. So wie wir im Parlament Arbeitsteilung haben und es in der Schule Lehrer für unterschiedliche Fächer gibt, so sollte es auch in Europa Arbeitsteilung geben. Nicht alle sollten immer das Gleiche machen.
Ein Beispiel: Derzeit heißt es: Wir müssen die Grenzen gemeinsam schützen und bekommen dafür Listen, die besagen, wie viele Beamte jedes Land gemessen an seiner Bevölkerungszahl schicken muss. – Das Gleiche gilt, wenn wir den Griechen bei den Asylverfahren helfen wollen. Das Gesamtpaket Migration sollte aber bedeuten, dass wir schauen, wo die jeweiligen Stärken liegen und wo die Bereitschaft vorhanden ist, in Europa mitzuwirken. Wir sollten uns gemeinsam ehrgeizige Ziele setzen und an diesen Zielen gemeinsam arbeiten, aber eben nicht so, dass immer alle alles – wenn auch nach ihren Kräften – machen müssen, sondern so, dass man dabei auch etwas flexibler ist.
Ich glaube, mit einem arbeitsteiligeren Ansatz in Europa können die, die bereit sind, Geflüchtete nach ihren Kräften aufzunehmen, vorangehen, unabhängig davon, ob andere sagen: Für uns kommt das überhaupt nicht infrage. – Diese Länder will ich dann aber woanders in die Pflicht nehmen. Sie müssen uns etwa beim Grenzschutz und bei anderen Fragen stärker unterstützen, als sie das in der Vergangenheit getan haben.
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Ich komme zu dem konkreten Feld des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems und dazu, was wir dort hinbekommen müssen. Wir brauchen unbedingt in Europa gemeinsame Standards. Wir haben Länder, die 25 Prozent derjenigen, die bei ihnen Anträge erstellen, als Asylberechtigte anerkennen; wir haben Länder, die 75 Prozent anerkennen. Das kann so nicht bleiben. Wir müssen hier zu einheitlichen Verfahren kommen. Das ist ein wichtiges Anliegen des vorliegenden Vorhabens.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung von einem Kollegen der AfD?
Nein, ich komme jetzt ohnehin gleich zum Ende. Danke schön.
Wir müssen die Aufnahmebedingungen verbessern. Es kann nicht so bleiben, dass wir Menschen nach unserer Rechtslage eigentlich zurückführen müssten, aber dann gesagt wird, die Bedingungen in Bulgarien und auch in Italien und Griechenland seien weiterhin so menschenunwürdig, dass die Rückführung gar nicht stattfinden könne.
Ein dritter Punkt ist das, was auf dem Mittelmeer weiterhin passiert. Es gab dort im letzten Jahr 3 000 Tote. Das ist weniger als zuvor. In der Ägäis ist es auch schon besser geworden; aber die zentrale Mittelmeerroute ist weiterhin eine Route, auf der Menschen sterben. Wir sind der Auffassung, dass es hier ein europäisches Seenotrettungsprogramm geben muss, weil die Militäraktionen nicht geeignet sind, dem Anspruch gerecht zu werden, dass Europa im Mittelmeer kein Massengrab verursacht.
Meine Damen und Herren, es ist wichtig, dass wir das Asylsystem weiter europäisieren, dass wir zu gemeinsamen europäischen Verfahren und Aufnahmebedingungen kommen. Wir müssen das so tun, dass es im Einklang mit unseren Werten und den internationalen Verträgen steht, die wir unterzeichnet haben und die Europa ausmachen.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank, Dr. Castellucci. – Nächster Redner für die AfD: Dr. Baumann.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Laut der aktuellen Asylstatistik des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge – nach aktuellen Zahlen vom November 2017 – hat Deutschland immer noch mehr Asylbewerberzugänge als die drei klassischen Einwanderungsländer der Erde – USA, Kanada, Australien – zusammen. Das darf so nicht weitergehen, meine Damen und Herren. Da muss sich jetzt langsam etwas ändern.
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Fast 19 000 Migranten in diesem November, in nur einem Monat, großenteils ohne Pässe und Papiere – das ist immer noch eine für Rechtsstaaten weltgeschichtlich eigentlich einmalige Situation. Jedermann kommt ohne Pass nach Deutschland hinein, aber kaum jemand wieder hinaus. Das gibt es so in anderen Ländern nicht.
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Nicht nur die Kriminalitätsbelastung stimmt nicht mit dem überein, was die Bevölkerung will; auch viele andere Indikatoren stehen auf Krise. Die Mehrheit der Deutschen will das nicht länger so hinnehmen. Sie fordert zu Recht ein Ende dieses gemeingefährlichen Zustands, meine Damen und Herren.
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Von der Kanzlerin und ihrer Regierung kam aber nichts. Von der neuen Regierung wird wieder nichts kommen, außer vielleicht neue Migrantenströme. „Focus“ titelte ja schon zu Recht: „Merkel will Wirtschaftsflüchtlingen aus Afrika legale Wege nach Europa eröffnen“. Die Kanzlerin hat schon entsprechende Vorschläge zu solchen Kontingenten gemacht.
Jetzt kommt ausgerechnet von der EU – wer hätte das gedacht? – ein neuer Vorschlag, der der Realität zumindest ansatzweise ins Auge blickt. Zu dieser Realität gehört nämlich, dass die meisten Staaten südlich Europas zwar keine voll funktionierenden Rechtsstaaten sind, aber die allermeisten Menschen dort natürlich sicher leben. Das eine oder andere Defizit dieser Staaten darf nicht länger Rechtfertigung sein, Millionen Migranten ins deutsche Sozialparadies zu schleusen. Das muss aufhören, meine Damen und Herren. Dafür sorgt der Vorschlag der EU, der auf dem Tisch liegt. Dem sollten Sie zustimmen, nicht dem der Grünen und der Linken.
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Der neue Vorschlag vom Rat der Europäischen Union, den Grüne und Linke in ihren heute vorliegenden Anträgen aggressiv ablehnen, schaut genauer hin. Es gibt nämlich Länder, die den vollen Schutz gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention nicht in allen Regionen bieten können – wie derzeit die Türkei in bestimmten Kurdengebieten –, die aber trotzdem als sicheres Land gelten können, mit Ausnahme ebendieser Gebiete. Genauso gibt es Länder, die einzelnen Gruppen derzeit nicht vollen Schutz bieten können, aber allen Übrigen, der Masse der Bevölkerung, eben schon.
Dann kann auch dieses Land als sicheres Land gelten, mit Ausnahme ebendieser bestimmten Gruppen.
Ein Beispiel ist wieder die Türkei. So wie es regional bestimmte Probleme in den Kurdengebieten gibt, so gibt es derzeit auch für bestimmte Regimegegner Probleme, aber alle anderen Menschen in der Türkei können sicher dort leben. Das gilt in der Türkei auch für Flüchtlinge aus Syrien und anderswo, und um die geht es ja, meine Damen und Herren.
Grüne und Linke wollen die Türkei von der Liste sicherer Staaten nehmen. Das ist doch Unsinn. Leben und Sicherheit sind für die Masse der Menschen dort gesichert. Erkennen Sie das endlich an!
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Die Türkei ist ein typisches Beispiel. Über 30 Millionen Urlauber haben allein 2017 an türkischen Stränden ihre Seele baumeln lassen. Die Türkei ist auch das Lieblingsreiseland unserer Bundestagsvizepräsidentin von den Grünen. Was für die Türkei gilt, kann sehr bald für Syrien und für andere Länder gelten.
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Wir müssen die Flüchtlingspolitik – das müssen auch Sie von den Linken anerkennen – gänzlich modernisieren und entstauben. Sehen Sie der Realität endlich ins Auge, meine Damen und Herren.
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Erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen von Notz?
Bitte.
Herr Kollege Baumann, der Wahlkampf ist schon ein paar Monate vorbei. Wenn man einige Minuten Ihrer Rede zuhört, dann fragt man sich allerdings, ob er wirklich für alle vorbei ist.
Weil Sie gerade so sachkundig auf die Türkei Bezug genommen haben:
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Ist die Türkei Ihrer Meinung nach ein Rechtsstaat, und gelten dort die rechtsstaatlichen Grundsätze, die auch in Deutschland gelten?
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Mit Sicherheit ist die Türkei ein NATO-Land. Sie war lange EU-Beitrittskandidat.
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Die Türkei ist selbstverständlich kein Rechtsstaat wie die anderen Staaten in Nordeuropa, aber sie ist ein Land, in dem die Menschen zum großen Teil sicher leben können; deshalb auch der Vorschlag der EU, sie als sicheres Land anzuerkennen. Mit Ausnahme bestimmter Regionen und bestimmter Gruppen ist die Türkei ein sicheres Land. Das ist meine Antwort, Herr Notz.
({1})
Frau Präsidentin, die Uhr ist weitergelaufen.
Ein linksideologisches Milieu Ewiggestriger von Linken und Grünen bis weit in die SPD und auch in die Merkel-CDU hinein
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steht vernünftigen Lösungen leider im Wege, wie wir gerade an der Zwischenfrage von Herrn Notz gemerkt haben. Bei manchen kann man schon von Einwanderungsfanatismus sprechen. Das darf nicht sein.
({3})
Es ist ein Milieu, das weiterhin offene Grenzen erzwingt, jede Abschiebung verhindern und vernünftige Altersfeststellungen verhindern will. Da sitzen ausgewachsene Männer mit Bart und Anzug in einer Schulklasse mit Zwölfjährigen. Das ist eine Verhöhnung des Rechtsstaates, das ist eine Verhöhnung seiner Würde und Kraft.
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Frau Bundeskanzlerin, verehrte Abgeordnete dieses Hauses, setzen Sie endlich Zeichen flüchtlingspolitischer Vernunft! Lehnen Sie die Anträge von Grünen und Linken ab!
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Selbstverständlich, Herr Kollege Baumann, wurde die Redezeit während der Zwischenfrage angehalten. Wenn Sie es nicht glauben, dann können Sie es gerne kontrollieren. Im Übrigen hat die Frage, wer wohin in den Urlaub fährt, keine Rolle zu spielen. Dass Sie wissen, wo ich am liebsten Urlaub mache, verwundert mich sehr.
({0})
Nächster Redner für die FDP-Fraktion: Konstantin Kuhle.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Während wir dieser Tage und auch heute Morgen über das Thema „Familiennachzug für Bürgerkriegsflüchtlinge“ diskutieren, gibt es in der Europäischen Union, in Brüssel eine Debatte über die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Diese Debatte hat auf das Gesamtgefüge der europäischen und der deutschen Flüchtlingspolitik eine viel größere Auswirkung als die Debatte über den Familiennachzug, die wir heute Morgen geführt haben. Deswegen ist es richtig, dass wir uns anhand der beiden heute vorliegenden Anträge mit dieser Frage befassen; denn eine so weitreichende Diskussion darüber, was ein sicherer Herkunftsstaat, ein sicherer Drittstaat aus der Sicht des Unionsrechts sein kann, sollte nicht im Hinterzimmer, sondern vor den Augen der europäischen Öffentlichkeit geführt werden.
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Was ist der Hintergrund der heutigen Debatte? Die Europäische Union arbeitet an ihren Außengrenzen mit Staaten zusammen, die entweder aus rechtlichen oder aus tatsächlichen Gründen den fliehenden Menschen nicht dasselbe Niveau an Menschenrechtsschutz bieten, wie er nach dem Unionsrecht vorgeschrieben ist. Durch eine Reform – das ist eine Initiative der Ratspräsidentschaft – soll nun festgeschrieben werden, dass es den Mitgliedstaaten erlaubt ist, andere Staaten auch dann als sicher einzustufen, wenn dort abweichende Menschenrechtsstandards erfüllt werden. Dazu sind aus Sicht der FDP-Fraktion drei Anmerkungen zu machen:
Zum einen sollten wir endlich aufhören, die Rechtsregeln, die sich bewährt haben, an die tatsächliche Situation anzupassen, und stattdessen lieber darüber reden, wie wir die tatsächliche Situation an den europäischen Außengrenzen verbessern können. Dabei sollten wir uns an den guten Rechtsregeln, die es gibt, orientieren. Das sind die Europäische Menschenrechtskonvention und die Genfer Flüchtlingskonvention. Diese müssen auch an den europäischen Außengrenzen gelten.
({1})
Denn was ist das für ein Zeichen in der Völkerrechtspolitik, wenn ausgerechnet Europa nicht mehr Vorreiter, nicht mehr Vorbild beim internationalen Menschenrechtsschutz ist, sondern an dieser Stelle abbaut? Das ist ein schlechtes völkerrechtspolitisches Zeichen. Deswegen muss das hier kritisch betrachtet werden.
Zweitens. Ich glaube, dass wir auf der nächsten Stufe eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems nicht mit demselben Problem, mit demselben Fehler starten sollten, mit dem das europäische Asylsystem bereits behaftet ist. Ich meine die unterschiedlichen Niveaus und Standards in den Mitgliedstaaten. Man mag an der einen oder anderen Stelle Kompromisse machen müssen – das ist hier ja schon gesagt worden –; aber wenn man gleich am Anfang wieder unterschiedliche Standards setzt, dann ist das das Gegenteil von einer Harmonisierung der europäischen Flüchtlingspolitik. Das sollte man kritisch betrachten. Deshalb bin ich dankbar dafür, dass hier über diese Initiative debattiert wird.
Die beiden Antragsteller, Grüne und Linke, machen es sich an einer Stelle aber zu einfach; das ist meine dritte Anmerkung. Ich meine die Tatsache, dass wir auch bei der Grenzsicherung auf europäischer Ebene gemeinsam arbeiten müssen. Ich möchte aus dem Bundestagswahlprogramm der Grünen zitieren. Dort heißt es zu Recht: Wir fordern legale Fluchtmöglichkeiten, und wir fordern legale Fluchtwege. – Beides steht auch bei uns und vielen anderen im Programm. Das ist richtig. Nur, wo soll eigentlich darüber entschieden werden, ob eine Flucht legal oder nicht legal ist, ob ein humanitäres Visum erteilt wird oder nicht erteilt wird, wenn das Herkunftsland in Schutt und Asche liegt und man den Menschen nicht den Weg über das Mittelmeer zumuten will? Das muss in Transitländern entschieden werden. Deswegen muss auch über die Menschenrechtssituation in den Transitstaaten ein Dialog geführt werden. Das muss Teil des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems sein.
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Die Linksfraktion legt sogar noch eine Schippe drauf. Sie fordert in ihrem hier vorliegenden Antrag: keine Kooperation mit Ländern wie Türkei und Libyen in der Flüchtlingspolitik.
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Meine Damen und Herren, man kann bei der Seenotrettung, man kann bei den humanitären Visa und man kann beim Grenzschutz alle Meinungen vertreten, die hier vertreten werden; aber zu glauben, dass man irgendetwas davon praktisch umsetzen kann ohne Kooperation mit den Ländern an den europäischen Außengrenzen, das ist nicht nur weltfremd, sondern damit wird man auch den fliehenden Menschen nicht gerecht.
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Deswegen sind wir dafür, diesen Antrag der Linksfraktion abzulehnen und den Antrag der Grünen um die noch fehlenden Aspekte zu ergänzen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Konstantin Kuhle. – Nächste Rednerin: Ulla Jelpke für die Fraktion Die Linke.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Debatte, die zurzeit im Europäischen Parlament über die Asylpolitik läuft, zeigt, dass man im Wesentlichen auf Abschottung und Ausgrenzung setzt. Ich will hier noch einmal daran erinnern: Jahr für Jahr haben wir Tausende Tote auf dem Mittelmeer, und Jahr für Jahr ist versprochen worden, dass es endlich Verbesserungen in der Asylpolitik gibt bzw. dieses Elend endlich beendet wird. Dafür tritt Die Linke ein. Mit dieser Debatte, die in Europa geführt wird, ist man auf diesem Weg meines Erachtens nicht einen Millimeter vorangekommen.
({0})
In der Tat wollen wir mit unserem Antrag darauf aufmerksam machen, worüber hinter verschlossenen Türen gegenwärtig diskutiert wird und was dort beschlossen wird. Dort findet ein regelrechter Wettbewerb der Entrechtung in der Asylpolitik statt. Dafür möchte ich Ihnen gerne drei Beispiele nennen:
Erstes Beispiel: die massive Verschärfung des Dublin-Systems. Wer sein Asylverfahren künftig nicht in dem Land betreibt, das er zuerst betreten hat, soll dauerhaft grundlegende Rechte verlieren. Es drohen zum Beispiel Leistungskürzungen bis unterhalb vom Existenzminimum und eine Aushöhlung von Asylverfahrensrechten durch eine verkürzte Asylprüfung. Vielen Flüchtlingen wird dadurch ein sicherer Schutzstatus versagt werden, nur weil sie sich – meist aus gutem Grund – im falschen Mitgliedstaat der EU aufhalten und einen Antrag stellen. Das ist, jedenfalls für uns, inakzeptabel, meine Damen und Herren.
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Die Linke fordert schon lange ein Modell, nach dem die Schutzsuchenden ihren Antrag in dem Land ihrer Wahl in Europa stellen können;
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denn – ich sage es ganz einfach – für die Integration wäre das super. Erstens werden sie dorthin gehen, wo sie Familienangehörige haben. Zweitens werden sie dorthin gehen, wo sie die Sprache sprechen. Das ist in der Tat integrationsfördernd und würde auch andere EU-Länder wie zum Beispiel Griechenland oder Italien entlasten. Mehr beanspruchte Länder innerhalb der EU sollten dafür einen fairen finanziellen Ausgleich erhalten.
Zweites Beispiel. Selbst Bürgerkriegsländer sollen künftig zu sicheren Drittstaaten erklärt werden können, wenn es dort sichere Gebiete gibt. Ich bitte Sie, meine Damen und Herren: Wir haben hier über anderthalb Jahre eine Debatte über Afghanistan und sogenannte sichere Gebiete geführt. In Kriegsländern gibt es in der Regel keine sicheren Gebiete.
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Und: Wie wollen Sie dort überhaupt Asylverfahren durchführen? Das ist wirklich beschämend, auch vor dem Hintergrund, dass die Genfer Flüchtlingskonvention natürlich Anwendung finden muss. Im Übrigen hat auch das Bundesverfassungsgericht darauf aufmerksam gemacht, dass das keine sicheren Drittstaaten sein können.
Drittes Beispiel – hier komme ich noch einmal auf Herrn Kuhle von der FDP zu sprechen –: Die Zusammenarbeit mit mörderischen und kriminellen Regimen außerhalb Europas soll laut der Debatte innerhalb der EU ausgebaut werden. Schon jetzt ist es so, dass die libysche Küstenwache von der EU finanziert wird.
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Flüchtlinge werden vom Mittelmeer direkt weggefischt, um nach Libyen zurückverbracht zu werden.
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Sie wissen genauso wie ich, dass in Libyen Menschen in unmenschliche Lager verfrachtet werden, dass sie dort gefoltert, verschleppt und sogar als Sklaven verkauft werden. Ich sage Ihnen ganz klar: Diese Art und Weise der Zusammenarbeit ist für uns nicht hinnehmbar.
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Die EU hat hier keine Lösungsschritte unternommen. Im Grunde muss man wirklich sagen: Hier werden tausendfach Menschenrechtsverletzungen begangen. Damit muss endlich Schluss sein.
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Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss.
Ja, ich komme zum Schluss. – Ich möchte noch darauf aufmerksam machen, dass Erdogan gerade in diesem Moment eine miese Schlacht gegen Menschen in Syrien führt, und zwar in Afrin, und das mit deutschen Panzern. Für mich ist dies das beste Beispiel dafür, dass Fluchtursachen auch von diesem Hause und von dieser Regierung selbst geschaffen werden und zu verantworten sind. Hören Sie doch endlich auf, Waffen zu liefern, damit Menschen nicht durch deutsche Waffen bedroht und getötet werden!
({0})
Vielen Dank, Ulla Jelpke. – Als nächster Redner hat zu seiner ersten Rede im Deutschen Bundestag Michael Kuffer für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
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Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegen von den Grünen und den Linken, man kann natürlich, wenn man sich, wie die Kollegen auf der linken Seite des Hauses, auf die Oppositionsbank einstellt und nicht Gefahr läuft, dass man die Dinge, die man vorschlägt, auch in die Praxis umsetzen muss, Schaufensterpolitik betreiben. Man kann, wenn man nichts Genaues weiß, auch spekulieren. Aber Schaufensteranträge auf Spekulationen und Konjunktiven aufzubauen, scheint mir selbst für grüne Verhältnisse ein sehr zeitaufwendiger Luxus zu sein.
Warum sage ich das?
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Die Verhandlungen zur EU-Asylverfahrensordnung, die Sie zum Ausgangspunkt Ihres Antrags machen, befinden sich derzeit auf der Arbeitsebene des Europäischen Rates in der Abstimmung. Es ist völlig gewöhnlich und nicht überraschend, dass hierbei zunächst unterschiedliche Standpunkte in die Diskussion einfließen, die – das gilt nicht für alle – deswegen noch lange nicht das Ergebnis darstellen. Ich rate wirklich dazu, den Verlauf dieser Diskussion erst einmal abzuwarten. Ich bin mir sicher, dass die Bundesregierung in jedem Fall dafür Sorge tragen wird, dass die Regelung, die am Ende der Verhandlung steht, voll und ganz im Einklang mit dem Grundgesetz und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stehen wird.
({1})
Die Anträge von Bündnis 90/Die Grünen und den Linken sind aber zumindest insofern hilfreich, als sie uns heute die Gelegenheit geben, unseren Standpunkt zu einem wichtigen Instrument der Steuerung der Zuwanderung, vor allem aber deren Begrenzung darzustellen. Als Unionsfraktion treten wir entschlossen dafür ein, weitere Länder als sichere Herkunftsstaaten einzustufen,
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weil wir so zu einem beschleunigten Verfahren kommen, ohne dabei die individuellen Prüfaspekte im Verfahren einzuschränken. Die bisherigen Versuche, in dieser Frage eine tragfähige Lösung zu finden, sind leider am Widerstand von Grünen und Linken im Bundesrat gescheitert. Nicht die Einstellung zur Hilfsbereitschaft trennt und unterscheidet uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, sondern die Haltung zur Zuwanderung. Sie wollen mehr Zuwanderung, wir wollen trotz aller Hilfe in der Not weniger Zuwanderung. Das unterscheidet uns.
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Wir wollen und müssen die Zuwanderung weiter begrenzen. Das ist kein Widerspruch dazu, dass wir helfen wollen, wo Hilfe in der Not gebraucht wird, jedenfalls so gut, wie wir es eben können. Wir wollen diejenigen, die unseren Schutz suchen, schützen, wenn und solange sie schutzbedürftig sind. Dies sind Gebote der Menschlichkeit, sie sind nicht verhandelbar. Dieses unbedingte Bekenntnis wird – so ist mein Eindruck – von der ganz großen Mehrheit der Menschen in unserem Land noch immer geteilt.
Aber wir können dieses Versprechen nur dann einlösen und können uns der Hilfsbereitschaft der Menschen nur dann weiterhin gewiss sein, wenn wir sorgfältig zwischen Flucht und Zuwanderung unterscheiden.
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Denn wenn wir unsere Kapazitäten überschätzen oder diese Kapazitäten dadurch ohne Not überschreiten, dass wir falsche Zuwanderungsanreize setzen, schaden wir letztlich unserem gemeinsamen humanitären Anliegen und verlieren die Hilfsbereitschaft unserer eigenen Bevölkerung. Ich sage Ihnen mit der Erfahrung aus meinem früheren Beruf ganz klar: Sie sind der schlechteste Helfer, der schlechteste Retter, wenn Sie Ihre Kapazitäten überschätzen oder falsch einschätzen. Dann richten Sie Chaos an und tragen nicht zur Hilfe bei.
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Insofern stimme ich dem Bundespräsidenten nachdrücklich zu, wenn er, wie vor einigen Tagen, eine klare und ernsthafte Unterscheidung zwischen Bürgerkriegsflüchtlingen und Menschen, die auf der Suche nach einem besseren Leben zu uns kommen, anmahnt. Denn nur wenn wir es schaffen, schnell und klar über die Asylanträge der Menschen zu entscheiden, die keine Bleibeperspektive in unserem Land haben, wird es uns weiterhin gelingen, den Menschen, die vor Krieg, Gewalt, Verfolgung fliehen, den nötigen Schutz zu gewähren. Auch das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist ein Gebot der Menschlichkeit.
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Herr Kuffer, dies ist zwar Ihre erste Rede, aber auch für Sie gilt: Denken Sie an die Redezeit.
Ich komme zum Schluss.
Eine saubere Trennung ist auch ein Beitrag dazu, unsere Chancen zu erhöhen, die Migrationskrise im Raum vor unseren Grenzen zu lösen und nicht im Raum hinter unseren Grenzen lösen zu müssen. In diesem Sinne lehnen wir Ihre Anträge ab und sind für eine Ausweitung der Zahl der sicheren Herkunftsstaaten.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kuffer. – Thorsten Frei ist der letzte Redner in dieser Debatte für die CDU/CSU-Fraktion.
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erwin Teufel hat einmal formuliert: „Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit“. Das trifft in der Politik nicht nur generell zu, sondern in ganz besonderer Weise auch dann, wenn wir über die Reform eines gemeinsamen europäischen Asylrechts sprechen.
Wenn wir die Realität betrachten, dann müssen wir in der Tat zugeben, dass Dublin III gescheitert ist, dass Dublin III in guten Zeiten funktioniert hat, in schlechten Zeiten aber die Randstaaten Europas total überforderte. Darüber hinaus haben letztlich auch die Reparaturmaßnahmen an Dublin III nicht funktioniert, weil die Entscheidungen, die die Staats- und Regierungschefs im September 2015 getroffen haben – die Relocation-Programme –, auch nach zwei Jahren nicht umgesetzt werden konnten, sodass von den ursprünglich geplanten 160 000 Flüchtlingen lediglich 27 000 umverteilt werden konnten.
Wenn man das zugrunde legt und auch in Rechnung stellt, dass wir die Herausforderungen durch die Flüchtlingskrise für Deutschland und Europa nicht bewältigt haben, sondern dass sie in Zukunft wahrscheinlich eher noch größer werden, ist es, glaube ich, nur konsequent, jetzt auch die Grundlagen dafür zu legen, dass wir für schlechtere Zeiten gerüstet sind. Deswegen muss man sich mit diesen Themen beschäftigen.
Dazu gibt es entsprechende Diskussionsbeiträge, beispielsweise von der grünen und von der linken Fraktion, die allesamt untauglich sind. Ich will das einmal so pauschal formulieren. Das gilt übrigens genauso für die aktuelle Beschlusslage im Europäischen Parlament. Auch sie hilft nicht dabei, zu einer Lösung zu kommen und gemeinsame Antworten auf die Herausforderungen zu finden. Das wird zum Beispiel deutlich, wenn man sich den erweiterten Familienbegriff ansieht, den das EP beschlossen hat, und wenn man die Tatsache berücksichtigt, dass auch Transitfamilien, also Familien, die erst auf der Flucht entstanden sind, davon umfasst werden sollen.
Wenn man das alles in Rechnung stellt, dann muss man sagen: Das ist genauso wenig ein Beitrag zur Lösung wie die Aussage, dass man sich, wenn Ankerpersonen vorhanden sind, frei entscheiden kann, in welchem Land man Asyl haben möchte. Das ist keine Lösung – jedenfalls keine, die für uns akzeptabel ist.
({0})
Wenn man sieht, wie lange wir bei der Lösung dieser Aufgabe schon auf der Stelle treten, ist es, glaube ich, richtig, dass man jetzt nicht das Trennende, sondern das Verbindende in Europa sucht. Deswegen, denke ich, war es richtig von der Bundesregierung, zu sagen: Wir kümmern uns nicht als Erstes um das, was am stärksten umstritten ist, nämlich um einen permanenten Verteilmechanismus, sondern wir kümmern uns zuerst um die Fragen, die tatsächlich konsensfähig sind.
Ich glaube, dass man schon zugeben muss, dass es aus der Sicht einzelner Mitgliedstaaten durchaus konsequent ist, nicht nur über einen Verteilmechanismus, sondern auch darüber zu sprechen, unter welchen tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen man eigentlich nach Europa kommen kann. Deswegen ist die Reihenfolge, die hier gewählt wurde, glaube ich, durchaus richtig und akzeptabel.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich meine, dass es auch ein richtiger Ansatz ist, über die sicheren Herkunftsstaaten zu sprechen. Es ist richtig, darüber zu sprechen, dass es keine abschließende europäische Liste geben sollte, bei der man sich auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner trifft, sondern dass natürlich auch nationale Festlegungen dauerhaft parallel dazu möglich sein müssen.
Wir müssen uns auch darum kümmern, dauerhafte Bleibemöglichkeiten für die Schutzbedürftigen zu finden, während wir es andererseits all den anderen nicht durchgehen lassen, dass sie das Asylrecht und die Genfer Flüchtlingskonvention missbrauchen, um hierherzukommen.
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Wenn man sich mit den Zahlen beschäftigt, dann sieht man: Im letzten Jahr gab es 603 000 Asylverfahren in Deutschland. 4 300 waren nach Artikel 16a des Grundgesetzes schutzbedürftig, also weniger als 1 Prozent, und gerade einmal 120 000 waren nach der Genfer Flüchtlingskonvention schutzbedürftig. Das waren insgesamt weniger als 20 Prozent. Wir brauchen klare Antworten für Deutschland und Europa darauf, wie wir das handhaben wollen.
Die gemeinsame europäische Asylpolitik ist die falsche Antwort, wenn man erreichen will, dass die Menschen, die man schützen will, zu uns kommen können. Das, was Sie vorschlagen – insbesondere die Fraktion Die Linke –, würde letztlich die Aufgabe unseres Anspruchs an Recht und Ordnung bedeuten.
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Vielen Dank, Kollege Frei. – Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/244 und 19/577 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? – Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Wahrheit ist bekanntlich das erste Opfer eines jeden Krieges, und die ersten menschlichen Opfer sind oft unschuldige Zivilisten, so auch bei Erdogans Angriffskrieg auf Afrin. Zu den ersten Opfern gehört eine syrisch-arabische Flüchtlingsfamilie, eine Familie, die Monate zuvor vor islamistischen Milizen aus der Provinz Idlib geflohen war. Sieben Menschen, darunter ein kleiner Junge, starben in der Nacht vom 19. zum 20. Januar, weil ihre Unterkunft von einer türkischen Bombe getroffen wurde. Im Namen der Linken verurteile ich diesen türkischen Angriffskrieg zutiefst.
({0})
Heute reden wir über Erdogans Angriffskrieg. Doch wir vergessen nicht, dass im Bürgerkriegsland Syrien die Zivilgesellschaft auch an anderen Orten leidet und stirbt. Die syrische Armee des Assad-Regimes, islamistische Terrorgruppen, die NATO, die USA, Russland und der Iran führen Krieg in Syrien genauso wie die Türkei. Ja, Syrien ist ein Schlachtfeld der Großmächte und der Regionalmächte. Das erste Opfer sind die Syrerinnen und Syrer selbst. Sie haben kaum eine Chance auf Frieden und Demokratie.
({1})
In der kurdischen Enklave Afrin im Süden Syriens leben eine Million Menschen; davon sind etwa 300 000 Geflüchtete, die aus anderen Regionen Syriens kamen. Afrin ist also nicht nur ein kurdisches Gebiet, sondern auch eine Schutzzone für Flüchtlinge innerhalb von Syrien. Auch das macht diesen Krieg von Erdogan so verbrecherisch.
({2})
Was mich wütend macht, ist das Schweigen der Bundesregierung. Die türkische Armee tötet die Zivilbevölkerung in Afrin; Angela Merkel schweigt. Erdogan droht, alle Kritiker dieses Krieges an ihren Hälsen aufzuhängen; Sigmar Gabriel beschwichtigt. Erdogans Kampfflieger zerstören eine 3 000 Jahre alte Tempelanlage in Afrin; Ursula von der Leyen taucht völlig ab. Ja, diese Bundesregierung kriegt einfach die Zähne nicht auseinander für eine eindeutige Verurteilung dieses Angriffskrieges. Ich halte ihr Schweigen für einen Kniefall vor Erdogan.
({3})
Wir, Die Linke, fordern Sie auf: Stoppen Sie endlich alle geplanten militärischen Kooperationen mit der Türkei! Die Rüstungsgeschäfte mit dem Erdogan-Regime sind ein sicherheitspolitischer Wahnsinn.
({4})
Herr Gabriel traf sich ja neulich mit dem türkischen Außenminister zu einer Teestunde. Ich frage ihn: Hat Ihnen Ihr Amtskollege dabei davon erzählt, dass die türkische Armee gerade zu einer islamistischen Garde umgewandelt wird? Es gibt Berichte, wie die türkische Armee zusammen mit islamistischen Milizen die Grenze überquerte. Dabei sang sie dschihadistische Lieder. Man freute sich darauf, alle Kurdinnen und Kurden zu vernichten, weil sie Ungläubige seien. Begleitet wurden sie dabei von Leopard-2-Panzern, geliefert aus Deutschland. Herr Gabriel, ist das die neue Sicherheitspolitik der NATO, Hand in Hand mit Islamisten? Mich gruselt das.
({5})
Erdogans Generalstab verkündet, dass dieser Angriff sowohl mit Russland abgestimmt ist als auch durch AWACS-Aufklärungsflüge der NATO unterstützt wird. Wenn das stimmen sollte, dann leistet die Bundeswehr über die Aufklärungsflüge Beihilfe zu Erdogans Angriffskrieg. Frau Merkel, Herr Gabriel, ziehen Sie die Bundeswehr endlich aus Konya ab! Beenden Sie das AWACS-Programm! Es ist höchste Zeit dafür.
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Das Schweigen der Bundesregierung geht Hand in Hand mit einer zunehmenden Kriminalisierung der Kurden und konkret der YPG. Zur Wahrheit dieses Angriffskrieges gehört aber auch: Die kurdische YPG war und ist das Bollwerk gegen den Terror des „Islamischen Staates“. Sie hat entschieden geholfen, die Jesidinnen vor den Schlächtern des IS zu retten. Ich finde es daher besonders beschämend, dass die NATO und die USA, dass Russland, dass Europa, dass offenbar alle bereit sind, die Kurdinnen und Kurden in Syrien zu opfern, und das zugunsten einer Komplizenschaft mit dem Erdogan-Regime. Was für eine Schande für alle Großmächte!
({7})
Sehen wir der Wahrheit ins Gesicht: Erdogan will alle Kurdinnen und Kurden aus Afrin vertreiben. Dabei versuchen diese inmitten eines Bürgerkrieges eine zivile kommunale Verwaltung aufzubauen. Sie stehen für die Gleichheit von Männern und Frauen und für Religionsfreiheit. Ja, ich finde, die Kurdinnen und Kurden haben mehr mit den freiheitlichen Werten unseres Grundgesetzes zu tun als das Erdogan-Regime. Das sollte uns zu denken geben. Auch deswegen tragen heute viele von uns kurdische Farben.
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Ich komme zum Schluss. Ich sage nochmals an die Adresse der Bundesregierung: Ihr Schweigen ist ein Kniefall vor Erdogan. Beenden Sie dieses Schweigen! Setzen Sie ein Zeichen für Frieden und Demokratie, und stoppen Sie endlich die Rüstungsexporte!
Vielen Dank.
({9})
Vielen Dank, Katja Kipping. – Nächster Redner in der Aktuellen Stunde: Roderich Kiesewetter für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Präsidentin, bevor ich mit meiner Rede beginne, möchte ich Sie bitten, während meiner Redezeit zu prüfen, ob es diesem Hohen Hause angemessen ist, dass einige Abgeordnete der Linken, mindestens zehn, sich mit den Keffiyeh uniformiert haben. Vielen Dank.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, seit zwölf Tagen läuft die „Operation Olivenzweig“. Die Türkei beabsichtigt damit, dauerhaft eine türkische Präsenz im Norden von Syrien zu etablieren, um damit gegen – vorgebliche – kurdische Terroristen vorzugehen. In dieser Gemengelage leidet zuallererst die Wahrheit. Es gibt hier keine einfachen Wahrheiten und – um Konrad Adenauer zu bemühen – erst recht keine reine oder lautere Wahrheit.
Ich versuche, aus der Gemengelage zwei, drei Aspekte herauszugreifen:
Zuallererst zum türkischen Vorgehen. Das türkische Vorgehen ist in keiner Weise angemessen. Weder liegt ein Angriff vor – die türkische Republik wurde nicht angegriffen –, noch steht ein Angriff unmittelbar bevor.
({1})
Somit ist das Verhalten der Türkei als völkerrechtswidrig zu bewerten.
({2})
Deshalb hat die Bundesregierung völlig richtig gehandelt, sofort, auch entgegen letzten Absprachen, die Unterstützung der Türkei mit deutschen Rüstungsgütern auszusetzen;
({3})
das gilt auch für die Nachrüstung bestimmter Panzer. Hier können wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion unsere Bundesregierung nur unterstützen. Richtig gehandelt!
({4})
Zweitens möchte ich hier auch die NATO als Wertegemeinschaft ansprechen. Wenn die Türkei weiter vorgeht, wird sie in der Provinz Rojava auf US-Truppen treffen. Wenn sie bis Manbidsch vorrückt, trifft sie auf etliche US-Soldaten. Das gilt es zu verhindern.
Wir müssen schauen: Wer profitiert von dieser Lage? Die Türkei bricht offensichtlich das Völkerrecht, und es droht eine Konfrontation zwischen zwei NATO-Staaten. Der lachende Dritte,
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das sind hier zwei. Erstens wird Assad stabilisiert, und zweitens ist es Russland gelungen, einen Keil zwischen NATO-Staaten zu treiben.
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Hinzu kommt, dass die Türkei sich schleichend – schleichend! – im NATO-Bündnis isoliert. Ich möchte das damit belegen, dass die Türkei ein russisches Luftverteidigungssystem eingeführt hat, das das bisherige der NATO ersetzt. Damit ist die türkische Luftverteidigung nicht mehr mit der NATO-Luftverteidigung kompatibel.
Ferner gilt es zu beachten, dass es innerhalb der Türkei sehr viel Gefolgschaft für Erdogan gibt. Er lenkt von innenpolitischen Problemen ab und versucht, Gefolgschaft für dieses offensichtlich völkerrechtswidrige Vorgehen zu gewinnen.
Wir müssen deshalb als Bundesrepublik Deutschland in der EU darauf drängen, dass dieses Vorgehen in zwei Bereichen thematisiert wird: erstens im NATO-Rat – das ist schwierig genug, weil die Tagesordnung einstimmig zu verabschieden ist – und zweitens im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen.
Ich möchte einen Schritt weitergehen. Russland hat in dieser Woche bei den Friedensverhandlungen von Sotschi sehr klar erkannt, dass es, indem die Kurden, die größte Ethnie im Nahen und Mittleren Osten, ausgeschlossen sind, an einer Friedenslösung vorbei arbeitet und durch die Stabilisierung von Assad natürlich nicht erreichen wird, dass sich Hunderttausende syrischer Kurden, die wegen Assad und seiner Bombardierungen das Land verlassen haben, zur Rückkehr in ihr Heimatland bewegen lassen.
Deshalb kommt es darauf an – da sehe ich den Hebel –, dass wir – das ist mein dritter Aspekt – an einer europäischen Strategie arbeiten, die Russland zeigt: Wenn wir diplomatisch in Genf miteinander verhandeln, unter Einbeziehung aller Gruppierungen, einschließlich der Kurden und der Regionalmächte, dann müssen die Sonderverhandlungen in Astana und Sotschi in den Genfer Prozess integriert werden. Kurzfristig sollten wir das auch im NATO-Rat thematisieren. In einem weiteren Schritt müssen wir daran arbeiten, dass wir in diesem Friedensprozess ein UN-Mandat erhalten, um langfristig die Existenz der Kurden in Syrien zu gewährleisten und einen Friedensprozess in Syrien mit europäischer Beteiligung hinzubekommen, und schließlich sollten wir – das ist unsere Stärke – klarmachen: Der Wiederaufbau von Syrien ist aus der Region heraus nicht zu leisten. Westliche Mittel können nur fließen, wenn eine Lösung für Assad gefunden wird und ein inklusiver Friedensprozess geleistet wird.
Lassen Sie uns also in diese Richtung arbeiten! Erstens ist es gut, wie die Bundesregierung gehandelt hat.
({7})
Zweitens. Wir müssen es auch im NATO-Rat und in den Vereinten Nationen thematisieren. Drittens. Wir brauchen eine europäische Strategie, deren Grundzüge ich aufgezeigt habe. Da hilft nicht Symbolpolitik, sondern klares Verhandeln.
Herzlichen Dank.
({8})
Herr Kollege Kiesewetter, Sie hatten das Präsidium gebeten, zu prüfen, ob die in der Fraktion Die Linke getragenen Schals eine Uniformierung seien. Ich will darauf wie folgt antworten: Es ist jedenfalls eine Demonstration, mit der etwas ausgedrückt werden soll, und Demonstrationen im Deutschen Bundestag sind unzulässig.
({0})
– Ja, Solidarität können Sie auch anders ausdrücken, als in gleicher Kleidung aufzulaufen. Ich sage das ausdrücklich, weil der Deutsche Bundestag mit Recht, gerade auch im Hinblick auf die Geschichte dieses Hauses, auf Uniformierungen verzichten will.
({1})
Ich bitte darum, keine schlechten Beispiele zu geben.
Es ist nach meiner Auffassung grenzwertig. Deshalb sieht das Präsidium von Maßnahmen ab. Ich habe aber eine Bitte, auch eine persönliche: Tun Sie sich selbst und diesem Haus den Gefallen, und legen Sie, nachdem alle zur Kenntnis genommen haben, dass Sie Solidarität ausdrücken wollten, die Schals freundlicherweise ab.
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Sie können das gerne ignorieren, aber schauen Sie einmal in das Rund dieses Plenarsaals. Ich möchte mit meiner Bitte dazu beitragen, dass Ihrem Beispiel nicht andere mit einem noch grenzwertigeren Auftritt folgen. Das wäre der Würde des Hauses unangemessen. Deshalb einfach nur die Bitte.
({3})
– Es ist erledigt. Herzlichen Dank an die Fraktion Die Linke.
Als Nächstes die Kollegin Dagmar Freitag für die Sozialdemokratische Partei Deutschlands.
({4})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ja, es ist richtig, Afrin, ein Ort im Norden Syriens, ist im Zuge des Syrien-Konfliktes zu weiterer trauriger Bekanntheit gelangt. Der Norden, vorwiegend kurdisches Siedlungsgebiet, war bislang noch eine Zone relativer Stabilität im Bürgerkriegsland Syrien, sofern man im Kontext mit Syrien überhaupt noch von Stabilität sprechen kann.
Es kann doch überhaupt keine Frage sein, dass wir über Parteigrenzen hinweg die aktuelle Entwicklung in der Region mit allergrößter Besorgnis beobachten. Mit der schon erwähnten „Operation Olivenzweig“, also dem Vormarsch der türkischen Armee auf Afrin, erhält Syrien nun eine weitere Konfliktlinie mit ganz erheblichem Eskalationspotenzial. Und dem Kollegen Kiesewetter stimme ich ausdrücklich zu: Ja, das ist mit dem Völkerrecht nicht vereinbar.
({0})
Dieses Eskalationspotenzial setzt sich aus einem Mosaik an Konfliktparteien und eben auch ganz unterschiedlichen Interessenlagen zusammen. Ohne dass ich in der Kürze der Zeit auf weitere Details eingehen kann, muss eines klar sein: In dem seit mittlerweile 2011 andauernden Syrien-Konflikt greifen einfache Freund-Feind-Schemata schon lange nicht mehr. Deshalb gibt es auch kein einfaches Patentrezept für die Syrien-Politik. Ich ergänze einmal mit anderen Worten: Die ganz einfachen Antworten müssen nicht zwingend auch die richtigen Antworten sein.
({1})
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch das sollten wir uns immer wieder vor Augen halten: Auch durch Nichthandeln lädt man Verantwortung auf sich. Daher kann dies ganz sicher nicht der Königsweg einer verantwortungsvollen deutschen Außenpolitik sein. Ich warne zugleich davor, Verhandlungen und Diplomatie zu unterschätzen. Die lautesten Antworten müssen auch nicht die richtigsten sein.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, der Kampf in Syrien und der Kampf gegen den IS haben sowohl der Türkei als auch den Kurden ganz enorme Opfer abverlangt. Umso zynischer – ich glaube, so darf man das bezeichnen – ist diese neue militärische Konfliktlinie, deren Leidtragende hauptsächlich, wie so oft in solchen Situationen, die Zivilbevölkerung sein wird. Dreh- und Angelpunkt – daran kann es aus meiner Sicht eigentlich keinen Zweifel geben – muss daher sein, erneutes Leid von der Zivilbevölkerung im Norden Syriens abzuwenden. Dazu gehört eben auch das mäßigende Einwirken auf die türkische Regierung – sei es gemeinsam mit unseren europäischen Partnern oder eben auch innerhalb der NATO.
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Nein, Herr Präsident, erlaube ich nicht.
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Das sehe ich ein. Ich bitte vielmals um Entschuldigung.
({0})
Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, Zentrum der deutschen Syrien-Politik ist und bleibt der Einsatz für einen politischen Prozess, der nach Jahren dieses schrecklichen Bürgerkrieges endlich eine Friedensperspektive für das geschundene Land schaffen kann. Hierfür muss es vor allem Fortschritte beim Genfer Vermittlungsprozess geben, dem von den Vereinten Nationen – das dürfte bekannt sein – geleiteten inklusiven politischen Dialog.
Nach der militärischen Schwächung des IS im vergangenen Jahr schien die Hoffnung auf einen Friedensprozess für Syrien aufzukeimen, aber – das muss man ganz klar sagen – die jetzige türkische Militäroffensive hat eine Friedenslösung für das Land wieder in die Ferne rücken lassen.
Letztlich muss es heißen: Auf diplomatischem Wege müssen wir versuchen, diesen Konflikt zu lösen. Es müssen gemeinsam alle Anstrengungen unternommen werden, um endlich eine Perspektive für das Land und seine Menschen zu schaffen.
Vielen Dank.
({0})
Herzlichen Dank, Frau Kollegin Freitag. – Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass Sie eine Zwischenfrage nicht zulassen, weil sie in der Aktuellen Stunde unzulässig ist.
({0})
Mir ist das bekannt, aber es war nicht mehr in meinem Bewusstsein – vor allen Dingen, weil eine Wortmeldung aus der FDP-Fraktion mich hier erschüttert hatte.
({1})
Nächster ist der Kollege Rüdiger Lucassen von der AfD.
({2})
Herr Präsident! Sehr geehrte Abgeordnete! Es geht hier und heute im Grunde gar nicht um die Modernisierung türkischer Panzer; es geht hier um den grundsätzlichen Umgang mit der Türkei. Aber die Frage, ob türkische Panzer mit deutscher Hilfe aufgerüstet werden, ist ein sehr gutes Beispiel für das Lavieren der Bundesregierung in dieser Grundsatzfrage. Vor drei Wochen wollte der Außenminister die Zusatzpanzerung noch genehmigen; jetzt hat die Bundesregierung diese Zusagen wieder auf Eis gelegt.
Wir alle wissen, wie es weitergehen wird: Die „Operation Olivenzweig“ ist irgendwann beendet, kurdische Kämpfer sind getötet worden.
({0})
Die Bundesregierung aber lässt Gras über die Sache wachsen und wird am Ende die Aufrüstung der türkischen Panzer dennoch genehmigen. Man muss gar kein Prophet sein, um das zu wissen; denn so geht das schon seit 30 Jahren.
An Tiefpunkten des deutsch-türkischen Verhältnisses nennen Sie die Türkei immer einen schwierigen Partner. Aber in Wahrheit sprechen wir über einen Staat, der ziemlich außer Kontrolle geraten ist.
({1})
Im Grunde weiß das auch die Bundesregierung. Sie will es nur nicht sagen, weil sie dann konsequent handeln muss. Und das will oder, besser noch, das kann sie nicht.
Der Einmarsch in Syrien ist nur eine Etappe der Türkei auf dem Weg zum Pariastaat. Weitere sind: der Krieg gegen die Kurden im eigenen Land und in den Nachbarstaaten, die Säuberungswelle nach dem Putschversuch, die Verhaftung von Regimekritikern, die verbalen Attacken gegen Israel, die aktive Unterstützung von Terrorgruppen wie der Hamas, die Schikanen gegenüber deutschen Abgeordneten, die die Bundeswehr besuchen wollen. Wie kann man da überhaupt noch von Partnerschaft reden?
({2})
Auch bei uns in Deutschland werden Türken, die Erdogan ablehnen, bedroht und angegriffen. Türkische Organisationen operieren hier als die fünfte Kolonne Ankaras in Deutschland.
({3})
Ihr Auftrag: Moscheen überwachen und Abtrünnige melden. Das ist Spionage, meine Damen und Herren, und das wird direkt aus Ankara gelenkt.
({4})
Die innertürkischen Konflikte werden schon seit Jahren auch nach Deutschland importiert. Insofern betrifft uns die türkische Panzerpolitik viel mehr, als uns das lieb sein kann. Das ist nicht einfach so passiert. Das haben Sie zugelassen. Und das führt natürlich auch zu der folgenden Frage: Wie frei ist die Bundesregierung noch im Umgang mit der Türkei? Der Einfluss Ankaras nach Deutschland, das Flüchtlingsabkommen, die Geiselhaft deutscher Staatsangehöriger: Kann diese Bundesregierung überhaupt noch tun, was sie für richtig hält, ohne den Zorn Erdogans zu spüren? Was Sie meist besonnene Außenpolitik nennen, ist in Wahrheit nur eines: keine Außenpolitik.
({5})
Sie leben von der Hand in den Mund. Sie hangeln von Tag zu Tag, reagieren stets auf die Geschehnisse und hoffen, so durchzukommen. Führungsstärke und außenpolitische Gestaltungskraft sehen anders aus.
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Und genau deswegen stehen Sie wieder vor demselben Dilemma.
Meine Damen und Herren, die Türkei ist ein wesentlicher Machtfaktor in der Region; das steht außer Frage. Sie ist auch immer noch zweitgrößtes NATO-Mitglied. Das hat Vorteile für das Bündnis, führt aber auch zu Problemen. Von Europa ist die Türkei jedoch weiter entfernt als jemals zuvor seit 1923.
({7})
Der EU-Beitritt der Türkei ist eine Lebenslüge. Sie hat über die Jahrzehnte mehr Schaden angerichtet, als zu nutzen. Beenden Sie diese Träumerei! Die Türkei passt und gehört nicht nach Europa. Das zeigt sie dieser Tage wieder deutlich.
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Schaffen Sie stattdessen klare Verhältnisse! Starten Sie eine Außenpolitik mit der Türkei, die diesen Namen verdient: keine Abhängigkeiten, sondern Definition deutscher Interessen; nicht moderieren, sondern gestalten. Ja, auch Rüstungslieferungen können Teil einer kohärenten Außenpolitik sein.
Herr Kollege, kommen Sie zum letzten Satz.
Jawohl. – Und: Ja, Waffen, die wir liefern, können auch tatsächlich eingesetzt werden. Das liegt in der Natur der Sache, meine Damen und Herren. Das ist Realpolitik.
Danke.
({0})
Als Nächstes hat der Kollege Bijan Djir-Sarai von den Freien Demokraten das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Seit zwölf Tagen müssen wir und damit die Weltöffentlichkeit entsetzt zusehen, wie türkisches Militär auf syrischem Staatsgebiet kämpft. Zwar war die Türkei in der Vergangenheit auch Zielscheibe des IS, jedoch richten sich die derzeitigen Handlungen vor allem gegen die Kurden im Norden Syriens. Es handelt sich eindeutig nicht um einen Einsatz gegen den Terrorismus, sondern um eine Mission, die den Einfluss der Kurden in diesen Gebieten mit allen Mitteln zerstören soll. Ich sage bewusst „mit allen Mitteln“. Wir wissen von unzähligen Toten – Soldaten und Zivilisten –, und wir haben die Bilder der Zerstörung in Afrin gesehen. Tausende Menschen sind erneut auf der Flucht. Gebiete, die für ihre Bewohner noch vor kurzem sicher waren, sind es nicht mehr. Das ist schrecklich für die betroffenen Menschen vor Ort, es ist aber auch schrecklich für die internationale Gemeinschaft. Wir sind daher in Deutschland dazu verpflichtet, diese Ereignisse und Handlungen scharf zu verurteilen, meine Damen und Herren.
({0})
Die Boden- und Luftoffensive unseres sogenannten Bündnispartners Türkei ist völkerrechtlich durch ein Mandat weder der NATO noch der Vereinten Nationen gerechtfertigt und autorisiert. Dabei ist das türkische Argument der Selbstverteidigung nicht nur scheinheilig, es ist sogar dreist. Ich bedauere zutiefst, dass die geschäftsführende Bundesregierung in dieser Frage keine glasklare Position bezogen hat.
({1})
Ich zitiere an dieser Stelle: „Die Bundesregierung betrachtet die Berichte über die türkische Militärintervention im Nordwesten Syriens mit großer Sorge“, so die Bundesregierung. Das ist vor dem Hintergrund und angesichts der Tragweite der Ereignisse definitiv zu wenig, meine Damen und Herren.
({2})
Rüstungsexporte in Konfliktregionen können bereits instabile Regionen noch weiter destabilisieren. Die Unsicherheit und Bedrohung für die Menschen in den betroffenen Gebieten werden hierdurch nachhaltig erhöht und Chancen auf Friedens- und Konfliktlösungen verhindert. Es sollte deshalb ein Grundpfeiler deutscher Außenpolitik sein, Rüstungsexporte in Konfliktregionen auszuschließen.
({3})
Ich bedauere außerordentlich, dass die Bundesregierung diese wertvollen Leitsätze der deutschen Außenpolitik so missachtet hat.
({4})
– Wenn Sie etwas zu sagen haben, dann lassen Sie sich von Ihrer Fraktion Redezeit geben. Dazwischenrufen ist nicht hilfreich.
Im Sondierungspapier von Union und SPD können wir bezüglich der Türkei nachlesen:
Die Lage der Demokratie, von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten hat sich verschlechtert. Deshalb wollen wir bei den Beitrittsverhandlungen keine Kapitel schließen und keine neuen öffnen.
Nein, meine Damen und Herren, um Kapitel geht es hier nicht. Es geht hier um Waffenexporte,
({5})
es geht hier um machtpolitische Interessen, und – was noch wichtiger ist – es geht hier um Menschenleben. Wir müssen der Türkei ganz deutlich machen, dass sie hier eine Grenze überschritten hat. Sie hat nicht nur geografisch die türkisch-syrische Grenze überschritten, sondern auch die Grenze dessen, was man in einer echten Partnerschaft dulden kann.
({6})
Deutschland hat die Türkei bisher als Partner bevorzugt behandelt. Aber ein Staat, der sich nicht an internationale Absprachen hält, muss auch mit möglichen Konsequenzen rechnen. Die Türkei verhält sich nicht, wie wir es von einem NATO-Partner erwarten dürfen. Deshalb erwarten wir sowohl von der NATO als auch von der geschäftsführenden Bundesregierung eine deutliche Verurteilung der Militäroffensive.
({7})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, auch die innenpolitischen Entwicklungen in der Türkei verdeutlichen uns schon lange, dass die derzeitige politische Führung der Türkei vor nichts zurückschreckt. Die Türkei hält deutsche Staatsbürger unbegründet gefangen und verhandelt über ihre Freilassung, was man sonst eher von kriminellen Geiselnehmern gewohnt ist.
({8})
So gehen Partner nicht miteinander um. Und mit so einem Demokratieverständnis wollen wir nichts zu tun haben. Nicht zuletzt fordern wir – das tun wir schon länger –, die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei komplett zu beenden.
({9})
Früher galt die Türkei als moderner Staat, der Stabilität in die Region brachte und eine mögliche Bereicherung für die EU hätte sein können – früher. Wir wissen heute alle, dass die Türkei davon inzwischen Lichtjahre entfernt ist. Das aktuelle Verhalten der türkischen Führung stellt eine weitere Entfremdung der Türkei vom Westen dar. Dieses Verhalten kann nicht geduldet werden.
Herr Präsident, ein letzter Satz. Die NATO-Staaten sind durch gemeinsame Werte verbunden, die von allen Partnern auch geachtet werden müssen. Die NATO-Gremien müssen jetzt dringend die Politik der Türkei auf den Prüfstand stellen. Und sollte man feststellen, dass die Türkei kein verlässlicher Partner mehr ist, dann stellen sich noch viel mehr Fragen als nur die nach Rüstungsexporten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Herzlichen Dank, Herr Kollege Bijan Djir-Sarai. – Als Nächste: Kollegin Katja Keul für Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die militärische Offensive türkischer Streitkräfte im Nachbarland Syrien ist weder von einem Mandat der UN gedeckt, noch ist es ein Fall von Selbstverteidigung. Ein solcher Überfall ist ganz klar völkerrechtswidrig. Auch wir Grüne erwarten von der Bundesregierung, dass sie das klar so benennt.
({0})
So klar wie von dem Kollegen Kiesewetter gerade haben wir das von einem Regierungsvertreter noch nicht gehört.
({1})
Was glauben Sie, wie das laute Schweigen Deutschlands und der USA von den syrischen Kurden verstanden wird? Erst haben sie für uns den IS bekämpft, und nun, wo sie ihren Zweck erfüllt haben, werden sie ans Messer geliefert. Da ist die Parallele zu 1991 nicht weit, als der Westen sie zum Aufstand gegen Saddam Hussein ermunterte und sie dann seiner Rache überließ. Die Bundesregierung muss diese völkerrechtswidrige Intervention innerhalb der NATO auf den Tisch bringen und darauf drängen, dass die NATO endlich geeignete Konsequenzen zieht, auch mit Blick auf die AWACS-Aufklärungsflüge.
({2})
Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie jegliche Rüstungsexporte in die Türkei untersagt.
({3})
Das gilt gerade und ganz besonders für die Anträge von Rheinmetall zur Modernisierung türkischer Panzer, egal ob es sich um M60 oder um Leopard handelt.
Als Parlamentarierin empört es mich zutiefst, dass Außenminister Gabriel ausgerechnet am 16. Oktober 2017, also in der letzten Woche der alten Legislatur, unmittelbar vor der Konstituierung des neuen Bundestages, einen positiven Vorbescheid für diesen Kriegswaffenexport erteilt hat.
({4})
Damit agiert er trotz aller öffentlichen Absichtsbekundungen nicht besser als seine Vorgänger, die den Legislaturperiodenwechsel immer gerne dazu genutzt haben, die Verantwortung für sensible Rüstungsexporte so zu strecken, dass es am Ende immer der andere gewesen ist.
({5})
Die Kanzlerin hält sich gleich ganz bedeckt, obwohl sie die Richtlinienkompetenz hat. Sie hat ja bei Rüstungsexporten noch nie auf der Bremse gestanden. Diese organisierte Intransparenz muss ein Ende haben. Deswegen fordern wir Grüne ein Rüstungsexportkontrollgesetz, in dem die Bundesregierung unter anderem verpflichtet wird, ihre Entscheidungen über Rüstungsexporte gegenüber dem Parlament zu begründen.
({6})
Dass die Türkei im Norden Syriens eigene Interessen verfolgt, die den Frieden in der Region nicht fördern, sondern verhindern, wussten wir schon vor dem 16. Oktober 2017. Aber spätestens nachdem Erdogan seine Ankündigung wahrgemacht hat und mit deutschen Panzern gegen Kurden auf syrischem Gebiet vorgeht, ist klar, dass es eine solche Genehmigung nicht geben darf, und zwar weder jetzt noch in drei Monaten oder irgendeiner absehbaren Zeit.
({7})
In Bezug auf Exporte an NATO-Länder heißt es in den Grundsätzen der Bundesregierung, dass diese sich an den Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland zu orientieren haben. Was verletzt denn bitte unsere Sicherheitsinteressen mehr als ein völkerrechtswidriger Angriff eines NATO-Landes auf einen Nachbarn?
({8})
Ganz zu schweigen von den Menschenrechtsverletzungen gegenüber der kurdischen Bevölkerung auf beiden Seiten der Grenze.
Deswegen dürfen wir auch nicht wegsehen, wenn Rheinmetall in der Türkei ein Joint Venture gründet, um dort ohne jegliches Genehmigungserfordernis mit dem Know-how eigener Mitarbeiter die Produktion von Panzern für Erdogan zu ermöglichen. Die Bundesregierung weiß seit langem, dass Rheinmetall über Italien Munition für den Jemen-Krieg bereitstellt und über Südafrika eine ganze Munitionsfabrik in Saudi-Arabien aufgebaut hat.
({9})
Über die Ankündigung im Sondierungspapier, keine Waffenlieferungen an Saudi-Arabien zu genehmigen, kann Rheinmetall nur müde lächeln. Die brauchen längst keine Genehmigung mehr. Die lassen dort längst selbst produzieren.
Diese Gesetzeslücke ließe sich sehr einfach schließen, wenn Sie nur wollten. Mit wenigen Worten lässt sich der Genehmigungsvorbehalt für technische Unterstützung in den §§ 49 und 50 der Außenwirtschaftsverordnung auf Rüstungsgüter erstrecken und damit eine Produktion von Leopard-Panzern unter türkischem Namen verhindern. Nutzen Sie also die Koalitionsverhandlungen, einigen Sie sich auf einen Genehmigungsvorbehalt für technische Unterstützung, und stellen Sie Verstöße dagegen am besten auch gleich unter Strafe!
({10})
Nur so verhindern Sie, dass Unternehmen wie Rheinmetall sich weiter der Rüstungsexportkontrolle einfach entziehen können. Wer diese Regelungslücke wider besseres Wissen offenhält, macht sich nicht nur für Menschenrechtsverletzungen mit verantwortlich, sondern gefährdet auch deutsche Sicherheitsinteressen.
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Liebe Koalitionäre, hier gäbe es nun die Möglichkeit, mit wenigen Mitteln und etwas politischem Willen tatsächlich Fluchtursachen zu bekämpfen. Schließen Sie endlich diese Gesetzeslücke, bevor es wieder zu spät ist!
Vielen Dank.
({12})
Herzlichen Dank, Frau Kollegin Keul. – Ich erteile nun das Wort Herrn Dr. Andreas Nick für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die militärische Intervention der Türkei in der nordsyrischen Region Afrin ist nach der weit überwiegenden Einschätzung in diesem Haus nicht nur militärisch riskant und humanitär problematisch, sie ist auch politisch falsch und mit dem Völkerrecht unvereinbar.
Wirklich überraschen kann diese Entwicklung allerdings niemanden, der die Geschehnisse in der Region aufmerksam verfolgt. Man mag es für einseitig oder falsch halten, dass die Türkei die Entwicklung in jenem Teil Syriens vorrangig unter dem Gesichtspunkt des Konflikts mit der PKK im eigenen Land zu betrachten scheint. Wer aber eine weitere Eskalation verhindern will, der kann nicht ignorieren, dass die Türkei – nicht nur die Regierung Erdogan, sondern weite Teile der türkischen Gesellschaft – durch ihre Betroffenheit und Interessenlage an dieser Stelle eine spezifische Wahrnehmung von Bedrohungen hat.
Für die Türkei ist es erste Priorität, an ihrer Südgrenze kein von der YPG kontrolliertes Gebiet entstehen zu lassen, das in ihrem Verständnis vorrangig als Rückzugsraum und Ausgangsbasis für Guerillaaktionen der PKK in der Türkei zu betrachten wäre. Dass sie dies im Zweifelsfall auch mit militärischen Mitteln zu verhindern versuchen wird, darauf haben Sicherheitsexperten seit langem hingewiesen.
Zweifelsohne hat die YPG einen wichtigen Beitrag im militärischen Kampf gegen den IS geleistet. Aber die Stärkung der YPG, auch durch die militärische Zusammenarbeit mit den USA, ist im Hinblick auf ihre Folgewirkungen in der Region nicht ohne Risiken; denn nicht nur nach türkischer Interpretation ist die YPG das syrische Pendant zur PKK. Sie wird im Übrigen auch vom deutschen Verfassungsschutz als Schwesterorganisation der PKK eingestuft,
({0})
die wiederum in Deutschland, der EU und den USA als Terrororganisation gilt.
Die YPG wird sich an irgendeinem Punkt entscheiden müssen, welchem Anliegen sie den Vorrang gibt, der kurdischen Selbstverwaltung in Syrien oder ihrem Kampf gegen die Türkei. Natürlich – auch da sind wir uns hoffentlich alle einig – darf Gewalt nicht die Antwort auf die krisenhaften Entwicklungen in der Region sein, nicht in Syrien, nicht in der Türkei und schon gar nicht auf den Straßen und Plätzen in Deutschland.
({1})
Deshalb ist es gut und richtig, dass das Verbot der PKK unter der Verantwortung des neuen Landesinnenministers Herbert Reul, wo notwendig, nunmehr auch in Nordrhein-Westfalen konsequent umgesetzt wird.
Eines aber ist klar: Der Schlüssel zu einer nachhaltigen Befriedung liegt in der Lösung des Kurdenkonflikts in der Türkei. Eine Wiederaufnahme des Friedens- und Versöhnungsprozesses würden wir deshalb nachdrücklich unterstützen. Als Ergebnis ist auch ein hohes Maß an regionaler und kultureller Autonomie für die kurdischen Gebiete vorstellbar. Unabdingbare Voraussetzung dafür ist aber zweierlei: ein uneingeschränkter Gewaltverzicht ebenso wie die unzweideutige Anerkennung der territorialen Integrität der Türkei. Umgekehrt gilt aber auch: Statt die oppositionelle HDP zu kriminalisieren – ihre Co-Vorsitzenden Demirtas und Yüksekdag und weitere Abgeordnete sind seit Monaten inhaftiert –, wäre es richtig und notwendig, der politischen Interessenvertretung von Teilen der kurdischen Bevölkerung innerhalb der Türkei durch demokratisch legitimierte Parteien und Abgeordnete angemessenen Raum zu geben.
({2})
Nicht zuletzt aufgrund der amerikanischen Unterstützung der YPG sind die Beziehungen zwischen der Türkei und den USA in den letzten Jahren zunehmend belastet. Gleichzeitig befördert die Krise in Syrien die Annäherung zwischen der Türkei und Russland. Es ist im Übrigen schwer vorstellbar, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass es ohne ein zumindest stillschweigendes Einverständnis der Herren Putin und wohl auch Assad zu der türkischen Intervention in Syrien gekommen wäre. Weil hier auch über Rüstungsexporte gesprochen wird: Im vergangenen Jahr hat die Türkei, obwohl NATO-Partner, mit Russland ein Raketenabwehrprojekt mit Ausgaben in Milliardenhöhe abgeschlossen.
({3})
Für unser Land gilt nach den Politischen Grundsätzen der Bundesregierung aus dem Jahr 2000, dass der Export von Rüstungsgütern an NATO-Länder nur „aus besonderen politischen Gründen in Einzelfällen“ zu beschränken ist.
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Im Fall der Türkei erfolgen Genehmigungen seit dem Putschversuch vom Juli 2016 nach außen- und sicherheitspolitischen Prüfungen der Bundesregierung und im Abgleich mit der fortlaufenden Genehmigungspraxis der EU-Mitgliedstaaten. Auch der Beachtung der Menschenrechte wird bei der Bewertung der Rüstungsexportentscheidungen ein besonderes Gewicht beigemessen.
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Nach einer grundsätzlichen Evaluierung des Militäreinsatzes der Türkei in Syrien wird von einer künftigen Bundesregierung über das weitere Vorgehen zu entscheiden sein.
Meine Damen und Herren, die Befriedung der Region hängt aber nicht von deutscher Exportpolitik ab. Entscheidend ist, ob es mit einer international abgesicherten Friedenslösung gelingt, das Anliegen einer kurdischen Selbstverwaltung auf beiden Seiten der türkischen Grenze mit den Sicherheitsinteressen der Türkei in Einklang zu bringen.
Vielen Dank.
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Herr Dr. Nick, herzlichen Dank. – Als Nächstes erteile ich dem Kollegen Fritz Felgentreu von den Sozialdemokraten das Wort.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der „Operation Olivenzweig“, also dem Einmarsch in die bisher von der kurdischen PYD kontrollierte Region Afrin, hat die Türkei ein neues Kapitel der syrischen Tragödie aufgeschlagen. Die Türkei begründet den Vorstoß auf syrisches Gebiet mit ihren Sicherheitsinteressen. Richtig ist: Die PYD ist eine Tochter- oder Schwesterorganisation der auch hier in Deutschland verbotenen PKK, die in der Türkei seit Jahrzehnten für zahlreiche Terroranschläge mit vielen Todesopfern die Verantwortung trägt. Es kann uns deshalb nicht überraschen, dass die Türkei diesen Nachbarn als Sicherheitsproblem betrachtet. Richtig ist aber auch, dass die PYD zusammen mit den anderen Verbündeten in Nordsyrien einen wesentlichen Beitrag zur Zerschlagung des IS geleistet hat. Und zu der Allianz gegen den IS gehört natürlich auch die Türkei.
Was wir an Berichten aus der Region haben, ergibt kein klares Bild. Ähnlich wie vor vier Monaten im Nordirak erleben wir offenbar gerade, dass auch im Norden Syriens Konflikte wieder aufbrechen und gewaltsam ausgetragen werden, die der gemeinsame Kampf gegen den IS zeitweilig überdeckt hatte. Dem türkischen Vorgehen können wir aus der Ferne nur mit größter Besorgnis begegnen. In einer weiteren Region des leidgeprüften Landes ist damit die Zivilbevölkerung den Gefahren ausgesetzt, die mit Kriegshandlungen unweigerlich einhergehen. Eine tragfähige völkerrechtliche Grundlage für die „Operation Olivenzweig“ ist nirgends erkennbar.
Mit Verwunderung lesen und hören wir Berichte, wonach die türkischen Streitkräfte in Afrin auch mit islamistischen Milizen kooperieren. Hier ist die Türkei jetzt gefordert. Wir brauchen Klarheit über ihr Vorgehen, und sie muss sich überzeugend von Organisationen abgrenzen, die sich ideologisch nur in Details vom IS unterscheiden. Dass in dieser Lage die Genehmigung neuer Rüstungsexporte nicht infrage kommt, obwohl die Türkei als NATO-Partner darauf grundsätzlich einen Anspruch hat, liegt auf der Hand. Die Bundesregierung hat sich dazu eindeutig positioniert
({0})
und hat dabei die Unterstützung der SPD-Fraktion.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für Krieg gibt es keinen guten Zeitpunkt, aber die Eskalation um Afrin kommt für die Menschen in Syrien zu einem denkbar schlechten; denn gerade jetzt, da der IS zumindest in Gestalt des sogenannten Kalifats besiegt worden ist, wäre der Augenblick gekommen, um nach neuen Wegen für eine friedliche Zukunft Syriens zu suchen. Die von den Vereinten Nationen in Genf moderierten Friedensgespräche wären dafür die beste Plattform. Die Realität sieht allerdings anders aus. Seitdem die russische Intervention und die Unterstützung durch den Iran eine militärische Wende zugunsten des Assad-Regimes bewirkt haben, scheint Damaskus jedes Interesse an einem Waffenstillstand und an Verhandlungen verloren zu haben. Und so haben weder die neunte Runde der Friedensgespräche – jetzt in Wien statt in Genf – noch das in Konkurrenz zur UNO von Russland organisierte Treffen in Sotschi bisher die notwendige Verständigung erreicht. Dass die in Sotschi beschlossene Verfassungskommission für Syrien über das Assad-Lager hinaus Akzeptanz finden wird, zeichnet sich bisher nicht ab. Der türkische Vorstoß auf syrisches Gebiet wird erst recht nicht zu einer Befriedung beitragen und ist auch für die Türkei selbst mit erheblichen Risiken verbunden.
Meine Damen und Herren, eines haben wir längst verstanden: Der Krieg in Syrien betrifft auch uns. Er hat eine Massenflucht nach Europa in Bewegung gesetzt, deren Folgen unser Land bis heute beschäftigen. Der türkisch-kurdische Konflikt, der sich jetzt wieder einmal grenzüberschreitend zuspitzt, wühlt auch hier bei uns die Einwanderungsgesellschaft auf und spaltet sie.
Es kann und darf uns nicht gleichgültig sein, was in Syrien geschieht, weder in Afrin noch in Idlib noch anderswo. Deshalb möchte ich die Bundesregierung von dieser Stelle aus noch einmal mit Nachdruck darum bitten, dass sie alle ihre Möglichkeiten, auch innerhalb der NATO, nutzt, um gegenüber der türkischen Seite auf Deeskalation und eine gewaltfreie Konfliktlösung hinzuwirken. Auch in Syrien hat die alte Einsicht Helmut Schmidts ihre Gültigkeit nicht verloren: Es ist und bleibt besser, 100 Stunden umsonst zu verhandeln, als auch nur eine Minute zu schießen.
Danke schön.
({2})
Vielen Dank, Herr Kollege Felgentreu. – Als Nächster: Petr Bystron von der AfD.
({0})
Ich bin zu Recht darauf hingewiesen worden, dass es seine erste Parlamentsrede ist.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, das ist meine erste Rede hier, und ich muss sagen: Ich bin sehr erstaunt, wie einfach es ist, die deutsche Bundesregierung hier vorzuführen. Es reicht, wenn ein paar Linke die Worte „deutsche Panzer“ in einen Antrag schreiben, und schon springen einige über das Stöckchen und diskutieren über Rüstungsexporte.
({0})
Dabei würde ein bisschen Recherche reichen, um zu merken, dass Ihr Antrag ein Eigentor ist; denn die vorgetäuschte Ablehnung von militärischer Gewaltanwendung seitens der Linken ist Friedenspopulismus der billigsten Sorte.
({1})
Die Linke geriert sich hier als Partei des Friedens und täuscht vor, alles Militaristische abzulehnen.
({2})
Ich kann Ihnen sagen: Wir, die wir die kommunistische Unterdrückung erleben mussten – das sind viele in diesem Hause –, entweder in der DDR oder, wie ich, in einem anderen Land, und sogar davor flüchten mussten, wissen, dass das Lügen und das Täuschen schon immer zum Repertoire der Kommunisten gehört hat,
({3})
egal ob sie Lenin, Stalin, Ulbricht oder Honecker hießen.
({4})
Wie man sieht, setzt die SED-Nachfolgepartei diese Tradition im Deutschen Bundestag fort.
({5})
Gegen wen kämpft Erdogans Armee in Syrien? Gegen die kurdische YPG, einen Ableger der in Deutschland, aber auch in den USA als Terrororganisation verbotenen marxistischen PKK. Ihnen geht es gar nicht darum, den bewaffneten Konflikt zu beenden. Ihnen geht es darum, dass der türkische Angriff Ihren marxistischen Genossen von der PKK gilt.
({6})
Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie das für alle sichtbar dadurch zum Ausdruck bringen, dass Sie sich mit einem Schal uniformiert haben.
({7})
Allerdings finde ich es unerträglich, dass Sie sich mit einem Schal uniformiert haben, der in den 30er-Jahren von einem glühenden Verfechter Hitlers als Uniformierung der Araber eingeführt wurde, die sich von den Juden abgrenzen wollten.
({8})
Das ist hier nicht der Boden, um Antisemitismus zur Schau zu stellen.
({9})
Wir kommen zurück zu Ihrem Pazifismus, zu Ihrem angeblichen Pazifismus.
({10})
Sie und Ihre Unterstützer finanzieren den Konflikt mit. Im Jahr 2015 hat die Interventionistische Linke hier in Deutschland 100 000 Euro für Waffen für Rojava gesammelt. Ein Jahr zuvor hat die Antifaschistische Revolutionäre Aktion Berlin – das muss man sich jetzt auf der Zunge zergehen lassen – im Rahmen einer Spendenkampagne „Waffen für Rojava – Solidarität mit der YPG“ nach eigenen Angaben 119 000 Euro gesammelt – für Waffenkäufe. Das ist Ihr Pazifismus! Danke schön dafür.
({11})
Sie finanzieren seit Jahren die Linksterroristen in Kurdistan mit. Mit Ihrem Geld werden Waffen gekauft, durch die Hunderte unschuldiger Menschen getötet werden.
({12})
Liebe Freunde, wir sehen doch alle, dass die Diskussion über deutsche Panzer nur eine Ablenkung vom eigentlichen Skandal ist.
({13})
Darf ich kurz unterbrechen? – Ich bitte, diese Zwischenrufe zu unterlassen.
({0})
– Das mögen Sie als „Mist“ empfinden; aber Demokratie besteht darin, auch Meinungen entgegenzunehmen, die man gelegentlich für unerträglich hält.
({1})
Ich darf Sie wirklich bitten, dem Redner einfach zuzuhören, auch wenn Ihnen das schwerfallen mag.
Na ja, wenn Sie so einen Blödsinn machen und sich hier uniformieren, dann müssen Sie es sich schon gefallen lassen, dass Ihnen jemand sagt, woher die Schals kommen.
({0})
Sie sollten sich vielleicht zu Wort melden. – Herr Kollege, bedauerlicherweise geht Ihre Redezeit jetzt wirklich zu Ende. Es ist Zeit für den letzten Satz.
({0})
Der eigentliche Skandal ist, dass die deutsche Bundesregierung ein Land, das einen Angriffskrieg führt – es wurde hier schon mehrfach ausgeführt, dass das eine Verletzung der UN-Charta, eine Verletzung des Völkerrechts darstellt –, in die Gemeinschaft der zivilisierten Länder aufnehmen will, in die Europäische Union. Ich denke, es ist an der Zeit, drei Punkte klipp und klar zu sagen –
Nein, Herr Kollege.
– das ist ein Satz –: Liebe Freunde aus der Türkei, die Türkei hat nie zu Europa gehört, Europa endet am Bosporus,
({0})
und die Türkei gehört nicht zur EU.
Danke schön.
({1})
Als Nächstes hat der Kollege Andrej Hunko von den Linken das Wort.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bystron, Sie haben, auch wenn es Ihre erste Rede war, so viel durcheinandergeworfen, dass es mir unmöglich ist, im Einzelnen darauf zu reagieren; es tut mir sehr leid.
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Wir reden über den türkischen Einmarsch mit deutschen Panzern im nordsyrischen Afrin. In der UN-Charta heißt es:
Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede ... Androhung oder Anwendung von Gewalt.
Man muss diesen Artikel 2 Nummer 4 der UN-Charta in diesen Tagen immer wieder in Erinnerung rufen. Dieser türkische Einmarsch im nordsyrischen Afrin ist ein schwerer Bruch des Völkerrechts. Die Linke verurteilt ihn sehr deutlich und fordert von der Bundesregierung, ihn ebenso deutlich zu verurteilen.
({1})
Ich habe sehr wohl zur Kenntnis genommen – dafür bedanke ich mich bei den anderen Fraktionen –, dass alle Redner bis auf die der AfD dies benannt und diesen Einmarsch als völkerrechtswidrig bezeichnet haben.
({2})
Aber die Bundesregierung hat das nicht getan. Das müssen wir hier sehr deutlich einfordern.
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Begründet wird dieser Einmarsch mit dem Kampf gegen den Terrorismus. Die kurdischen Volksverteidigungseinheiten der YPG werden von der Türkei als Terrororganisation eingestuft. Kein anderes Land teilt diese Einschätzung. Im Gegenteil: Noch vor kurzer Zeit wurden die Kämpfer der YPG als wichtigste und erfolgreichste Kraft im Kampf gegen den „Islamischen Staat“ unterstützt und als Retter der Jesidinnen und Jesiden vor dem drohenden Völkermord durch den IS gefeiert. So geht es in der internationalen Politik nicht: einfach zu behaupten, da oder dort seien Terroristen, und damit selbst zu legitimieren, dass man dort militärisch einmarschiert.
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Aber leider gab es in der internationalen Politik in den letzten Jahren viele Präzedenzfälle, auch von deutscher Seite. Es muss Schluss sein mit diesem Umgang mit dem Völkerrecht, egal von welcher Seite.
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Vonseiten der türkischen Regierungspartei wird immer wieder behauptet, es gehe um den Kampf gegen den „Islamischen Staat“ und die YPG. Beide, IS und YPG, werden in einen Topf geworfen. Dann rührt man die Terroropfer von Paris, Brüssel, London und Berlin unter und nutzt sie sozusagen noch als Argument für diesen verbrecherischen Krieg. Herr Dr. Nick, wir haben letzte Woche in Straßburg genau diese Debatte, in der diese Argumente genannt wurden, geführt. Ich sage hier sehr deutlich an die Adresse der türkischen Regierung: Sie haben kein Recht, die Terroropfer von Paris, London, Berlin und Brüssel für Ihren Krieg heranzuziehen.
({6})
Aber besonders schändlich ist das Verhalten der Bundesregierung. Es ist nicht nur so, dass Sie die Türkei weiterhin mit militärischen Gütern beliefern, etwa mit deutschen Leopard-Panzern, mit denen jetzt Menschen getötet und in die Flucht getrieben werden;
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Sie haben diese Waffenlieferungen in den letzten Jahren auch noch ausgebaut, allein von September bis November 2017 im Wert von 30 Millionen Euro. Das war deutlich mehr als im ganzen Jahr 2015. Auch in der aktuellen Situation geht die Kooperation weiter. Mehr als 80 Prozent der Bevölkerung in Deutschland wollen ein Ende dieser Rüstungsexporte. Wir sagen sehr deutlich: Kein Panzer und kein Gewehr mehr in die Türkei unter Erdogan!
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Nun erwecken Sie seitens der Bundesregierung den Eindruck, dass ja protestiert wird und dass die Kooperation eingestellt wird. Ich will Ihnen einmal sagen, was der türkische Außenminister Cavusoglu letzte Woche gesagt hat – Zitat –:
Es gibt keinerlei Problem mit der Rüstungsindustrie.
Gemeint ist die Kooperation mit Deutschland.
Zuletzt sollte eine Kommissionssitzung stattfinden, die sich mit den Panzern und ihren Motoren beschäftigte. Ich glaube, diese Sitzung wurde verschoben. Es kann also nicht die Rede von einem Aufschub oder einer Annullierung sein. Wir haben ständig telefonischen Kontakt mit Sigmar.
Nur der Vorname! Er ist übrigens nicht hier; vielleicht telefoniert er ja mit Cavusoglu.
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Und weiter:
Ich weiß auch, dass sie unter Druck stehen. Auch aus den Medien gibt es Druck. Aber soweit ich weiß, wurde nur die Sitzung der Kommission verschoben. Die Zusammenarbeit mit der türkischen Verteidigungsindustrie wurde nicht beendet.
So weit Cavusoglu.
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Sie streuen der Bevölkerung in Deutschland Sand in die Augen. Während Sie angeblich gegen diesen Krieg protestieren, geben Sie in Wirklichkeit grünes Licht. Das ist der eigentliche Skandal.
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Ich komme zum Ende. – Die Linke fordert den sofortigen Rückzug der türkischen Armee aus dem nordsyrischen Afrin. Wir fordern die Bundesregierung auf, in diesem Sinne aktiv zu werden, auf allen internationalen Ebenen dafür einzutreten, die deutschen Soldaten vom NATO-Stützpunkt Konya in der Türkei abzuziehen und endlich das Gewaltverbot des Völkerrechts auch in anderen Konflikten zu beachten.
Herr Kollege, kommen Sie jetzt bitte wirklich zum Schluss.
Letzter Satz. – Der Friedensprozess ist sehr, sehr wichtig. Wir müssen dafür eintreten, dass auch der Friedensprozess zwischen der türkischen Regierung und der PKK wieder aufgenommen wird.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Herr Kollege Hunko, wenn jeder mit der Erklärung „Ich komme zum letzten Satz“ eine Minute obendrauf legt, verlängert sich die Aktuelle Stunde ins Unermessliche. Deshalb bitte ich wirklich darum, meiner Bitte, die Rede mit einem Satz zu beenden, auch Folge zu leisten.
Herr Kollege Erndl, Sie haben jetzt für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. Es ist Ihre erste Parlamentsrede; ich werde Ihnen das Mikrofon nicht abschalten, wenn Sie etwas überziehen.
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Danke schön, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte noch einmal auf den geänderten Titel der Aktuellen Stunde verweisen. Wir sprechen über den Einsatz türkischer Panzer aus deutscher Produktion und nicht über den Einsatz deutscher Panzer.
Besorgt blicken wir auf die Vorgänge im Norden Syriens, auf Vorgänge, die seit Jahren viel Leid verursachen, auf Vorgänge mit vielen Opfern, auf Vorgänge, die Familien zwingen, ihre Heimat zu verlassen und sich perspektivlos auf den Weg zu machen. Wir blicken auf die Türkei, die zweifellos seit Jahrzehnten dem PKK-Terrorismus, der viele Opfer gefordert hat, ausgesetzt ist. Wir blicken auf die Türkei, die annähernd 3 Millionen Flüchtlinge aus Syrien untergebracht hat – näher an der Heimat als im fernen Europa –, und wir blicken auf die Türkei, die ohne Zweifel das Recht hat, sich um die eigene Sicherheit zu sorgen, und gegen Terrorismus vorgehen muss. Aber was wir in dieser Region nicht brauchen, sind weitere militärische Konflikte, neue Gewaltspiralen sowie unverhältnismäßigen und auch völkerrechtswidrigen Einsatz militärischer Mittel.
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Es ist zu durchschaubar, dass Präsident Erdogan mit dem Einmarsch in Nordsyrien versucht, sein Volk mit Blick auf die Wahlen 2019 hinter sich zu versammeln. Er hat den Ausnahmezustand, der seit dem Putsch gilt, um drei Monate verlängert. Kritik am Einsatz wird als Terrorpropaganda verfolgt, und weitere Journalisten werden verhaftet. Was wir hier in Deutschland brauchen, ist eine klare Benennung der Situation, auch von unserem Außenminister. Die Intervention ist absolut unverhältnismäßig. Präsident Erdogans Ziel ist eine Zerschlagung der kurdischen Selbstverwaltung. Eine Ausweitung bis hin zu amerikanischen Stützpunkten wäre fatal. Mit diesem Handeln, meine Damen und Herren, entfernt sich die Türkei immer weiter von Europa. Ich vermisse hier eine klare Sprache der EU und auch der NATO.
Die Bombardierungen in der Region, die bisher als relativ sicher galt, sind sofort einzustellen. Der türkische Angriff auf die Stadt und die Region Afrin gefährdet 250 000 Einwohner und 150 000 Binnenflüchtlinge, die dort Zuflucht gefunden haben. Aber auch Minderheiten wie die dort lebenden 15 000 Jesiden und die 30 000 Christen fürchten um ihr Leben und die Auslöschung ihrer Glaubensgemeinschaften in der Region. Diese Minderheiten wurden schon 2013 vom IS gnadenlos verfolgt. Nun sind es türkische Kampfflugzeuge und die Islamisten und Dschihadisten der FSA, der sogenannten Freien Syrischen Armee, die ihr Leben bedrohen. 250 christliche Familien mussten wegen der Kampfhandlungen bereits in Höhlen und den nahegelegenen Bergen Unterschlupf suchen. Diese Schicksale können uns nicht gleichgültig sein.
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Was wir hier in Deutschland aber nicht brauchen, sind Unterstützer von Terrororganisationen. PKK-Fahnen und -Symbole haben auf unseren Straßen nichts verloren.
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Ich bin froh, dass die neue Regierung in Nordrhein-Westfalen den Polizei- und Sicherheitskräften endlich die politische Rückendeckung gibt, den Rechtsstaat an dieser Stelle auch durchzusetzen.
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Was wir brauchen, ist eine Zukunftsperspektive.
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Die Kurdenfrage wird nicht militärisch zu lösen sein. Deutschland und die EU müssen dringend einen verbindlichen Standpunkt in der türkisch-kurdischen Situation bestimmen. Die Türkei als Scharnier zwischen dem Nahen Osten und Europa spielt auch für unsere Sicherheit eine wichtige Rolle. Wir stehen vor der doppelten Herausforderung, deutlich Stellung zu beziehen, aber auch die Beziehungen zur Türkei nicht aufzugeben und den Dialog weiterzuführen. Was wir brauchen, ist eine stabile, eine rechtsstaatliche Türkei, die ihren Einfluss zur Stabilisierung in der gesamten Region verantwortungsvoll wahrnimmt und sich auch zur NATO als Wertegemeinschaft bekennt. Die Menschen in der Türkei werden irgendwann entscheiden müssen, welchen Weg sie gehen wollen. Perspektiven der näheren Zukunft für die Zollunion und die Visaliberalisierung sind aufgezeigt.
Es ist noch ein weiter Weg für die Türkei. Den unverhältnismäßigen militärischen Einsatz in Syrien sofort zu stoppen, wäre ein erster Schritt. Das will ich hier verdeutlichen.
Herzlichen Dank.
({5})
Vielen Dank, Herr Kollege Erndl. – Als vorletzter Redner spricht der Kollege Christoph Matschie für die Sozialdemokratische Partei Deutschlands.
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Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich habe die Debatte aufmerksam verfolgt. Ich glaube, uns eint die Sorge – jedenfalls weitgehend in diesem Haus – über diesen Einmarsch und die militärische Eskalation; die skurrilen Äußerungen der AfD lasse ich an dieser Stelle einmal beiseite. Ich glaube aber auch – damit möchte ich auf Ihren Beitrag eingehen, Frau Kipping –, dass diese sehr ernsthafte Situation eher Nachdenklichkeit als Agitation erfordert. Mit dem, was Sie hier abgeliefert haben, ist in diesem Konflikt niemandem geholfen.
({0})
Die Situation, die wir vorfinden, ist nicht einfach auflösbar, und sie ist auch nicht mit einfachen Parolen zu bewältigen. Wir stehen hier vor einem sehr komplizierten Konflikt. Und es ist einfach nicht wahr – das will ich mit aller Deutlichkeit sagen –, dass die Bundesregierung zu diesem Konflikt schweigt. Das stimmt nicht, Frau Kipping.
({1})
Ich darf vielleicht einmal zitieren – das hat Ihr Kollege Hunko ja eben angesprochen –, was der Bundesaußenminister zum Thema Rüstungsexporte gesagt hat:
Was die aktuellen Beratungen um Rüstungsexporte angeht, so ist für die Bundesregierung klar, dass wir nicht in Spannungsgebiete liefern dürfen und dies auch nicht tun werden.
Ich finde, das ist ein klarer Satz der Bundesregierung zu dieser Frage, und es ist gut, dass die Waffenlieferungen in dieser Situation eingefroren sind.
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Es ist für mich klar, dass wir in diesem Haus grundsätzlich über die Frage reden müssen, wie wir mit Waffenexporten umgehen. Aber auch hier gibt es keine einfachen Antworten.
Frau Kollegin Keul, man muss ja auch einmal daran erinnern, dass die Entscheidung, Leopard-2-Panzer in die Türkei zu liefern, damals von einer Regierung getroffen wurde, der Sie als Grüne angehört haben.
({3})
– Die SPD auch. – Hintergrund dieser Entscheidung war, dass wir die Türkei damals gemeinsam auf einem Weg in Richtung Europa gesehen haben, als einen Partner, der sich Europa stärker öffnet und die Annäherung sucht. Vor diesem Hintergrund ist diese Entscheidung getroffen worden, eine Entscheidung, die in der Situation, glaube ich, zu rechtfertigen war, zumal es sich hierbei um ein NATO-Mitglied gehandelt hat.
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Ich bin der Auffassung – auch das hat die Bundesregierung deutlich gemacht –, dass man über die jetzige Situation in der NATO reden muss, Frau Roth; ja, natürlich. Dazu gehört auch die Frage, wie es langfristig in der NATO mit den beteiligten Partner weitergehen soll. Es bleibt ja dabei, dass die Türkei ein wichtiger Nachbar Europas ist, dass die Türkei eine wichtige geostrategische Position einnimmt
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und dass wir deshalb ein Interesse daran haben müssen, mit der Türkei wieder zu einem konstruktiven Verhältnis zu kommen.
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Deshalb geht es auch nicht darum, ob man jetzt mit irgendeiner Entscheidung den Zorn Erdogans erregt. Das wäre mir ziemlich egal; das sage ich ganz offen. Es geht darum, wie wir langfristig mit diesem Partner Türkei umgehen können und umgehen müssen.
Da hilft am Ende nur, auf diplomatische Prozesse zu setzen, auf das Gespräch, auch auf die klare Ansprache von Problemen. Sie bleibt in dieser Situation nicht aus. Wir müssen auf diplomatische Prozesse setzen; denn – auch das ist klar –: Die Türkei ist mehr als die jetzige Regierung Erdogan.
({7})
Auch das müssen wir im Blick behalten, wenn wir über diesen NATO-Partner reden.
Die Lage ist alles andere als einfach; das hat auch die Beratung im Sicherheitsrat gezeigt. Dort gab es keine eindeutige Position und keine Entschließung des Sicherheitsrates zur Türkei. Das haben auch die Verhandlungen in Wien gezeigt, die ohne ein Ergebnis zu Ende gingen. Deshalb kann es in dieser Situation für die Bundesregierung nur eins geben – das will ich hier deutlich machen –: Wir müssen jetzt alle diplomatischen Mittel nutzen, um diesem Konflikt, um diesem Einmarsch so schnell wie möglich ein Ende zu setzen. Wir brauchen eine Rückkehr an den Verhandlungstisch.
Eins ist klar: In Syrien kann es keine militärischen Lösungen geben; in Syrien kann es nur politische Lösungen geben. Diesen politischen Lösungen muss unser ganzer Einsatz gelten.
Herzlichen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Vielen Dank, Herr Kollege Matschie. – Als letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde rufe ich Herrn Dr. Frank Steffel für die CDU/CSU auf.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe wie auch die meisten von Ihnen hier die letzte Stunde sehr konzentriert zugehört. Ich muss erst einmal für mich feststellen: Ich finde den Ton der Debatte, auch Ihre Zusammenfassung, Herr Matschie, außerordentlich wohlwollend. Ich hatte den Eindruck, dass wir, auch wenn die Töne rechts und links außen etwas schriller waren, im Wesentlichen alle spüren, dass es keine einfachen Antworten in dieser Frage gibt. Das verbindet diese Frage übrigens mit einigen anderen außenpolitischen Entwicklungen der vergangenen Jahre.
Ich möchte zum Thema Türkei zu drei Punkten abschließend etwas sagen.
Erstens. Wir haben hier einvernehmlich festgestellt, dass das, was die Türkei dort tut, offenkundig völkerrechtswidrig ist. Ich finde es übrigens eine gute Erkenntnis, dass wir das hier einvernehmlich feststellen. Ich habe auch von der Bundesregierung dazu nichts Abweichendes gehört.
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Dass Regierungshandeln sich von Parlamentsreden unterscheiden kann und häufig sollte, gehört zu einer verantwortungsvollen Außenpolitik.
Zweitens. Wir haben gemeinsam festgestellt, dass es offenkundig andere Motive als die gibt, die uns die türkische Regierung als Grundlage dafür kundtun will, warum man diesen militärischen Schritt gegangen ist. Wir alle gemeinsam haben – ich finde das außerordentlich wichtig – unsere tiefe Trauer und unsere tiefempfundene Anteilnahme für die Opfer, insbesondere für die zivilen Opfer, in diesem Gebiet von Syrien, diesem geschundenen Land, festgestellt. Ich halte auch das in dieser Frage für wichtig, gerade bei einem Volk, das so viel durchgemacht hat.
Es gibt bei uns Unterschiede hinsichtlich des Vorgehens gegenüber der Türkei. Übrigens stelle ich abstrakt die Frage: Was ist die Alternative zur Diplomatie? Was ist die Alternative zum Reden, zum klaren Reden, aber zum Reden?
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– Ich komme gleich zu Rüstungsexporten. – Wir stellen gemeinsam fest – so war zumindest mein Eindruck –, dass es nicht der richtige Weg ist, die Türkei in die völlige militärische und politische Isolation zu treiben, sondern das Ziel muss es sein, ob mit Erdogan oder insbesondere nach Erdogan, die Türkei zurück in die Wertegemeinschaft von Demokratien und vernünftigen Staaten auf dieser Welt und insbesondere in Europa zurückzuholen.
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Alles andere wäre auch verantwortungslos, und nicht nur, weil in Deutschland besonders viele Menschen türkischer Herkunft und türkische Staatsbürger leben.
Ich will zum Thema NATO kommen. Die Türkei ist seit 1952 NATO-Partner, meine Damen und Herren, übrigens länger als Deutschland. Dass uns das in dieser Frage vor besondere Herausforderungen stellt, ist doch keine Frage, weil sich mit einer Partnerschaft Rechte und Pflichten verbinden.
Gemeinsam stellen wir fest, dass die Türkei ihren Pflichten nicht nachkommt. Ich glaube, darüber sind wir uns in diesem Kreis auch weitestgehend einig.
Gemeinsam stellen wir aber auch fest, dass es uns sicherlich nicht nutzt, den Konflikt zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika – auch unter politisch gegenwärtig nicht ganz einfachen Rahmenbedingungen – mit der Türkei zu forcieren. Ich glaube, es war die Rednerin der Linken, die völlig zu Recht darauf hingewiesen hat. Wenn das dort noch einige Kilometer weiter geht, dann kommt möglicherweise ein militärischer Konflikt zwischen zwei NATO-Partnern. Meine Damen und Herren, wie wahnsinnig ist das denn 27 Jahre nach Ende des Kalten Krieges? Also müssen wir uns auch hier der Sensibilität dieses Themas mehr als bewusst sein.
Eins ist für uns klar – zumindest gibt es in unserer Fraktion dazu keine abweichenden Meinungen –: Natürlich kann es an diese Türkei, solange sie sich so verhält, wie sie sich verhält, keine weiteren Waffenlieferungen und nicht einmal Lieferungen von Ersatzteilen für Waffen geben, und das hat die Bundesregierung auch völlig klar gemacht.
({3})
Ich komme zum dritten Punkt, der uns im Deutschen Bundestag auch bewegen sollte, nämlich die Frage: Was heißt das innenpolitisch für Deutschland? Lassen Sie mich das in einem einfachen Satz zusammenfassen: Ich möchte weder aggressiven, hasserfüllten, undemokratischen türkischen Wahlkampf in Deutschland, noch möchte ich gewaltbereite, gewaltverharmlosende und zu Gewalt aufrufende PKK-Sympathisanten im politischen Raum in Deutschland. Beides hat in unserem Land keinen Platz.
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Ich komme zu einem letzten Punkt – auch das ist eine Erkenntnis dieser Debatte –: Wir diskutieren viel über die fehlende Bundesregierung unter innenpolitischen Aspekten und sagen: Da bleibt viel liegen; da müsste viel getan werden; es stehen wichtige Aufgaben an. – Meine Damen und Herren, auch in der Außenpolitik stehen wichtige Aufgaben an. Deswegen kann ich nur an alle Verantwortlichen appellieren, sehr schnell dafür zu sorgen, dass wir durch eine stabile Bundesregierung auch in der Lage sind, diesen außenpolitischen Aufgaben im Interesse der Menschen in Deutschland gerecht zu werden.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Steffel. Mit Ihren Worten hat die Aktuelle Stunde ihr Ende gefunden.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Kinder zu haben, ist für viele Menschen in Deutschland das Wichtigste und Schönste im Leben. Über 90 Prozent der 18- bis 30-Jährigen geben in Umfragen an, ein Kind oder auch mehrere Kinder haben zu wollen. Aber längst nicht alle können ihren Kinderwunsch verwirklichen, jedenfalls nicht ohne medizinische Unterstützung.
Mehr als 6 Millionen Menschen in Deutschland sind ungewollt kinderlos, und die Zahl steigt. Längere Ausbildung und häufige Jobwechsel führen dazu, dass sich Menschen heute immer später dafür entscheiden, Kinder zu bekommen – viele so spät, dass sie Hilfe benötigen.
Die Unterstützung für Maßnahmen der künstlichen Befruchtung haben SPD und Grüne 2004 aber stark reduziert. Was vorher als Regelleistung zu 100 Prozent von der GKV übernommen wurde, wird seitdem nur noch zur Hälfte von der Kasse bezahlt, aber nur für die ersten drei Versuche, nur bei Ehepaaren und nur für Frauen zwischen 25 und 40 Jahren.
Die schwarz-gelbe Bundesregierung hat die finanzielle Unterstützung mit einer Richtlinie des BMFSFJ zur Förderung der assistierten Reproduktion erleichtert. Mittlerweile fördert diese Richtlinie auch unverheiratete Paare.
Unser Ansatz war, dass Bund und Länder gemeinsam ein Viertel der Gesamtkosten tragen, unter der Voraussetzung, dass sich die Länder paritätisch beteiligen. Wir Freie Demokraten geben offen zu: Wir waren da zu optimistisch. Lediglich fünf ostdeutsche Bundesländer und das Land Niedersachsen haben entsprechende Richtlinien erlassen. Die vom Bund zur Verfügung gestellten Mittel werden nicht vollständig ausgeschöpft, weil die Länder nicht mitziehen. Die Erfüllung eines Kinderwunsches ist dadurch in hohem Maße abhängig vom Wohnort derjenigen, die ein Kind bekommen möchten. Diese Ungleichbehandlung halten wir für absolut falsch.
({0})
Als Freie Demokraten setzen wir uns bereits seit Jahren in den Ländern dafür ein, die Finanzierung der Kinderwunschbehandlung zu verbessern. In Hamburg beispielsweise gab es entsprechende Initiativen meiner damaligen Fraktion 2013 und 2016. Sowohl in Schleswig-Holstein als auch in Nordrhein-Westfalen ist die Kofinanzierung des Bundesprogramms durch das Land Teil des Koalitionsvertrags mit unseren Partnern. Bundesweit einheitliche Regelungen sind dennoch in weiter Ferne. Hier besteht dringender Handlungsbedarf.
({1})
Die Abhängigkeit der Förderungsbereitschaft des Wohnsitzbundeslandes ist aber nur ein Teil des Problems. Unverheiratete Paare erhalten keine Förderung durch die Krankenkasse, aber unter Umständen durch die BMFSFJ-Richtlinie. Alleinstehende gehen komplett leer aus, und das, obwohl inzwischen jedes dritte Kind in Deutschland außerhalb einer Ehe geboren wird. Lesbische Paare werden gar nicht gefördert. Entscheidet sich ein Paar zu früh oder zu spät im Leben für eine Wunschkindbehandlung, bleibt die Unterstützung aus. Besonders problematisch ist das schlagartige Ende der Förderung der Frauen ab dem 40. Lebensjahr.
Zum Stichwort „Social Freezing“: Die künstliche Befruchtung mit eingefrorenen Ei- und Samenzellen wird weder von GKV noch durch die BMFSFJ-Richtlinie gefördert.
Der von uns vorgelegte Antrag ist ein erster pragmatischer und hoffentlich schnell umzusetzender Schritt, um Menschen mit Kinderwunsch besser zu unterstützen und zu helfen, unabhängig vom Wohnort und vom Familienstand.
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Nur am Rande und ganz kurz: Davon unbenommen brauchen wir in Deutschland eine weitergehende Diskussion, bei wem wir darüber hinaus eine assistierte Reproduktion unterstützen wollen und welche Maßnahmen dabei zum Einsatz kommen sollen. Aus unserer Sicht sollten Eizellspende und nicht kommerzielle Leihmutterschaft unter bestimmten Bedingungen legalisiert werden. Dafür muss jedoch sehr viel mehr geändert werden als nur die Richtlinie des BMFSFJ, an der wir mit dem vorliegenden Antrag ansetzen. Wir arbeiten aber an weiteren entsprechenden Initiativen.
Meine Damen und Herren, es ist offensichtlich, dass die bestehenden Förderinstrumente der Lebenswirklichkeit der Menschen in unserem Land nicht gerecht werden. Lassen Sie uns daher einen ersten wichtigen Schritt machen. Ich freue mich auf die Debatte.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Suding. – Als Nächster für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Stephan Pilsinger. Auch für ihn ist es seine erste Parlamentsrede.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit Freude habe ich vernommen, dass die FDP mit ihrem Antrag auf Ausweitung von Kinderwunschbehandlungen sich des Themas der Fortpflanzung annimmt.
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Es ist die zentrale Aufgabe der Gesellschaft, sich der Weitergabe des Lebens anzunehmen und dafür entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen, dass in der Bundesrepublik Familien und werdende Familien unterstützt werden. In Artikel 6 des Grundgesetzes ist dies verfassungsrechtlich verbürgt. Die FDP will mit ihrem Antrag nun eine Ausweitung der Kinderwunschbehandlungen erreichen.
Auch ich denke, unsere Gesellschaft sollte eine kinderfreundlichere Gesellschaft werden. Aber wie kann unsere Gesellschaft eine Gesellschaft werden, die der Weitergabe des Lebens mehr Achtung schenkt? Ich finde, dass dies auf eine andere Art und Weise geschehen sollte, als von der FDP in ihrem Antrag gefordert. Mir geht es dabei nicht darum, ob etwas verboten oder erlaubt werden sollte. Mir geht es darum, ob ich etwas für so förderungswürdig halte, dass es von allen Bürgern bezahlt werden soll. Die Art und Weise, wie sich der Staat des Themas annehmen sollte, und meine darauf beruhenden Überlegungen zu dem Thema möchte ich im Folgenden darlegen.
Der Antrag der FDP auf Ausweitung von Kinderwunschbehandlungen fußt ja auf der Überzeugung, dass es ein Recht auf Elternschaft gebe.
Als Mediziner kann ich Ihnen sagen: Ein Recht auf Elternschaft gibt es leider nicht.
({1})
Das Leben ist immer ein Geschenk, und auch die Weitergabe des Lebens muss als Geschenk gesehen werden. Mit Kinderwunschbehandlungen kann man zwar nachhelfen, dass es zum Geschenk einer Elternschaft kommt,
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aber ein Recht lässt sich hieraus nicht ableiten.
({3})
Die Reproduktionsmedizin ist auch nicht in allen Fällen ein erfolgreiches und zuverlässiges Allheilmittel bei Kinderlosigkeit. Die Diskussion über künstliche Befruchtung muss daher differenziert geführt werden.
({4})
Eine künstliche Befruchtung stellt einen gravierenden medizinischen Eingriff dar, der erhebliche Nebenwirkungen wie Überstimulation mit sich bringen kann. Zudem führt nur jede siebte Behandlung überhaupt zu einer Geburt. Ein Eingriff, der nicht erfolgreich ist, hat häufig erhebliche psychosoziale Folgen für die Betroffenen. Daher ist es richtig, dass einem entsprechenden Eingriff eine Beratung vorangestellt wird.
Sinnvoll ist auch, dass der Bundesgesetzgeber sowie die Krankenkassen bestimmte Vorgaben für die Bezuschussung definieren. So sind für die Bezuschussung ein gewisses Alter sowie eine möglichst stabile Beziehung der Betroffenen und damit auch der möglichen Kinder wichtige Voraussetzungen.
({5})
Dem entspricht auch das Bundessozialgericht mit seiner Entscheidung, dass Krankenkassen keine Leistungen bei nichtverheirateten Paaren erbringen dürfen; denn nur in dem Institut der Ehe existiert die gesetzliche Verpflichtung zur Verantwortungsübernahme. Sie ist die einzige Form, die Paaren einen Anspruch auf gegenseitigen Unterhalt, Versorgungsausgleich und Erbschaft garantiert. Von dieser Sicherheit für beide Partner profitieren unmittelbar auch die Kinder. Wenn der Staat den weitreichenden Schritt einer künstlichen Befruchtung aktiv finanziell unterstützt, sollte er im Sinne der Kinder auch Bedingungen für eine größtmögliche Stabilität formulieren.
({6})
Des Weiteren bin ich aber auch aus grundsätzlichen Erwägungen heraus gegen eine Ausweitung der Kinderwunschbehandlungen. Meiner Überzeugung nach ist der Mensch nämlich ein Geschöpf, entspringend aus der schöpferischen Liebe zweier Geschlechter, die sich idealerweise dann auch dieses Geschöpfs annehmen und Verantwortung hierfür tragen. Für mich stellt sich damit vielmehr die Frage: Was können wir als Gesellschaft im Allgemeinen, als Bundestag im Speziellen tun, um Eltern in ihrer wichtigen Aufgabe zu unterstützen? Was können wir tun, dass sich wieder mehr Paare für die Weitergabe des Lebens entscheiden?
({7})
Da ist es für mich entscheidend, dem Wert des Lebens als solchem wieder einen anderen Stellenwert zu geben. Konkret sollte daher nicht die Kinderwunschbehandlung ausgeweitet werden, sondern Frauen, die bereits in Schwangerschaft sind und in Konfliktsituationen stehen, sollten vom Staat besser betreut werden.
Schauen wir uns die Zahlen an. Die Abtreibungen in Deutschland nehmen ab, und zwar nicht nur in absoluten Zahlen, sondern auch im Verhältnis pro Geburt. Das große Aber: Immer noch werden pro 100 Geburten in Deutschland 13 werdende Menschen abgetrieben. Fast 100 000 Abtreibungen werden derzeit in Deutschland pro Jahr vorgenommen, und zwar weit über 90 Prozent nach Beratungsgespräch. Das heißt, in mehr als neun von zehn Fällen liegen bei der Schwangerschaft weder Krankheit noch Gefährdung der Mutter vor. Wir haben also über 90 000 Abtreibungen pro Jahr. Gleichzeitig werden aber knapp 4 000 Kinder pro Jahr in Deutschland adoptiert, und davon nur 1 500 Kinder von nichtverwandten Personen.
Gleichzeitig ist in Deutschland fast jedes zehnte Paar ungewollt kinderlos. Bisher gestaltete sich das Adoptionsverfahren aber äußerst kompliziert und langwierig. Es gibt mehr als genug Adoptionswillige, aber viel zu wenige zur Adoption freigegebene Kinder. Auf ein zur Adoption freigegebenes Kind kommen circa sieben Bewerber. Hier müssen wir ansetzen. Werdende Mütter müssen auch finanziell stärker unterstützt werden. Insbesondere müssen wir in die Hilfe bei Schwangerschaftskonflikten investieren und die betroffenen Frauen unterstützen. Die Zahl der Abtreibungen muss weiter gesenkt werden.
({8})
Wir müssen auch die Adoptionsverfahren weiterentwickeln, das Adoptionsgesetz modernisieren und in die Aufklärungsarbeit über Abtreibungen investieren. Das halte ich für vordringlich gegenüber Ihrem Vorschlag.
Zum Schluss noch eine persönliche Anmerkung. In meiner Tätigkeit als Arzt in der Inneren Medizin musste ich erleben, wie fragil das Leben ist; aber ich durfte auch das Geschenk erleben, Leben zu erhalten. Und wenn wir das Leben wieder mehr als Geschenk betrachten und nicht als etwas von uns Gemachtes, dann gewinnt das Leben und die Weitergabe des Lebens wieder an Bedeutung.
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Es braucht also eine innere Umkehr der Betrachtung. Leben ist ein Geschenk, nicht ein bestellbares Produkt. Das heißt, der Gesellschaft selbst muss wieder bewusst gemacht werden, wie wertvoll das Leben ist. Und der Staat hat die Aufgabe, das Leben in jedem Stadium zu schützen.
Vielen Dank.
({10})
Herr Kollege Pilsinger, herzlichen Dank für Ihre Rede. – Als Nächstes für die Sozialdemokratie die Kollegin Gülistan Yüksel.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren auf den Besuchertribünen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Mit Kindern zusammen zu sein ist Balsam für die Seele“, sagte schon Dostojewski. Für viele Menschen sind Kinder Teil eines erfüllten Lebens, wenn nicht sogar der Lebenswunsch schlechthin. Doch fast jedes zehnte Paar zwischen 25 und 59 Jahren ist ungewollt kinderlos. Diese Paare versuchen mitunter viele Jahre vergebens, ein Kind zu bekommen, was vor allem auch eine seelische Belastung ist.
Die moderne Medizin kann es ermöglichen, Menschen ihren Kinderwunsch zu erfüllen. Ich sehe es als unsere Aufgabe, sie hierbei zu unterstützen, nicht nur weil wir die Menschen in dieser Ausnahmesituation nicht alleinlassen dürfen, sondern auch weil wir eine kinderfreundliche Gesellschaft sein wollen, die den Wunsch nach Kindern unterstützt. Neben Beratungsangeboten und psychologischer Hilfe ist also insbesondere eine finanzielle Förderung wichtig; denn die Kosten der notwendigen medizinischen Behandlungen können schnell die Kosten eines Kleinwagens erreichen.
Der Antrag erläutert zu Recht, dass eine Unterstützung nicht vom Trauschein abhängen darf. Als SPD vertreten wir den Standpunkt, dass Familie da ist, wo Menschen bereit sind, füreinander einzustehen und dauerhaft Verantwortung zu übernehmen.
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Deshalb hat die ehemalige Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig bereits zum Januar 2016 die entsprechende Bundesförderrichtlinie geändert. Seitdem werden nicht nur verheiratete Paare bei ihrem Kinderwunsch unterstützt, sondern auch Paare, die in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft zusammenleben – eine richtige und wichtige Entscheidung, die Manuela Schwesig in der letzten Legislatur getroffen hat.
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Diesem Schritt des Familienministeriums sollte das Gesundheitsministerium mit einer Änderung im SGB V folgen; denn eine Förderung für nichteheliche Paare sollte es auch bei der Kostenbeteiligung der gesetzlichen Krankenkassen geben.
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Das darf nicht an einen Trauschein gebunden sein. Hierzu sind wir in der letzten Legislaturperiode mit unserem Koalitionspartner leider nicht auf einen gemeinsamen Nenner gekommen. Ich hoffe, dass es in der jetzigen besser wird.
Gleichzeitig bin ich dafür, dass die gesetzliche Krankenversicherung die Kosten der künstlichen Befruchtung wieder ganz übernimmt. Auch wenn die medizinische Behandlung keine Garantie dafür ist, dass der Kinderwunsch erfüllt werden kann, sollte die Möglichkeit nicht vom Geldbeutel abhängen.
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Unabhängig von der Art der Förderung sollte zudem generell über eine Öffnung für weitere Formen des Zusammenlebens diskutiert werden. Hier erwarte ich von der zukünftigen Bundesregierung entschlossenes Handeln.
Dass eine Förderung vom Wohnort unabhängig sein muss, ist ein berechtigtes Ansinnen, das wir teilen. Für die Erfüllung des Kinderwunsches sollte es keine Rolle spielen, ob man in Bayern, in NRW oder hier in Berlin lebt. Eine bundeseinheitliche Regelung ist daher wünschenswert. Trotzdem sollten wir die Länder nicht aus ihrer Verantwortung entlassen. Deshalb möchte ich an dieser Stelle an jene Länder appellieren, die bisher keine der Bundesförderrichtlinie entsprechende Regelung haben und damit eine staatliche Förderung in ihrem Bundesland verhindern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, wie die Ausweitung der Förderung finanziert werden soll, wird in Ihrem Antrag leider nur unzureichend erläutert. Dort heißt es, dass „die Mehrausgaben durch Umschichtung oder Einsparungen innerhalb des Einzelplans 17“ – also des Haushaltsplans des Familienministeriums – „in Deckung zu bringen“ sind. Das ist nicht nur recht vage, sondern aus unserer Sicht auch nicht in Ordnung. Es darf keine Familienpolitik auf Kosten der Familienpolitik geben.
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Wenn Sie die Kinderwunschförderung durch Umschichtung oder Einsparungen finanzieren wollen, nehmen Sie zwangsweise an einer anderen Stelle im Haushalt etwas weg. Und wo wollen Sie das machen? Bei den Frühen Hilfen? Bei den Mehrgenerationenhäusern? Bei den Maßnahmen zur Stärkung von Vielfalt, Toleranz und Demokratie? Bei den Freiwilligendiensten? Das können Sie ja nicht ernsthaft wollen. So einem Vorgehen werden wir nicht zustimmen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, es liegt in unser aller Interesse, in einer kinderfreundlichen und kinderreichen Gesellschaft zu leben. Bei aller Diskussion um unerfüllte Kinderwünsche müssen wir auch ermöglichen, dass der Wunsch nach Kindern überhaupt entstehen kann. Dafür gilt es entsprechende Rahmenbedingungen schaffen: So brauchen wir eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die Möglichkeit einer partnerschaftlichen Aufgabenverteilung, gute und flexible Betreuungsangebote, aber auch weniger prekäre Arbeit und dafür sichere Arbeitsplätze auch für jüngere Jahrgänge.
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Immer mehr junge Menschen verschieben ja die Familienplanung aus unterschiedlichen Gründen auf einen späteren Zeitpunkt, weil sie das Gefühl haben, sich Kinder jetzt noch nicht „leisten“ zu können. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Kinderwunsch dann aus biologischen Gründen unerfüllt bleibt, vergrößert sich dadurch leider. Wir brauchen deshalb eine familienfreundlichere Gesellschaft und vor allem eine familienfreundlichere Arbeitswelt, damit auch junge Frauen und Männer sich für Kinder entscheiden.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Antrag bietet jedoch eine gute Grundlage für weitere Beratungen.
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Ich freue mich auf die Diskussionen im Ausschuss und würde es begrüßen, wenn wir hier überparteilich Lösungen finden würden, um die Menschen bundesweit bei ihrem Wunsch nach Kindern zu unterstützen. Gerade wir als Familienpolitikerinnen und -politiker dürfen die Menschen, die ungewollt kinderlos sind, nicht alleinlassen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Yüksel. – Ich erteile nunmehr für die Fraktion der AfD Johannes Huber das Wort zu seiner ersten Parlamentsrede.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist schön, dass die FDP einen inhaltlichen Antrag stellt. Schließlich kennen wir sie aus dem Wahlkampf eher als Mogelpackung ohne Inhalt.
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Ähnliche Anträge zum Thema „künstliche Befruchtung“ wie dieser Antrag, der jetzt von der FDP gestellt wurde, wurden schon von den Linken und dann 2014 von den Grünen gestellt. Das zeigt uns doch eigentlich nur, dass die alte kulturmarxistische Ideologie der 68er 50 Jahre später auch bei der FDP gelandet ist.
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Der Antrag selbst jedoch zeigt durchaus positive Aspekte, wenn wir die Förderung von Kinderwünschen als Möglichkeit zur Behebung des demografischen Problems in Deutschland verstehen. So könnten wir uns damit anfreunden, dass der Bund flächendeckend 25 Prozent der Kosten für die ersten vier Kinderwunschbehandlungen übernimmt, wenn – jetzt kommt es – die medizinische Notwendigkeit für Ehepaare und Paare in einer festgefügten Partnerschaft gegeben ist. Wir als AfD sehen dabei aber das vom Grundgesetz geschützte Leitbild der Ehe als besonders förderungswürdig an, weil laut der Universität Duisburg aus diesem Familientyp im Vergleich zu allen anderen Familientypen die meisten Kinder entstehen und in ihm die soziale Absicherung der Kinder am besten gewährleistet ist.
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Wenn jetzt aber, wie von der FDP gefordert, die Förderung von künstlichen Befruchtungen auf Singles ausgeweitet werden soll, dann sollen nach ihrem Willen Samenzellen und letztlich Kinder wie bei Amazon bestellt werden können, und das auf Kosten von uns allen.
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Dazu kann man eigentlich nur sagen: Liberalisierung first, Bedenken second, oder wie war das?
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Das, liebe FDP, ist ethisch nicht vertretbar, wenn einem das Kindeswohl am Herzen liegt.
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Stellen Sie doch einmal Ihre egoistische Perspektive der Eltern zurück. Nur weil Kinder, zumal ungeborene, in Deutschland keine Lobby haben, darf ihre Identitätsfindung nicht von einer Klientelpartei erschwert werden. Kinder sind nämlich keine Ware, sondern Lebewesen, die des Schutzes bedürfen und unseren Schutz auch verdienen.
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Einen gewinnbringenden Markt gibt es aber doch bei der Sache, und zwar den für künstliche Befruchtungen. Geben Sie doch einfach zu, dass Ihre Politik darauf ausgelegt ist.
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Auch ihre Salamitaktik haben wir bereits durchschaut. Frau Suding, das hätten Sie gestern der „Welt“ gar nicht beichten müssen. Mit der Förderung von konservierten Ei- und Samenzellen wollen Sie nämlich die nächsten Schritte bereits vorbereiten, und das ist die Legalisierung der Eizellenspende und der Leihmutterschaft. Damit werden dem modernen Kinderhandel erst recht die Türen geöffnet.
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Genauso ist es sinnlos, die Altersgrenze zur Förderung auf über 40 Jahre aufzuweichen; denn erstens gibt es auch eine biologische Grenze, die für Mütter gesund ist, und zweitens gibt es laut dem aktuellen Jahrbuch des IVF-Registers eine altersabhängige Erfolgsquote bei den Geburtenraten durch künstliche Befruchtung.
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Bei 35-Jährigen beträgt diese noch 27 Prozent, bei 44-Jährigen nur noch 3,2 Prozent.
Der Antrag der FDP doktert also nur an den Symptomen herum und verleitet die Frauen dazu, den Kinderwunsch immer weiter aufzuschieben.
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Stattdessen brauchen wir in Deutschland endlich wieder ein gesellschaftliches Klima, um die demografische Krise mit einem natürlichen Verständnis und einer aktivierenden Bevölkerungspolitik in den Griff zu bekommen.
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Wir müssen junge Paare durch Ehestartkredite wieder früher fördern. Wir brauchen höhere Kinderfreibeträge und mit dem Familiensplitting auch eine steuerliche Entlastung.
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Nicht zuletzt müssen wir die Erziehungszeiten endlich auf die Renten- und Krankenversicherungsleistungen anrechnen. Mit diesen Maßnahmen, meine Damen und Herren, schaffen wir eine Willkommenskultur für Kinder.
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In diesem Sinne stimmen wir der Überweisung an den Ausschuss zu und freuen uns auf die weitere Beratung.
Vielen Dank.
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Herr Kollege Huber, vielen Dank für Ihren Beitrag. – Als Nächstes erteile ich das Wort Frau Katrin Werner für Die Linke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute über den Antrag der FDP über die finanzielle Unterstützung von Paaren, die ungewollt kinderlos sind und sich für eine künstliche Befruchtung entscheiden möchten.
Insbesondere geht es hier um die Richtlinie des Bundesfamilienministeriums. Mit dieser Richtlinie können Länder mit dem Bund eine Vereinbarung treffen. Paare, die sich für eine künstliche Befruchtung entscheiden, können einen Zuschuss zu ihrem Selbstkostenanteil erhalten. Leider beteiligen sich an dieser Förderung – wie in Ihrem Antrag erwähnt – nur sechs Bundesländer.
Sie wollen die Richtlinie reformieren. Sie sind selber darauf eingegangen, dass es ein Anfang wäre. Zukünftig soll der Bund den Zuschuss in allen Ländern finanzieren, auch wenn sich die Länder selbst nicht finanziell beteiligen. Die Förderung soll zudem auf Alleinstehende und die Nutzung von Samenzellspenden – und damit auf gleichgeschlechtliche Paare – ausgeweitet werden.
Natürlich sind diese Änderungen begrüßenswert.
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Sie ändern mit Ihrem Antrag aber leider am grundlegenden Problem nichts.
Eine finanzielle Unterstützung der gesetzlichen Krankenkassen zur Kinderwunschbehandlung erhalten nur heterosexuelle Paare, die verheiratet sind und zudem in eine bestimmte Altersgruppe fallen. Nicht verheiratete Paare, gleichgeschlechtliche Paare, Alleinstehende, Frauen, die jünger als 25 oder älter als 40 Jahre sind, erhalten keine Zuwendungen der gesetzlichen Krankenkasse. Dieses Problem gehen Sie mit Ihrem Antrag nicht an.
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Sie kritisieren zwar die Einschränkung der Finanzierung durch die gesetzlichen Krankenkassen – Sie kritisieren, dass die Krankenkassen lediglich verpflichtet sind, die Hälfte der Kosten zu übernehmen, und dass dies nur bei den ersten drei Versuche gilt –, Sie möchten aber, weil Sie nur an der Richtlinie herumdoktern, nichts prinzipiell ändern. Damit – das sagen wir – bleibt die Kinderwunschbehandlung weiterhin ein Privileg der Besserverdienenden.
Ich möchte Ihnen das einfach einmal an einem Rechenbeispiel verdeutlichen. Gehen wir von einem verheirateten Paar aus, das sich entscheidet, eine Kinderwunschbehandlung durchzuführen. Es benötigt vier Behandlungen. Eine Behandlung kostet 4 000 Euro. Die Hälfte der Kosten der ersten drei Versuche wird durch die gesetzliche Krankenkasse übernommen. Die Kosten der vierten Behandlung muss das Ehepaar selbst tragen. Somit muss das Paar insgesamt 10 000 Euro selbst finanzieren.
Zudem können sie beim Bundesfamilienministerium einen Antrag auf Förderung stellen und einen 25-prozentigen Zuschuss erhalten. Gibt es keinen weiteren Zuschuss durch die Länder, bleiben 7 500 Euro übrig, die das Ehepaar zahlen muss.
Für die gleiche Behandlung müssen Alleinstehende, nicht verheiratete sowie homosexuelle Paare 12 000 Euro selbst bezahlen. Denn Sie erhalten nach der Vorstellung der FDP lediglich die Förderung des Bundesministeriums und keinen Zuschuss der gesetzlichen Krankenkasse.
Hinzu kommt, dass Menschen mit Kinderwunsch keineswegs das Recht auf eine Förderung durch das Familienministerium haben. Ist der entsprechende Haushaltstopf nämlich leer, gibt es keinen Zuschuss. Mehrausgaben möchten Sie – das wurde ja schon von Frau Yüksel erwähnt – durch Umschichtungen im Haushalt und durch Kürzungen anderer Forderungen oder Leistungen finanzieren. Das halten wir für nicht vereinbar mit einer modernen Familienpolitik, die allen Menschen unabhängig vom Geldbeutel, von ihrem Geschlecht oder ihrer sexuellen Orientierung eine selbstbestimmte Familiengründung ermöglichen möchte.
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Wenn Sie wirklich etwas an der Situation ändern möchten, dürfen Sie nicht an dieser Richtlinie herumdoktern. Wenn Sie etwas ändern möchten, muss es eine Gesetzesänderung geben, die die volle Kostenübernahme durch die gesetzlichen Krankenkassen ermöglicht. Dafür brauchen wir ein Krankenversicherungssystem, in das alle nach der Höhe ihres gesamten Einkommens einzahlen, eine Versicherung, in der alle die gleichen Leistungen erhalten, und zwar ohne Zuzahlungen –
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und das alles unabhängig vom Geschlecht, der sexuellen Orientierung oder dem Beziehungsstatus.
Danke.
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Das Klopfen am Mikrofon hat gewirkt. Herzlichen Dank, Frau Kollegin Werner. – Als Nächstes für Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Dr. Kirsten Kappert-Gonther,
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mit ihrer ersten Parlamentsrede, wenn ich das anmerken darf.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es war ja schon viel von Familie, Kindern und auch dem Schutzbedürfnis von Kindern die Rede. Ich möchte folgendermaßen beginnen: Für uns ist es so, dass Kinder überall gleich viel wert sind, egal ob in Deutschland oder anderswo auf der Welt. Für uns gilt jedes Kind gleich, und jede Familie hat ihren eigenen Wert.
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Darum finden wir auch die Entscheidung falsch, die hier heute Morgen zum Familiennachzug getroffen wurde. Jetzt reden wir über die Menschen, die sich sehnlichst ein Kind wünschen, und über den bohrenden Schmerz, den es bedeutet, wenn es einfach nicht klappen will. Diese Frauen sind bereit, fast alles auf sich zu nehmen, um ein Kind zu bekommen. Ich muss als Mutter sagen: Ich kann das verstehen. Eine Kinderwunschbehandlung ist fast alles: Sie kann ein Segen sein, aber sie ist auch eine enorme Strapaze, körperlich und seelisch, für die Frauen und für die Paare. Herr Kollege Pilsinger, diese Frauen tun das freiwillig und selbstbestimmt, und das ist auch richtig so.
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In meiner langjährigen Praxis als Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, also für seelische Erkrankungen, seelische Entwicklung, habe ich immer wieder Frauen und Paare begleitet, die ungewollt kinderlos waren. Gewollt kann man kinderlos auch sehr glücklich sein, ungewollt ist es ziemlich schwierig. Ich habe Frauen begleitet auf diesem steinigen Weg – Sex nach Kalender, Hormonbehandlung, künstliche Befruchtung und immer wieder Selbstzweifel –, und ich durfte das unbeschreibliche Glück miterleben, wenn sie endlich das eigene Kind in den Armen halten durften. Da sehen wir: Reproduktionsmedizin hilft.
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Ich erinnere mich aber auch an Frauen – das ist wirklich ein komplexes Thema für vier Minuten –, die nach vielen gescheiterten Versuchen bewusst aufgehört haben, dann eine Psychotherapie gemacht haben und auf einmal schwanger waren. Auch das gibt es. Wir debattieren hier das Spannungsfeld wirtschaftliche Interessen – diese darf man auch nicht außer Acht lassen –, Hoffnung und das Machbare. In der Reproduktionsmedizin – auch das gehört zur Wahrheit – kursieren viele Versprechen, die oft nicht eingehalten werden. Als Ärztin habe ich immer Demut vor den Grenzen des medizinisch Machbaren empfunden. Heilserwartungen an die Allmächtigkeit der Medizin, falsche Versprechen schaden den Betroffenen und nutzen letztlich nur den wirtschaftlichen Interessen der Anbieter.
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Ein Drittel – jeder kann selbst beurteilen, ob das viel oder wenig ist – der Kinderwunschbehandlungen führt zur Elternschaft. Das heißt: zwei Drittel auch nicht. Eine Garantie auf ein Kind kann es natürlich nicht geben, aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, es muss ein Recht auf eine Chance auf ein Kind geben, und es gibt ein Recht auf medizinische Hilfe.
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Dieses Recht muss für alle gelten, ob arm oder reich, ob mit oder ohne Trauschein, ob lesbisch oder hetero.
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Denn was braucht ein Kind? Es braucht Liebe und Geborgenheit. Ob es beides bekommt, hängt weder vom Trauschein noch von der sexuellen Orientierung der Eltern ab.
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Und, liebe Kolleginnen und Kollegen, es hängt auch nicht davon ab, ob eine Frau alleinerziehend ist.
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Kinder haben es da gut, wo sie geliebt werden. Die Entkopplung der Bundes- und Landesförderung finden wir insofern richtig. Wieso soll eine Frau weniger Hilfe bekommen, wenn sie in Bayern statt in Thüringen lebt?
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Noch richtiger allerdings fänden wir es, wenn – so haben wir es in der letzten Legislaturperiode vorgeschlagen – die GKV endlich ihre Finanzierung entsprechend ausweiten würde.
Richtig ist auch – letzter Gedanke, Herr Präsident; es leuchtet hier, wie ich sehe –, dass die steigende Zahl der ungewollt Kinderlosen damit zusammenhängt, dass Frauen immer später Kinder bekommen. Das zu richten, kann allerdings nicht die Aufgabe der Reproduktionsmedizin sein. Hierüber sollten wir im Ausschuss noch einmal ausführlich diskutieren. Wir brauchen endlich auch eine soziale Arbeitsmarktpolitik und eine progressive Sozialpolitik, damit wir vorankommen.
Ich komme zum Schluss. Die Take Home Story ist: Eine Garantie auf ein Kind kann es nicht geben, aber die Rechte auf Kinderwunschbehandlung müssen für alle gelten. Wir, Bündnis 90/Die Grünen, stehen für Gleichberechtigung beim Zugang zur Kinderwunschbehandlung und für Gleichberechtigung überall sonst.
Ich danke Ihnen.
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Danke sehr, Frau Kollegin. – Das Blinken der Lampe ist immer der heimliche Wunsch des Präsidenten, sich langsam dem Ende zu nähern. Dies für das nächste Mal. Herzlichen Dank.
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– Ich will jetzt nicht die Zeitüberschreitung kundtun.
Als letzter Redner in dieser Aussprache hat der Kollege Rudolf Henke für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Für viele Menschen sind Kinder ein wesentlicher Teil ihrer Sehnsucht und Suche nach dem Sinn des Lebens. Der Deutsche Ethikrat nennt die Geburt eines Kindes die „biologische Manifestation der Gemeinsamkeit“.
Die Geburt der Kinder ist wohl eine der emotionalsten Erfahrungen, die ein Mensch Zeit seines Lebens machen kann. Unsere älteste Tochter hat am 27. Januar unser fünftes Enkelkind Valentin Janne zur Welt gebracht.
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Ich kann selbst als Großvater empfinden, wie emotional dieses Erlebnis ist.
Geht ein Kinderwunsch auf natürlichem Weg nicht in Erfüllung, dann kann das – die Kollegin hat das gerade eindrücklich geschildert – für das Paar eine riesige Belastungsprobe werden. Dennoch: Ein Recht auf ein Kind gibt es nicht; denn eine Garantie auf ein Kind kann keiner geben.
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Aber die Medizin von heute bietet etliche Möglichkeiten, durch künstliche Befruchtung eine Schwangerschaft herbeizuführen. Damit stehen Paare mit unerfülltem Wunsch vor der Frage, ob und welche der Möglichkeiten, die uns die reproduktive Medizin bietet, sie in Anspruch nehmen wollen. Aber ehe Möglichkeiten der reproduktiven Medizin genutzt werden, müssen die Paare abwägen, ob und bis wohin sie sich mit dem Verhältnis von Belastung und Risiko einverstanden erklären wollen; denn der Weg über die reproduktive Medizin ist kein einfacher. Auch die Gesellschaft insgesamt muss die Frage nach dem Verhältnis von Nutzen, Schaden und Risiko beantworten, ehe sie entscheidet, welche Methoden sie zulässt, fördert und finanziert oder eben nicht.
Gegenwärtig haben Ehegatten gemäß SGB V einen Anspruch auf die hälftige Finanzierung der Kosten für bis zu drei Versuche. Voraussetzung ist, dass die Maßnahme ärztlich indiziert ist, ein Aufklärungsgespräch über medizinische und psychosoziale Gesichtspunkte erfolgte sowie Ei und Samenzelle von den Ehepartnern stammen. Die Förderung gilt für Frauen vom vollendeten 25. Lebensjahr bis zur Vollendung des 40. Lebensjahres. Der Mann darf das 50. Lebensjahr nicht vollendet haben.
2012 hat die damalige christlich-liberale Bundesregierung beschlossen, sich über die durch die Krankenkassen gewährte Förderung hinaus finanziell an den Maßnahmen der künstlichen Befruchtung für die erste bis vierte Behandlung zu beteiligen, anders als im SGB V. Der Bundeszuschuss fließt aber nur, wenn das jeweilige Bundesland mindestens in der gleichen Höhe fördert. Sie haben darauf hingewiesen, dass Nordrhein-Westfalen nach dem Koalitionsvertrag dabei ist, das vorzubereiten. Das verweist darauf, dass sich Nordrhein-Westfalen in der Zeit der vorigen rot-grünen Landesregierung daran nicht beteiligt hat. 2015 wurde die Regel auf nichteheliche Lebensgemeinschaften ausgeweitet – davon war schon die Rede –, aber in der Richtlinie der Bundesregierung heißt es, dass es sich dabei um eine Gemeinschaft zwischen Mann und Frau handelt, die auf eine längere Zeit und Dauer angelegt ist, keine weitere Lebensgemeinschaft zulässt und sich durch eine innere Bindung auszeichnet. – Das betrifft also nicht jede Beziehung, sondern Beziehungen, die diese Anforderungen erfüllen. Dass nur Paare von einer Förderung profitieren können, die in einem Bundesland leben, das sich in gleicher Weise wie der Bund an den entsprechenden Behandlungen beteiligt, darüber müssen wir sicherlich in den Ausschüssen diskutieren. Ich verstehe das Ziel, allen Paaren, unabhängig vom Bundesland, in dem sie leben, die gleiche Unterstützung zu garantieren.
Bei Ihren anderen Forderungen bin ich wesentlich skeptischer. Sie fordern eine finanzielle Förderung für die Nutzung von kryokonservierten Ei- und Samenzellen; besser bekannt unter dem Begriff Social Freezing. Wenn eine akute Erkrankung oder deren Therapie die Fruchtbarkeit eines Menschen nachhaltig beeinträchtigt, dann halte ich als Arzt diese Möglichkeit für geboten. Ich bin auch offen für eine Diskussion darüber, ob wir das in einem klar abgegrenzten Rahmen kodifizieren können, um Rechtsprechungen durch das Bundessozialgericht zu vermeiden. Das Bundessozialgericht hat dazu schon geurteilt, manche Krankenkassen folgen dem Urteil regelmäßig, andere nicht regelmäßig.
Ich glaube nicht, dass man das Selbstbestimmungsrecht überstrapazieren sollte. Insbesondere sollte man Social Freezing nicht zum Instrument der eigenen Karriereplanung machen,
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weil man sonst Gefahr läuft, das Recht des Kindes auf sein Wohl außer Acht zu lassen.
Wir müssen uns ohnehin mit der Frage auseinandersetzen, ob wir alle technischen Möglichkeiten, die mit den rasanten Fortschritten in der Reproduktionsmedizin verbunden sind, einsetzen wollen oder nur solche, die einen krankhaften Gesundheitszustand korrigieren. Wir können doch nicht auf der einen Seite für die Akzeptanz der Work-Life-Balance streiten – besonders die jüngere Generation fordert sie zu Recht ein –, eine Familienpolitik verfolgen, die die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessert, und auf der anderen Seite medizinische Eingriffe fördern, die den biologischen Zyklus völlig auf den Kopf stellen, weil die Natur nicht zur Lebensplanung passt.
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Eltern und Staat müssen die Pflichten ernst nehmen, die das Elternsein nun einmal mit sich bringt. Diese starke Gewichtung des künftigen Wohls des Kindes hat – nach meinem Verständnis; darüber werden wir in den Ausschüssen diskutieren – nicht den notwendigen Stellenwert, insbesondere in Bezug auf Ihre Forderung nach der gleichberechtigten Ausweitung der finanziellen Förderung auf Alleinstehende. Natürlich gehen Beziehungen zu Bruch, auch solche zwischen Partnern, die ein gemeinsames Kind haben. Zur Realität gehört aber auch, dass viele Alleinerziehende mit einer ganzen Reihe von Herausforderungen zu kämpfen haben, zum Beispiel in den Bereichen Erziehung, Fürsorge und der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das sind doch keine Konstellationen, bei denen die Politik sagen kann: Das ist die ideale Umgebung für das Heranwachsen eines Kindes; solche Konstellationen wollen wir durch politische Förderung gezielt herbeiführen.
Wir werden im Ausschuss sicherlich über die Frage der Altersgrenzen diskutieren. Die Altersgrenzen hat sich nicht irgendjemand Grimmiges einfallen lassen, vielmehr sind sie vom Gemeinsamen Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen definiert worden, mit Blick auf die biologische Situation und auf die Vermeidung unnötiger Kinderwunschbehandlungen vor dem 25. Lebensjahr, und mit Blick darauf, dass die Erfolgsrate dieser Behandlungen nach dem 40. Lebensjahr rapide absinkt.
Im Juli 1978, also vor fast 40 Jahren, kam in England das erste sogenannte Retortenbaby zur Welt. Seitdem hat die Reproduktionsmedizin eine rasante Entwicklung genommen. In Deutschland gibt es mittlerweile über 130 Reproduktionszentren. 2016 gab es über 100 000 Behandlungen.
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss.
Ich komme zum Schluss. – 2015 wurden mehr als 20 000 Kinder nach einer künstlichen Befruchtung geboren; 2011 waren es noch 7 000. Ich möchte, dass wir immer wieder hinterfragen, ob wir uns von dem, was im Labor möglich ist, treiben lassen wollen. Ich glaube, dass auch hier bewusste Entscheidungen notwendig sind: Das Mögliche ist nicht automatisch auch das Richtige.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege Henke. – Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/585 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federführung beim Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend liegen soll. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor wenigen Tagen haben die ostdeutschen Ministerpräsidenten getagt und erklärt, dass sie einen Einstieg in den Ausstieg aus den Sanktionen gegen Russland wollen. Ein neuer Ansatz sei nötig. Die Perspektive liege nur im Miteinander. – Wir sagen ganz klar: Das ist eine richtige Erklärung. Wir von der Linken unterstützen das.
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Wir sagen das nicht nur aus durchaus berechtigten Überlegungen, dass die Sanktionen gegen Russland der wirtschaftlichen Entwicklung sowohl in Deutschland als auch in Russland massiv schaden. Wir sagen es auch aus grundsätzlichen Überlegungen – es ist einer der Gründe, warum wir, und zwar als einzige Fraktion hier im Bundestag, von Anfang an gegen die Wirtschaftssanktionen waren –, nämlich weil sie immer die Zivilbevölkerung treffen und die Kooperation behindern. Die jetzige Konstruktion ist so angelegt, dass ein Ausstieg relativ schwierig ist.
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Wir haben vorhin die Debatte zum Umgang mit dem völkerrechtswidrigen Einmarsch der Türkei im nordsyrischen Afrin gehabt.
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Wir haben auch hier keine Wirtschaftssanktionen gefordert, weil es auch hier der falsche Ansatz wäre. Wir fordern hier ein Ende der Rüstungslieferungen an die Türkei, aber eben keine Wirtschaftssanktionen; denn das wäre ein grundsätzlich falscher Ansatz.
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Es gibt noch einen konkreten Punkt: Die jetzigen Wirtschaftssanktionen werden mit der Umsetzung der Minsk‑II-Vereinbarungen verknüpft. Die Minsk‑II-Vereinbarungen, die wir unterstützen, sind Vereinbarungen zwischen der ukrainischen Seite und den Separatisten im Osten des Landes, die wiederum von Russland unterstützt werden. Die Sanktionen sind aber nur an einen Konfliktpartner gekoppelt, obwohl es zwei Konfliktparteien gibt. Es gibt also keinen Druck auf die ukrainische Seite, die durchaus auch Konfliktpartner ist – das belegen ja auch die OSZE-Berichte aus der Region immer wieder –, ihren Teil zu erfüllen. Das führt sogar dazu, dass es bei einigen Kräften in der Ukraine kein Interesse an der Umsetzung gibt, weil sie wollen, dass die Wirtschaftssanktionen gegen Russland aufrechterhalten bleiben. Wir halten diese Konstruktion für völlig falsch. Da muss dringend ausgestiegen werden.
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Das gilt auch vor dem Hintergrund, dass gegenwärtig im ukrainischen Parlament ein Gesetz diskutiert wird, das explizit als Alternative zu Minsk II angesehen wird. Es gäbe dem Präsidenten die Möglichkeit, das Militär in allen Regionen des Landes, also im Inneren, einzusetzen. Die Opposition läuft dagegen Sturm. Das Gesetz soll sozusagen Minsk II ersetzen. Wir lehnen das eindeutig ab und erwarten, dass von der Bundesregierung entsprechende Signale kommen.
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Meine Damen und Herren, wir haben letzte Woche die Élysée-Verträge gefeiert, die Aussöhnung mit Frankreich. Wir begrüßen die vor 55 Jahren geschlossenen Élysée-Verträge. Leider hat es eine solche Aussöhnung mit dem anderen großen historischen Gegner Deutschlands in zwei Weltkriegen, mit Russland, nicht gegeben. Wir wünschen uns sehr, dass es eine solche Aussöhnung gibt.
Wir haben morgen den 75. Jahrestag der Kapitulation der Wehrmacht in Stalingrad. Ein Teil unserer Fraktion ist der Einladung des Bürgermeisters von Wolgograd gefolgt. Wir finden es richtig, daran zu erinnern, und bedauern es außerordentlich, dass die Bundesregierung nicht bereit ist, hier entsprechende Gedenkveranstaltungen durchzuführen. Frieden in Europa wird es nur mit Russland geben. Wir wollen keinen neuen Kalten Krieg.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege Hunko. – Als Nächstes für die CDU/CSU-Fraktion: die Kollegin Elisabeth Motschmann.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Entspannung mit Russland – Keine Verlängerung der Sanktionen gegen Russland“, so lautet die Überschrift Ihres Antrags. Überraschend ist das nicht. Wieder einmal zeigt sich der verklärte Blick der Linken auf Russland, wieder einmal nutzen Sie ein so ernstes Thema zur Schärfung Ihres Parteiprofils.
Die CDU/CSU wird Ihrem Antrag nicht zustimmen,
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weil wir denken, dass die Sanktionen verlängert werden müssen. Warum? In Ihrem Antrag findet sich kein einziges kritisches Wort – übrigens auch nicht in Ihrer Rede –, weder zur völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland noch zu den kriegerischen Handlungen in der Ostukraine, im Donbass. Noch immer sterben dort täglich Menschen. Es verwundert schon, dass Sie das einfach verschweigen. Sie gehen zur Tagesordnung über. Schwamm drüber! Das kann und darf unsere Haltung in dieser Frage nicht sein, meine Damen und Herren.
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Russland trägt die Hauptverantwortung für den Konflikt, der viele Todesopfer gefordert hat und auch noch fordert. Soll Deutschland, soll Europa tatenlos zusehen, wie Russland Grenzen verschiebt und die territoriale Integrität der Ukraine ignoriert? Ist Ihnen eigentlich bewusst, was Polen, die baltischen Staaten oder andere ehemalige Sowjetrepubliken dazu sagen würden? Kennen Sie überhaupt die Sorgen dieser Länder, die befürchten, dass ihnen ein ähnliches Schicksal wie der Ukraine drohen könnte?
Wirtschaftssanktionen sind neben der Diplomatie das einzige probate Mittel, eine klare rote Linie gegenüber der Expansionspolitik Russlands zu ziehen. In Ihrem Antrag bezeichnen Sie die Wirtschaftssanktionen als ökonomisch nicht sinnvoll.
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Seit wann sind Ihnen wirtschaftliche Interessen eigentlich so wichtig?
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Das steht im Widerspruch zu allem, was ich bisher von Ihnen gehört habe. Leo Tolstoi würde übrigens dazu sagen:
Im Widerspruch zur eigenen Vernunft zu leben, ist der unerträglichste aller Zustände.
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Wir stellen die wirtschaftlichen Interessen nicht über das Völkerrecht und die Freiheitswerte, die uns so wichtig sind.
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Wir stellen – ich kann es auch etwas salopp formulieren – das Kapital nicht über die Moral.
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Mich wundert, dass Sie das tun. Mit welchen Instrumenten sollen wir denn sonst reagieren?
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Nur mit Diplomatie können militärische Lösungen verhindert werden. Insofern hat Russland es selbst in der Hand, die Sanktionen zu beenden. Russland müsste bereit sein, die Minimalforderungen des Minsker Abkommens einzuhalten. Das ist gar nicht so schwer. Warum tun die das nicht? Warum fordern Sie Ihre Freunde nicht auf, das zu tun?
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Immer wieder erwähnen Sie die historische Verantwortung gegenüber Russland, auch in Ihrem Antrag. Wir haben aber auch eine historische Verantwortung gegenüber der Ukraine. Haben Sie das vergessen? Haben Sie die Toten vergessen, die dort im letzten Weltkrieg gefallen sind? Es waren Millionen. Deshalb wundert es mich, dass Sie immer nur auf Russland blicken und nicht auch das Problem Ukraine sehen.
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Dennoch müssen zur Verbesserung der Beziehungen zu Russland natürlich alle diplomatischen Möglichkeiten ausgeschöpft werden. – Herr Präsident, ich bin sofort am Ende. – Alle Kontakte müssen gepflegt und Gespräche selbstverständlich geführt werden. Schließlich muss auch der von mir immer wieder eingeforderte Kultur-, Jugend- und Studentenaustausch weiter ausgebaut werden. Das halte ich für ein ganz wichtiges Instrument. In Ihrem Antrag fehlt es leider.
Abschließend plädiere ich im Namen meiner Fraktion für die Beibehaltung der Sanktionen. Ich zitiere noch einmal Tolstoi; ich habe es heute mit Tolstoi, der russischen Seele. Er sagt: „Alles nimmt ein gutes Ende für den, der warten kann.“ Wir warten auf die Einhaltung des Minsker Friedensabkommens.
Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Motschmann. Ich hoffe, dass Sie nur zum Ende kommen wollten und nicht am Ende sind.
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Als Nächster für die Sozialdemokraten der Kollege Dr. Nils Schmid.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Linksfraktion fordert zum wiederholten Male die Aufhebung der Sanktionen gegen Russland.
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Die Kadenz nimmt zu: erster Antrag im November 2014, nächster Antrag im Februar 2017, und jetzt ein Antrag im November 2017. Wir können uns also darauf einstellen, dass im Halbjahresrhythmus Anträge vorgelegt werden.
Ich glaube, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, Sie machen es sich zu einfach. Niemand in diesem Hause will einen neuen kalten Krieg.
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Alle, die wir hier versammelt sind – ich nehme an, das gilt auch für die AfD –, wissen um die historische Verantwortung Deutschlands, wissen um die historische Bedeutung der Befreiung Deutschlands von der nationalsozialistischen Diktatur und um den wichtigen Beitrag, den die Sowjetunion dabei geleistet hat. Es geht aber nicht an, dass man in der Argumentation in diesem Hause einfach das russische Narrativ übernimmt;
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denn gerade gute Freunde und Partner plappern nicht einfach nach, was der andere sagt, sondern bringen ihre eigenen Werte, Überzeugungen, ja, auch Interessen ein. Ja, wir argumentieren und streiten mit unseren Partnern. Wir tauschen Argumente aus, nehmen die Argumente der russischen Seite ernst und nehmen zur Kenntnis, dass die Narrative auf russischer Seite und auf europäischer Seite, auf westlicher Seite in den letzten 25 Jahren deutlich auseinandergelaufen sind. Nicht zuletzt Gernot Erler hat in diesem Hause darauf hingewiesen, dass das aus westlicher Sicht die Geschichte einer verfehlten Partnerschaft und einer verfehlten gemeinsamen Wertegemeinschaft ist und aus russischer Sicht die Einkreisung und Nichtberücksichtigung russischer Interessen. Diese Narrative wahrzunehmen und zu benennen, ist richtig. Man sollte aber nicht einfach nur ein Narrativ übernehmen, sondern sich darum bemühen, diese Narrative durch möglichst viele Kanäle des Dialoges und durch Zusammenarbeit in einzelnen Feldern zu überwinden. Das setzt aber voraus, dass man aus europäischer und deutscher Sicht ein paar Vorklärungen benennt.
Die erste Vorklärung ist: Die Annexion der Krim ist völkerrechtswidrig, und der Krieg im Donbass muss beendet werden.
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Der russische Beitrag dort muss beendet werden, genauso wie der Beitrag der Separatisten und die Provokationen von ukrainischer Seite.
Die zweite Vorklärung ist – für uns ist es hart, das einzugestehen –, dass die regierungsamtliche Politik in Russland nicht auf die Annäherung an den Westen setzt. Wenn man die regierungsamtliche Politik der letzten Jahre ernst nimmt, dann muss man feststellen, dass sich Russland als Nichtwesten definiert,
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manchmal sogar als Antithese zum westlichen gesellschaftlichen, demokratischen Ordnungsmodell. Das heißt, die Selbstverständlichkeit, dass alles auf eine Konvergenz westlicher Werte in der Beziehung zu Russland hinausläuft, ist nicht mehr gegeben. Das müssen wir uns eingestehen. Das heißt nicht, dass wir Russland aufgeben, und insbesondere nicht, dass wir die Kräfte aufgeben, die in Russland nach wie vor für Demokratie und Menschenrechte streiten. Aber wir können nicht davon ausgehen, dass, wie wir 1989, 1990 und lange Zeit in den 90er-Jahren gedacht haben, quasi automatisch alles in einer Gemeinsamkeit westlicher Werte endet.
Dritte Vorklärung: Regelverletzungen der Nachkriegsordnung, der Ordnung der KSZE, der OSZE und der Charta von Paris, dürfen wir nicht tolerieren. Wenn das in Europa einreißt, sind Frieden und Stabilität gefährdet.
Letzte Vorklärung – sie sollte uns in diesem Hause einen; ich glaube, zumindest in der breiten Mitte dieses Hauses eint sie uns –: Deutsches Handeln muss in das Handeln der EU eingebettet sein. Nicht umsonst sind es keine deutschen Sanktionen, über die wir heute diskutieren, sondern EU-Sanktionen. Wir werden unsere Beziehung zu Russland immer nur im Geleitzug der EU definieren. Das schließt nicht aus, dass wir innerhalb der EU Initiativen ergreifen; aber wir werden nicht ohne die EU handeln. Insbesondere werden wir nicht über die Köpfe unserer osteuropäischen Partner hinweg handeln können.
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Zu den Sanktionen. Erst einmal muss ich sagen: Sie wirken.
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Das kann man bedauern oder nicht. Aber sie wirken, und sie sind besser, als nur wortlos und tatenlos Völkerrechtsbrüche und den Bruch der Charta von Paris hinzunehmen. Trotzdem hat die Bundesregierung und hat insbesondere Bundesaußenminister Gabriel mehrfach deutlich gemacht, dass ein Abbau von Sanktionen natürlich denkbar ist, geknüpft an die Einhaltung des Abkommens von Minsk. Er hat auch sehr deutlich gemacht, dass nicht die hundertprozentige Einhaltung des Abkommens von Minsk Voraussetzung für einen Einstieg in den Abbau der Sanktionen sein muss, sondern dass wir beides quasi parallel und schrittweise laufen lassen können. Es geht also um einen schrittweisen Abbau der Sanktionen gegen eine schrittweise Implementierung des Minsk-Abkommens.
Wenn ich mir die letzten Entwicklungen anschaue, bin ich etwas hoffnungsvoller als vielleicht noch vor einem halben Jahr, dass es uns gelingen kann, auf diesem Weg voranzukommen. Aber die Kopplung der Sanktionen an die Einhaltung des Abkommens von Minsk ist für die SPD nicht verhandelbar. Lasst uns im Sommer dieses Jahres, wenn die nächste Verlängerung der Sanktionen ansteht, Bilanz ziehen.
Wir führen derzeit eine spannende Debatte über eine UN-Blauhelmmission. Wir würden es sehr begrüßen, wenn die Blauhelme nicht nur an der Kontaktlinie, sondern auch über das gesamte Konfliktgebiet und an der ukrainisch-russischen Grenze stationiert werden könnten. Zuletzt war zu lesen, dass sich die Herren Volker und Surkow eine schrittweise Stationierung einer Blauhelmmission im Konfliktgebiet vorstellen könnten. Auch da haben wir es also mit einer schrittweisen Vorgehensweise zu tun, im Gegenzug zur schrittweisen Implementierung der politischen Punkte des Minsk-Abkommens. Wie Sie sehen, gibt es viele Spielräume, um auch in Anbetracht der verfahrenen Lage in der Ostukraine zu einem sinnvollen Ausgleich zu kommen, und zwar unter Beachtung dessen, was wir in Minsk gemeinsam vereinbart haben.
Schließlich nehme ich gerne den Punkt auf, den Sie von der Linksfraktion angemahnt haben, nämlich die Bedeutung des NATO-Russland-Rates. In der Tat: Die SPD war immer der Auffassung, dass der NATO-Russland-Rat das richtige Forum ist, um sicherheitspolitische Debatten zu führen und einen sicherheitspolitischen Interessenausgleich zwischen Russland und der NATO herbeizuführen. Deshalb spricht überhaupt nichts dagegen, den NATO-Russland-Rat häufiger und wieder höherrangig tagen zu lassen. Das wäre sicher ein Schritt, um zwischen Russland und der NATO sowie zwischen Russland und Deutschland gemeinsam Dinge zu besprechen.
Also: Machen Sie es sich nicht so leicht. Man kann nicht einfach, wie Charles de Gaulle einmal gesagt hat, „wie ein Zicklein auf einen Stuhl springen“ und „Freundschaft mit Russland! Freundschaft mit Russland!“ rufen. Die Realität ist nicht ganz so einfach. In dieser Realität will die SPD Fortschritte erzielen.
Vielen Dank.
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Für die AfD-Fraktion spricht der Kollege Armin-Paul Hampel.
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Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Liebe Gäste im Deutschen Bundestag! Knapp 90 Milliarden Euro – so rechnet der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft vor – hat uns die Sanktionspolitik in den Jahren 2014, 2015 und 2016 gekostet. Aber jetzt kommt es: Eine der führenden Ratingagenturen, Moody’s, hat vergangene Woche berichtet, dass sie die Bewertung Russlands anheben werde. Sie hat die Aussicht in Bezug auf die Wirtschaft Russlands auf „positiv“ angehoben, und das vor dem Hintergrund, dass sich der Öl- und Gaspreis halbiert hat und das Land trotzdem auf Wachstumskurs ist.
Mit diesen Zahlen und Fakten, meine Damen und Herren, ist die Sanktionspolitik des Westens und der Bundesrepublik Deutschland gescheitert. Ende.
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Das ist die klare Botschaft; das sind die Fakten.
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Das ist der Zwischenstand einer seit Jahrzehnten verfehlten Russlandpolitik.
In den 1990er-Jahren haben wir es zugelassen, dass eine Finanzmafia das Vermögen Russlands ausgebeutet hat und sich deshalb kein Mittelstand entwickelt hat. Ich habe dort oben als Parlamentskorrespondent der ARD gesessen, als Wladimir Putin 2001 vor Ihnen eine Rede gehalten und beide Hände nach Deutschland ausgestreckt hat. Ich habe damals auch, meine Herren von der Union und der FDP, Ihre geringschätzige Reaktion wahrgenommen.
Sie haben dann eine Erweiterung der NATO nach Osten gefördert und dieser in einem Maße zugestimmt, dass Russland natürlich irritiert sein musste. Es ging immer weiter: Wir haben damals noch darüber verhandelt, ob das Gebiet der DDR zur NATO gehört. Plötzlich marschieren Sie Richtung Ukraine und verheimlichen der Bevölkerung in Deutschland – dem deutschen Volk, um es klar zu sagen –, dass das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine ja eine militärische Präambel, die eine weitere enge Zusammenarbeit der Ukraine mit dem Westen im Sinne hatte, enthielt. Und dann wundern Sie sich, dass der russische Bär reagiert? Nein, das war eine Einmischung in die russischen Sphären und Interessengebiete, die wir nicht hätten zulassen dürfen, meine Damen und Herren.
({2})
Die deutsch-amerikanische Beziehung muss es auch aushalten – wir leben ja in einer multipolaren Welt, und auch Frau Merkel hat inzwischen erkannt, dass wir nicht immer amerikanischer Meinung sein müssen –, dass es vielleicht Interessengegensätze zwischen Europa und den Amerikanern gibt.
Wenn ein amerikanischer Präsident – in diesem Falle Herr Obama – von Russland als Mittelmacht spricht, dann ist das ein Schlag ins Gesicht Moskaus, meine Damen und Herren. Das zeigt die Geringschätzung der Amerikaner gegenüber der großen russischen Nation. Das kann nicht im Interesse Europas sein. Die Amerikaner haben eine Badewanne von über 4 000 nautischen Meilen zwischen sich und Russland. Für uns ist es aber unser unmittelbarer Nachbar; deshalb muss es im deutschen und im europäischen Interesse sein, einen Ausgleich und Frieden mit Russland zu schaffen. Das werden wir nicht mit Sanktionen erreichen.
({3})
Machen wir also unseren amerikanischen Freunden klar, dass wir im deutschen und im europäischen Interesse eine andere Politik mit Russland machen wollen. Die SPD müsste mir übrigens sofort zustimmen; denn Herr Bahr und Herr Brandt haben ja nicht von einer Politik des Wandels durch Sanktionen gesprochen – das wäre mir völlig neu –, sondern von einer Politik des Wandels durch Annäherung. Wir sind gut beraten, auf diesem alten sozialdemokratischen Kurs zu bleiben.
Machen wir Realpolitik im deutschen und europäischen Interesse!
({4})
Behandeln wir Russland auf Augenhöhe mit Respekt und Anerkennung, wie es das russische Volk – nicht nur Herr Putin, sondern das russische Volk; um bei de Gaulle zu bleiben: das große russische Volk – verdient. Beenden wir diese Sanktionen!
Ich höre aus der FDP einige Stimmen, die damit unzufrieden sind.
({5})
Lassen Sie uns gemeinsam, meine Herren von den Liberalen, diesmal einen Antrag der Linken, der nicht von uns kommt und nicht unsere Argumentation enthält, unterstützen, und lassen Sie uns die Sanktionen schleunigst beenden, zum Wohle und für den Frieden Europas, zum Wohle unseres Landes und auch zum Wohle der großen russischen Nation.
Danke schön.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Alexander Graf Lambsdorff für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Hunko, ich habe mir den Antrag der Linksfraktion sehr genau durchgelesen; denn wir sind für die Entspannung mit Russland. Wir wünschen uns eine Beziehung zu Russland, in der wir keine Sanktionen brauchen.
Sie geben in Ihrem Antrag dem Westen insgesamt eine schwere Mitschuld an der Situation auf der Krim und in der Ostukraine. Die Voraussetzungen für die Aufhebung der Sanktionen, die Sie in Ihrem Antrag definieren, sind die Erfüllung der Verpflichtungen durch die Aufständischen und die Ukraine und dass die Bundesregierung dem – ich zitiere – „Narrativ“ entgegentreten möge, Russland sei Urheber der Krise.
({0})
„Narrativ“: Das klingt wie Fiktion. Das klingt so, als ob es da keine russische Rolle gebe. Haben Sie eigentlich den Film „Putj na Rodinu“ gesehen, den Film „Der Weg in die Heimat“? Darin wird minutiös dokumentiert, wie über ein Jahr lang in Moskau geplant wurde, die Annexion der Krim vorzubereiten und durchzuführen. Das ist kein Narrativ, das ist Realität, Herr Hunko.
({1})
Es ist noch nicht einmal ein halbes Jahr her, dass in Amsterdam ein Denkmal für die 298 Toten des Fluges MH17 eingeweiht wurde. Das Flugzeug ist von einer Buk-Lafette aus abgeschossen worden, vom Territorium dieser sogenannten Volksrepublik. Diese Lafette ist aus Rostow-na-Donu über die Grenze gekommen. Es war kein russischer Befehl, aber es war eine russische Waffe. Das ist kein Narrativ, das ist die Realität. Das ist kein Narrativ, das ist eine Tragödie, Herr Hunko.
({2})
Jetzt lassen wir den Antrag einmal hinter uns und fragen uns, was geschehen muss. Damit die Linkspartei das versteht, sage ich das mit den Worten von Wladimir Lenin: Tschto delat? – Was ist jetzt zu tun?
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Erstens. Russland ist zu respektieren und ernst zu nehmen. Ich sage das ganz deutlich.
({4})
Russland ist eine Weltmacht, Russland ist ein Land mit einer wunderbaren, reichen Kultur, ein Land, mit dem wir als Deutsche historisch, politisch und wirtschaftlich eng verflochten sind.
Zweitens. Wir müssen die Gesprächskanäle, die es gibt, offenhalten. Wir müssen aber bitte Abstand nehmen von der Fiktion, es gebe angeblich keine Gesprächskanäle. Als ob wir einen Dialog erst erfinden müssten! Es gibt Hunderte von Gesprächskanälen. Sie zu nutzen, ist unsere Aufgabe.
Den Dialog mit Russland müssen wir auf der Basis einer festen Verankerung im Westen führen. Es kann keine Schaukelpolitik Deutschlands geben, nach dem Motto: mal hier, mal da, mal die USA, mal Russland. Nein, wir sind Teil der Europäischen Union und der atlantischen Wertegemeinschaft. Von diesem Fundament aus führen wir den Dialog mit Russland.
({5})
Was ist das Ziel dieses Dialogs? Welchen Umgang miteinander streben wir an?
Erstens: die Rückkehr zum regelbasierten Umgang. Wir müssen zurück zur Charta von Paris. Wir erinnern an das Budapester Memorandum. Russland hat ja selber die territoriale Integrität der Ukraine garantiert.
Zweitens: der Respekt für das Völkerrecht. Russland hat einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und muss einer der Garanten des Völkerrechts sein.
Drittens. Das Ziel unseres Dialogs sollte am Ende sein, dass die Sanktionen verschwinden. Sie müssen Liberale nicht davon überzeugen, dass der Austausch von Waren und Dienstleistungen im freien Handel friedenstiftend wirken kann. Natürlich wollen wir, dass die Sanktionen am Ende verschwinden. Deswegen sind liberale Außenpolitiker immer auf Entspannung erpicht. Zwei große liberale Außenminister haben das im letzten Jahrhundert demonstriert: Walther Rathenau in Rappalo 1922 und Hans-Dietrich Genscher in Helsinki 1975. Herr Hunko, das war aber Entspannung durch den Aufbau von Regeln, an die sich dann alle gehalten haben. Was Sie wollen, ist Entspannung durch die Belohnung von Regelverstößen. Das ist genau der falsche Weg.
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Das ist übrigens auch nicht der Weg, den sich Wladimir Putin vorstellt. Russland und auch die Ukraine müssen – richtig – das Abkommen von Minsk erfüllen – schrittweise. Was Volker und Surkow besprochen haben, würden wir unterstützen, wenn es stimmt. Parallel dazu müssen wir einen Dialog mit Russland führen. Welche Regeln wünscht sich Russland denn für die Zukunft? Wie soll der Umgang aussehen? Nehmen wir das Land ernst, müssen wir den Dialog führen.
({7})
Ich will hier auch noch sagen – das ist mir wichtig –: Regierungen sind das eine. Wir haben dort eine schwierige, angespannte Lage. Wir sollten aber die Beziehungen zwischen unseren Ländern auf der menschlichen Ebene weiter fordern und fördern. Dazu haben wir in der Freien Demokratischen Partei am Montag einen umfassenden Beschluss gefasst. Er heißt „Recht wahren, Werte verteidigen, Dialog führen – zehn Vorschläge für die Zusammenarbeit mit Russland“.
Mit der Genehmigung des Hohen Hauses überreiche ich diesen Beschluss jetzt an Herrn Hunko.
Herzlichen Dank.
({8})
Nächster Redner: der Kollege Jürgen Trittin für Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Antrag der Linken hat ja prominente Unterstützer: den sächsischen Ministerpräsidenten Kretschmer, den thüringischen Ministerpräsidenten Ramelow, den brandenburgischen Ministerpräsidenten Woidke und Frau Schwesig. Ich finde, spätestens das hätte euch, liebe Genossinnen und Genossen, zu denken geben sollen, ob ihr da auf dem richtigen Pfad seid.
({0})
Sicher, es gibt unsinnige Sanktionen. Eine unsinnige Sanktion ist zum Beispiel, den russischen Parlamentariern Vorwände dafür zu liefern, warum sie nicht mehr mit uns diskutieren müssen. Das ist Unsinn. Aber es kann doch keinen Zweifel daran geben, dass Sanktionen als Reaktion auf die Verletzung des Völkerrechts – ein Anschlag auf die Basis der Sicherheitsarchitektur Europas – durch die Besetzung der Krim eine maßvolle, aber notwendige Antwort gewesen sind.
({1})
Herr Hampel, wir haben ja viel in die Geschichte zurückgeblickt. Ich will darauf hinweisen, dass die Schlussakte von Helsinki von der Sowjetunion abgeschlossen worden ist. Darin steht, dass jedes Land in Europa die Freiheit hat, sein eigenes Bündnis zu wählen. Da gibt es keine Einflusssphären, sondern die Freiheit, selber Bündnisse auszuwählen, und diese stellen keine Bedrohung des anderen dar.
({2})
Dahin müssen wir zurückkehren.
Selbstverständlich ist der Befund richtig, dass die Sanktionen im Zusammenhang mit dem Minsker Abkommen stehen. Was will Putin in der Ostukraine? Er will das Land stabilisieren. Er will eine Lektion erteilen: Jeder, der sein Recht auf Selbstbestimmung wahrnimmt, wird mit dem Verlust von Stabilität bedroht. Putin will einen Failed State. Wenn Sie über europäische Interessen reden: Es ist nicht unser Interesse, in unserer unmittelbaren Nachbarschaft einen Failed State zu haben.
({3})
Deswegen kann doch die Antwort nicht sein: Weil das noch nicht gewirkt hat, gehen wir einfach zur Tagesordnung über. – Wir müssen doch alles dafür tun, damit der Zerfall der Ukraine aufgehalten wird. Selbstverständlich trägt Russland die Hauptverantwortung. Aber wir sehen auch, dass es innerhalb der Ukraine immer wieder Kräfte gibt, die, statt für weniger Korruption und weniger Oligarchie zu sorgen, lieber auf einen nicht zu gewinnenden Krieg setzen.
Aber was ist die Antwort der Europäer darauf? Die Antwort der Europäer ist doch, dass wir der Ukraine konditioniert helfen, um dort eine, wie es so schön heißt, „better governance“ zu erreichen.
({4})
Der andere Teil dieser Strategie ist, dass wir von Russland bitte schön erwarten, dass es das, was es unterschrieben hat, tatsächlich umsetzt.
({5})
Das ist die einfache Logik. Dann gibt es auch keine Sanktionen mehr.
({6})
Ich will eines hinzufügen: Dieses Problem werden wir nur lösen, wenn wir dieses Europa zusammenhalten. Wir dürfen nicht zulassen, dass uns über die Frage, wie man damit umgeht, nämlich mit dieser Strategie von konditionierter Hilfe für die Ukraine und Sanktionen mit dem Ziel der Umsetzung des unterschriebenen Abkommens, dieses Europa um die Ohren fliegt.
Herr Lambsdorff, ich bin nicht so ganz zuversichtlich, ob man von „den westlichen Interessen“ sprechen kann.
({7})
Ich sehe mit einer gewissen Sorge, dass die USA teilweise andere strategische Interessen verfolgen, als wir Europäer das dort tun.
({8})
– Ich kann das belegen.
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Innerhalb kürzester Zeit haben die USA beschlossen, in die Konfliktregion Waffen zu liefern, was den Konflikt verlängert. Parallel dazu hat man mal eben einen Tanker mit Flüssiggas von der Jamal-Halbinsel nach kurzem Umladen in London nach Boston gebracht.
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Die Lieferung stammt von Nowatek. Nowatek ist ein russisches Unternehmen, dessen Name auf unserer wie auch auf der amerikanischen Sanktionsliste steht. Ich finde, diese Form von „America first“ darf nicht die Ukraine-Politik bestimmen.
({11})
Deswegen sage ich Ihnen, auch in Richtung der Linken: Wir müssen dieses Europa zusammenhalten; denn alles andere wäre das Ende von Minsk. Das Ende von Minsk wäre nicht das Ende des Krieges, sondern die Intensivierung dieses Krieges. Das kann niemand ernsthaft wollen.
({12})
Ich rufe den Kollege Mario Mieruch auf. – Herr Kollege, lassen Sie sich Zeit. Sie haben einen weiten Weg; nicht dass Sie fallen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ja, der Weg ist etwas weiter – das stimmt –, aber ich gehe ihn gerne.
Die hier getroffenen politischen Entscheidungen sollen mehrere Anforderungen erfüllen, zum Beispiel Glaubwürdigkeit, Nachhaltigkeit, Angemessenheit. Sie sollen aber im Innenverhältnis dem Wohle unserer Bürger dienen und im Außenverhältnis unsere Interessen sowie unsere partnerschaftlichen Vereinbarungen wahren. Ich denke, das ist bis hierin unbestritten.
Dr. Schmid hat es vorhin gesagt: Die Sanktionen wirken. Damit hat er absolut recht. Ich habe in meiner beruflichen Laufbahn, bis ich dieses Mandat angenommen habe, live miterleben können, wie unseren Mittelständlern Märkte weggebrochen sind und gestandene Betriebsleiter mit Tränen in den Augen dasaßen und nicht mehr wussten, wie sie die Hypotheken bezahlen sollten, weil sie seit Monaten in Kurzarbeit waren. Auch darüber müssen wir nachdenken.
Wenn wir wie Herr Trittin, der gerade Helsinki angesprochen hat, darüber debattieren, dass die Ukraine möglichst unbeeinflusst bleiben soll, und ich die Pressemeldungen der letzten Jahre an mir vorbeiziehen lasse, dann komme ich zu dem Schluss: Das hat ziemlich gut nicht geklappt.
Fassen wir den Status zusammen: Es ist völlig unrealistisch, zu erwarten, dass diese Maßnahmen, solange wir sie auch aufrechterhalten, die Krim-Frage jemals lösen werden. Denn wer hat ernsthaft geglaubt, dass Putin sich, egal was wir tun, seinen einzigen Schwarzmeerzugang nehmen lassen und nicht darauf reagieren wird? Das ist völlig unrealistisch. Er wird sich auch in seinen innenpolitischen Verflechtungen doch nicht den Ast absägen, auf dem er selber sitzt.
Es stellt sich also die Frage, ob es angemessen ist, unseren Mittelstand weiterhin zu beschneiden und ihm seinen Markt zu nehmen. Es stellt sich die Frage, ob es nachhaltig ist, unseren Innovationsgeist mit der Verzahnung der russischen Bodenschätze zu unterbinden. Wer hat denn wohl den Markt, der ja trotz dieser Sanktionen zweifellos erhalten geblieben ist, jetzt bedient? Wer macht denn die Geschäfte, und wer macht sie in Zukunft, auch in Zeiten der Globalisierung und vor allem der Digitalisierung? Wer liefert die Anlagen, die wir nicht mehr liefern, und wer liefert sie in 10 oder 15 Jahren?
Und es stellt sich die Frage, ob es glaubwürdig ist, was wir da tun, während Guantánamo weiterhin aktiv ist und die Rüstungsgeschäfte mit Nahost besser laufen als jemals zuvor. Man muss kein Putin-Versteher sein, wenn man die Folgen dieser Symbolpolitik selbst erlebt hat, und man sollte den deutschen Anlagenbauer und die Arbeitnehmer verstehen, die das alles mittragen müssen und die hier Steuern zahlen.
Wir sollten stattdessen die Idee von Kohl und Gorbatschow aufgreifen und über die Idee des europäischen Hauses nachdenken und hier vielleicht wieder eine vernünftige Gesprächsbasis suchen.
Danke schön.
Nächster Redner: der Kollege Dr. Volker Ullrich für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein gutes, stabiles und partnerschaftliches Verhältnis zu Russland liegt im Interesse der deutschen Außenpolitik. Aber zur Garantie einer stabilen Sicherheitsordnung in Europa gehören auch die Anerkennung und die Geltung grundlegender Prinzipien des Völkerrechts.
Wenn es im Antrag der Linken heißt, es gelte „das völkerrechtliche Problem der Krim“ zu lösen, dann ist der Begriff „Problem“ ziemlich beschönigend. Es geht nicht um ein Problem, wo man hin und her diskutieren kann, wie man es vielleicht im juristischen Staatsexamen lernt. Es geht darum, dass eine völkerrechtswidrige Annexion der Krim vorliegt und dass zum ersten Mal seit 1945 gewaltsam Grenzen in Europa verschoben worden sind. Dagegen wehren wir uns. Das ist ein schwerer Bruch des Völkerrechts.
({0})
Es liegt auch keine Konfrontationslogik vor. Wir haben in der Ostukraine im Donbass einen Konflikt, der mittlerweile 10 000 Menschenleben gekostet hat. Über 1 Million Menschen sind auf der Flucht. Die Sanktionen, die die Europäische Union vereinbart hat, sind nicht Teil des Konflikts, sondern sie sind die völkerrechtlich gebotene Antwort darauf. Denn wir müssen uns fragen: Was ist das Völkerrecht noch wert, wenn wir den Bruch des Völkerrechts einfach geschehen ließen? Das Völkerrecht muss eingehalten werden, auch durch das Mittel von Sanktionen.
({1})
Sanktionen sind damit auch ein Mittel der Diplomatie, um unseren Standpunkt klarzumachen. Und die hypothetische Frage ist eben doch erlaubt, wie der Konflikt möglicherweise eskaliert wäre, wenn diese Sanktionen nicht verabredet worden wären. Was wäre mit weiteren Teilen des ukrainischen Territoriums passiert, wenn hier nicht Europa mit einer Stimme gesprochen hätte? Es ist ein richtiges und gutes Zeichen – auch der Handlungsfähigkeit Europas –, dass die Europäische Union seit 2014 einmütig sagt: Den Bruch des Völkerrechts, das Führen eines asymmetrischen Kriegs, das Verschieben von Grenzen und die Gefährdung der Friedens- und Freiheitsordnung in Europa werden wir nicht akzeptieren, und wir reagieren mit Sanktionen darauf.
Hier spielt auch der Europarat eine zentrale Rolle. Es gibt mehrere Resolutionen des Europarats, in denen deutlich gemacht wird, dass sowohl Beobachtermissionen als auch die Situation der Menschenrechte in der Ostukraine zu beachten sind. Teile dieser Resolutionen sind von Russland nicht umgesetzt worden.
Wenn man wie Sie, Herr Kollege Hunko, über den Europarat spricht, muss man auch deutlich machen, dass zum Europarat auch die Europäische Menschenrechtskonvention gehört, die Rede- und Meinungsfreiheit garantieren soll. Auch diese Freiheit wird im Augenblick in Russland teilweise mit Füßen getreten. Ich erinnere nur an die Vorfälle rund um Herrn Nawalnyj. Wir fordern deutlich ein, dass zu einer Freiheitsordnung auch der Respekt vor der Europäischen Menschenrechtskonvention gehört. Dazu gibt es keine Alternative.
({2})
Ich finde es bemerkenswert, dass bei der Beurteilung des Konflikts in der Ostukraine und der Sanktionen in vielen Punkten eine Übereinstimmung zwischen der Linken und der AfD existiert. Wächst hier vielleicht zusammen, was irgendwie in diesem Punkt auch zusammengehört?
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Wir stehen auf der Seite des Rechts bzw. des Völkerrechts. Wir setzen auf ein gutes nachbarschaftliches Verhältnis. Aber dieser Konflikt kann nur gelöst werden, wenn die Vereinbarungen umgesetzt werden; darauf werden wir drängen.
Vielen Dank.
({4})
Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Thorsten Frei von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben über dieses Thema intensiv diskutiert. Mir scheint wichtig zu sein, einen Blick auf den Antragstext der Linken zu werfen. Wenn man den Antrag genau liest, dann findet man einen einzigen klugen Satz. Er lautet, ein gutes Verhältnis zu Russland sei grundlegend für Frieden auf dem europäischen Kontinent. Das ist vollkommen richtig. Die Vorredner sind intensiv darauf eingegangen, was dafür die notwendige Grundlage ist.
Aber Sie schießen auf eine Art und Weise über das Ziel hinaus, die im Grunde genommen inakzeptabel ist. Sie unterstellen der EU, der NATO und den Mitgliedstaaten dieser Organisationen – also auch uns –, Konfliktpartei in der Ukraine zu sein, und insinuieren damit, dass wir Mitverursacher der Herausforderungen und der Probleme in der Ukraine sind. Das ist dreist. Das ist Geschichtsklitterung. Anders kann man das nicht formulieren.
({0})
Ich finde das wirklich bemerkenswert. Ich kann mich einer Äußerung dazu nicht enthalten.
({1})
Natürlich wirken die Sanktionen nicht nur in Russland, sondern auch bei uns.
({2})
– Herr Hampel, ich werde gleich auf Sie eingehen. – Ich erlebe das im eigenen Wahlkreis in Baden-Württemberg, wo es viele Maschinenbauunternehmen gibt, die davon vielfach betroffen sind. Sie haben das Kieler Institut für Weltwirtschaft angesprochen, das darauf hingewiesen hat, dass die deutsche Wirtschaft etwa 40 Prozent der Sanktionskosten des Westens zu tragen hat, während die Wirtschaft in Großbritannien 8 Prozent und die Wirtschaft in Frankreich 4 Prozent zu schultern haben. Das heißt, unsere Wirtschaft leidet unter diesen Sanktionen; das ist vollkommen richtig. Aber wollen Sie deshalb unsere Werte und das Fundament unserer Politik verkaufen? Diese Frage ist doch zu stellen. Herr Hunko, Sie haben die Frage nicht beantwortet – jedenfalls nicht plausibel –, welche Alternativen Sie haben.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hampel?
Ja, bitte.
Herr Kollege Frei, ich erwähnte gerade das Assoziierungsabkommen, das einen militärischen Part enthält. Ignorieren Sie völlig, dass die NATO und die westlichen Nationen die Ukraine nicht nur wirtschaftlich, sondern auch militärisch stärker an Europa binden wollten und damit ein Reiz Moskaus schon implementiert war?
({0})
Lieber Herr Hampel, meine Vorredner sind doch intensiv darauf eingegangen, beispielsweise auf das Schlussabkommen von Helsinki und darauf, dass es ein Selbstbestimmungsrecht der Völker gibt und dass die Länder selbst entscheiden, welchen Bündnissen Sie sich anschließen. Es gibt keine russische Einflusssphäre, die wir zu akzeptieren hätten. Die Völker entscheiden, wie sie sich positionieren. Dabei gibt es keine Einflussnahme Europas, des Westens oder Deutschlands,
({0})
sondern es gilt das Selbstbestimmungsrecht der Völker, und das respektieren wir – ganz offensichtlich im Gegensatz zu Ihnen.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich würde gerne noch auf einen anderen Aspekt hinweisen. Immer wieder denke ich, dass Deutschlands Sicht auf Russland häufig romantisch verklärt ist und viele Fakten außer Acht lässt. Schauen wir uns einmal die jüngere Vergangenheit an, beginnend mit der Rede von Putin zur Lage der Nation 2005. Da hat er als größte geopolitische Katastrophe des letzten Jahrhunderts den Zusammenbruch der Sowjetunion bezeichnet. Es folgten seine Rede 2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz, 2008 der Georgien-Krieg, dann die Annexion der Krim. Später marschierten russische Truppen – oder „grüne Männchen“ – in die Ostukraine ein. Ich könnte mit der russischen Syrien-Politik und vielem anderen mehr weitermachen.
Daran wird doch etwas deutlich, was uns zutiefst beunruhigen muss – vor allen Dingen findet das auch in den nackten Zahlen seine Entsprechung –: Russland hat seit dem Jahr 2000 und erst recht seit 2008 massiv aufgerüstet. Während Russland im Jahr 2000 noch etwa 2 Prozent seiner Wirtschaftsleistung für Rüstung und Militär ausgegeben hat, sind es heute 5,3 Prozent, so viel wie kein anderes Land der Erde.
Das wird im Übrigen beispielsweise durch die Großübung „Sapad 2017“ bestätigt. Im Westen Russlands üben 40 000 Soldaten ganz offensichtlich Angriffskriege. In Kaliningrad befinden sich 300 000 russische Soldaten. Weitere 40 000 Soldaten sind im militärischen Westdistrikt. All das sind doch Dinge, die wir berücksichtigen müssen.
Der russische Generalstabschef Gerassimow hat formuliert: Auseinandersetzungen und Konflikte mit zwei Fronten gehören der Vergangenheit an, und die Zukunft liegt in der hybriden Kriegsführung. – Auch dafür gibt es viele Beispiele: der amerikanische Wahlkampf, der französische Wahlkampf, der Hacker-Angriff auf den Bundestag und nicht zuletzt der von Russland finanzierte Zug aus Serbien, der vor einem Jahr nach Mitrovica im Kosovo fuhr und auf dem in vielen Sprachen stand: Kosovo ist serbisch. – Das ist genau die Destruktionspolitik, die versucht, den Westen zu destabilisieren, Europa zu destabilisieren, zwischen die westlichen Länder einen Keil zu treiben. Bei allem Verständnis für offene Gesprächskanäle: Wir können nicht so naiv sein, das völlig zu unterschlagen.
Vielen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/95 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich freue mich wirklich sehr, dass ich diese Woche doch noch einiges zum Megathema Digitalisierung lesen durfte. Offenbar ist den Verhandlern von der alten und vermutlich ja auch neuen Großen Koalition doch noch aufgefallen, dass ihnen da in den Sondierungen etwas durchgerutscht war. Nur leider ist Ihnen nicht nur bei Sondierungen etwas durchgerutscht, sondern auch schon vor einigen Jahren, was dazu geführt hat, dass Deutschland in der Digitalisierung leider heute immer noch ein Entwicklungsland ist,
({0})
sei es an den Schulen, wo die Schülerinnen und Schüler vergeblich auf funktionstüchtige Computer und digitale Lernkonzepte warten, oder sei es im ländlichen Raum, wo jeder Dritte sich beinahe im digitalen Niemandsland befindet. Wir Grüne fordern Sie deshalb heute auf: Schaffen Sie endlich klare Zuständigkeiten in der Bundesregierung, und legen Sie endlich eine kohärente Digitalisierungsstrategie vor!
({1})
Jetzt werden Sie vielleicht sagen: Das haben wir ja längst getan. – Es gibt auch etwas, das sich „Digitale Agenda“ nennt. Nur, nach einigen Jahren muss man doch feststellen, dass das größtenteils Ankündigungen waren; ich habe eben die Beispiele „Schule“ und „Breitband“ genannt. Jetzt geht es gerade so weiter. In den Sondierungen und vor ein paar Monaten auch schon in der Presse haben Sie angekündigt: Es soll jetzt ein Zentrum für künstliche Intelligenz geben. – Das begrüße ich sehr. Ich habe direkt nachgefragt, was denn da schon geplant sei, und die Antwort war – ich zitiere –: „Konkrete Schritte sind bisher nicht vereinbart worden.“
({2})
Ich frage Sie ernsthaft, wie ein solches Sammelsurium an Ankündigungen eine digitale Agenda sein soll.
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Wie man Digitalisierung zum Topthema macht, das kann man dort sehen, wo Grüne in der Verantwortung sind. Schauen Sie nach Baden-Württemberg, wo Ministerpräsident Winfried Kretschmann das Thema zum Topthema gemacht hat. Dort gibt es eine kohärente Digitalisierungsstrategie, und die ist auch mit Geld hinterlegt. Oder schauen Sie nach Schleswig-Holstein,
({4})
wo Robert Habeck das Thema gebündelt hat und vorantreibt. Es geht also – man sieht es –; es braucht wohl nur Grüne an der Regierung, damit es geht.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, ich freue mich sehr, dass wir gemeinsam dafür sind, dass der Ausschuss Digitale Agenda jetzt auch eine Federführung bekommt; denn Digitalisierung ist kein Nebenthema, sondern eines der größten Zukunftsthemen. Aber gerade deshalb habe ich mich doch sehr gewundert, warum Sie die Chance, als wir das in Jamaika hätten umsetzen können, nicht ergriffen haben, sondern sich aus der Verantwortung gestohlen und die Digitalisierung eben nicht vorangebracht haben.
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Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rosemann?
Ich dachte, in der ersten Rede gibt es keine Zwischenfragen.
Zu dem Ausstieg aus Jamaika vielleicht noch eine Bemerkung; ich habe bei diesem Ausstieg nämlich schon ein bisschen Zweifel an Ihrer Digitalkompetenz bekommen. Wir hatten ja dieses wunderschöne Sharepic, bei dem Sie auch gleich noch das Datum der Herstellung mitveröffentlicht haben. Da hätten Sie mal besser bei uns Grünen nachgefragt – mit Datenschutz kennen wir uns aus –; dann hätte man Sie vielleicht nicht entlarvt, dass es gar kein so spontaner Abgang war.
({0})
Meine Damen und Herren, wir müssen in diesem Land die Innovationen vorantreiben, die zum Wohle der Menschen sind, die zum Wohle der Gesellschaft sind. Da gibt es zahlreiche Chancen der Digitalisierung: im Bereich Gesundheit, im Bereich Medizin, im Bereich Energieeffizienz. Aber wir müssen die Zivilgesellschaft dabei mitnehmen; denn natürlich wollen die Leute wissen, was mit ihren Daten passiert. Sie wollen wissen, was mit ihren Jobs in der Zukunft passiert, wie soziale Sicherung aussieht und wie wir in Weiterbildung investieren, damit sie auch in Zukunft noch einen Job haben. Dafür müssen wir die Zivilgesellschaft einbeziehen, gern auch in einem Digitalrat, solange dieser nicht mit den üblichen Verdächtigen besetzt ist und solange wir Digitalkonferenzen durchführen, in denen auch Bürgerinnen und Bürger etwas zu sagen haben.
({1})
Und: Der Digitalrat darf kein Feigenblatt sein, um die nächsten Jahre wieder nur zu diskutieren und nichts umzusetzen; denn jetzt muss es losgehen.
Ich fordere Sie auf: Werden Sie jetzt tätig! In unserem Antrag machen wir einige Vorschläge, wie es geht.
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Der Kollege Axel Knoerig spricht nun für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Grünen – das haben wir gerade wieder herausgehört – werfen uns in ihrem Antrag vor, dass wir die Digitalisierung als Nebenthema abtun. Das macht deutlich, dass sie selbst den Kern der Sache gar nicht erfasst haben.
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Denn bei der Digitalisierung kann man bekanntlich nicht von Haupt- und Nebenthemen sprechen; sie ist vielmehr ein Prozess und durchdringt im Grunde genommen im Querschnitt alle Bereiche unseres Lebens. Deswegen setzten wir im zukünftigen Koalitionsvertrag für den digitalen Wandel in allen Ressorts entsprechende Schwerpunkte.
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Unsere Digitalisierungsstrategie muss vor allem – dafür müssen wir im Wirtschaftsressort sorgen – wirtschaftlich begründet sein. Wie in der Wirtschaft müssen wir also permanent das Kerngeschäft hinterfragen. Das bedeutet für die Politik: Wir brauchen eine schonungslose Bilanz, die aufzeigt, wo wir stehen und wo auch die Defizite liegen. Nur daraus können wir schnell Verbesserungsmaßnahmen entwickeln bzw. ableiten. Wie erreichen wir das Ziel unserer Strategie? Mit Glasfasertechnologie, meine Damen und Herren; denn das bringt mehr Tempo auf der Datenautobahn.
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Ich sage aber auch selbstkritisch: Es gibt durchaus Regionen – das weiß ich sehr wohl aus meinem Wahlkreis Diepholz – Nienburg I, einem ländlichen Wahlkreis in Niedersachsen -, in denen gerade in den kleineren Dörfern immer noch auf leistungsfähige Netzanbindung gewartet wird. Eine solche muss aber, denke ich, im Jahr 2018 selbstverständlich sein.
Immerhin strebt der neue Rechtsrahmen der EU eine lückenlose Versorgung bei der Telekommunikation an. Doch, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir müssen die Papiere genau lesen. Die Bundesnetzagentur will weiterhin eine Versorgung von 90 bis 98 Prozent der Haushalte. Wenn das so festgeschrieben wird, sind wieder ganze Dörfer außen vor. Das darf politisch in keiner Weise mitgetragen werden!
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Hier sehe ich ganz klar die Unternehmen in der Pflicht: Sie müssen 100 Prozent der Fläche ausbauen.
Es ist sehr wohl richtig, dass die Landkreise dazu übergehen – das hat mein Heimatlandkreis Diepholz auch getan –, flächig zu prüfen, wo Funklöcher und weiße Breitbandflecken sind. Ich kann nur jedem Landkreis empfehlen, das so zu machen, um Druck auf die Bundesnetzagentur auszuüben. Auch der Deutsche Landkreistag als Interessensverband der Kommunen ist gefordert, dafür zu sorgen, damit die Flickenteppiche endlich gestopft werden.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Ja, bitte.
Herr Knoerig, danke, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Wir kennen uns ja aus dem Digitalausschuss. – Sie haben betont, wie langsam der Breitbandausbau vonstattengeht. Jetzt habe ich vernommen, dass Herr Kauder vorgeschlagen hat, dass in der Union Veranstaltungsreihen zum Thema Digitalisierung durchgeführt werden sollen. Vielleicht ist das der erste Schritt nach vorne.
Ich habe aber auch den Bericht des Bundesrechnungshofes zu der Arbeit von Herrn Dobrindt gelesen, der jetzt veröffentlicht worden ist. Dort steht, dass gerade die Unordnung in seinem Ministerium dafür gesorgt hat, dass wir bei der Kostenseite und beim Tempo nicht entsprechend vorankommen bzw. in Schieflage kommen. Ich möchte Sie bitten, dazu Stellung zu nehmen.
Außerdem habe ich die Frage an Sie: Sind Sie bereit, Kompetenzen zu bündeln, also auch dem Digitalausschuss des Deutschen Bundestages eine solche Kompetenz zu geben, dass er ein Ausschuss wird, der Federführung bei diesen Fragen übernehmen kann, damit wir endlich Prioritäten setzen und bei diesen Themen vorankommen können?
({0})
Herr Kollege, wenn Sie bei meinen Ausführungen genau zugehört hätten, hätten Sie vernommen, dass ich davon gesprochen habe, dass das im Grunde genommen eine Querschnittsaufgabe ist, die in alle Lebensbereiche hereinreicht.
({0})
Das bilden wir natürlich auch in den Ministerien ab. Sie haben ja selber in der vergangenen Periode erfahren, wo Industrie 4.0 als Plattform verantwortet wurde. Das BMWi hat entsprechend seiner Aufgabe als Wirtschaftsministerium hierzu bei den Unternehmen beigetragen.
Sie wissen sehr wohl auch, dass in den vergangenen Jahren gerade unter dem Minister Dobrindt der Breitbandausbau mit 4 Milliarden Euro gefördert wurde.
({1})
Wir haben da nicht nur für Allianzen in den Landkreisen vor Ort gesorgt, sondern der Ausbau kommt nun auch zustande. Wenn ich selbstkritisch davon spreche, dass wir immer noch Dörfer haben, die nicht ordentlich versorgt werden, so kann ich zugleich auf meinen Landkreis verweisen und festhalten, dass dort 123 Millionen Euro in die Breitbandförderung fließen, an denen sich der Bund mit 50 Millionen Euro beteiligt. Das machen wir ja flächendeckend, nicht nur in den 40 Landkreisen des Landes Niedersachsen, sondern bundesweit. Das ist, wie ich denke, eine herausragende Initiative, die der Minister Dobrindt in den vergangenen Jahren ins Leben gerufen hat.
({2})
Ich sprach eben von der Bundesnetzagentur. Ihr müssen wir weitere Instrumente an die Hand geben, damit sie tatsächlich auch Sanktionen gegenüber den Providern umsetzen kann.
Meine Damen und Herren von den Grünen, auch bei einem weiteren Punkt widerspreche ich Ihnen. Sie sagen: Vorrang für Glasfaser! – Das heißt aber nicht, dass wir nützliche Übergangstechnik wie Vectoring gleich völlig abschaffen oder gar alle Kupferleitungen aus dem Boden reißen.
({3})
Wir sind jedoch gefordert - ich denke, das ist klar -, die digitale Verwaltung voranzubringen. Da sind wir durchaus Schrittmacher. Bei dieser Entwicklung müssen wir voranschreiten.
Herr Kollege, Frau Rößner würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Bitte, Frau Rößner.
Vielen Dank, Kollege Knoerig, dass Sie die Nachfrage zulassen. – Sie haben eben davon gesprochen, dass der Ausbau der Netze eine Querschnittsaufgabe ist. Ich würde eher sagen: Die Digitalisierung als Ganzes ist eine Querschnittsaufgabe.
({0})
Der Ausbau von Infrastruktur ist eigentlich eine sehr klare Beschreibung. Liegt die Verzögerung nicht eher daran, dass in der Vergangenheit falsche Entscheidungen getroffen wurden, dass kein Geld in die Hand genommen wurde, dass auf eine Frequenzversteigerung gewartet wurde und dass mit der Vectoring-Entscheidung der Ausbau eher verhindert wurde, als dass er vorangebracht wurde?
({1})
Frau Kollegin, Sie haben mich zum zweiten Mal – ich will nicht sagen: bewusst – missverstanden. Ich habe immer davon gesprochen, dass das Internet mit seiner Technologie eine Querschnittsaufgabe, die alle Bereiche umfasst, darstellt. Dabei sind der Breitbandausbau und die Netze nur ein Aspekt.
Zu dem, was Sie ansprechen, kann ich lediglich festhalten: Zu Beginn haben wir gesagt, dass wir die Netze aufwerten wollen, insbesondere im ländlichen Raum. Danach haben wir erlebt, dass die privaten Unternehmungen ihre Investitionen gestoppt und erst einmal geschaut haben, was denn da an Förderung kommt.
Wenn wir bei dieser Wettbewerbsintensität Subventionen in diesen Markt fließen lassen, müssen wir besonders darauf achten, was sich daraus entwickelt. Jetzt, da wir Subventionen in den Markt hineingeben und den ländlichen Raum ausbauen wollen, stellen wir fest, dass die privaten Unternehmungen beschleunigt tätig werden und versuchen, noch das Mögliche herauszuholen. Diese Initiative hat sehr wohl dazu beigetragen, dass die Privaten sozusagen schneller laufen und diese Datenautobahn besser ausbauen.
Lassen Sie mich zu meinem Thema zurückkommen.
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Ich habe gesagt, wir müssen bei der digitalen Entwicklung mehr Schritt halten. Der Föderalismus bremst uns hier in Teilen aus. Ich will Ihnen etwas aus meinem vorherigen Berufsleben berichten. Ich habe damals auf der CeBIT-Messe ein webbasiertes Einwohnermeldewesen aufgebaut. Das liegt 22 Jahre zurück. Es ist nicht so, dass es diese Systeme heute nicht flächig in den Ländern gibt; aber sie sind bis heute nicht vernetzt. Das ist letztendlich auch dem Föderalismus geschuldet. Wir brauchen auf Bundesebene eine koordinierte Zusammenarbeit mit einem festgelegten Zeitraum für diese technologische Umstellung.
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Wir schlagen zum Beispiel ein digitales Bürgerkonto vor. Damit kann jeder seine Verwaltungsanliegen beim Bund, bei Ländern und Kommunen zentral erledigen. Auch im Bildungsbereich müssen wir neue Wege gehen. Der Bund will 3,5 Milliarden Euro in die Länder investieren, um den sogenannten Digitalpakt auszugestalten. Natürlich erwarten wir im Gegenzug, dass die Länder mehr Lehrer einstellen und Digitalkonzepte umsetzen.
Wir müssen unseren Mittelstand fitmachen. Dazu haben wir bundesweit Kompetenzzentren in den Regionen errichtet. Wir haben dort mit den Mittelständlern praxistaugliche Strategien rund um das abstrakte Thema Industrie 4.0 erarbeitet, um es den Firmen nahezubringen.
Jetzt geht es darum, dass der Mittelstand und gerade die IT-Firmen weltweit wettbewerbsfit gemacht werden. Was brauchen wir dazu? Wir brauchen erstens eine bessere Risikofinanzierung auch für Start-ups; denn Existenzgründungen – das wissen wir – sind der Motor für Wirtschaft und Wachstum. Wir brauchen zweitens mehr Bildungsangebote. Wir wissen, dass die Firmen und die Arbeitnehmerschaft sich verändern müssen. Das dient wiederum der Fachkräftesicherung. Und drittens – ganz wichtig – brauchen wir eine komplette Digitalisierung der jeweiligen Wertschöpfungsketten, damit nicht nur ein Bereich herausgenommen wird, sondern damit die Digitalisierung durchgängig erfolgt. Deswegen ist eine verstärkte Kooperation der Firmen untereinander notwendig; denn die Digitalisierung funktioniert nur über Vernetzung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, unsere Wirtschaft kann nur im europäischen Verbund gegenüber den USA und Asien bestehen. Nur so erlangen wir Datensouveränität und Datensicherheit. Dazu ist die europäische Digitalisierungsstrategie außerordentlich wichtig.
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Ich fasse zusammen: Wir brauchen erstens eine europäische Digitalisierungsstrategie, zweitens einen digitalisierten Mittelstand und drittens eine technologische Infrastruktur, die jedes Dorf, jede Gemeinde erfasst und dem digitalen Wandel auch in der Zukunft standhält.
Meine Damen und Herren, die Wirtschaft brummt. Seit acht Jahren haben wir einen Aufschwung. Wir haben ein stetiges Wirtschaftswachstum. Wenn uns dieser digitale Wandel gelingt, werden wir es schaffen, dass es weiterhin gut läuft. Wir dürfen dabei eines nicht vergessen: die Menschen mitzunehmen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Zu seiner ersten Rede rufe ich den Kollegen Falko Mohrs von der SPD-Fraktion auf.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bedeutung der Digitalisierung ist inzwischen vermutlich wirklich allen klar. Anhand der Debattenbeiträge der letzten Tage konnten wir ja erkennen, dass sogar ehemalige Zweifler und Verhinderer inzwischen Überzeugungstäter geworden sind.
Die Digitalisierung verändert alles. Sie verändert unsere Art, zu arbeiten, zu leben, zu kommunizieren, und das in einer rasenden Geschwindigkeit. Wo ich mich als gut 30-Jähriger noch an die Floppy Disk erinnern kann, gibt es wahrscheinlich in der Generation der U-20-Jährigen niemanden mehr, der sich an eine Zeit ohne ein Handy erinnern kann. Die Generation der Digital Natives zeigt uns heute schon einen ganz neuen Umgang mit Daten. Grenzen spielen nur eine absolut untergeordnete Rolle. Das Digitale ist fester Bestandteil fast aller Lebensbereiche geworden.
In den vergangenen Jahren haben wir – auch wenn es eben infrage gestellt wurde – bereits spürbare politische Fortschritte gemacht. Die Industrie 4.0, also das Herz unserer Wirtschaft, ist entsprechend weiterentwickelt worden. Wir haben endlich begonnen, einen Rahmen für das autonome Fahren zu entwickeln. Für den Mittelstand wurden die Rahmenbedingungen deutlich verbessert, für Start-ups wurden Quellen von Venture-Capital erschlossen. Das Weißbuch Arbeiten 4.0 hat den Weg gezeigt, wie sich die Arbeit im digitalen Zeitalter weiterentwickeln muss. Wir haben im Bereich der Störerhaftung Fortschritte gemacht und mit der Datenschutz-Grundverordnung trotz mancher Kritik endlich auch dort für Sicherheit gesorgt. Die Digitalbranche ist der größte Arbeitgeber in Deutschland. Bei allem Verständnis für Ihre Oppositionsrolle, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen: Das dürfen auch Sie akzeptieren.
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Man muss kein Prophet und auch kein Herr Kauder sein, um festzustellen: Die Digitalisierung wird das bestimmende Thema für die kommenden Jahre bleiben.
Den digitalen Wandel müssen wir gestalten, und zwar nicht, indem wir passiv zusehen und aus Angst vor einer zwangsläufigen Entwicklung wie das Kaninchen vor der Schlange sitzen, sondern indem wir dafür sorgen, dass endlich alle an diesem Fortschritt teilhaben können. Es geht beim Infrastrukturausbau darum, endlich und ausschließlich auf die Glasfaser als Technologie zu setzen. Wir brauchen endlich den digitalen EU-Binnenmarkt, 5G muss Standard werden, und wir werden im Bereich der Bildung durch den De-facto-Wegfall des Kooperationsverbots endlich die massiven Investitionen, die im Bildungsbereich notwendig sind, anpacken.
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– Da dürfen Sie gespannt sein.
Wir werden in den nächsten Jahren noch gemeinsam erleben – davon gehe ich aus –, wie wir die Schulen sprichwörtlich aus der Kreidezeit endlich herausführen. Dafür braucht es eben massive Investitionen. Und wir werden für die Start-ups nicht nur in der Gründungsphase Kapital bereitstellen müssen, sondern eben auch in der wichtigen Phase danach. Da geht es auch darum, über Fonds, wie wir sie aus anderen europäischen Ländern kennen, neue Finanzierungsmöglichkeiten zu erschließen.
Ich finde es spannend, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, dass Sie sich hier über unser immerhin fertig gewordenes Sondierungspapier auslassen und beschweren, wo wir doch in Ihrem Antrag vor allem Allgemeinplätze finden konnten. Ich glaube, beim Thema „Speicherung von Daten“ haben wir am Ende immer noch fünf dieser berühmt-berüchtigten eckigen Klammern gefunden.
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– Ja, es gab immerhin ein Kapitel, aber, liebe Frau Kollegin Dr. Christmann, wir kennen den Unterschied zwischen Sondierungsgesprächen und Koalitionsverhandlungen.
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Wir haben zum jetzigen Zeitpunkt Sondierungsgespräche geführt und werden in den Koalitionsverhandlungen – lassen Sie sich überraschen – da noch einiges auf den Weg bringen.
Noch einen Punkt möchte ich ansprechen – Sie müssen dazu jetzt gar nicht Stellung nehmen –: Sie haben eben in Ihrer Aufzählung um Hessen einen weiten Bogen gemacht.
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Ich glaube, dass im Bereich Breitbandausbau dort noch einiges im Argen liegt.
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Sie haben in Ihrem Papier – das will ich Ihnen zugutehalten – natürlich auch einige gute Ansätze; aber aus der bloßen Nennung einzelner Punkte entsteht noch nichts Konkretes und erst recht nichts Kohärentes. Aber ich bin gerne bereit, mit Ihnen im Ausschuss daran zu arbeiten, dass wir das hinbekommen.
Herzlichen Dank.
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Zu seiner ersten Rede rufe ich nun den Kollegen Uwe Kamann von der AfD-Fraktion auf.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Grünen waren schon immer der Liebling der Medien. Kein Wunder also, dass nach der Wahl des neuen Führungsduos von Aufbruch und Innovation die Rede war.
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In dem vorliegenden Antrag der Grünen könnte man, oberflächlich betrachtet, in der Tat frisches Denken schimmern sehen.
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Leider ist Ihr Antrag in der Detailanalyse aber von den ewig währenden Bevormundungen und oftmals falschen Schlussfolgerungen grüner Moralisierungsideologie geprägt.
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Die Digitalisierung ist ein zentrales Zukunftsthema für unser Land, das die Regierung nachweislich sträflich vernachlässigt hat.
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Der digitale Wandel ist der nächste elementare Paradigmenwechsel, er wird unser gesellschaftliches Leben und unsere Wirtschaft nachhaltig stark verändern.
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Digitalisierung bedeutet radikales Umdenken und Umsteuern: Wir sollten alle schleunigst lernen, auch digital zu denken. Wir müssen hin zu einer digitalen Gesellschaftsstruktur: Statt Herrschaftswissen und Silodenken sind Transparenz, Teamwork und Vernetzung gefragt.
Nehmen wir das Thema „Digitalisierung in der Bildung“. Da reicht es eben nicht, jede Klasse mit PCs auszustatten.
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Vielmehr müssen Lehren und Lernen komplett neu gedacht werden. Wir müssen das gesamte Schulsystem und die duale Berufsausbildung unter dem Aspekt des digitalen Wandels neu ausrichten.
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– Hören Sie gut zu; dann lernen Sie etwas aus der Realität.
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Besonders in deutschen Schlüsselbranchen, zum Beispiel im Maschinenbau oder in der Automobilindustrie, wird die Digitalisierung nachhaltigen Einfluss auf zukünftige Geschäftsmodelle haben.
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Die digitale Welt wird zu Fabriken führen, die wie von Geisterhand gesteuert und fast ohne begleitendes menschliches Zutun funktionieren.
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Die Standortauswahl wird beliebig werden, und der Bedarf an lokalen, gut ausgebildeten Mitarbeitern wird keine Entscheidungskomponente mehr sein.
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Wir werden durch die digitale Transformation auch neue Führungssysteme und Beschäftigungsmodelle bekommen. Das Festhalten an bestehenden Regelungen, wie in dem Antrag der Grünen aufgeführt, wird sich leider nicht realisieren lassen.
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Intelligente Arbeitsplatz- und Arbeitszeitmodelle sind hier gefragt, allerdings ohne auf unsere sozialen Errungenschaften des gesellschaftlichen Miteinanders zu verzichten.
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Die Digitalisierung stellt uns leider auch vor soziale Probleme. Durch den digitalen Wandel werden voraussichtlich Hunderttausende Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren. Eine Volkswirtschaft, die es nicht schafft, rechtzeitig die notwendigen Weichen zu stellen, nimmt leichtfertig in Kauf, dass der Kampf um die verbleibenden Arbeitsplätze, besonders im Niedriglohnsektor, die Gesellschaft spaltet.
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In diesen Volkswirtschaften wird Wachstum mit geringem Beschäftigungszuwachs die Norm werden.
Diesen Herausforderungen müssen wir uns gemeinsam stellen. Die Bundesregierung hat die Digitalisierung schlichtweg verpennt.
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Besonders die Versorgung mit einem schnellen Breitbandnetz wurde dilettantisch angegangen.
Der aktuelle Bericht des Bundesrechnungshofs dokumentiert das katastrophale Versagen des geschäftsführenden Ministers für Verkehr und digitale Infrastruktur, Alexander Dobrindt, beim Ausbau der digitalen Weitverkehrsnetze. Anscheinend hat er hier genauso wenig Sorgfalt walten lassen wie beim Thema Maut. Eine beschämende Bilanz, Herr Dobrindt; leider ist er nicht anwesend. Bei diesem Zeugnis würde ich mir überlegen, überhaupt wieder zurückzukommen.
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– „Geschäftsführenden“, habe ich gesagt.
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– Ist er auch nicht mehr?
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– Gott sei Dank, dann braucht er auch nicht zurückzukommen.
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– Dann habt ihr ihn rechtzeitig entsorgt.
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Nur wenn wir die Rahmenbedingungen schaffen, dass innovative Unternehmenskultur und zeitgemäße Hightechstrategien gebündelt werden können, schaffen wir wirkungsvolle Wachstumsimpulse. Wir haben große Chancen durch die Digitalisierung, und diese müssen wir nutzen, meine Damen und Herren. Hier wird Innovation zur Sozialpolitik.
Dies im Blick habend, müssen wir auch moderne neue Finanzierungsformen für Start-ups entwickeln, die privates Wagniskapital gezielt fördern. Es ist notwendig, Steuermodelle zu schaffen, die Neugründer nicht schon nach zwei, drei Jahren in die Insolvenz treiben. Besonders wichtig ist es, die überbordende Bürokratie auf das absolute Mindestmaß zu reduzieren.
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Nur so können wir dem Arbeitsplatzabbau durch den digitalen Wandel entgegentreten – mit der Neuschaffung von vielen qualifizierten Arbeitsplätzen.
Darum meine Bitte an Sie alle: Lassen Sie uns das Thema ernst nehmen. Es ist eine nationale Aufgabe und eine überparteiliche Herausforderung, welche wir gemeinsam schultern sollten. Wir reichen Ihnen bei dem Thema Digitalisierung die Hand zur Zusammenarbeit.
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Wir fordern die Schaffung eines eigenständigen Digitalministeriums, in dem all diese Maßnahmen gebündelt werden. Ein solches Ministerium wäre ein erster, wichtiger und notwendiger Schritt, der die Bedeutung reflektiert. Von daher ein klares Nein zu einem Digitalisierungsrat, den der Antrag der Grünen vorsieht.
Bei allem Verständnis für die geforderte Bürgerdiskussion: Zeitraubende Erörterungen können wir uns nicht erlauben,
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nur pragmatisches Handeln, nach den Gesetzen des Marktes und den Regeln des Rechts und der Selbstbestimmung. Wir schlagen die Überweisung in den Ausschuss Digitale Agenda vor, um zukünftig keinen Flickenteppich zu erhalten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat nun für die FDP-Fraktion der Kollege Manuel Höferlin.
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Herr Präsident! Liebe Kollegen!
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Es ist lange her, dass in diesem Haus intensiv über die Digitalisierung und die Zukunft der Digitalisierung diskutiert wurde. Ich weiß das; denn ich war 2013 dabei. Herr Knoerig, wenn ich höre, was wir Ihrer Meinung nach alles endlich brauchen, dann muss ich sagen: Ihre Rede war eigentlich eine klassische Oppositionsrede.
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Das zeigt, dass Sie in den letzten vier Jahren deutlich zu wenig gemacht haben.
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Der Antrag freut mich; denn es ist ein Antrag, der das Thema nach vorne bringen soll. Das hat hier im Haus noch nicht überall gegriffen. Wir haben heute Mittag wieder Anträge nicht zur Federführung in den Ausschuss Digitale Agenda überwiesen. Eine solche Überweisung werden wir auch für den vorliegenden Antrag beantragen. Wir haben in den letzten vier Jahren viel Zeit verloren, weil sich Dinge nicht aufhalten lassen und an uns vorbeiziehen. Die Grundlage vieler Dinge, wie zum Beispiel der Transformation in den Bereichen Gesellschaft, Wirtschaft und Politik, ist die Breitbandanbindung. Ich kann es, wie auch viele Menschen außerhalb dieses Hauses, manchmal nicht mehr hören. Wir reden seit Jahren und Jahren über Breitband.
Jetzt sind wir uns endlich und dankenswerterweise darüber einig, dass wir gigabitfähige Netze brauchen. Das sagen alle. Wenn ich lese, wie das Thema gigabitfähige Netze in den jetzigen Koalitionsverhandlungen – Sie haben freundlicherweise darauf hingewiesen – behandelt wird, dann stelle ich fest, dass eine grundlegende Finanzierung fehlt. Das war und ist noch immer das Problem. Sie schreiben, dass Sie das mit Erlösen aus Frequenzversteigerungen finanzieren wollen, und sagen selbst, dass das viel Geld kostet; die Rede ist von 10 bis 12 Milliarden Euro in den nächsten vier Jahren. Das wird nicht reichen. Wenn Sie diesem wichtigen Thema keine finanzielle Grundlage geben, dann wird sich in diesem Bereich auch in den nächsten vier Jahren nichts ändern. Deswegen muss für eine ausreichende Finanzierung gesorgt werden.
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Mit Blick auf die Transformation ist ein ganz wichtiger Punkt, dass sich auch in der Politik viel verändert. Wir haben dazu einen Vorschlag gemacht. Wir wollten nicht das Chaos, das durch Abstimmungsprobleme zwischen einzelnen Häusern immer wieder auftritt.
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Die Ministerien streiten sich nämlich untereinander; das konnten wir in den letzten vier Jahren immer wieder feststellen. Deswegen haben wir den Vorschlag gemacht, ein Digitalisierungsministerium zu etablieren. Wir haben auch konkrete Pläne vorgelegt.
Ein Ministerium für Digitalisierung und Innovation würde die Federführung übernehmen, würde aber auch gemeinsam mit anderen Häusern Projekte angehen. Dies sollte auch hier im Haus abgebildet werden. Deswegen haben wir den konkreten Vorschlag gemacht, dass der Ausschuss Digitale Agenda zusammen mit anderen Ausschüssen an den Themen arbeitet. Das werden wir weiterverfolgen.
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Liebe Grüne, ein Digitalisierungsrat reicht da nicht. Es reicht auch nicht, da irgendjemanden hinzusetzen, um noch eine weitere Stimme und eine weitere Meinung zum Thema Digitalisierung zu haben.
Die Digitalisierung der Verwaltung ist ein Thema, über das ich ebenfalls immer wieder lese. Mit diesem Thema habe ich mich hier bereits in der 17. Wahlperiode intensiv auseinandergesetzt. Es ist ein Problem – Sie haben es zu Recht gesagt –, das auch die Länder und Kommunen betrifft. Diese Probleme muss man angehen und lösen. Ein Portalverbund, so wie Sie es in den letzten vier Jahren vorgeschlagen haben, ist ein guter Ansatz. Er löst aber die Probleme nicht; da ist zu wenig Dampf drauf.
Die Menschen draußen interessiert es überhaupt nicht, wie es hinter der Wand gelöst wird, in der IT und in der Zusammenarbeit; sie wollen, genauso wie Sie, irgendwo ein Buch oder ein Auto bestellen – für die Grünen, weil es heute Ihr Antrag ist: ein Elektroauto –, dann wollen sie das Auto auch anmelden können, und sie wollen nicht nur den Parkschein, sondern auch den Anwohnerparkausweis kaufen können. Das muss digital gehen, und es soll einfach funktionieren. Es hat die Bürger nicht zu interessieren, wie das geht, sie wollen es auch nicht wissen – sie wollen es einfach haben.
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Es gibt so viele zentrale Punkte, die hier nur angeschnitten sind. Ich finde es gut, dass sie genannt sind; aber die Lösungen dazu fehlen noch. Wir stehen zum Beispiel beim Datenrecht vor wesentlichen Herausforderungen. Wie werden wir in Zukunft mit Daten von Maschinen umgehen? Das müssen wir lösen. Das ist eine Herausforderung jenseits dessen, was im Moment auf der europäischen Ebene besprochen wird.
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Die digitale Transformation der Wirtschaft ist wichtig. Es geht um Geschäftsmodelle, die transformiert werden müssen. Das ist ein Thema, das behandelt werden muss.
Auch die IT-Sicherheit ist natürlich ein bedeutendes Thema. Gerade heute ist ein wichtiger Tag; Sie alle haben hoffentlich ein sicheres Passwort.
Meine Damen und Herren, wir schlagen vor, diesen Antrag zur Federführung an den Ausschuss Digitale Agenda zu überweisen.
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Wir glauben, dass er dort an der richtigen Stelle ist. Viele andere Ausschüsse können bei diesem wichtigen digitalen Thema mitberaten. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit Ihnen bei diesem Thema.
Herzlichen Dank.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Anke Domscheit-Berg für die Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrter Vizepräsident! Meine Damen und Herren! Nach 20 Jahren in der IT-Branche und als Netzaktivistin beschäftige ich mich schon ein bisschen länger mit der Zukunft; aber die Zukunft steht nicht fest. Ob sie ein Gruselfilm wird oder nicht, hängt davon ab, wie wir heute politische Entscheidungen treffen. Da bin ich ganz beim Antrag der Grünen; denn viel zu lange hat die Bundesregierung offensichtlich planlos die Gestaltung der digitalen Gesellschaft verpennt. Es braucht endlich eine ganzheitliche, positive Vision der digitalen Gesellschaft von morgen und eine Digitalisierungsstrategie im Sinne des Gemeinwohls.
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Sieben Schwerpunkte – aus meiner Sicht – für diese Digitalisierungsstrategie möchte ich kurz vorstellen:
Erstens. Der schnelle Internetzugang muss Grundrecht werden und Teil der Daseinsvorsorge – über Glasfasernetze bis ins letzte brandenburgische Dorf.
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Zweitens. Privatsphäre braucht Zukunft. Deshalb muss der Staat Verschlüsselungen fördern und darf nicht selbst zum Hacker werden, der Sicherheitslücken ausnutzt, statt sie zu schließen.
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Drittens. Staatliche Förderungen darf es nur noch für enkeltaugliche, gemeinwohlorientierte Zukunftstechnologien geben, aber nicht für die Verlängerung veralteter Geschäftsmodelle. „Zukunft statt Dinosaurier“ heißt das Motto, und in der Praxis heißt das: Ladeinfrastrukturen für E-Autos statt Diesel, Speichertechnologien für erneuerbare Energien statt Braunkohle, Glasfaser statt Kupfer.
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Viertens brauchen wir ein Bildungssystem, das lebenslangen Zugang zu Bildung ermöglicht. Junge wie ältere Menschen müssen wir so ausbilden, dass sie die Zukunft mitgestalten können und sich in einer digitalisierten Welt zurechtfinden, unabhängig von ihrem Geldbeutel.
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Fünftens müssen wir die digitale Revolution auch für eine demokratische Revolution nutzen: Transparenz und Partizipation müssen endlich Grundprinzipien staatlichen Handelns werden.
Sechstens brauchen wir einen Ethik- und Wertekonsens. Wo ziehen wir rote Linien, und wie setzen wir sie um: bei autonomen Waffensystemen, Sexrobotern in Kinderform, diskriminierenden Systemen künstlicher Intelligenz oder bei Designerbabys, die mit genverändernden Technologien entstehen könnten?
Siebtens. Vor allem aber muss die digitale Revolution mit einer sozialen Revolution verknüpft werden. Nicht nur prekär Beschäftigte in der Digitalwirtschaft gilt es abzusichern, auch die 800 000 Berufskraftfahrer in Deutschland, die durch autonome Autos ersetzt werden – in 10, vielleicht auch erst in 20 Jahren, aber wir werden es noch erleben.
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In China gibt es schon dunkle Fabriken, in denen der letzte das Licht ausgeknipst hat, weil dort nur noch Roboter arbeiten, die kein Licht mehr brauchen. Adidas plant übrigens eine solche Fabrik in Deutschland. Vollbeschäftigung als langfristiges Ziel ist Selbstbetrug; denn Millionen Arbeitsplätze werden verschwinden. Stellen wir aber die politischen Weichen klug, heißt das: endlich kürzere Wochenarbeitszeiten bis hin zur Befreiung vom Zwang, die eigene Arbeitskraft zu verkaufen, also mehr Freiheit und mehr Freizeit für uns alle.
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Weil aber Freizeit ohne Geld auch nicht glücklich macht, müssen wir staatliche Einnahmen und Ausgaben anders verteilen. Roboter erhalten schließlich weder Lohn, noch zahlen sie Steuern oder Sozialbeiträge. Die gute Nachricht ist aber, dass die Wertschöpfung weiter steigt. Wir brauchen also nur neue Formen der Umverteilung, damit alle etwas davon haben,
({7})
zum Beispiel Wertschöpfungsabgaben und Vermögensteuer auf der Einnahmenseite und neue Konzepte wie das bedingungslose Grundeinkommen auf der Ausgabenseite,
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dessen Tauglichkeit wir in einer Enquete-Kommission ernsthaft untersuchen sollten.
({9})
Wenn wir den Menschen die Angst vor der Zukunft nehmen wollen, brauchen wir ein soziales Sicherheitsnetz, das vor allem eins ist: sicher.
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Alles das und noch viel mehr gehört in eine nationale Digitalisierungsstrategie, wenn wir eine positive, sozial gerechte und enkeltaugliche Zukunft anstreben, vor der niemand Angst haben muss. Bei der Entwicklung dieser Strategie müssen wir aber junge Generationen einbeziehen; denn sie werden am längsten mit den Folgen leben müssen und verdienen schon deshalb endlich mehr Mitsprache.
Im Übrigen finde ich, dass Schwangerschaftsabbrüche nicht ins Strafgesetzbuch gehören.
Vielen Dank.
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Der Kollege Maik Beermann spricht nun für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich darf zunächst dem Kollegen Thomas Jarzombek, der eigentlich an dieser Stelle stehen sollte, die besten Genesungsgrüße ausrichten.
Ich freue mich, dass wir den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, über den wir heute debattieren, ein Stück weit beraten können. Der Antrag passt wunderbar zu den Koalitionsgesprächen, die im Bereich Digitalpolitik in den letzten Nächten geführt wurden. Das verschafft der gestrigen Konstituierung des Ausschusses Digitale Agenda mehr Aufmerksamkeit.
An dieser Stelle möchte ich mich beim bisherigen Ausschussvorsitzenden Jens Koeppen für die Arbeit der vergangenen Jahre bedanken. Ich freue mich nun als Mitglied des Ausschusses Digitale Agenda auf die Zusammenarbeit mit seinem Nachfolger Jimmy Schulz von der FDP.
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Vorerst soll der Ausschuss ausdrücklich mitberatend sein. Ich freue mich, dass der neue Vorsitzende bereits klargestellt hat, dass er auch Federführung anstrebt, beispielsweise geteilte Federführung, oder gemeinsame Ausschusssitzungen. Damit kämen wir auf jeden Fall ein Stück weit voran.
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Die letzte und noch geschäftsführende Bundesregierung hat mit der Digitalen Agenda 2014 bis 2017 einen ersten großen Aufschlag gemacht. Sie hat ein Hausaufgabenheft, eine Art Maßnahmenkatalog erstellt, und der Katalog wurde auch tatsächlich mit Leben gefüllt. Das passierte hier im Deutschen Bundestag und auch im Ausschuss Digitale Agenda. Wir sollten uns nicht kleiner machen, als wir sind.
Ich will einige Beispiele nennen, die mir persönlich besonders am Herzen liegen. Erstmals überhaupt gab und gibt es ein öffentliches Programm zum Breitbandausbau, für das knapp 4,4 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt werden.
Das sogenannte DigiNetz-Gesetz, das Gesetz zur Erleichterung des Ausbaus digitaler Hochgeschwindigkeitsnetze, hat der Bundestag im Jahr 2016 verabschiedet. Damit werden neue Wohngebiete zukünftig verpflichtend – verpflichtend! – mit Glasfaser angeschlossen, und es wird erlaubt, Ampeln und Laternen als Glasfaserträger und Senderstandorte zu nutzen.
Wir haben ein IT-Sicherheitsgesetz geschaffen. Kritische Infrastrukturen wurden definiert. Sie müssen jetzt Mindeststandards der IT-Sicherheit einhalten, und IT-Angriffe müssen gemeldet werden.
Ein Meilenstein für Gründerinnen und Gründer war das Wagniskapitalgesetz. Verlustvorträge aus Unternehmen sollen jetzt nicht mehr verlorengehen, wenn Anteile veräußert werden. Diese Regelung ist ein wichtiges Signal für den Gründungs- und Digitalisierungsstandort Deutschland.
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Die KfW ist als Ankerinvestor mit einem Budget von 400 Millionen Euro für Fonds auf den Markt zurückgekehrt. So hebelt die KfW ein Fondsvolumen von rund 2 Milliarden Euro für den Venture-Capital-Markt und leistet dadurch einen wichtigen Impuls zur Gewinnung weiterer Investoren.
Mit einem Volumen von 500 Millionen Euro ist im Frühjahr 2016 die ERP/EIF-Wachstumsfazilität an den Markt gegangen.
Durch den von der KfW initiierten eigenständigen Co-Investmentfonds Coparion stehen Start-ups weitere 225 Millionen Euro zur Verfügung. Das ist richtig viel Geld für die Start-up- und Gründerfinanzierung. Dafür gab es ausdrücklich Lob von den Start-up-Unternehmen und besonders vom Start-up-Verband. Darauf darf man doch stolz sein.
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Wir haben das deutsche Recht an die Datenschutz-Grundverordnung angepasst. Österreich und Deutschland sind heute, weniger als vier Monate vor Inkrafttreten der EU-Datenschutz-Grundverordnung am 25. Mai 2018, die beiden einzigen Mitgliedstaaten in der Europäischen Union, die ihr nationales Recht schon angepasst haben.
Außerdem haben wir eine rechtliche Grundlage für das teilautomatisierte Fahren in Deutschland geschaffen. Damit sind wir international Vorreiter. Das hat sonst niemand. Auch darauf darf man doch einfach einmal stolz sein. Man sollte nicht so tun, als wäre in den letzten vier Jahren nichts umgesetzt worden.
Mit dem Ausschuss Digitale Agenda haben wir lange für die Abschaffung der WLAN-Störerhaftung gekämpft. Ich bin wirklich froh, dass das am Ende der letzten Legislaturperiode gelungen ist.
Sie schreiben in Ihrem Antrag, die Digitalisierung der Verwaltung sei „völlig verschlafen und dann viel zu zaghaft angegangen“ worden. Ich halte Ihnen eine Grundgesetzänderung entgegen und das Mammutprojekt eines Onlinezugangsgesetzes. Wir wollen ein Bürgerportal schaffen, in dem alle elektronischen Angebote aller staatlichen Ebenen abgerufen werden können. Hierfür brauchen wir die Länder und Kommunen. Ich würde mich freuen, wenn Sie uns dabei unterstützten.
Ich halte Ihnen entgegen, dass wir in insgesamt 68 Gesetzen und 114 Rechtsverordnungen des Bundes verzichtbare Schriftformerfordernisse abgeschafft haben. Das ist doch schon mal was. Das darf man doch nicht kleinreden.
Sie schreiben in Ihrem Antrag:
Zusätzlich sind konsequente Open-Data-Regeln nötig ...
Ich halte Ihnen entgegen: Wir haben ein Open-Data-Gesetz verabschiedet. Es leitet einen Kulturwandel in den Verwaltungen ein und verpflichtet die unmittelbare Bundesverwaltung, künftig unbearbeitete Daten leicht auffindbar und maschinenlesbar zu veröffentlichen. Die Daten des Staates sind eben auch ein kostbarer Schatz. Sie sind ein Schatz für Innovationen und natürlich auch interessant für die Wirtschaft. Der Großteil der interessanten Daten liegt aber eben bei den Ländern und bei den Kommunen. Diese wollen wir ermuntern, dem Beispiel des Bundes zu folgen.
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Wenn Sie mir jetzt ein bisschen zugehört haben, dann haben Sie vielleicht festgestellt, dass Sie selbst einiges verschlafen haben. In Ihrem Antrag sagen Sie, dass Digitalpolitik zu einem Nebenthema verkommen sei. Eine Arbeitsgruppe im Rahmen der Koalitionsgespräche hat sich ausschließlich diesem Thema gewidmet. Lassen Sie mich klarstellen: Ja, auch ich möchte eine Bundesregierung, die für eine noch bessere Koordination der digitalpolitischen Arbeit der Ministerien sorgt. Deshalb werben wir als Union ja auch für einen Staatsminister im Kanzleramt, der in der Digitalpolitik die Fäden zusammenhält.
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Wir wollen ein flächendeckendes Gigabit-Internet und Funklöcher schließen. Wir wollen sichere digitale Infrastrukturen. Wir wollen die Chancen der Digitalisierung auch mit Blick auf die künstliche Intelligenz nutzen.
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Zusammen mit unseren französischen Partnern wollen wir ein gemeinsames Forschungszentrum installieren und weiterentwickeln und viele andere Dinge mehr. Das ist die Zukunft.
Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, das klingt für mich nicht nach einem Nebenthema. Lassen Sie uns in den nächsten Jahren gemeinsam für eine starke Verankerung der Digitalpolitik im Bundestag kämpfen.
Ich jedenfalls freue mich darauf und bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
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Ich rufe zu ihrer ersten Rede die Kollegin Elvan Korkmaz auf. – Bitte schön.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Digitalisierung darf in Deutschland und auch im Deutschen Bundestag nicht stiefmütterlich behandelt werden. Digitalisierung ist tägliche Realität. Digitalisierung bestimmt unser Leben in allen Bereichen. Digitalisierung hat auch hierzulande viele Industrien umgekrempelt, in Teilen zerstört. Denken wir nur an Kodak oder an die leerstehenden Buchläden, Reisebüros und Videotheken in unseren Innenstädten. Digitalisierung ist aber nicht WLAN in Bussen bis 2050, Kolleginnen und Kollegen von der CSU, und Herr Dobrindt ist nicht der geeignete Berater.
({0})
Digitalisierung ist das Thema, das bestimmt, ob Deutschland auch künftig auf der Höhe der Zeit sein wird. Genau deshalb – in diesem Punkt haben Sie recht, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen – gehört Digitalisierung ganz oben auf die Agenda. Falsch ist jedoch, die Verantwortung in einen Bundesdigitalrat oder sonst ein Gremium auszulagern. Wenn Digitalisierung so wichtig ist, wie wir das hier vertreten, dann gehört es auch genau hierhin, in den Deutschen Bundestag.
({1})
Wenn ich Ihren Antrag lese, gewinne ich den Eindruck, Digitalisierung sei ein zahnloser Papiertiger oder ein schön verzierter Wunschzettel. Die Formulierungen in Ihrem Antrag klingen wirklich toll, ohne Frage: „aktive politische Gestaltung mit einer kohärenten Digitalisierungsstrategie“,
({2})
„Multi-Stakeholder-Ansätze“,
({3})
„Open Data, Open Source“,
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„Blockchain“, bis hin zur „sozial-ökologischen Modernisierung“ der Gesellschaft.
({5})
Wenn wir jetzt noch „Weltfrieden“ und „Freiheit für alle“ ergänzen, dann, muss ich sagen, können fast alle in diesem Raum das mit unterschreiben.
({6})
Aber genau das, was Sie hier tun, ist das Problem der Digitalisierung in unserem Lande: Schaumschlägerbegriffe, Neudeutsch „Buzzwords“ oder auch „Bullshit-Bingo“ genannt, helfen niemandem.
({7})
Wir brauchen keine Beiräte und Kalendersprüche, sondern ganz konkrete Maßnahmen für die digitale Revolution, in der wir schon mittendrin sind.
({8})
Genau so behandeln wir als SPD dieses Thema auch in den Koalitionsverhandlungen – im Gegensatz zu Ihnen, Frau Dr. Christmann –: ganz konkret und wirksam.
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Sie fordern zu Recht, dass wir kleine und mittlere Unternehmen stärken, auch junge Talente, die mit großem Risiko und ohne großen Lohn versuchen, ihre digitale Geschäftsidee mutig in der Selbstständigkeit umzusetzen. Aber was präsentieren wir ihnen? Einen Digitalbeirat oder einen Beschluss, dass wir ihre Zukunftsfähigkeit auf dem Papier gestalten wollen? Diesen Jungunternehmern müssen wir die Fokussierung auf ihr Geschäft leichter machen. Unsere Gesellschaft braucht klare Regeln, aber keine unnötige Bürokratie.
Dann reden wir noch über Entrepreneurship. Und was tun wir? Wird jemand nicht zum Millionär und muss aufgeben, sprechen wir von Scheitern, geben ihm einen Schufa-Eintrag, erschweren ihm einen Neuanfang und stempeln ihn als Loser ab. Wir brauchen eine Kultur der zweiten Chance. Alles andere verhindert die Digitalisierung in unserem Land.
({10})
Wir müssen verstehen, dass Digitalisierung gelernte Modelle zerlegt und neu zusammenlegt. Das Unternehmen Miele aus meiner Heimatstadt Gütersloh vertreibt die neueste Generation von Waschmaschinen, die dem Kunden passend Waschmittel zusenden. Was heißt das nun für Persil oder für die Drogerie um die Ecke? Was bedeutet es, wenn uns unser Fernseher anbietet, Fotoabzüge zu bestellen? Wir müssen die neuen Geschäftsmodelle begreifen und weiterentwickeln, statt Altes zwanghaft zu protektieren.
({11})
Und: Wir dürfen nicht mit Schlagworten wie „autonomem Fahren“ oder „E-Mobility“ um uns werfen und denken, dass wir dann Digitalpolitik machen. Wir müssen die konkreten Fragen, die sich heute stellen, beantworten. Das betrifft die rechtliche Gestaltung, aber auch ethische Fragen: Wohin steuert das selbstfahrende Auto, das ausweichen muss, wenn rechts ein Kindergarten und links ein Altenheim steht? Das sind ohne Zweifel schwierige Fragen. Aber wir müssen sie beantworten. Denn wenn wir es nicht tun, werden sie woanders beantwortet, und dann kommen wir da nicht mehr hinterher.
({12})
Aber wir müssen natürlich auch auf dem Teppich bleiben. Zu glauben, Facebook in die Knie zwingen zu können, ist genauso unrealistisch wie zu meinen, dass die GEMA Youtube aufhält oder die deutsche Knappschaft Minijobs bei weltweiten Crowdworking-Projekten gestalten kann.
({13})
Wir müssen vielmehr dort anpacken, wo es notwendig und möglich ist. Faire und soziale Arbeitsbedingungen in der digitalisierten Arbeitswelt sicherzustellen, muss hier unsere Aufgabe sein.
({14})
Von daher, liebe grüne Kolleginnen und Kollegen, überweisen wir Ihren Phrasenwunschzettel heute gerne an den Ausschuss.
({15})
Ich bin auf die vertiefte Debatte sehr gespannt und freue mich darauf.
({16})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/588 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Allerdings ist die Federführung strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen eine Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie.
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Alle anderen Fraktionen – AfD, FDP, Linke und Bündnis 90/Die Grünen – wünschen eine Federführung beim Ausschuss Digitale Agenda.
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Ich lasse jetzt abstimmen, und zwar zunächst über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen AfD, FDP, Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Wer also für die Federführung beim Ausschuss Digitale Agenda ist, den bitte ich um das Handzeichen.
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Wer ist dagegen? – Das ist die Mehrheit.
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– Wir sind uns einig, dass das die Mehrheit ist. Damit ist der Antrag federführend an den Ausschuss für Wirtschaft und Energie überwiesen.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit der Jahrtausendwende haben Union, SPD, FDP und Grüne das Rentenniveau drastisch abgesenkt, und Sie alle haben die Menschen dazu aufgefordert, ihre dadurch entstehenden Rentenlücken mit privater und betrieblicher Altersvorsorge auszugleichen. Heute haben 57 Prozent der Beschäftigten einen Anspruch auf eine Betriebsrente, wenn sie in Rente gehen. Für viele von ihnen gibt es dann ein böses Erwachen.
Einer von ihnen ist Franz Häntze, den ich mit drei Mitstreitern und einer Mitstreiterin des Vereins der Direktversicherungsgeschädigten e. V. auf der Besuchertribüne herzlich begrüße.
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Herr Häntze hat innerhalb von zwölf Jahren 26 000 Euro in eine Direktversicherung eingezahlt. Sein Arbeitgeber hat ihm noch 4 000 Euro dazugegeben. Das macht zusammen 30 000 Euro. Brutto wurden ihm 31 500 Euro ausgezahlt – die Minizinsen und die Inflation lassen wir einmal beiseite –; darauf musste er dann 6 600 Euro Steuern zahlen. Damit nicht genug: Knapp 6 000 Euro Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge wurden ihm abgezogen.
Von seinen eingezahlten Beiträgen in Höhe von 26 000 Euro hat Herr Häntze netto, nach allen Abzügen, nur 18 900 Euro ausgezahlt bekommen. Meine Damen und Herren, das ist ein beispielloses Ausplünderungskonstrukt und eine völlig inakzeptable kalte Enteignung.
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Wir Linken hatten es im Wahlprogramm gefordert, und ich fordere es jetzt: Die 2004 von Horst Seehofer, Olaf Scholz und Ulla Schmidt eingeführte doppelte Belastung von Betriebsrenten mit völlig überzogenen Krankenkassenbeiträgen muss ohne Ausnahme abgeschafft werden – auch für Altverträge.
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Das wäre einfach, wirkungsvoll und vor allem: Es wäre gerecht. Ich fordere die Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD heute dazu auf, dies in ihrem Koalitionsvertrag zu verankern – am besten auf Seite 1.
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Mit Ihrem sogenannten Betriebsrentenstärkungsgesetz aus dem vergangenen Jahr haben Sie wenigstens die Doppelverbeitragung mit Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen bei den betrieblichen Riester-Renten abgeschafft. Das ist okay. Aber damit erreichen Sie gerade einmal 0,1 Prozent der Betroffenen. Alle anderen lassen Sie bis heute im Regen stehen. Ich fordere Sie deshalb auf: Stehen Sie zu dem, was Sie im Wahlkampf versprochen haben.
Erinnern Sie sich: Im Juni 2017 hatten das SPD-Präsidium und der SPD-Parteivorstand einstimmig beschlossen, dass bei Betriebsrenten künftig nur noch der Arbeitnehmerbeitrag fällig werden sollte, also nur noch 10 oder 11 statt mehr als 18 Prozent. Immerhin! Andrea Nahles sagte am 15. September 2017 in Düren – Zitat –: So viel Ärger, wie wir mit dem Scheiß haben! Den können wir uns echt sparen, wenn wir die 3 Milliarden investieren. – Zitat Ende. – Gut gebrüllt, Löwin!
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Selbst bei den geplatzten Jamaika-Sondierungen kam das Thema zur Sprache. Wenn ich mir aber die 28 Seiten der Sondierungsergebnisse von Union und SPD und die heutigen Agenturmeldungen anschaue, dann muss ich leider feststellen: Das Wort „Betriebsrente“ kommt bei Ihnen nicht einmal vor. Dabei sagte der SPD-Kollege Lauterbach dem „Tagesspiegel“, er wolle da nachbessern. Ja, was ist denn nun? Wo denn? Wie denn?
Zur CDU/CSU: Sie, verehrte Kolleginnen Karliczek von der CDU und Zeulner von der CSU, kennen doch all diese Fälle. Sogar der Chef Ihrer Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung, der Kollege Dr. Carsten Linnemann, sagte am 4. November in der „Rheinischen Post“ – ich zitiere –:
Die doppelte Krankenkassen-Verbeitragung von Betriebsrenten ist für die Betroffenen ein großes Ärgernis und gehört abgeschafft. ... Wer privat vorsorgt, muss signifikant mehr haben als derjenige, der nicht vorsorgt.
Ich frage mich: Wer blockiert denn da noch? Jens Spahn, sind Sie es, wie es im „Stern“ zu lesen war? Ich hoffe, nicht.
Ich fordere Sie auf: Vereinbaren Sie in Ihrem Koalitionsvertrag, die doppelte Beitragszahlung auf Direktversicherungen und Betriebsrenten in der Anspar- und Auszahlungsphase zu beenden! Sorgen Sie dafür, dass Menschen, die in der Ansparphase bereits Sozialversicherungsbeiträge abgeführt haben, in der Auszahlungsphase keine mehr zahlen müssen!
Das wäre ein Schritt hin zu besseren Betriebsrenten und schüfe Vertrauen bei den Betroffenen. Die haben nämlich – oft aus ihrem verbeitragten Netto – 10, 20, 30 Jahre lang fürs Alter gespart, und nun werden ihnen mehr als 18 Prozent abgezogen. Zusätzlich werden ihre Betriebsrenten noch versteuert, und unter dem Strich ist das häufig ein Minusgeschäft.
Dann hätten sie ihr Geld besser unters Kopfkissen oder ins Schließfach gelegt. Das darf nicht so bleiben. Nehmen Sie endlich die Probleme der Menschen ernst. Reden Sie nicht nur, handeln Sie!
Herzlichen Dank.
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Der Kollege Rudolf Henke spricht für die CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Beiträge nach Leistungsfähigkeit, Leistungen nach Bedarf: Das ist der Grundsatz der Finanzarchitektur in der gesetzlichen Krankenkasse. Anders als in der Rentenkasse richtet sich die Leistung der gesetzlichen Krankenkasse nicht nach der Höhe der eingezahlten Beiträge, sondern prinzipiell nach den Maßstäben des Sozialgesetzbuches: notwendig, zweckmäßig, ausreichend, wirtschaftlich. Darauf hat der Versicherte ein einklagbares Recht, und die Höhe der Beiträge folgt der Leistungskraft der Versicherten.
Das unterscheidet die gesetzliche Krankenkasse prinzipiell von der privaten Krankenversicherung, die ihre Prämien versicherungsmathematisch kalkulieren muss. Damit es in der gesetzlichen Krankenkasse dennoch in einem gewissen Rahmen beim Äquivalenzprinzip der Versicherung bleibt, gibt es eine Beitragsbemessungsgrenze; denn wenn Steuern in die gesetzliche Krankenkasse fließen, dann explizit und offen aus Haushaltsmitteln und nicht als steuerähnliche Belastung, die man zu kaschierten Versicherungsbeiträgen umlackiert.
2015 haben wir von der Linken einen in der Semantik ähnlich lautenden Antrag vorgelegt bekommen,
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mit dem sich der Ausschuss für Gesundheit im Januar 2016 in einer öffentlichen Anhörung ausführlich befasst hat. Im damaligen Antrag wie im heutigen Antrag werben Sie dafür, alle Einkommensarten zur Finanzierung der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung heranzuziehen, die Beitragsbemessungsgrenze aufzuheben und eine, wie Sie es nennen, solidarische Gesundheitsversicherung einzuführen.
Können Sie uns bitte einmal erklären, warum Sie dann die Tatsache, dass gerade unterschiedliche Einkommensarten zur Finanzierung der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung herangezogen werden, mit dem polemischen Kampfbegriff „Doppelverbeitragung“ belegen? Hier widersprechen Sie sich doch selbst.
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– Ja, natürlich, Sie belegen alle Einkommensarten, aber diese Einkommensart nehmen Sie aus.
Ich erinnere an die vorhin erwähnte Anhörung und an das, was der Sachverständige Professor Dr. Klaus Jacobs vom Wissenschaftlichen Institut der AOK dort ausgeführt hat:
Zum Zeitpunkt der Verbeitragung ist die ökonomische Leistungsfähigkeit relevant. Es kommt nicht darauf an, woher die im Einzelfall kommt. ... deswegen kann ich den Begriff der Doppelverbeitragung nicht akzeptieren. Diese Figur passt nicht in das System der solidarischen Finanzierung. Sie kommt aus einem anderen Kontext. Würden wir sie in die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung übernehmen, ... müssten wir den Großteil der gesetzlichen Renten beitragsfrei stellen. Das hätte eklatante Konsequenzen für die Finanzlage der gesetzlichen Krankenversicherung.
Auch die Dimension dieser Konsequenzen ist in der vergangenen Legislaturperiode deutlich geworden; denn der Sachverständige Dr. Reinhold Thiede von der Deutschen Rentenversicherung Bund hat sie uns vor Augen geführt.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte.
Vielen Dank, Herr Präsident, vielen Dank, Herr Kollege Henke. – Sie haben ja eben eine Frage gestellt. Ich will Ihnen darauf gerne antworten.
Es ist nicht so, dass heute alle Einkommen verbeitragt werden. Wer eine Versicherung für sich zu Hause privat abgeschlossen hat, beispielsweise einen privaten Riester-Vertrag, der zahlt für seine Altersvorsorge nichts. Wer ein Sparbuch, wer Wertpapiere, wer Aktien oder Fonds besitzt, zahlt dafür nichts in die Krankenversicherung.
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Wer in Immobilien investiert und Mieteinnahmen hat, zahlt dafür nichts in die Krankenversicherung. Wer privat krankenversichert ist – die größte Ungerechtigkeit –, der zahlt auch nichts für die Betriebsrente ein.
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Wer nicht vorgesorgt hat, zahlt auch nichts.
Also, ich muss feststellen: Gegenwärtig ist das, was Sie gesagt haben, komplett falsch. Wir sagen extra – das steht auch in unserem Antrag, Herr Kollege –: Wir wollen, dass Krankenversicherungsbeiträge gezahlt werden, aber bitte in der Ansparphase. Einmal ist genug. Sie können den Menschen nicht erklären, dass sie von ihrem eigenen Ersparten dann auch noch doppelt oder, wenn es aus Nettoeinkommen ist, sogar dreifach Krankenversicherungsbeiträge zahlen sollen. Dann ist nämlich der Gedanke der Vorsorge und der betrieblichen Altersvorsorge perdu.
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Da möchte ich gerne wissen, wie Sie das den Betroffenen oben auf der Besuchertribüne erklären.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank für Ihre Frage, lieber Herr Kollege. Ich beziehe mich einmal auf Ihren Antrag und zitiere daraus. Sie schreiben:
Die Doppelverbeitragung ist auch in finanzieller Hinsicht keineswegs alternativlos. Eventuelle Einnahmeverluste durch die Aufhebung des
– wie Sie es nennen –
ungerechten doppelten Beitrags für Bezieherinnen und Bezieher von Betriebsrenten wären leicht auszugleichen, wenn alle Einkommensarten zur Finanzierung der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung herangezogen würden, die Beitragsbemessungsgrenze aufgehoben und eine solidarische Gesundheitsversicherung eingeführt werden würde.
Aber wenn doch alle Einkommensarten zur Finanzierung der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung heranzuziehen sind: Woher kommt denn dann die Logik, ausgerechnet diese Einkommensart von der Verbeitragung auszunehmen? Da machen Sie einen populistischen Widerspruch, mit dem Sie nichts anderes erreichen wollen, als den Unmut der Betroffenen auf Ihre Mühlen zu lenken.
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Das ist der Zweck, weswegen Sie das so formulieren.
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Das ist konsequent inkonsequent und völlig widersprüchlich.
Wegen der Dimension, die das außerdem für die gesetzliche Rentenkasse hätte, will ich noch einmal daran erinnern: Wir hatten in 2014 – so Reinhold Thiede in der Anhörung vor dem Gesundheitsausschuss – für die Krankenversicherung der Rentner Ausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung in Höhe von etwa 16 Milliarden Euro. Das ist allerdings nur der Beitragsanteil der gesetzlichen Rentenversicherung. Den gleichen Anteil plus den Zusatzbeitrag tragen die Rentner. Es geht also insgesamt um eine Größenordnung von 30 bis 40 Milliarden Euro.
Es war das Rentenanpassungsgesetz aus dem Jahr 1982, durch das erstmals der Rente vergleichbare Einnahmen zur Beitragszahlung in der GKV herangezogen wurden. 2003 wurden die Beitragspflichten präzisiert und ausgeweitet. Seitdem gibt es darüber eine juristische Auseinandersetzung.
Allerdings muss man auch darauf hinweisen, dass das Bundesverfassungsgericht in dieser juristischen Auseinandersetzung klargestellt hat, dass der Gesetzgeber von Verfassungs wegen berechtigt ist, jüngere Krankenversicherte von der Finanzierung des höheren Aufwands für die Rentner zu entlasten und die Rentner entsprechend ihrem Einkommen verstärkt zur Finanzierung heranzuziehen.
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Das ist vom Bundesverfassungsgericht durchdekliniert.
Natürlich haben wir vieles unternommen. Wir haben die Attraktivität der Altersvorsorge gesteigert, indem wir das Recht auf Entgeltumwandlung bis zu 4 Prozent der Beitragsbemessungsgrenze der gesetzlichen Rentenversicherung zur Finanzierung einer Altersvorsorge beitragsfrei lassen.
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Wir haben durch das Betriebsrentenstärkungsgesetz diese Regelung ab 2019 für neue Verträge bzw. 2022 für bestehende Verträge noch einmal gestärkt, sodass Arbeitgeber die dadurch eingesparten Sozialversicherungsbeiträge in pauschalierter Form von 15 Prozent in die betriebliche Altersvorsorge zahlen müssen. Darüber hinaus haben wir – davon war schon die Rede – durch das Gesetz GKV-Beiträge auf betriebliche Riester-Renten in der Auszahlungsphase abgeschafft. Sie werden damit wie private Riester-Renten behandelt und von Beiträgen verschont.
Sicherlich kann man über weitere Reformen nachdenken. Dann muss man aber auch einen ehrlichen Blick auf die finanziellen Konsequenzen werfen. Je nach Umfang der Vorschläge, die realisiert werden sollen, handelt es sich dann um eine Minderung der Finanzkraft der gesetzlichen Krankenkassen zwischen 2,6 Milliarden Euro und über 5 Milliarden Euro.
Ohne Kompensation hieße das, dass es zu einer Erhöhung des Beitrags für die gesamte Solidargemeinschaft und damit auch zu einer Mehrbelastung von Geringverdienern kommt
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oder zu einer Einschränkung der Leistungen in der gesetzlichen Krankenkasse.
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Deswegen bitte ich Sie herzlich um Verständnis, dass wir auf der Grundlage Ihres widersprüchlichen, inkonsistenten und inkonsequenten Antrags, der rein populistisch motiviert ist, weder das eine noch das andere übers Knie brechen werden.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die Kollegin Sabine Dittmar.
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Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! In jedem Abgeordnetenbüro liegen zweifellos unzählige Zuschriften von Bürgerinnen und Bürgern, die, wenn die Auszahlungsphase ihrer Direktversicherung beginnt, mit Verwunderung ihren Bescheid in Händen halten und die Welt nicht mehr verstehen. Viele stellen erst dann fest, dass ihre Zusatzrente mit vollen Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen belastet wird.
Auch wenn es 2004 nachvollziehbare Gründe für die im GKV-Modernisierungsgesetz, GMG, getroffenen Regelungen gab – wie wir wissen, gab es dazu einen Verfassungsgerichtsbeschluss; die gängige Praxis ist auch vom Verfassungsgericht bestätigt worden –, so wird die Verbeitragung dennoch von vielen ganz verständlicherweise als sehr ungerecht empfunden.
Auch wir Sozialdemokraten schauen heute durchaus kritisch auf dieses Gesetz zurück, sowohl was die Transparenz damals anging als auch den Umgang mit den Altverträgen. Wir haben uns in der zurückliegenden Legislatur im Gesundheitsausschuss, aber auch im Petitionsausschuss intensiv damit beschäftigt.
Die Anhörung 2016 hat deutlich gezeigt, dass ein großer Teil der betrieblichen Altersvorsorge nicht von einer Doppelverbeitragung betroffen ist. Sie hat uns aber auch gezeigt, dass es nach wie vor Formen der betrieblichen Altersvorsorge gibt, die von einer Doppelverbeitragung betroffen sind. Hier sehen wir in der Tat Handlungsbedarf.
({0})
Mit dem Betriebsrentenstärkungsgesetz haben wir erste Maßnahmen ergriffen, um die Vorsorge zu verbessern – Sie haben es erwähnt –: Die über den Arbeitgeber organisierte Riester-Rente wird zukünftig genauso behandelt wie der private Riester-Vertrag, und beide bleiben beitragsfrei.
Außerdem – das haben Sie zu erwähnen vergessen – verpflichten wir den Arbeitgeber, zukünftig bei einer Entgeltumwandlung 15 Prozent an die Versorgungseinrichtung einzuzahlen. Damit wird ein Korrektiv zur vollen Beitragspflicht geschaffen. Aber ich gestehe zu, dass damit der Gordische Knoten noch nicht zerschlagen ist. Meine Partei bzw. Fraktion beschäftigt sich intensiv mit dieser Thematik. Sie haben es erwähnt. Wir haben dazu einen Parteitagsbeschluss. Wir wollen unter anderem die Doppelverbeitragung bei bestehenden Verträgen überprüfen, favorisieren aber auch zukünftig die hälftige Verbeitragung.
Aber, meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist eine schwierige Aufgabe, hier eine Lösung zu finden, die allen gerecht wird. Denn schließlich soll es ja auch zu keiner Mehrbelastung der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler kommen.
({1})
Auch das fordern Sie in Ihrem Antrag.
({2})
– Doch, doch. Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass das Ganze beitragsneutral ausgestaltet werden soll.
Wenn wir aber in der Auszahlungsphase Erwerbsarten von der Verbeitragung ausnehmen, dann muss uns auch bewusst sein, dass sich das auf die Einnahmesituation der GKV auswirkt. Im Ausschuss ist uns gesagt worden, dass es um 2,6 Milliarden Euro bei der hälftigen Verbeitragung geht.
({3})
– Damit belasten Sie mich jetzt, weil ich der Taschenrechnergeneration angehöre.
({4})
Wir rechnen es dann später am Tisch aus.
Aber es ist eine Belastung, die wir kompensieren müssen. Ich will damit eigentlich nur zeigen, dass es mit der Gerechtigkeit nicht ganz so einfach ist.
Herr Kollege Henke, Sie haben Professor Jacobs zitiert. Professor Jacobs hat aber in der Anhörung auch zu Recht darauf hingewiesen, dass das Prinzip der Beitragserhebung im Hinblick auf die aktuelle ökonomische Leistungsfähigkeit weit über den Aspekt der Alterssicherung hinausgeht. Erwerbskriterien bilden die ökonomische Leistungsfähigkeit der Menschen in immer geringerem Umfang ab, und zunehmend spielen auch andere Einkommensarten eine Rolle. Da würde uns eine solidarisch finanzierte Bürgerversicherung vieles erleichtern.
({5})
Aber ich weiß auch, dass es hierfür derzeit keine Mehrheiten in diesem Hause gibt. Wir werden mit Nachdruck an einer Lösung arbeiten, die zum einen für den Einzelnen nachvollziehbar und gerecht ist und zum anderen das GKV-System nicht gefährdet.
Herzlichen Dank.
({6})
Zu ihrer ersten Rede hat das Wort die Kollegin Ulrike Schielke-Ziesing von der AfD.
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Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! In jedem Abgeordnetenbüro liegen zweifellos unzählige Zuschriften von Bürgerinnen und Bürgern, die, wenn die Auszahlungsphase ihrer Direktversicherung beginnt, mit Verwunderung ihren Bescheid in Händen halten und die Welt nicht mehr verstehen. Viele stellen erst dann fest, dass ihre Zusatzrente mit vollen Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen belastet wird.
Auch wenn es 2004 nachvollziehbare Gründe für die im GKV-Modernisierungsgesetz, GMG, getroffenen Regelungen gab – wie wir wissen, gab es dazu einen Verfassungsgerichtsbeschluss; die gängige Praxis ist auch vom Verfassungsgericht bestätigt worden –, so wird die Verbeitragung dennoch von vielen ganz verständlicherweise als sehr ungerecht empfunden.
Auch wir Sozialdemokraten schauen heute durchaus kritisch auf dieses Gesetz zurück, sowohl was die Transparenz damals anging als auch den Umgang mit den Altverträgen. Wir haben uns in der zurückliegenden Legislatur im Gesundheitsausschuss, aber auch im Petitionsausschuss intensiv damit beschäftigt.
Die Anhörung 2016 hat deutlich gezeigt, dass ein großer Teil der betrieblichen Altersvorsorge nicht von einer Doppelverbeitragung betroffen ist. Sie hat uns aber auch gezeigt, dass es nach wie vor Formen der betrieblichen Altersvorsorge gibt, die von einer Doppelverbeitragung betroffen sind. Hier sehen wir in der Tat Handlungsbedarf.
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Mit dem Betriebsrentenstärkungsgesetz haben wir erste Maßnahmen ergriffen, um die Vorsorge zu verbessern – Sie haben es erwähnt –: Die über den Arbeitgeber organisierte Riester-Rente wird zukünftig genauso behandelt wie der private Riester-Vertrag, und beide bleiben beitragsfrei.
Außerdem – das haben Sie zu erwähnen vergessen – verpflichten wir den Arbeitgeber, zukünftig bei einer Entgeltumwandlung 15 Prozent an die Versorgungseinrichtung einzuzahlen. Damit wird ein Korrektiv zur vollen Beitragspflicht geschaffen. Aber ich gestehe zu, dass damit der Gordische Knoten noch nicht zerschlagen ist. Meine Partei bzw. Fraktion beschäftigt sich intensiv mit dieser Thematik. Sie haben es erwähnt. Wir haben dazu einen Parteitagsbeschluss. Wir wollen unter anderem die Doppelverbeitragung bei bestehenden Verträgen überprüfen, favorisieren aber auch zukünftig die hälftige Verbeitragung.
Aber, meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist eine schwierige Aufgabe, hier eine Lösung zu finden, die allen gerecht wird. Denn schließlich soll es ja auch zu keiner Mehrbelastung der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler kommen.
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Auch das fordern Sie in Ihrem Antrag.
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– Doch, doch. Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass das Ganze beitragsneutral ausgestaltet werden soll.
Wenn wir aber in der Auszahlungsphase Erwerbsarten von der Verbeitragung ausnehmen, dann muss uns auch bewusst sein, dass sich das auf die Einnahmesituation der GKV auswirkt. Im Ausschuss ist uns gesagt worden, dass es um 2,6 Milliarden Euro bei der hälftigen Verbeitragung geht.
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– Damit belasten Sie mich jetzt, weil ich der Taschenrechnergeneration angehöre.
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Wir rechnen es dann später am Tisch aus.
Aber es ist eine Belastung, die wir kompensieren müssen. Ich will damit eigentlich nur zeigen, dass es mit der Gerechtigkeit nicht ganz so einfach ist.
Herr Kollege Henke, Sie haben Professor Jacobs zitiert. Professor Jacobs hat aber in der Anhörung auch zu Recht darauf hingewiesen, dass das Prinzip der Beitragserhebung im Hinblick auf die aktuelle ökonomische Leistungsfähigkeit weit über den Aspekt der Alterssicherung hinausgeht. Erwerbskriterien bilden die ökonomische Leistungsfähigkeit der Menschen in immer geringerem Umfang ab, und zunehmend spielen auch andere Einkommensarten eine Rolle. Da würde uns eine solidarisch finanzierte Bürgerversicherung vieles erleichtern.
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Aber ich weiß auch, dass es hierfür derzeit keine Mehrheiten in diesem Hause gibt. Wir werden mit Nachdruck an einer Lösung arbeiten, die zum einen für den Einzelnen nachvollziehbar und gerecht ist und zum anderen das GKV-System nicht gefährdet.
Herzlichen Dank.
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Zu ihrer ersten Rede hat das Wort die Kollegin Ulrike Schielke-Ziesing von der AfD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Bürger! Liebe Gäste! Ihren Ursprung hat die spezielle Problematik der Direktversicherung durch Gehaltsumwandlung im Jahr 2004. Damals wurde das Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung von SPD und Grünen eingeführt. Dieses Gesetz birgt gleich zwei Ungerechtigkeiten. Zum einen müssen gesetzlich Krankenversicherte den vollen Betriebsrentenbeitrag zur Krankenversicherung leisten, während Privatversicherte, die nach Rentenbeginn nebenbei über die Beitragsbemessungsgrenze hinaus dazuverdienen, von den Zahlungen befreit sind. Das bedeutet, dass Großverdiener wieder einmal privilegiert werden; denn Durchschnittsverdiener haben selten die Möglichkeit, im Rentenalter nebenher über die Beitragsbemessungsgrenze hinaus dazuzuverdienen.
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Zum anderen werden Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung bei der Auszahlung der Betriebsrente fällig. Auf die bis dahin beitragsfreien Auszahlungen aus den Kapitallebensversicherungen der Direktversicherten bei Rentenantritt wurden quasi über Nacht Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung fällig, und zwar in vollem Umfang. Das heißt, dass im Zuge der Auszahlung der volle Kranken- und Pflegeversicherungsbeitrag, also Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteil, entrichtet werden muss.
Nun, das Ergebnis ist, dass Arbeitnehmer, die mit einer Betriebsrente vorgesorgt haben, doppelt zur Kasse gebeten werden: einmal bei der Einzahlung in die betriebliche Rentenversicherung und ein weiteres Mal bei der Auszahlung der Betriebsrente. Bei Auszahlung müssen die Rentner damit rechnen, dass ihnen bis zu 19 Prozent ihrer Betriebsrente für die Kranken- und Pflegeversicherung abgezogen werden. Das GKV-Modernisierungsgesetz geht sogar so weit, dass für die etwa 5,9 Millionen Arbeitnehmer mit Altverträgen, die bereits 2004 abgeschlossen waren, die Regeln mitten im Spiel und rückwirkend geändert wurden. Dabei wurden die Bürger durch die Politiker im Vorfeld geradezu animiert, privat für ihre Rente vorzusorgen. Diese Bürger haben darauf vertraut, dass ihnen die bei Vertragsabschluss zugesagten Leistungen im Alter ausgezahlt werden. Nun sieht es so aus, dass bei einem Auszahlungsbetrag von beispielsweise 60 000 Euro fast 11 000 Euro an SV-Beiträgen gezahlt werden müssen. Das waren 2004 keine Entscheidungen, die sich am Wohle der Bürger orientierten. Damals wurde nur auf die leeren Kassen der Krankenversicherung geblickt.
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Interessant ist das Abstimmungsverhalten von CDU/CSU und SPD, als ein in der Sache fast gleicher Antrag der Linken bereits 2015 in den Bundestag eingebracht wurde. Damals argumentierten Sie, dass rein rechtlich kein Handlungsbedarf bestehe, und Sie lehnten den Antrag ab. Wenigstens hatten die Grünen ein bisschen Einsicht und erkannten zumindest das Problem des GKV-Modernisierungsgesetzes. Das war es jedoch schon. Handlungsbedarf wurde auch von den Grünen hier leider nicht gesehen. Sie haben die Möglichkeit nicht genutzt, die ungerechte Doppelverbeitragung aus der Welt zu schaffen und den Rentnern mit Direktversicherungen mehr von ihrer Altersvorsorge zu lassen. Chancen nutzen, Fehler korrigieren, das gehört leider nicht zu Ihren Stärken.
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Das Betriebsrentenstärkungsgesetz, das am 1. Januar 2018 in Kraft getreten ist, machte einen Bogen um die Problematik der Direktversicherung und heilte nur den Rohrkrepierer Riester-Rente. Ein Wahlkampfslogan der SPD lautete „Zeit für mehr Gerechtigkeit“. Das ist äußerst zynisch; denn, meine Damen und Herren von der SPD, Sie sind die Verursacher dieser ungerechten Doppelverbeitragung für unsere Rentner.
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Sie wollen Deutschland gerechter gestalten, nachdem sich erst durch Ihre Politik diese Ungerechtigkeit etablieren konnte. Einige Kollegen von der CDU/CSU haben sich während des Wahlkampfes ebenfalls für die Abschaffung der Doppelverbeitragung ausgesprochen. Nun ist es Zeit, diesen Worten auch Taten folgen zu lassen.
Als AfD-Fraktion werden wir dem Antrag der Linken zustimmen und uns dafür einsetzen, dass der Beitragspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung bei Versorgungsbezügen nur einmal nachgekommen werden muss. Auf diese Weise wollen wir eine Doppelverbeitragung verhindern und den Menschen ein Stück mehr Gerechtigkeit zurückgeben.
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Ferner fordern wir, falls es zu einer Überweisung des Antrags kommen sollte, eine Überweisung an den Ausschuss für Arbeit und Soziales und nicht an den Gesundheitsausschuss, da hier eine Säule der Altersvorsorge direkt betroffen ist.
Vielen Dank.
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Das Wort zu seiner ersten Rede hat der Kollege Till Mansmann von der FDP-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Zunächst: Es ist ausgesprochen erfreulich, dass Sie sich, meine sehr geehrten Damen und Herren von der Linken, einem Zweig der Alterssicherung zuwenden, der vor allem die Eigenverantwortung der Bürger betrifft; denn mit der Kritik, die in Ihrem Antrag steckt, haben Sie durchaus recht.
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Man kann es den Bürgerinnen und Bürgern, die in eigener Verantwortung ihre Altersvorsorge durch Verzicht und Sparsamkeit verbessern wollen, ganz einfach nicht vermitteln, dass ihre Krankenkassenbeiträge doppelt berechnet werden. Aus einem ganz ähnlichen Grund hat die FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag dem Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung im Jahr 2003 nicht zugestimmt, damals übrigens als einzige Fraktion.
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– Ja, da hatten Sie eine außerparlamentarische Bildungspause, die wir zuletzt eingelegt haben.
Wir Freie Demokraten kritisieren seit langer Zeit, dass es in vielen Versicherungsverträgen zu einer doppelten Beitragsbelastung kommen kann.
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Das verletzt das Gerechtigkeitsempfinden vieler Bürgerinnen und Bürger. Sie fühlen sich vom Staat getäuscht – um es diplomatisch zu sagen –, zumal von der Doppelbelastung auch Verträge betroffen sein können, die vor der gesetzlichen Regelung abgeschlossen wurden. Die Bürger können ihre Altersvorsorge nicht immer dann umkrempeln, wenn der Gesetzgeber wieder neue Regelungen schafft.
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Man kann die Auffassung vertreten, dass in so einem Fall auch der Vertrauensschutz verletzt wird, der auf Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes zurückgeht. Der bisher vorliegende Beschluss des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2010 kommt zwar zu einem formal sicherlich richtigen, aber in den Augen vieler Bürgerinnen und Bürger nicht befriedigenden Schluss. Der Gesetzgeber sollte von den Grundregeln, die er für die Steuerpflicht seiner Bürger definiert hat, auch bei Abgaben und Versicherungen nicht wesentlich abweichen. Die Menschen verstehen es nicht, dass hier mit zweierlei Maß gemessen wird.
Da, lieber Kollege Henke, kommen wir trotz ähnlicher Gedanken zu ganz anderen Schlüssen; denn ich bin der Auffassung, dass bei der Bemessung der Beiträge, die ausdrücklich nicht versicherungsmathematisch erfolgt, sondern nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip dem Steuerrecht entlehnt ist, die Grundsätze des Steuerrechtes angewendet werden sollten.
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Wir dürfen das anders machen; aber wir können es den Bürgern so halt nicht erklären. Ich weiß nicht, wie Sie den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts lesen. Ich lese ihn so: Hätte es sich um eine Steuer gehandelt, wäre der Beschluss möglicherweise anders ausgefallen.
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Ihr Ansatz, sich in dieser speziellen Frage der Krankenversicherung an den wohldefinierten Grundsätzen des Steuerrechts zu orientieren, begrüßen wir als Freie Demokraten. Aber so erfreulich dieser Ansatz auch ist, so verfehlen Sie bei den Lösungsvorschlägen am Ende doch das eigentliche Ziel. Ihr Ansatz geht nämlich in einem Punkt nicht weit genug: Die doppelte Belastung bei den monatlich entrichteten Beiträgen haben Sie richtig erkannt; aber für das gleiche Problem bei der Entgeltumwandlung aus Sonderzahlungen legen Sie keine Lösung vor.
Bei dem, was Sie stattdessen anbieten, schießen Sie zum anderen weit über das Ziel hinaus. Sie nehmen an, dass eine Ausweitung der staatlichen Vorsorge das Problem lösen würde. In Wirklichkeit überspannen Sie das Thema damit aber und stellen sich einer wirklich geeigneten Lösung in den Weg.
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Etwas amüsiert hat mich – ich zitiere aus Ihrem Antrag – der Hinweis auf die hier festgestellte „kalte Enteignung“. Daran werden wir Sie gerne das nächste Mal, wenn Sie mit wärmeren und mitunter richtig heißen Enteignungsfantasien kommen, erinnern.
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Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, es wäre in der Tat gut, für den in diesem Gesetz erkannten Missstand auch eine sinnvolle Abhilfe zu erarbeiten. Daher wäre dieser Antrag in einem zuständigen Ausschuss sehr gut aufgehoben. Auch wir plädieren daher für eine Überweisung an den Ausschuss für Arbeit und Soziales.
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Nächste Rednerin: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Maria Klein-Schmeink.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! In der Tat reden wir hier in diesem Hause nicht das erste Mal über Ungerechtigkeiten, die sich im Zusammenhang mit der Verbeitragung von Betriebsrenten ergeben.
Ich muss sagen, Herr Birkwald, Sie haben mit dem Titel dieses Antrags durchaus einen richtigen Ansatz vorgelegt, indem Sie festgestellt haben: Wir brauchen gerechte Krankenversicherungsbeiträge für Betriebsrenten. – Aber das Problem mit der Abschaffung der angeblichen Doppelverbeitragung lösen zu wollen, das greift entschieden zu kurz. Ich muss ehrlicherweise sagen: Ich wundere mich, dass eine linke Fraktion den Zusammenhang zwischen allen Sozialversicherungssystemen nicht im Auge hat und
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auf der einen Seite den Rentnern Versprechen macht, aber auf der anderen Seite die GKV nicht im Blick hat. Wenn wir wirklich über das Thema Doppelverbeitragung reden würden, dann hätten wir ein gravierendes Problem in der gesetzlichen Krankenversicherung. Die gesamte Grundlage dafür, wie ein Rentner heute seine Krankenversicherungsbeiträge zahlt, wäre damit infrage gestellt. Das müssen Sie sich als Erstes klarmachen.
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Natürlich ist es so, dass ein Rentner seine Rente aus Einkommen bezieht, das früher einmal verbeitragt worden ist. So ist das schlichtweg. Klugerweise haben wir eine Regel gefunden: Die gesetzliche Krankenversicherung erhält Zuschüsse für den zweiten Teil, die 50 Prozent, die sonst der Arbeitgeber übernehmen würde.
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Das ist die Logik der GKV der Rentner.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Birkwald, Frau Kollegin?
Ja, tue ich.
Vielen Dank, Herr Präsident. Vielen Dank, Frau Kollegin Klein-Schmeink. – Ich hätte mich nicht ein zweites Mal gemeldet, wäre jetzt nicht die zweite Rednerin nach dem Kollegen Henke darauf eingegangen.
Uns liegt ein Gutachten vor – das stelle ich Ihnen allen gern zur Verfügung –,
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nach dem die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung dann, wenn die Bürgerversicherung – wir nennen sie „solidarische Gesundheitsversicherung“; üblicherweise wird sie „Bürgerversicherung“ genannt – mit der Verbeitragung aller Einkommen käme, auf unter 12 Prozent sänken. Sie würden von jetzt 14,6 Prozent oder – mit Zusatzbeitrag – von 15,5 Prozent bzw. 15,6 Prozent auf unter 12 Prozent sinken. Das wäre deutlich weniger. – Das ist der erste Satz, mit dem ich Ihnen antworten will.
Der zweite Satz. Wir wollen natürlich, dass die Krankenkassen ihr Recht und ihr Geld bekommen, aber nur einmal – nicht zweimal, nicht dreimal – und an der richtigen Stelle. Rentnerinnen und Rentner haben nämlich sinkende Zahlbeträge. Sie kommen in die nachgelagerte Besteuerung hinein. Wenn sie mit der Betriebsrente etwas ausgleichen wollen, müssen sie das auch noch zahlen.
Letzter Satz.
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Machen Sie ein Koreferat?
Wir brauchen nur einmal ins europäische Ausland zu gucken, beispielsweise nach Österreich.
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Da ist die Krankenversicherung anders finanziert, sodass ein männlicher Rentner eine doppelt so hohe durchschnittliche Rente aus dem umlagefinanzierten Rentensystem erhält und er gar keine bAV und pAV braucht.
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Wie bewerten Sie das?
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Grundsätzlich bewerte ich das so, dass eine Bürgerversicherung viele der Ungerechtigkeiten, die wir heute in der Verbeitragung haben, tatsächlich beseitigen würde.
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Das wäre auch der richtige Ansatz.
Sie haben dagegen die gesamte Problemlösung jetzt erstens auf nur eine Gruppe fokussiert, und Sie haben zweitens einen Ansatz, der das Potenzial hat, unsere gesamte Krankenversicherung der Rentner zu sprengen,
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und das kann so nicht gehen.
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Jetzt kommen wir mal zu einer anderen Geschichte. Zu Recht sprechen Sie ein wirkliches Problem an. Die Altverträge rückwirkend, ohne dass man irgendeine Übergangszeit hätte, so zu veranlagen, wie das heute getan wird, ist in der Tat ein Problem. Darüber müssen wir uns Gedanken machen. Es ist ein Problem, aber das kann man nicht über die Doppelverbeitragung lösen, sondern dafür braucht man Stichtagsregelungen oder Ähnliches. Das kann man nicht so tun, wie Sie es jetzt vorschlagen.
Wir haben aber nicht nur diese Ungerechtigkeit; wir haben viele Ungerechtigkeiten.
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Es ist so, dass wir in der Ansparphase manche Rentenformen begünstigen, andere wiederum nicht. Wir haben das Problem in der Auszahlungsphase, dass je nachdem, welche Vertragsform vorliegt, ob etwa eine private Rentenversicherung vorliegt, teilweise Beiträge gezahlt werden müssen und teilweise nicht. Das Problem können wir nur über die Bürgerversicherung lösen. Die Bürgerversicherung hat nämlich gerade den Ansatz, dass sie sämtliche Einnahmeformen mitberücksichtigt,
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und zwar gerecht und nachvollziehbar.
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Das ist doch heute das Problem: Kein Mensch kann akzeptieren, dass wir eine Situation haben, in der das eine verbeitragt werden muss, das andere aber nicht, in der die eine Rentenform, die private etwa, völlig freigestellt ist, eine Betriebsrente wiederum nicht. Das geht nicht, und das müssen wir ändern.
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Aber das können wir nicht in der Form tun, wie Sie das jetzt vorschlagen – entlang der Figur der Doppelverbeitragung –; damit sprengen Sie unser System der gesetzlichen Krankenversicherung der Rentner.
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Das muss anders laufen.
Wir werden uns dem Gerechtigkeitsproblem natürlich stellen müssen. Aber das müssen wir in viel komplexerer Form tun, als Sie das heute vorlegen. Deshalb können wir Ihrem Vorschlag in dieser Form nicht folgen.
Danke schön.
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Für die CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Erich Irlstorfer.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir besprechen den Antrag der Linken „Gerechte Krankenversicherungsbeiträge für Betriebsrenten - Doppelverbeitragung abschaffen“. Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Linken, ich habe das Gefühl, Sie wollen die Krankenversicherung der Rentner in die Luft gehen lassen. Das halte ich generell für falsch.
({0})
Das von Ihnen vorgeschlagene Instrument ist auch nicht in Ordnung, und ich möchte Ihnen erklären, warum. 40 Prozent der Arbeitnehmer in Deutschland verfügen nicht über eine Betriebsrente und sorgen damit nicht zusätzlich zur gesetzlichen Rente vor. Dies ist vor dem Hintergrund des demografischen Wandels ein ernstzunehmendes Problem. Viele von ihnen sind auch Geringverdiener und können den entsprechenden Lebensstandard schlichtweg so nicht halten.
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Deshalb haben wir mit dem Betriebsrentenstärkungsgesetz, das ab dem 1. Januar 2018 gilt, ein umfangreiches Reformpaket geschaffen, das den Anreiz für die Inanspruchnahme einer betrieblichen Altersversorgung enorm steigern wird. Davon bin ich überzeugt.
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Mit diesem Gesetz wollen wir die Betriebsrente insbesondere auch in kleinen und mittleren Unternehmen weiter verbreiten und dadurch langfristig ein deutlich höheres Versorgungsniveau erreichen. Das ist in meinen Augen Zukunftspolitik.
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– Hören Sie doch kurz zu.
Versicherte in Deutschland können – das dürfen wir bei der ganzen Diskussion nicht vergessen – eine moderne und qualitativ hochwertige Versorgung in Anspruch nehmen. Zuletzt wurde auch in einer Expertenanhörung – das sollten wir nicht einfach wegwischen – im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages Ende Januar 2016 deutlich gemacht, dass gerade vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und des medizinischen Fortschritts auch die Frage der Generationengerechtigkeit berücksichtigt werden muss.
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Die heutige Generation von Beitragszahlern leistet einen hohen Solidarbeitrag, um das hohe Niveau der medizinischen Versorgung hier weiter sicherzustellen. Würde die Beitragspflicht auf Betriebsrenten und Versorgungsbezüge abgeschafft, wäre von der jüngeren Generation ein noch größerer Solidarbeitrag zu leisten.
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Dies wäre – erlauben Sie mir, das noch einmal zu sagen – im Sinne von Generationengerechtigkeit nicht zu rechtfertigen.
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Deshalb, meine sehr geehrten Damen und Herren, stehen wir auch weiterhin dazu, dass Leistungen aus der betrieblichen Altersversorgung wie die von Ihnen angesprochene Direktversicherung der Beitragspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung unterliegen, wenn sie eine Einkommensersatzfunktion haben. In der gesetzlichen Krankenversicherung haben auch Rentner Beiträge zu zahlen, die sich an ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit – beispielsweise auf der Grundlage der Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung und von Versorgungsbezügen – bemessen.
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Dies ist ein Teil des Solidarsystems der gesetzlichen Krankenversicherung.
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Unser Problem, das hier vielleicht ein bisschen in den Hintergrund gerät, ist in meinen Augen, dass man, als man das System aufgebaut hat – wir haben das ja bewusst getan –, den Beitragszahlern vor Abschluss des Vertrages nicht transparent und aufrecht gesagt hat, dass das auf sie zukommt.
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Darüber können wir reden. Das ist vollkommen klar. Ich möchte Ihnen aber auch sagen, dass es deshalb auch mit ein Thema in den Koalitionsverhandlungen ist und dass die Parteispitzen sich über diese Frage unterhalten werden.
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– Ich würde Ihnen raten, erst einmal die Ergebnisse abzuwarten. Lassen Sie die Spitzengremien tagen, und informieren Sie sich nicht nur über die Zeitungen.
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Ich möchte Ihnen auch noch sagen: Weder die Zeitungen noch wir, die wir hier sitzen, wissen, wie zu dieser Frage aktuell entschieden wird, was hier in welcher Höhe überhaupt möglich ist.
Ich würde hier nur eine Empfehlung aussprechen: Spielen Sie nicht mit den Gefühlen der Menschen! Gehen Sie auf die sachliche Ebene zurück, und arbeiten Sie dann mit diesen Informationen!
Herzlichen Dank.
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Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Ralf Kapschack.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Zuschauer! Gut gemeint ist nicht immer gut gemacht. Die Entscheidung, ab 2004 der betrieblichen Altersversorgung den vollen Beitragssatz in der Kranken- und Pflegeversicherung aufzubrummen, war in den Augen vieler Betroffener weder transparent noch gerecht. Es gab keine Übergangsregelung, keinen Vertrauensschutz; das ist alles schon angesprochen worden. Auch wenn das alles höchstrichterlich abgesegnet ist: Ich verstehe, dass viele das nicht verstehen und ungerecht finden.
({0})
Das Ganze hat die betriebliche Altersversorgung insgesamt sicherlich nicht attraktiver gemacht. Denn wichtig ist auch hier, was nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben am Ende hinten rauskommt, damit die Menschen sagen: Das lohnt sich auch für mich. – Deshalb ist es heute nicht nur eine Debatte über Krankenversicherungsbeiträge; es ist eine Debatte über die Zukunft der Altersversorgung in Deutschland.
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Für die SPD steht die gesetzliche Rente im Mittelpunkt, keine Frage; die wollen wir stärken. Betriebliche Altersversorgung ist für uns die beste Ergänzung dazu – Ergänzung, kein Ersatz.
Im vergangen Jahr haben wir uns sehr intensiv mit betrieblicher Altersversorgung beschäftigt. Wir haben einige Verbesserungen erreicht; aber eines haben wir nicht hinbekommen: das Thema Krankenversicherungsbeiträge abzuräumen. In der bisherigen Koalition waren wir uns deshalb einig, dass wir da noch einmal ranmüssen. Ich hoffe: Wenn es zu einer neuen Koalition kommt, sind wir uns auch weiterhin einig, dass da noch etwas passieren muss.
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Immerhin gilt mit dem Betriebsrentenstärkungsgesetz – es ist schon angesprochen worden –: Wer jetzt in der betrieblichen Altersversorgung riestert, der muss beim Rentenbezug keine Krankenversicherungsbeiträge mehr zahlen. Mit der Pflicht der Arbeitgeber, bei der Entgeltumwandlung den Großteil ihrer eingesparten Sozialbeiträge an die Beschäftigten weiterzugeben, haben wir die Belastung der künftigen Betriebsrentnerinnen und -rentner verringert. Ausreichend ist das alles aber noch nicht.
Um es deutlich zu sagen: Die SPD ist dafür, dass grundsätzlich Betriebsrentner wie bei der gesetzlichen Rente den halben Krankenkassenbeitrag zahlen.
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Das wäre eine klare, eine einfache und transparente Regel. Und: Betriebsrentnerinnen und -rentner hätten deutlich mehr im Portemonnaie.
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Damit würde – zugegeben – die sogenannte Doppelverbeitragung nicht abgeschafft, die im Antrag der Linken kritisiert wird,
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also die Situation, dass sowohl auf die Finanzierung der betrieblichen Altersversorgung als auch auf die Betriebsrente selbst Beiträge fällig werden.
In der Tat – das gebe ich unumwunden zu –: Das Problem lösen wir mit unserem Vorschlag nicht, erst recht nicht rückwirkend. Es ist aber auch schon angesprochen worden: Eine solche Logik der Doppelverbeitragung gibt es auch bei der gesetzlichen Rente. Das abzuschaffen, hat bisher noch niemand gefordert.
Lassen Sie es uns nicht komplizierter machen, als es ohnehin schon ist. Wir brauchen klare, transparente, nachvollziehbare Regeln für alle Formen der betrieblichen Altersversorgung, wenn es um Krankenkassenbeiträge geht. Lassen Sie uns deshalb gemeinsam schauen, wie wir das hinbekommen, wie wir das finanzieren können – möglichst ohne die Beiträge für alle Versicherten zu erhöhen; denn sonst müssten auch die höhere Beiträge zahlen, die von Betriebsrenten gar nicht profitieren.
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Und – das sage ich hier auch in aller Offenheit –: Lassen Sie uns ernsthaft überlegen, wie wir für die Gruppe der Direktversicherten etwas tun können, die vor 2004 Verträge abgeschlossen haben und die damals von den Änderungen kalt erwischt worden sind.
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Das ist vermutlich höchst kompliziert und sicherlich nicht mit einem Federstrich zu machen; aber wir sollten es zumindest versuchen. An uns jedenfalls wird es nicht scheitern. Ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuss.
Herzlichen Dank.
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Der letzte Redner in der Debatte ist der Kollege Dr. Roy Kühne von der CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Zuschauer! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich bin der Fraktion der Linken erst einmal dankbar, dass sie dieses Thema auf den Tisch bringt. Das gibt uns heute die Gelegenheit, darüber zu reden, was für ein wertvolles System wir in Deutschland haben. Dieses System, das dem einen oder anderen an der einen oder anderen Stelle sicherlich sehr komplex erscheint, stellt für viele Menschen ein wertvolles Gesundheitssystem dar. Diese Debatte gibt uns heute auch die Möglichkeit, die positiven Aspekte in den Vordergrund zu stellen und nicht immer alles nur schlechtzureden.
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Ich bin Therapeut, habe jahrelang in den USA und England gelebt. Ich kann Ihnen aus eigener Erfahrung sagen: Wir haben hier ein wertvolles System, das vielleicht nicht immer – es wurde angesprochen – hundertprozentig gerecht ist; aber ich glaube, wir können stolz darauf sein. Denn dieses System sorgt für eines – ich glaube, das streitet auch keiner in Europa ab –: Man ist füreinander da, es wird sich umeinander gekümmert, und die Schwachen, die Alten werden genauso abgeholt wie die Gesunden und Starken. Das ist der Vorteil unseres Gesundheitssystems.
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– Es gibt immer Luft nach oben; aber es gibt nie die perfekte Lösung für alle.
Der Grund unserer heutigen Diskussion ist die Verbeitragung der Betriebsrenten. Mit dem GKV-Modernisierungsgesetz 2003, also vor 15 Jahren, hat die damalige Regierung, auch unter Zustimmung der Union, notwendige Änderungen vorgenommen. Was war der Grund? Warum wurden diese vorgenommen? Ein Aspekt ist, dass 1973 rund 70 Prozent der für Rentner aufgewendeten Leistungen durch Beiträge gedeckt wurden. 2003 waren es nur noch rund 40 Prozent. Durch diese Situation – das ist ja nachvollziehbar – ist man gezwungen gewesen, die Finanzierung im Grunde genommen zu novellieren. Man passt sich veränderten Gegebenheiten an. Das ist nun einmal Wirtschaft; das ist auch normal. Eine erneute Halbierung – das ist bereits gesagt worden – hätte uns 2,6 Milliarden Euro pro Jahr gekostet, und das in der heutigen Zeit, in der wir uns fragen: Wie können wir andere Systeme, wie können wir die heutigen Belastungen noch bezahlen? Das Thema Pflege geistert uns allen durch den Kopf. Natürlich muss jeder im Rahmen seiner Möglichkeiten an der Finanzierung unseres sozialen Systems beteiligt werden. Wie gesagt: Ich glaube, wir haben in Deutschland ein wertvolles System, das nicht unbedingt an jeder Ecke immer gleich schlechtgeredet werden sollte. Ich habe im Ausland gelebt. Sie wissen, wie das ist. Wir können froh und stolz darauf sein, dass wir so ein System haben.
({2})
Die Diskussionen über das Renteneintrittsalter und natürlich auch über die Rentenbeiträge können und müssen in unserem Land irgendwann auch einmal generationsübergreifend geführt werden. Der demografische Wandel – ich glaube, niemand hat ihn so erwartet, wie er eingetreten ist – ist nun einmal der Grund für ein neues wirtschaftliches Denken in unserem Gesundheitssystem. Das können wir nicht ausblenden. Wir als CDU und CSU sagen aber: Rente muss sicher sein, Rente muss fair sein. Ich glaube, das zeichnet unser Gesundheitssystem aus. Unser Krankenversicherungssystem ist in jedem Falle attraktiv. Es würde sonst nicht so funktionieren.
Deshalb bin ich der Meinung, dass wir diesen Antrag der Linken erst einmal ablehnen. Das enthebt uns aber nicht der moralischen Verantwortung, darüber nachzudenken – es wurde bereits von der Kollegin von den Grünen gesagt –, wie wir mit dem höchsten Gut der Menschen in Deutschland umgehen können. Das ist Vertrauen. Dieses Vertrauen sollte nicht missbraucht und schon gar nicht verbraucht werden. Wir reden über eine Gruppe, die vor 2003 die entsprechenden Beiträge geleistet hat. Für diejenigen, die danach kommen, ist alles geregelt; das muss man auch einmal sagen. Insofern fordere ich hier alle Fraktionen auf: Lassen Sie uns gemeinsam nach Lösungen suchen, die fair nach außen sind.
Herr Kollege, würden Sie eine Zwischenfrage zulassen?
Nein. Feierabend!
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Ich denke – das ist der wichtigste Aspekt –, wir müssen hier eine moralische Verantwortung wahrnehmen, vor der wir uns nicht drücken können, nicht mit irgendwelchen Phrasen, nicht mit irgendwelchen Scheinaussagen. Daher bitte ich alle Fraktionen: Arbeiten Sie in diesem Fall zusammen. Wir werden die Schritte gehen.
Ich danke Ihnen und wünsche Ihnen allen einen schönen Feierabend.
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Dann schließe ich direkt zum Feierabend die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/242 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Allerdings ist auch hier die Federführung strittig. Die Fraktionen CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen wünschen Federführung beim Ausschuss für Gesundheit, die Fraktionen AfD und Die Linke Federführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der AfD und der Fraktion Die Linke abstimmen, also über die Federführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Das sind die Fraktionen AfD, FDP und Die Linke. Wer stimmt dagegen? – Wir sind uns einig: Das Letztere ist eindeutig die Mehrheit. Damit ist dieser Überweisungsvorschlag abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen abstimmen, also Federführung beim Ausschuss für Gesundheit. Wer ist für diese Überweisung? – Wer ist dagegen? – Das Erste ist die Mehrheit. Damit ist der Überweisungsvorschlag mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich komme noch einmal zurück zum Tagesordnungspunkt 10. Wir haben dort die Drucksache 19/588 mit dem Titel „Innovationen als Teil einer kohärenten Digitalisierungsstrategie fördern“ beraten. Die Mehrheit des Hauses hat mit den Stimmen von SPD und CDU/CSU die Federführung beim Ausschuss Digitale Agenda abgelehnt. Wir müssen jetzt noch abstimmen über den positiven Überweisungsvorschlag, über eine Überweisung an den Ausschuss für Wirtschaft und Energie.
Wer für die Überweisung der Vorlage an den Ausschuss für Wirtschaft und Energie ist, den bitte ich um das Handzeichen. – Wer ist dagegen? – Dann ist die Überweisung angenommen gegen die Stimmen der AfD-Fraktion.
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– Gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke.
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– Entschuldigung.
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– Und gegen die Stimmen der Grünen. – Sie kennen das ja: Rechts und links usw.
Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 2. Februar 2018, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.
(Schluss: 19.22 Uhr)