Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 6/27/2019

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Christine Lambrecht (Minister:in)

Politiker ID: 11003167

Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Bundesministerin, ich gratuliere Ihnen herzlich und wünsche Ihnen für Ihre Aufgabe alles Gute und Gottes Segen.

Christine Lambrecht (Minister:in)

Politiker ID: 11003167

Ich danke Ihnen recht herzlich. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Sie dürfen nun gratulieren. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich würde gerne der Kollegin Dr. Katarina Barley im Namen des ganzen Hauses für ihre Tätigkeiten in der Bundesregierung und auch für die gute Zusammenarbeit als Mitglied dieses Hauses danken. Sie werden ja demnächst aus dem Bundestag ausscheiden. Alle guten Wünsche für Ihre neue Aufgabe! ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt bitte ich Sie, wieder Platz zu nehmen.

Not found (Minister:in)

Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Wir diskutieren heute über die Reform der Grundsteuer. Das ist notwendig, weil wir ein Gesetz reformieren müssen, das seit vielen, vielen Jahren schon nicht mehr auf der Höhe der Zeit war und vor allem, wie uns das Bundesverfassungsgericht erwartbar mitgeteilt hat, auch nicht mehr den Anforderungen des Grundgesetzes entsprach. Warum nicht? Die Einheitswerte, die gegenwärtig noch die Grundlage für die Berechnung der Grundsteuer sind, stammen aus dem Jahr 1964 für den Westen Deutschlands und von 1935 im Osten. Das ist ziemlich lange her, und ich glaube, man muss nicht besonders gut in Mathematik oder sonst etwas sein, um sich vorstellen zu können, dass nach einem solch langen Zeitraum dann passiert, was das Bundesverfassungsgericht moniert hat, nämlich dass Grundstücke, die gleich betrachtet werden müssen und die gleich viel wert sind, unterschiedlich besteuert werden. Das ist mit dem Gleichheitsgebot der Verfassung nicht vereinbar, und deshalb haben wir jetzt einen großen Reformbedarf. Dass wir in diese Lage geraten sind, liegt auch daran, dass natürlich manche Dinge in der Zwischenzeit nicht passiert sind. Zum Beispiel hat das bisherige Grundsteuerrecht vorgesehen, dass alle sechs Jahre eine neue Hauptfeststellung durchgeführt wird. Das ist nicht passiert und hat die Probleme, die ich eben geschildert habe, noch weiter verstärkt. Wir haben das jetzt zum Anlass genommen, eine grundlegende Neuorganisation der Grundsteuer vorzunehmen, sind aber bei dem geblieben, was seit Ewigkeiten – denn es handelt sich ja um eine sehr alte Steuer – das typische Prinzip für die Bewertung der Grundstücke gewesen ist: Man geht nach dem Wert. Das ist bisher der Fall gewesen und soll es nach dem neuen Grundsteuerrecht in Zukunft auch sein. Allerdings haben wir uns vorgenommen, die Probleme, die bei einer solchen Neubewertung entstehen, gleich mit zu lösen. Es soll alles viel einfacher werden, als das heute der Fall ist. Man muss gegenwärtig fast 30 Angaben machen, um zu einer ordentlichen Grundsteuerbewertung zu kommen. Darunter sind auch sehr merkwürdige Kriterien, die man sich heute gar nicht mehr richtig erklären kann; Kriterien, die zum Beispiel deutlich machen sollen, ob es sich um ein wertvolles Grundstück handelt oder nicht, die aber an Luxusgegenständen wie Badewannen und Ähnlichem festgemacht werden. Das zeigt: Wir haben wirklich Reformbedarf. Deshalb ist es richtig, dass wir es auf fünf bis acht Kriterien reduzieren und ein einfaches und – das ist wichtig für die Zukunft – digitalisierbares Grundsteuerrecht entwickeln. ({0}) Im Übrigen handelt es sich bei der Grundsteuer um eine wichtige Steuer für die Gemeinden. Diese sind ja nicht irgendwo. Jeder von uns lebt in einer Gemeinde, in einer Stadt oder in einem kleinen Dorf, und ist darauf angewiesen, dass das mit den Schulen, mit den Straßen, mit den Kindergärten alles funktioniert. Die Finanzierung der Gemeindetätigkeit ist zu einem erheblichen Teil auf die Einnahmen aus der Grundsteuer angewiesen. Es geht also um gute Lebensverhältnisse in Deutschland, dort, wo wir alle miteinander leben. Deshalb brauchen die Gemeinden die Grundsteuer. Deshalb ist es wichtig, dass der Deutsche Bundestag bzw. der Gesetzgeber insgesamt diese Steuer für die Zukunft sichert. ({1}) Aus meiner Sicht ist aber auch klar: Das Steueraufkommen insgesamt soll dadurch nicht steigen. Deshalb haben wir uns bei der Reform der Steuer sehr viel Mühe gegeben, sicherzustellen, dass das auch nicht passiert. Wir haben zum Beispiel Bezugsgrößen gewählt, die die riesigen Wertsteigerungen reduzieren, die seit den letzten Hauptfeststellungen zu beobachten waren. Wir greifen zum Beispiel auf Listenmieten zurück, die geringer sind als das, was real an Mieten überall in Deutschland erhoben wird. Wir etablieren also sehr praktische Verfahren, die sicherstellen, dass sich die großen Wertsteigerungen der letzten Jahrzehnte nicht in der Grundsteuer niederschlagen und es ungefähr so bleiben wird, wie es heute der Fall ist. Selbstverständlich haben wir auch einen Beitrag gegen eine zu große Steigerung der Grundsteuer geleistet, indem wir gesagt haben: Der Wert, mit dem das alles multipliziert wird, um die endgültige Steuer zu berechnen, die Steuermesszahl, reduzieren wir auf ein Zehntel. Wenn man das alles zugrunde legt, dann kommt man zu dem Ergebnis, dass das heutige Steueraufkommen von knapp 15 Milliarden Euro auch in Zukunft wieder deutschlandweit erzielt wird. Eines ist klar: Es handelt sich um eine kommunale Steuer. Es gibt Hebesätze. Wenn eine solche Neubewertung stattfindet, wird es natürlich überall zu Veränderungen kommen. Aber alle über 11 000 Gemeinden in Deutschland haben es in der Hand. Wenn man dem Städtetag zuhört, wenn man vielen anderen zuhört, dann weiß man: Sie haben ganz klar gesagt, dass sie durch die Senkung der Hebesätze dafür Sorge tragen werden, dass es nicht zu einer Steuererhöhung kommt. Ich glaube, dies muss auch hier bei den Beratungen im Bundestag zugrunde gelegt werden. ({2}) Es wird einfacher, es wird digitalisierbar, und es wird nicht zu einer Erhöhung des Steueraufkommens kommen. Was niemand versprechen kann – das muss man ganz klar sagen –, ist, dass es nicht im Einzelfall zu Veränderungen kommt; denn dann hätte das Bundesverfassungsgericht ja nicht entscheiden müssen, dass Gleiches ungleich behandelt wird und dies in Zukunft nicht mehr der Fall sein soll. Aber insgesamt haben wir das sichergestellt. Meine Damen und Herren, mit dem Gesetzespaket wollen wir auch eine weitere Sache auf den Weg bringen. Wir wollen klarstellen, dass der Bundesgesetzgeber für die Grundsteuer zuständig ist. Eine solche Verfassungsänderung schlagen wir dem Deutschen Bundestag hier vor. Bis 1994 war es so geregelt, wie es jetzt wieder geregelt werden soll. Damit ersparen wir den Gerichten in Deutschland viele Rechtsstreitigkeiten und sorgen für Rechtsklarheit in unserem Land. Bei dieser Gelegenheit regeln wir auch etwas, das von großer Bedeutung für diejenigen ist, die abweichende Vorstellungen haben. Wir schaffen die Möglichkeit, dass die Länder abweichende Gesetzgebung machen können. Das gibt es im Grundgesetz auch an anderer Stelle. Den sechs Fällen, die es da schon gibt, fügen wir jetzt gewissermaßen einen siebten zu. Wichtig ist bei dieser Regelung aber eines – darauf haben sich alle, die bisher darüber diskutiert haben, verständigt –: Maßstab für die Solidarität in Deutschland, für den Finanzausgleich unter den Ländern soll das Bundesgesetz bleiben. Wenn also ein Land von dieser Möglichkeit zur Abweichung bei der Regelung der Grundsteuer Gebrauch macht, kann das nicht auf Kosten anderer finanziell schwächer ausgestatteter Länder in Deutschland geschehen. Diese solidarische Regelung ist ganz wichtig und bildet eine Grundlage des jetzigen Gesetzespaketes. Ich halte das für eine gute Regelung. ({3}) Dass wir den Weg gehen, das Grundgesetz zu ändern, hat Konsequenzen, und zwar Konsequenzen, die uns alle fordern. Das funktioniert nur, wenn alle Länder, die intensiv in den Diskussionsprozess eingebunden waren – sie haben sehr unterschiedliche Regierungen mit Beteiligung von CDU, CSU, SPD, Grünen, FDP und Linken –, mitmachen – oder jedenfalls praktisch alle. Nach dem, was ich bisher von den Ländern höre, kann man darauf hoffen, dass das der Fall sein wird; denn sie sind ja über ein Jahr in die Debatten einbezogen gewesen. ({4}) Die meisten Länder haben eine solche Diskussion mitgeführt, dass es ein wertbezogenes Modell, das den bisherigen Traditionen folgt, und auch diese entsprechende Änderung geben soll. Natürlich setzt das voraus, dass wir auch im Bundestag einen ganz breiten Konsens weit über die Regierungskoalition hinaus haben. Deshalb bin ich sehr dankbar, dass die Dinge, die wir bisher gehört haben, sichtbar machen, dass alle um ihre Verantwortung für diese für unser Zusammenleben in Deutschland so wichtige Steuer wissen. Ich bin sehr dankbar, dass ich offene Ohren gefunden habe, als ich die Parteien im Bundestag im Hinblick auf die Frage der Mitarbeit bei der Grundgesetzänderung direkt angesprochen habe. Ich hoffe, dass wir schnell zu einer Lösung kommen. Das alles ist wichtig für unser Land, für die Gemeinden in Deutschland, für die Bürgerinnen und Bürger und für das Miteinander in der Bundesrepublik Deutschland. Hoffen wir, dass wir das zügig und gut miteinander hinbekommen. Schönen Dank. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Albrecht Glaser, AfD. ({0})

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diese Regierungskoalition bringt kein Bundeswahlrecht zustande, das eine vorhersehbare Zahl von Abgeordneten festlegt. Würde zeitnah der Bundestag neu gewählt, ergäbe sich derzeit eine Zahl von etwa 800 Abgeordneten. ({0}) Diese Regierung beabsichtigt, nach Auslaufen des Solidarpakts II den sogenannten Solidarzuschlag zur Einkommensteuer teilweise abzuschaffen. So wie es derzeit aussieht, wird sie dabei in die Verfassungswidrigkeit hineinlaufen, ({1}) weil sie einen Teil der Steuerbürger entlastet und einen anderen nicht. Diese Regierungskoalition will eine erneuerte Grundsteuer in die Welt setzen ({2}) und ist auch hierbei zu einer echten Reform nicht fähig. Das ist der Zusammenhang: Nirgends Reformfähigkeit. ({3}) Die Grundsteuer ist die älteste aller Steuern. ({4}) Es gibt sie seit 4 000 Jahren. Als Antiquität wäre sie eine Kostbarkeit, als Instrument zur zeitgemäßen Staatsfinanzierung ist sie ein Fossil. ({5}) Das Bundesverfassungsgericht hatte bereits 1995 zu erkennen gegeben, dass die seit Jahrzehnten bei der Bewertung von Boden und Gebäuden zugrunde gelegten Werte heute nicht mehr anwendbar seien und somit die derzeitige Besteuerung verfassungswidrig. Im Frühjahr 2018 kam dann die formale Feststellung der Verfassungswidrigkeit. Statt die Chance zu ergreifen, endlich steuersystematisch und intelligent das Grundsteuerproblem anzupacken, sollen nun in aller Eile Flicken an die Ärmel genäht werden, um die alte Jacke wieder benutzbar zu machen. Die bisherige Grundsteuer, die durch das seit vorgestern bekanntgegebene Gesetzespaket in veränderter Form fortgeschrieben werden soll, zielt auf die Vermögenssubstanz von Boden und Gebäuden, gleichgültig ob daraus Erträge fließen oder nicht. Bei der Eigennutzung von Haus und Wohnung ist dies offenkundig nicht der Fall. Insofern ist die Grundsteuer eine Vermögensteuer, die selektiv auf Grundvermögen erhoben wird. Sofern Erträge aus dem Grundvermögen fließen, sind diese Einkommen und werden zu Recht bei der Einkommensbesteuerung berücksichtigt. Im Falle der Vermietung bleibt der Eigentümer zwar Steuerschuldner der Grundsteuer, Steuerträger wird jedoch der Mieter, dem sie über die Betriebskosten auferlegt wird. Der Mieter ist daher mit gleich hohen Grundsteuern belastet wie sein Nachbar, der als Eigentümer in einer vergleichbaren Wohnung lebt. Die Kuriosität besteht bei mehr als 50 Prozent der Einwohner des Mieterlandes Bundesrepublik Deutschland. ({6}) Wie man sieht, ist die altertümliche Grundsteuer auch in einem neuen Gewand ein systematisches Monstrum, weshalb in der Literatur auch ihre Verfassungsmäßigkeit infrage gestellt wird. ({7}) Die administrative Komplexität kommt noch hinzu. Es sind periodisch über 35 Millionen Grundstücke zu bewerten, und daran ändert sich gar nichts – es wird auch nicht nennenswert einfacher –, und das für ein jährliches Steueraufkommen von rund 14 Milliarden Euro, einem Betrag von weniger als 2 Prozent des gesamtstaatlichen Steueraufkommens. ({8}) – Machen Sie langsam! Das denkt jeder. Ich verstehe davon ein bisschen was. ({9}) Deshalb muss dieses Fossil ins Steuermuseum. Seine Funktion, eine adäquate Finanzierung der Gemeinden, muss anders geleistet werden, und das auch mit einer Steuer, die Hebesätze hat.  – Herr Kollege, habe ich Sie jetzt glücklich gemacht? ({10}) Dazu bietet sich eine lokale Einkommensteuer als Zuschlag auf die Bemessungsgrundlage – nicht auf die Einkommensteuer – und für gewerbliche Immobilien eine Erhöhung des Gewerbesteuerhebesatzes an. ({11}) Die Wohn- und Gewerbebürger werden dadurch, wie Berechnungen zeigen, nur geringfügig mehr belastet. Dies geschieht jedoch nach dem Gerechtigkeitsmaßstab der individuellen Leistungsfähigkeit, und das ist die Mutter aller steuerrechtlichen Normen. Alle Besteuerungsgrundlagen sind bereits für Zwecke der Einkommen- und Gewerbesteuer jährlich zutreffend von der Steuerverwaltung festgestellt; es bedarf null Aufwandes. Die Gemeinde muss lediglich ihren individuellen Hebesatz auf diese Grundlagen anwenden. Diese echte systemische Steuerreform hätte zudem den Effekt, dass alle Mieter in Deutschland von der Grundsteuer im Volumen von 14 Milliarden Euro entlastet würden, ({12}) in den großen Städten sogar relativ mehr als in der Fläche, weil in großen Städten die Gebäudewerte besonders hoch sind und große Städte die Mieter mit übermäßigen Hebesätzen quälen: eine Stadt wie Berlin mit einem Hebesatz von 810 Prozent gegenüber dem auch schon teuren Frankfurt am Main mit einem Hebesatz von 500 Prozent. Der beschriebene Entlastungseffekt würde für die Situation der Mieter in Deutschland wirksamer sein als alle Maßnahmen dieser Regierung zusammengenommen. Meine Damen und Herren, wie Sie sehen: Unser Land braucht Alternativen. Die strenge Trennung von Geist und Mandat sollte aufgehoben werden. ({13})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Andreas Jung, CDU/CSU. ({0})

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Grundsteuer ist eine Kommunalsteuer. Ihr Aufkommen kommt zu 100 Prozent den Kommunen zugute, und die Kommunen bestimmen mit ihrem Hebesatzrecht die Höhe der Grundsteuer. Sie ist damit in besonderer Weise Ausdruck kommunaler Selbstverwaltung. Darum geht es. Diese kommunale Selbstverwaltung, verkörpert durch die Grundsteuer, steht auf dem Spiel, weil das Bundesverfassungsgericht gesagt hat: So wie die Grundsteuer im Moment geregelt ist, ist sie verfassungswidrig, und wenn nicht in diesem Jahr eine Neuregelung vorgenommen wird, dann fällt die Grundlage für ihre Erhebung weg. – 14 Milliarden Euro, für die Kommunen eine ganz erhebliche und wichtige Einnahmequelle. Die Diskussion hat dann gezeigt, dass die große Mehrheit der Verfassungsrechtler sagt: Wir, der Bund, haben hier keine konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit; denn seit 1994 gelten höhere Anforderungen, um zu begründen, dass der Bund tatsächlich ein Gesetz machen kann, um zu belegen, dass es erforderlich ist. Gerade bei der Grundsteuer, bei der am Ende, wie gesagt, die Kommunen die Höhe bestimmen, könne das nicht begründet werden. – Deshalb haben wir unserem Herzen einen Ruck gegeben und haben uns – das war am Anfang der Debatte nicht beabsichtigt – auf den Weg gemacht, eine Grundgesetzänderung vorzuschlagen. Der Grund dafür ist die Verantwortung für die kommunalen Finanzen, die Verantwortung für kommunale Selbstverwaltung. Wir wählen diesen Weg, um nicht das Risiko einzugehen, jetzt ein Gesetz auf den Weg zu bringen, das später aufgehoben wird, was dazu führen würde, dass die Kommunen ihr Geld zurückzahlen müssten. ({0}) Wir wissen, dass es das schwieriger macht, weil wir dafür eine breitere Mehrheit brauchen. Wir wollen dafür werben, dass Sie sich, wie wir es getan haben, die Sache im Detail ansehen. Ich habe wohl zur Kenntnis genommen, dass niemand aus den Oppositionsfraktionen gleich Nein gesagt hat. Es hat auch niemand sofort zugestimmt. Das ist, glaube ich, normal. Wir werden in den nächsten Wochen und vielleicht Monaten bis zum Herbst die Möglichkeit haben, konstruktiv darüber zu debattieren. Das will ich auch für unsere Fraktion ganz ausdrücklich anbieten. Wir freuen uns auf diese Gespräche und werben um Zustimmung. ({1}) Der Weg, den wir jetzt gehen, ist außerdem ein ganz klares Bekenntnis zum Föderalismus. Wir sagen: Der Bund macht ein Gesetz, mit dem wir den Weg dafür ebnen, dass die Kommunen im nächsten Jahr ihre Einnahmen haben. Gleichzeitig sagen wir: Ein Land kann sein eigenes Grundsteuergesetz ohne Vorgaben des Bundes, nach eigenem Ermessen, aufgrund seiner Kenntnis der Gegebenheiten vor Ort machen. Die Gegebenheiten vor Ort sind eben unterschiedlich zwischen Kiel und Konstanz, in Flächenländern und in Stadtstaaten, in Ballungszentren und im ländlichen Raum. Unterschiedliche Gegebenheiten erfordern flexible unterschiedliche, passgenaue Antworten. ({2}) Genau das ermöglichen wir. Das ist ein guter Weg. Er ermöglicht föderale Vielfalt. Deshalb werben wir für dieses Gesetz. ({3}) Ich will gleich auf Zwischenrufe und Entgegnungen eingehen. Ja, es ist richtig, was Bundesminister Scholz gesagt hat. Kein Land kann sich dadurch Vorteile erwerben. Maßstab für den Länderfinanzausgleich bleibt das Bundesgesetz. Wenn ein Land abweicht, dann kann es dadurch nicht weniger und muss nicht mehr einzahlen. Maßstab bleibt das Bundesgesetz; das ist die Geschäftsgrundlage. Gleichzeitig kann ich aber über die Kritik, es würde ein Flickenteppich entstehen, nur große Verwunderung zum Ausdruck bringen. Ich finde, in dieser Haltung kommt ein grundsätzliches Missverständnis über unseren Föderalismus und über die Natur kommunaler Selbstverwaltung zum Ausdruck. Wer unterschiedliche Regelungen, die wir heute schon haben, mit Hebesätzen zwischen 0 und bis zu 900 Prozent als Flickenteppich verspottet, der hat den Föderalismus und die kommunale Selbstverwaltung nicht verstanden. ({4}) Wir ebnen den Weg für passgenaue Lösungen, und wir ermöglichen einen föderalen Wettbewerb um das beste Modell. Darum geht es. Es geht nicht um einen Wettbewerb um das schönste Grundstück. Grundstücke können nicht weglaufen. Vielmehr geht es darum, in einem föderalen Wettbewerb zu fragen, wie es am besten gelingt, bezahlbaren Wohnraum zu sichern, wie es bei dieser Reform der Grundsteuer am besten gelingt, zu verhindern, dass die Grundsteuer zu einem Treiber für eine weitere Belastung von Wohnen wird. Bezahlbarer Wohnraum ist ein wichtiges Ziel für uns alle. Dem muss sich auch die Reform der Grundsteuer unterordnen. Das erreichen wir mit diesem Gesetz durch die Verbesserung des Bundesgesetzes und durch eine doppelte Haltelinie, die Möglichkeit eigener Landesregelungen und das Festhalten an dem kommunalen Hebesatzrecht. Es wird ein Wettbewerb sein hinsichtlich der Frage: Wie vermeiden wir unnötige Bürokratie? Da können sich unterschiedliche Modelle beweisen. Man kann unterschiedliche Modelle vergleichen. Deshalb wollen wir diesen Weg gehen. Es ist am Ende – wie häufig – ein Kompromiss, aber es ist ein Kompromiss, hinter dem wir gut stehen können, für den wir werben; denn wir sind unter dem Strich der Überzeugung: Damit werden die Einnahmen der Kommunen gesichert. Wir leisten unseren Beitrag dazu, dass Wohnen nicht weiter verteuert wird. Unnötige Bürokratie kann verhindert werden. Es gibt keine zusätzlichen Belastungen für Gewerbe und Landwirtschaft, wo wir noch einmal Verbesserungen erreichen konnten. Das ist aus unserer Sicht ein gutes Paket. Wir werben um Ihre Zustimmung. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Florian Toncar, FDP. ({0})

Dr. Florian Toncar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003856, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Grundsteuer betrifft jeden in Deutschland, egal ob er oder sie in einer Wohnung oder in einem Haus, im Eigentum oder zur Miete, auf dem Land oder in der Stadt wohnt. Sie ist als zentrale Einnahmequelle für unsere Kommunen natürlich von ganz besonderer Bedeutung, damit vor Ort eben die entsprechenden Angebote für alle Bürgerinnen und Bürger bezahlt werden können. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, das heißt auch: Wir reden über 35 Millionen Wohneinheiten in ganz Deutschland, die innerhalb kürzester Zeit für die Grundsteuer neu bewertet werden müssen. Schon an der Zahl 35 Millionen Wohneinheiten sieht man doch: Die Berechnung muss halbwegs einfach sein, sonst wird das ganze Modell, die ganze Umstellung nicht funktionieren. ({0}) Deshalb schlagen wir vor – so haben wir es heute in unserem Antrag vorgelegt –, dass wir uns an der Grundstücksfläche und Gebäudefläche orientieren und es dabei belassen. Ihr Modell, das Modell der Koalitionsfraktionen, dagegen ist maximal kompliziert, aber nicht gerechter als andere Modelle. Warum ist es kompliziert? Was ändert sich für die Bürger? Jeder Bürger in Deutschland muss künftig eine Grundsteuererklärung abgeben. Künftig gibt es nicht nur die Einkommensteuererklärung, sondern jeder muss auch eine Grundsteuererklärung abgeben. Wir schätzen, dass 2 000 bis 7 000 neue Finanzbeamte gebraucht werden, nur um die Umstellung umzusetzen und die künftige Bewertung hinzubekommen. ({1}) Wenn es überhaupt so viele Beamte geben sollte, wenn man diese finden sollte, dann könnte man, wie ich meine, mit ihnen wirklich Besseres machen. Wir kriegen die Umsatzsteuerkarusselle nicht in den Griff, wir kriegen Betrugsmodelle wie Cum/Ex nicht in den Griff, viele Bürger warten lange auf die Bescheidung ihrer Einkommensteuererklärung. Dort bräuchten wir doch wirklich mehr Ressourcen, und nicht für die Aufrechterhaltung der Grundsteuer. ({2}) So könnte man weitermachen. Die Bodenrichtwerte gibt es nicht überall in gleicher Qualität, Sie werden also noch mehr Gutachter brauchen – und, und, und. Insofern: Herr Minister Scholz, Sie haben gesagt: Es wird einfacher. – Ich biete Ihnen an: Wenn Sie mir einen Bürger bringen, der nach Umsetzung Ihrer Reform sagt: „Für mich ist es einfacher geworden“, dann lade ich Sie zum nächsten Bundesligaspiel des Hamburger Sport-Vereins ein. Ich fürchte, wir werden nicht gemeinsam dort landen, aber das werden wir sehen. Das Angebot jedenfalls steht. ({3}) – Es gibt offensichtlich unterschiedliche Zukunftsprognosen für den Hamburger Sport-Verein hier im Raum. ({4}) Aber ich möchte zurück zur Grundsteuer. Noch ein Punkt ist anzusprechen, weil wir ihn tatsächlich nicht verstehen. Wenn Sie Bodenrichtwerte, wenn Sie Mietspiegel heranziehen, dann hat das doch unweigerlich zur Folge, dass dort, wo Bodenrichtwerte steigen, wo das Mietniveau steigt, also dort, wo die Lage auf dem Wohnungsmarkt schon heute angespannt ist, die Grundsteuer automatisch besonders stark steigt. Wie kann das ein sozialdemokratischer Minister eigentlich richtig finden? Das ist genau das Gegenteil von dem, was eigentlich angezeigt wäre. ({5}) Also, Ihr Konzept verursacht zusätzlichen Verwaltungsaufwand, macht Wohnen gerade in den teuren Lagen noch teurer und wird aus diesem Grund die Zustimmung unserer Fraktion so nicht finden, Herr Minister Scholz, liebe Koalitionsfraktionen. ({6}) Nun hat ein Teil der Koalition, vor allem in der Union, erkannt, dass dieses Modell seine Tücken hat. Trotzdem, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, haben Sie als Koalitionsfraktionen das Modell von Herrn Scholz heute eingebracht. Es ist Ihr Modell, es bleibt Ihr Modell. Für die Bürokratie und auch für die Auswirkungen auf den Wohnungsmarkt bleiben auch CDU und CSU in der Verantwortung. ({7}) Nun hoffen Sie auf eine Öffnungsklausel. Es ist doch bemerkenswert: Sie haben eine Koalition, die ein Grundsteuergesetz machen soll. Sie einigen sich auf ein Modell, das ein Teil der Koalition, vor allem in der Union, nicht gut findet, bringen es trotzdem hier ein, aber versehen mit einem Hinterausgang, von dem Sie hoffen, dass ihn jeder benutzt. Was ist das denn für eine Stringenz, die wir da in Ihrer Politik sehen? ({8}) Das zeigt doch, dass Sie in dieser Koalition eigentlich schon längst in Scheidung leben, wenn Sie nicht einmal mehr ein gemeinsames Grundsteuergesetz hinbekommen. ({9}) Nun brauchen Sie die Opposition, um ein Grundsteuergesetz zu machen, weil Sie es auf Basis der geltenden Verfassung anders gar nicht schaffen. Das ist bemerkenswert. Wir werden uns das trotzdem anschauen; denn jeder Bürger, den man vor den bürokratischen Belastungen des von Ihnen vorgelegten Entwurfes schützen kann, hat einen Vorteil. Das heißt, ein Gesetz mit Öffnungsklauseln ist natürlich besser als das reine Modell, das Sie vorgelegt haben. ({10}) Wir werden uns das anschauen. Aber dass Sie ein ganz schwaches Konzept aufgestellt haben, das zeigt sich schon daran, dass Sie es selber durch Öffnungsklauseln reparieren müssen. ({11}) Wir werden das begleiten. Aber wir sagen Ihnen ganz deutlich: Die Grundentscheidung, die Sie bei der Grundsteuer getroffen haben, geht in die völlig falsche Richtung. ({12})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr, Herr Kollege Toncar. – Nur für das Protokoll: Haben Sie Herrn Bundesminister Scholz bei der Wette ein Spiel in der Ersten oder in der Zweiten Bundesliga angeboten? ({0}) Nächster Redner ist der Kollege Jörg Cezanne, Die Linke. ({1})

Jörg Cezanne (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004693, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Gesetzespaket der Großen Koalition zur Grundsteuer vertieft die Steuerungerechtigkeit, wird viele Mieterinnen und Mieter zusätzlich belasten und belohnt die politische Sektiererei der CSU und des Landes Bayern. Offensichtlich konnte die CSU die Koalitionspartner bei der Grundsteuer weiter erpressen. Sie konnte eine Öffnungsklausel durchsetzen, durch die in Bayern bei der Grundsteuer anderes Recht gelten soll als im restlichen Bundesgebiet. ({0}) Dies stellt die vom Grundgesetz geforderte Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse weiter infrage. Wir lehnen solche Kleinstaaterei ab. ({1}) Dabei erleben wir bei der Pkw-Maut gerade, in welches Desaster solche CSU-Extrawürste führen. ({2}) Hier hatte sich die CSU mit ihrer Ausländermaut erst inhaltlich völlig verrannt, hat dann mit quasi erpresserischen Mitteln eine allgemeine Pkw-Maut gegen die Kanzlerin, gegen die Schwesterpartei, gegen den Koalitionspartner, gegen die Mehrheit der deutschen Bevölkerung durchgesetzt, und am Ende hat CSU-Minister Scheuer noch einen Schaden für den Bundeshaushalt von wahrscheinlich mehreren Hundert Millionen Euro verursacht. Wenn der Herr Finanzminister zu Recht fordert, man solle um seine Verantwortung wissen, dann müsste die CSU vielleicht mal was dazulernen. ({3}) Im Zusammenhang mit der Grundsteuer ist natürlich die vielleicht allerwichtigste Frage, wie Mieterinnen und Mieter als schwächste Teilnehmer am Immobilienmarkt entlastet oder zumindest vor weiteren Belastungen geschützt werden könnten. Bezahlbarer Wohnraum ist in den Großstädten zur zentralen sozialen Frage geworden. Zum Beispiel berichtet das Statistische Bundesamt, dass der Anteil am Einkommen, den Menschen für Wohnkosten aufwenden müssen, bei armutsgefährdeten Personen bei 48 Prozent liegt, bei armutsgefährdeten allein lebenden Personen sogar bei 57 Prozent. Die Schmerzgrenze ist hier seit Langem überschritten. ({4}) Ein einfacher Weg, im Zusammenhang mit der Grundsteuer hier für Entlastung zu sorgen, wäre – das hat jetzt mit der Grundsteuer direkt nichts zu tun, steht aber damit im Zusammenhang –, die Überwälzung der Grundsteuer über die Nebenkostenabrechnung auf die Mieterinnen und Mieter endlich abzuschaffen. ({5}) Gegen diese Überwälzung der Grundsteuer spricht nicht nur die ohnehin hohe Belastung der Mieterinnen und Mieter. Wenn, wie im Modell des Bundesfinanzministers, die Miethöhe in die Berechnung der Grundsteuer einbezogen wird, dann zieht eine Mieterhöhung auch gleich noch eine Nebenkostenerhöhung wegen gestiegener Grundsteuer nach sich. Herr Innenminister – er ist dafür zuständig –, ändern Sie die Betriebskostenverordnung! Schaffen Sie die Umlagefähigkeit der Grundsteuer auf die Mieten ab! ({6}) Aber auch das bayerische Modell der Flächensteuer hat erhebliche Nachteile für Mieter: Zukünftig wird 1 Quadratmeter Wohnfläche in einer Luxusvilla am Starnberger See kaum mehr Grundsteuer kosten als die Sozialwohnung in München, weil eben nur die Fläche, aber nicht das darauf stehende Gebäude angerechnet werden soll. Die Gesamteinnahmen sollen am Ende im Land Bayern aber gleichbleiben. Sie können ja selber mal versuchen, nachzurechnen, wer höhere Grundsteuer zahlen wird. Selbstverständlich, mit Wahrscheinlichkeit, zahlen die Villenbesitzer weniger und die Sozialmieter mehr. CSU: Christlich-Soziale Ungerechtigkeit. ({7}) Für die Städte und Gemeinden – das ist ja jetzt schon deutlich geworden, und das haben wir auch immer betont – ist die Grundsteuer eine wesentliche Einnahmequelle. Sie ist von zentraler Bedeutung. Sie haben selbst Einfluss auf deren Höhe. Das ist halbwegs demokratisch kontrolliert über Wahlen, über Bürgerbeteiligung. Man ist vor Ort näher dran als der Deutsche Bundestag. Insofern ist es gut und richtig, dass es zu einer Einigung gekommen ist. Der Verkehrs- oder Marktwert wäre nach unserer Meinung die gerechteste Bemessungsgrundlage für die Grundsteuer, gerade wenn die Vermieter die Grundsteuer selbst bezahlen müssen. Denn der Verkehrswert spiegelt Wert und Nutzung des Grundstücks und der darauf stehenden Gebäude umfassend wider. Bereits 2012 hatte die OECD Deutschland empfohlen, Immobilien stärker anhand dieses Verkehrswertes zu besteuern. Und sie hat recht. ({8}) Insofern haben wir die Wertorientierung im Grundsteuermodell von Herrn Scholz immer unterstützt. Wir hätten sie gerne verstärkt, weil damit die Finanzämter endlich mal eine vernünftige öffentliche Erfassung der Immobilienvermögen im Land durchführen müssten. Vielleicht scheut Bayern ja auch deshalb jede Werterfassung bei der Grundsteuer, weil dort die Ungleichheit in der Verteilung der Immobilienvermögen wahrscheinlich noch schlimmer ist als im Rest der Republik. Abschließend zur Grundsteuer C. Es gibt eine große Zahl von baureifen Grundstücken, die von den Eigentümern aber nicht bebaut werden. Das hat nicht nur, aber auch mit Spekulation auf steigende Grundstückspreise zu tun. Es erschwert aber auch die optimale Nutzung von Bauland und zwingt an manchen Stellen zu zusätzlichem Flächenverbrauch. Die im Gesetzespaket enthaltene Grundsteuer C bewirkt eine höhere Steuer für solche baureifen Grundstücke und ist richtig. Wir schlagen vor, den Steuermessbetrag für diese Grundstücke endlich anzuheben, um diese Wirkung zu verstärken. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Ich erteile das Wort dem Kollegen Stefan Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Stefan Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004877, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Monatelang zittern und bangen die Kommunen jetzt schon, ob eine Grundsteuerreform bis Ende des Jahres zustande kommt. Ich zitiere den Kämmerer von Braunschweig, der – genauso wie viele andere in den letzten Wochen und Monaten – gesagt hat: Das wäre verheerend, denn wie sollten wir einen solchen Ausfall kompensieren? Für viele Kommunen würde das den Bankrott bedeuten ... Ja, genau so ist es. Deshalb ist es wichtig – wir Grüne wissen das –, dass wir endlich bei der Grundsteuer vorankommen. Die Kommunen sind auf die 14,8 Milliarden Euro angewiesen. Es geht um die Daseinsvorsorge vor Ort. Es geht darum, wie wichtig uns gut ausgestattete Schulen, lebendige Kitas, Schwimmbäder, die erhalten bleiben und geöffnet sind, örtliche Parks oder auch ein gut funktionierender Nahverkehr vor Ort sind. Es geht um nichts Geringeres als um die Lebensqualität in Deutschland, die vor Ort sichergestellt wird. Deshalb bin ich erleichtert, dass nun endlich ein Gesetzentwurf auf dem Tisch liegt. Endlich kann die parlamentarische Beratung hier beginnen. ({0}) Uns Grünen ist wichtig, dass die Grundsteuer gerecht ausgestaltet wird. Das bedeutet, dass Werte besteuert werden müssen und dass auch Gebäude die Höhe der Steuer mitbestimmen müssen. Eine Villa im Zentrum kann doch nicht genauso bewertet werden wie das Austragsstüberl auf dem Dorf. ({1}) Hier geht der Gesetzentwurf in die richtige Richtung. Dafür haben wir Grünen uns mithilfe unserer Finanzministerinnen in den Ländern starkgemacht und eingebracht. ({2}) Allerdings sind es nach wie vor die Mieterinnen und Mieter, die die Grundsteuer zahlen, auch wenn es eigentlich die Vermieterinnen und Vermieter sind, die von den Wertsteigerungen ihrer Immobilie profitieren. Wir wollen diese Ungerechtigkeit endlich abschaffen und die Umlagefähigkeit der Grundsteuer auf die Mieten streichen; Herr Cezanne hat das schon angesprochen. Dazu haben wir Grüne entsprechende Initiativen an die Bundesregierung gerichtet. Wir haben auch einen konkreten eigenen Gesetzentwurf eingebracht. Ich bitte Sie wirklich: Lassen Sie uns darüber sprechen! Es kann doch nicht sein, dass diejenigen, die von der Wertsteigerung profitieren, am Ende nicht auch das bezahlen müssen, was letztendlich vom Staat eingenommen wird. ({3}) Inzwischen sind 14 Monate seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Grundsteuer vergangen. 14 Monate hat sich die Koalition Zeit gelassen und sich dann auf den kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt, mit der Konsequenz, dass nun nur noch sechs Monate Zeit bis zum Ablauf der Frist bleiben. In diesen sechs Monaten muss eine so grundlegende Reform beraten werden, und das Grundgesetz muss dafür geändert werden. Dabei beginnen doch erst jetzt die Debatten mit uns als Opposition hier im Parlament und mit den Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern vor Ort, mit den Stadt-, Markt- und Gemeinderäten, also mit all denjenigen, die sich künftig auch mit der Kritik und den Fragen der Bürgerinnen und Bürger auseinandersetzen werden müssen. Das ist doch ein ziemliches Missverhältnis. Ich wünsche mir, dass die Menschen, die vor Ort Politik gestalten, früher eingebunden werden und nicht erst dann, wenn irgendwie ein halbgarer Kompromiss steht, zu dem sie sich dann vor Ort äußern müssen. ({4}) Monatelang hat die CSU im Kabinett die Reform für alle Bundesländer auf Kosten der Kommunen blockiert, genauso wie bei anderen Themen wie der Pkw-Maut – Herr Cezanne hat das angesprochen –, der Einrichtung von AnKER-Zentren, dem Abstand von Windkraftanlagen zur Wohnbebauung. Da stört es die CSU überhaupt nicht, wer am Ende auf der Strecke bleibt; Hauptsache, sie setzt ihren Willen durch, notfalls auf Kosten der anderen. Dass sich die CDU letztlich zum Steigbügelhalter einer solchen Taktik gemacht hat und die SPD wehrlos dabeisteht und nur zusieht, ist für mich einfach unbegreiflich. ({5}) CDU und CSU wollten unbedingt ihr ungerechtes Flächenmodell durchsetzen, ein Modell, das den eigentlichen Wert von Gebäuden sowie von Grund und Boden in keinster Weise abbildet. Da das aber mit der Mehrheit der Länder nicht zu machen war, musste es jetzt die Länderöffnungsklausel sein, damit die Union, insbesondere die CSU, ihre Extrawurst bekommt. Dazu heißt es im Gesetzentwurf der Bundesregierung, eingebracht von CDU/CSU und SPD – ich zitiere –: Mit einer Länderöffnungsklausel „könnte das Problem ungleicher Lebensverhältnisse zwischen Ländern bzw. einzelnen Regionen verschärft werden“. Ich zitiere weiter: „Ebenso sprechen Gerechtigkeitsaspekte gegen ein Nebeneinander von wertabhängigen und wertunabhängigen Bemessungsgrundlagen im Bundesgebiet.“ Mehr braucht man dazu wirklich nicht mehr zu sagen. ({6}) Lassen Sie mich zum Schluss noch eine Bemerkung zu einer anderen Sache im Rahmen dieser Behandlung machen. Es ist doch ein Treppenwitz, dass ausgerechnet das Bundesland, für das die Ausnahme gemacht wurde, jetzt für die Umsetzung der Regel zuständig sein soll. Die bayerische Verwaltung soll für die Länder die Technik für die Grundsteuer programmieren, obwohl sie der Freistaat selbst gar nicht nutzen will. Zu Recht befürchten da die anderen Länder, dass der Bock zum Gärtner gemacht wird. Da gilt es jetzt, wirklich aufzupassen. Wir Grüne werden im Beratungsverfahren aufpassen, dass die Grundsteuer möglichst gerecht ausgestaltet wird. Wir kämpfen dafür, dass diese zentrale Säule der Städte- und Gemeindefinanzen nicht parteitaktischem Kalkül geopfert wird. ({7}) Wir kämpfen für die Schulen, die Kitas und die Schwimmbäder vor Ort. Vielen Dank. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort der Kollege Bernhard Daldrup, SPD. ({0})

Bernhard Daldrup (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004258, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Minister hat das Modell bzw. den Gesetzentwurf vorgestellt. Diese Reform findet unsere Zustimmung. Ich will noch einmal an drei Daten erinnern. 2018 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass wir handeln müssen. 2019, in diesem Jahr, muss das Gesetz unweigerlich im Gesetzblatt stehen. Ab 2025 wird das neue Grundsteuerrecht in ganz Deutschland dauerhaft gelten. Egal welches Modell man wählt, Herr Toncar – falls Sie eines haben –, man braucht eine Steuererklärung. Das gilt für alle Varianten. ({0}) Die Zahl 35 Millionen – so viele sind davon betroffen – erschreckt zwar immer alle Leute. Aber unsere Steuerverwaltung hat es beispielsweise bei der Einkommensteuererklärung jedes Jahr mit einer noch viel größeren Zahl zu tun, aber das nur am Rande. Das Volumen der Grundsteuer in Deutschland beläuft sich jährlich auf 15 Milliarden Euro. Das sind in einer Legislaturperiode 60 Milliarden Euro. Mit anderen Worten: Von der Bedeutung her ist es ein Gesetz, dessen finanzielle Auswirkungen so groß sind wie bei kaum einem anderen Gesetz. ({1}) Wenn das danebenginge, würde die Grundsteuer also nicht gesichert, kämen nicht nur die Kommunen in Deutschland in eine ausweglose Situation, sondern das würde das öffentliche Finanzierungssystem insgesamt, glaube ich, in eine sehr schwierige Situation bringen. Deswegen werden die drei Gesetze für uns ein Beitrag dazu sein, die kommunale Selbstverwaltung in Deutschland, ({2}) die finanziellen Grundlagen der Kommunen und die Handlungsfähigkeit der kommunalen Demokratie zu sichern. Das alles sind ganz wichtige Aspekte. Das ist in früheren Legislaturperioden – seit Jahrzehnten wird darüber diskutiert – nicht gelungen. In dieser Legislaturperiode gelingt es. Das ist ein Fortschritt. ({3}) Die Grundsteuerreform ist keine Steuererhöhungsreform, sondern sie stellt die Grundsteuer auf eine verfassungssichere Basis und macht sie zukunftsfest. Sie ist auch deutlich einfacher, Herr Toncar, auch wenn Sie es nicht wahrhaben wollen. ({4}) Das Gesamtvolumen der Steuer soll im Wesentlichen gleich bleiben. Das stellen wir mit der radikalen Absenkung der Steuermesszahl im Grundsteuergesetz sicher. Der Minister hat das im Einzelnen erläutert. Ich will das nicht wiederholen. Bürgerinnen und Bürger, Mieterinnen und Mieter müssen sich vor der Grundsteuerreform nicht fürchten. Sie wird nicht dazu führen, dass Wohnungen unbezahlbar werden, wie dies von interessierten Medien à la „Bild“-Zeitung oder von Lobbyverbänden à la Haus & Grund immer wieder falsch dargestellt wird. So ist es nicht. Wer so falsch argumentiert, muss sich nicht wundern, wenn die Umlage der Grundsteuer auf die Miete – berechtigt – in Zweifel gezogen wird. Die Grundsteuerbelastung ist heute individuell mit durchschnittlich 18 bis 20 Cent pro Monat und Quadratmeter der Wohnung eine Belastung der Bürgerinnen und Bürger, zweifellos. Ja, aber sie treibt niemanden aus seiner Wohnung, und sie macht das Wohnen für niemanden unbezahlbar. Das ist einfach Propaganda und Populismus. Das will ich an dieser Stelle deutlich sagen. ({5}) Wie hoch die Grundsteuerbelastung vor Ort ist, entscheidet am Ende der Stadtrat. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten vertrauen der kommunalen Selbstverwaltung, weil wir wissen, dass die Mitglieder der Räte ebenso ihre Verantwortung gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern ihrer Gemeinde wahrnehmen, wie wir es tun. ({6}) Wir haben den nötigen Respekt vor der kommunalen Selbstverwaltung. Diesen sollten auch andere ihr zollen. ({7}) Unser Reformvorschlag verfolgt im Wesentlichen drei Ziele: Das sind die Sicherung der Bundeskompetenz für die Grundsteuer im Grundgesetz und der Erhalt einer wertabhängigen Grundlage für die Berechnung der Grundsteuer, weil wir eine gerechte Steuer wollen. Hinzu kommt übrigens die Grundsteuer C, die es den Kommunen ermöglichen soll, Baulücken besser zu schließen, Spekulationen zu begrenzen und eine verantwortungsvolle Bodenpolitik zu betreiben. Es wäre gut, wenn wir das im Gesetzgebungsverfahren noch präzisieren könnten. Ich mache gar keinen Hehl daraus, dass die Öffnungsklausel, die in das Grundgesetz aufgenommen werden soll, um den Ländern eine eigene Gesetzgebungskompetenz zu eröffnen, für uns eine immense Hürde bedeutet. Ich sage an dieser Stelle auch: Sie ist durch ein Verhalten der CSU, dem ich keinen politischen Anstand attestiere, erzwungen worden. ({8}) – Doch, doch, Herr Michelbach; doch, doch. Im Abwägungsprozess ist jedenfalls für uns die staats­politische Verantwortung für die Kommunen in ganz Deutschland wichtiger, als es vermeintliche Argumente über Föderalismus sind, die in Wirklichkeit nichts anderes als Ausdruck von Provinzialität und Kleinstaaterei sind. ({9}) Das sollte sich vielleicht auch der Minister, der für gleichwertige Lebensverhältnisse zuständig ist, merken. Er ist gerade nicht da, aber vielleicht kann man es ihm übermitteln. ({10}) Es wäre abwegig, wenn auf längere Sicht die Öffnung zu zahlreichen unterschiedlichen Grundsteuermodellen in Deutschland führen würde; ausgeschlossen ist das aber leider nicht. Überdies erfüllt eine Flächensteuer überhaupt nicht unsere Vorstellungen von einer gerechten Steuer; das wurde schon verschiedentlich dargestellt. ({11}) Der Besitzer eines Hauses auf einem großen Grundstück am Stadtrand muss in Ländern mit dem Flächenmodell künftig mehr Grundsteuer zahlen als der Villenbesitzer auf teurem Grundstück. Das kann doch nicht wahr sein; das kann doch nicht Ihre Absicht sein. ({12}) Gerecht ist ein Einfach-Modell nicht; es ist ein Einfach-ungerecht-Modell, wenn es so kommen sollte. Um der Zersplitterung der Grundsteuer entgegenzuwirken, ist das Bundesrecht maßgeblich für die Berechnung im Länderfinanzausgleich; ein Sachverhalt, der eigentlich auch ins Grundgesetz gehört. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein letzter Satz. Wir sowie Grüne, FDP und Linke tragen in den Ländern in ganz unterschiedlichen Konstellationen gemeinsam Regierungsverantwortung. Wir alle tragen Verantwortung dafür, dass diese Reform gelingt. ({13}) Deswegen taugt die Grundsteuerreform nicht dazu, Grundstückseigentümer oder Mieterinnen und Mieter zu verunsichern. Im Gegenteil: Die Grundsteuerreform sichert kommunale Handlungsfähigkeit und trägt damit ein Stück weit auch zum sozialen Frieden in den Städten und Gemeinden bei, und das sollte uns gemeinsam wichtig sein. Herzlichen Dank. ({14})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Kay Gottschalk, AfD, ist der nächste Redner. ({0})

Kay Gottschalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004731, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Bürgerinnen und Bürger! Liebe Kollegen! Alle Anträge und Redebeiträge – dafür möchte ich mich zunächst bedanken – haben eins gezeigt: Die Grundsteuer muss weg. Sie ist reform­unfähig, und sie ist sozial ungerecht. ({0}) Ich will das exemplarisch an einigen wunderschönen Anträgen, zunächst der Linken, verdeutlichen. Ein Antrag umfasst eine halbe Seite – immerhin; genauso inhaltsleer ist er auch –, und er zeigt den hundertjährigen geistigen Stillstand der Linken; da möchte ich die Grünen und die SPD gerne mit einschließen. Die Linken – ich zitiere – wollen „die Umlagefähigkeit der Grundsteuer“ auf die Miete „in der Betriebskostenverordnung ... streichen“. ({1}) Sie sagten es eben schon: 19 Cent pro Quadratmeter macht das in Deutschland aus. Meine Damen und Herren, glauben Sie ernsthaft, dass durch diese Streichung oder durch Ihre unfähige Mietpreisbremse sich irgendetwas tut? Nein! Die Vermieter werden es in die Kaltmiete einpreisen. Sie haben von Marktwirtschaft eben keine Ahnung; das ist auch ein Kernproblem der SPD. Sie meinen das vielleicht in Ihrem roten Wolkenkuckucksheim; aber beim Denken haben Sie Pech. Nochmals: Der Vermieter wird es umlegen. ({2}) Aber der Antrag passt zumindest zu Ihrer roten und toten Geisteshaltung. Alles, was Besitz hat und schafft, nämlich die Leistungsträger – das ist für Sie ein Fremdwort –, ist für Sie Zahlvieh. Die, die überhaupt erst Wohnraum schaffen, wer ist denn das? Das sind Investoren und Eigentümer. Ihr Wohn- und Mietraum fällt nicht vom Himmel. ({3}) Das scheinen Sie zu meinen; dem ist nicht so. Deswegen müssen wir, um soziale Gerechtigkeit walten zu lassen, die Grundsteuer abschaffen. Denn was ist sozialer? ({4}) Meine Damen und Herren, wenn Sie wirklich die Bürgerinnen und Bürger da draußen entlasten wollen, dann folgen Sie dem Antrag der AfD und schaffen die Grundsteuer ab. Denn im Durchschnitt zahlt jemand, der hier in Berlin eine 50‑Quadratmeter-Wohnung hat, etwa 25 Euro monatlich über die Nebenkosten allein für die Grundsteuer. Wenn wir sie davon befreien, dann kriegen sie 25 Euro mehr im Monat. Das bringt mehr als jedes Gesetz, welches wir hier zur Steueränderung beschließen; das Familienentlastungsgesetz bringt nicht mal 10 Euro. Meine Damen und Herren, wir bringen Ihnen 25 Euro monatlich! Wir sind die einzige Mietpreissenkungspartei und damit die einzige soziale Partei, die hier in Deutschland verblieben ist. ({5}) Kommen wir zum sogenannten Gesetzentwurf der GroKo. Sie wollen die Grundsteuer C wieder einführen. Meine Damen und Herren, das ist ebenfalls ein Relikt, etwas, was schon einmal gescheitert ist. Das entspricht schon fast linkem Gedankenpotenzial. ({6}) Meine Damen und Herren von der CDU, schämen Sie sich eigentlich nicht langsam, dass Sie so ein Reptil noch mal einführen wollen? Am Ende des Tages geben Sie wieder den bayerischen Interessen nach, wollen eine Öffnungsklausel. Damit machen Sie das Ganze, meine sehr verehrten Damen und Herren da draußen, noch unsicherer. Sie werden vor dem Verfassungsgericht erneut scheitern, und dann werden Ihre Kommunen – da möchte ich nicht Bürgermeister sein – alles den Steuerpflichtigen erstatten müssen. Das ist Ihre solide Handwerkspolitik. Sie sind reformunfähig! Wie es mein Kollege Albrecht Glaser schon gesagt hat: Dieses Gesetz ist Murks! ({7}) Daher: Folgen Sie bitte unserem Antrag. ({8}) Was Sie hier vorlegen, ist ein wahrer Flickenteppich. Was Sie hier vorlegen, ist rechtlich unsauber; es wird nicht gelingen. Aus diesen Gründen, meine Damen und Herren, wird meine Fraktion diesem ganzen undurchdachten, unsozialen, verwaltungsaufblähenden Gesetz zur Grundsteuerreform nicht zustimmen. Folgen Sie lieber uns, bevor Sie erneut vor dem Verfassungsgericht landen, und das prognostiziere ich. Danke schön. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort Dr. Hans Michelbach, CDU/CSU. ({0})

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 15 Monate nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts liegt jetzt der Gesetzentwurf zur Grundsteuerreform vor. Drei Dinge waren uns als Union besonders wichtig: Die Reform sollte unbürokratisch, durchschaubar, nachvollziehbar und transparent sein. ({0}) Sie sollte eine Objektsteuer für Eigentümer und Mieter bleiben. Und sie sollte die Einnahmen der Kommunen aus der Grundsteuer sichern; denn eine Abschaffung und Schließung der Schwimmbäder, wie Sie von der AfD es letzten Endes wollen, ist kein Ergebnis, das wir akzeptieren können. ({1}) Der jetzt vorliegende Gesetzentwurf ist das Ergebnis eines zähen Ringens um unterschiedliche Grundsteuermodelle. Ich danke den Fraktionsführungen in der Koalition ausdrücklich für die Einigung auf diesen Gesetzentwurf. Herzlichen Dank dafür! ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Michelbach, der Kollege Gottschalk würde gerne eine Zwischenfrage stellen.

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, danke. – Am Ende steht jetzt eine Lösung mit einer umfassenden Öffnungsklausel, die, von den Ländern klug genutzt, Bürger und Betriebe vor Überforderungen schützen kann. Das ist übrigens keine Rechtszersplitterung und kein Flickenteppich, wie behauptet; denn die Grundsteuer ist ja schon heute von Kommune zu Kommune unterschiedlich, meine Damen und Herren. Es ist auch kein unfairer Steuerwettbewerb. Schließlich kann man eine Immobilie nicht einfach in ein anderes Bundesland transferieren. Ich bin auch sehr froh darüber, dass der Bundesfinanzminister auf seinen ursprünglich geplanten Metropolenzuschlag verzichtet hat. Er hätte die Mietpreisproblematik in Großstädten weiter verschärft. Wir von der Union haben vor allem deshalb für eine umfassende Öffnungsklausel gestritten, weil nur sie eine föderale Anpassung an die jeweilige spezifische Situation vor Ort ermöglicht. ({0}) Die föderale Anpassung, das ist das Ziel, und das wird auch damit erreicht. Das Diktum des Bundesfinanzministers, seine angeblich leistungsgerechte Besteuerung, konnte uns nicht überzeugen. Meine Damen und Herren, die jetzt vereinbarte Öffnungsklausel ist ein Gewinn für die Bürger, ein Gewinn für die Länder und auch ein Gewinn für die Kommunen. Sie bedeutet eine Stärkung der föderalen Ordnung. Wir waren gerade in der Föderalismuskommission doch immer für Eigenverantwortung bei den Ländern, und die gibt es hier. ({1}) Ich hoffe, dass viele Länder davon Gebrauch machen werden. Herr Bundesfinanzminister, ich wette, dass mindestens vier Länder diese Öffnungsklausel nutzen werden. Allerdings kann ich Ihnen keine Wette für den HSV anbieten. ({2}) Sie wollen ja sicher Erste Liga sehen. Ich biete Ihnen den FC Bayern an. Das passt dann schon besser. ({3}) Also, meine Damen und Herren, Herr Dr. Toncar, richtig ist: Der Gesetzentwurf ist in vielfacher Hinsicht nicht ideal; denn in jedem Gebäude wohnen ärmere und reichere Bewohner. Von daher ist diese pauschale Einteilung in Villenbesitzer und nach den Außenanlagen völlig fatal. ({4}) Es geht darum, dass die individuelle, gerechte Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit bei einer Objektsteuer überhaupt nicht erreicht werden kann. ({5}) Wir haben keine zweite Einkommensteuer, und wir haben keine Vermögensteuer, sondern wir haben eine Objektsteuer bei der Grundsteuer, meine Damen und Herren. Wir müssen uns da alle ehrlich machen: Es ist zumindest ein notwendiger Kompromiss, um den Kommunen diese Einnahmequelle zu sichern. Die Länder selbst konnten sich ja monatelang nicht einigen; deswegen musste der Bund handeln. Der Gesetzentwurf ermöglicht Aufkommensneutralität insgesamt für die Kommunen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass wir im Einzelfall keine Belastungsneutralität sicherstellen können. Ich wende mich dagegen, dass wir unter dem Wort „Aufkommensneutralität“ weiße Salbe bei den Bürgern verteilen. Hier stehen die Länder und die Kommunen mit ihrem Hebesatzrecht selbst in der Verantwortung; das müssen wir gerade jetzt unterstreichen. Ich hätte mir natürlich ein einfacheres, unbürokratischeres Flächenmodell ohne dauerhaft steigende Wertfaktoren gewünscht. ({6}) Die vorgesehene Öffnungsklausel ermöglicht dieses Modell, und Sie werden sehen, dass viele dieses Flächenmodell nutzen werden. Wir wollen keine permanenten Steuererhöhungen durch fiktive Wertfaktoren. Das Wohnen ist in vielen Städten schon teuer genug; da muss sich der Bund nicht noch als Mietpreistreiber betätigen. ({7}) In diesem Sinne wollen wir diesen Gesetzentwurf beraten. Wir haben gute Vorschläge auch im parlamentarischen Verfahren, um die Dinge weiterzuverfolgen. Wir brauchen ein Gesetz, das Eigentümer und Mieter schont. In diesem Sinne darf ich um die Zustimmung im parlamentarischen Verfahren werben. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Markus ­Herbrand, FDP. ({0})

Markus Herbrand (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004745, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich biete im Übrigen den 1. FC Köln. Wir sind da flexibel: Wir spielen mal erste und mal zweite Liga und können uns da anpassen. ({0}) Der Bundesfinanzminister hat – ich will mal freundlich bleiben – das Verfahren um diese Reform hier eben sehr schöngeredet. Die Wahrheit ist: Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist sehr viel – sehr viel! – wertvolle Zeit verstrichen wegen einer langen, kaum nachvollziehbaren Auseinandersetzung mit den Ländern, aber vor allem natürlich auch wegen alberner politischer Spielchen zwischen den Koalitionsfraktionen. ({1}) Und gerade wegen dieser Spielchen hat der Minister auch viel zu lange gewartet, die Opposition mit ins Boot zu holen, ohne die ja jetzt nichts geht. ({2}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, vor dem Hintergrund des Gestaltungsanspruchs der Regierung ist dieses Gesetzespaket ein Totalausfall. Leider – und das bedauern wir sehr – hat der Gesetzentwurf auch mit Vereinfachungen nichts mehr zu tun. Zum Teil, beispielsweise bei Geschäftsgrundstücken, wird ein sehr kompliziertes Sachwertverfahren implementiert; an anderer Stelle steckt das Ertragswertverfahren voller Wertmerkmale, die im Ergebnis einen Steuerturbo mit eingebauter Automatik darstellen. Der auf alle zukommende Erhebungsaufwand ist eine Katastrophe. Die Finanzminister der Länder können sich auf erheblichen Personalbedarf einstellen und auf neue IT-Kosten. Herr Kollege Daldrup, wir reden hier über 36 Millionen zusätzliche Steuererklärungen. Das hat mit der Einkommensteuererklärung wirklich gar nichts zu tun, die ja jedes Jahr anfällt. ({3}) Hier sind 36 Millionen zusätzliche Steuererklärungen zu bearbeiten. Mein Eindruck ist, dass jedes Bundesland heilfroh sein kann, wenn es das Schlechte-Scholz-Gesetz nicht umsetzen muss. Die Öffnungsklausel für die Länder gleicht daher eher einem Verzweiflungsakt, um zu retten, was zu retten ist. ({4}) In diesem Zusammenhang wird, glaube ich, auch noch einmal über den Freibetrag bei der Grunderwerbsteuer zu reden sein. Zudem steckt das Gesetzespaket voller Tücken. Mit welchen Auswirkungen rechnen wir beim Länderfinanzausgleich? Müssen dafür noch einmal komplizierte Bewertungsverfahren durchgeführt werden? ({5}) Immer noch unbeantwortet ist die Frage: Was ist eigentlich der Belastungsgrund für die Grundsteuer? Das Verfassungsgericht hatte explizit dazu aufgefordert, diesen Belastungsgrund zu benennen. ({6}) Und schließlich: Wohl nur die SPD hält ein bereits in der Vergangenheit gescheitertes Modell aus der Steuererhöhungsmottenkiste, die Grundsteuer C, für geeignet, die Nutzung von ungenutzten Grundstücken für Wohnzwecke zu verbessern. ({7}) Herr Minister Scholz, als Hamburger Bürgermeister waren auch Sie ein Verfechter unseres Vorschlags. Wie wir wollten Sie damals ein einfaches und unbürokratisches Flächenmodell. Woher nun dieser Sinneswandel? Auch die CSU und große Teile der CDU finden das Flächenmodell besser als das, was uns hier vorgelegt wird. Deshalb erneut unser Antrag: Wir wollen diesen Kolleginnen und Kollegen gerne noch einmal die Gelegenheit geben, für ihre eigene Überzeugung zu stimmen. ({8}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieses Gesetz ist ein Gesetz der verpassten Chancen; denn das System wird weder vereinfacht noch langfristig auf gesunde und verfassungsfeste Füße gestellt. Klagen werden nicht lange auf sich warten lassen; das sage ich Ihnen voraus. Die Grundsteuer ist für die Kommunen aber zu wichtig, um sie für politische Spielereien zu missbrauchen. ({9}) Wir setzen auf die Kraft guter Argumente, und diese werden wir in den Beratungen tatkräftig einbringen. Herzlichen Dank. ({10})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Fritz Güntzler, CDU/CSU, ist der nächste Redner. ({0})

Fritz Güntzler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004285, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute ist ein guter Tag für die Kommunen, weil wir es geschafft haben, einen klugen Kompromiss für die Grundsteuerreform zu finden. Ich wundere mich schon, wie einfach es sich hier manche machen und sagen: Das lag ja alles auf der Straße, man hätte es einfach nur beschließen müssen. – Herr Kollege Herbrand, wenn Sie einmal mit den Ländern diskutieren würden – Sie sind ja auch an Landesregierungen beteiligt –, würden Sie feststellen, dass es für das Flächenmodell in den Ländern derzeit keine Mehrheit gibt. Das muss man auch sehen. ({0}) Von daher musste man einen klugen Kompromiss finden; denn das Bundesverfassungsgericht – Sie haben es angesprochen; das ist ja richtig – hat in seinem Leitsatz gesagt: Wir können als Gesetzgeber den weiten Spielraum ausnutzen, müssen aber den Belastungsgrund oder den Rechtfertigungsgrund der Grundsteuer benennen. – Die Debatte darüber haben wir lange geführt und sind zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Die einen vertreten die Auffassung, dass die Grundsteuer eine Leistung der Bürgerinnen und Bürger für die Nutzung der Infrastruktur einer Stadt ist. So weit ist man sich noch einig. Die Frage ist nun: Was ist die Grundlage für die Bewertung der Grundsteuer? Ist es eigentlich richtig, dass die stärkere finanzielle Leistungsfähigkeit eines Bürgers dazu führt, dass er eine höhere Grundsteuer und damit letztendlich eine höhere Gebühr für die Nutzung der Infrastruktur zahlt? Man kann auch zu einer anderen Auffassung kommen und ist dann bei einem Äquivalenzmodell, wenn man davon ausgeht, dass wir die Umverteilung bzw. die Ungleichheit bei der Einkommensverteilung und die Gerechtigkeitsfragen eben mit der Einkommensteuer lösen. Ich erinnere daran, dass 10 Prozent der Einkommensteuerzahler über 50 Prozent des Einkommensteuervolumens aufbringen. Da haben wir also eine Steuer, die genau diese Aufgabe erfüllt. Von daher ist die Frage, ob die Grundsteuer dafür das richtige Instrument ist. Aber man muss die Debatten einfach auch zur Kenntnis nehmen. Politik beginnt bekanntlich mit dem Betrachten der Realitäten. Von daher halte ich das, was wir hier machen, für einen sehr klugen Kompromiss. Das Bundesgesetz, das als Entwurf vorliegt, können die Länder anwenden. Es ist weiterhin eine Wertorientierung vorgesehen. Zur Wahrheit gehört, dass auch die Einheitswertermittlung von 1964 bzw. 1935 ein wertorientiertes Modell war. Wir haben unser Modell aber so gestrickt, dass es weitaus einfacher wird. ({1}) Es ist nicht ganz so einfach wie ein Flächenmodell – das muss man auch sagen –; aber die Bewertung wird einfacher werden, insbesondere nachdem es im Prozess gelungen ist, von den tatsächlichen Mieten abzukommen und mit Listenmieten zu arbeiten und andere Vereinfachungen im Beratungsverfahren durchzusetzen. Nun gibt es diese beiden Lehren, die ich schon erwähnt habe. Von daher ist es doch klug, wenn man den Ländern die Möglichkeit gibt, davon abzuweichen, wenn sie ein anderes Modell wollen. Das ist übrigens auch föderaler Wettbewerb. Lieber Bernhard Daldrup, du hast zu Recht hier die kommunale Selbstverwaltung gelobt, die Subsidiarität. Aber ist es nicht gelebte Subsidiarität, wenn wir den Ländern die Möglichkeit geben, ein anderes, ein besseres Gesetz zu machen als das Bundesgesetz? ({2}) Von daher, glaube ich, sollten wir die Chance nutzen, die Subsidiarität und die Verantwortung der Länder zu stärken. Ich freue mich schon auf die Debatten, die die Länder führen werden. ({3}) Denn es wird durchaus möglich sein, die Grundsteuer zielgenauer auszugestalten. Ich bin der festen Überzeugung, dass ein Grundsteuermodell in einem Flächenland wie in meinem Heimatland Niedersachsen anders sein muss als in der Metropole Hamburg. Die damaligen Diskussionen zum Kostenwertmodell im Bundesrat, wogegen Bayern und Hamburg gestimmt haben, sind ja angesprochen worden. In derzeitigen Gesprächen mit dem Hamburger Senat spüre ich eine gewisse Sympathie für ein Flächenmodell. Von daher bin ich gespannt, ob nicht die Freie und Hansestadt Hamburg eine der erste sein wird, die diese Öffnungsklausel nutzt. ({4}) Also, ihr macht was für euren eigenen Bürgermeister, den ehemaligen Finanzsenator Tschentscher in Hamburg. Von daher sollte man das, glaube ich, nutzen. Wir wissen, dass dieses Bundesgesetz natürlich Probleme in sich birgt, weil es eine Dynamisierung beinhaltet. Alle sieben Jahre werden die Werte neu festgestellt. Das wird eine schleichende Steuererhöhung zur Folge haben, weil ich nicht unbedingt darauf vertraue, dass die Hebesätze überall sofort angepasst werden. Und es ist natürlich bürokratischer; das muss man sagen. Im Gesetzentwurf steht ja schon, dass wir 3 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für eine erste Feststellung brauchen. Das müssen wir dann alle sieben Jahre machen. Beim Flächenmodell hätten wir die Chance, es einmal zu machen und es dann fortschreiben zu können. ({5}) Aber, wie gesagt, das ist Ländersache. Die Länder müssen sehen, wie sie es am besten administrieren können. Sie werden auch sehen müssen, wie sie ein Modell finden, mit dem sie das alles in fünf Jahren, die sie für die Umsetzung ja nur haben – vor dem Verfassungsgericht sind damals zehn Jahre gefordert worden –, umsetzen. Meine Damen und Herren, ich glaube, wir werden noch spannende Diskussionen haben, auch mit den Ländern. Ich hoffe, die Diskussionen über eigene Modelle in den verschiedenen Konstellationen, die wir in den Ländern bereits vorfinden, beginnen jetzt auch in den Ländern. Ich bin der Koalitionsspitze dankbar, dass wir jetzt diesen Kompromiss haben, dass wir die Klarheit für die Kommunen haben. Die 15 Milliarden Euro Gesamteinnahmen bleiben erhalten. Die Abschaffung der Grundsteuer ist keine Alternative, insbesondere wenn man nicht einmal sagt, wie man es letztendlich finanzieren will. Von daher ein guter Tag für die Kommunen! Ich bitte um Zustimmung nach der Beratung. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Christian Haase, CDU/CSU. ({0})

Christian Haase (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004286, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zurzeit ist Kieler Woche. Ich habe dort letzte Woche auf dem FördeForum gesprochen und die wunderbare Krawatte bekommen, die ich jetzt trage. Aber das ist nicht das, was ich Ihnen heute Morgen erzählen wollte, sondern, dass das Thema, um das es beim FördeForum ging, das Thema Grundsteuer war. Noch in der letzten Woche war die große Sorge der kommunalen Vertreter, die ich getroffen habe: Kommen wir überhaupt zu einem Ergebnis? Kriegen wir es hin, dass diese wichtige Einnahme für uns erhalten bleibt? – Deswegen bin ich froh, dass ich hier heute stehen kann und dass wir über eine Grundsteuerreform sprechen, die wir in den nächsten Jahren umsetzen werden. Ich muss ehrlich sagen: Wir sind auf der Zielgeraden, aber wir sind noch nicht im Ziel. Ich möchte an dieser Stelle zunächst einmal denjenigen danken, die dazu beigetragen haben, dass wir hier heute Morgen stehen: dem Bundesfinanzminister, unseren finanzpolitischen Experten, unseren Fraktionsvorsitzenden, Kollegen Daldrup und allen, die daran mitgewirkt haben. Schönen Dank, dass wir überhaupt so weit gekommen sind! ({0}) Wir erreichen wichtige Ziele. Darauf will ich nicht noch mal zu sprechen kommen. Ich will auf einen einzigen Punkt eingehen: Das ist die sogenannte Aufkommensneutralität in den Kommunen – ein wichtiger Punkt, über den viel diskutiert wird. Am Ende sind es nämlich die Kommunen, die über ihre Hebesätze entscheiden, wie hoch die Grundsteuer in einer Gemeinde ist oder wie hoch sie eben nicht ist. Wir müssen das in Glücksburg umsetzen, ganz im Norden, und in Oberstdorf, ganz im Süden. Ich finde es schon ziemlich unlauter von einigen, die uns als Kommunen unterstellen, irgendwelche Gewinnmitnahmen zu beabsichtigen. Das ist nicht Ziel der Kommunen. ({1}) Das ist nie der Ansatz dieser Grundsteuer gewesen. ({2}) Ich stelle mich des Weiteren ganz ausdrücklich gegen irgendwelche Horrorszenarien, die mit der Belastung durch die Grundsteuer aufgestellt werden. Gucken Sie mal auf Ihre Nebenkostenabrechnung. Die Grundsteuer beträgt in der Regel weniger als die Kosten für den Hausmeisterservice oder den Gärtner. ({3}) Es geht die Welt nicht unter, wenn wir irgendetwas an dieser Grundsteuer ändern. Aber, meine Damen und Herren, wir müssen ehrlich sein: Es wird bei dieser Grundsteuerreform Gewinner und Verlierer geben. Das muss auch so sein; denn würden nachher alle das Gleiche wie vorher zahlen, wäre die Forderung des Bundesverfassungsgerichts, wir müssen zu anderen Ergebnissen kommen, nicht erfüllt. Es wird also so sein, dass in einer Kommune in gefragten Lagen mehr bezahlt werden muss und in weniger gefragten Lagen womöglich weniger bezahlt werden muss. Aber auch da will ich mit etwas aufräumen: Das gilt immer innerhalb einer Kommune. Gucken wir uns mal die eine oder andere Kommune an. Ich nehme mal die Gemeinde Starnberg, die so häufig im Zusammenhang mit der Forderung genannt wird: Wir müssen auch dafür sorgen, dass in Starnberg mehr Grundsteuer bezahlt wird als in anderen Gebieten. – Das wird sich wahrscheinlich gar nicht ändern. Die Gemeinde Starnberg hat Grundsteuereinnahmen in Höhe von 4 Millionen Euro. Wenn wir überlegen, was seit 1964 dort passiert, stellen wir fest: Alle Grundstücke haben an Wert gewonnen. – Ist das einigermaßen gleichmäßig passiert, wovon ich ausgehe, wird die Einnahme in der Gemeinde Starnberg am Ende immer noch 4 Millionen Euro betragen, und alle zahlen die gleiche Grundsteuer. Gucken wir auf meine Gemeinde, die Stadt Beverungen, in einem ländlichen Gebiet in Nordrhein-Westfalen: Grundsteuereinnahmen 2 Millionen Euro. Auch dort haben wir seit 1964 eine Entwicklung gehabt – vielleicht nicht ganz so wie in Starnberg, ({4}) aber leicht gleichmäßig ansteigend. Auch da erwarte ich keine großen Änderungen. Wo aber werden die Änderungen kommen? Zum Beispiel – jetzt gucke ich zu Ihnen, Kollege Daldrup – bei Ihrer Kollegin Strobl in München: 300 Millionen Euro Grundsteuereinnahmen und eine Stadt, die sich in ihren Teilbereichen seit 1964 unterschiedlich entwickelt hat. Da wird es Stadtteile geben, in denen damit gerechnet werden muss, dass dort mehr bezahlt wird, und Stadtteile, in denen weniger bezahlt wird. Genau da setzt die Idee der Länderöffnungsklausel an. Diejenigen, die mit dem Modell, das wir jetzt vorgelegt haben, genau die Disparitäten anders regeln wollen, die sagen: „Wir wollen nicht die starke Spreizung, die jetzt kommen wird“, haben dann die Möglichkeit, abzuweichen. Deswegen ist die Länderöffnungsklausel eher ein Segen als ein Fluch. Ein letztes Wort, Herr Präsident, in Richtung Grüne und in Richtung FDP. Der Stein ist von den Herzen der Kommunen gefallen. Bitte legen Sie jetzt nicht wieder einen drauf! Danke. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/11084, 19/11085, 19/11086, 19/11125, 19/7980 und 19/11144 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/8358 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen Federführung beim Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz, die Fraktion Die Linke wünscht Federführung beim Finanzausschuss. Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Die Linke abstimmen, also Federführung beim Finanzausschuss. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Das sind die Fraktionen der Linken und der AfD. Wer stimmt dagegen? – Das sind die übrigen Fraktionen. Dann ist der Überweisungsvorschlag gegen die Stimmen von Linken und AfD mit den Stimmen der übrigen Fraktionen abgelehnt. Damit lasse ich über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD abstimmen; da soll die Federführung beim Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz liegen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Dann ist, nicht überraschend, mit den genau umgekehrten Mehrheiten dieser Überweisungsvorschlag angenommen.

Dr. Bernd Baumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004662, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Deutschland geht die Angst um. Wer etwas gegen arabische Clans sagt, muss um sein Leben fürchten. Auch Deutschlands renommiertester Clanforscher Ralph Ghadban kann sein Haus jetzt nur noch unter Polizeischutz verlassen. Schon 2003 hatte er deutschlandweit Alarm geschlagen. Er warnte: Die Lage wird immer bedrohlicher. Es muss dringend was passieren. – Und was ist passiert in 16 Jahren? Die Clans wurden immer mächtiger, immer brutaler. Und das Konzept der Altparteien? Weglügen und wegbetrügen, die Multikulti-Träume sollten nicht an der Realität zerplatzen. Das war das Problem. ({0}) Und was ist heute Realität? Allein in Nordrhein-Westfalen zählt die Polizei heute über 100 kriminelle Großclans mit jeweils bis zu 900 Familienmitgliedern. Allein diese 100 Clans in NRW begingen in nur zwei Jahren über 14 000 Straftaten. Die häufigsten Verbrechen dabei: schwere Gewaltdelikte, Körperverletzung bis hin zur Tötung, Raubüberfälle mit Schusswaffen, Diebstahl, Schutzgelderpressung. Sie handeln mit Waffen, sie handeln mit Drogen, mit Menschen. Massenhaft und brutal zwingen sie junge Frauen in ihre Bordelle. Die Clans beherrschen ganze Stadtteile. Ob Essen, Bremen oder Berlin: Die Lage wird immer dramatischer. Wissen Sie, wie viele Mitglieder diese Clans mittlerweile haben? Wissen Sie das? 200 000! Meine Damen und Herren, das ist mehr, als die Bundeswehr Soldaten hat. ({1}) Auch die Polizei stellt hierzulande nur 270 000 Kräfte, und diese sind ja bereits heillos überlastet, müssen ja auch noch Abertausende gewaltbereite Islamisten beschatten. Kriminelle Clans und islamistischer Terror: beides, tödliche Folgen Ihrer verfehlten Politik. Sie überfordern nicht nur die Polizei, Sie überfordern unser ganzes Land. ({2}) Viele Polizisten vor Ort haben längst resigniert. Der Leiter der Dienststelle „Organisierte Kriminalität“ im Bundesland Bremen sagt wörtlich: Mit polizeilichen Mitteln ist das Problem nicht zu lösen. Die Strukturen sind … schon zu verfestigt. Die „FAZ“ resümiert: Die Polizei bekommt das Problem nicht in den Griff. … Alleingelassen von einer … desinteressierten Politik, hat sie weitestgehend kapituliert. Was tut die Politik jetzt? Nordrhein-Westfalens CDU-Innenminister jammerte jüngst im „Spiegel“: Wir haben es verpennt. ({3}) Verpennt? Das kann ein Schüler sagen, wenn er mal zu spät kommt. Ihr Nichtstun ist Staatsversagen und grenzt an Mittäterschaft. ({4}) Und um das zu verschleiern, produzieren Sie jetzt sogenannte Razzien und dramatische Fernsehbilder. Dutzende Polizeiwagen, nachts mit Blaulicht, sollen den Bürgern vorgaukeln, der Staat täte endlich irgendwas. Aber Experten wie der Vorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter sehen darin – wörtlich – „reine Showeffekte“ ohne echte Wirkung gegen die Clans. Glauben Sie doch nicht, dass die Bürger so dumm sind! Auf Dauer durchschauen sie diese Bilder als das, was sie sind: hohle Inszenierungen, meine Damen und Herren! ({5}) Die Clankriminalität wütet längst bundesweit. Es braucht bundesweite Lösungen. Wir fordern die Vernetzung aller Informationen aller betroffenen Behörden, die Verbesserung der rechtlichen, personellen und technischen Ausstattung der Polizei auf Bundesebene. ({6}) Wir brauchen endlich eine Gesamtstrategie. Wir müssen den massiven Angriff orientalischer Großfamilien auf unseren Rechtsstaat abwehren. Stimmen Sie unserem Zwölf-Punkte-Plan zu; ({7}) denn die Clans sind längst dabei, ihre Macht weiter auszubauen. Wie die Mafiaclans in Süditalien versuchen sie, Polizei und Justiz zu unterwandern. In einem offenen Brief warnen Beamte des Berliner Landeskriminalamtes, dass die – wörtlich – „Unterwanderung der arabischen Großfamilien bereits begonnen hat“. Auch in Schleswig-Holstein wurde jüngst ein Polizeianwärter bei Clanvergehen erwischt. Nach der Festnahme stellte er fest: Seine Familie sei für ihn – wörtlich – wichtiger als der Eid auf die Verfassung. – Das ist die Mentalität von Clans und Mafia. Jetzt dringt sie in unsere Sicherheitsorgane ein. Sehen Sie das nicht? Unser Staat ist in Gefahr! ({8}) Und was machen die Linksgrünen? Ihr Multikulti-Wahn macht Sie blind, Beispiel Berlin: Da regiert SPD mit Grünen und Linken. Sie wollen um jeden Preis mehr Polizeianwärter mit Migrationshintergrund. ({9}) Deren Anteil erreicht in Berlin jetzt schon 45 Prozent. Ein altgedienter Polizist beschreibt in der Presse die Stimmung an der Berliner Polizeiakademie – wörtlich –: In vielen Klassenräumen lag Müll und Dreck, … Auszubildende hatten ihre Füße auf dem Tisch. Polizeianwärter in Grüppchen sprachen ausschließlich türkisch oder arabisch. Ich hatte nicht das Gefühl, an einem Ort zu sein, wo Polizisten ausgebildet werden. Unsere eigenen Polizisten vor Ort fürchten die Unterwanderung. Sie haben zu Recht die italienischen Mafiaclans vor Augen. Sie wissen, wie zersetzend Clanbildung für den gesamten Staat sein kann, meine Damen und Herren. ({10}) Aber lassen Sie mich eins an dieser Stelle auch ganz deutlich sagen: Unzählige Migranten aus unterschiedlichsten Kulturen integrieren sich ja gut, von Vietnam über Polen bis nach Brasilien. Auch in der Polizei machen sie einen guten Job. Aber gerade dann fällt auf, wie bestimmte Gruppen aus dem Rahmen fallen. ({11}) Nur bei diesen weichen Normen und Werte so sehr ab, werden so aggressiv und rücksichtslos gelebt. Nur bei diesen geht die innere Abschottung so weit, dass die Polizei nicht mal verdeckte Ermittler einschleusen kann, wie sie es sonst bei organisierter Kriminalität tut. Die Polizei spricht von ethnisch-kultureller Kriminalität bzw. von Ethno-Clans, sieht also die Ursachen in der Herkunftskultur. Was wir hier bei uns sehen, ist der Zusammenprall grundsätzlich verschiedener Kulturen, meine Damen und Herren! ({12}) Selbst der „Spiegel“ spricht bei dem Clanproblem jetzt offen von einem Kampf der Kulturen. Die AfD weiß das schon lange. ({13}) Dafür beschimpfen uns die Linksgrünen bis tief in die CDU hinein als Rassisten. ({14}) Doch die Wahrheit gibt uns recht, meine Damen und Herren! ({15}) Wir müssen die Unterschiede besser verstehen. Experten wie Michael Lüders, der Präsident der Deutsch-Arabischen Gesellschaft, früher mal bei der SPD-Stiftung, sagt: Die Gesellschaften im Nahen Osten sind ganz anders als in Westeuropa. Sie sind, so Lüders wörtlich, von Clan- und Stammesstrukturen bestimmt. Einer der weltführenden Migrationsforscher, der Oxford-Professor Paul Collier sagt wörtlich: ({16}) Es gibt, so unbequem das sein mag, erhebliche kulturelle Unterschiede, die das soziale Verhalten prägen. Migranten bringen ihre Kultur mit. Und die Polizeipraktiker vom Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen bestätigen das – wörtlich –: Tradierte … Verhaltensmuster aus den Herkunftsgebieten … werden in Deutschland weitergelebt … Nehmen Sie das endlich zur Kenntnis: Kulturunterschiede können gigantisch sein. ({17}) Die Clans zeigen das in aller Brutalität. Wir müssen den massiven Angriff orientalischer Großfamilien auf uns und unseren Rechtsstaat abwehren. Nur so können wir unsere Kultur und Identität bewahren. Sie sind die Voraussetzung unserer Freiheit. Wir wollen nicht orientalisiert werden, meine Damen und Herren! Das muss einmal deutlich gesagt werden. ({18}) Ethnie, Kultur und Identität – das werden die Themen der nächsten Jahrzehnte sein. ({19})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Mathias Middelberg, CDU/CSU. ({0})

Dr. Mathias Middelberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004110, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Es ist, glaube ich, doch schon zu Anfang der Debatte der Zeitpunkt gekommen, um einige Dinge richtigzustellen und geradezurücken, ({0}) die Sie übersehen haben, Herr Kollege Baumann. Wir haben hier vor wenigen Wochen über den letzten Stand der Kriminalitätsstatistik diskutiert, und vielleicht ist Ihnen das entgangen: Wir haben den niedrigsten Stand der Kriminalität in Deutschland seit 1992, ({1}) den niedrigsten Stand der Kriminalität seit 27 Jahren. Das zeigt, dass auch unterschiedliche Bundesregierungen, unterschiedliche Bundesinnenminister insgesamt eine erfolgreiche Arbeit abgeliefert haben, auch die Polizeien vor Ort. ({2}) Wir haben im Übrigen auch die beste Aufklärungsquote seit 2005, also seit 14 Jahren. Aber – und das wollen wir auch gar nicht wegdiskutieren; insofern ist es gut, dass wir heute über das Thema sprechen –: Wir haben Probleme in ganz spezifischen Bereichen, auch in spezifischen Bereichen der organisierten Kriminalität, und dazu zählt die Clankriminalität. Diese Probleme mögen an dem einen oder anderen Punkt – das sage ich auch ganz offen – eine Zeit lang nicht angemessen beachtet worden sein, vielleicht auch übersehen worden sein und möglicherweise – da hat der Kollege Reul recht – auch „verpennt“ worden sein. Das liegt allerdings nicht in der Verantwortung des Kollegen Reul und der jetzt in Nordrhein-Westfalen amtierenden Regierung, sondern es hat Vorgängerregierungen gegeben, ({3}) die vielleicht das eine oder andere Phänomen geflissentlich, aus welchen Gründen auch immer, übersehen haben. ({4}) Der Kollege Jäger, der Vorgänger von Herrn Reul, hat seinerzeit ausgeführt, dass es sich aus polizeilicher Sicht verbiete, eine solche Kategorisierung, also etwa nach Clans, nach Familienstrukturen, vorzunehmen. Solche Scheuklappen dürfen wir uns in Zukunft nicht mehr leisten. ({5}) Das hat auch nichts mit Toleranz oder Rücksichtnahme auf Familienzugehörigkeiten zu tun. Da darf es keine Scheuklappen geben. Wir werden demnächst klare Lagebilder entwickeln, die diese Clanstrukturen offenlegen. Nordrhein-Westfalen – das sage ich sehr lobend in Richtung des Kollegen Reul – ist hier mit bestem Beispiel vorangegangen. ({6}) Die Innenminister haben jetzt zu Recht beschlossen, dass sich alle Bundesländer daran beteiligen, sodass wir zügig einen bundesweiten Überblick über die Clankriminalität erhalten.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Middelberg, der Kollege Peterka, AfD, würde gerne eine Zwischenfrage stellen.

Dr. Mathias Middelberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004110, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, die lasse ich nicht zu. Ich würde gerne im Zusammenhang vortragen. Es ist richtig, dass der Umfang der Straftaten erheblich ist. Allein in Nordrhein-Westfalen gab es 14 000 Straftaten in den letzten drei Jahren, ({0}) mit 6 500 Tatverdächtigen und über 100 beteiligten Großfamilien. Auch die Art und Intensität dieser Straftaten macht uns große Sorgen. Ich will auf die Details aber gar nicht weiter eingehen, weil wir uns in der Analyse wahrscheinlich relativ einig sind. Entscheidend ist, was wir jetzt machen. Es kommt darauf an, eine wirklich umfassende Strategie durchzuziehen. Dabei geht es darum, ein bundesweites Lagebild zu erstellen. Es geht darum, die Kooperation zwischen Bund und Ländern, aber auch zwischen den beteiligten Behörden – nicht nur den Sicherheitsbehörden, sondern auch den Sozialbehörden und den Bildungseinrichtungen – deutlich zu intensivieren. Ich will die Maßnahmen nennen, die bereits in die Wege geleitet worden sind, vor allem die auf Bundesebene. Der entscheidende Schritt war das Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung, also die Einziehung von aus Straftaten erlangten Vermögenswerten. Hier haben wir im Jahr 2017 eine entscheidende Änderung vorgenommen, die auch schon zu erkennbaren Ergebnissen führt. Das können Sie hier in Berlin und auch in Nordrhein-Westfalen sehen, wenn Nobelkarossen oder ganze Immobilienbestände beschlagnahmt werden. In Berlin ging es um einen Immobilienbestand im Wert von 77 Millionen Euro. Das sind wirkliche Schläge gegen organisierte Clanstrukturen. Das muss man deutlich machen und lobend erwähnen. ({1}) Bisher war es so, dass wir den Leuten nachweisen mussten, dass sie die Gegenstände aus Straftaten – in Anführungszeichen – „erworben“ haben. Nach jetziger Gesetzeslage ist es ausreichend, dass ein Missverhältnis zwischen dem Wert der Gegenstände und den legalen Einkünften der Betroffenen gegeben ist. Das ist ein wirksamer, wahrscheinlich der wirksamste Hebel zur Bekämpfung von Clanstrukturen. ({2}) In Zukunft muss noch entschiedener vorgegangen werden. Nordrhein-Westfalen tut das jetzt. Die Aktionen von Herrn Reul sind keine Spielerei und auch kein Vorgaukeln von Handlungsfähigkeit, sondern das sind Maßnahmen, die real Wirkung haben. Auch schon bei kleinsten Verstößen muss die Devise sein: Null Toleranz gegenüber den Clans von Anfang an. Das ist ein wesentlicher Punkt. ({3}) – Sie übersehen vieles, Herr Baumann. Sie nehmen an den Beratungen einigermaßen regelmäßig teil, aber irgendwie kriegen Sie das meiste nicht mit. ({4}) Sie haben auch nicht mitgekriegt, dass wir vor zwei Wochen das Geordnete-Rückkehr-Gesetz beschlossen haben. Die Schwellen bei Strafbarkeit und Ausweisungsinteresse sind damit noch einmal abgesenkt worden. Wenn in Zukunft eine Verurteilung zu einem halben Jahr Freiheitsstrafe vorliegt, dann begründet das schon ein starkes Ausweisungsinteresse. Das ist ein ganz realer Hebel, um in Zukunft mit aufenthaltsbeendenden Maßnahmen auch bei Mitgliedern solcher Clans anzusetzen. Das müssen wir entschieden umsetzen. Die Rechtsgrundlage dazu gibt es. ({5}) Ich könnte auch noch den Pakt für den Rechtsstaat erwähnen. Ich sage: Die Zeit des Wegschauens, die Zeit mancher falsch verstandenen politischen Korrektheit ist vorbei. Der Machtdemonstration der Clans müssen wir eine Machtdemonstration unseres Rechtsstaats entgegensetzen. ({6}) In unserem Land gilt nicht das Recht der Clans, sondern es gilt das Recht der Bundesrepublik Deutschland. Darauf müssen sich alle Bürgerinnen und Bürger in diesem Land verlassen können. Wir haben die wesentlichen Beiträge dazu auf Bundesebene geleistet. Jetzt müssen die Länder mit den Länderpolizeien und auch das Bundeskriminalamt die entsprechenden Maßnahmen umsetzen. Personell und sächlich sind sie dazu ausgestattet, und jetzt wird entschieden gearbeitet. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Zu einer Zwischenbemerkung erteile ich das Wort dem Kollegen Peterka, AfD.

Tobias Matthias Peterka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004850, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Middelberg, vielen Dank für Ihre Ausführungen. Auch wenn sie allgemein und sehr von oben herab waren: Immerhin haben Sie sich zum Ende der falsch verstandenen Toleranz bekannt. Wir werden weiter verfolgen, ob Sie sich in der Fraktion daran halten. Zu dem Ablenkungsmanöver in den Kriminalitätsstatistiken, das immer wieder gemacht wird. Es muss darauf hingewiesen werden – und ich denke, das ist Ihnen auch bekannt –, dass das Ziel von organisierter Kriminalität gerade das Drücken von Statistiken ist. Diese Kriminalität findet versteckt statt. Sie findet in Institutionen statt, weil man die Polizei unterwandert. Dadurch und durch die Angst und die Resignation der Bürger sinken die Zahlen in den Statistiken. Jeder zu Hause kann sich selber denken, wie hier der Zusammenhang ist. Ich bitte Sie, dieses Ablenkungsmanöver nicht mehr dauernd zu fahren. Das ist zu durchsichtig, selbst für Sie. Vielen Dank. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Middelberg, Sie möchten antworten?

Dr. Mathias Middelberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004110, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das ist ja wirklich eine schräge Theorie. Also, Kriminalität – wenn ich das bisher so einigermaßen im Leben verstanden habe – ist immer darauf gerichtet, dass sie zunächst mal nicht entdeckt wird. ({0}) Ich bin bisher eingeschränkt kriminell gewesen – wenn ich das so übersehe –, aber wenn ich mir vorstellen würde, das als berufliche Alternative anzustreben, dann würde ich schon sagen, mein Anliegen wäre, nicht entdeckt zu werden, ({1}) und zwar völlig egal, was ich mache, und unabhängig davon, ob ich in Clans unterwegs bin oder irgendetwas anderes mache. Ob das eine Eigentümlichkeit der Clankriminalität ist, möchte ich also bezweifeln. Das ist ein Spezifikum, über das Sie sich mit Fachleuten austauschen sollten. Aber herzlichen Glückwunsch zu dieser Erkenntnis. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Konstantin Kuhle, FDP. ({0})

Konstantin Kuhle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004796, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am vergangenen Wochenende hat das bekannte CDU-Basismitglied Friedrich Merz geäußert, dass es bei der Polizei vermehrt rechtsextreme Tendenzen gebe. Die Antwort des Bundesinnenministers und auch der Bundeskanzlerin gestern hier im Plenum erfolgte unmittelbar: Das seien alles Einzelfälle, und im Übrigen möge Friedrich Merz bitte schweigen. Fest steht, es gibt eine Tendenz des Rechtsextremismus auch in den Sicherheitsbehörden, und fest steht auch, dass diese Tendenz bekämpft werden muss. ({0}) Allerdings redet die Union bei ihrem Selbstgespräch über das, was Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte bewegt, völlig am Thema vorbei. ({1}) Denn viele Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte sind bei der täglichen Arbeit frustriert. Sie sind frustriert, und das hängt in ganz erheblichem Maße mit dem Phänomen der Clankriminalität zusammen, mit der Abschottung bestimmter krimineller Strukturen, mit der Tatsache, dass es schwieriger ist, in solchen Strukturen Täter und Zeugen ausfindig zu machen, mit der Möglichkeit der Clans, polizeiliche Lagen zu sogenannte Tumultlagen zu eskalieren, und mit der offen zur Schau gestellten Verachtung für den Rechtsstaat und seine Institutionen. Wer das Vertrauen der Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten in den Rechtsstaat wieder stärken will, der muss auch gegen Clankriminalität vorgehen, meine Damen und Herren. ({2}) Auch die Bevölkerung – das ist schon erwähnt worden – leidet unter dem Phänomen der Clankriminalität. Allein in den Jahren 2016 bis 2018 gab es laut Lagebild aus dem Bundesland Nordrhein-Westfalen über 14 000 Straftaten, insbesondere in den Bereichen Körperverletzung, Eigentumsdelikte und Rauschgiftdelikte. Das heißt, auch für mehr Sicherheit in der Bevölkerung muss aktiv gegen Clankriminalität vorgegangen werden. Deswegen haben wir Ihnen heute ein eigenes Konzept vorgelegt, für das wir gerne werben möchten. Meine Damen und Herren, das Thema Clankriminalität muss aber nicht nur hier im Parlament diskutiert werden, sondern es muss aktiv durch die Rolle des Bundes behandelt werden. Wir brauchen ein einheitliches Lagebild, wie es das schon in NRW gibt, auch auf Bundesebene. ({3}) Wir brauchen eine Zentralstellenfunktion des Bundeskriminalamts. Wir brauchen eine einheitliche Ausbildung und einen Austausch von Erfahrungen im Umgang mit Clankriminalität in den einzelnen Bundesländern. Eine Erfahrung ist schon genannt worden: Seit dem Jahr 2017 ist es möglich, das Vermögen krimineller Clans einzuziehen, wenn feststeht, dass dieses Vermögen aus einer Straftat stammt. Und wir haben als FDP-Fraktion mal gefragt: Wie wird das in den einzelnen Ländern eigentlich umgesetzt? Erfreulich ist: 15 Bundesländer haben seit der Einführung im Jahr 2017 von dieser Methode Gebrauch gemacht. Einzig Bremen – ausgerechnet Bremen – hat davon keinen Gebrauch gemacht. Das zeigt: Oft genug ist es keine Frage der Gesetzeslage, sondern eine Frage der Umsetzung der geltenden Gesetze und der politischen Rückendeckung für die Bekämpfung der Clankriminalität. Hier müssen wir vorankommen. ({4}) Bei der politischen Umsetzung und Rückendeckung des Kampfes gegen Clankriminalität ist es richtig, dass jetzt die Bundesländer Bremen, Niedersachsen, Berlin und Nordrhein-Westfalen, die von dem Phänomen der Clankriminalität ganz besonders betroffen sind, im Zusammenwirken mit dem Bundeskriminalamt eine Strategie entwickeln sollen. Ja, das ist eine Nulltoleranzstrategie, und das bedeutet dann eben, dass man bei der Vollstreckung eines Haftbefehls nicht nur mit der Polizei in eine gewisse Lage reingeht, sondern dass man gleich das Gewerbeaufsichtsamt mitnimmt, dass man gleich den Zoll mitnimmt, um schon bei kleinsten Verstößen – ob das den Arbeitsschutz betrifft, ob das den Nichtraucherschutz betrifft – zu zeigen: Der Rechtsstaat handelt konsequent, und er lässt sich auch von Familienclans nicht auf der Nase herumtanzen. ({5}) So richtig es ist, dass die Bundesländer in dieser Frage zu einer konsequenteren Anwendung des Rechts kommen, so falsch ist es, wenn bei jugendlichen Intensivtätern teilweise Monate ins Land gehen, bis endlich mal eine Strafe ausgesprochen wird. Wenn überhaupt keine Konsequenz zu spüren ist, dann verfestigt sich Kriminalität immer weiter. Konsequenzen sind dann überhaupt nicht spürbar, und das ist ein wesentliches Argument dafür, warum viele Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte, die jeden Tag den Kopf für die Bekämpfung der Clankriminalität hinhalten, frustriert bei dieser Aufgabe sind. ({6}) Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, auch ein Wort zum Thema Ausländerrecht sagen. Es ist doch völlig richtig, dass die Maßnahmen, die das Ausländerrecht bereithält, um gegen kriminelle Clanstrukturen vorzugehen, auch genutzt werden. Es gibt gerade im Bereich der Familienclans einen großen Teil an illegal, unter Vorspiegelung falscher Tatsachen, erlangten Aufenthaltstiteln. Aufenthaltstitel müssen konsequent aberkannt werden, wenn ihrer Erteilung ein Betrug vorausging. Auch da müssen die Länder sich stärker koordinieren. ({7}) Aber das eine, meine Damen und Herren von der Großen Koalition, ist das Ausländerrecht; das andere ist das Staatsangehörigkeitsrecht. Wir haben jetzt aus der Innenministerkonferenz erfahren, dass die Staatsangehörigkeit von Mitgliedern krimineller Clans künftig aberkannt werden soll. ({8}) Im Grunde genommen kann man darüber nachdenken. Es geht Ihnen ja darum, diese Menschen abzuschieben. Aber ich will Sie mal ganz konkret fragen: Wer soll die eigentlich zurücknehmen? ({9}) Sie versuchen da, eine Placebomaßnahme auf den Weg zu bringen, die am Ende überhaupt nichts bringt. Menschen mit Anfang 20, die in Deutschland geboren sind, die hier zu Intensivtätern geworden sind, wollen Sie die Staatsangehörigkeit aberkennen. Die nimmt aber keiner zurück, und die Struktur wird sich weiter verfestigen. Das bringt überhaupt nichts. Das ist eine reine Flucht aus der Verantwortung und ist klar abzulehnen. ({10}) Ich will Ihnen sagen, was wir vorschlagen. Wir schlagen vor, dass wir das Mittel des Ausländerrechts mal ausleuchten auf den Bereich der Integration; denn einer der Gründe dafür, dass es zur Entstehung von kriminellen Clanstrukturen in Deutschland gekommen ist, ist doch die Integrations- und Migrationspolitik der Union der vergangenen Jahrzehnte. Sie haben doch dafür gesorgt, dass in ganz bestimmten Milieus über Kettenduldungen, über Arbeitsverbote Menschen geradezu abgedrängt worden sind in kriminelle Clanstrukturen. ({11}) Das war Ihre Politik, und jetzt tun Sie heute so, als hätten Sie damit nichts zu tun. Wir werden, meine Damen und Herren, sehr genau darauf achten müssen, ob diese halbgare Beschäftigungsduldung, die von den Sozialdemokraten auch noch mitgemacht worden ist, in einem Jahr tatsächlich dazu führt, dass Menschen in legale Beschäftigung gefunden haben, oder ob wir uns hier nicht die nächste Generation von Clankriminellen heranzüchten, weil Sie ein ideologisches Problem mit einem Zugang zum Arbeitsmarkt haben. Wenn man das schon vor Jahrzehnten angegangen wäre, dann hätten wir heute weniger Probleme mit Clankriminalität. ({12}) Vielen Dank. ({13})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Susanne Mittag, SPD, ist die nächste Rednerin. ({0})

Susanne Mittag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004355, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! In den letzten Wochen und Monaten war das Phänomen der sogenannten Clankriminalität oft in den Medien zu finden. Das scheint auch der Grund dieser beiden Anträge zu sein. ({0}) Allerdings ist das Thema schon etwas länger auf der Tagesordnung der Sicherheitsbehörden. Aber laufende Ermittlungen sollten auch nicht öffentlich angekündigt werden – falls das noch nicht bekannt ist. ({1}) Aber ja, grundsätzlich hätte das Phänomen schon Jahre eher im Fokus stehen müssen – genauso wie die gesamte organisierte Kriminalität. Ich habe schon als Polizistin mit Clanstrukturen zu tun gehabt. Niedersachsen und Bremen sind neben NRW und Berlin die hauptbetroffenen Bundesländer dieses Phänomens. Das erkennt man daran, dass das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen schon seit 2017 ein europäisch gefördertes ISF-Projekt genau zu diesem Thema installierte. ({2}) Bei diesem Projekt, KEEAS, wurden auch die internationalen Verbindungen beleuchtet und Experten aus ganz Deutschland zusammengerufen. Auch das LKA Niedersachsen ist seit Jahren daran, sich ein besseres Bild des Phänomens mithilfe der Onomastik, also der Namenkunde, zu machen. Dabei wird herausgearbeitet, welche verschiedenen Schreibweisen zu einem Familienstamm zusammengeführt werden können, womit auch Familienzugehörigkeiten nachvollziehbar werden. Denn eins ist dabei immer ganz klar – das sagen die beteiligten Polizisten auch –: Es gibt Namen und Familienstrukturen, die immer wieder auffallen, wo es Häufungen gibt und wo man von Clans sprechen kann. Aber auch für diese Familien und deren Mitglieder gilt erst mal die Unschuldsvermutung; denn Menschen, die die oft in der Presse genannten Familiennamen – in den verschiedensten Schreibweisen – tragen, sind eben wie unsere Müllers, Meiers, Schmidts, und sie gehören nicht zwangsläufig alle einer Familie an. Sie sind nicht gleich kriminell, nur weil sie einen bestimmten Namen tragen. ({3}) Es gibt Familienmitglieder, die rauben, erpressen oder mit Drogen handeln; aber es gibt auch die anderen, die einfach nur in Ruhe hier in Deutschland leben, arbeiten und ihre Kinder großziehen wollen. Deshalb: Ein kleines bisschen Vorsicht mit Zuschreibungen und Verdächtigungen! ({4}) Das heißt aber nicht, dass es dieses Phänomen nicht gibt und dass wir das hier kleinreden wollen. Wir müssen nur genau bleiben: Clankriminalität ist die Begehung von Straftaten durch Angehörige ethnisch abgeschotteter Subkulturen. Sie ist bestimmt von verwandtschaftlichen Beziehungen, einer gemeinsamen ethnischen Herkunft und einem hohen Maß an Abschottung der Täter, wodurch die Tatbegehung gefördert oder die Aufklärung der Tat erschwert wird. Dies geht einher mit einer eigenen Werteordnung und der grundsätzlichen Ablehnung der deutschen Rechtsordnung. Dann folgen noch fünf Indikatoren. Das ist die Definition vom Bund Deutscher Kriminalbeamter. Wir wollen die ganze Diskussion mal ein bisschen versachlichen. ({5}) Es gibt also grundsätzlich Clans unterschiedlichster ethnischer Herkunft. Einerseits agieren diese Täter wie die klassische organisierte Kriminalität, wie wir sie zum Beispiel auch von Rockern kennen: hierarchische Strukturen, Abschottung, das Gesetz des Schweigens. ({6}) Andererseits ist die familiäre bzw. ethnische Komponente ebenso wie die extreme und kurzfristige Mobilisierungsfähigkeit ein ganz individueller Aspekt und nicht zu vernachlässigen; denn damit steht einem Beamten, der zum Beispiel nur eine Verwarnung für das Parken in der zweiten Reihe ausstellen will, innerhalb kürzester Zeit eine tumultartige Menschenmenge gegenüber. Ich kann jeden Kollegen verstehen, der es sich in bestimmten Gegenden zweimal überlegt, ob er ein Ticket für ein szenetypisches Auto ausstellt. Aber es ist auch eine Frage von Einsatzkonzeptionen, ob man einen Beamten alleine dahin schickt. ({7}) Bei Clans führt es zu dem Gefühl, dass sie machen können, was sie wollen; nur ihre Regeln gelten. Für die Mehrheitsgesellschaft ist dieses Phänomen fast noch gefährlicher; denn es unterhöhlt das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in den Staat, so nach dem Motto: Der kann seinen dicken AMG in zweiter Reihe parken und bedroht die regelnde Polizei oder Ordnungsbehörde, und es bleibt optisch vollkommen ohne Konsequenzen. Bei mir – also dem Bürger, der das so wahrnimmt – wird jede Kleinigkeit verfolgt. – Das ist eine gefährliche Entwicklung, und da stellt sich grundsätzlich die Frage der Gerechtigkeit. ({8}) Ich bin deshalb sehr froh, dass auf der Innenministerkonferenz in Kiel in der vorvergangenen Woche auf Antrag der beiden sozialdemokratischen Innenminister – des aus Niedersachsen und des aus Berlin – nun ein umfangreiches Paket beschlossen wurde. Es fußt auf dem sogenannten Fünf-Punkte-Plan des Berliner Innensenators Geisel, der einen ganzheitlichen Ansatz fährt: Konsequente Verfolgung und Ahndung von Regelverstößen, also auch ein niederschwelliges Eingreifen. Vermögen einziehen. Ich bin heute noch froh darüber, dass das unser sozialdemokratischer Minister Heiko Maas damals durchgesetzt hat. Das hat zwar sehr lange gedauert, aber das klappt seit 2017. Der Kollege hat es schon erwähnt. ({9}) Verstärkte Gewerbe- und Finanzkontrollen. Ob das der unversteuerte Tabak in der Shisha-Bar oder irgendwas anderes ist: Alles wird registriert und verfolgt. Aber auch: Entwicklung von präventiven Maßnahmen und Ausstiegsszenarien. Die Etablierung der ressortübergreifenden Zusammenarbeit, um alle Erkenntnisse zusammenzuführen und gegebenenfalls strafrechtlich zu verfolgen. Das ist in der Vergangenheit leider nicht so passiert. Es ist gut, dass das BKA sich verstärkt mit dem Phänomen der Clankriminalität befasst, da es nicht nur einzelne Bundesländer wie Bremen, Niedersachsen, NRW und Berlin betrifft. Nein, es betrifft alle; denn der Immobilienmarkt, zum Beispiel in Stuttgart, Hamburg oder München, kann auch ein lukrativer Ort sein, um Geld aus kriminellen Geschäften weißzuwaschen. Mit dem neugeschaffenen Lagebild der Clankriminalität werden die Erkenntnisse aus den Ländern zusammengeführt; denn nur mit einem aktuellen und vollständigen Bild können Polizei und Politik auf diese Entwicklung reagieren. Da es Verflechtungen, zum Beispiel in die Türkei, den Libanon oder andere europäische Staaten gibt, ist es logisch und unverzichtbar, dass auch Europol in die Ermittlungen mit einbezogen wird – was ja schon passiert. Zu guter Letzt möchte ich noch auf einen Aspekt eingehen – das passt, weil wir gerade diese Woche noch das Staatsangehörigkeitsrecht ändern werden –: Ich bin nicht der Überzeugung, dass das Problem der kriminellen Clans dadurch gelöst wird, dass alle Täter einfach abgeschoben werden; denn viele haben inzwischen die deutsche Staatsbürgerschaft. Diese zu entziehen, ginge nur bei Menschen, die noch eine weitere haben. Betroffene sind aber auch staatenlos, und selbst wenn keine deutsche Staatsbürgerschaft vorliegt, so bestehen Ehen mit deutschen Staatsangehörigen oder ihre Kinder sind Deutsche. Lassen Sie uns die Probleme, die wir als Gesellschaft vor 30 Jahren durch fehlende Integrationsmöglichkeiten – das ist ja eben schon mal gesagt worden – geschaffen haben, nachhaltig und konzeptionell lösen: durch Strafverfolgung, durch Bildungs- und Integrationsangebote, aber eben auch durch gezielte Ausstiegshilfen für Menschen, die sich aus diesen Strukturen lösen wollen. Nur das kann ein Konzept sein. Herzlichen Dank. ({10})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Ulla Jelpke, Die Linke. ({0})

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sehen an dieser Debatte: Die AfD bleibt sich treu, ({0}) wenn es darum geht, mit der Angst der Bevölkerung zu spielen. Was gar nicht geht, meine Damen und Herren, ist, dass man permanent Migration mit Kriminalität vermischt. ({1}) Was mich sehr gewundert hat, Herr Kollege Kuhle, ist, dass die FDP mit ihrem Antrag auf diesen Zug aufgesprungen ist. ({2}) – Ja, in einigen Punkten muss ich das in der Tat sagen; dazu werde ich noch kommen. ({3}) Aber mich wundert, dass man vonseiten der FDP den Duktus dieser Debatte mitträgt, ({4}) der von der AfD initiiert und natürlich ganz klar rassistisch ist. ({5}) Es kann keine Frage sein: Organisierte Kriminalität muss bekämpft werden, ({6}) egal ob im Nadelstreifenanzug, unter der Rockerkutte oder im Familienverband. ({7}) Kommen wir zum Begriff „Clankriminalität“. Selbst das BKA benutzt diesen Begriff nicht. ({8}) – Was heißt hier „leider“? – Man muss sagen: Dieser Begriff ist vor allen Dingen von der Boulevardpresse benutzt worden, ({9}) und er ist bisher weder kriminologisch – das sollten Sie wissen, Herr Kuhle – noch wissenschaftlich definiert. ({10}) Deswegen meine ich: Es ist richtig, dass das BKA diesen Begriff der Clankriminalität nicht benutzt; denn er ist irreführend und diskriminierend. ({11}) Damit werden Familienzusammenhänge aus bestimmten Kulturkreisen pauschal als kriminell abgestempelt. ({12}) Die Linke wehrt sich dagegen, Menschen in Mithaftung zu nehmen, nur weil sie denselben Namen tragen wie straffällig gewordene Verwandte. ({13}) Ich will ein Beispiel geben. Die „Bild“-Zeitung titelte kürzlich: „200 000 kriminelle Clan-Mitglieder in Deutschland!“ Hintergrund war eine interne polizeiliche Schätzung, wonach alle Großfamilien, aus denen einzelne Mitglieder kriminell aufgefallen sind, zusammen 200 000 Familienangehörige umfassen. ({14}) In der Zahl enthalten sind also auch diejenigen Mitglieder, die gesetzestreu in unserem Land leben. Diese Behauptung ist also schlicht und einfach unzulässig und rassistische Sippenhaft. ({15}) Man muss sich doch einfach mal vorstellen, was es bedeutet, mit einem Namen, der durch die Medien geht, Arbeit zu suchen, einen Ausbildungsplatz zu finden. Das ist eine Stigmatisierung, und diese Familienmitglieder dürfen eben einfach nicht gleichgesetzt werden mit der kriminellen Familienverwandtschaft. Meine Damen und Herren, Ausweisungen und Abschiebungen – das ist ja immer das einzige Konzept, was die AfD hier vorzutragen hat – lösen nicht das Problem; denn die sogenannte Clankriminalität in der Bundesrepublik ist in der Tat hausgemacht. ({16}) Die Kollegin hat es eben hier vorgetragen – Herr Kuhle, das habt ihr zu Recht im Antrag drin –: Das ist die Folge einer verfehlten oder, besser gesagt, fehlenden Sozial- und Integrationspolitik. ({17}) Die Verdächtigen, über die wir hier gerade sprechen, stammen meist aus Einwandererfamilien, die vor 30 oder 40 Jahren aus Palästina oder dem Libanon nach Deutschland geflohen sind. Doch hier waren sie unerwünscht. Statt ihnen Asyl und sicheren Aufenthalt zu geben, ließ man sie viele Jahre lang in prekären Kettenduldungen hängen. Der Zugang zu Arbeit war ihnen und ihren hier geborenen Kindern damit meist verwehrt. Abgeschnitten vom regulären Arbeitsmarkt besetzten sie Nischen in der sogenannten Schattenökonomie. Einige von ihnen begannen, kriminellen Geschäften nachzugehen. Auch Perspektivlosigkeit und fehlende Integrationsmöglichkeiten können Menschen in die Kriminalität treiben. Das soll keine Rechtfertigung sein für kriminelle Taten, aber sehr wohl die Warnung mit Blick auf diejenigen Geflüchteten, die Schutz suchen und die gerade in den letzten Jahren nach Deutschland gekommen sind, das nicht einfach zu wiederholen. ({18}) Meine Damen und Herren, in den letzten Monaten fanden in der Tat einige Großrazzien statt, zum Beispiel in den Shisha-Bars. Ich will einfach mal vortragen, was dabei rausgekommen ist: einige Verstöße gegen das Tabaksteuergesetz, einige Fälle von Schwarzarbeit, in einigen Shisha-Bars eine zu hohe Konzentration von Kohlenmonoxid. Das ist in der Tat gesundheitsgefährdend, aber mit organisierter Kriminalität hat das wirklich nichts zu tun; das muss man hier auch mal klar auseinanderhalten. ({19}) Solche Razzien sollen vor allen Dingen bei einer aufgeschreckten Öffentlichkeit den Eindruck von Tatendrang vermitteln, doch in erster Linie werden sie vor allen Dingen dazu dienen, dass Menschen, die in die Shisha-Bars gehen, kriminalisiert und eingeschüchtert werden, und das halten wir für völlig falsch. ({20}) Meine Damen und Herren, wenn man schon über Clans redet – es ist ja interessant, dass solche Debatten hier gar nicht aufkommen oder, wenn überhaupt, mal am Rande –, dann muss man auch darüber reden, welche Clans sich zum Beispiel in den Industriebereichen entwickelt haben, wo vernachlässigt wird, die organisierte Kriminalität zu bekämpfen. ({21}) Ich will zum Beispiel die Familie Quandt erwähnen, deren Name jetzt gerade wieder durch die Medien geht. ({22}) – Dass ihr euch darüber aufregt. ({23}) – Seien Sie ruhig. – Diese Familie hat ihr Vermögen im Grunde genommen durch Zwangsarbeit und durch Enteignung im Faschismus erworben. ({24}) Aber auch darüber hinaus findet organisierte Kriminalität statt, und es entsteht gesellschaftlicher Schaden durch Steuerhinterziehung und vor allen Dingen durch Mietwucher sowie Schaden im ökologischen Bereich und im Umweltbereich. Fangen Sie auch dort an, organisierte Kriminalität zu bekämpfen. ({25})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Irene Mihalic, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Irene Mihalic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004353, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren von der AfD, Ihr Antrag hat weder zum Ziel, die Bürgerinnen und Bürger effektiv vor Kriminalität zu schützen, noch, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. Ihr Antrag ist nicht mehr als ein weiterer plumper Versuch, ganze Bevölkerungsgruppen zu diffamieren. ({0}) Im Kern möchten Sie eine Strafverfolgung nach Nationalität und Nachnamen, und das ist nicht nur aus kriminalistischer Sicht völliger Unfug, sondern erinnert auch an das finsterste Kapitel unsere Geschichte, meine Damen und Herren. ({1}) Und zudem ist Ihr Antrag auch ein hartes Misstrauensvotum gegenüber unserer Polizei. ({2}) Was Sie hier machen, ist Folgendes: Sie zeichnen ein desaströses Bild einer unfähigen und überforderten Polizei. Das kann so auf gar keinen Fall stehen bleiben; ({3}) denn es wird dem Engagement der vielen Polizistinnen und Polizisten im Kampf gegen die Kriminalität nicht gerecht, meine Damen und Herren. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Sie haben heute ebenfalls einen Antrag zum Thema eingebracht, der meiner Ansicht nach auch eine Grundlage für die weitere Debatte sein kann. Sie beschreiben die bestehenden Probleme ja durchaus richtig und machen auch konkrete Vorschläge zur Bekämpfung der sogenannten Clankriminalität – da kann man über vieles diskutieren –; aber leider verpassen Sie es, das alles in einen Gesamtkontext einzuordnen, und das finde ich schon ein wenig schade. ({5}) Denn eine intensivere Befassung mit den Themen bandenmäßiger und auch organisierter Kriminalität wäre hier im Parlament wirklich dringend notwendig. ({6}) Wenn wir wirksame Maßnahmen gegen kriminelle Strukturen finden wollen, dann müssen wir ganz genau hinsehen, ({7}) und zwar müssen wir gerade dort genau hinsehen, wo es besonders ruhig ist, und nicht nur die Akteure betrachten, die besonders auffällig sind. Das gilt vor allem für die organisierte Kriminalität. ({8}) Wenn wir uns das Bundeslagebild Organisierte Kriminalität anschauen, dann stellen wir fest, dass die größte Gruppe der Tatverdächtigen Deutsche sind. ({9}) Wir stellen auch fest, dass italienisch und russisch dominierte Gruppen sowie sogenannte Rocker ebenfalls eine sehr große Rolle spielen. ({10}) – Ja, schauen Sie einmal in das Lagebild, Herr Baumann, dann werden Sie das feststellen. ({11}) Wir haben es also mit einem breiten Spektrum von ganz unterschiedlichen Nationalitäten und Gruppierungen zu tun und selbstverständlich auch mit Gruppen, die als Clans bezeichnet werden. Was man ganz speziell gegen diese Form der Kriminalität tun kann, zeigt das Land Berlin. Darauf hat die Kollegin Mittag schon hingewiesen. So hat die Berliner Justiz in ganz großem Stil inkriminiertes Vermögen von Angehörigen sogenannter Clans beschlagnahmt. Insgesamt gehen der Innen- und der Justizsenator gemeinsam und entschlossen mit präventiven und repressiven Mitteln gegen Kriminelle aus diesem Milieu vor. ({12}) Das ist bei Weitem keine leichte Aufgabe, meine Damen und Herren. Man braucht einen langen Atem. Ja, das Problem lässt sich mit polizeilichen Mitteln allein nicht lösen, weil es ein gesellschaftliches Problem ist. Aber mit ressortübergreifenden und gut koordinierten Maßnahmen kann man auf lange Sicht viel bewirken, meine Damen und Herren. ({13}) Das Bundeskriminalamt hat angekündigt, gemeinsam mit den Ländern den gesamten Komplex und bestehende Strukturen zu beleuchten und aufzuklären. Das ist ein richtiger und wichtiger Schritt. Solche Strategien sollten sich aber nicht an der politischen Großwetterlage oder an der Empörung der Öffentlichkeit orientieren, sondern müssen fortlaufend und nach wissenschaftlichen Kriterien erfolgen. Ein periodisch vorzulegender Sicherheitsbericht zum Beispiel könnte auf diesem Feld wertvolle Erkenntnisse liefern. Unser Gesetzentwurf dazu ist Ihnen allen bekannt. Er befindet sich in der Beratung. Vielleicht können wir bei Gelegenheit noch einmal darüber sprechen. ({14}) Neben einer effektiven Strafverfolgung in diesem Bereich müssen wir vor allem darüber nachdenken, was wir präventiv tun können. Wir müssen uns dabei die Frage stellen, warum Menschen aus diesem Milieu in die Kriminalität abgleiten und was wir dagegen tun können. Wesentliche Faktoren bei der Integration, auch bei der Kriminalprävention, sind die gesellschaftliche Teilhabe und der Zugang zu Arbeit. Beides wurde den Menschen, die zum Beispiel als Geflüchtete aus dem libanesischen Bürgerkrieg kamen, lange Zeit verwehrt. Das kritisieren auch die Polizeibehörden, Herr Irmer, die sich in der Folge mit diesem Problem auseinandersetzen müssen. ({15}) Da müssen wir genau hinhören, was die uns sagen. Solche Fehler dürfen sich nicht wiederholen, meine Damen und Herren. ({16}) Deswegen ist es wichtig, dass Menschen, die neu in unser Land kommen, entsprechende Zugänge und auch Teilhabemöglichkeiten bekommen. Ein wesentlicher weiterer Aspekt ist die Austrocknung von kriminellen Märkten. Die Lagebilder zur organisierten Kriminalität sind seit jeher von Betäubungsmitteldelikten gekennzeichnet. Dabei geht es um einen Drogenmarkt, der nur prosperieren kann, weil auch Konsumentinnen und Konsumenten aus der Mitte der Gesellschaft Drogen nachfragen. Dieses Problem werden wir allein mit repressiven Maßnahmen nicht lösen. Da brauchen wir auch eine fortschrittliche Drogenpolitik, die Menschen aufklärt, die Prävention in den Vordergrund stellt und damit aufhört, Konsumentinnen und Konsumenten zu kriminalisieren. ({17}) Dazu gehört zum Beispiel auch eine kontrollierte Abgabe von Cannabis. ({18}) Ich kann mir kaum ein effektiveres Mittel vorstellen, um kriminellen Strukturen den Geldhahn abzudrehen, als ihnen den Drogenmarkt zu entziehen. ({19}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Kriminalität hat viele Facetten, und es gibt keine einfachen Antworten auf komplexe Fragen. Deshalb lassen Sie uns über eine evidenzbasierte Kriminalpolitik diskutieren, die dazu beiträgt, wirksame Gegenmaßnahmen zu entwickeln, und die ohne Stigmatisierung auskommt. Herzlichen Dank. ({20})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als Nächster hat das Wort der Kollege Christoph de Vries, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Christoph Vries (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004926, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe heute Morgen schon viele schräge Beiträge gehört. Aber, Herr Baumann, das, was Sie beschrieben haben, war ein Zerrbild der Wirklichkeit; denn Deutschland – der Kollege Middelberg hat es richtig gesagt – hat die niedrigste Kriminalitätsbelastung seit 1992, die höchste Aufklärungsquote seit 2005. ({0}) Das ist das Ergebnis der engagierten Arbeit unserer Polizistinnen und Polizisten in Bund und Ländern. Das gehört zur Wahrheit dazu, wenn wir heute darüber diskutieren. ({1}) Das ist aber auch Resultat der konsequenten Innenpolitik der Union in den vergangenen Jahren. ({2}) Wir haben den Etat für die innere Sicherheit seit 2015 um 50 Prozent gesteigert. ({3}) – Mit der SPD. – Wir haben die Sicherheitsbehörden im Bund um 22 000 Stellen verstärkt. Deshalb sagen wir auch guten Gewissens: Die innere Sicherheit ist bei der Union in den besten Händen, meine Damen und Herren. ({4}) – Darüber sprechen wir gleich noch. Aber selbstverständlich gibt es laufend neue Herausforderungen. Ja, wir haben auch in Teilen Deutschlands ein Clanproblem; das ist angesprochen worden. Aber zur Wahrheit gehört auch: Die Bekämpfung der Clankriminalität ist eine originäre Aufgabe der Länder. Hierfür tragen die Innenminister der Länder die Verantwortung. ({5}) Es ist schon angesprochen worden: Wo haben wir die Hotspots der Clankriminalität in Deutschland? Die Länder sind benannt: Berlin, Bremen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. Wenn wir uns das anschauen, dann sind das alles Länder, die aktuell sozialdemokratische Innenminister haben oder über längere Zeit hatten. ({6}) Hier müssen sich einige Verantwortliche die Frage stellen lassen: Wie konnte es passieren, dass sich diese Strukturen so verfestigen konnten? ({7}) Aber kommen wir zur Gegenwart. Sie ist deutlich positiver. Es ist angesprochen worden: In Nordrhein-Westfalen gibt es seit zwei Jahren eine Landesregierung unter christdemokratischer Führung mit einem Innenminister der CDU und mit der FDP als Partner in der Landesregierung. ({8}) Es ist gut, dass diese Landesregierung jetzt auch handelt. Sie hat dieses Problem als erstes Land schonungslos benannt. Sie hat auch die Namen der Familienclans öffentlich gemacht. Die Hotspots sind identifiziert worden. Es ist eine Taskforce Finanzermittlungen eingerichtet worden. In Essen ist eine Soko Clankriminalität gegründet worden. Und es ist ein umfassendes Lagebild Clankriminalität auf die Beine gestellt worden. Das ist gute Sicherheitspolitik gegen Clankriminalität in Deutschland. Davon können sich andere Länder eine Scheibe abschneiden, meine Damen und Herren. ({9}) Wir haben die erste Zwischenbilanz: Von Juni 2018 bis Februar 2019 gab es insgesamt 258 Ermittlungsverfahren, 19 Haftbefehle sind erlassen worden, 655 000 Euro Clanvermögen sind abgeschöpft worden. Gerade dieses Mittel der Vermögensabschöpfung ist hier intensiv genutzt worden. Deshalb war es auch richtig, dass wir in der letzten Legislaturperiode mit dem Geldwäschegesetz die Weichen hierfür gestellt haben. Es ist ein erfolgreiches Mittel. Mir ist völlig schleierhaft, wenn ich in Ihren Antrag sehe, wie Sie das als Misserfolg bezeichnen können. Jeder, der sich mit diesem Thema beschäftigt und auskennt, weiß, dass es das wirksamste Mittel ist, um Clanstrukturen und die Mitglieder wirksam zu treffen, meine Damen und Herren. ({10}) Kommen wir zu Ihrem Antrag. Diesmal haben Sie es geschafft, auf zehn Seiten mit viel Allgemeinplätzen und Zitaten viel zu schreiben, aber ganz wenig zu sagen, ganz nach dem Motto: „Man müsste mal, man könnte mal.“ ({11}) Viel sinnvoller, Herr Baumann, als den Bundesvorsitzenden des BDK, Herrn Fiedler, zu zitieren, wäre es gewesen, sich mit dem ausgezeichneten Papier des BDK auseinanderzusetzen. ({12}) Von den insgesamt 24 Vorschlägen, die dort unterbreitet wurden, haben Sie in Ihrem Antrag fast nichts aufgegriffen. Ich bin mir gar nicht sicher, ob Sie es überhaupt gelesen haben. Dabei stehen dort viele kluge Vorschläge: Videovernehmung von Zeugen, die sonst später eingeschüchtert werden, Verbesserung der technischen Ausstattung für die Auswertung von Kommunikationsdaten. ({13}) Alles sehr vernünftig, was wir prüfen sollten. Das Bundeslagebild, das Sie fordern, ist doch bereits in der Planung. Der Bundesinnenminister Horst Seehofer hat auch die Bund-Länder-Initiative zur Bekämpfung Clankriminalität, BLICK, angekündigt. ({14}) Das müssten Sie doch eigentlich auch wissen. Deswegen ist mein Ratschlag an Sie, Herr Baumann, vielleicht einmal zum Hörer zu greifen, mit den fachkundigen Mitarbeitern im BKA zu telefonieren, statt wochenlang eine Zitatesammlung zu verfassen. ({15}) Dabei kommt häufig nichts Gutes raus. Das sieht man auch bei Ihrem Antrag. Letzte Bemerkung. Liebe FDP, wer Clankriminalität als ein Phänomen der organisierten Kriminalität bekämpfen will, muss auch den Sicherheitsbehörden die rechtlichen Instrumente an die Hand geben ({16}) zur Überwindung von Geräteverschlüsselung, zur Überwachung von Messenger-Diensten und Voice-over-IP-Anwendungen. ({17}) Solange Sie Ihren Freiheitswillen über die Handlungsfähigkeit unserer Sicherheitsbehörden stellen, sollten Sie nicht allzu viel Wertschätzung für derartige Anträge erwarten. ({18}) Wir stehen für einen starken und handlungsfähigen Rechtsstaat, meine Damen und Herren. Vielen Dank. ({19})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Helge Lindh, SPD-Fraktion. ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Damit ich es nicht vergesse, möchte ich den sehr geschätzten Kollegen Middelberg gleich zu Beginn auf eine Vergesslichkeit seinerseits hinweisen. Sie hatten in einem Akt – ich nenne es einmal: parteipolitischer Lobhudelei und Beweihräucherung – den Innenminister Reul erwähnt ({0}) und auf die angeblichen Defizite seines sozialdemokratischen Vorgängers Jäger hingewiesen. In der Eile vergaßen Sie aber nicht nur, zu erwähnen, dass Heiko Maas zwei Jahre lang Ihre Fraktion getrieben hat, damit es endlich eine Vermögensabschöpfung gibt. ({1}) Nein, die schwarz-gelbe Vorvorgängerregierung unter dem legendären liberalen Innenminister Ingo Wolf ist nicht minder legendär für ihr Polizeikürzungsprogramm. Diese Details hatten Sie vergessen. Ich möchte Sie auf diese Vergesslichkeit nur kurz hinweisen. ({2}) Damit haben wir unsere interkoalitionären Differenzen jetzt ausgeräumt, und ich komme zum eigentlichen Thema. Worum geht es heute? Zum einen geht es um das Phänomen der organisierten Kriminalität, die effektiv, rational, vernünftig und auch verfassungsmäßig fundiert bekämpft werden muss. Zum anderen müssen wir heute über eine gewisse Verkommenheit des politischen Diskurses reden, wofür namentlich insbesondere die sogenannte AfD steht; ({3}) das ist hier so zu benennen. Wir erleben bei Ihrer dramatischen, weit ausholenden Schilderung der Clankriminalität in dieser Woche ein interessantes, bemerkenswertes Manöver. In dieser Woche sprechen wir darüber, welche Form der Rechtsextremismus in diesem Land annimmt. Mit Ihrem heutigen Antrag versuchen Sie – man muss Ihre Methoden ja mal erkennbar machen –, die übliche Geschichte zu erzählen: Ihr kümmert euch um die Rechten; aber wir weisen auf die Kriminalität der Ausländer hin. – Leider ist die Geschichte aber noch bitterer. Wir werden heute auch über einen widerlichen Mord an einem christdemokratischen Politiker sprechen. Angesichts der aktuellen Situation würde ich von Ihnen erwarten, dass Sie, wenn Sie die Primärtugenden – ich nenne sie gerne die deutschen Primärtugenden – des Anstandes und der Demut besäßen ({4}) – ich betone: besäßen –, erst einmal wochenlang schweigen, in sich gehen und hier gar nichts mehr sagen würden. ({5}) Unter anderem hat der Abgeordnete Hohmann die Dreistigkeit besessen, auf einer Internetseite der AfD – öffentlich und für jedermann lesbar – folgende Erklärung zu bieten: Hätte es nicht durch Angela Merkel die Grenzöffnung gegeben, wäre Walter Lübcke noch am Leben. – Was ist das für eine widerliche Aktion? ({6}) Sie wagen es ernsthaft, in Ihrem Antrag über den Schutz des Bürgers und des Rechtsstaates zu sprechen. Walter Lübcke würde wohlmöglich noch leben – ich will nicht mutmaßen –, aber es gäbe wenigstens wesentlich weniger Morddrohungen, ({7}) die viele hier im Raum, mich eingeschlossen, betreffen, wenn Sie nicht auf Ihre ganz spezifisch widerliche Weise diese sogenannte Flüchtlingskrise genutzt hätten, um permanent dieses Land zu verhetzen und Hass zu predigen. Das machen Sie heute wieder. ({8}) Sie fordern interessanterweise in Ihrem Antrag, die transnationale Kriminalität zu bekämpfen. Sie nennen Europol und Interpol. Dann schaue ich aber in die Drucksache 19/10171, in der Sie eine 80-prozentige Kürzung des EU-Budgets fordern. ({9}) Erstaunlich! Wie soll denn dann die internationale, europäische Kriminalitätsbekämpfung funktionieren? Nicht nur das, Sie fordern auch die komplette Streichung der Mittel für ESF, EFRE, Asyl- und Migrationsfonds. Ich komme aus einer strukturschwachen Stadt, aus Wuppertal. Hier sind viele Abgeordnete aus dem Ruhrgebiet und aus strukturschwachen Regionen in Ostdeutschland. Wenn es ESF und EFRE nicht gäbe, sähe es dort auch hinsichtlich organisierter Kriminalität deutlich anders aus. Und Sie wollen diese Mittel streichen. ({10}) Wenn Sie oder Ihr selbsternannter Arbeiterführer Guido Reil noch einmal behaupten, Sie träten ein für den kleinen Mann und gegen ausländische Kriminelle, dann werde ich persönlich an alle Türen im Ruhrgebiet Ihre Beschlusslagen und Ihre Drucksachen nageln. ({11}) Aber nicht nur das. In der Debatte zu den Themen „Bekämpfung illegaler Migration“ und „Sozialleistungsbetrug“ haben Sie vorgeschlagen – nachzulesen auf Seite 4 Ihres Entschließungsantrags –, den Personalmehrbedarf beim Zoll durch Rationalisierungsmaßnahmen zu erreichen. Der Zoll ist ausdrücklich ein Mittel zur Bekämpfung von organisierter Kriminalität, Geldwäsche und ähnlicher Delikte. ({12}) Sie empfehlen glatt Rationalisierungsmaßnahmen. Es ist an Scheinheiligkeit, Bigotterie und Dummheit nicht zu übertreffen, wenn man so etwas fordert und hier ernsthaft als Kämpfer gegen die Clankriminalität auftritt. ({13}) Noch ein dritter Punkt: Wenn Sie in dieser ganzen Debatte auch noch deutlich machen, dass jetzt auch Geflüchtete zum Kreis der möglichen Täter gehören, was ja eine ernsthafte Frage ist, dass sie rekrutiert würden und selber Clans – in Anführungszeichen – bildeten, warum haben Sie dann dem Ausländerbeschäftigungsförderungsgesetz nicht zugestimmt? ({14}) Warum haben Sie dann nicht dem Gesetzentwurf über Duldung bei Ausbildung und Beschäftigung zugestimmt? Das sind wesentliche Ursachen: Kettenduldung, Nichtbeschäftigung, Perspektivlosigkeit. Das sind die sozialen Bedingungen dieser Form von Kriminalität. Sie haben gegen diese Gesetze gestimmt. Kurze Zusammenfassung: Die AfD-Fraktion steht für Unsicherheit und Bedrohung, ({15}) und sie ist das schlechteste Mittel zur Bekämpfung organisierter Kriminalität. ({16}) Wer aus Ihren Reihen von Clankriminalität spricht, der spricht von sich selbst. ({17})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, bei aller Begeisterung, kommen Sie bitte zum Ende. ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn Sie von einer hohlen Inszenierung sprechen, dann sage ich: Die Formulierung ist richtig, nur der Adres ­sat ist falsch. Nicht diese Fraktionen, nicht die sozialdemokratischen und christdemokratischen Innenminister betreiben eine hohle Inszenierung; die hohle Inszenierung sind Sie selbst. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Marc Henrichmann, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Marc Henrichmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004744, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Besucher! Angekündigt war diese Debatte im Netz auf den Seiten des Bundestages mit den Worten: AfD und FDP wollen gegen kriminelle Clans vorgehen. – Der erste Gedanke war: Jetzt schon? Und der zweite Gedanke war: Ist in Teilen der Republik die Zeitung nicht ausgeliefert worden? Denn wir Nordrhein-Westfalen haben schon einiges zu dem Thema gehört. In beiden Anträgen taucht immer wieder das BKA auf. Es wird gefordert, der Bund müsse mehr Kompetenzen übernehmen, mehr tun, mehr machen, mehr koordinieren. Doch das widerspricht den Forderungen der Landesinnenminister – Christoph de Vries hat es angesprochen –, die originär dafür zuständig sind. Die sagen: Wir wollen zusammenarbeiten. Ihre Anträge verkennen aber auch die Tatsachen; denn Zusammenarbeit findet schon statt. Wir von der Union haben mal etwas ganz „Verrücktes“ gemacht: Wir sind einfach zum BKA, über das wir heute hier sprechen, gefahren und haben mit Vertretern gesprochen. Wenn Sie das vor dem Verfassen Ihrer Anträge auch gemacht hätten, dann hätten Sie gehört, dass es auf Behördenleiterebene bereits diverse Gespräche gibt – zwischen Bundesländern und BKA, zwischen Zoll und BKA, zwischen Bundespolizei und BKA –, in denen es darum geht, länderübergreifende Auswertungen vorzunehmen, in denen es darum geht, Lageübersichten zu optimieren, in denen es auch um Fragen von Rückführung geht, um ausländerrechtliche Fragen, in denen es auch um Prävention und Ausstiegsprogramme geht, über die wir noch gar nicht geredet haben. Nordrhein-Westfalen ist zu Recht als leuchtendes Beispiel angesprochen worden. Es wundert mich nicht, dass die AfD den Antrag so gestellt hat, wie sie ihn gestellt hat, weil meistens die Substanz in der Begründung ausgelassen wird, um die reißerische Überschrift nicht zu gefährden. Doch die NRW-Koalition – Schwarz-Gelb – mit Innenminister Reul geht die Missstände an, ({0}) und es ist gut, dass das passiert. ({1}) Wenn man mit Behördenleitern, die frühzeitig auf Sozialbetrug hingewiesen haben, der bei der Clankriminalität auch eine große Rolle spielt, spricht, dann sagen die: Wir haben das über Jahre und Jahrzehnte der rot-grünen Landesregierung gemeldet. Passiert ist nichts, das war nicht gewollt, weil man Angst hatte, falsche Angst hatte vor Diskriminierungsvorwürfen. Diese Angst ist jetzt abgelegt worden. Jetzt legen wir das Augenmerk auf die Kriminellen. – Das ist, glaube ich, unglaublich wichtig. Die Zahlen sind angesprochen worden. Wir reden nicht über Bagatelldelikte, sondern über Raub, Erpressung, Menschenhandel und Drogenkriminalität. Der Staat holt sich das Recht zurück, und das ist richtig so. Die Menschen erwarten von uns, dass der Rechtsstaat greift. Das passiert beispielweise in Nordrhein-Westfalen. Leuchtende Beispiele sind Schwerpunktstaatsanwaltschaften. Das ist keine Erfindung aus Deutschland, sondern wir haben gelernt von Kolleginnen und Kollegen aus Italien, die damit gute Erfahrungen bei der Mafiabekämpfung gemacht haben. Konstruktiv zusammenarbeiten und gucken, wo es gut läuft, das ist das Richtige. Konkrete Ansätze brauchen wir auch in der Praxis. Davon finde ich in beiden Anträgen zu wenig. Statt sich hinter den Zug zu werfen – die Debatte läuft ja schon seit Monaten –, sollten wir uns mal committen, was die Einzelheiten angeht. Wenn wir über die Polizei reden, müssen wir natürlich feststellen, dass die Personaldecke dünn ist. Wir müssen aber auch fragen: Was muten wir unseren Polizisten zu? Vertrauen wir ihnen eigentlich? Innenminister Reul sagte über die Gespräche mit seinen Polizisten ganz deutlich, dass die Polizisten froh sind, dass sie sich in weiten Teilen jetzt mal auf ihre Spürnase, auf ihren Instinkt verlassen können, dass sie natürlich rechtsstaatlich handeln, aber auch die Rückendeckung ihrer politischen Führung haben. Das ist ganz wichtig. Das ist ein Signal, das wir aussenden sollten. Das habe ich zum Teil auch in dieser Debatte, ehrlich gesagt, vermisst. ({2}) Ich möchte bei dieser Gelegenheit den Polizistinnen und Polizisten, die damit befasst sind, Danke sagen. Ich persönlich finde es schräg, dass wir einerseits erwarten, dass sie ihren Kopf hinhalten, während die Familien mancher Polizeibeamten sogar mit dem Tod bedroht werden, andererseits aber immer noch Kennzeichnungen und Ähnliches diskutiert werden. Darüber sollten wir einmal nachdenken und einfach einmal sagen: Bei solchen besonderen Missionen müssen die Polizisten unsere volle Rückdeckung haben. ({3}) Die Vermögensabschöpfung wurde angesprochen. Ich erspare Ihnen weitere Einzelheiten, möchte aber im Hinblick auf die beiden Anträge sagen: Ich hätte mir Konkretes gewünscht. Wir haben in den letzten Tagen im Innenausschuss sehr viel über die Datenschutzthematik diskutiert, auch was den strafrechtlichen Justizbereich angeht. Wenn Sie es mit Ihrem Kampf gegen Clanstrukturen und Clankriminalität ernst gemeint hätten, dann hätten wir das auch an der Stelle diskutieren müssen. Es ist durchaus ein Problem, wenn Polizeibeamte sagen: „Wir dürfen nicht einfach so Bilder und Namen von Clanmitgliedern zusammentragen, was uns bei der Ermittlung und der Aufarbeitung helfen würde“, oder aber: Die Abgleichung von Daten von Sozialbehörden bei Sozialleistungsbetrug ist relativ schwierig. – Auch da sollten wir gemeinsam überlegen. Ich hätte mir gewünscht, dies in diesen Anträgen zu finden. Aber auch da war leider Fehlanzeige, stattdessen viel Placebo und Schaufenster. Ich glaube, das Signal ist wichtig, dass der Staat auf Augenhöhe mit Kriminellen kämpft. Das kommt manchmal noch zu kurz. ({4}) Schlussbemerkung. Noch mal ein herzliches Dankeschön an die Polizei und auch an diejenigen, die ihren Kopf dafür hinhalten. Der Philosoph Montesquieu hat einmal gesagt: „Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen, dann ist es notwendig, kein Gesetz zu machen.“ ({5}) Vielleicht kann man es so fassen: Da es sich nicht um zielführende und inhaltlich fundierte Anträge handelt, sollten wir uns vielleicht noch einmal hinsetzen und uns inhaltlich damit beschäftigen, wie wir das Problem der Clankriminalität in Deutschland gemeinsam aus der Welt räumen. Das haben die Menschen verdient. Vielen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Als nächster und damit letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben heute die Anträge der AfD und der FDP zum Thema Clankriminalität debattiert. Auch wenn ich nicht jede Einschätzung im Antrag der FDP teile, so ist dieser zumindest von einer Lösungsorientiertheit geprägt, und er ist differenziert, wohingegen die AfD in ihrem Antrag nicht nur mit rassistischen Stereotypen spielt, sondern unseren Polizei- und Sicherheitsbehörden auch noch in den Rücken fällt, allein mit dem Ziel, Angst zu schüren. Das machen wir nicht mit. ({0}) – Dr. Alexander Gauland [AfD]: Hetze!) Wenn Sie schreiben, es mangele in den Behörden an Wissen und an organisatorischen Voraussetzungen, dann ignorieren Sie einfach das, was in den letzten Jahren tatsächlich passiert ist, ({1}) und zwar sowohl die Fortschritte im gesetzlichen Bereich als auch im Bereich der Strafverfolgungsbehörden. Es geht Ihnen nicht darum, Verbesserungen herbeizuführen, sondern darum, ein Klima der Angst zu erzeugen, und das, meine Damen und Herren, werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. ({2}) Wir müssen aber auch noch ein Stück weit über die in den Raum gestellte These sprechen, die Migrationspolitik der 80er-Jahre wäre auch für das Aufkommen der Clankriminalität verantwortlich. ({3}) Ich bitte darum, dass wir das ein Stück weit differenzierter sehen. Ja, die Migrationspolitik der 80er-Jahre ist unter heutiger Betrachtung nicht mehr das, was man unter einer wirklich gelungenen Integrationsarbeit versteht; das ist gar keine Frage. ({4}) Aber die Entscheidung für oder gegen Rechtstreue, die Frage, ob jemand eine Straftat begeht oder nicht, ob er sich gegen diesen Staat stellt oder nicht, ist nicht allein eine Frage des Zugangs zum Arbeitsmarkt, sondern der ganz persönlichen Haltung. ({5}) Viele Migranten der 80er- und 90er-Jahre, die nicht von einer Beschäftigungsduldung betroffen waren, sind eben nicht strafbar geworden; das bitte ich auch zur Kenntnis zu nehmen. Da verbieten sich auch undifferenzierte Haltungen. ({6}) Ich glaube, meine Damen und Herren, der wichtigste Punkt bei der Bekämpfung der Clankriminalität ist die Spur des Geldes. ({7}) Denn diese Straftaten werden begangen, um Vermögen zu erzielen, und danach wird dieses Vermögen verschleiert. Es geht darum, den Kampf gegen Geldwäsche, aber auch gegen illegale Finanztransaktionen weiter in den Vordergrund zu rücken. Und da ist ziemlich viel passiert in unserem Land. Es ist bezeichnend, dass die AfD mit keinem Satz auf die Neuregelung der Vermögensabschöpfung im Jahr 2017 eingegangen ist. Im Rahmen der Neuregelung, meine Damen und Herren, kam es zu einem Paradigmenwechsel. Bis 2017 konnte eine Vermögensabschöpfung nur vorgenommen werden, wenn ein Nachweis der konkreten Tat geführt werden konnte, aus der die Erträge stammen. Jetzt ist es so, dass bereits Vermögen unklarer Herkunft eingezogen werden können, also wenn ein Missverhältnis zwischen den Werten und dem Vermögen einerseits und den Einkünften eines jeden Einzelnen andererseits besteht. Das ist also eine Art Beweislastumkehr. Das ist ein ganz wichtiger Punkt bei der Bekämpfung der Clankriminalität und übrigens auch der organisierten Kriminalität insgesamt. Das lassen wir uns nicht kleinreden. ({8}) Ganz im Gegenteil: Wir brauchen auch weiterhin eine ordentliche Finanzausstattung von Finanzbehörden, Zoll, Staatsanwaltschaften und Polizei, um die Spur des Geldes zu ermitteln und um den Kriminellen die Früchte der kriminellen Energie wegzureißen. Denn letzten Endes müssen wir deutlich machen: Clankriminalität darf sich nicht finanziell lohnen. Die Härte des Rechtsstaats mit einer Null-Toleranz-Politik ist die richtige Antwort des Staates, und daran arbeiten wir weiter. Vielen Dank. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Ullrich. – Damit ist die Aussprache beendet. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/11121 und 19/11105 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Anja Karliczek (Minister:in)

Politiker ID: 11004323

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt viele Dinge, um die uns die Welt beneidet, und ich glaube, wir können sagen: Die duale Berufsausbildung ist eins davon. Sie hat einen großen Anteil an der wirtschaftlichen Kraft unseres Landes. Sie schafft für jeden einzelnen Auszubildenden hervorragende Chancen, und sie bietet den Betrieben hochqualifizierte Mitarbeiter. Die berufliche Bildung bei uns muss sich wahrlich nicht verstecken. Im Gegenteil: Berufliche und akademische Bildung bieten bei uns gleichwertige Chancen auf ein erfolgreiches Arbeitsleben. ({0}) Beide sind anspruchsvoll und bereiten auf spannende Aufgaben vor. Beide bieten ausgezeichnete Chancen für den Aufstieg im Beruf. Beide sind unverzichtbar, um den Fachkräftebedarf bei uns im Land zu decken, und zwischen beiden können junge Menschen in Deutschland frei wählen, ganz nach ihren Interessen und Stärken. In den vergangenen Jahren stand vor allem die akademische Bildung im Fokus. Das hat uns einen historischen Höchststand an Studierenden beschert. Für die berufliche Bildung legen wir jetzt nach. Wir modernisieren das Berufsbildungsgesetz. Wir sichern die Attraktivität der beruflichen Bildung für die Zukunft. Wir geben ihr den Stellenwert, der ihr wirklich zusteht. ({1}) Wir zeigen: Mit einer beruflichen Ausbildung kann man auch eine große Karriere machen und auch ein hohes Gehalt bekommen. Denn die Unternehmen suchen dringend beruflich qualifizierte Arbeitskräfte. Die Situation auf dem Arbeitsmarkt ist so gut wie lange nicht mehr. Das ist die zentrale Nachricht des aktuellen Berufsbildungsberichtes: Die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge steigt wieder, und mittlerweile stehen 100 Bewerberinnen und Bewerbern 106 Ausbildungsplätze gegenüber. Das zeigt: Die Betriebe setzen ganz klar auf die duale Ausbildung zur Deckung ihres Fachkräftebedarfs. Sie strengen sich mittlerweile sogar besonders an, um jungen Menschen ein wirklich gutes Angebot zu machen. Diese Entwicklung ist nicht nur bemerkenswert, sondern von unserer Seite auch fördernswert. ({2}) Wir wollen die berufliche Bildung entschieden stärken. Die Novelle des Berufsbildungsgesetzes ist dazu ein wichtiger Schritt. Lassen Sie mich das an drei Punkten verdeutlichen: Auszubildende packen in den Betrieben auch engagiert mit an. Das ist eine Leistung, die auch finanziell anerkennenswert ist. Wir wollen eine wertschätzende Kultur des Miteinanders: im Leben, auf der Arbeit und auch selbstverständlich in der Ausbildung. In den meisten Branchen und Betrieben ist das mittlerweile der Fall. Wo dies nicht so ist, wollen wir ein Zeichen für eine attraktive Ausbildung setzen. Mit der Novelle führen wir deshalb eine Mindestvergütung ein. Sie startet 2020 mit 515 Euro. Wer sich ein bisschen auskennt, der weiß genau, dass viele Betriebe schon heute mehr zahlen. Deshalb ist es ein richtiges Zeichen, dass die Mindestausbildungsvergütung stufenweise auf 620 Euro für das erste Ausbildungsjahr steigt. Nach 2023 passen wir die Mindestvergütung an die durchschnittliche Entwicklung aller Ausbildungsvergütungen an. Mehr noch: Da ein Auszubildender mit jedem weiteren Jahr der Betriebszugehörigkeit wertvoller für das Unternehmen wird, soll er das auch spüren, und zwar durch einen Aufschlag von 18 Prozent im zweiten und 35 Prozent im dritten Ausbildungsjahr. Ganz bewusst haben wir übrigens bei der Frage, wie hoch die Mindestvergütung sein soll, die Sozialpartner eingebunden. Es war ein guter und enger Austausch. Am Ende stand der Kompromiss. Der Interessenausgleich, der unser System der beruflichen Bildung seit jeher stark gemacht hat, hat sich auch hier wieder einmal bewährt. Denn die Mindestvergütung stärkt nicht nur die berufliche Bildung, sondern auch die Sozialpartnerschaft. Die Tarifbindung eines Betriebes hat immer Vorrang vor der Mindestvergütung. Das lässt Möglichkeiten und Freiheiten, auch regionale und branchenspezifische Lösungen zu finden. Wo es aber keine Tarifbindung gibt, greift die neue Haltelinie. Wie immer und überall gilt auch hier: Geld ist nicht alles. Für eine attraktive Ausbildung braucht es noch ein wenig mehr. Eine Ausbildung soll in möglichst vielen Lebenssituationen möglich sein. Denn uns ist wichtig, dass jedem der Start ins Berufsleben gelingt. Auch hier wollen wir ein überzeugendes Angebot schaffen. Deshalb stärken wir die Berufsausbildung in Teilzeit. Künftig kann die Ausbildungszeit im Einvernehmen mit dem Betrieb verlängert werden. So wird Teilzeit zu einer echten Option für Auszubildende. So wird die duale Ausbildung beispielsweise auch für neue Zielgruppen attraktiv, etwa für Menschen mit einer Lernbeeinträchtigung. 74 Prozent der Auszubildenden werden von ihrem Betrieb übernommen. Sie wechseln nahtlos ins Anstellungsverhältnis. Das zeigt: Eine Ausbildung eröffnet beste Chancen, gerade auch jetzt in Zeiten des Fachkräftemangels. Sie lohnt sich sowohl für die Betriebe als auch für Auszubildende. Aber nach einer Ausbildung ist noch lange nicht Schluss. Für denjenigen, der es möchte, kann es weitergehen: in Führungspositionen eines Unternehmens oder eben auch zum eigenen Meisterbetrieb. Qualifizierung ist heute mehr denn je erwünscht und auch möglich. Auch hier setzen wir Zeichen für mehr Internationalität und für mehr grenzüberschreitende Zusammenarbeit. Wir schaffen Transparenz mit drei einheitlichen Fortbildungsstufen und drei griffigen Abschlussbezeichnungen: Geprüfter Berufsspezialist, Bachelor Professional, Master Professional. Schon an der Sprache wird deutlich: Die berufliche Bildung in den Betrieben ist im Wert vergleichbar mit der Ausbildung an den Universitäten. Auch im Ausland werden die neuen Bezeichnungen gut verstanden. Das ist gerade in weltweit operierenden Unternehmen und über Landesgrenzen hinaus wichtig. So stärken wir die berufliche Bildung als Marke. So stärken wir Karrierechancen. So stärken wir den Arbeitsmarkt, und so leisten wir einen wichtigen Beitrag für die Fachkräftesicherung. ({3}) Bewährte Berufsbezeichnungen bleiben natürlich erhalten. Die neuen Bezeichnungen ergänzen sie und stärken sie. Aber der Meister bleibt der Meister, jetzt und in Zukunft. Der nächste Schritt zur Stärkung der beruflichen Bildung ist schon auf dem Weg. Wir werden auch das AFBG, das Aufstiegs-BAföG, novellieren; den Gesetzentwurf werden wir in Kürze vorlegen. Mit der Reform des Berufsbildungsgesetzes liefern wir heute spürbare Verbesserungen für die Auszubildenden, die Kammern und Betriebe. Wir bauen Flexibilität auf und Bürokratie ab. Wir geben der dualen Berufsbildung den Wert, der ihr gebührt. 50 Jahre wird unser Berufsbildungsgesetz in diesem Jahr alt. Berufsbildung in Deutschland war bisher eine Erfolgsgeschichte und soll es auch zukünftig bleiben. Dafür bitte ich um Ihre Unterstützung. Herzlichen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Ministerin. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Götz Frömming, AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Götz Frömming (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004722, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Bundesministerin Karliczek, ich weiß nicht, ob Sie in letzter Zeit einen Handwerker gebraucht haben. Wenn ja, mussten Sie vermutlich ziemlich lange auf ihn warten. Im Durchschnitt dauert es fast zehn Wochen, bis der Handwerker zu Ihnen kommt, wie aus dem Konjunkturbericht des Zentralverbands des Deutschen Handwerks hervorgeht – Tendenz weiter steigend. Besonders lang sind die Wartezeiten im Baugewerbe. Dort müssen Sie bis zu 14 Wochen warten. Wir bräuchten also dringend mehr Handwerker. Viele Ausbildungsstellen bleiben aber unbesetzt. Stattdessen produzieren wir Heerscharen von Studienabbrechern. Fast jeder dritte Student bricht sein Studium ab und verlässt die Universität vorzeitig und ohne Abschluss. Die volkswirtschaftlichen Kosten sind immens. Wir brauchen mehr fertige Meister und weniger gescheiterte Master. ({0}) Deshalb ist es grundsätzlich begrüßenswert, dass die Bundesregierung und namentlich die Bundesbildungsministerin angekündigt haben, die berufliche Ausbildung aufzuwerten. Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung verspricht uns im Titel eine „Modernisierung und Stärkung der beruflichen Bildung“. Regelungsgegenstand ist konkret das Berufsbildungsgesetz, also die gesetzliche Grundlage der dualen Berufsausbildung. Diese kann – es wurde eben schon gesagt – zu Recht als ein ganz wichtiges und bewährtes Instrument zur Sicherung unseres wirtschaftlichen Wohlergebens angesehen werden. Aber jeder Eingriff in dieses bewährte System muss wohlüberlegt und gut begründet sein. Ich möchte auf zwei besonders auffällige Änderungsvorhaben eingehen, die Sie eben naturgemäß sehr positiv dargestellt haben, an denen wir aber einiges zu bemängeln haben. Das Erste ist die Einführung einer Mindestvergütung für Auszubildende. Das klingt erst einmal toll. Diese soll im ersten Ausbildungsjahr zunächst bei 515 Euro liegen, in den nächsten drei Jahren schrittweise auf 620 Euro angehoben werden und weiter dynamisiert steigen; Sie haben es eben gesagt. In den Anträgen der Linken und Grünen heißt es natürlich, dass das zu wenig sei. Das war zu erwarten. ({1}) Über ihre Anträge werden wir im Ausschuss noch ausführlicher sprechen können. Nun könnte man denken, es sei sehr nett von der Bundesregierung, dass sie den Auszubildenden mehr Geld geben will. Die Sache hat nur einen Haken: Es ist gar nicht das Geld der Bundesregierung, über das hier verfügt werden soll, sondern es ist das Geld der Betriebe, über das die Regierung verfügt, als handele es sich um Steuergelder. Es verwundert daher nicht, dass von der Arbeitgeberseite – auch dies haben Sie anders dargestellt – massive Kritik an dieser Regelung geübt wurde. So spricht beispielsweise Roland Ermer, Präsident des Sächsischen Handwerkstages, von einer Aushebelung der Tarifautonomie. ({2}) Insbesondere in Ostdeutschland könne die starre Festsetzung dazu führen, dass kleinere Betriebe es sich nicht mehr leisten können, weiter auszubilden. Das wäre ein verheerender Effekt. Wir alle miteinander können hoffen, dass er so nicht eintritt. ({3}) Aber auch die Arbeitnehmer haben interessanterweise ein Problem mit der Mindestvergütung. Sie befürchten für einige Branchen eine Verschlechterung. Nach aktueller Rechtsprechung stehen Auszubildenden in nichttarifgebundenen Betrieben der Metall- und Elektroindustrie im ersten Ausbildungsjahr rund 800 Euro zu. ({4}) Hier könnte es durch die Mindestvergütung zu einer Öffnungsklausel nach unten kommen. ({5}) Deshalb ist die vorgesehene Neuregelung zur Mindestausbildungsvergütung für Hans-Jürgen Urban, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall, ein Skandal, wie er sich ausdrückte. Selbst die GEW räumt ein, dass die geplante Mindestvergütung nur für einen sehr kleinen Teil der Auszubildenden eine Verbesserung bringt. Die Mehrheit unserer Betriebe zahlt nämlich längst mehr. Das sollten wir auch einmal anerkennen und die Betriebe hier nicht unter Generalverdacht stellen. ({6}) Kurzum: Die Mindestvergütung ist nicht unproblematisch, auch deshalb nicht, weil parallel dazu abweichende Tarifvereinbarungen ja weiterhin möglich sein sollen, und zwar – jetzt kommt es – nach oben, aber auch nach unten. Das können Sie nachlesen: Drucksache 19/10815, Seite 42 f. Dass man eine Mindestvergütung überschreiten kann, verstehe ich ja noch. Aber warum soll man sie auch unterschreiten dürfen? Meine Damen und Herren, das hätten sich die Bürger der Stadt Schilda nicht besser ausdenken können. Sie begründen in den Erläuterungen zum Gesetzentwurf diese Kuriosität damit, so „die verfassungsrechtlich garantierte Tarifautonomie in besonderer Weise berücksichtigt“ zu haben. In der Tat: Das ist wirklich eine besondere Weise. Auch beim zweiten Punkt, den ich ansprechen möchte, haben Sie, anstatt die Dinge zu vereinfachen, neue Verwirrung gestiftet und Parallelstrukturen geschaffen. Es soll drei neue Abschlussbezeichnungen geben: Geprüfter Berufsspezialist, Bachelor Professional und Master Professional. Meine Damen und Herren, das klingt nicht nur anmaßend und albern, sondern das ist es auch. Die Hochschulrektoren haben das zu Recht kritisiert. Gleichzeitig wollen Sie aber den bewährten Meistertitel nicht abschaffen. Dieser existiert dann so irgendwie daneben. Der Kunde hat dann also die Wahl, ob er sich den kaputten Abfluss von einem Handwerksmeister oder einem Bachelor Professional reparieren lassen möchte. Ich frage mich, ob es Preisunterschiede geben wird, wenn man den akademischen Reparaturservice in Anspruch nimmt. ({7}) Aber vielleicht kommt der Bachelor Professional dann ja wenigstens schneller, oder die FDP entwickelt bis dahin noch eine digitale Lösung für das Problem. ({8}) Ich möchte abschließend noch einen ernsten Punkt ansprechen. Wir haben derzeit über 2 Millionen junge Erwachsene ohne Berufsausbildung, die bisher einfach durch das Raster fallen, und es werden immer mehr. Darunter sind übrigens besonders viele Menschen mit Migrationshintergrund. Wir müssen dringend dafür Sorge tragen, dass diejenigen, die hier bleiben, allein schon damit sie der Allgemeinheit nicht dauerhaft zur Last fallen, in das Berufsausbildungssystem eingegliedert werden. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung greift an dieser Stelle aber leider zu kurz. Sie schielen auf die Universitäten – das verraten auch die neuen Titel – und wollen eine Art Pseudoakademisierung der beruflichen Bildung. Das ist überflüssig; das brauchen wir nicht. ({9}) An dieser Stelle setzt unser Antrag „Berufliche Bildung stärken – Keinen zurücklassen“ an. Durch die Einführung abgrenzbarer Ausbildungsabschnitte wollen wir diese Leute, die häufig keinen oder nur einen sehr schlechten Schulabschluss haben, mitnehmen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich denke an dieser Stelle an einen Mann zurück, Willi hieß er zufällig. Er war Gemeindearbeiter in dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin. Er konnte nur die einfachsten Arbeiten verrichten; aber er wurde von allen geachtet, und er gehörte dazu; denn seine Arbeit war, wenn man es richtig bedenkt, genauso wichtig wie die Arbeit des Bürgermeisters in diesem Dorf. Ich danke Ihnen. ({10})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Yasmin Fahimi, SPD-Fraktion. ({0})

Yasmin Fahimi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004713, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen des Hauses! Sehr geehrte Gäste auf den Tribünen! Die berufliche Bildung in Deutschland ist exzellent. Sie ist der Grund dafür, dass unser Jobmotor läuft. Sie ist Innovationstreiber für unsere Wirtschaft, und sie ist das beste Mittel zur Integration breiter Schichten in die Arbeitswelt – und das seit Generationen. Aber wo Licht ist, ist auch Schatten. Der Berufsbildungsbericht beschreibt, dass 25 Prozent aller Auszubildenden ihre Ausbildung vorzeitig abbrechen. Auszubildende werden zum Teil als Ersatzarbeitskräfte eingesetzt, oder die Vergütungen sind so niedrig, dass selbst Mehraufwendungen für gute Kleidung oder Monatstickets davon nicht bestritten werden können. Leider wächst auch der Anteil von Betrieben, die nicht mehr ausreichend qualitätsgesichert ausbilden oder sich ganz aus der Ausbildung zurückziehen. Wenn wir also über ein Berufsbildungsmodernisierungsgesetz reden, dann geht es auch darum, das Versprechen zu halten, dass Modernisierung auch verbessern heißt. Und was zu verbessern ist, sind die Ausbildungsbedingungen. Wir, die SPD, sind stolz darauf, dass wir die Mindestausbildungsvergütung jetzt durchgesetzt haben. Das ist ein Meilenstein in der Berufsbildungsgeschichte, ({0}) und es ist ein Versprechen an alle jungen Menschen: Eure Ausbildung ist etwas wert. Sie ist uns mindestens eine angemessene Vergütung wert, und ihr seid keine Bittsteller. ({1}) Wir freuen uns auch, dass diese Regelung auf Grundlage einer Sozialpartnerverständigung zustande gekommen ist, und zwar auf höchster Ebene von DGB und BDA, und eine Erhöhung automatisch erfolgt, nämlich entlang der durchschnittlichen Erhöhungen der Ausbildungsvergütungen, also auch der tariflichen Ausbildungsvergütung. Herr Frömming, es tut mir leid. Sie haben offensichtlich keine Ahnung davon, wie Tarifautonomie funktioniert. Das ist nämlich auch Basis dessen, was Sozialpartner verabredet haben, und damit Respekt gegenüber der Sozialpartnerschaft und der Tarifautonomie. Sie sprechen von den Arbeitgebern, die überhaupt nicht tarifgebunden sind. Denen wird jetzt ein Riegel vorgeschoben. ({2}) Ich sage aber auch: Von einem Modernisierungsgesetz erwarte ich schon noch ein bisschen mehr. Ein echtes Signal der Modernisierung wäre es zum Beispiel, auch die dual Studierenden, deren Zahl wächst, endlich unter das Dach des Berufsbildungsgesetzes zu bringen. ({3}) Wo dual draufsteht, muss auch dual drin sein. Es zeigt sich aber, dass der Status der dual Studierenden nicht einheitlich geregelt ist. Dual Studierende bekommen mal einen Ausbildungsvertrag, mal einen Praktikumsvertrag, mal einen eigens ausgedachten Vertrag. Das Ganze ist umso unsinniger, als sogenannte ausbildungsintegriert dual Studierende vom BBiG bereits erfasst sind, alle anderen aber eben nicht. Eine duale Ausbildung jedweder Art muss eine geschützte und qualitätsgesicherte Marke bleiben. Die Berufsbildung darf eben auch für dual Studierende kein Glücksspiel sein. Für ihre betriebliche Praxisphase haben sie ein Recht auf einen betrieblichen Ausbildungsplan und einen Anspruch auf einen echten Ausbildungsvertrag. Jetzt haben wir die Chance, das sauber zu regeln. ({4}) Die SPD sieht aber auch Verbesserungsbedarf für Auszubildende und Ausbilder. Wir wollen, dass die unnötigen Unschärfen endlich geglättet werden und die Berufsschulfreistellungszeiten von erwachsenen Auszubildenden nach dem Vorbild des Jugendarbeitsschutzgesetzes geregelt werden. Der Mangel an Prüfern kann nicht auf Dauer durch Aufweichung unserer Standards kompensiert werden. Man muss sich schon mit den Ursachen des Problems beschäftigen: Warum melden sich immer weniger Ausbilder als ehrenamtliche Prüfer? Ein Hinweis auf die Antwort steckt bereits in der Frage. Es ist nämlich eine ehrenamtliche Aufgabe. Manche Prüfer müssen sogar Urlaub nehmen, um diesen gesetzlich vorgesehenen Aufgaben nachzugehen. Das sollten wir so nicht weiter akzeptieren. Die Freistellungsansprüche von Prüferinnen und Prüfern müssen geregelt werden. Was für ehrenamtliche Richter geht, muss auch für Prüfer möglich sein. ({5}) Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir freuen uns, dass wieder steigende Auszubildendenzahlen, gerade im Handwerk, zu verzeichnen sind, und zwar, anders als es die AfD-Fraktion hier immer wieder behauptet, nicht zuletzt wegen der zunehmend gelingenden Integration von Flüchtlingen. Aber, ja, die Zahl der jungen Erwachsenen zwischen 20 und 34 Jahren ohne Berufsabschluss ist inzwischen auf über 2 Millionen angestiegen und erreicht damit einen Anteil von über 14 Prozent, das ist jeder Siebte der Generation. Was diese Menschen brauchen, ist eine gute, eine noch bessere Ausbildung in Betrieb und Berufsschule. Was sie brauchen, ist eine solide und praxisorientierte Ausbildungsvorbereitung. Was wir ihnen also bieten müssen, ist mehr Zeit und Aufmerksamkeit, nicht weniger. ({6}) Was sie aber definitiv nicht brauchen, ist die Entwertung von Ausbildung, wie sie im AfD-Antrag steht. Zum wiederholten Mal versuchen Sie hier, unter scheinheiligen Überschriften zu suggerieren, es ginge Ihnen um die sogenannten Zurückgelassenen. Das ist an Zynismus kaum zu überbieten, wenn man sich anschaut, was Sie fordern, nämlich eine voll durchmodularisierte Berufsbildung, einen Ausbildungspass, also mit anderen Worten ein Berufsbildungssystem, in dem sich jeder seinen Beruf mal selbst zusammenbasteln soll – und das natürlich am besten nach Gutdünken der Arbeitgeber. ({7}) Und wozu das führt, sehen wir bei den zweijährigen Ausbildungsberufen, nämlich zu weniger Perspektive und zu weniger Geld. ({8}) Das ist die Zukunft, die die AfD denen anbieten will, die sie als leistungsschwach beschreibt. Weniger statt mehr – das ist Ihre Antwort. Ohne uns. Im Übrigen möchte ich Sie noch darauf hinweisen, dass die Entscheidung, ob Meister oder Master, immer noch eine individuelle ist. In diesem Land gibt es eine freie Berufswahl, sie wird nicht vorgesetzt und definiert nach Leistungsgruppen, wie die AfD das will. ({9}) Wir sollten mit dieser Novelle also nicht nur eine Fassade errichten, sondern ein stabiles Mauerwerk. Deswegen bitte ich Sie: Lassen Sie uns in den weiteren Beratungen trotz der Hitze in dieser Woche noch mehr Licht in die berufliche Bildung bringen! Vielen Dank. ({10})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner ist Dr. Jens Brandenburg, FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Jens Brandenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir in den letzten Monaten über berufliche Bildung gesprochen haben, dann haben manche von Ihnen immer ein Katastrophenszenario gezeichnet, in dem wir von Digitalisierung und Globalisierung gewissermaßen überrollt werden. Davor, so die Argumentation, müsse man die Menschen schützen mit mehr Regulation und mehr Akademisierung. Andere fokussieren sich – wir haben es heute wieder gehört – sehr stark auf die unbestreitbar existierenden Erfolge der dualen Ausbildung, glauben dann aber, dass es mit ein paar kosmetischen Korrekturen getan sei. Beides ist falsch. Die neue digitale Arbeitswelt bietet doch großartige Chancen für Azubis, Betriebe und auch Berufsschulen. Lassen Sie uns also gemeinsam diese Chancen in den Mittelpunkt stellen, nicht verteufeln, nicht ignorieren, sondern nutzen, um ein Update der beruflichen Bildung in Deutschland durchzusetzen. ({0}) Frau Karliczek, Sie nutzen diese große Chance bisher nicht. Sie verkünden ein Jahr der Berufsbildung, legen uns heute aber ein Reförmchen vor, das im Wesentlichen aus lange bekannten kleinen Anpassungen besteht. Neu ist die gesetzliche Mindestausbildungsvergütung, die, wie Sie zu Recht sagen, die allermeisten Azubis gar nicht betrifft. Wie Sie allerdings sicherstellen wollen, dass in den Branchen und Regionen, die betroffen sind, Ausbildungsplätze nicht wegfallen, sondern erhalten bleiben, das haben Sie auch heute nicht erklärt. ({1}) Neu sind außerdem die Fortbildungsstufen bzw. deren Bezeichnungen. Ich sage ganz klar: Begriffe wie „Bachelor Professional“ verwischen die Stärke und das Profil der beruflichen Bildung eher. Es muss nicht alles akademischer werden. Der Apfel schmeckt nicht besser, nur weil künftig Banane draufsteht. Das ist kein Fortschritt, das ist Etikettenschwindel. ({2}) Als Serviceopposition schlagen wir Ihnen heute in gewohnter Manier natürlich eine Exzellenzinitiative für die berufliche Bildung vor, die endlich wieder mehr junge Menschen dafür begeistern soll, eine berufliche Aus- und Weiterbildung aufzunehmen, die ihre Neugierde, ihre Kreativität in der digitalen Arbeitswelt entfesselt und die sie mit passgenauen Angeboten zum Piloten ihres eigenen Lebens macht. Erstens. Nutzen wir doch die Chancen der Globalisierung. Eine Auslandserfahrung stärkt ja nicht nur berufliche Kompetenzen und Profile, sondern auch charakterliche Persönlichkeitsentwicklungen. Lassen Sie uns doch gemeinsam die frühe Idee der Wanderjahre wiederbeleben und beispielsweise das Erasmus-Programm, das europaweit formal ja auch Azubis offensteht, ausbauen. Wir schlagen vor, eine Art DAAD für die berufliche Bildung einzurichten, ein Institut, das Betriebe, Berufsschulen und insbesondere die Azubis dabei unterstützt. Was bei Studierenden funktioniert, das muss doch wohl auch für Azubis möglich sein. ({3}) Zweitens. Nutzen wir die Chancen der Digitalisierung mit flächendeckenden digitalen Lernangeboten auch jenseits einzelner Leuchtturmprojekte, mit innovativen Lernformaten, zum Beispiel Blended Learning oder Virtual Reality. Auf diese neuen Aufgaben müssen wir auch die Lehrkräfte und die Ausbilder in den Betrieben besser vorbereiten. Schaffen wir endlich einen Digitalpakt 2.0, der nicht nur auf die Infrastruktur, sondern insbesondere auf Inhalte und Qualität der Bildung schaut. ({4}) Drittens. Schaffen wir Aufstiegschancen für jeden; denn Bildungswege müssen so vielfältig sein wie die einzelnen Wünsche, Ziele und Talente junger Menschen. Ermöglichen wir also über Teilqualifikationen einen einfachen Einstieg in die berufliche Ausbildung. Erleichtern wir die Anerkennung informeller Kompetenzen nach dem Schweizer Vorbild. Fördern wir insbesondere die besten Talente eines Jahrgangs mit besseren Aufstiegsperspektiven und einer Öffnung der bisher rein akademischen Begabtenförderungswerke. Wir wollen kein Einheitsschema für alle, sondern konkrete, passgenaue Aufstiegsperspektiven für jeden. ({5}) Es gibt viel zu tun. Belassen Sie es also bitte nicht bei kleinen Reförmchen und Etiketten, sondern arbeiten Sie gemeinsam mit uns an einem echten Update der beruflichen Bildung! Herzlichen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Brandenburg. – Als nächste Rednerin erhält das Wort die Kollegin Birke Bull-Bischoff, Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Birke Bull-Bischoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004688, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Präsident! Frau Ministerin, wissen Sie, was ich wirklich ärgerlich finde? Wenn Sie von beruflicher Bildung sprechen wie heute zum Gesetz über die Reform der Berufsbildung, dann hat man das Gefühl, bei uns sei alles eitel Sonnenschein. Probleme kommen bei Ihnen nicht vor. Was aber gesagt werden muss, meine Damen und Herren, ist: Auch in der beruflichen Bildung wird ein beträchtlicher Teil junger Menschen von guter Ausbildung abgehängt. Ich will das an drei markanten Punkten deutlich machen: Zum Ersten. Mehr als 2,1 Millionen junge Erwachsene zwischen 20 und 34 Jahren bleiben mittlerweile gänzlich ohne beruflichen Abschluss, und das mit steigender Tendenz. Das heißt, ein Sechstel der erwerbstätigen Bevölkerung in unserem Land geht auf den Arbeitsmarkt ohne Ausbildung. Wir alle wissen, was das bedeutet: prekäre Beschäftigung, die legitimiert wird durch schlechte Qualifikation, schlechte Löhne und schlechte Arbeitsbedingungen. Zum Zweiten. 270 000 jungen Menschen wird mangelnde Ausbildungsreife zugeschrieben. Sie werden in Warteschleifen des Übergangssystems geparkt. Das betrifft vor allem junge Menschen mit Hauptschulabschluss oder junge Menschen ohne Schulabschluss. Nur 40 Prozent von ihnen schaffen überhaupt den Übergang in die berufliche Ausbildung. Auch das ist sehr oft der direkte Weg in prekäre Beschäftigung. Zum Dritten. 24 000 junge Menschen finden gar keinen Ausbildungsplatz. Meine Damen und Herren, wir haben also ein Problem, ein großes Problem. Wer bereits in der Schule erfolglos blieb, der bleibt es in aller Regel auch im System der beruflichen Bildung. Das geht gar nicht. Das können wir uns schlichtweg auch nicht leisten. ({0}) Wo liegt das Problem? Ich finde, der Wurm steckt bereits im allgemeinbildenden Schulsystem, nämlich dort, wo Kinder sehr viel zu früh auf ein Bildungsgleis gesetzt werden, von dem sie am Ende ohne Schulabschluss ins Leben entlassen werden. Einmal mehr sei gesagt: Das gegliederte Schulsystem wirkt als Brandbeschleuniger sozialer Ungleichheit. ({1}) Dort ist das Problem, dass noch immer nach alten Methoden gelehrt und gelernt wird, sodass für Kinder, die vor allem praktisch, und das sehr gern, lernen, die Schule zum Graus wird. Der Anspruch beruflicher Bildung muss aber sein, die Kette des schulischen Misserfolges zu beenden und auch ihnen eine Perspektive zu geben. Genau das erfüllt sich derzeit jedoch nicht.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Frömming?

Dr. Birke Bull-Bischoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004688, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nein. Was brauchen wir dafür? Drei Punkte will ich nennen. Zum einen brauchen wir deutlich mehr Assistenz und Unterstützung für die jungen Leute selbst, aber genauso auch für Unternehmen, die bereit sind, denjenigen eine Chance zu geben, die benachteiligt werden oder sind. Beispielsweise heißt das konkret, dass wir Schulsozialarbeit auch für Berufsschulen brauchen. ({0}) Das ist zum Beispiel einer der Gründe, weshalb wir in der letzten Sitzung beantragt haben, das regelhaft ins SGB VIII zu übernehmen. Wir brauchen assistierte Ausbildung oder Ausbildungsassistenz. Diese muss eine Zukunft haben; denn sie ist in der Tat ein Erfolgsmodell. Aber sie muss flexibler und individueller handhabbar sein. Wir brauchen ausbildungsbegleitende Hilfen. Und wir brauchen auch Jugendberufsagenturen, um die unterschiedlichen Regelkreise, in denen junge Menschen und Ansprechpartner oft unterwegs sind, zusammenzuführen und Hilfen aus einer Hand anbieten zu können. ({1}) All das gehört in ein Berufsbildungsgesetz, in ein Berufsbildungsgesetz für alle jungen Menschen. ({2}) „Normalität statt Maßnahme“ muss der Grundsatz sein. Es geht nicht um Sondermaßnahmen und Sondersysteme und Ähnliches, es geht um zusätzliche Ressourcen, um Geld und um Personal im Regelsystem. Das Ganze nennt sich Inklusion. ({3}) Zum Zweiten. Wir brauchen ein Recht auf Ausbildung, und zwar auf vollqualifizierende Ausbildung. Das heißt, junge Leute, die ihre Berufsausbildung mit einer theoriegeminderten oder zweijährigen Ausbildung beginnen, dürfen im Anschluss nicht ausgebremst werden, weder durch die Bundesagentur für Arbeit noch durch das ausbildende Unternehmen. Sie brauchen ein Recht darauf, die verbindliche Möglichkeit, eine dreijährige Ausbildung anzuschließen. Das ist im Übrigen das Gegenteil von dem, was die AfD hier vorschlägt. ({4}) Zum Dritten. Wir brauchen endlich prinzipielle Kostenfreiheit für Lernmittel. In Sachsen-Anhalt fährt jeder fünfte Azubi an der nächstgelegenen Berufsschule vorbei zur übernächsten. Einmal abgesehen davon, dass das ein riesengroßes Problem für eine vernünftige Berufsschulnetzplanung ist, führt das zu hohen Mobilitätskosten. Bus und Bahn müssen bezahlt werden. Auch die Kosten für die eigene Wohnung müssen gedeckt werden. Die Kolleginnen und Kollegen, die in der Enquete-Kommission „Berufliche Bildung“ engagiert sind, kennen das. Das wurde uns von den jungen Menschen selbst eindringlich geschildert. Die Mindestausbildungsvergütung ist natürlich ein Schritt in die richtige Richtung, keine Frage. Sie wird die Situation einiger weniger Azubis verbessern. Aber es ist nur ein Minischritt. Es ist wahrscheinlich für die auszubildende Friseurin oder den Azubi, der zum Restaurantfacharbeiter ausgebildet wird, ein Vorteil. Aber das Brimborium, das hier veranstaltet wird, ist echt fehl am Platz; denn es wird wahrscheinlich weit weniger als 5 Prozent der Azubis betreffen. Erfolgreiche Berufsausbildung ist der Schlüssel für gute Arbeit und guten Lohn und gegen den Fachkräftemangel und gegen Nachwuchsprobleme überhaupt. Alle jungen Menschen müssen wir dabei mitnehmen. Das muss uns ein gewichtiges Anliegen sein. Wenn wir von allen sprechen – das lässt sich leicht dahinreden –, dann müssen wir auch diejenigen meinen – wir meinen sie auf jeden Fall –, die schon in der Schule benachteiligt wurden.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss.

Dr. Birke Bull-Bischoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004688, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Da gibt es im Entwurf des Berufsbildungsgesetzes erheblichen Nachholbedarf. Ich bedanke mich. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Beate Walter-Rosenheimer, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Beate Walter-Rosenheimer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004221, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Ministerin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tribünen! Zwei Jahre sind jetzt vergangen. Die Hälfte der Legislaturperiode ist um. Chapeau! Jetzt liegt die Novellierung des Berufsbildungsgesetzes vor. Ich möchte eines vorwegschicken: Auch wir, meine Fraktion und ich, sind Fans der dualen Ausbildung, des Berufsbildungssystems in Deutschland. Aber wir haben natürlich auch Kritik. Seien Sie mir nicht böse, Frau Ministerin, wenn mir, wenn ich die Novellierung anschaue, der abgegriffene Spruch in den Sinn kommt: „Der Berg kreißt und gebiert eine Maus.“ Sie finden das vielleicht hart. Aber wir haben einfach mehr erwartet und finden, es hätte auch mehr gebraucht. ({0}) Lassen Sie mich einige Punkte unserer Kritik konkretisieren: die Mindestausbildungsvergütung, Fachkräftemangel, Stärkung der höherqualifizierenden Berufsbildung usw. Ich habe leider nicht so viel Zeit, alles aufzulisten. Heute hätte ich mir eigentlich gewünscht, nicht so viel Zeit dafür zu brauchen und stattdessen zu sagen: Applaus, Applaus! Wir sind in der Berufsbildung einen riesigen Schritt weitergekommen. – Aber dem ist nicht so. Das stimmt leider nicht. Das ist bedauerlich. ({1}) Es geht schließlich um die Zukunft Tausender junger Menschen. Wir Grüne hätten uns als Fraktion mehr Butter bei die Fische und mehr Mut gewünscht. Die Mindestausbildungsvergütung ist das Hauptanliegen. Das war offenbar ein harter Brocken, soweit wir das mitbekommen haben. Es gab großen Wirbel und viele Debatten. Das ist auch verständlich. Schließlich mussten es die Sozialpartner richten. Aber wir finden, dass 515 Euro zu wenig sind, weil das von einer existenzsichernden Vergütung weit entfernt ist. ({2}) Warum, Frau Ministerin, wollen wir denn eine Mindestausbildungsvergütung? Ihr Ministerium sagt: Wir wollen eine Mindestausbildungsvergütung auch, um den Beitrag der Auszubildenden zur Wertschöpfung in den Betrieben anzuerkennen und die Attraktivität zu erhöhen. Ich glaube nicht, dass dieser Betrag dazu führen wird; das kann ich Ihnen voraussagen. Was gar nicht geht, ist, dass Tarifverträge bestehen bleiben, die Vergütungen vorsehen, die weit unter der Mindestausbildungsvergütung liegen. ({3}) Das betrifft viele Handwerksberufe. Wir wollen hier keine Ausnahme von der Regel. Mindestausbildungsvergütung ist Mindestausbildungsvergütung. Wir wollen eine faire Vergütung auch für Azubis, die schon arbeiten, zum Beispiel Haare zusammenkehren, Torten verzieren oder Blumen binden. Wir sagen: Azubis sind schließlich keine billigen Arbeitskräfte. Sie haben eine Mindestausbildungsvergütung verdient, die ihren Namen zu Recht trägt. ({4}) Durch eine gute Mindestausbildungsvergütung gewinnt die duale Ausbildung an Attraktivität. Wir bekommen so den dringend benötigten Fachkräftenachwuchs. Aber die Fachkräftesicherung braucht natürlich noch mehr, zum Beispiel eine Ausbildungsgarantie, wie wir sie schon lange fordern, eine Ausbildungsgarantie, die auch diejenigen mitnimmt, die keinen Ausbildungsplatz bekommen haben und in Warteschleifen hängen. Wir halten es für dringend nötig, jetzt anzusetzen. Man darf nicht einfach abwarten und die Betreffenden länger hängen lassen. ({5}) Zum Thema „Stärkung der höherqualifizierenden Berufsbildung“. Diese ist auch in unseren Augen sehr dringend nötig. Aber wir halten andere Instrumente für wirkungsvoll. Echte Gleichwertigkeit von akademischer und beruflicher Bildung erreichen wir nicht durch bloße Namensänderung von Abschlüssen. Echte Gleichwertigkeit erfordert Gleichbehandlung. Aufstiegsfortbildungen müssen analog zum Hochschulstudium kostenfrei sein, und das bundesweit. ({6}) Auch bei der Vergütung sagen wir: Mehr Gerechtigkeit, bitte! Warum sollte ein 24‑jähriger Bachelor mehr Geld bekommen als eine 24‑jährige Fachwirtin? Dazu müssen wir nur den Deutschen Qualifikationsrahmen gesetzlich verankern und für die Vergütung und Einstufung verbindlich machen. Wir brauchen mehr Master und mehr Meister. ({7}) Handlungsbedarf besteht in unseren Augen auch beim Thema Mobilität von Azubis gerade im ländlichen Raum. Häufig gibt es hier regionale Passungsprobleme. Ausbildungswillige Betriebe und Jugendliche kommen nicht zusammen. Deshalb fordern wir kostengünstige Azubitickets im Nahverkehr und bezahlbaren Wohnraum; das ist ganz wichtig. Zwei fundamentale Themenblöcke kommen in der Novellierung kaum vor: Inklusion sowie Gesundheits- und Pflegeberufe. Das Berufsbildungssystem ist nicht inklusiv und diskriminierungsfrei. Das wollen wir ändern. ({8}) Wir brauchen Regelungen, die die Teilhabe aller Menschen an Aus- und Weiterbildung sichern. Und, Frau Ministerin, was ist mit den Gesundheits- und Pflegeberufen, die immerhin rund ein Drittel der diesjährig begonnenen Ausbildungen ausmachen? Dazu sagen Sie nichts, obwohl hier der größte Fachkräftebedarf besteht. Das geht uns alle an. Das sind drängende Fragen, denen Sie sich endlich stellen sollten. ({9}) Dann zum Thema Weiterbildung, sozusagen ein kleiner Exkurs zur Nationalen Weiterbildungsstrategie, die wir nun kennen. Man fragt sich: Ist das wirklich eine Strategie zum Thema Weiterbildung oder eher ein Sammelsurium? Da steht ganz viel drin, was wir schon kennen. Aber mir missfällt – das fällt auf Sie als Bildungsministerin zurück –, dass die nicht berufliche, allgemeine Erwachsenen- und Weiterbildung viel zu kurz kommt. Das ist im Jahr 2019 und angesichts der Digitalisierung falsch. ({10}) Ich frage Sie, Frau Ministerin: Finden Sie es zeitgemäß, Weiterbildung so eng zu denken? Lösungen liegen bereits auf dem Tisch, zum Beispiel ein Rechtsanspruch auf Weiterbildung – diesen wollen wir verankern –, höhere Zuschüsse für Weiterbildungskurse und eine breitere Palette zertifizierter Weiterbildungen, die staatlich gefördert werden. Sie verzeihen mir, wenn ich das Fazit ziehe: Sie haben ein bisschen gekleckert, wo man eigentlich hätte klotzen können. ({11})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Stephan Albani, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Stephan Albani (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004241, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Der Entwurf eines Berufsbildungsmodernisierungsgesetzes befindet sich nun in der ersten Lesung. Es hat eine ganze Weile gedauert, bis er hier war. Aber wer weiß, wie schwierig es ist, eine Einigung zwischen zwei Personen, selbst wenn sie vorgeben, sich zu lieben, zu erreichen, muss sehen: An dieser Stelle haben wir die Einigung von drei Ministerien und den Sozialpartnern in einzelnen Punkten erreichen müssen. Chapeau! Das hat sicherlich eine Weile gedauert. Manchmal hieß es am Freitag: „Es klappt“, und schon am Montag hieß es, es gehe nicht mehr. Aber nun liegt der Entwurf vor. Bevor ich auf die einzelnen Punkte eingehe, auch von meiner Seite ein kurzer Blick in den Berufsbildungsbericht. Die Zahl der Ausbildungsverträge ist im Vergleich zum Vorjahr auf nunmehr 531 400 gestiegen. Das Verhältnis von Angebot zu Nachfrage beläuft sich auf 106 zu 100. Beim Ausbildungsplatzangebot gibt es 17 000 Stellen mehr zu verzeichnen. Die Vertragslösungsquote sta­gniert. Man darf aber nicht vergessen, dass 50 Prozent der Betreffenden, also die Hälfte, nach der Vertrags­lösung eine andere Ausbildung machen. Das heißt, diese Zahl ist etwas irreführend. Des Weiteren dürfen wir feststellen, dass ein Anstieg der tariflichen Ausbildungsvergütung insbesondere im Osten bereits stattgefunden hat. Insofern werde ich darauf gleich bei der Mindestausbildungsvergütung eingehen. Aber, wie gesagt: Wo Licht ist, ist auch Schatten. Wenn man schaut, dann stellt man fest, dass zum Beispiel bei der Ausbildung zur Fachverkäuferin, für das Lebensmittelhandwerk oder zum Fleischer vier von fünf Ausbildungsplätzen nicht besetzt sind. Bei den Klempnern und Restaurantfachleuten sind noch 37 Prozent der Ausbildungsplätze vakant. Herr Frömming, ich sage Ihnen an dieser Stelle ganz ehrlich: Es ist mir egal, ob der Klempner „Bachelor“ oder „Meister“ heißt. Hauptsache, das Ding tropft hinterher nicht mehr; deswegen rufe ich ihn. ({0}) Aber auf Seite 11 des Berufsbildungsberichts – jetzt kommt der entscheidende Punkt, warum Sie sich nicht zu früh freuen sollten – wird von „Gleichwertigkeit“ gesprochen. Ein kleines Gedankenexperiment hierzu: Wenn Sie mit zwei jungen Leuten in den Wald der Ausbildung gehen und beiden einen Stock geben und der eine den Stock des anderen anguckt und sagt – Menschen neigen dazu, sich zu vergleichen –: „Bei dir sind mehr Astlöcher drin; mein Stock ist etwas länger, dafür ist der ein wenig krummer“ und dergleichen mehr, dann wundere ich mich, was passiert, wenn man sich vor die jungen Leute stellt und sagt: Ihr lieben jungen Leute, die Stöcke, die ihr habt, sind nicht gleichartig, aber sehr wohl gleichwertig. – Ich bin mir relativ sicher, Sie schauen in vier völlig verwunderte Augen. Dafür bedarf es eines Taschenmessers, und Sie müssen die Stöcke bearbeiten. Dazu gehört auch die Bezeichnung. Lieber Kollege Brandenburg, wir schreiben nicht an Birnen „Äpfel“ oder an Äpfel „Bananen“, sondern wir schreiben an all dieses „Obst“. Das ist der Unterschied, und das zeigt, dass Sie schon das verwirrt hat. ({1}) An die anderen Schubladen schreiben wir „Gemüse“. Das hat an dieser Stelle den Hintergrund, in das, was in den Schubladen liegt, eine gewisse Ordnung zu bringen, um auf diese Art und Weise alsbald erkennen zu können, was gleich ist. Insofern ist der Aufschrei, dass die Diskussion zu akademisch sei, nicht richtig. Es handelt sich um vergleichbare Bezeichnungen. ({2}) Ich empfinde manchen, der damit hadert, so, als wenn er sagen würde: Wir führen sie zum Wasser, aber trinken lassen wir sie nicht. – Das finde ich zutiefst inakzeptabel. ({3}) Mindestausbildungsvergütung. Auch hier möchte ich einige Dinge klarstellen. Das haben die Tarifpartner nicht „gerichtet“, liebe Kollegin, sondern das war ihre Aufgabe; das hätten sie schon viel früher abräumen können, das hätten sie in den Tarifverträgen und dergleichen mehr machen können. Ich finde es eine richtige Vorgehensweise, dass nicht die Politik an dieser Stelle entsprechende Vorgaben gemacht hat, sondern dass hier eine Regelung, wie von Frau Fahimi schon gesagt, von DGB und BDA erarbeitet worden ist – von beiden – und diese dann in das Gesetz eingegossen worden ist. Es wurde zugleich aber auch gesagt – ich paraphrasiere es etwas –: Wenn ihr euch zukünftig früher einigt, dann gilt eure Einigung und nicht das Gesetz. Wenn wir sagen, dass nur 5 Prozent, nur so wenige davon betroffen sind, dann zeigt das zugleich – das ist wieder Trost für die Sozialpartner –, dass für 95 Prozent schon eine bessere Ausbildungsvergütung vorgelegen hat. Das heißt: Es betrifft einen kleinen Teil; die anderen sind schon besser versorgt. Auch das gehört zur Wahrheit dazu. ({4}) Wir sind jetzt im parlamentarischen Verfahren. Wir werden in den nächsten Tagen und Wochen einiges zu diskutieren haben. Das duale Studium wurde heute schon von der Kollegin Fahimi angesprochen. ({5}) Auch uns liegt am Herzen, dass das duale Studium gut gestaltet wird. Die Frage ist, ob es notwendig ist, dass es sich um ein Studium handelt, welches durch Akkreditierungsrahmenbedingungen entsprechend zu regeln ist. Ich bin ein Freund davon, Obst in der Obstschublade und Gemüse in der Gemüseschublade aufzubewahren. In den letzten anderthalb Minuten möchte ich noch kurz auf die Anträge der Opposition eingehen. Erstens. Liebe FDP, ihr verwundert mich immer wieder. Ihr wollt einerseits Bürokratieabbau, aber seid andererseits momentan darin verliebt, permanent neue Behörden zu fordern. In diesem Fall war es das Zentrum für digitale Berufsbildung. Nein – muss nicht sein. ({6}) Zweitens. Es hilft unglaublich, wenn man aufpasst: Die Exzellenzinitiative gibt es schon. ({7}) Frau Fahimi und ich haben uns, ausgehend vom Koalitionsvertrag, gleich von Anfang an – vielleicht war es zu schnell für Sie – dafür eingesetzt. ({8}) – 150 Millionen sind eine ganze Menge, mein Guter. ({9}) Drittens. Die Linken und die Grünen wollen hier wieder den Staat stärker in die Reglementierung von Ausbildung bringen. Hier nützt ein Blick über die Grenzen. Es ist sinnvoll, dies in den Händen der Sozialpartner, der Wirtschaftsvertreter und der Arbeitnehmervertreter zu lassen; das macht Sinn. Den vernichtenden Worten meiner Kollegin Fahimi bezüglich des AfD-Antrags möchte ich nichts hinzufügen. Herzlichen Dank. ({10})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Albani. – Als nächster Redner hat der Kollege Oliver Kaczmarek, SPD-Fraktion, das Wort. ({0})

Oliver Kaczmarek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004063, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese Debatte über die berufliche Bildung unterscheidet sich von anderen Debatten dadurch, dass wir jetzt nicht darüber sprechen, was man tun könnte oder tun müsste, sondern dass wir ganz konkret einen Gesetzentwurf vorliegen haben, der gewährleisten soll, dass wir mehr Wertschätzung und Gleichwertigkeit für die berufliche Bildung organisieren. Im Mittelpunkt steht dabei in der öffentlichen Betrachtung die Mindestausbildungsvergütung. Dazu möchte ich etwas sagen. Ich glaube, dass die Mindestausbildungsvergütung ein Beitrag dazu ist, Wertschätzung für junge Menschen herzustellen, die sich dazu entschieden haben, eine berufliche Ausbildung zu beginnen. ({0}) Denen sagen wir mit diesem Gesetzentwurf, mit dieser Einigung, die die Sozialpartner vorgelegt haben: „Eure Interessen sind uns wichtig“ und: „Eure Arbeit in der Ausbildung hat eine Würde, hat einen Wert, der nicht unterschritten werden darf“. Da das Leben konkret ist, reden wir auch über ganz konkrete Menschen in den verschiedenen Berufsgruppen. Wir reden über die Friseurinnen und Friseure, über Raumausstatter, über Schornsteinfeger. Wir reden im Osten über Fachkräfte für Schutz und Sicherheit und über Fleischer. Insgesamt reden wir – das ist keine Petitesse; dafür lohnt sich jedes Brimborium – über 115 000 junge Menschen, die bei Einführung der Mindestausbildungsvergütung mehr Geld in der Tasche haben werden. Dafür lohnt es sich zu kämpfen, und das ist keine Kleinigkeit, meine Damen und Herren. ({1}) Damit auch das klar ist: Wir wollen nicht, dass alle Auszubildenden die Mindestausbildungsvergütung bekommen. Aber es ist so – es ist schon zitiert worden –: Die niedrige Ausbildungsvergütung wird insbesondere in den Betrieben gezahlt, die keiner Tarifbindung unterliegen. Deshalb ist unser Ziel, möglichst viele gute Ausbildungsplätze in Betrieben mit Tarifbindung zu bekommen; denn das lohnt sich, übrigens nicht nur für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sondern auch für die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber. An dieser Stelle möchte ich den Beitrag der Sozialpartner zu diesem Gesetzentwurf hervorheben. Der erste Vorschlag aus dem Bildungsministerium, die Mindestausbildungsvergütung an das Schüler-BAföG anzulehnen, war unbrauchbar, weil er die Tarifentwicklung von Ausbildungsvergütungen nicht berücksichtigt hat. Deswegen ist es richtig, dass wir jetzt einen Vorschlag haben, der genau das berücksichtigt, der einen Pfad für ein Aufwachsen und eine weitere Anpassung der Mindestausbildungsvergütung beschreibt. An der Einigung, die erzielt worden ist, wollen wir gar nicht mehr rütteln; denn die zeigt die Kraft der Sozialpartnerschaft. Deswegen geht an dieser Stelle der Dank an den Deutschen Gewerkschaftsbund und die BDA, an Reiner Hoffmann und Herrn Kramer, die das für uns gemacht haben. ({2}) Ich muss ganz ehrlich sagen: Das waren schon mutige Worte, mit denen FDP und Grüne hier benannt haben, was sie in der beruflichen Bildung alles vorhaben; denn Worte und Taten klaffen bei Ihnen deutlich auseinander. Im Dokument Ihres Scheiterns bei den Jamaika-Verhandlungen war Ihnen die berufliche Bildung gerade einmal vier Zeilen wert. ({3}) Ich will Ihnen sagen: Wir waren noch nicht einmal in den Koalitionsverhandlungen, da hatten wir nach der Sondierung schon die Mindestausbildungsvergütung mit dem Koalitionspartner vereinbart; die hatten wir schon in der Tasche. ({4}) Das hat einen Grund: Wir stellen uns nicht an den Spielfeldrand und rufen irgendwas rein. Wenn es um die Auszubildenden geht, gehen wir auf den Platz und kämpfen für deren Interessen. Das hat sich gelohnt; das zeigt dieser Gesetzentwurf. ({5}) Für die SPD war vor Eintritt in diese Koalition wichtig: Jeder junge Mensch soll seine Ausbildung frei und ohne Sorge wählen können, und zwar egal, ob beruflich oder akademisch. Wir haben in dieser Koalition dafür gekämpft und gemeinsam viel erreicht. Ich will daran erinnern: Am 1. August wird das BAföG kräftig erhöht. Die Berufsausbildungsbeihilfe und das Ausbildungsgeld werden auch erhöht; der Arbeitsminister ist schon in Vorleistung gegangen. Wir haben das Schuldgeld für die Pflegeausbildung abgeschafft. Jetzt führen wir die Mindestausbildungsvergütung ein und werden in der zweiten Jahreshälfte für alle die, die Meister oder Techniker werden wollen, im Rahmen der Aufstiegsfortbildung das Aufstiegs-BAföG anpassen und novellieren. Wir sorgen mit diesen Maßnahmen für mehr Sicherheit in der Ausbildung, weil wir wollen, dass die Leistung und das Talent eines jeden im Mittelpunkt stehen und nicht seine soziale Herkunft. Diesen Weg setzen wir mit diesem Gesetz weiter fort. Vielen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist Dr. Thomas Sattelberger, FDP-Fraktion. ({0})

Dr. h. c. Thomas Sattelberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004869, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich lege den Fokus aufs Handwerk: 1 Million Handwerksbetriebe, 5,5 Millionen Beschäftigte, die Innovationen und Geschäftserfolg vorantreiben – wenn man ihr Talent fördert. Das hat zutiefst nicht mit Ihrem Potemkin’schen Dorf zu tun, Herr Albani, das es gar nicht gibt, sondern mit dem, was mein Kollege Jens Brandenburg gefordert hat: eine saubere Exzellenzinitiative für berufliche Bildung, ({0}) und zwar exzellent und kein Magermodel auf dem Laufsteg, so wie diese Reform jetzt daherkommt. Exzellente berufliche Bildung treibt Innovation und Erfolg im Handwerk, nicht Etikettenschwindel mit akademischen Titeln wie „Master Professional“ und „Bachelor Professional“. Wir brauchen innovative Bildungsformate, liebe Frau Ministerin: für digitale Kundenberatung, für smarte Services rund um das Produkt, für 3D-Druck, Drohnen, Robotics, Augmented Reality. Herzlich willkommen in der Digitalisierung! ({1}) Die beschert nämlich den Großen heute die große Konkurrenz und dem Handwerk morgen „MyHammer“ und „Homebell“. Sie zwingen das Handwerk zu Technologiesprüngen. Bildung und Innovation sind Zwillinge. Wir müssen die Ärmel hochkrempeln – alle. ({2}) Deshalb – ich sage es, glaube ich, zum achten Mal –: Ran an den Speck, Frau Karliczek! Was können Sie tun? Ich verrate es Ihnen: FabLabs, nicht wenige Dutzende, sondern viele Hunderte FabLabs quer durch die Republik, ({3}) gewerkeübergreifende, niedrigschwellige, ortsnahe Experimentierräume, in denen Azubis wie Ausgelernte, Junge wie Ältere neueste Technologie ausprobieren können. Das ist etwas ganz anderes als die Handwerk-4.0-Hochglanztrutzburgen, die Sie spärlich übers Land verstreuen. ({4}) Handwerk braucht auch Rat für fortschrittliche Personalarbeit, Mediation bei Gefahr des Ausbildungsabbruchs, maßgeschneiderte Bildungsgutscheine der Agentur für Arbeit für das Handwerk, ({5}) Beratung für individuelle Arbeitszeiten und wissenschaftliche Weiterbildungen für Handwerker. Hier gibt es wunderbare Beispiele, aber leider nur vereinzelt in den Agrar-, Forst- und Betriebswirtschaften. Wir brauchen einen massiven Ausbau von Handwerkslehrstühlen. Wissen Sie, dass es gerade mal noch eine Handvoll Handwerkslehrstühle in diesem Land gibt? Lehrstühle strahlen aus. Und last, not least: eine radikal neue Form der Begabtenförderung. Meine Damen und Herren, Akademiker haben in Deutschland fünfmal mehr Chancen, ein Stipendium zu erhalten, als Talente beruflicher Bildung. Frau Karliczek, da möchte ich mal sehen, womit Sie im Herbst beim Meister-BAföG kommen. Warum nicht Tausende beruflich qualifizierte Stipendiaten, die in Schnupperlehren in der Deep-Tech-Welt ihre Erfahrung machen, –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Dr. Sattelberger, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.

Dr. h. c. Thomas Sattelberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004869, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

– in den innovativen Hotspots in Tel Aviv, Paris, Stockholm oder im Silicon Valley? Meine Damen und Herren, das Thema ist nicht trivial.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. h. c. Thomas Sattelberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004869, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Es ist entscheidend für die Wertschöpfung dieses Landes, und die wird nicht nur von Fachkräftemangel und Digitalisierung herausgefordert, –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Sattelberger, bitte!

Dr. h. c. Thomas Sattelberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004869, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

– sondern von einer Bundesregierung, die das Handwerk und die Exzellenz in der beruflichen Bildung nicht auf dem Radar hat. Lassen Sie uns endlich in die Hände spucken. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächster Redner hat das Wort die Kollegin Katrin Staffler, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Katrin Staffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004901, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich in meinem Wahlkreis über die berufliche Bildung spreche, mit Auszubildenden, mit ihren Betrieben, mit den Leitern der Berufsschulen, mit den Vertretern der Kreishandwerkerschaft, mit den Eltern und vor allem mit den jungen Menschen, die noch vor der Berufswahl stehen, kommt immer wieder ein und dieselbe Frage auf, nämlich wie wir die berufliche Ausbildung so weiterentwickeln und so modernisieren, dass sie für die jungen Menschen, für die, um die es geht, auch wirklich attraktiv ist. Jetzt gehört zur Ehrlichkeit: Mein Wahlkreis Fürstenfeldbruck und Dachau liegen in Oberbayern; ({0}) das ist der sogenannte Speckgürtel rund um München. Bei uns ist die Lage am Arbeitsmarkt sehr erfreulich. Die Arbeitslosenquote ist gering, die Auftragslage gerade bei den Handwerksbetrieben ist extrem hoch. Und als Antwort auf die Frage, wie man zur Einführung einer Mindestausbildungsvergütung steht, kriege ich bei mir daheim maximal ein müdes Lächeln und vielleicht noch den Hinweis, dass das bei ihnen längst Standard ist, weil es dort nämlich kaum noch Betriebe gibt, die unter der angesetzten Grenze bezahlen. Warum? Weil sie sonst nämlich überhaupt keine Lehrlinge mehr finden können. Jetzt will ich damit keineswegs die Einführung einer Mindestausbildungsvergütung infrage stellen; aber worauf ich durchaus hinauswill, ist, dass die Mindestausbildungsvergütung allein nicht die Herausforderungen meistern wird, vor denen unser Berufsbildungssystem heute steht. ({1}) Für einen nachhaltigen Erfolg unseres betrieblichen Ausbildungssystems sind andere Faktoren sicherlich ausschlaggebender. Ich will an dieser Stelle exemplarisch nennen, dass wir die Möglichkeit zur Teilzeitausbildung grundsätzlich für alle Lebens- und Betriebssituationen eröffnen müssen – unsere Ministerin hat es ausgeführt – oder dass wir das Ehrenamt im Rahmen des Prüfungswesens stärken, um unseren Prüferinnen und Prüfern mehr Flexibilität zu geben. Das sind zwei Maßnahmen, die in unserem aktuell vorliegenden Gesetzentwurf enthalten sind. Vor allem aber – dieser Punkt ist mir besonders wichtig – spielt die Gleichwertigkeit von beruflicher Bildung auf der einen Seite und akademischer Bildung auf der anderen Seite eine wichtige Rolle; denn gerade dieses Ungleichgewicht, das Gefühl, dass berufliche Bildung weniger wert ist als akademische und auch weniger Wertschätzung erhält, ist es, was unsere jungen Menschen dazu verleitet, sich eher in Richtung einer akademischen Laufbahn zu orientieren. Verstehen Sie mich jetzt bitte nicht falsch: Dass immer mehr Menschen in Deutschland die Möglichkeit haben, ein Studium anzufangen, ist durchaus positiv – ich selber habe auch studiert –, aber wir müssen auch die Kehrseite betrachten. Ich hatte gestern hier in Berlin Besuch von einer Schülergruppe aus meinem Wahlkreis – es waren Schüler eines Gymnasiums –, und ich habe die Frage gestellt, wer von den anwesenden Schülern gerne eine berufliche Ausbildung machen will. Wissen Sie, wie viele sich gemeldet haben? Einer. Ein einziger in einer kompletten Schulklasse! Da habe ich den Schülern natürlich die Frage gestellt, was denn aus ihrer Sicht gegen berufliche Bildung sprechen würde. Ich habe viele Antworten bekommen, eine davon war: Wenn ich Abitur mache, dann strebe ich doch ein Studium an. Warum würde ich sonst aufs Gymnasium gehen? ({2}) Wir müssen uns an dieser Stelle schon die Frage stellen, wie wir die berufliche Bildung als echte Alternative zum Hochschulstudium stärken können. ({3}) Unsere Ministerin hat die neuen Abschlussbezeichnungen vorgestellt, die eine echte Wertigkeit schaffen und auch eine klare Zuordnung ermöglichen. Wir als Fraktion begrüßen das, gleichzeitig ist es uns aber natürlich auch wichtig, dass der Meister weiterhin als Qualitätssiegel bestehen bleibt und dass wir ihn als Marke stärken; denn auch das gehört zur Wertschätzung. ({4}) Meine Damen und Herren, die Novellierung des Berufsbildungsgesetzes ist ein notwendiger und aus meiner Sicht auch ein wichtiger Schritt, damit wir das internationale Erfolgsmodell der dualen Berufsaus- und Fortbildung stärken können. Ich kann Ihnen versichern: Das wird nicht der letzte Schritt sein. Dass zum Beispiel der Bundestag im letzten Jahr eine Enquete-Kommission ins Leben gerufen hat, die sich ausschließlich mit der beruflichen Bildung in der digitalen Arbeitswelt beschäftigt, ist, glaube ich, ein Zeichen dafür, dass wir durchaus etwas tun und dass wir auch den festen Willen haben, in diesem Bereich voranzukommen. Wir haben heute die erste Lesung des Gesetzentwurfs und stehen damit am Anfang des Prozesses. Ich freue mich auf die rege Diskussion, die wir hoffentlich in den kommenden Monaten noch darüber führen werden. Aber wir sollten an dieser Stelle ein Ziel in den Mittelpunkt unserer Beratungen stellen, nämlich dass wir den jungen Menschen zeigen, dass die berufliche Ausbildung für uns auch weiterhin ein echtes Erfolgsmodell ist. Vielen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erhält das Wort der Kollege Dr. Ernst Dieter Rossmann, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Ernst Dieter Rossmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum Schluss drei Bemerkungen. Die erste Bemerkung bezieht sich auf Frau Walter-Rosenheimer, die ja dankenswerterweise auch den schulischen Teil des Berufsbildungsberichts zitiert hat. Sie sagten, 35 Prozent machen eine nichtakademische berufliche Ausbildung; das ist eine Riesenzahl. Ich will ergänzen: Man kann das in zwei Bereiche aufteilen. Bei den Gesundheitsberufen sind es 220 000 Schülerinnen und Schüler, die eine Ausbildung beginnen – ein stabiler Wert, aber das reicht eben nicht. Wir brauchen deutlich mehr Altenpflegerinnen und Altenpfleger. Bei den Erziehungsberufen sind es 105 000. Das ist ein Plus von 32 Prozent gegenüber dem letzten Jahr, und das ist ein gutes Zeichen. Aber die Bitte ist: Die Regierung muss jetzt mit ihrem Altenpflegekonzept ordentlich an Fahrt aufnehmen, damit wir im nächsten Jahr ein Plus von 32 Prozent auch bei der Altenpflege, den Gesundheitsberufen haben. ({0}) Die zweite Bemerkung. Herr Albani, Sie sind ja ein Kollege mit gesundem Menschenverstand. Da Sie auf den Beitrag von Kollegin Fahimi eingingen und fragten: „Muss man das duale Studium tatsächlich gesetzlich normieren?“, ({1}) will ich Sie gerne mit einem einfachen Gedanken konfrontieren. Wir sind doch deshalb stolz auf das duale Berufsbildungssystem mit dem Lernort Betrieb und dem Lernort Schule, weil wir für beide Bereiche Gesetze haben, einerseits das Berufsbildungsgesetz, was den Lernort Betrieb angeht, und andererseits die Schulgesetze, was die Berufsschule angeht. Weshalb haben wir unter dem Vorzeichen der Gleichwertigkeit nicht das gleiche Prinzip, wenn es um ein duales Studium geht? Da, wo es um den hochschulischen Teil geht, hätten wir die Hochschulgesetze, und da, wo es um den betrieblich-beruflichen Teil geht, die Berufsbildungsgesetzgebung. Dann käme man in eine Systematik, die man nicht einfach so wegwischen sollte, ({2}) auch nicht mit Zertifikaten oder anderem. Das, was uns im Berufsbildungssystem, im klassischen dualen System mit den zwei Lernorten, mit den zwei guten Gesetzen stark gemacht hat, sollten wir parallel genauso im wachsenden Bereich der hybriden Ausbildungswege, der akademisch-beruflichen Ausbildungswege, anwenden. Das ist eine große Bitte. Wir sind da auch durchaus nicht unverzagt. Früher hätten Sie sich auch nie eine Altenpflegeausbildungsumlage vorstellen können, und jetzt feiern wir sie. Früher hätten Sie sich nie eine Mindestausbildungsvergütung vorstellen können, und jetzt machen wir sie zusammen. Auch dieses können Sie sich nicht vorstellen, und wir machen auch das. ({3}) Wir glauben an unsere Überzeugungskraft und an Ihre Einsichtsfähigkeit. Die dritte Bemerkung bezieht sich auf diejenigen, die gerade vonseiten der FDP die Pseudoakademisierung in Bezug auf die drei Bezeichnungen Berufsspezialist, Berufsbachelor, Berufsmaster angesprochen haben. Das hat ja eine Vorgeschichte, nämlich den Europäischen Qualifikationsrahmen von 2008, den Beschluss der Kultusministerkonferenz von 2013 und die Einführung der Diploma Supplements, mit denen man dann fünf, sechs oder sieben, entsprechend den Qualifikationsstufen, auf dem Zeugnis verzeichnet bekommt. Dies ist doch ohne Ausstrahlung. Wollen Sie denn wirklich einen „Klempner-Meister sechs“ durch die Welt laufen lassen? Wir wollen das nicht. Wir verfolgen mit dieser Benennung zwei Aspekte: Das eine ist die europäische Perspektive des gemeinsamen Arbeitsmarktes, das andere ist das Schlüsselelement zu dem Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz. Wir brauchen diese verschiedenen Ebenen der Qualifikationsniveaus, weil sich genau daraus die Förderung der Weiterbildung normiert, weil sich davon das Aufsetzen auf die berufliche Weiterbildung ableitet. Es ist also eine Perspektive, die dort eröffnet wird. Das ist allemal mehr als Pseudoakademisierung. Das ist Gleichwertigkeit. ({4}) Vor 50 Jahren ist das Berufsbildungsgesetz novelliert worden.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Ernst Dieter Rossmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das war ein Gesetz mit Perspektive. Diese Novellierung ist auch ein Gesetz mit Perspektive. Das sollten wir uns erhalten. Danke schön. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/10815, 19/9515, 19/11154, 19/11119, 19/10757, 19/10219 und 19/11106 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Dr. Dietmar Bartsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003034, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Thema ist benannt worden. Ich werbe seit einiger Zeit öffentlich und jetzt auch hier im Deutschen Bundestag darum, dass wir einen Untersuchungsausschuss einsetzen. Ich will hier begründen, warum es aus unserer Sicht notwendig ist, diese Zeit im Osten politisch aufzuarbeiten. Es wird auch hier sehr gern über den Osten geredet und sich dann hin und wieder gewundert, warum die Frustration über die Politik, über Politikerinnen und Politiker dort besonders ausgeprägt ist. Ich sage Ihnen: Ein Baustein, um zu verstehen, woher dieser Frust kommt, ist das Desaster der Treuhandanstalt. ({0}) Die Bundeskanzlerin hat gestern als Antwort auf meinen Kollegen Matthias Höhn faktisch eingestanden, dass da unbedingt eine Aufarbeitung erfolgen muss. Das war aber keine wirkliche Antwort, sondern Rumgeeiere. Dass eine Aufarbeitung der Arbeit der Treuhandanstalt nicht nur von meiner Generation oder noch Älteren gefordert wird, zeigt zum Beispiel die Leipziger Initiative „Aufbruch Ost“. Das sind junge Menschen, meist unter 30 Jahren, die explizit für die Aufarbeitung der Treuhandarbeit werben. Gerade die jungen Leute haben nämlich bei ihren Eltern und Großeltern erlebt, wie durch die Privatisierung der Treuhand massenhaft Biografien von Menschen gebrochen worden sind. 1989 haben die Menschen in der DDR friedlich Demokratie und Freiheit erkämpft. Es war ein Geschenk für das ganze Land; keine Frage. Doch von der danach erfolgten Schocktherapie durch die Treuhand hat sich der Osten nie mehr ganz erholt. Frau Teuteberg, die ja hier sitzt, lässt sich mit dem Satz zitieren: Die Forderung nach einem weiteren Untersuchungsausschuss ist ein rückwärtsgewandtes Ablenkungsmanöver, das keinen Arbeitsplatz zurückbringt. ({1}) Dazu kann ich nur sagen: Na Donnerwetter! Natürlich bringt das keinen Arbeitsplatz zurück. – Sie haben offensichtlich überhaupt nicht verstanden, worum es geht. Es geht eben nicht um eine „erinnerungspolitische Bad Bank“ oder darum, die DDR-Wirtschaft zu verklären. Nein, es geht um eine seriöse Aufarbeitung der Treuhandarbeit, und zwar – das sage ich ausdrücklich – ergebnisoffen. ({2}) Vielleicht revidiere ich ja meine Meinung. Es geht um eine ergebnisoffene Aufarbeitung. Natürlich war der Zustand der DDR-Wirtschaft vielfach marode, aber keinesfalls so marode, wie immer behauptet worden ist. Die Treuhand hat die Wirtschaft nicht auf Vordermann gebracht, sondern einfach massenhaft privatisiert. ({3}) Die Treuhandanstalt hat in einem Jahr hundertmal mehr Betriebe privatisiert als Maggie Thatcher in zehn Jahren; sogar sie ist dagegen eine Antiprivatisierungsaktivistin. Die Treuhand hat in großem Umfang deindustrialisiert und damit den Osten bis heute zurückgeworfen. Um es mal drastisch zu formulieren: Die Treuhand hat aus dem Osten einen 1-Euro-Laden gemacht. ({4}) Und wer hat davon profitiert? 85 Prozent der Unternehmen sind an westdeutsche Investoren gegangen, und nicht einmal die restlichen 15 Prozent sind bei den Ossis geblieben, sondern im Wesentlichen an ausländische Investoren gegangen. Bis heute gibt es dieses Missverhältnis in den Führungsetagen, und das hat mit der damaligen Politik zu tun. ({5}) Die Verantwortung dafür trägt auch die damalige schwarz-gelbe Bundesregierung. Deswegen wundert mich nicht, dass FDP und die Union gegen einen Untersuchungsausschuss sind. ({6}) Aber genau um diese politische Verantwortung geht es heute. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, reicht eine Arbeitsgruppe nicht aus. Eine Arbeitsgruppe ist gut; aber sie kann die politische Verantwortung nicht aufarbeiten. Lassen Sie uns mal Revue passieren, was der gesetzliche Auftrag der Treuhand war. Ja, die Treuhand sollte auch privatisieren. Ich zitiere aus dem Gesetz: … die Wettbewerbsfähigkeit möglichst vieler Unternehmen herzustellen und somit Arbeitsplätze zu sichern und neue zu schaffen … Die Treuhand hat de facto das Gegenteil gemacht: ({7}) Millionen Arbeitslose, plattgemachte Industrie, und die Filetstücke wurden verscherbelt. Es gab kaum eine öffentliche Institution, die seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland krasser gegen den gesetzlichen Auftrag verstoßen hat. Praktisch jede Familie im Osten ist vom Wirken der Treuhandanstalt betroffen. Angesichts der Auswirkungen werbe ich für einen Untersuchungsausschuss. ({8}) Schon der Bundesrechnungshof hat 1993 in seinem Bericht festgestellt, dass das Finanzministerium der politischen und finanziellen Verantwortung nicht gerecht werde. Was für ein Urteil! Es ist eine Frage des Respekts gegenüber Millionen Menschen, die damals arbeitslos wurden und deren Lebensleistung über Nacht als marode abqualifiziert wurde, ({9}) diese Zeit parlamentarisch aufzuarbeiten. ({10}) Ich habe auch nichts gegen eine wissenschaftliche Aufarbeitung. Klar, die brauchen wir, und das geschieht im Übrigen auch schon. Aber es ist im Moment so, dass die Bundesregierung wesentliche Akten gar nicht rausrückt. Die bleiben in den Ministerien. Im Bundesarchiv sind sage und schreibe acht Mitarbeiter damit befasst. Es sind aber 170 000 Akten. Das würde bis ins nächste Jahrhundert dauern. Da muss man doch endlich etwas tun. Auch vor diesem Hintergrund ist ein Untersuchungsausschuss wichtig. ({11}) Er hätte auch eine bessere Chance, weil 30 Jahre nach der damaligen friedlichen Revolution endlich die Sperren weggefallen sind, sodass man in alle Akten sehen kann. Meine Bitte, insbesondere an die Kolleginnen und Kollegen aus dem Osten: Hören Sie in der Sommerpause in Ihren Wahlkreisen genau hin, was die Menschen von unserem Vorstoß halten. Viele wollen, dass sich die Politik mit dieser Zeit beschäftigt. Fehler müssen als Fehler benannt werden. Niemand behauptet, dass Arbeitsplätze zurückkommen; aber die Treuhandwunde klafft bis heute tief. Meine Damen und Herren, lassen Sie uns 30 Jahre nach der Einheit die Treuhandaufarbeitung zu unserem Anliegen machen. Sie ist notwendig für die emotionale Einheit und den inneren Frieden in unserem Land. Herzlichen Dank. ({12})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Bartsch. – Bevor ich dem Kollegen Eckhardt Rehberg das Wort gebe, muss ich darauf hinweisen, dass der Kollege Brandner in einem Akt vollkommener Ehrlichkeit dem Präsidium 10 Euro in zwei 5-Euro-Scheinen überreicht hat, die jemand in dem Gang dort hinten verloren haben muss – wahrscheinlich kein Sozialdemokrat für die Abstimmung. ({0}) Falls jemand 10 Euro in Form von zwei 5-Euro-Scheinen vermisst, möge er sich bitte bei uns melden. Ansonsten wird es der Bundeskasse überantwortet. Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Eckhardt Rehberg, CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Eckhardt Rehberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003826, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, hier werden Ursache und Wirkung verwechselt. Es gibt Kronzeugen aus dieser Zeit. Wie war denn der Zustand im Juni 1989 in der ehemaligen DDR? Ein Kronzeuge ist Gerhard Schürer. In seinem Schürer-Bericht stellte er fest: Überschuldung der DDR in Höhe von 140 Milliarden DDR-Mark, Zahlungsunfähigkeit, marodes Wirtschaftssystem, 60 Prozent der Arbeitsproduktivität gegenüber der Bundesrepublik. Einzige Hoffnung der DDR: schnellstmöglich einen Kredit in Höhe von 23 Milliarden von der Bundesrepublik Deutschland zu bekommen. Ich zitiere aus dem Schürer-Bericht: Insgesamt geht es um die Entwicklung einer an den Marktbedingungen orientierten sozialistischen Planwirtschaft … Wenn Sie noch einen Zeugen haben wollen: Günter Mittag sagte in einem „Spiegel“-Interview 1991: Man denke nur, … was heute hier los wäre, wenn es die DDR noch gäbe … Mord und Totschlag, Elend, Hunger. Es reißt mir das Herz kaputt. Und weiter: Das sozialistische System insgesamt war falsch … ({0}) Gerhard Schürer und Günter Mittag sind die Kronzeugen zum Zustand vom Juni 1989. Wenn Sie von der AfD in Ihrem Antrag von der Zerstörung der Infrastruktur sprechen, dann frage ich Sie: Wie sah die denn aus? Sind Sie denn 1990 einmal in ein Krankenhaus, in ein Pflegeheim, in eine Behindertenwerkstatt gegangen? ({1}) Ich wohnte damals in einem kleinen Dorf in der Nähe von Ribnitz-Damgarten. Wenn es überhaupt eine Klärgrube gab, dann war es eine Einkammerklärgrube. Glauben Sie, da wurde irgendetwas entsorgt? Trinkwasser mussten wir uns selber legen. Oder – ich schaue die Kollegin an, die in Mitteldeutschland wohnt – wie sah es denn in Bitterfeld aus? Da konnten Sie die weiße Wäsche nicht auf der Leine hängen lassen, weil sie sonst aufgrund der Umweltbedingungen braun oder schwarz war. ({2}) – Das genau ist das Thema. Das sind die Rahmenbedingungen gewesen. Es geht weiter. Die AfD schreibt in ihrem Antrag, dass eine Reihe von hochprofitablen Unternehmen kaputtgemacht wurden. ({3}) Ich war damals Geschäftsführer in einem Schmuckbetrieb. Zunächst war der Beschiss – Entschuldigung –, dass wir bei dem, was wir im Westen verkauft haben, die Preise mal vier genommen haben. Aber als wir am 1. Juli 1990 Preise kalkulieren mussten und unsere Kosten dagegengesetzt haben – es war ordnungspolitisch nicht richtig, wohl aber gesellschaftspolitisch und sozial richtig, die Löhne und Gehälter eins zu eins umzustellen –, kamen wir nicht ansatzweise gegen die Schmuckindus­trie in Baden-Württemberg an, weil die Produktivität zu gering war. Nicht die Menschen waren das Entscheidende, sondern die Rahmenbedingungen. Wir hatten keine konkurrenzfähigen Produkte. Der Betrieb existiert heute noch, aber statt 700 Mitarbeiter sind es nur noch 35. ({4}) Zur Wahrheit der Treuhand gehört auch Folgendes: Sie wurde zur Modrow-Zeit gegründet, und am 17. Juni vor 29 Jahren hat die freigewählte Volkskammer das Treuhandgesetz beschlossen, mit dem Hauptauftrag „Privatisierung“. ({5}) Herr Kollege Bartsch, ich höre immer gerne zu, wenn Sie die Fehler bei der Treuhand beschreiben. Aber Sie vergessen die Rahmenbedingungen. Wie sah es denn vor gut 29 Jahren zur Jahreswende 1989/90 aus? Zu Hunderttausenden sind die ehemaligen DDR-Bürger in den Westen gegangen. Wenn man nicht schnell den Pfad zur deutschen Einheit beschritten hätte, dann wäre der Exodus weitergegangen. Der nächste Punkt. Die Sowjetunion hat der Warnow-Werft in Warnemünde kein Schiff mehr abgenommen. Damit war Schluss. Und waren wir nicht selbst Täter und Opfer zugleich? Herr Bartsch, haben Sie noch einen Kühlschrank des DKK Scharfenstein gekauft? ({6}) Herr Bartsch, haben Sie noch ein Fernsehgerät aus Staßfurt gekauft? Oder glauben Sie, dass ich, der für die EDV bei Ostsee-Schmuck verantwortlich war, mir noch einen Computer von Robotron gekauft habe? Nein, das alles waren keine wettbewerbsfähigen Produkte. ({7}) Deswegen waren wir Täter und Opfer zugleich. Von Wartburg und Trabant brauchen wir an dieser Stelle gar nicht zu reden. ({8}) Man kann immer darüber philosophieren, welche Alternativen es gegeben hätte. Es wäre sicherlich keine Alternative gewesen, den Genossen Bartsch als Chef der Treuhandanstalt zur Modrow-Zeit einzusetzen; denn wir hätten die alte Kommunalstruktur weitergeführt. Es wäre auch keine Alternative gewesen, Ostdeutschland zu einem eigenen Währungsgebiet zu machen. Das hätte alles nicht funktioniert. Deswegen war die schnelle Privatisierung die einzige Alternative. Ja, es waren Glückswanderer unterwegs. Ja, es war auch kriminelle Energie dabei. Aber wenn ich an die maroden Industriestrukturen in Bitterfeld im Jahr 1989 zurückdenke und das mit dem vergleiche, wie es dort heute aussieht: ({9}) Dort hat sich mit die modernste und sauberste Chemieindustrie, die es in Europa gibt, angesiedelt. 5 Milliarden Euro sind dort investiert worden. Viele Betriebe, die damals privatisiert worden sind, haben heute, so meine ich, einen guten Weg eingeschlagen, eine positive Entwicklung genommen. ({10}) Wenn Sie noch einen weiteren Kronzeugen brauchen: Ich bin nicht unbedingt Fan des thüringischen Wirtschaftsministers Tiefensee, seines Zeichens Mitglied der SPD, aber er hat vor Kurzem zu Recht gesagt: Wir haben mehr Industriearbeitsplätze pro 1 000 Einwohner als Nordrhein-Westfalen, Hessen und Niedersachsen. Die Arbeitslosenquote liegt unter der von Hamburg, Bremen, NRW und dem Saarland. Das zeigt eigentlich, dass wir im Vergleich der Bundesländer untereinander Schritt für Schritt vorangekommen sind. Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, was soll dieses Manöver von linken und rechten Populisten? Anders kann ich das nicht bezeichnen, wenn ich mir die Anträge genau durchlese. ({11}) Was soll das hier und heute? Eine seriöse Historikerkommission arbeitet die Arbeit der Treuhand auf. Welchen Nutzen soll ein Untersuchungsausschuss haben? Herr Kollege Bartsch, Sie sagen, dass man hier den Lebensgefühlen der Menschen im Osten Rechnung tragen muss. Ich glaube, man muss zuerst einmal seriös und sachgerecht debattieren: Wo sind wir hergekommen, und warum ist es 1989 so gewesen, wie ich es beschrieben habe und wie es auch Herr Schürer und Herr Mittag beschrieben haben? Das war ein Systemversagen und nichts anderes. ({12})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bystron?

Eckhardt Rehberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003826, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Petr Bystron (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004692, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Kollege, vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen. – Alles, was Sie ausführen, ist richtig. Ich teile Ihre Einstellung; aber Sie reden am Thema vorbei. Selbstverständlich war die DDR völlig pleite. Selbstverständlich waren die Robotron-Computer nicht konkurrenzfähig. Aber das tut hier nichts zur Sache. ({0}) Sie verwechseln Volkswirtschaft mit Betriebswirtschaft. Hier geht es darum, dass Betriebe, die ein Betriebsvermögen hatten, privatisiert wurden. Die Frage ist, ob sie zu dem Wert verkauft wurden, den sie damals hatten. Das soll hier untersucht werden.

Eckhardt Rehberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003826, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, anscheinend haben Sie Ihren Antrag nicht richtig gelesen. Es geht schon um dieses Thema. Sie schreiben darin von einem „Kahlschlag der Infrastruktur“ ({0}) und dass die Treuhandanstalt zum Teil hochprofitable Unternehmen privatisiert und zerschlagen hat. ({1}) – Entschuldigung, jetzt bin ich dran. – Herr Kollege, Sie haben doch eben Ihrem Antrag selber widersprochen. Im Frühjahr 1990 war noch von einem Volksvermögen von 600 Milliarden DDR-Mark die Rede. Die Eröffnungsbilanz der Treuhand wies ein Minus von über 200 Milliarden D-Mark auf. Die Abschlussbilanz der Treuhand war geprägt von der Finanzierung von Sozialplänen: Kurzarbeit null usw. usf. In der Regel wurden für 1 Mark Privatisierungserlös 3 Mark insbesondere für die Umweltaltlastenbeseitigung usw. usf. eingesetzt. Es muss also der Gesamtrahmen betrachtet werden. Ich gestehe zu, dass es in dem einen oder anderen Fall Fehler gegeben hat. Aber entscheidend ist doch: Wo sind wir hergekommen, und was ist heute? Ich kann nur eines sagen: Wer anfängt, die letzten 30 Jahren zurückzudrehen, um politisch daraus Kapital zu schlagen, der erreicht für die Zukunft gar nichts. ({2}) Wir als Union möchten, dass wir mit Blick auf den 9. November 1989 und den 3. Oktober 1990 nach vorne gucken. Linke und AfD wollen aus reinem Populismus und zu Wahlkampfzwecken die Treuhand instrumentalisieren. Das wollen wir nicht. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Rehberg. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Jürgen Pohl, AfD-Fraktion. ({0})

Jürgen Pohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004856, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Kollegen! Liebe Zuschauer, vor allem in den alten Bundesländern! Sehr geehrter Herr Präsident! Was wir heute hier debattieren, rührt an den Grundfesten des wiedervereinten Deutschlands. Wir gehen bis dorthin zurück, wo die Einigung beschlossen, organisiert und umgesetzt wurde. Wir reden über die Ereignisse der 1990er-Jahre. Wir reden über die Treuhand, oder genauer: Wir reden über das Trauma der Ostdeutschen. Meine Damen und Herren, die Arbeit der Treuhand hat tiefe Wunden in die ostdeutsche Seele gerissen. Ich weiß, dass gerade viele Westdeutsche hier im Hause geneigt sind, uns Ost- und Mitteldeutschen in dieser Frage Weinerlichkeit vorzuwerfen. Aber ich sage Ihnen: Für das, was die Treuhand bei uns angerichtet hat, ist keine Träne zu viel vergossen worden. 4 000 Firmen liquidiert, von 4 Millionen Arbeitsplätzen im Jahr 1990 blieben 1994 gerade mal 1,5 Millionen, Privatisierungserlöse: 60 Milliarden D‑Mark, eingesetzt: 300 Milliarden D‑Mark – ich sage Ihnen: Jedes DDR-Kombinat hätte besser gewirtschaftet. ({0}) Herr Kollege Rehberg, Sie haben über die Missstände gesprochen. Aber warum wehren sich so viele Damen und Herren hier im Hohen Haus, endlich auch die Misswirtschaft der Treuhand aufzudecken? Warum fehlt Ihnen da der Mumm? Gibt es einen Grund, über den Sie nicht reden wollen, oder was? Wir wollen einfach wissen: Warum hat die Treuhandanstalt so mies gewirtschaftet? ({1}) Meine Damen und Herren, kein Geringerer als der frühere Präsident des renommierten Münchener ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, schrieb sinngemäß: Die Ostdeutschen haben die Einheit mit ihrem Volksvermögen bezahlt. – Genau darum geht es. Herr Rehberg, hören Sie zu: Die DDR war pleite – das stimmt –, sie war aber nicht wertlos. In Ostdeutschland lebten damals 16 Millionen Menschen, denen diese Werte gehörten. 1990 hatte eine Gruppe um den Potsdamer Physiker und Bürgerrechtler Gerd Gebhardt eine Idee. Sie wollte jedem DDR-Bürger ein Sechzehnmillionstel des DDR-Volksvermögens übertragen. Der Runde Tisch stimmte diesem Plan einstimmig zu. Die Regierung Modrow hat den Plan nicht umgesetzt. Warum? Warum wurden die Bürger um ihren Anteil am Volksvermögen betrogen? Das ist eine der zentralen Fragen, die zu klären sind. Was heißt das für den von uns geforderten Untersuchungsausschuss? Wir müssen über den Verlust von Millionen Industriearbeitsplätzen reden. Wir müssen über die Familien reden, die plötzlich durch Arbeitslosigkeit ins soziale Elend gerutscht sind. Wir müssen über die Familien reden, die auseinandergerissen wurden, weil Vater oder Mutter erst Hunderte Kilometer entfernt, im Westen, eine Arbeit fanden. Meine Damen und Herren, an vieles von dem, was geschah, kann ich mich persönlich gut erinnern. Ich war dabei und handelnde Person. Das ist nicht ungewöhnlich. Es hat im Osten fast jede Familie betroffen, auch meine eigene. Nehmen wir mal diesen Lebenslauf: Der Mann als Kind aus Schlesien vertrieben. 1946 fing er als 14‑Jähriger in einem Unternehmen an. 1991, nach 45 Dienstjahren, brauchte ihn die Treuhand nicht mehr. Er wurde freigesetzt. Ein Jahr später starb er als gebrochener Mann, und mit ihrem Mann verlor gleichzeitig seine Ehefrau ihre Arbeit. – Ein typischer Lebenslauf aus dieser Zeit. In Magdeburg Süd-Ost, meinem Stadtviertel, wurde fast die gesamte Industrie liquidiert. Circa 40 000 Menschen verloren dort ihre Arbeit. In meiner heutigen Heimat, in Nordthüringen, wurde nicht nur die Computerindustrie zerschlagen. Technische Zulieferer und auch die Textilindustrie waren nicht mehr gewollt. Noch besser die Kali-Industrie: Die Kali-Industrie zum Beispiel in Sondershausen und in Bischofferode wurde trotz effektiver Arbeit und guter Absätze zugunsten der Westkonkurrenz stillgelegt und zur Sondermüllhalde entwickelt.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, –

Jürgen Pohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004856, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Für den Müll war der Osten gut genug. Das ist eine Schweinerei! ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

– erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Theurer?

Jürgen Pohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004856, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Der Ablauf war immer derselbe.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage?

Jürgen Pohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004856, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Lassen Sie mich bitte.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Ja.

Jürgen Pohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004856, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Der Ablauf war immer derselbe: Der Volkseigene Betrieb wurde unter Verwaltung gestellt, und dann wurde er dem westdeutschen Konkurrenten angeboten. Wie das ablief? Oftmals betrug der Kaufpreis 1 Mark. Sodann kam ein Auktionshaus und versteigerte die Maschinen und Anlagen. Die Personalabteilung entließ die Arbeitnehmer auf Raten, und die letzten fegten aus und schlossen ab. Das Grundstück wurde schließlich veräußert oder in lukrativen Lagen selbst bebaut. Das Ganze ergab einen satten Gewinn – für den westdeutschen Unternehmer. Ganz nebenbei wurde die ostdeutsche Konkurrenz ausgeschaltet. Wissen Sie das alle? In unzähligen Fällen mussten die Ostdeutschen ihr Lebenswerk für 1 Mark hergeben. Für 1 Mark wurden ihre Lebensläufe entwertet. Dieser Treuhand-Untersuchungsausschuss ist das Mittel, um mit Ihrer Scheinheiligkeit aufzuräumen. Ostdeutsche – das haben wir inzwischen gelernt – sind für Sie, die Vertreter der Altparteien, die Bewohner des unbelehrbaren Dunkeldeutschlands. Dunkeldeutschland, das sind die politisch Unzuverlässigen und Rückständigen, die undankbaren Hinterwäldler im Osten, die einfach nicht so wählen, wie sie sollen. Wir in Thüringen waren überrascht, dass Herr Habeck von den Grünen unser Land zu einem „freien, liberalen und demokratischen Land“ machen wollte. Toll! Herr Gabriel fand das „Pack“ in Ostdeutschland, und Herr Maas empfand Ostdeutsche als „Schande für Deutschland“. Da war Herr Özdemir mit der „Mischpoke“ noch fast liebevoll. ({0}) Iris Gleicke von der SPD sagte am 25. Jahrestag der Treuhandgründung – ich zitiere –: Die Treuhand … gilt im Osten … als Symbol … eines brutalen, ungezügelten Kapitalismus, verbunden mit Deindustrialisierung und Massenarbeitslosigkeit. Sie hat Recht. Darum müssen Sie hier und heute erklären, was denn nun mit dem Osten ist, wie Sie es mit Ihren Brüdern und Schwestern halten wollen. Alternative eins: Sie gestehen sich und den Mitteldeutschen ein: Ja, wir müssen den Wildwestkapitalismus dieser Zeit aufklären. Ja, es braucht einen Untersuchungsausschuss. – Alternative zwei: Der Mitteldeutsche bleibt Deutscher zweiter Klasse. Er wohnt im Armenhaus. Er hat keinen Anspruch auf Gerechtigkeit. – Meine Damen, meine Herren, wenn Sie sich für Alternative zwei entscheiden, dann wundern Sie sich nicht, wenn der Ostdeutsche Ihnen bei der nächsten Landtagswahl eine Lehre erteilt. ({1}) Ich kann meine Landsleute nur aufrufen: Setzt das Kreuz bei der Wahl nicht bei den Parteien, die sich weigern, den Betrug an den Mitteldeutschen aufzuklären, ({2}) kein Kreuz bei den Parteien, die am Elend ihrer Familien und an der Perspektivlosigkeit ihrer Kinder schuld sind. Schauen Sie her: Das ist eine Mark. Mit dieser Mark konnten Westdeutsche regelmäßig Firmen in Ostdeutschland kaufen, dann den Menschen in den Hintern treten, um dann Vermögen anzuhäufen. Wenn Sie wirklich meinen, meine Damen und Herren, dass diese kriminellen Machenschaften der Treuhand nicht aufgeklärt werden sollen, dass es den Treuhand-Untersuchungsausschuss nicht braucht, dann wünsche ich Ihnen, auch Herrn Rehberg, dass Ihr Lebenswerk, Ihre Familie, Ihre Seele mehr als diese Mark wert ist. ({3}) Sagen Sie es den Ost- und Mitteldeutschen hier und heute ins Gesicht: Wir brauchen euch nicht, wir schätzen euch nicht, aber wählt uns trotzdem. Danke schön. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächste Rednerin erhält die Kollegin Sonja Amalie Steffen, SPD-Fraktion, das Wort. ({0})

Sonja Steffen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf der Tribüne! Herr Pohl, eigentlich wollte ich heute zur AfD gar nichts sagen; aber Ihre Rede war so rückwärtsgewandt ({0}) und wirklich schon fast so widerlich spaltend, dass man denkt, man lebe noch zu Zeiten von DDR und BRD. ({1}) Aber ich sage Ihnen was: Nach 45 Jahren der Teilung unseres Landes sind wir wieder vereint, und das ist wunderbar so. ({2}) Aber jetzt zum Thema. Brauchen wir einen Treuhand-Untersuchungsausschuss, wie die Fraktion Die Linke – die Fraktion der AfD hat sich sehr kurzfristig ebenfalls dafür ausgesprochen – ihn möchte? Braucht es das heute noch? Es besteht ein hohes gesellschaftliches Interesse an einer Aufarbeitung der Arbeit der Treuhand­anstalt. Das ist richtig – das haben Sie übrigens in Ihren beiden Anträgen auch geschrieben –, und das wird, glaube ich, auch von niemandem hier in Abrede gestellt. Wenn man, so wie ich, in ostdeutschen Bundesländern unterwegs ist – mein Wahlkreis ist in Mecklenburg-Vorpommern –, dann weiß man, dass „Treuhand“ tatsächlich immer wieder ein Thema ist; das beschäftigt die Menschen. Das ist auch sehr verständlich; denn 30 Jahre nach der Wende haben sich die Menschen im Osten – ich glaube, es sind sehr viele – schon sehr lange und auch gut neu eingerichtet; aber die Vergangenheit, die Wendezeit und die Nachwendezeit sind immer noch präsent. Da hat jeder seine eigene Geschichte, und da haben auch viele Menschen Federn lassen müssen. Die Geschichte ist nun mal da, und sie löst sich nicht in Luft auf. Für viele fühlt sich der Rückblick tatsächlich nicht nur gut an. Der Wechsel des Wirtschaftssystems war in der Tat steinig; das stimmt. Die Privatisierung oder die Abwicklung der Betriebe durch die Treuhand war für viele Menschen bitter. Davon sind Einzelschicksale betroffen. ({3}) Da gab es Gewinner und Verlierer. Es gab in der Tat Hunderttausende Arbeitslose praktisch auf einen Schlag. Und machen wir uns nichts vor: Auch unseriöse Glücksritter und Betrüger waren unterwegs. Diese Erfahrung trübt bis heute tatsächlich bei vielen die Freude für die erkämpfte Freiheit. Aber ist es richtig, nun einen weiteren Untersuchungsausschuss zur Treuhandanstalt einzusetzen? Denn – auch das ist noch nicht so deutlich gesagt worden – wir hatten bereits zwei Treuhand-Untersuchungsausschüsse seit der Wende, die ein hohes Maß an Aufarbeitung betrieben haben, und auch in den Ländern hat es Treuhand-Untersuchungsausschüsse gegeben. ({4}) Jetzt stellt sich halt die Frage: Brauchen wir einen weiteren Treuhand-Untersuchungsausschuss? Es ist richtig: Es sind damals nicht alle Akten bewertet worden – auch weil sie damals noch nicht alle vorlagen –; aber inzwischen – das ist sehr gut so – hat die Bundesregierung ein Forschungsprojekt auf den Weg gebracht. Das Institut für Zeitgeschichte hat zur Aufarbeitung der Geschichte der Treuhandanstalt eine Förderung erhalten. Es ist auch gut, dass das Bundesarchiv die rund 85 000 Akten der Treuhandanstalt – Herr Bartsch sprach vorhin von mehr – archivisch aufarbeitet. Aber einen Untersuchungsausschuss braucht es in diesem Fall nicht; denn der Bundestag ist keine historische Kommission. Der Bundestag hat den Auftrag, politisch etwas zu bewegen. Wenn man einen Untersuchungsausschuss einsetzt, dann muss es darum gehen, dass man Verantwortung sucht, dass man ermittelt und dass man dann eben auch die Verantwortlichen stellt. Hier wollen Sie von den Linken beispielsweise Menschen wie Sarrazin, Horst Köhler oder Theo Waigel als Zeugen in den Zeugenstand berufen. Aber wie soll man die dann denn noch zur Verantwortung ziehen, wenn sie dazu bereit wären? Denn von ihrem Amt zurücktreten können sie nicht mehr. – Ich sehe, meine Redezeit ist leider schon so gut wie vorbei.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Das stimmt.

Sonja Steffen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, ich weiß. – Deshalb will ich zum Schluss nur sagen: Herr Pohl, Sie haben sich hier entlarvt. Sie haben hier öffentlich dazu aufgerufen, Ihre Partei zu wählen. Das zeigt wirklich, dass Ihnen an dem Thema in Wahrheit überhaupt nicht gelegen ist. ({0}) Sie sind sich hier auch noch uneins in Ihrer eigenen Partei – ob Sie das wollen oder nicht. Insofern: Das Thema an dieser Stelle so zu missbrauchen, das finde ich wirklich unredlich. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion der FDP hat das Wort die Kollegin Linda Teuteberg. ({0})

Linda Teuteberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004913, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Heute vor 30 Jahren schnitten die Außenminister Österreichs und Ungarns ein Loch in den Stacheldrahtzaun der Grenze. Nun befinden wir uns in Deutschland im Jahr 2019. Man könnte auf die Idee kommen, dass Landtagswahlen bevorstehen; denn heute liegen uns zwei Anträge, jeweils einer von Linkspartei und AfD, vor. Da gibt es kleine Unterschiede – das sind Nuancen –: Die AfD etwa redet in ihrem Antrag einerseits von Mitteldeutschland; andererseits war bei dem Kollegen Pohl, der vorhin gesprochen hat, zu spüren, dass er sich nicht entscheiden kann, ob er von Ost- oder von Mitteldeutschland redet. ({0}) Die Linke ist etwas subtiler, auch in den Behauptungen; aber sie hat auch schon 30 Jahre Zeit gehabt, bei diesem Thema Stimmung zu machen. Sie ist in ihrem Antrag vorsichtiger. Sie benennt die Treuhandanstalt als eine, nicht als alleinige Ursache der Probleme; die Rede von Herrn Bartsch war da weniger zimperlich. Aber über eines kann hier nichts hinwegtäuschen: Linke und AfD sind sich in einer entscheidenden Frage einig: Die Treuhandanstalt ist schuld. Nichts kann darüber hinwegtäuschen, dass hier zwei Parteien darum ringen, sich als alleinige Hüter ostdeutscher Befindlichkeiten und Interessen vor den Landtagswahlen zu profilieren. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, sie wärmen dazu Verschwörungstheorien auf, die nicht zufällig den linken und rechten Rand verbinden, die rückwärtsgewandt sind und die keinen einzigen Arbeitsplatz zurückbringen. ({2}) Ich sage Ihnen: Ostdeutschland und die dort lebenden Bürgerinnen und Bürger haben Besseres verdient: ({3}) Zunächst einmal Redlichkeit. Denn beiden Anträgen liegt ja eine Erzählung zugrunde, eine Erzählung, die bei der AfD besonders klar drinsteht, nämlich die hochprofitable Wirtschaft in der DDR sei plattgemacht worden. Dazu kann ich nur sagen: Der Golf musste nicht vor dem Trabi geschützt werden. ({4}) Für diejenigen, die sich wirklich für die Situation damals interessieren, zitiere ich mit Erlaubnis des Präsidenten aus der „Analyse der ökonomischen Situation der DDR mit Schlußfolgerungen“ – Autor war unter anderem Gerhard Schürer; die Vorlage für das Politbüro des ZK der SED stammt von Oktober 1989 –: Allein ein Stoppen der Verschuldung würde im Jahre 1990 eine Senkung des Lebensstandards um 25 – 30 % erfordern und die DDR unregierbar machen. Selbst wenn das der Bevölkerung zugemutet würde, ist das erforderliche exportfähige Endprodukt in dieser Größenordnung nicht aufzubringen. Eigentlich könnten manche Genossen ganz froh sein, dass sie diese Konkursmasse an einen politischen Insolvenzverwalter übergeben konnten. ({5}) Wir dürfen hier nicht zulassen, dass Ursache und Wirkung verkannt werden; denn die Ursachen für die wirtschaftlichen Probleme im Osten unseres Landes liegen zuallererst in den 40 Jahren vor 1989 begründet und nicht in der Zeit seit 1990. ({6}) Angesichts der besonderen Situation und Ausgangslage, durch die die Menschen damals herausgefordert waren, ist es sogar noch eine Untertreibung, zu sagen, es habe keine Blaupause dafür gegeben. Auch das stimmt zwar, aber vieles müsste man übrigens wieder so machen; ({7}) denn die Aufgabe der Treuhand, das wurde hier schon gesagt, war die Überführung einer Plan-, ja staatlichen Kommandowirtschaft in die Marktwirtschaft. ({8}) Diesen Auftrag hatte sie. Das war wohl die kompakteste Privatisierung in der Wirtschaftsgeschichte. Im Mittelpunkt stand da die Industrie. Besonders umstritten war, ob „Privatisierung vor Sanierung“ gilt – so hat es die Treuhandanstalt in der Regel gemacht – oder die Devise „Sanierung vor Privatisierung“. Ein schneller Weg in die Marktwirtschaft war aber durch den Willen der Ostdeutschen vorgegeben. Auf den Montagsdemos in Leipzig hieß es: „Kommt die D‑Mark, bleiben wir. Kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr.“ Niemand wollte damals doch ernsthaft Zollkontrollen an der innerdeutschen Grenze oder Löhne wie bei unseren mittel- und osteuropäischen Nachbarn, die dann bei 10 bis 25 Prozent der westeuropäischen Löhne lagen. ({9}) Auch wollte niemand ernsthaft, dass die Sparguthaben entwertet werden. All das war keine Alternative, und deshalb war dieser schnelle Weg richtig. ({10}) Die ersehnte Wirtschafts- und Währungsunion wurde dann leider für viele Betriebe zur Stunde der Wahrheit. Die D‑Mark sofort und mit dem gewünschten Kurs einzuführen, das musste zu großen Arbeitsplatzverlusten führen. Aber das Hauptproblem war, dass die DDR-Wirtschaft keine weltmarktfähige Produktpalette hatte. ({11}) – Doch, darum geht es. ({12}) Mir ist ganz wichtig, noch einmal darauf hinzuweisen, wessen Verantwortung das war. Denn die DDR hatte hervorragende Ingenieure, ({13}) sie hatte hervorragende Facharbeiter. Aber diese Menschen arbeiteten in einem System, das ihnen nicht ermöglichte, weltmarktfähige Produkte herzustellen. ({14}) Ganz viele Menschen in Ostdeutschland haben Anlass, stolz zu sein, dass sie unter diesen erschwerten Bedingungen Großes geleistet haben und sich anständig verhalten haben. Aber das ist kein Grund, auf diese erschwerten Bedingungen stolz zu sein, meine Damen und Herren. ({15}) Dieses System hat Menschen daran gehindert, ihre Kreativität und Produktivität richtig zu entfalten für gute Produkte, die man ihnen dann auch zu Preisen abnimmt, die auf dem Weltmarkt erzielt werden können und mit denen sie einen vernünftigen Lebensstandard bekommen. Die Linke verhält sich wie ein Brandstifter, der „Haltet den Dieb!“ ruft und noch über diejenigen nörgelt, die die Aufräum-, Sanierungs- und Sanitäterarbeiten machen, und dann „Untersuchungsausschuss!“ ruft. ({16}) Das ist ein altes Muster bei der Linkspartei, ({17}) nämlich einen Sündenbock zu suchen. Das ist Ihnen auch im Fall der SED gut gelungen. Sie haben alles, wofür Sie verantwortlich sind, auf eine Institution, die Stasi, geschoben. Leider hat das so verfangen, dass die AfD jetzt die Kopie versucht. Aber es ist etwas anderes, was unerträglich ist: der Alleinvertretungsanspruch, für alle Ostdeutschen zu sprechen. ({18}) Hören Sie auf, einen Teil unseres Landes zur Geisel Ihrer parteipolitischen Profilierung zu machen! ({19}) Das wollen und das werden wir uns nicht bieten lassen. In einem solchen beispiellosen Prozess sind sehr wohl Fehler gemacht worden. Es gab übrigens auch Irrtümer auf allen Seiten. Zum Beispiel haben sich alle beim Wert des Vermögens geirrt, graduell unterschiedlich, aber alle hatten da falsche Prognosen, weil das Ausmaß der Altschulden, das Ausmaß der Umweltbelastungen und vieles andere nicht richtig eingeschätzt wurde. Aber unter diesem Zeitdruck musste gehandelt werden. Die wissenschaftliche Aufarbeitung, die unbestritten wichtig ist, läuft längst. Herr Bartsch, seien Sie versichert: Ich kann sehr gut zuhören, und auch ich kenne eine Menge Menschen, die bitter enttäuscht sind über vieles aus diesen Jahren, ({20}) die aber trotzdem nach vorne schauen und sagen: Uns nutzt kein Untersuchungsausschuss. ({21}) Uns liegt also heute hier ein Antrag für etwas vor, was wir nicht brauchen. Was wir dagegen brauchen, das sind respektvolle Debatten, die nicht nur vorgeben, zu versöhnen, sondern die wirklich versöhnen wollen, die real gegebene Gegensätze innerhalb der ostdeutschen Bevölkerung nicht verklären, um sich über Ost-West-Gegensätze zu profilieren, die auch zum Thema machen, dass es Glücksritter auf beiden Seiten gab, ({22}) die sich nicht damit begnügen, Sündenböcke und Prügelknaben zu suchen; denn es kann einem übrigens bei anderen gesellschaftlichen Debatten noch böse auf die Füße fallen, Sündenböcke zu suchen. Vor allem brauchen wir konkrete Politik, die für Ostdeutschland und für die ganze Republik Chancen schafft, mit Forschung und Entwicklung, mit Bildung und Erwerb von Eigentum, die erleichtert werden, mit besseren Rahmenbedingungen, gerade für kleine und mittlere Unternehmen, die wir in Ostdeutschland haben. Dafür machen wir konkrete Vorschläge, auch mit unserem Antrag zur Gründerrepu­blik Deutschland, den wir heute Nachmittag beraten. Wir brauchen Debatten und Politik, die Menschen ermutigen und ermächtigen und ihnen nicht noch Ängste und Sorgen einreden oder diese verstärken. ({23}) Vielen Dank. ({24})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort der Kollege Stefan Gelbhaar. ({0})

Stefan Gelbhaar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004726, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Im Februar 1990 gab es die Idee, das Volkseigentum der DDR den Bürgern der DDR zukommen zu lassen. Diese Idee ging auf Wolfgang Ullmann zurück, der damals Demokratie Jetzt, später Bündnis 90, am Runden Tisch vertrat. Das Konzept hieß: „Vorschlag der umgehenden Bildung einer Treuhandgesellschaft zur Wahrung der Anteilsrechte der Bürger mit DDR-Staatsbürgerschaft am Volkseigentum der DDR“. Wir hätten nun ein Volk von Unternehmern gehabt. Das hätte der FDP doch gut gefallen müssen. Diese Idee ist aber von der Modrow-Regierung nicht mehr umgesetzt worden. Wir wissen auch nicht, ob diese Idee besser funktioniert hätte. Was wir aber wissen, ist, dass diese Idee später keine politische Mehrheit mehr gefunden hat. Die Regierung de Maizière und auch die Kohl-Regierung haben wie bekannt andere Ziele verfolgt: Privatisierung um jeden Preis. Auch muss man sagen: Ja, Rot-Grün hätte wahrscheinlich einen besseren, einen sozialeren Weg gefunden. – Aber 1994 ist die Kohl-Regierung trotz ihrer häufig verfehlten Treuhandpolitik wiedergewählt worden, trotz Untersuchungsausschuss, auch in Ostdeutschland. Das heißt, das muss man auch politisch ein wenig zur Kenntnis nehmen. Die Rolle der Treuhandanstalt ist für viele Menschen in den neuen Ländern ein Fixpunkt der Nachwendeerfahrung und bestimmt bis heute deren Umbruchserfahrung – bis heute. Auch andere wirtschaftliche Besonderheiten in Ostdeutschland können womöglich zumindest teilweise mit dem Wirken der Treuhand erklärt werden, Stichwort: Lohnunterschiede zwischen Ost und West, die Abwesenheit großer Firmenhauptquartiere im Osten, die fehlende Repräsentation von Ostdeutschen in den Führungsetagen. Auch hier scheint Aufarbeitung geboten. Ich wünsche mir dafür eine Bundesregierung, die sich zuständig fühlt. Wir haben witzigerweise so etwas wie einen Ostbeauftragten der Bundesregierung. ({0}) – Davon hört man nichts, ganz genau. ({1}) Ich würde sagen: Viel in dieser Debatte hat mit Gefühl zu tun, und das Gefühl ist, nicht repräsentiert zu werden. Ich kann die Frustration darüber gut verstehen. Ich wünsche mir einen Ostbeauftragten, der Ostdeutschland in der Bundesregierung vertritt, der Stimmungen wahrnimmt, vor allem, wenn sie seit Jahrzehnten existieren, und mit diesen politisch umgeht, ({2}) der das Thema Repräsentanz aufnimmt, selbst wenn er nicht für eine Ostquote ist – da sucht man halt andere Wege –, der Foren organisiert, um Treuhanderfahrung aufzuarbeiten, und zwar gemeinsam, der die historische Aufarbeitung über 2020/2021 hinaus vorbereitet – ehrlich gesagt, da beginnt sie erst richtig; denn da werden die Akten geöffnet –, der die Ansprüche für den Osten geltend macht, der sich auch mal unbeliebt macht und Seehofer in Sachen Wohnungsgesellschaften und Altschulden fordert, der Scheuer in Sachen Schienenreaktivierung treibt, der Verkehrsverbindungen nach Polen und Tschechien thematisiert und so vieles mehr. ({3}) Es ist schon reingerufen worden: Einen solchen Ostbeauftragten der Bundesregierung haben wir nicht. Stattdessen kennt kein Mensch im Osten den Namen des Ostbeauftragten. Deswegen reden wir nun einmal mehr über einen Untersuchungsausschuss, der aber das falsche Mittel ist, um die Arbeitsverweigerung eines Ostbeauftragten zu kompensieren. ({4}) Denn was steckt denn hinter den Anträgen auf Einrichtung eines Untersuchungsausschusses? Ich denke, es geht genau um dieses Gefühl. Aber gleichwohl ist ein Untersuchungsausschuss an dieser Stelle kaum das richtige Mittel. Ich gehe das mal im Einzelnen am Antrag der Linkspartei durch. ({5}) – Das können Sie dann bei Ihrem Stammtisch weiter erklären. ({6}) Ja, wir brauchen weiterhin Aufarbeitung und Verarbeitung. Dazu brauchen wir Historikerinnen und Historiker. Die politische Wertung hier im Haus über den Vorgang Treuhand ist, wenn wir uns ehrlich machen, relativ klar. Wir brauchen Austausch und Begegnung in Foren. Wir brauchen Verarbeitung. Es darf eben nicht einfach darüber hinweggegangen werden. Wo es Schäden gibt, muss das thematisiert werden. Konkrete Schäden kann man in Untersuchungsausschüssen aber gar nicht thematisieren. Das funktioniert nicht; das ist gar nicht möglich. Und ja, die Akten müssen einsehbar werden, und zwar für alle. Die Technik dafür gibt es. Man muss das digitalisieren und öffentlich machen, am besten mit Open Data, um das Wort in dieser Debatte und in dieser interessanten Konstellation anzubringen. Dann können alle, die sich interessieren, sich das auch anschauen. Und ja, das ist eine Herkulesaufgabe. Ganz ehrlich: Auch das kann ein Untersuchungsausschuss nicht leisten. ({7}) Im Antrag ist auch zu finden, dass wir das Thema Bodenverwertung aufarbeiten müssen. Da sage ich auch: Ja, Böden und Seen dem Gemeingebrauch zu entziehen, das ist nicht der richtige Weg, aber das sollte man mit dem Blick nach vorne und nicht mit dem Blick nach hinten thematisieren. ({8}) Wenn man das zusammenfast: Aufarbeitung heißt, dass wir gesellschaftlich darüber reden müssen. Die Organisation dieser Debatte fehlt. Das ist der Auftrag, und ich sehe die Bundesregierung in der Pflicht, hier endlich tätig zu werden. Vielen Dank. ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Kollege Patrick Schnieder hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Patrick Schnieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004146, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Das Thema Treuhand bewegt die Menschen, vor allem im Osten. Es bewegt die Menschen zu Recht. Ich kann das gut nachvollziehen. Die Tätigkeit der Treuhand ist ohne Zweifel aufzuarbeiten. Auch da hat die Debatte gezeigt, dass wir uns im Wesentlichen einig darüber sind. Sie findet auch statt. Die entscheidende Frage, um die es bei diesen beiden Anträgen geht, ist doch: Ist der Parlamentarische Untersuchungsausschuss das richtige Mittel, das aufzuklären? Ist das Parlament der richtige Ort, um diese Aufarbeitung stattfinden zu lassen? Da sage ich Ihnen: Das ist nicht so. In Wahrheit sind beide Anträge, die hier vorliegen, nur Teil einer Kampagne, einer Kampagne vor den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg. Ich sage Ihnen, Herr Bartsch, und den Kolleginnen und Kollegen von der Linken: Wer solche Freunde wie die auf der rechten Seite dort hat, der braucht keine Feinde mehr, in der Tat. ({0}) Wer sich ehrlich über die Treuhand unterhalten möchte, darf den Grund für die Errichtung und für die Arbeit der Treuhand nicht verschweigen. Mit der Wiedervereinigung mussten die Bürgerinnen und Bürger im Osten Deutschlands schlagartig einen Wandel durchleben, der kaum härter hätte ausfallen können. Das ist überhaupt gar keine Frage. Das können wir nachvollziehen, vielleicht nicht so gut, wie die Betroffenen es selbst können. ({1}) Doch der Grund ist in Wahrheit nicht die Treuhand oder gar die Vereinigung unseres deutschen Vaterlandes. Die politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen hat die Treuhand doch nicht gestaltet, sondern sie wurden ihr vorgegeben. Sie hat sie vorgefunden. In den Wendejahren 1989 und 1990 war schlicht der jahrzehntelange SED-Betrug am eigenen Volk aufgeflogen. Die DDR war bankrott, die Wirtschaft lag vielerorts am Boden. Die Zitate sind alle genannt worden. Ich muss sie hier nicht wiederholen. Der Antrag der Linken möchte den Blick davon weglenken. Das Pikante ist: Sie als Nachfolgerin von SED und PDS, die damals den Osten Deutschlands in die Grütze geritten haben, spielen mit den Emotionen, die Millionen Menschen beim Gedanken an die Treuhand haben. ({2}) Das ist der wirkliche Skandal an Ihrem Antrag. Schuld an allem ist nach Ihnen die Treuhand, ganz egal, ob sie es wirklich war. Ihre politischen Ahnen sind die Schuldigen, nicht die Treuhand. ({3}) Ja, es stimmt, eines ist richtig: Zu oft war es auch die Treuhand. Es gab Manager, die mit krimineller Energie die Menschen betrogen haben. Es gab die Glücksritter, auch das ist richtig. Es gibt Konsequenzen, ({4}) die viele Menschen dort tragen mussten, die bitter waren, auch wenn sie nicht mehr abwendbar waren: notwendige Betriebsschließungen, hunderttausendfacher notwendiger Arbeitsplatzabbau. ({5}) Das gab es alles. Doch Linke und AfD versuchen, die Erfahrungen der Menschen zu manipulieren, alles über einen Kamm zu scheren, die Stimmung der Menschen beim Denken an die Treuhand in Stimmen bei den anstehenden Landtagswahlen zu verwandeln. Das ist unanständig. ({6}) Die ersten Jahre nach der Wende waren für Millionen Familien eine Zeit großer Zukunftsängste und Enttäuschungen. Dass Betriebe, die doppelt oder dreimal so viele Mitarbeiter hatten, wie für eine moderne Produktion gebraucht wurden, Arbeitsplätze abbauen mussten, hat damals jeder verstanden. Dennoch war es für die Betroffenen natürlich schlimm und furchtbar. Ja, das Wirken der Treuhand ist längst noch nicht aufgearbeitet. Doch was kann ein Untersuchungsausschuss dort leisten? Parlamentarische Untersuchungsausschüsse haben eine wichtige Funktion. Sie sollen parlamentarische Kontrolle über die Regierung ausüben. Sie sind ein scharfes Schwert der Opposition. Sie haben besondere Zwangsbefugnisse. Brauchen wir das alles? Nein, das brauchen wir heute hier nicht. Wir hatten in den 90er-Jahren zwei Untersuchungsausschüsse. Es geht hier nicht um die politische Aufarbeitung einer Regierung, sondern es geht vor allem um eine historische Aufarbeitung und Bewertung, die – das betone ich – auch notwendig ist und noch aussteht. Die Wissenschaft hat gerade erst begonnen, die Forschungsarbeit zur Treuhand aktengestützt aufzunehmen. Was können wir mit den Mitteln des Untersuchungsausschusses leisten, was die Wissenschaft nicht leisten kann? Ich sehe keinen Grund. Es geht eigentlich nur um Aktenaufarbeitung. Es hat eine große Studie aus dem Jahr 2017 der Ruhr-Universität Bochum gegeben. Dazu haben die Verfasser der Studie insgesamt über 500 Personen befragt, darunter auch ehemalige Treuhandmanager, Politiker, Berater, Gewerkschafter, Betriebsräte. Das zeigt: Wir brauchen die Zwangsmittel des Untersuchungsausschusses nicht, um die Arbeit der Treuhand zu beleuchten. Es geht um die Frage der historischen Einordnung der Treuhand. Das muss letztlich Aufgabe der nunmehr einsetzenden zeithistorischen Forschungen sein. Die DDR hat gelehrt, dass die Politik, insbesondere die Politik der Linken, nicht der bessere Unternehmer ist. Politiker sind auch nicht die besseren Historiker. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die Kollegin Katrin Budde hat das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Katrin Budde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004686, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn mir jemand so richtig den Tag versauen will, dann muss er mich morgens mit dem Begriff „Treuhandanstalt“ wecken. ({0}) – Das ist so. – Danke, Herr Gelbhaar, für die historische Einordnung. Das kann ich mir dann sparen. Ich will nur noch eines hinzufügen: Das Gesetz vom 1. Juli 1990 sah eine Privatisierung, Sanierung und, wenn es gar nicht anders geht, eine behutsame Stilllegung vor. Es war von einer Strukturanpassung, von einer Entwicklung der Unternehmen die Rede. Das ist dann verändert worden, als es den ersten gesamtdeutschen Bundestag und die erste gesamtdeutsche Bundesregierung gab. Die Priorisierung war dann: weg vom volkswirtschaftlichen Ansatz hin zum betriebswirtschaftlichen Ansatz Verkauf. Das ist die grundsätzliche Fehlentscheidung, die gleich Anfang 1990 getroffen worden ist. Das sind die Folgen, die wir heute sehen. ({1}) Das war auch der Anfang vom Untergang der Betriebe im Osten in der Neuzeit, nach der Wiedervereinigung. Dafür brauchen wir keinen Treuhand-Untersuchungsausschuss. Das wissen wir. Es gab schon mehrere hier im Bund und in den Ländern en gros. Es gab natürlich den Anfang vom Untergang schon davor. Natürlich waren die meisten Betriebe in der DDR unwirtschaftlich, veraltet, hatten Investitionsstaus und hatten keine internationalen Märkte. Das war ja ein ganz anderes Wirtschaftssystem. Die konnten überhaupt keine internationalen Märkte haben. Wir haben auch alle selber ein bisschen Schuld. Wir haben von einen Tag auf den anderen bei den Lebensmitteln, bei den Kosmetika, bei den Konsumgütern nur noch Westcremes, Westkäse, Westwurst, Westautos gekauft. Auch das hat einem Teil der ehemaligen DDR-Betriebe erst einmal das Ende bereitet. Gut, dass es ein paar davon inzwischen wieder gibt. Das hat verschiedene Gründe und verschiedene Einflussfaktoren. Ich habe – das gebe ich zu – ein richtiges persönliches Trauma bezüglich der Treuhandanstalt. Ich hätte mir so gewünscht, Ihnen das Mitte und Ende der 90er-Jahre im Bundestag ganz deutlich sagen zu dürfen. Schon deshalb bin ich dankbar, dass es den Antrag der Linken gibt und ich das hier einmal loswerden kann. Als Abgeordnete in einem Landtag seit 1990, als wirtschaftspolitische Sprecherin, als Ministerin für Wirtschaft und Technologie habe ich diesen Strukturbruch genau mitbekommen: den Zusammenbruch der Wirtschaft, das Schließen der Unternehmen, die missglückten Privatisierungen, das bewusste Zerstückeln und die dann folgenden Insolvenzen sowie die Massenarbeitslosigkeit. Ich war überall demonstrieren: in Magdeburg und in Berlin und in Tausenden, nein, das ist übertrieben, aber in zig Städten. Nichts hat es geholfen. Ich habe mit Heerscharen von schnöseligen, dummen, unwissenden Beratern von Arthur D. Little und McKinsey zusammengesessen, mein Kollege Jurk wahrscheinlich ebenfalls und viele andere auch. Da ist mir echt der kalte Kaffee hochgekommen. Es hat nichts geholfen. Wenn Sie mich in der Staatskanzlei vorne herausgeschmissen haben, dann bin ich im Wirtschaftsministerium hinten wieder hineingegangen, weil ich für die einzelnen Betriebe doch noch etwas erreichen wollte. Diese falsche politische Entscheidung der Bundesregierung unter Helmut Kohl – auch das muss ich hier einmal loswerden – ({2}) wurde flankiert von westdeutschen Wirtschaftsinteressen, die die Märkte wollten, von denen sie nachher mitbekommen haben, dass es gar keine Märkte sind, auf die sie selber gehen können. Aber sie hatten zumindest danach den Ostmarkt, Ostdeutschland. Sie wollten aber nicht die Betriebe, sie wollten nicht die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Es hat nicht einmal der Versuch eines Strukturwandels stattgefunden, sondern das war ein gnadenloser Strukturbruch. Die ostdeutsche Wirtschaft wurde im Schnelldurchlauf von einer Planwirtschaft zu einer Marktwirtschaft in einer neuen weltwirtschaftlichen Situation, nämlich dem ersten großen Globalisierungsschub, umgestellt, wohingegen die westdeutsche Wirtschaft durch den Vereinigungsboom und die kommenden Aufträge, die an westdeutsche Unternehmen gegangen sind, eine Schonzeit bekommen hatte bei der Abfederung dieses Umbruchs. Auch das gehört zur Wahrheit. Und es gab 1990 Überkapazitäten. Die konnte man super einsetzen. Ich will das aber nicht nur verurteilen; denn die Aufgabe und der Umfang und die Komplexität waren wirklich einmalig, und das war unabsehbar. Wahrscheinlich hätte es immer Fehler gegeben. Ich will gar keinen persönlichen Vorwurf machen, weil es eine riesige Aufgabe war. Ich glaube nur, dass wir bessere Chancen gehabt hätten mit anderen grundsätzlichen politischen Entscheidungen und dass es in Ostdeutschland dann noch mehr Industrie, mehr Betriebe geben würde, wenn wir einen Strukturwandel gemacht hätten. Ein paar Zahlen, damit man sich das einmal verdeutlicht. Die Dimension in Sachsen-Anhalt: 1990  600 000 Industriearbeitsplätze – nicht die kleinen, nicht die Dienstleistungen, die sind alle noch obendrauf gekommen –, heute 105 000 in Betrieben über 50 Mitarbeiter in allen Branchen, nicht nur in der Industrie. Man sollte sich einmal die Dimension vorstellen. Bei mir im Wahlkreis MIFA, also Fahrräder, 1 500  1990, jetzt knapp 100, mehrmals privatisiert. Mansfelder Kupfer und Messing: damals 7 000, jetzt etwas über 1 000, mehrmals privatisiert. Das SKET in Magdeburg: 15 000 allein in Magdeburg, wenn überhaupt noch 1 000. Die Magdeburger Armaturenwerke in Magdeburg: 7 000, gar kein Mitarbeiter mehr. Ich könnte endlos weiter aufzählen, was es noch gibt und was es nicht mehr gibt. Jetzt, meine Damen und Herren, stellen Sie sich das einmal in Bayern, in Hessen, in Baden-Württemberg, in Niedersachsen vor. Was hat das für eine Dimension angenommen! Man kann erahnen, warum ich immer noch eine Wut im Bauch habe, dass das so falsch angefasst worden ist. ({3}) Es gab auch gute Ansätze. Mit Klaus Schucht sind wir nicht immer einer Meinung. Er war Direktor in der Treuhandanstalt für Bergbau, Chemie und Energie und in Sachsen-Anhalt Wirtschaftsminister. Bei Kali hat Bischofferode verloren, Zielitz hat gewonnen. Es gab auch innerhalb Ostdeutschlands Gewinner und Verlierer. Klaus Schucht hat aber eine grundsätzlich andere Idee verfolgt. Er hat gesagt: Wenn die westdeutschen Unternehmen nicht kaufen wollen, dann gehen wir ins Ausland. – So kam die große Privatisierung der Chemieindustrie zustande. Dow, eine amerikanische Firma, hat Buna privatisiert. Elf Aquitaine hat Leuna privatisiert. Advent International war nach der Privatisierung erster Eigentümer der MIBRAG. Es gab Ansiedlungsoffensiven seitens der Italiener in der chemischen Industrie und die großen neuen Chemieparkmodelle. Es gibt also auch positive Dinge. Jetzt bitte ich um eins: Lassen wir uns diese positiven Sachen nicht kaputtmachen! Denn wichtiger als ein weiterer Parlamentarischer Untersuchungsausschuss ist, dass wir jetzt zum Beispiel darauf achten, dass diese Chemieregion nicht unter dem anstehenden Strukturwandel im Bergbau und steigenden Energiepreisen leidet, damit wir nicht den nächsten Strukturbruch erleben. Daran können wir gemeinsam arbeiten. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Kollege Arnold Vaatz hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Arnold Vaatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003248, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als Erstes möchte ich an die Adresse von Herrn Bystron und Herrn Pohl Folgendes sagen: Sie werfen der Treuhandanstalt im Kern vor, dass sie große Teile der ostdeutschen Wirtschaft unter Wert verkauft hätte. ({0}) Dem Ganzen liegt ein Wertbegriff zugrunde, den Sie offenbar dem Staatsbürgerkundeunterricht der DDR entlehnt haben. ({1}) Damals mussten wir lernen, worin der Wert einer Sache besteht. Die Antwort, die uns damals abverlangt worden ist, lautete: Der Wert einer Sache besteht in der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit, die zu ihrer Anfertigung erforderlich ist. ({2}) Dann mussten wir lernen, dass in einer Marktwirtschaft der Käufer durch seine Bereitschaft, etwas für eine Sache zu geben, bestimmt, wie viel eine Sache wert ist. Wenn es jemanden gegeben hätte, der für das, was damals für 1 Mark über den Ladentisch gegangen ist, 1 Million gezahlt hätte, dann hätte die Treuhand selbstverständlich diesen Käufer ausgewählt. ({3}) Das große Problem war aber, dass die Alternative gewesen wäre, dass die Dinge unverkauft liegen geblieben und verrottet wären. Das wäre die Konsequenz gewesen. ({4}) Meine Damen und Herren, jetzt an Ihre Adresse – ich nehme ausdrücklich die jungen Leute aus, die damals noch keinen Einfluss auf die Politik hatten und jetzt in Ihren Reihen sitzen, und diejenigen, die aus dem Westen kommen –, also an die Adresse der alten Hasen, die aus Ostdeutschland kommen: ({5}) Ich muss Ihnen erst mal ein riesiges Kompliment machen. Dass Sie es geschafft haben, den verrotteten Zustand, in dem Sie die DDR in die Zukunft entlassen haben, den technologischen Rückstand, die totale Mangelwirtschaft, in der dieses Land geendet ist, schließlich und endlich denjenigen anzulasten, die versucht haben, die Sache aus dem Dreck wieder herauszuziehen, ist eine geniale machiavellistische Leistung. Das muss ich Ihnen sagen. ({6}) Ehrlich gesagt: Ich würde am liebsten zustimmen, dass wir diesen Untersuchungssauschuss einrichten, ({7}) damit zutage tritt, in was für einen Zustand Sie dieses Land geritten haben. ({8}) Das wäre ein vernünftiger Untersuchungsauftrag. Meine Damen und Herren, wir hatten ein Konkursverfahren, für das es historisch überhaupt kein Beispiel gibt. Es ist in der Tat so, dass der Westen damals verdattert danebenstand. Sie hatten sich besoffen reden lassen von der DDR-Propaganda, nach der die DDR das zehntstärkste Industrieland war. Sie dachten, dass sie die ganze Geschichte mit ein paar Handgriffen wieder aufs richtige Gleis bringen können. Das hatte die Konsequenz, dass eine Reihe von altklugen und arroganten und besserwisserischen Ratgebern die DDR damals überzogen haben und uns erklärt haben, wie die Zukunft auszusehen hat, ohne die geringste Ahnung zu haben, wie zerschlissen, wie kaputt die Fundamente eigentlich waren. Das ist die Realität. ({9}) Dieses Benehmen einiger aus dem Westen hat viele Ostdeutsche derart in ihrer Ehre gekränkt und in ihrem Selbstwertgefühl beschädigt, dass man einmal darüber nachdenken muss, ob dieses Klima der Bevormundung nicht letzten Endes der Punkt war, der in Ostdeutschland die Verletzungen angerichtet hat. ({10}) Meine Damen und Herren, es ist darüber gesprochen worden – Frau Budde hat das gesagt –, ob es nicht bessere Alternativen gegeben hätte. Frau Budde, dass das Chemiedreieck in Sachsen-Anhalt gerettet worden ist, ist in erster Linie dem unermüdlichen Einsatz von Helmut Kohl zu verdanken gewesen, ({11}) der zusammen mit Mitterrand dafür gesorgt hat, dass der französische Staat bereit war, dort zu investieren. ({12}) Sie hatten jede Gelegenheit, in der Regierung ­Höppner Ihre großartigen Ideen zu verwirklichen. Das haben Sie nicht gemacht. ({13}) Gucken Sie sich das Schicksal von SKET an. Rechnen Sie mal vor, was an öffentlichen Mitteln dort reinging. ({14}) – Hören Sie auf zu schreien. Hören Sie mal zu! Sie können was lernen. So. ({15}) Meine Damen und Herren, die nächste Frage ist: Hätte es tatsächlich Alternativen gegeben? Meine Damen und Herren, selbstverständlich ist die Frage berechtigt. Wenn allerdings die Bundesrepublik Deutschland als Erbe dieses in Konkurs gegangenen Staatskonzerns mit einer eigenen Binnenwährung, die auf diese Weise zum Eigentümer der Industrie dort geworden ist, als Staat diese Industrie hätte weiterbetreiben wollen, dann hätte sie in Konkurrenz treten müssen zu denjenigen, die durch ihre Steuerbeiträge die Bundesrepublik Deutschland erst ermöglichen, also in Konkurrenz zu ihrer eigenen Wirtschaft. ({16}) Und weil sie das nicht kann, musste selbstverständlich die Treuhand die Unternehmen privatisieren, das heißt meistbietend versteigern. ({17}) Was ist dabei passiert? Es sind natürlich eine ganze Reihe von Dingen passiert, die die Öffentlichkeit zu Recht aufregen. ({18}) Zum Beispiel haben viele Erwerber gedacht, dass sie die Treuhand-Erwerbungen als Spekulationsobjekte betrachten können. Sie haben damit den Verfassungsgrundsatz „Eigentum verpflichtet“ zu gewissen Teilen mit Füßen getreten. ({19}) Das halte ich in der Tat für ein Versagen; aber das ist kein Staatsversagen. ({20}) Jetzt ist die große Frage: Wie ist das Unternehmen Treuhand im Vergleich zu dem Vorgehen in anderen sozialistischen Volkswirtschaften zu beurteilen? Ich kann Ihnen sagen: Die Alternativen in den anderen sozialistischen Volkswirtschaften sind katastrophal. ({21}) Weiter östlich eine Totalentwertung der Vermögen der Leute und die Entstehung von Rechtlosigkeit und Oligar­chien. Das, was wir mit der Treuhand zuwege gebracht haben, ist eine der größten Leistungen überhaupt im osteuropäischen Wirtschaftssystem. ({22}) Zum Schluss will ich noch eine letzte Bemerkung loswerden. Ich bin den Leuten, die die Treuhand damals geführt haben, außerordentlich dankbar. Ich will an den 1. April des Jahres 1991 erinnern. Damals sind drei Schüsse gefallen – auf Detlev Karsten Rohwedder. Er war das letzte Opfer der RAF. Wenn Sie gerne mal etwas untersuchen wollen, dann untersuchen Sie diesen Mord, und untersuchen Sie die vorausgegangene Hetze von links gegen diesen Menschen. Untersuchen Sie, was die RAF an Sympathisanten damals in der Bundesrepublik Deutschland hatte und welche Wirkung diese Sympathie auf die Bereitschaft hatte, auf diesen Menschen zu schießen. Vielen Dank. ({23})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die Kollegin Daniela Kolbe ist die nächste Rednerin. ({0})

Daniela Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004079, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass ein Untersuchungsausschuss kein geeignetes Mittel ist, dann, finde ich, hat diese Debatte diesen Beweis endgültig erbracht. ({0}) Ein Untersuchungsausschuss würde mehr Schaden anrichten als nützen. Aber es wurde auch der Beweis erbracht, dass dies ein megawichtiges Thema ist. Um das zu erkennen, musste man nur Katrin Budde zuhören. Ich höre den Gesprächen zu, und ich höre in mich selbst hinein, denke an die Erfahrungen, die ich als kleines Kind gemacht habe, an das, was damals rings um mich herum passiert ist. Daher ist mir klar: Das ist ein Riesenthema. Es prägt ganze Generationen in Ostdeutschland, auch meine Generation. Es prägt Ostdeutschland, und das ist Grund genug, sich damit zu befassen, und zwar nicht nur in Historikerkommissionen. Wir müssen über dieses Thema sprechen. Die Frage ist allerdings, mit welchem Ziel. Wenn man das Mittel eines Untersuchungsausschusses wählt, dann ist das Ziel – so verstehe ich das –, die Schuldfrage zu klären. ({1}) Echt jetzt? Ihr wollt die Schuldfrage klären? Man muss das Ganze mal als ein Beziehungsproblem betrachten – ich glaube, wir haben in diesem Land tatsächlich nach wie vor ein Beziehungsproblem zwischen Ost und West –: Wenn ich ein Beziehungsproblem wirklich nicht lösen will, dann stelle ich die Schuldfrage: Wer ist schuld? ({2}) Wenn ich ein Beziehungsproblem wirklich lösen will, dann setze ich mich an einen Tisch und rede. Wenn ich mir die Konstellation hier anschaue, dann frage ich mich: Wozu soll ein Untersuchungsausschuss führen? Wir sehen eine Union, die sagt: Damals ist alles prima gelaufen; das eigentliche Problem war der Zustand der DDR-Wirtschaft. – Frau Teuteberg, ich habe Ihnen zugehört und habe wahrgenommen, dass Sie immer noch toll finden, dass damals so viel privatisiert worden ist; ({3}) das ist jedenfalls das, was bei mir angekommen ist. Auf der anderen Seite sehen wir Die Linke – bei der AfD weiß ich nicht genau, was ihre Taktik ist –, die sagt: Alles, was die Treuhand damals gemacht hat, war schlecht. – Das ist doch keine Grundlage, um eine Frage wirklich zielorientiert zu beantworten. ({4}) Was brauchen wir wirklich? Wir brauchen ein klares Benennen der Ungerechtigkeiten, die damals passiert sind. Das schien ja auch durch. Auch bei Herrn Rehberg und Herrn Vaatz ist die Rede davon gewesen, dass es Glücksritter gab, dass es kriminelle Energie gab. Viele in Ostdeutschland warten darauf, dass einmal klar benannt wird, was dort passiert ist, ({5}) was mit ihnen passiert ist, was dahintergesteckt hat. Das klare Benennen der Ungerechtigkeiten gehört also dazu. Es gehört aber eben auch dazu, sich zuhören zu wollen, sich verstehen zu wollen, sich vielleicht sogar zu entschuldigen und auch Entschuldigungen anzunehmen. Das ist etwas, was ich mir in diesem Zusammenhang wünsche. ({6}) Martin Dulig und Petra Köpping haben deswegen Aufarbeitungskommissionen ins Gespräch gebracht, um das Aufarbeiten und Einordnen nicht den Historikern zu überlassen, sondern auch Menschen ins Gespräch miteinander zu bringen, um zu klären: Wie war die jeweilige Perspektive? Was ist damals wirklich passiert? Wie prägt uns das heute noch? Einen ersten Schritt hat die SPD gemacht. Wir haben am Montag im Parteivorstand die Einrichtung einer Arbeitsgruppe beschlossen, die sich mit der Aufarbeitung dieses Transformationsprozesses befasst, weit über Historikerkommissionen hinaus. ({7}) Was ich mir wünsche, ist ein parteiübergreifender Dialog darüber, ob man nicht eine solche Form wählen kann und ob die nicht tatsächlich zu mehr führen würde als ein Untersuchungsausschuss. Ich würde mich auch freuen, wenn wir dann tatsächlich nicht über die Schuldfrage reden, sondern über Verständigen, Versöhnen und Aufeinander-Zugehen. Vielen Dank. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Kollege Diether Dehm hat um eine Kurzintervention gebeten. ({0}) Lieber Herr Kollege, bitte schön.

Dr. Jörg Diether Dehm-Desoi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000365, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich mache das ohne direkte Namensnennung, weil es den vorherigen Redner betreffen könnte. – Was mich sehr betroffen gemacht hat, ist die Formulierung – und ich bitte, darüber nachzudenken –, dass die Schüsse auf Rohwedder einer Hetze von links zu verdanken seien. Wenn Sie dahin gehend Informationen brauchen, lesen Sie von Wolfgang Schorlau, einem sehr fortschrittlichen Autor, „Die blaue Liste“. ({0}) Er hat sich sehr eingehend mit diesen Vorgängen befasst. Da werden Sie feststellen, dass Rohwedder ein Sanieren vor Privatisieren angestrebt hat, während Frau Breuel ein Privatisieren vor der Sanierung als Konzept hatte, wer also innerhalb und außerhalb der Treuhand wirklich gegen Rohwedder gehetzt hat. Wir jedenfalls glauben, dass diese billige Zuweisung im Nachhinein von Schüssen und Schuld der heutigen Diskussion nicht gerecht wird, und ich bitte Sie, darüber nachzudenken. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Wenn es dazu keine Stellungnahme von Frau Kolbe gibt – nein, Sie wollen dazu nichts sagen –, ({0}) schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/9793 und 19/11126 an den Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Martina Stamm-Fibich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004413, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir beschließen heute eine Petition, die den Ausschuss und mich seit 2016 begleitet. Ein langer und phasenweise mühevoller Weg geht heute zu Ende. Das Ziel haben wir meiner Meinung nach noch nicht ganz erreicht. Aber eine wichtige Zwischenetappe haben wir geschafft; denn der Petitionsausschuss konnte sich einstimmig auf ein sehr hohes Votum einigen: die Petition des Mukoviszidose e. V., des Bundesverbandes von Selbsthilfegruppen Mukoviszidose-Betroffener, zur Erwägung an das Gesundheitsministerium und an die Landesvolksvertretungen zu überweisen. Die ambulante medizinische Versorgung von Mukoviszidose-Patienten ist aktuell problematisch. Die gute Nachricht zuerst: Die Patientinnen und Patienten haben heute eine wesentlich höhere Lebenserwartung als früher. Die schlechte Nachricht ist aber: Für erwachsene Patientinnen und Patienten fehlen oft die ambulanten Behandlungsstrukturen. Mukoviszidose ist eine Erbkrankheit mit vielen unterschiedlichen Ausprägungen. Die Behandlung muss individuell auf jeden Patienten zugeschnitten sein. Notwendig sind entsprechende Zentren, in denen Lungenärzte, Ernährungsberater, Physiotherapeuten und weitere Fachärzte tätig sind. Der Koalitionsvertrag für diese Legislatur sieht vor, diese Zentren zu stärken und dafür zu sorgen, dass komplexe und seltene Erkrankungen besser behandelt werden können. Diese Zentren sind wichtig; denn dort bekommen die Patientinnen und Patienten, die es brauchen, Leistungen aus einer Hand. Dort ist interdisziplinäres Arbeiten mit diesen Patienten möglich. In die Ausgestaltung dieser Versorgungsstruktur kann die Politik nicht eingreifen; dessen sind wir uns bewusst. Das ist Aufgabe der Selbstverwaltung. Aber wir können ein Signal senden und auf die schwierige Situation der Menschen mit dieser Erkrankung hinweisen. Mit dem einstimmigen Beschluss, die Petition mit diesem hohem Votum zu versehen und an das Gesundheitsministerium und die Landesvolksvertretungen zu überweisen, setzen wir ein Signal. Es ist eine wichtige Zwischenetappe auf dem langen Weg zu dem Ziel, zu einer guten Versorgung zu kommen. Ich hoffe, dass das Signal im Ministerium, in den Landesvolksvertretungen und in der Selbstverwaltung ankommt, dass die finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt werden müssen, um Strukturen zu verbessern und dauerhaft zu finanzieren. Ich danke dem Ausschuss für dieses hohe Votum und hoffe auf gute Versorgung der Mukoviszidose-Patienten. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Ganz herzlichen Dank, Frau Kollegin Stamm-Fibich, für diese Berichterstattung. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über Sammelübersicht 314 auf Drucksache 19/11164. Wer stimmt dafür? – Das ist ein einstimmiges Votum. Sammelübersicht 314 ist einstimmig angenommen. Zusatzpunkt 10 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 315 zu Petitionen Drucksache 19/11165 Wer stimmt dafür? – Das sind wieder alle Fraktionen. Damit ist auch Sammelübersicht 315 einstimmig angenommen. Zusatzpunkt 10 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 316 zu Petitionen Drucksache 19/11166 Wer stimmt dafür? – Die Linke, CDU/CSU, SPD, FDP und AfD. Wer stimmt dagegen? – Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Damit ist die Sammelübersicht 316 angenommen. Zusatzpunkt 10 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 317 zu Petitionen Drucksache 19/11167 Wer stimmt dafür? – Die Koalitionsfraktionen, die FDP, die AfD. Wer stimmt dagegen? – Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? – Keine. Sammelübersicht 317 ist angenommen. Zusatzpunkt 10 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 318 zu Petitionen Drucksache 19/11168 Wer stimmt dafür? – CDU/CSU, SPD, Grüne, Linke und AfD. Wer stimmt dagegen? – Die FDP. Enthaltungen? – Keine. Sammelübersicht 318 ist angenommen. Zusatzpunkt 10 l: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 319 zu Petitionen Drucksache 19/11169 Wer stimmt dafür? – CDU/CSU, SPD und AfD. Wer stimmt dagegen? – Die Linke, die Grünen und die FDP. Enthaltungen? – Keine. Sammelübersicht 319 ist angenommen. Zusatzpunkt 10 m: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 320 zu Petitionen Drucksache 19/11170 Wer stimmt dafür? – Das sind bis auf die AfD-Fraktion alle Fraktionen des Hauses. Wer stimmt dagegen? – AfD. Enthaltungen? – Keine. Sammelübersicht 320 ist angenommen. Zusatzpunkt 10 n: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 321 zu Petitionen Drucksache 19/11171 Wer stimmt dafür? – CDU/CSU und SPD. Wer stimmt dagegen? – Die Oppositionsfraktionen sind geschlossen dagegen. Enthaltungen? – Keine. Sammelübersicht 321 ist angenommen.

Not found (Minister:in)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diese verabscheuungswürdige Tat an Herrn Lübcke hat uns alle schockiert. Es gibt jetzt einen Täter; aber die Hintergründe dieser Tat sind noch nicht geklärt. Wir wissen also vieles noch nicht endgültig. Was wir aber wissen, ist, dass diese Tat eine breite gesellschaftliche Debatte über die Gefahren des Rechtsradikalismus ausgelöst hat. Ich möchte diese Aktuelle Stunde nutzen, um über einige Punkte zu informieren und über einige Punkte Klarheit herzustellen. Erstens. Es gab heute zwei weitere vorläufige Festnahmen und auch Waffenfunde. Das zeigt, dass unsere Sicherheitsbehörden auf eine akribische und sehr professionelle Art und Weise die Spuren am Tatort gesichert haben – durch diese Arbeit ist überhaupt erst ermöglicht worden, die heiße Spur zu finden, die zum Täter geführt hat – und dass sie auch jetzt bei der Aufhellung des Umfeldes sehr gute Arbeit leisten. Deshalb möchte ich zuallererst feststellen: Die Behörden des Landes Hessen und die Bundessicherheitsbehörden arbeiten hervorragend zusammen. Es gibt also keinen Grund, die Sicherheitsarchitektur in Deutschland anzuzweifeln. Die Sicherheitsbehörden arbeiten vielmehr äußerst professionell, weshalb ich der Polizei und den Sicherheitsbehörden in Hessen und auch dem Bundeskriminalamt und dem Bundesamt für Verfassungsschutz meinen Dank aussprechen möchte. ({0}) Zweitens. Ich habe heute Vormittag den Verfassungsschutzbericht 2018 vorgestellt. Wir haben derzeit in der Bundesrepublik Deutschland über 24 000 Personen, die man dem rechtsextremen Spektrum zuordnen muss. Davon sind über die Hälfte, also gut 12 000 Personen, potenziell gewaltbereit. Das ist die bisher höchste Zahl. Das ist eine Rekordzahl, und sie ist besorgniserregend. Deshalb möchte ich hier vor dem deutschen Parlament feststellen: Neben vielen Gefahren, auf die ich am Schluss meiner Rede noch einmal zurückkomme, ist der Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland eine große Gefahr für unser Land und für die Bevölkerung in unserem Land. Diese Zahlen verpflichten uns als Demokraten alle gemeinsam, dem Rechtsextremismus die Stirn zu bieten. ({1}) Drittens. Neben der Strafverfolgung, die in diesem Fall natürlich besonders wichtig ist, da sich diese Tat gegen das freiheitliche demokratische System der Bundesrepublik Deutschland und damit gegen uns alle richtet, ist auch ein Grundkonsens über präventive Maßnahmen gegenüber dem Rechtsextremismus notwendig. Ich habe hier an diesem Pult des Öfteren gesagt: Null Toleranz gegenüber Ausländerfeindlichkeit! Null Toleranz gegenüber Hassparolen! Null Toleranz gegenüber Antisemitismus! Auch die Entwicklung der antisemitischen Straftaten ist besorgniserregend; die Zahl ist um fast 20 Prozent angestiegen. ({2}) Keine Ausgrenzung! Und eine Sprache, die nicht zu Hass und Gewalt führt! ({3}) Zu einer Sprache, die Menschen verunglimpft, die Menschen herabsetzt, zu einer Sprache, die sich deutlich absetzt vom demokratischen Diskurs – wir brauchen natürlich schon den Austausch der unterschiedlichen Argumente –, muss ich sagen: Es gibt keine Rechtfertigung für die Herabsetzung von Personen innerhalb oder außerhalb einer Regierung oder eines Parlaments und schon gar nicht für Verunglimpfung. Meine Damen und Herren, hinsichtlich dieser Punkte – keine Ausgrenzung, kein Hass, null Toleranz gegenüber Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus – sollten alle nicht nur in diesem Parlament, sondern auch alle außerhalb dieses Parlaments einen Konsens haben. Das ist die beste Prävention gegenüber Radikalismus. ({4}) Viertens. Es wird in diesen Tagen immer wieder gefragt: Schaut ihr eigentlich genau hin, wie es innerhalb der Behörden aussieht, bei der Polizei, bei den Sicherheitsbehörden? Gibt es da nicht dieses Phänomen des Rechtsradikalismus? ({5}) Deshalb möchte ich für unsere Bundespolizei, für die ich Verantwortung trage, klar sagen: Die Bundespolizei schützt unser Land und unsere Bevölkerung seit Jahrzehnten. Sie tut dies mit hoher Professionalität, wie ich eingangs im Fall Lübcke erzählt habe. Unsere Bundespolizei steht unzweifelhaft loyal zu diesem Staat, und sie steht ebenso unzweifelhaft auf dem Boden des deutschen Grundgesetzes. ({6}) Ich kann Ihnen sagen: Wenn sich Personen innerhalb der Bundespolizei eben nicht an die Regeln halten – das ist eine verschwindend kleine Zahl –, ({7}) dann werden sie unnachsichtig gestellt, verfolgt und, wie es etliche Einzelfälle zeigen, aus dem Dienst entfernt. Auch da gibt es keine Toleranz. ({8}) Fünftens. Ich weiß, dass mit zunehmendem Abstand zu einem schrecklichen Ereignis die Bereitschaft, da und dort Dinge so anzupassen, dass unsere Sicherheitsbehörden nicht blind und taub sind, wieder nachlässt. Das ist eine ganz normale menschliche Eigenschaft. Darum möchte ich heute darauf hinweisen: Wir hätten viele Informationen über den Täter nicht und wären möglicherweise auch nicht auf seine Spur gekommen, wenn nicht Daten gespeichert gewesen wären, die eigentlich hätten gelöscht sein müssen, ({9}) aber die durch das Moratorium aufgrund der schrecklichen Katastrophe NSU noch verfügbar waren. Wir hätten eine winzige DNA-Spur nicht zum Täter verfolgen können, wenn es keine Datenbank an DNA-Spuren von früheren Straftätern geben würde. Ich sage, ohne jetzt eine Diskussion darüber eröffnen zu wollen, dass man sich immer im Klaren sein muss, was uns in dem früheren schrecklichen Fall weitergebracht hat, und nicht oberflächlich sofort wieder sagen darf, wir wollten, wenn wir unseren Staat schützen wollen, einen Überwachungsstaat, wir wollten die Bürgerrechte einschränken, wir wollten die Journalisten abhören. Ich sage heute noch einmal: Wir wollen Journalisten nicht bekämpfen, sondern wir wollen Kapitalverbrechen bekämpfen. Da müssten wir eigentlich alle zusammenstehen und den Sicherheitsbehörden die Befugnisse geben, dass sie Kapitalverbrechen, die immer komplexer und immer schlimmer werden, auch bekämpfen und verhindern und aufklären können. ({10}) Natürlich müssen wir auch das eine oder andere in der Arbeit unserer Sicherheitsbehörden verbessern. Man muss sich da ständig verbessern, wenn man gut bleiben will. Dazu zählt – das ist aus der Mitte des Parlaments in den letzten Tagen öfters gesagt worden –, dass wir auch die analytischen Fähigkeiten verbessern, das heißt, weit im Vorfeld durch Zusammenarbeit, durch Analyse nicht nur mögliche Einzeltäter im Blick haben, sondern auch die Netzwerke im Internet, die Zusammenarbeit, die Mitwisserschaft, die mögliche Mittäterschaft. Das ist personalintensiv. Deshalb bitte ich heute schon das Parlament: Wir haben in den letzten Jahren den Sicherheitsbehörden 12 000 Stellen zusätzlich zur Verfügung gestellt. Dafür bin ich dankbar. Auch meine Vorgänger haben daran schon sehr stark gearbeitet. Aber wir werden weiter aufbauen müssen, weil diese Dinge nur mit ausreichend Personal ({11}) und vor allem mit richtiger Qualifikation geleistet werden können. Wir werden also auch personell und in der technischen Ausstattung eine weitere Verbesserung bei den Sicherheitsbehörden brauchen. Ich werde in der nächsten Woche das von meinem Vorvorgänger, der nun als Bundestagsvizepräsident hinter mir sitzt, eingerichtete Zentrum zur Bekämpfung des Rechtsextremismus besuchen. Das besteht übrigens seit 2012. Da sind alle Verfassungsschutzbehörden und Sicherheitsbehörden vertreten. Ich werde in der nächsten Woche das Bundesamt für Verfassungsschutz, wo dieses Zentrum seinen Sitz hat, besuchen. Meine Damen und Herren, ich danke für jede Unterstützung in den letzten Tagen bei der Bewältigung dieser ganz schlimmen Sache Lübcke. Es geht auch einem Minister unter die Haut, wenn man die Betroffenen sieht und bemerkt, mit welcher inneren Emotion unsere Sicherheitsbehörden sich dieser Sache annehmen. Sie sagen mir nämlich immer wieder – auch heute –: Wir sind dies den Angehörigen und dem Opfer schuldig. Trotz dieser abscheulichen Tat möchte ich darauf hinweisen – das zeigt auch der Verfassungsschutzbericht –, dass die innere Bedrohung unseres Landes immer vielfältiger und komplexer wird. Ich spiele jetzt nicht das eine gegen das andere aus. ({12}) Der Rechtsextremismus stellt eine hohe Gefahr dar. Aber wir haben nach wie vor die islamistische Bedrohung. Wir haben nach wie vor die Reichsbürger, die sehr waffenaffin sind. ({13}) Wir haben in den letzten Monaten da schon 500 Waffenscheine entzogen. Wir haben einen erschreckenden Antisemitismus; man muss das so deutlich sagen. Ich werde auch eine Konferenz dazu machen. Ich bin sehr dankbar, dass die Bundesregierung einen sehr engagierten Antisemitismusbeauftragen bestellt hat, der das ganze Feld der Schulen und der anderen Bildungseinrichtungen bearbeitet. Wir haben auch einen linken Extremismus. ({14}) Wir sollten auch da einen Konsens haben. Extremismus ist immer gefährlich für eine freiheitliche Gesellschaft, ob er denn von rechts oder von links kommt. ({15}) Ich will zum Abschluss sagen: Wer mich kennt, weiß, dass ich ein Anhänger einer sehr liberalen und sehr offenen Gesellschaft bin. ({16}) Aber wenn es um den Schutz unseres Landes, um den Schutz unserer Bevölkerung geht, dann bin ich für einen starken Staat, einen starken Staat, der das, was er zum Schutz unserer Bevölkerung tun muss, auch in der Realität durchsetzt. Dieser Rechtsstaat muss sich durchsetzen. Nur ein Rechtsstaat, der sich durchsetzt, schafft auch Vertrauen bei der Bevölkerung. Darum bitte ich. ({17})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion der AfD hat das Wort der Kollege Dr. Gottfried Curio. ({0})

Dr. Gottfried Curio (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004698, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Anlass unserer Debatte ist tief beklagenswert. Ein Mensch ist ermordet worden, ein Repräsentant unseres Staates. Jenseits aller parteipolitischen Differenzen einen uns Trauer, Entsetzen und bedingungslose Verurteilung dieses furchtbaren Geschehens. Gegen Rechtsextremismus muss entschlossen gekämpft werden. ({0}) Das Entsetzen über diesen Mord sollte nicht zur Instrumentalisierung verleiten, etwa um einen politischen Konkurrenten zu verleumden. Dies geschieht, wo bewusst die Grenze verwischt werden soll zwischen rechtsextrem, was demokratiefeindlich ist, und rechts, was wie links oder liberal eine politische Richtung im demokratischen Spektrum ist. ({1}) Wie verteilen sich nun die Straftaten gegen Repräsentanten von Parteien? Im ersten Quartal 2019 gab es 217 davon: 114 gegen die AfD, dann 21 gegen die SPD, 19 gegen die Grünen, 16 gegen die Union usw. Das passt nicht in die Erzählung, die jetzt aufgebaut werden soll. Warum nicht? Weil diese Zahlen mal die Realität darstellen, meine Damen und Herren. ({2}) Minister Seehofer, der die Grundrechte der Bürger im Migrationschaos nicht ausreichend schützte, sagt: „Dieser Mord motiviert mich, alle Register zu ziehen“, und lässt prompt einen Grundrechteentzug nach Artikel 18 prüfen. Gemesserte, vergewaltigte, ermordete Mädchen haben ihn nicht motiviert, alle Register zu ziehen. Tote am Breitscheidplatz haben ihn nicht motiviert dazu. Eine Herrschaft des Unrechts hat ihn nicht motiviert. Distanziert sich die Kanzlerin von einer möglichen Anwendung von Artikel 18? Das sei Ultima Ratio. Wir nehmen mit: Niemand hat die Absicht, einen Maulkorb zu verhängen. Wir ahnen: Sollte es geschehen, dürfte es alternativlos gewesen sein. ({3}) Aber, meine Damen und Herren, die Staatsdiener der Sicherheit – Polizisten und Soldaten – laufen Ihnen jetzt davon, haben kein Vertrauen mehr zu dieser Politik. Die Leute, die die Nahsicht auf die Probleme haben, gehen zur rechtsstaatlichen Opposition. ({4}) Wenn Politiker wegen ihrer gebotenen Kritik am Regierungshandeln in Mithaftung genommen werden sollen für Gewalttaten, dann ist das parteipolitischer Missbrauch eines Mordes. Erst wird politische Kritik umgedeutet in eine angebliche Verrohung des Tones, dann diese zur Ursache für Extremismus gemacht. Sind alle 68er mitschuldig an den Toten der RAF? War nach der Ermordung Rohwedders Treuhandkritik anrüchig? Trägt, wer sagt, man werde sich bis zur letzten Patrone gegen eine Zuwanderung in die Sozialsysteme wehren, etwa Mitschuld an einer eventuellen Ermordung eines Migranten? – Politischer Aschermittwoch 2011, O‑Ton Seehofer! ({5}) Er sagt: „Worte können das Vorfeld für Hetze, Hetze das Vorfeld für Taten sein.“ Dann bitte: Falsch verstandene Weltoffenheit kann das Vorfeld für eine Herrschaft des Unrechts sein. Eine Herrschaft des Unrechts kann das Vorfeld sein für zahllose Gewalttaten landauf, landab, die zu verhindern gewesen wären, meine Damen und Herren. ({6}) Wenn der Bundestagspräsident sagt: „Menschenfeindliche Hetze ist Nährboden für Gewalt. Wer ihn düngt, macht sich mitschuldig“, ({7}) sagen wir: Wer berechtigte, auch fundamentale Kritik an fundamental falschem Regierungshandeln übt, tut nur dies und macht sich nicht schuldig. Der aber, der Gewalt ausübt, ist selber allein schuldig. Schluss mit der infamen Unterstellung dieser Anstiftungspsychologie, die lediglich Kritik knebeln soll! Die Bürger lassen sich eine solche Maulkorbdemokratie nicht gefallen. ({8}) Wir verteidigen hier und heute auch Millionen Bürger gegen die Beleidigung als Menschenfeinde, Hasser, Hetzer, dieses ganze wohlfeile Verleumdungsvokabular. Nicht Ausländer werden gehasst. Unsinn! Abgelehnt wird Asylbetrug. Kritik ist nicht Hass, ist nicht Hetze. Die Diffamierung von Kritik ist die größte Sünde gegen die Demokratie, meine Damen und Herren. ({9}) Die Verfemung der politischen Rechten schlägt der Demokratie ins Gesicht. Bedrohte Politiker? Auf der rechten Seite dieses Hauses sitzen Helden. ({10}) Anders als Sie alle riskieren diese Abgeordneten ihre bürgerliche Existenz, um in einer von Ihnen verleumdeten Partei ihren Beitrag zu Bürgervertretung, zu Meinungsvielfalt zu leisten. Es ist doch gerade die Arbeit der AfD im parlamentarischen Raum, die den Bürgern noch zeigt, dass Kritik am Regierungshandeln in politische Entscheidungsprozesse einfließen könnte. Nur bei unbehinderter Arbeit der AfD kann niemand behaupten, er müsse außerparlamentarisch handeln, gar gewalttätig werden, um einem Ruf nach Änderung Gehör zu verschaffen. Deshalb sagen wir Ihnen: Für den Schutz unserer Demokratie wirkt die Alternative für Deutschland. Ich danke Ihnen. ({11})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Ich erteile das Wort der Bundesministerin Christine Lambrecht. – Bitte schön, Frau Ministerin. ({0})

Christine Lambrecht (Minister:in)

Politiker ID: 11003167

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke hat uns zutiefst erschüttert, und unser tiefstes Mitgefühl gehört seinen Angehörigen in dieser schweren Zeit. ({0}) Meine Damen und Herren, es ist unfassbar, dass ein Mensch getötet wurde, weil er sich für Demokratie, für Menschlichkeit und für seine christliche Überzeugung engagiert hat, weil er sich eingesetzt hat für eine friedliche, für eine offene Gesellschaft. Dieser politische Mord ist eine Zäsur. Wir müssen uns fragen, wie es zu dieser Zäsur kommen konnte. Es ist nämlich nicht von heute auf morgen geschehen, sondern diese Tat ist Folge einer Entwicklung. Der Nationalsozialistische Untergrund hat zehn Menschen ermordet, unbemerkt über viele Jahre. Sämtliche Ermittlungsbehörden haben die Familien der NSU-Opfer verdächtigt, statt die Täter zu verfolgen. ({1}) Und wenn ich jetzt nach Kassel schaue, denke ich natürlich auch an Halit Yozgat, der erst 21 Jahre alt war, als der NSU ihn ermordete. Deswegen sage ich an dieser Stelle ganz klar und deutlich, meine Damen und Herren: Die Aufklärung der NSU-Morde ist noch lange nicht zu Ende. Keine NSU-Akte darf verschlossen sein. Die Untersuchungsausschüsse, die gewählten Abgeordneten brauchen Zugang zu diesen Dokumenten. ({2}) Uns muss klar sein: Wir haben es mit einer echten rechtsterroristischen Bedrohung mit sehr unterschiedlichen Szenen zu tun: von Neonazis über Reichsbürger bis hin zu manchen sogenannten Preppern, die einen Tag X herbeifantasieren. Vorgestern hat der Generalbundesanwalt Anklage gegen die Gruppierung „Revolution Chemnitz“ wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung erhoben, weil sie den Staat angreifen und gewaltsam abschaffen wollte. Viel zu lange wollten viele den braunen Sumpf nicht sehen. 74 Jahre nach Ende des NS-Terrors muss klar sein: Diese rechtsextreme Gewalt dürfen wir niemals hinnehmen. Wir dürfen uns nicht an sie gewöhnen. Im Gegenteil: Wir müssen alles tun, um diesem widerwärtigen Treiben ein Ende zu bereiten. ({3}) Diese Gewalt ist das Ergebnis eines schleichenden Prozesses. Das gesellschaftliche und politische Klima verändert sich. Es kommt zu Grenzüberschreitungen. Intoleranz führt zu Hass, Hass führt zu Bedrohung, Bedrohung führt zu Gewalt. Diese Spirale, meine sehr geehrten Damen und Herren, müssen wir stoppen. Das fängt manchmal ganz harmlos an mit dem Satz: Das muss man doch mal sagen dürfen. – Dann wird einer Verleumdung, einer Unterstellung, einer diffamierenden oder diskriminierenden Äußerung nicht widersprochen usw. usf. Das endet dann in üblen Sprüchen, in Beleidigungen, Hassmails oder Bedrohungen. Die Presse wird abqualifiziert und denunziert. Politikerinnen und Politiker werden bedroht – und jetzt ist ein Mord passiert. Meine Damen und Herren, wir müssen wachsamer sein, und wir müssen die Signale deutlicher hören. Wenn ich lese, dass ein AfD-Kollege schreibt: „Eines ist nämlich vollkommen klar: Hätte es die … Grenzöffnung … nicht gegeben, würde Walter Lübcke noch leben“, dann muss ich sagen: Was für eine unsägliche Äußerung von Martin Hohmann. Ich muss es an dieser Stelle deutlich sagen. ({4}) Er versucht jetzt, sich aus dieser Erklärung rauszureden; er hätte damit ja keine Gewalt verherrlichen wollen usw. ({5}) Aber vielleicht sollten wir uns genauer anschauen, was hinter solchen Aussagen steht. Da steht nämlich: Ich bin nicht einverstanden mit politischen Entscheidungen; die gefallen mir nicht. Und was ist daraus die Konsequenz? Die Konsequenz ist, dass es zu einem Mord führt. – Das kann doch nicht allen Ernstes Ihre Meinung sein. ({6}) Wenn mir politische Entscheidungen nicht gefallen, ich sie nicht mittrage, ich sie ablehne, dann muss das diskutiert werden: in den Parlamenten, in den Parteien, in zivilgesellschaftlichen Initiativen – überall dort. Ich habe bei Wahlen die Möglichkeit, Konsequenzen zu ziehen, wenn mir Entscheidungen nicht gefallen – ja, selbstverständlich. Aber eines darf niemals und wirklich niemals Folge davon sein, dass mir etwas politisch nicht passt: dass es zu Gewalt gegen Menschen führt, meine Damen und Herren – niemals, niemals, niemals. ({7}) Deswegen ist es einfach zu billig, zu sagen: Das ist nur Kritik, und mit dem anderen haben wir dann überhaupt nichts zu tun. – Nein, da ist ein Zusammenhang zu sehen. Ich kann nur alle Demokratinnen und Demokraten aufrufen: Lassen Sie uns deutlich machen: Diesen Prozess akzeptieren wir nicht. Wir stehen dafür, unseren Rechtsstaat und unsere Demokratie vor solch schleichenden Prozessen zu schützen. ({8}) Meine Damen und Herren, wir haben viel zu tun. Wir müssen den Verfolgungsdruck der Sicherheitsbehörden auf Rechtsextremisten massiv erhöhen. Es kann nicht sein, dass sich Gruppierungen weitgehend unbehelligt auf Guerillakriege vorbereiten können, indem sie zum Beispiel bis zu 10 000 Schuss Munition stehlen; das ist gerade kürzlich erst passiert. Wir können nicht dulden, dass es sogenannte Reichsbürger gibt, die eigene Strukturen aufbauen und die Geltung des Grundgesetzes nicht akzeptieren. Klar ist aber, was wir nicht tun sollten – und dafür werde ich mich als Justizministerin einsetzen –: dass wir zulasten der Grundrechte, zulasten der Freiheit vor dieser rechten Gewalt einknicken. ({9}) Ich sage das hier an dieser Stelle für mich in meiner Funktion. Deswegen müssen wir uns nicht immer neue Regeln und Einschränkungen einfallen lassen. Es geht in dieser Situation hauptsächlich darum, das bestehende Recht durchzusetzen. Das ist unsere Aufgabe. ({10}) Meine Damen und Herren, unser Rechtsstaat ist nicht machtlos – nein, ich bin da sehr optimistisch –: Er ist wehrhaft. Wir sehen gerade, dass der Generalbundesanwalt im Fall Lübcke mit Hochdruck ermittelt und nicht der Einzeltätertheorie folgt. Es liegen schon jetzt neue Erkenntnisse auf dem Tisch. Es ist wichtig, dass gezeigt wird: Es wird hier ganz intensiv weiter ermittelt. Wir lassen uns nicht abspeisen mit fadenscheinigen Erklärungen. Meine Damen und Herren, wir sind eine wehrhafte Demokratie. Wir treten dafür ein, dass es auch weiterhin Menschen gibt, die sich für dieses Gemeinwesen, für diese Gesellschaft, für andere einsetzen. Dazu gehört auch, dass wir solidarisch zusammenstehen, solidarisch mit denen, die das tun. Das sind Abgeordnete, aber auch ehrenamtliche Politikerinnen und Politiker oder Mitglieder in zivilgesellschaftlichen Initiativen. Und was erleben die zum Teil? Ganz, ganz schlimme Dinge: Hassmails, Bedrohungen. Das geht so weit, dass Menschen sagen: Ich habe keine Lust mehr. Ich mache das nicht mehr. Ich setze mich nicht mehr für die Gemeinschaft ein. – So weit dürfen wir es nicht kommen lassen. Deswegen mein Appell an Sie, an uns alle: Lassen Sie uns solidarisch sein. Lassen Sie uns wehrhaft sein. Wir lassen uns von diesem braunen Sumpf nicht einschüchtern. Wir stehen dagegen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Ministerin. – Der Kollege Stephan Thomae hat das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Stephan Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004175, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und verehrte Kollegen! Meine Damen und Herren! Der NSU-Prozess ist gerade knapp ein Jahr abgeschlossen, da morden Rechte in Deutschland erneut. Ein Mensch musste sterben, weil er im Jahr 2015 in einer Bürgerversammlung fremdenfeindliche Zwischenrufer in ihre Schranken gewiesen hat. Der Tod von Walter Lübcke muss jeden Demokraten empören, er kann keinen Demokraten kaltlassen, und er muss jeden Demokraten mit Trauer erfüllen. Deswegen sind unsere Gedanken in dieser Stunde bei den Hinterbliebenen und der Familie von Walter Lübcke. ({0}) Und es wäre vielleicht auch ein Zeichen von Trauer gewesen, einfach einmal nichts zu sagen in einer solchen Stunde. ({1}) Unser Auftrag muss es sein, den Feinden der offenen Gesellschaft entschlossen und entschieden entgegenzutreten und wachsam zu sein. Weil Sie es angesprochen haben, Herr Bundesminister, will ich an dieser Stelle aber auch sagen: Man kann den freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat nicht dadurch schützen, dass man seine Bedingungen suspendiert, die Freiheitsrechte der Menschen einschränkt. Unser Rechtsstaat ist doch nicht wehrlos. Die Instrumente, die ihm gegeben sind – das zeigt auch dieses Beispiel wieder –, sind geeignet und auch ausreichend, um solcher Täter habhaft zu werden. ({2}) Der Punkt, an dem Sie sagen: „Jetzt ist es wirklich genug“, wird ansonsten doch nie erreicht sein. Das Verhältnis muss immer ausgewogen sein, und wir sind ja auch bereit, das zu akzeptieren. Deswegen warne ich davor, jetzt in dieser Stunde im Windschatten des Ereignisses zu versuchen, eine Verfassungsschutzgesetzreform voranzubringen, die vorschnell wäre. Zunächst ist die Stunde der Ermittler; wir müssen schauen, was exakt geschehen ist. Unser Ansatz ist, zu prüfen, ob die Strukturen der Sicherheitsbehörden überhaupt noch zeitgemäß sind. Wir haben eine föderale Struktur von insgesamt 40 Behörden in Bund und Ländern, die für die Sicherheit der Menschen zuständig sind. Das kann von Vorteil sein, wenn es darum geht, lokale Besonderheiten aufzuspüren. Es kann aber ein großer Nachteil sein, wenn es darum gehen muss, Dinge in ihrer Vernetztheit zu sehen, weil es dann zu Zuständigkeitskonflikten der Behörden kommen kann. Wir haben auch kleine Bundesländer mit kleinen Behörden, die gleichwohl das gesamte Spektrum in ihrem örtlichen Zuständigkeitsbereich abdecken müssen. Deswegen schlagen wir Freie Demokraten vor, uns mit der Frage einer Föderalismusreform im Bereich der Sicherheitsarchitektur zu beschäftigen, um zu kleine Strukturen zusammenzulegen, zu größeren aktionsfähigen Einheiten zusammenzubauen und auch Schwerpunktbehörden zu bilden. Das ist die Konsequenz, die wir aus diesen Ereignissen ziehen. ({3}) Es muss uns darum gehen, die Netzwerke der neuen Rechten besser und schneller zu erkennen, darauf zu reagieren, die Zusammenhänge zu erkennen, ihre Funktionsweisen besser zu verstehen. Deswegen muss die Analysefähigkeit der Behörden verbessert werden, und das nicht nur national, sondern auch europäisch und international, weltweit. Schon 2011, als der NSU aufgeflogen war, hätten eigentlich alle Alarmsirenen laut schrillen müssen. Stattdessen hat man sich überrascht gezeigt, dass eine solche Tat erfolgen kann. Ich sage Ihnen: Nein, wir haben die Lehren aus dem NSU noch nicht wirklich gezogen. ({4}) Die Taten des NSU haben in diesem Land wie ein Feuer gewütet. Über sieben Jahre hinweg hat eine kleine Gruppe zehn Mordtaten begehen können. Jetzt ist diese Gruppe abgeurteilt; das Urteil ist vor knapp einem Jahr gesprochen worden. Aber überall in Deutschland schwelen und glimmen noch die Glutnester. Sie werden erst jetzt mehr und mehr sichtbar. Immer mehr verstehen wir, wie diese Glutnester zusammenhängen und welche Verbindung sie eingehen. Sie können überall in ein solches Glutnest hineinpusten – das Feuer entfacht sich erneut, und es kommt eine Stichflamme hervor. Deswegen kann ich nur davor warnen, mit dem Feuer zu spielen und in die Glut hineinzupusten. Jede Hassrede, jede Hetzrede, jeder Kommentar, sei es im Internet oder sei es hier im Deutschen Bundestag, kann dazu führen, dass aus der Glut neue Flammen emporschießen. Und schnell kann aus einem kleinen Feuer ein Flächenbrand werden, der alles zerstört, alles niederwalzt und den wir nicht mehr beherrschen können, wenn wir nicht wachsam sind und wachsam bleiben. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Kollegin Martina Renner. ({0})

Martina Renner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004385, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Geehrte Damen und Herren! Rechter Terror ist nicht neu, ({0}) und rechter Terror ist nicht zurück. Rechter Terror wurde aber schon immer verdrängt, verharmlost und verkannt. Der schwerwiegendste Anschlag in der Geschichte der Bundesrepublik war das rechte Attentat auf das Oktoberfest. Wenige Monate später fielen der jüdische Verleger Shlomo Lewin und seine Lebensgefährtin Frida Poeschke einem rechten Mord zum Opfer. Beide Anschläge gelten als das Werk toter Einzeltäter. In beiden Fällen bestehen bis heute offene Fragen und Widersprüche. Und dieses Muster setzt sich bis heute fort. Auch heute heißt es bei rechten Anschlägen schnell: Das ist das Werk von Einzeltätern, einem Trio, einer Zelle. – Wir wissen aber: Es gibt keine rechten Einzeltäter. Es gibt immer politische und logistische Netzwerke. Und wenn wir rechten Terror bekämpfen wollen, dann müssen wir diese Netzwerke aufdecken und entwaffnen. ({1}) Doch warum geschah genau das nicht? Der sogenannte Verfassungsschutz ist meist Teil dieser Netzwerke. Er führt im Umfeld der Täter V-Leute und übt da rüber Einfluss auf die Szene aus. Zur Erinnerung: Als Blood & Hon ­our im Jahr 2000 verboten wurde, standen ganz oben auf der Verfügung unter den Adressaten Stephan Lange, Divisionschef Deutschland, und Marcel Degner, Kassenwart von Blood & Honour – beide Spitzel von Verfassungsschutzbehörden. Und wir wissen ganz genau, warum 2000 der bewaffnete Arm von Blood & Honour nicht mit verboten wurde: Er war der Honigtopf der Geheimdienste. Geheimdienste verfolgen Interessen – das ist bekannt –, und diese werden gegen andere Interessen abgewogen. Und wir wissen: Der Schutz ihrer Spitzel und ihrer Verbindungen in die Szene ist den Geheimdiensten wichtiger als die Aufklärung von Straftaten oder die Zerschlagung gefährlicher Strukturen. ({2}) Und genau deshalb müssen wir – nicht erst seit dem NSU, aber nach dem NSU – den unzähligen Machenschaften der Geheimdienste ein Ende bereiten und diese durch eine unabhängige Beobachtungsstelle ersetzen. ({3}) Meine Damen und Herren, es kommt sicher nicht oft vor, dass ich zustimmend Beschlüsse des CDU-Präsidiums zitiere. Aber von der Richtigkeit des folgenden Satzes bin ich überzeugt – ich zitiere –: Jeder, der in der CDU für eine Annäherung oder gar Zusammenarbeit mit der AfD plädiert, muss wissen, dass er sich einer Partei annähert …, die ein ideologisches Umfeld unterstützt, aus dem der mutmaßliche Täter von Walter Lübcke gekommen ist. ({4}) Es ist Zeit für einen Kurswechsel im Umgang mit den rechten Hetzern. Wohin hat uns all das Zuhören und Eingehen, wohin haben uns die unzähligen Diskussionen mit der AfD und die Homestorys über die geistigen Brandstifter geführt? Sie haben den rechten Tätern den Weg geebnet und ihnen signalisiert, dass ihr Anliegen legitim sei. Damit muss Schluss sein! ({5}) Es ist Zeit für einen neuen gesellschaftlichen Konsens, für einen neuen gesellschaftlichen Konsens des Antifaschismus. ({6}) Es ist Zeit, dass diejenigen Gehör finden, die Angst vor Nazis haben, und nicht diejenigen, die den Nazis das Wort reden. Ich möchte mit einem Zitat von Shlomo Lewin über die Erfordernisse im Kampf gegen rechts schließen: Wir müssen versuchen, diese Menschen aufzuspüren, wo immer sie sind, um sie hinauszudrängen. Sie müssen in die Isolation gehen. Sie müssen … geächtet werden. Wir müssen sie entdecken, wir müssen sie enthüllen. Wir müssen ihre Schandtaten und ihre Lügen … aufzeigen. Die Menschen müssen aufwachen und sehen, welche Gefahren [sic!] … von diesen Faschisten wieder auf uns zukommt … ({7}) Wir müssen ihnen das Handwerk legen. Das sagte Shlomo Lewin 1977, drei Jahre bevor er ermordet wurde. Erfüllen wir sein Vermächtnis! Danke. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner: für Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Dr. Konstantin von Notz. ({0})

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Mord an Walter Lübcke ist für uns alle ein Schock. Wir trauern mit der Familie. Unsere volle Solidarität gilt den Angehörigen und Hinterbliebenen. ({0}) Aus dieser schrecklichen Tat wächst Verantwortung, Verantwortung für uns alle. Es ist gestern und heute vielfach gesagt worden: Jetzt ist die Zeit der Ermittler. – Und die Ermittlungen schreiten voran: Waffen wurden gefunden, ein Geständnis liegt vor. Dennoch: Der Fall ist noch lange nicht ausermittelt. In der Vergangenheit wurde viel zu oft und viel zu schnell auf Einzeltäter abgestellt und so der wichtige Blick auf die dahinterliegenden rechtsextremistischen und rechtsterroristischen Netzwerke verhindert. Dieser Kardinalfehler, meine Damen und Herren, darf sich hier keinesfalls wiederholen. ({1}) Deswegen ist es gut, dass die Ermittlungsbehörden nach dem Geständnis vom Dienstag weiter mit Hochdruck in alle Richtungen ermitteln. Zum Verständnis und zur Einordnung der Tat ist eine Ausleuchtung der im Hintergrund wirkenden Strukturen und Netzwerke unausweichlich. Denn es steht die Frage im Raum, ob altbekannte rechtsextremistische Strukturen wie die des NSU in Kassel, in Dortmund und anderswo bis heute fortbestehen. Die Hinweise verdichten sich stündlich. Das ist eine Frage von höchster Relevanz für die Beurteilung der Gefahr sowohl für den Einzelnen, aber auch für unsere Demokratie und unseren Rechtsstaat insgesamt. ({2}) „Revolution Chemnitz“, „Inferno 99“, die „Gruppe Freital“, Franco A., Chatgruppen wie „Nordkreuz“ und „Vier gewinnt“, Prepper- bzw. Wehrsportgruppen, Reichsbürger, rechte Hooligans, Blood & Honour, Combat 18 und viele mehr: Die hohe Anzahl, die Verwebungen, die Kontinuitäten, die Militanz dieser Netzwerke und Gruppen – all das sollte uns hochgradig alarmieren, meine Damen und Herren. ({3}) All dies ist seit Jahren zu beobachten, und es ist ein schweres Versäumnis, dass die Bundesregierung diese Alarmsignale offenkundig nicht ernst genug genommen hat. Deswegen fordern wir Sie, Herr Seehofer, noch einmal – wie gestern auch schon – auf: Es muss Schluss sein mit dem business as usual. Das Thema muss spätestens jetzt mit allerhöchster Priorität behandelt werden, nicht nur in den Sicherheitsbehörden. Es ist gut, wenn Sie gemeinsame Abwehrzentren besuchen, aber wir brauchen eine Taskforce, die jetzt, sofort, die Defizite analysiert und abstellt, Expertise bündelt und Unterstützung und Hilfe für die von rechtem Hass und Terror Betroffenen leistet, meine Damen und Herren. ({4}) Das sind wir Walter Lübcke, seinen Hinterbliebenen, aber auch den vielen Bedrohten aus Zivilgesellschaft, aus Ehrenamt, Medien, Politik sowie den Migrantinnen und Migranten, den Jüdinnen und Juden, den vielen Menschen, die sich täglich für unsere Demokratie einsetzen, schuldig, meine Damen und Herren. ({5}) Um es völlig klar zu sagen: Demokratie braucht Streit, auch den harten Diskurs. Die Meinungsfreiheit ist hierfür konstituierend. Aber Volksverhetzung, Verleumdung, Rassismus, Antisemitismus, Menschenfeindlichkeit – all das soll unseren Zusammenhalt, unsere Gesellschaft zersetzen. Aus Worten werden allzu leicht Taten; das haben wir in der Vergangenheit immer wieder gesehen. Deswegen werden wir das nicht akzeptieren. Wir werden uns mit aller Kraft dieser Hetze entgegenstellen, meine Damen und Herren. ({6}) Vor diesem Hintergrund schaden platte Pauschalisierungen aus allen Richtungen. Ich möchte wirklich für Differenzierung werben. Natürlich gibt es besorgniserregende Fälle von Rechtsextremismus, auch in deutschen Sicherheitsbehörden. Wir haben sie hier immer wieder thematisiert. Herr Kollege Hahn, sie werden mehr – das stimmt –, und man darf sie nicht kleinreden, Herr Seehofer. Aber wer wie Friedrich Merz der Mehrheit in Polizei und Bundeswehr pauschal attestiert, sich von der freiheitlich-demokratischen Grundordnung ab- und einer im Visier des Verfassungsschutzes stehenden Partei zuzuwenden, ({7}) handelt kontraproduktiv. Das ist ungeheuerlich, und es ist sachlich falsch, meine Damen und Herren. ({8}) – Herr Amthor, das werden Sie ertragen müssen. – Das wird der Pluralität unserer Gesellschaft und der Pluralität in unseren Sicherheitsbehörden nicht gerecht. ({9}) Ich komme zum Schluss. Es ist so, dass uns aus der Tat an Walter Lübcke und aus den fast 200 rechtsextremistischen Morden in Deutschland seit 1990 eine Verpflichtung erwächst, nämlich unseren liberalen Rechtsstaat und unsere Werte hochzuhalten – so wie Walter Lübcke es getan hat – und sie entschlossen zu verteidigen. Lassen Sie uns das gemeinsam tun. Ganz herzlichen Dank. ({10})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner: für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Thorsten Frei. ({0})

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 2. Juni ist Walter Lübcke hinterrücks hingerichtet worden. Es ist ein Mensch gestorben, und deshalb gilt unsere Anteilnahme der Familie, den Freunden, den Hinterbliebenen. Mit ihm ist auch ein Regierungspräsident ermordet worden, ein Repräsentant unseres Staates, der für die Werte unserer Demokratie eingestanden ist. Damit haben wir auch einen Angriff auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung, auf die freiheitliche Gesellschaft. Deshalb müssen wir in Fortsetzung des Kampfes gegen rechtsextreme Gewalt an dieser Stelle sagen: Wir schulden der Familie, den Hinterbliebenen und auch uns selbst, alles dafür zu tun, dass die Umstände der Tat rückhaltlos aufgeklärt werden. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe wirklich den Eindruck, dass das ohne jede Einschränkung passiert. So, wie sich die Sicherheitsbehörden in unserem Land in diesen Tagen engagieren und nachweisbare Erfolge haben, zeigt sich, dass wir gut aufgestellte Sicherheitsbehörden haben, die auch diesen gewaltigen Herausforderungen gewachsen sind. ({1}) Liebe Frau Renner, ich möchte Ihnen an dieser Stelle eines sagen: Sie haben hier in den Gremien des Deutschen Bundestages und auch öffentlich und auch gerade vorhin wieder gesagt, dass die Sicherheitsbehörden, dass die ermittelnden Stellen vorschnell davon ausgingen, dass es sich hier um einen Einzeltäter handeln würde. Sie sind vielfach und von vielen gefragt worden: Wer hat so etwas gesagt? – Dann müssen Sie sich das x-te Mal entgegenhalten lassen: Niemand – insbesondere nicht die für die Sicherheit in unserem Land Verantwortlichen – hat behauptet, dass es hier um einen Einzeltäter geht. ({2}) Das wird das Ergebnis von Ermittlungen sein. Auch das sollten Sie in dieser Stunde respektieren. Was ich an dieser Stelle auch sagen möchte – es ist verschiedentlich angeklungen –: Jetzt ist die Zeit der Ermittlungen. Die Ergebnisse müssen ausgewertet werden. Es gibt keinen Anfangspunkt von Extremismus und auch keinen Endpunkt von Extremismus. Den Kampf gegen Extremismus und Terrorismus müssen wir vielmehr jeden Tag verbessern, um die Sicherheit in unserem Land zu erhöhen und die Widerstandsfähigkeit unserer Demokratie zu stärken. ({3}) Natürlich hatten wir auch in der Vergangenheit rechtsextremistische und terroristische Anschläge und Attentate; das ist benannt worden. Hier so zu tun, als hätte man daraus nichts gelernt, ist doch wirklich grob falsch und ehrenrührig. ({4}) Der NSU-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages hat 47 Empfehlungen abgegeben, von denen ein Großteil abgearbeitet ist. Ein wesentlicher Mangel damals war ohne Zweifel, dass die Sicherheitsbehörden nicht wirklich gut zusammengearbeitet haben. Darauf ist reagiert worden: mit der Einrichtung eines „Gemeinsamen Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrums – Rechts“, mit einer gemeinsamen Beobachtung von Internetaktivitäten und vielem anderen mehr. Wir sind auf einem richtigen Weg, aber wir müssen besser werden. Diese Debatte darf man in einer solchen Stunde durchaus führen. Das ist nicht etwas, was man aus der Mottenkiste holt. Aber diese Aufgaben werden wir nur erledigen, indem wir erstens mehr Personal zur Verfügung stellen; der Bundesminister ist darauf eingegangen. Die Ankündigung, Herr Bundesminister, dass Sie bis zum Jahr 2025  11 000 zusätzliche Stellen bei Polizei und Sicherheitsbehörden erreichen möchten, unterstützen wir ausdrücklich und möchten hier auch die notwendigen Voraussetzungen dafür schaffen. ({5}) Zweitens. Natürlich brauchen Sicherheitsbehörden auch die notwendigen Instrumentarien. Und da geht es nicht um die Einschränkung von Freiheitsrechten, wie hier vereinzelt suggeriert worden ist, sondern es geht schlicht darum, dass man die Möglichkeiten, die es in der analogen Welt gibt, auf die digitale Welt überträgt. Es ist doch zur Kenntnis zu nehmen: Es geht nicht nur um Vereine und Kameradschaften. Vieles passiert in verdeckten Foren und WhatsApp-Gruppen, und darauf muss man reagieren. Deswegen brauchen wir die Onlinedurchsuchung. ({6}) Deswegen brauchen wir die Quellen-Telekommunikationsüberwachung. Wir brauchen sie gerade auch, um rechtsextremistische Gewalt zu bekämpfen. ({7}) Und deshalb sollten wir uns dieser Themen annehmen, damit wir gute Lösungen bekommen. Letzte Bemerkung. Datenschutz ist wichtig, und Grundrechte werden umgesetzt; aber Datenschutz darf nicht zum Täterschutz werden. ({8}) Dieser konkrete Fall zeigt uns, dass, wenn man den Datenschutz übertreibt, es am Ende tatsächlich dazu führt, dass man der Gewalttäter letztlich nicht oder vor allen Dingen zu spät habhaft werden kann und deshalb Menschenleben gefährdet. Wir sollten uns genau anschauen, welche Schlussfolgerungen wir daraus ziehen wollen. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist für die AfD-Fraktion der Kollege Martin Hess. ({0})

Martin Hess (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004749, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Zunächst möchte ich im Namen meiner Fraktion den Angehörigen von Walter Lübcke mein aufrichtiges Beileid aussprechen. Ich wünsche ihnen in dieser Trauerphase viel Kraft. ({0}) Lassen Sie mich aber eines in aller Deutlichkeit klarstellen, weil hier ständig wahrheitswidrig das Gegenteil behauptet wird: Die Alternative für Deutschland lehnt Extremismus und Terrorismus in jeglicher Form kategorisch ab. ({1}) Egal ob Islamismus, Linksextremismus oder Rechtsextremismus: Alle diese Phänomene – ich betone: alle, also explizit auch der Rechtsextremismus – sind konsequent und mit aller Härte zu bekämpfen. ({2}) Selbstverständlich muss der Mord an Walter Lübcke lückenlos aufgeklärt und der Mörder so hart bestraft werden, dass ein klarer und eindeutiger Abschreckungseffekt erzielt wird; denn politische Gewalt bedroht unser pluralistisches Parteienwesen, unsere Gesellschaft und damit unsere Demokratie. Es darf nicht geduldet werden, dass Extremisten mit Gewalt die Bürger an der politischen Willensbildung hindern und die Politiker bei der Ausübung ihres demokratischen Mandates einschüchtern, körperlich attackieren oder Schlimmeres tun. Und ja, wir Politiker haben diesbezüglich eine besondere Verantwortung, was den Gebrauch unserer Sprache betrifft. ({3}) Aber genau hier zeigt sich doch die Doppelmoral der Altparteien: Sie werfen der AfD eine Kriegsrhetorik vor. Wenn aber Herr Stegner von der SPD dazu aufruft, nicht nur Positionen, sondern auch das Personal der AfD zu attackieren, ist Ihnen das keine Rede wert. ({4}) Wenn die Jusos auf Plakaten mit Baseballschlägern zur Bekämpfung des politischen Gegners aufrufen, wird das einfach klaglos hingenommen. Diese Botschaften, meine Damen und Herren, sind klare Aufrufe zu Gewalt. Sie sind deshalb inakzeptabel und müssen klar und deutlich verurteilt werden. ({5}) Aber anlässlich der zunehmenden Polarisierung unserer Gesellschaft muss mit diesem Zweierlei-Maß-Messen endlich Schluss sein. Wir alle müssen uns überlegen, ob wir hier nicht rhetorisch abrüsten sollten. ({6}) Wenn ich aber die Äußerungen der letzten Tage, auch hier im Parlament, betrachte, muss ich leider feststellen: Die Altparteien sind zur sprachlichen Abrüstung gar nicht bereit. ({7}) Sie instrumentalisieren auf infame Weise dieses abscheuliche Verbrechen gegen die stärkste Oppositionspartei im Deutschen Bundestag. ({8}) Sie missbrauchen das Gedenken an einen Toten, um wahrheitswidrig der AfD den Anschlag in die Schuhe zu schieben. ({9}) Sie machen damit genau das Gegenteil von dem, was Sie zu tun vorgeben. ({10}) Sie sind es, die in Wahrheit hetzen und Hass gegen die AfD verbreiten und unsere Wähler als Extremisten diffamieren. ({11}) Und die Saat Ihrer Demagogie geht auf. Im ersten Quartal 2019 wurden 114 Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger und Mitglieder unserer Partei gemeldet. An zweiter Stelle kommt die SPD mit nur 21 Angriffen. Die Wahrheit ist – und da können Sie noch so laut schreien, Herr von Notz –: Die Amts- und Mandatsträger der AfD werden häufiger zum Ziel von Angriffen als die Vertreter aller anderen Parteien zusammen. ({12}) Und das ist ausschließlich das Ergebnis Ihres Vernichtungsfeldzuges gegen die AfD. Hören Sie endlich auf mit Ihrer Doppelmoral und Heuchelei, und akzeptieren Sie die AfD als das, was sie in Wirklichkeit ist: eine demokratisch legitimierte Partei, ({13}) die inzwischen – schauen wir in den Osten – Mehrheiten eine Stimme verleiht, eine Rechtsstaatspartei, die die Herrschaft des Unrechts kritisiert und angetreten ist, um sie zu beenden. Mit Verlaub, meine sehr verehrten Damen und Herren: ({14}) Die AfD-Fraktion muss sich von Ihnen in Sachen Demokratie keine Lektion erteilen lassen. In dieser Fraktion sitzen Männer und Frauen, die über Jahrzehnte als Polizisten, als Soldaten, als Staatsanwälte und als Richter unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung und unseren Rechtsstaat verteidigt haben. Ich weiß, wovon ich rede. Ich war selbst 27 Jahre Polizeibeamter. ({15}) Es ist und bleibt eine bodenlose Unverschämtheit, uns als Rechtsextremisten, Rassisten oder Antidemokraten zu verunglimpfen. ({16}) Wir sind aus der Mitte der Gesellschaft, ehrbare und integre Bürger. ({17}) Wir äußern legitime Kritik an der verheerenden Politik der Altparteien, und das steht uns auch zu. ({18}) Das ist nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht der größten Oppositionspartei. Und deshalb werden wir das auch weiterhin tun; denn genau dafür wurden wir gewählt. ({19}) Wer unsere berechtigte Kritik an der Herrschaft des Unrechts dieser Regierung – der Begriff stammt ja vom Innenminister, nicht von uns – als rechtsextrem und Hass und Hetze diffamiert und sogar in Erwägung zieht, Regierungskritikern die Grundrechte zu entziehen, der verweigert den demokratischen Diskurs und greift die Meinungsfreiheit frontal an. Deshalb müssen und werden wir uns das nicht gefallen lassen. ({20}) Wenn Sie wirklich Demokratie fördern wollen, verehrte Kollegen, dann hören Sie auf, die AfD und ihre Wähler zu diffamieren und damit unsere Gesellschaft zu spalten. Suchen Sie endlich die sachliche Auseinandersetzung mit unseren Positionen. ({21}) Ich möchte Ihnen als guter und überzeugter Demokrat zum Schluss die Hand reichen: ({22}) Lassen Sie uns gemeinsam diesen schrecklichen Mord zum Anlass nehmen, hier in diesem Hohen Hause zu einer Debattenkultur zurückzukehren, die zwar hart in der Sache, aber von gegenseitigem Respekt geprägt ist. Nutzen wir diesen traurigen Anlass, um zu verbinden, statt zu trennen. ({23})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion der SPD die Kollegin Dr. Eva Högl. ({0})

Dr. Eva Högl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003896, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nein, Herr Hess, wir reichen Ihnen und der AfD nicht die Hand. ({0}) Es ist unerträglich, wenn diese wichtige Aktuelle Stunde hier für Hass und Hetze missbraucht wird, ({1}) anstatt anlässlich des grauenvollen Mordes an Walter Lübcke hier im Deutschen Bundestag einmal nachdenklich und traurig zu sein ({2}) und über diesen schlimmen Tod gemeinsam und in Ruhe und in Verantwortung für unsere Gesellschaft zu sprechen. Das war unerträglich, was Sie hier eben vorgetragen haben. ({3}) Der Mord an dem Regierungspräsidenten Walter Lübcke war eine politisch motivierte Hinrichtung, so muss man es bezeichnen, verübt von einem bekannten, brutalen und bekennenden Rechtsextremisten. Wie die NSU-Mordserie, wie andere rechtsextreme Anschläge, wie Morde und Gewalttaten war dieser Mord ein Anschlag auf unsere Demokratie, auf unseren Rechtsstaat und auf unsere freie, vielfältige, tolerante und solidarische Gesellschaft. ({4}) Mit Walter Lübcke wurde ein beliebter, ein engagierter Politiker ermordet, der klar und deutlich und kompromisslos für die Werte unseres Grundgesetzes und damit unserer Gesellschaft eingetreten ist. Wir trauern um ihn und mit seiner Familie. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist eine neue Dimension rechtsextremer Gewalt. Aber, so ehrlich müssen wir heute in der Debatte sein, so grausam es auch ist, das anzuerkennen und zuzugeben: Es ist keine Überraschung. Denn genau das haben wir befürchtet. Es folgt einer Entwicklung. Rechtsextremismus ist eine ernste Bedrohung für unsere Gesellschaft, und zwar schon lange. Wir stellen es immer wieder fest. 24 100 Rechtsextremisten gibt es, mehr als die Hälfte davon ist gewaltbereit, rassistisch, antisemitisch, und die Zahlen steigen jeden Tag an. Durch das Internet vernetzen sie sich immer schneller, immer stärker und immer spontaner. Wir müssen dieser Entwicklung gemeinsam Einhalt gebieten. ({5}) Zwei Entwicklungen möchte ich hervorheben. Es beginnt mit Worten. Das kann nicht oft genug gesagt werden. Das war übrigens auch beim NSU so, als es das Internet noch gar nicht gab und die sozialen Netzwerke nicht genutzt werden konnten. Es beginnt mit Worten, es beginnt mit Hass und Hetze, es beginnt mit despektierlichen Bemerkungen, und es endet bei Mord. Das ist das Erste, was uns gemeinsam besorgen muss. Das Zweite ist, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren: Rechtsextremismus sickert ein in die Mitte unserer Gesellschaft. Rechtsextremismus finden wir an Stammtischen, in Sportvereinen, im Netz und, wie wir eben wieder hören mussten, hier bei uns im Parlament. Das müssen wir stoppen. ({6}) Jetzt muss zunächst Aufklärung erfolgen. Ich sage sehr deutlich: Auch die NSU-Mordserie ist längst nicht aufgeklärt. Auch da sind noch viele Fragen offen. Ich sage ausdrücklich: Es ist richtig und gut, wie die Sicherheitsbehörden jetzt agieren, dass der Generalbundesanwalt, anders als bei der NSU-Mordserie damals, sofort die Ermittlungen übernommen hat. Die Zusammenarbeit der Behörden – und wir haben uns das am Mittwoch im Innenausschuss ein erstes Mal präsentieren lassen – funktioniert ganz anders als noch bei der NSU-Mordserie. Es sind viele Konsequenzen gezogen worden. Es gibt eine ganz andere Herangehensweise und Zusammenarbeit. Wir sind uns einig – das haben auch die Vertreter der Ermittlungsbehörden gesagt –: Jetzt muss alles auf den Tisch. Alle Listen, alle Akten und alle Zusammenhänge müssen hergestellt werden, insbesondere zu den schrecklichen Morden des NSU, und gerade zu dem Mord an Mehmet Kubasik am 4. April 2006 in Dortmund und ­Halit Yozgat am 6. April 2006 in Kassel. Es gibt Bezüge zu diesen Morden. Wir wissen, dass es keine Einzeltäter sind, sondern ein rechtsextremes Netzwerk. Ich finde auch sehr wichtig – das geht in Richtung Ermittlungs- und Sicherheitsbehörden –, die Frage zu klären: Warum verschwand dieser bekannte brutale, gewalttätige Rechtsextreme mit einem langen Vorstrafenregister 2010 von der Bildfläche der Sicherheitsbehörden? Das muss sehr gründlich untersucht und aufgearbeitet werden. ({7}) Wir müssen Gefährder besser im Blick behalten. Die Haftbefehle müssen endlich vollstreckt werden. Rechtsextreme müssen aus Polizei und Bundeswehr entfernt werden. Rechtsextreme Organisationen müssen verboten werden. Der NPD muss endlich der Geldhahn abgedreht werden. Wir alle, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen im Parlament und in der Gesellschaft jeden Tag unsere Demokratie stärken und schützen. Unser Rechtsstaat muss wehrhaft sein und konsequent und entschlossen gegen Rechtsextremismus vorgehen. Das muss unsere Staatsräson sein und unser Selbstverständnis. Herzlichen Dank. ({8})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Dr. André Hahn für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. André Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004288, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gab heute eine Debatte im Stuttgarter Landtag zu diesem Thema. Dort äußerte sich der AfD-Abgeordnete Gedeon mit folgenden Worten: Der Fall Lübcke ist im Vergleich zum islamistischen … und zum linksextremistischen Terror … ein Vogelschiss. ({0}) Meine Damen und Herren, hier zeigt sich das wahre Gesicht der AfD. Das ist eine unerträgliche Verharmlosung eines schrecklichen Verbrechens. ({1}) Der hinterhältige Mord an Walter Lübcke macht uns jedenfalls immer noch fassungslos. Der Kasseler Regierungspräsident war zur Hassfigur der Rechten geworden, weil er für bestimmte Werte stand und diese Positionen öffentlich deutlich vertreten hat. ({2}) In einer Zeit, in der Horst Seehofer mantraartig eine Obergrenze für Geflüchtete forderte und eine Notstandssituation herbeiredete, warb Walter Lübcke für die Aufnahme und Unterbringung von Asylsuchenden in Hessen. ({3}) Das machte ihn zur Zielscheibe für rechte Hetze und Rassisten. Der Anschlag auf Walter Lübcke gilt nicht nur seiner Person allein, er gilt zugleich unserer Verfassungsordnung, die die Würde des Menschen in den Fokus staatlichen Handelns rückt und die Hilfe für schutzsuchende Menschen als Teil des staatlichen Auftrags versteht. Auch deshalb dürfen wir keinen Millimeter vor der rechten Gewalt zurückweichen. ({4}) Für viele Menschen in diesem Land ist rechte Gewalt seit Jahren Teil der Lebensrealität. Sie werden beleidigt, bedroht und angegriffen, weil sie eine andere Hautfarbe, eine andere Herkunft oder einfach nur eine andere Meinung haben. Lange Zeit wurde der Terror von rechts verharmlost und bagatellisiert. Mindestens 197 Todesopfer rechter Gewalt gibt es in Deutschland seit 1990. Die Bundesregierung hat bis heute einen Teil dieser Verbrechen nicht offiziell als rechtsmotiviert anerkannt. Ich persönlich halte das für einen Skandal. ({5}) Fast 500 Rechtsextreme, die per Haftbefehl gesucht werden – fast 500! –, sind zum Teil seit Jahren untergetaucht. Was unternimmt eigentlich die Bundesregierung, um dagegen vorzugehen? ({6}) Es gibt immer neue Berichte über rechte Tendenzen bei den Sicherheitsbehörden in Deutschland, und zwar bei solchen, die auch Zugang zu Schusswaffen haben. Kein Zweifel: Die übergroße Mehrheit der Polizistinnen und Polizisten sowie der Soldatinnen und Soldaten leistet engagiert ihren Dienst und fühlt sich den demokratischen Prinzipien verpflichtet. Zugleich aber gibt es Vorgänge, die zu großer Besorgnis Anlass geben. In Dresden melden sich zwei Bereitschaftspolizisten mit dem Tarnnamen des NSU-Mörders Uwe Böhnhardt zu einem Einsatz an. In Hessen schicken rechtsextreme Polizisten ausländerfeindliche Drohbriefe an eine türkischstämmige Rechtsanwältin, die eine der Opferfamilien im NSU-Prozess vertreten hat. Als Absender gaben die Beamten „NSU 2.0“ an. In München wurden Mitte März sechs Polizisten vom Dienst suspendiert, die sich über einen Messengerdienst fremdenfeindliche Bilder, Videos und Texte zugeschickt haben. Die Staatsanwaltschaft ermittelt unter anderem wegen Volksverhetzung. Auch unter Polizisten gibt es Anhänger der Identitären Bewegung sowie der sogenannten Reichsbürger, die die Existenz der Bundesrepublik leugnen. Aktive und ehemalige Elitesoldaten vom Kommando Spezialkräfte zeigen auf Geburtsfeiern den Hitlergruß, grölen Nazilieder und gründen einen dubiosen Verein namens Uniter, dem auch hochrangige Polizeibeamte angehören. Über die Chatgruppe „Nordkreuz“ hat der Kollege von Notz schon gesprochen. Man bereitet sich dort auf den Tag X vor und hat angeblich schon Depots mit Waffen angelegt und Adresslisten politischer Gegner zusammengestellt, die im Ernstfall eliminiert werden sollen. Die Bundesregierung behauptet, keinerlei Kenntnisse über rechte Netzwerke zu haben, muss aber auf meine parlamentarische Nachfrage einräumen, dass Verfassungsschutz und Militärischer Abschirmdienst diesbezüglich mindestens 90 dicke Aktenordner zusammengetragen haben. Ich frage Sie, Herr Seehofer: Wie passt das zusammen? ({7}) Fakt ist leider auch: Opfer wurden von staatlichen Stellen im Stich gelassen oder wie im Falle der Angehörigen der NSU-Opfer durch polizeiliche Ermittlungen sogar noch kriminalisiert. Damit muss endlich Schluss sein. ({8}) Im Übrigen wissen wir, was in den sogenannten sozialen Medien zum Teil passiert. Es wird dort von Rechten und Rassisten hemmungslos gegen jeden gehetzt, der nicht in ihr krudes Weltbild passt. Auf den Hass im Internet folgen nicht selten Taten auf der Straße. Die AfD hat mit ihren rassistischen und revisionistischen Äußerungen einen erheblichen Anteil an dieser Entwicklung. ({9}) Auch deshalb habe ich überhaupt kein Verständnis für die Forderung des ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck nach größerer Toleranz gegenüber rechts. ({10}) Letzte Bemerkung. Was wir jetzt brauchen, ist Solidarität mit den Opfern rechter Gewalt, ein deutliches Bekenntnis zu einer weltoffenen und toleranten Gesellschaft und klare Kante gegen die Gefahr von rechts. ({11}) Dafür benötigen wir keine Einschränkung von Grundrechten und auch nicht noch mehr Stellen für den Verfassungsschutz, sondern wirksame Prävention und die Stärkung der Zivilgesellschaft. Herzlichen Dank. ({12})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Christoph Bernstiel für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Christoph Bernstiel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Im Bundestagswahlkampf 2017 beobachtete ich mehr oder weniger durch Zufall einen Transporter, der an einem meiner Wahlplakate anhielt. Jemand stieg aus, holte einen Aufkleber heraus, brachte ihn dort an, fuhr weiter und brachte weitere Aufkleber an. Auf diesen Aufklebern stand – ich bitte um Entschuldigung für diese Äußerung –: „Volksverräter“, „Kinderficker“, „Hurensohn“. Dieselbe Person hat im Anschluss AfD-Plakate aufgehängt. ({0}) Im kürzlich abgelaufenen Europawahlkampf beobachtete ich, wie von Anhängern der stadtbekannten Antifa Plakate angezündet wurden oder mit Naziaufschriften beschmiert wurden. Unser Wahlkreisbüro wurde erst kürzlich mit einem Farbbeutelanschlag „verschönert“, und Magdeburgs Oberbürgermeister Trümper sah sich kürzlich einer Morddrohung ausgesetzt, weil er Bäume hat fällen lassen. Was möchte ich damit sagen? Verbale und auch reale Gewalt gegen Politiker gehört mittlerweile leider zur traurigen Realität. ({1}) Der Fall Walter Lübcke zeigt, wozu es führen kann, wenn unsere Sprache immer weiter entgleist. Eines möchte ich wiederholen – ich hatte das bei meiner letzten Rede in Chemnitz gesagt –: Aus Mord schlägt man kein politisches Kapital. ({2}) Genau das passiert traurigerweise gerade im Fall ­Lübcke. Wir haben die entlarvenden Tweets und auch Äußerungen der AfD, und wir haben die Antifa, die jetzt versucht, Walter Lübcke als Kämpfer gegen Rechtsextremismus für ihre Zwecke zu missbrauchen. ({3}) Beides macht mich traurig. Vor allen Dingen ist es auch zynisch; denn wir diskutieren jetzt über den Tod eines Politikers, und wir sagen: Es ist eine Zäsur. – Aber wir hatten in den letzten Jahren 5 Tote und 22 Tötungsversuche über alle politisch motivierten Kriminalitätsbereiche hinweg, also sowohl rechts und links als auch religiös, etwa islamistisch, motiviert. Das sollte uns alle dazu bringen, darüber nachzudenken, was für eine Verantwortung wir hier mit unserer Sprache und auch mit unseren Taten tragen. ({4}) Ein Anfang kann sein – Sie sagten es gerade, Herr Hess –, verbal abzurüsten; da bin ich völlig bei Ihnen. Aber Sie sprachen nicht mal 30 Sekunden später von einem Vernichtungsfeldzug. Das ist nicht das, was ich mir unter „verbaler Abrüstung“ vorstelle, wenn Sie hier im Deutschen Bundestag eine solch martialische Sprache verwenden. ({5}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wir davon reden, verbal abzurüsten, dann müssen wir hier im Deutschen Bundestag damit anfangen. Wir als Union sind leider die einzige Partei, die konsequent eine Zusammenarbeit sowohl mit extrem linken Kräften als auch mit extrem rechten Kräften ausschließt, und das aus gutem Grund. ({6}) Ich sage Ihnen etwas: Gewalt gegen Politiker und gegen Menschen, die sich für dieses Land engagieren, ist auf keine Weise zu rechtfertigen. Das muss der Konsens sein. – Leider ist es nicht so. Ich sage es ganz deutlich – Sie haben es erwähnt –: Als Ihr Kollege, Herr Magnitz, angegriffen wurde, da gab es mit Sicherheit den einen oder anderen in diesem Land, der sich gedacht hat: Das geschieht ihm recht, weil er sich entsprechend geäußert hat. – Ich sage hier an dieser Stelle: Auch das ist zu verurteilen. ({7}) Der Kampf gegen Rechtsextremismus rechtfertigt in keiner Weise Gewalt – auch nicht der Kampf gegen Islamismus. Gewalt ist kein legitimes Mittel im politischen Diskurs, und das muss der Konsens sein. ({8}) Im Übrigen passt dazu die Textstelle eines Songs der berühmten Punkrockband Die Ärzte: „Gewalt erzeugt Gegengewalt …“ Herr Curio, Sie sprachen eben davon, Ihre Partei bestehe aus Helden und es sei heldenhaft, was Sie jeden Tag täten. Wissen Sie, was wirklich heldenhaft war? Die kürzlich durchgeführte Aktion in dem ostsächsischen Ort Ostritz. Dort gab es nämlich ein groß angekündigtes Neonazikonzert. Der Landkreis hat dann beschlossen, den Bierausschank auf dieser Veranstaltung komplett zu verbieten. Dank des THWs wurde das dort bereits befindliche Bier abtransportiert. Damit aber nicht genug. Die Zivilgesellschaft in Ostritz hat sich gesagt: „Hm, jetzt könnten die Neonazis ja in Supermärkte ausweichen“, und man hat kurzerhand das komplette Bier in allen Supermärkten im gesamten Ort gekauft, mit der Konsequenz, dass das Konzert äußerst schlecht besucht wurde und es zu keinen Ausschreitungen kam. Das nenne ich heldenhaft. ({9}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Meine Vorredner haben schon gesagt: Wir kämpfen nicht erst seit gestern gegen jede Form von Extremismus. Wir stehen in der Mitte unserer Gesellschaft, auch wenn es bedeutet, Anfeindungen von links und von rechts standzuhalten. Wir werden dazu beitragen, verbal abzurüsten, und Gewalt in jeder Form verurteilen. Herzlichen Dank. ({10})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der fraktionslose Abgeordnete Mario Mieruch.

Mario Mieruch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004822, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Mord an Walter Lübcke ist die entsetzliche Folge einer Spirale, und die gegenseitigen Vorhaltungen und Beschuldigungen hallen dieser Tage oftmals lauter als das Mitgefühl und die Anteilnahme am Verlust der Angehörigen. Mich macht das sehr traurig. Die Antragsteller zielen mit dieser Aktuellen Stunde auf die AfD, und das auch nicht zu Unrecht; denn wenn deren Spitzenrepräsentanten nicht alle selbst Hassprediger sind, so dulden sie diese in ihren Reihen als Mittel zum Zweck. Parteichef Meuthen war es selbst, der Höcke als unverzichtbaren und wichtigen Bestandteil der Partei bezeichnete. Genau so etwas legitimiert Leute wie Kalbitz in Brandenburg, Tillschneider in Sachsen-Anhalt, Ebner-Steiner in Bayern, Blex in NRW und wie sie alle heißen. Auch wenn andere etwas Dummes tun, rechtfertigt das nicht, selbst Dummes zu tun. ({0}) Nun aber zu den Antragstellern, damit dieser Tag nicht ein Donnerstag der Sonntagsreden bleibt. Denn Hass gibt es nicht nur rechts, sondern auch links; es gibt ihn anderweitig, und es gibt ihn vor allem weltweit. Dass diese Bundesregierung Erziehung zum Hass finanziell mit jährlich 100 Millionen Euro an die UNRWA fördert, muss in einer solchen Debatte leider ebenfalls angesprochen werden. Ich spreche von den palästinensischen Kindern, die von Geburt an und dann in den von der Bundesregierung finanziell geförderten Schulen systematisch zum Hass auf Israel erzogen werden. Es geht zum Beispiel um die Hamasextremisten, die den Kindern Botschaften einimpfen wie „Juden sind untermenschliche Kreaturen und müssen entsprechend behandelt werden“. Ein wörtliches Zitat aus aktuellen palästinensischen Schulbüchern, in denen steht: Ich gelobe, mein Blut zu opfern, um das Land der Großzügigen mit ihm zu tränken, und werde den Usurpator aus meinem Land entfernen … Herr Minister Maas – in Abwesenheit –, ist Ihnen eigentlich klar, was Sie hier anrichten? Mein Appell an Sie und die Bundesregierung: Wenn Sie schon Geld in die Förderung von Schulen und Aufbauhilfen geben, dann stellen Sie sicher, dass solche Scheußlichkeiten, dass solcher Hass unterbleibt. Denn niemand kritisiert den Kampf gegen die Armut in der Welt. Wenn aber die Mittel derartig missbraucht werden, dann frage ich mich, ob auch unsere Bundesregierung die Werteorientierung und den Maßstab verloren hat. Demokraten und Bewahrer des Rechtsstaates lehnen jede Form von Hass und Gewalt entschieden ab – ohne Wenn und Aber und weltweit. Wir brauchen auch keinen Donnerstag der Demokratie, wir brauchen kämpferische Demokraten an 365 Tagen im Jahr. Vielen Dank.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist Marian Wendt für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Marian Wendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004441, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Stellen Sie sich Folgendes vor: Kurz nach der Bundestagswahl, 1. November 2017, 3 Uhr nachts. Eine Person legt ein Päckchen auf einem Auto auf einem Privatgrundstück ab, daran befestigt eine Postkarte, die im Vordergrund einer dunklen und düsteren Landschaft ein Grab und ein Kreuz zeigt. Auf der Karte steht: „Mögen Sie so werden, wie es das Foto zeigt!“ Die Polizei wird gerufen. Circa 20 Beamte sperren großräumig den Ereignisort ab. Die Kriminalpolizei ermittelt. Es besteht der Verdacht eines Sprengsatzes. Die Bedrohungslage ist klar. Nächste Szene. Ein Jahr später, im Herbst 2018, wird im Bundestag heftig über den Migrationspakt diskutiert. Die Person erhält als Mitglied einer Altpartei zahlreiche E-Mails: „Wir drehen dir den Hals um!“, „Du Schwein wirst hängen“, „Man hätte dich Sau abtreiben sollen!“. Am 18. Januar 2019 erhält die gleiche Person einen Brief zu Hause; die Überschrift: „Wiedergänger von Heinrich Himmler“. Der Brief endet mit dem Wunsch des Absenders, dass der Empfänger genauso wie Himmler erschossen werden soll. – Sehr bedenklich! Die letzte Szene. Im Februar 2019 steht eine antike Lampe vor der Haustür der gleichen Person mit einem Grabbild. Die Botschaft: Ich schalte dir das Licht aus. – Eine klare Todesdrohung. Die Polizei ermittelt schnell, und innerhalb von zwei Wochen erfolgt eine Hausdurchsuchung. Anschließend wird Herr S. festgenommen. Die drei beschriebenen Szenen sind aber keine Märchen, meine Damen und Herren. Sie sind Realität, die ich persönlich erlebt habe, in meiner Heimatstadt Torgau und in meinem Bundestagsbüro. Der Täter hat eine Sprache genutzt, die seine Radikalität und seinen Hass gegen mich, einen Vertreter der Altparteien, zum Ausdruck bringen sollte. Sprache ist besonders mächtig. Sie führt nämlich zur Selbstradikalisierung einzelner Personen in unserem Land. Bei mir ist es nur bei einer Bedrohung geblieben. Im Fall von Walter Lübcke war es traurigerweise Mord. Es steht für mich fest, dass sich in einem Klima der Hetze, von Hass und Drohungen Menschen sehr schnell radikalisieren. Wir alle stellen fest, dass es in den letzten Jahren zu dieser Radikalisierung in unserem Land gekommen ist. Aus meiner Sicht steht in diesem Parlament eine Partei dafür ganz klar in Mitverantwortung und Mitschuld, nämlich Sie, die AfD. ({0}) Für die Bedrohung, die mir persönlich widerfahren ist, und auch für den Mord an Walter Lübcke mache ich Sie, die AfD, mitverantwortlich. Sie tragen zur Radikalisierung in diesem Land bei und fördern diese durch Ihre Sprache und Hetze. ({1}) Ich darf Ihnen einige Beispiele nennen. Der AfD-Abgeordnete Jens Kestner beleidigte die Kollegin ­Marie-Agnes Strack-Zimmermann mit den Worten: Nur weil Sie aussehen wie ein Mann, müssen Sie sich nicht verhalten wie ein Mann. – Zur ehemaligen SPD-Staatsministerin sagte Herr Gauland: „Danach kommt sie nie wieder hierher, und wir werden sie dann auch Gott sei Dank in Anatolien entsorgen können.“ Oder vielleicht der sogenannte Klassiker, noch mal für Sie: „Wir werden sie jagen, wir werden Frau Merkel oder wen auch immer jagen, und wir werden uns unser Land und unser Volk zurückholen.“ ({2}) Ja, vielleicht sind diese Sätze in der Tat nur leichtsinnige oder schlichtweg dumme Gedanken. ({3}) Aber diese Sprache ist Nährboden für eine Tat wie die, die am 2. Juni in Kassel passiert ist; ({4}) wie unser Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble nämlich zutreffend gestern sagte: „Wer diesen Nährboden düngt, macht sich mitschuldig“. Ihre Sprache von der AfD erzeugt nur Hass, Drohungen, Gewalt und schlussendlich Mord. Sie sollten sich schämen. ({5}) Meine Partei und ich mich selbst sehen uns deshalb in der Pflicht und Verantwortung für unser Land, unsere demokratischen Werte gegen Angriffe von rechts und der AfD zu verteidigen. Wir tragen diese Verantwortung, und genau aus dieser Verantwortung heraus wird es keine Zusammenarbeit in irgendeiner Form mit dieser Partei geben. ({6}) Sie hetzen und sind verantwortlich für die Radikalisierung und Spaltung in unserem Land. Deswegen werden wir alles in unserer Macht Stehende tun, um zu verhindern, dass Sie jemals Verantwortung oder gar Entscheidungsmacht für Deutschland erhalten. ({7}) Der Tod von Walter Lübcke muss für alle Demokraten Aufforderung zum Kampf gegen Rechtsextremisten sein. Sein Andenken werden wir stets in Ehren bewahren. Vielen Dank. ({8})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Als Nächster spricht in dieser Debatte für die Fraktion der SPD der Abgeordnete Sigmar Gabriel. ({0})

Sigmar Gabriel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003755, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Alle haben es gesagt: Der Mord an Walter Lübcke ist schrecklich, und es ist gut, dass wir eine Debatte darüber führen, was die Hintergründe und Konsequenzen sind. Aber ich finde, wir sollten – ich glaube, der Kollege Hahn hat das am deutlichsten gesagt – auch klar sagen: Wir sprechen damit zugleich über fast 200 Opfer fanatisierter Rechtsterroristen, die seit 1990 in diesem, in unserem Land ihr Leben verloren haben. ({0}) Ich fand die Bemerkung von Herrn Hahn deshalb wichtig, weil wir nicht den Eindruck erwecken dürfen, dass wir uns jetzt dafür interessieren, wo es einen von uns getroffen hat; denn das politische Ziel all dieser Morde und der jungen und alten Neonazis ist ja immer das gleiche, die Zerstörung des Artikels 1 unserer Verfassung: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Dieser einfache, aber so unglaublich bewegende Satz ist es doch, den die Gewalttäter aus der Welt schaffen wollen. Und deshalb sind die rechtsradikalen Gewalttaten eben immer auch ein Angriff auf uns, auf die Art, wie wir leben wollen, auf Freiheit, auf Demokratie und die Würde des Menschen. Man muss auch zugeben, dass die Warnungen vor rechtsradikaler Gewalt nicht neu sind. Natürlich müssen wir uns fragen, ob wir ausreichend aktiv gewesen sind, um ihnen nachzugehen. Ich habe mich gefragt, was in diesem Land wohl los gewesen wäre, wenn dem Linksterrorismus der RAF fast 200 Menschen zum Opfer gefallen wären. Was da wohl in Deutschland los gewesen wäre? Wir haben damals als wehrhafte Demokratie die Zähne gezeigt, auf zweierlei Weise: Wir haben das Recht verändert, Strafverfolgung ermöglicht. Das war oft auch umstritten. Übrigens: Das Ergebnis ist nicht, dass dieses Land illiberaler geworden ist. Es ist immer liberaler geworden. Aber wir hatten auch mutige Innenminister wie Gerhart Baum, die sich ideologisch mit den Feinden der Demokratie auseinandergesetzt haben. Ich wünsche mir, dass wir mit gleicher Härte und Entschlossenheit, aber auch mit dem gleichen Mut in die Offensive gegen diesen Rechtsterror und den Rechtsextremismus gehen wie damals gegen die RAF. ({1}) Mehr als 12 000 gewaltbereite Rechtsradikale in Deutschland – das ist die Zahl, die wir aus dem Bundesinnenministerium bekommen haben – dürften eigentlich Grund genug sein. Übrigens: Ja, Herr Innenminister, es gibt auch Gewalt von links, und es gibt auch islamistische Gewalt. Nichts davon ist zu rechtfertigen, und all das muss auf unseren Widerstand treffen. Aber eines stimmt eben auch: Massenhaft gemordet in diesem Land wurde von rechts. Der Feind der Demokratie steht heute nicht irgendwo, sondern rechts. Da steht der Feind der Demokratie. ({2}) Ich finde auch nicht, dass wir panisch oder mit operativer Hektik reagieren müssen, sondern eher kühl und konsequent, aber vor allen Dingen auf Dauer. Wir müssen uns auf eine lange und intensive und beharrliche Arbeit für unsere Demokratie einstellen. Deshalb müssen zum Beispiel die Akten über die NSU-Morde ausgewertet werden, statt sie für 120 Jahre unter Verschluss zu halten. ({3}) Also mal ganz im Ernst: Jetzt sind es 40 Jahre. Das sind auch noch 40 Jahre zu viel. Wer auf solche Gedanken kommt, der muss nicht ganz bei Trost sein, so etwas in dieser Situation aufzuschreiben. ({4}) In den vielen Tausend Seiten dieser Akten finden wir doch Hunderte, wenn nicht Tausende von Hinweisen, welche Netzwerke, Verbindungen und ideologische Wegbereiter es gibt. Denn wir müssen doch nicht nur gegen die Gewaltbereiten vorgehen, sondern auch gegen die selbsternannten Herrenmenschen in ihren Herrenhäusern, die den ideologischen Boden für Mord und Totschlag bereiten. ({5}) Das sind eben die Identitären und ihre Ideologen. Das sind die Reichsbürger, von denen der Bundesinnenminister sagt, sie hätten eine Affinität zu Waffen. Ehrlich gesagt: Ich würde mir wünschen, wir entwickelten einen Plan, um diese Kerle in diesem Land endlich zu entwaffnen, statt einfach eine Waffenaffinität zu beschreiben. ({6}) Und es sind die teilweise enthemmten und unmenschlichen Hassattacken in rechtsextremen und asozialen Netzwerken. Das ist die digitale Begleitmusik, aus der heraus Straftaten bis zum Mord an Walter Lübcke ermöglicht und übrigens nachträglich bejubelt wurden. Ich nenne das digitale Beihilfe zu Straftaten und Mord. Das ist das, was da stattfindet. ({7}) Es ist diese sprachliche Gewaltbereitschaft, die die physische Gewalt vorbereitet. Es hängt entscheidend vom gesellschaftlichen Klima ab, ob man rechtsradikale Antworten salonfähig macht oder ob sie gesellschaftlich tabuisiert bleiben. Das ist eine alte Erkenntnis der Autoritarismusforschung der 50er-Jahre. Damit, meine Damen und Herren, sind wir bei Ihnen von der AfD angelangt. Damit wir uns nicht missverstehen und Sie sich auch nicht rausreden können: Es ist in Deutschland erlaubt, rechts zu sein. Es ist in Deutschland erlaubt, deutschnational zu sein. Es ist in Deutschland erlaubt, sich gegen Migration auszusprechen. Das ist alles erlaubt. Was nicht erlaubt ist, ist die Brandmauer zu Nazis, ob jung oder alt, aufzumachen. Das ist nicht erlaubt in Deutschland. ({8}) Deutschnationale hat es in diesem Land immer gegeben – früher häufig in der Union, auch bei der FDP, auch bei der SPD –, aber keinem – das ist der Unterschied zu Ihnen –, Alfred Dregger nicht und keinem anderen, wäre der Satz, Herr Gauland, über die Lippen oder auch nur in den Sinn gekommen, dass der Nationalsozialismus ein Vogelschiss in der deutschen Geschichte gewesen sei. Keinem wäre dieser Satz über die Lippen gekommen. ({9}) Sie haben Bundestagsabgeordnete, die sagen: Als wirksames Instrument zur Kriminalisierung der Deutschen und ihrer Geschichte wird immer noch der Völkermord am europäischen Judentum herangezogen. Sagen Sie einmal, schämen Sie sich nicht, solche Leute in Ihren Reihen zu dulden? ({10}) Sie dulden Hetzer wie Höcke, und es nützt nichts, formale Unvereinbarkeitsbeschlüsse mit den Identitären zu fassen, wenn Sie diese Leute dann auf die Kandidatenlisten setzen, um sie vor dem Verfassungsschutz in Deutschland zu schützen. Das ist Ihre Politik, die gefährlich ist. ({11})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Lieber Herr Kollege, auch wenn ich Ihnen gern zuhöre: Sie haben Ihre Redezeit bereits erheblich überschritten, und ich bitte Sie, Ihre Schlussbemerkung zu formulieren.

Sigmar Gabriel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003755, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, danke für den Hinweis, Herr Präsident. Ich komme zum Schluss. Sie versuchen, sich herauszureden und so zu tun, als ginge es um Meinungsfreiheit und Demokratie und wir würden Sie angreifen. Die Wahrheit ist: Sie haben sich mitverantwortlich gemacht, weil man nicht nur für das verantwortlich ist, was man sagt und tut, sondern auch für das politische Klima in diesem Land. Da sind Sie Haupttäter und nicht etwa Opfer. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Michael Brand für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Michael Brand (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Familie Lübcke! Das ist heute keine einfache Rede für mich. Ich kannte Walter Lübcke über 20 Jahre. Er war mehr als ein politischer Weggefährte. Er war ein Freund. Wir haben uns noch wenige Tage vor dem Mord in meinem Heimatort getroffen. Wir haben Pläne geschmiedet, wir haben zusammen gelacht, wie wir das oft und bei jeder Begegnung getan haben. Walter ist mitten aus dem Leben gerissen worden. Zu Beginn möchte ich deshalb als ehrliche Geste an die Familie und die Freunde im Namen des gesamten Hauses, auch wenn einige Reden gezeigt haben, dass das nicht auf jeden Einzelnen zutrifft, unsere Trauer, unser Entsetzen und unser Mitgefühl zum Ausdruck bringen. ({0}) Wir denken an euch. Wir haben bei allen politischen Debatten auch das Schicksal der Familien der Opfer im Blick; übrigens nicht allein der Familie Lübcke, sondern der Familien aller Opfer von Anschlägen. Auch das gehört in eine solche Aktuelle Stunde. Walter Lübcke war Ehemann, er war Vater, er war kürzlich Großvater geworden. Während sein Enkel, der kleine Carl-Julius, im Haus friedlich schlief, wurde der Opa auf der Terrasse hingerichtet. Er war Abgeordneter, er war Mitglied der Bundesversammlung hier in diesem Saal, er war ein besonderer Regierungspräsident. Vom Pförtner bis zum Ministerpräsidenten – er ist jedem mit gleichem Respekt und der gleichen Freundlichkeit gegenübergetreten. Das hat ihn ausgemacht. Es ist mir wichtig, Walter ein Gesicht zu geben, ihn nicht nach dem Umstand seines Todes, sondern nach seinem Leben zu beurteilen. Das ist der Familie wichtig, das ist seinen Freunden wichtig. Er war ein guter Charakter. Er war zugänglich, er war engagiert, er war auch kämpferisch aus christlicher Motivation, er war ein Konservativer, ein christlich geprägter Patriot: für unser Land, für seine Menschen. Er hat gestanden für seine Überzeugung. Mit Anstand und mit Haltung hat er gestanden, auch mit einer ansteckenden Fröhlichkeit. Er hatte auch immer den Schalk im Nacken. Ich habe gesagt, ich will ihm ein Gesicht geben. ({1}) So war er, so war Walter Lübcke, einer mit geradem Kreuz, einer, der die Menschen mochte, und die ihn mochten. So war Walter Lübcke. Und nichts an ihm, an seiner Haltung und seiner Leistung kann auch nur im Entferntesten rechtfertigen, ein so blühendes und positives Leben gewaltsam zu beenden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen den Extremisten direkt entgegentreten und sie konfrontieren. Wir müssen ihre Lügen konkret entlarven. Ich empfehle Wikipedia und den heutigen Artikel auf „Spiegel Online“: „Ein Satz – und der Hass danach“, die Rekonstruktion der Bürgerversammlung in Kassel am 14. Oktober 2015. Vorbestrafte Rechtsextremisten, darunter auch sein Mörder, haben sich gezielt im Saal verteilt, störten gezielt mit „scheiß Staat“ und mehr, beleidigten und unterbrachen Walter Lübcke gezielt. Was mit ihm von denen, die Wut und Hass als Instrument einsetzen, bis in die letzten Tage und Stunden hinein gemacht wurde, ist nicht nur unanständig, es ist schlicht widerlich. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen konsequent handeln. Wir müssen den Sumpf für Hetze und blanke Gewalt intelligent austrocknen: mit Repression, mit Prävention. Die Demokratie muss sich wehrhaft zeigen. Ich will an dieser Stelle ein ausdrückliches Dankeschön an die Sicherheitsbehörden sagen, die ihre Aufgabe gut gemacht haben und die weiter ermitteln. Wir müssen auch den Kampf gegen Rechtsextremismus verstärken. Ich bin der festen Überzeugung, und es ist wahr: Erst der Hass und die Hetze der letzten Jahre haben diesen feigen Mord an Walter Lübcke möglich gemacht. ({3}) Es reicht auch nicht, sich nur als Ritual zu empören. Wir müssen uns der Worte der Demokratie bewusst sein. Wir dürfen uns als Demokraten diese Worte der Demokratie nicht wegnehmen lassen. Dazu zählen Begriffe wie Anstand, Haltung, Patriotismus, Nation, europäische Gesinnung, anständiger Umgang und Mitmenschlichkeit. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen auch als Abgeordnete des Deutschen Bundestages nicht länger feige abtauchen. Die Gegner unserer offenen Demokratie kämpfen verbissen und inzwischen innerhalb der Institutionen der Demokratie gegen unsere offene Gesellschaft, und sie kämpfen gleichzeitig im Verborgenen. Das Umfeld an Sympathisanten, an Mittätern, an Mitwissern, an klammheimlicher und offener Freude, an Netzwerken muss an der Wurzel bekämpft werden. Wir sind spät dran, für Walter Lübcke zu spät. ({4}) Ich möchte abschließend sagen: Ich bin in diesen Tagen häufiger gefragt worden, was mein Freund Walter wohl gedacht und gesagt hätte in dieser aktuellen Debatte, ob er sich weggeduckt hätte wie manche heute. Ich sehe seine Reaktion so klar vor mir, das Gesicht, den Ausdruck seiner Augen: klarer und fröhlicher Blick, durchgedrücktes Kreuz. Er hätte gesagt: „Feige Demokraten? Kommt gar nicht infrage – mit Anstand und Haltung für unsere Werte, alles andere wäre doch gelacht!“ Liebe Kolleginnen und Kollegen, genau, es wäre gelacht. Wir werden die Freiheit unserer offenen Gesellschaft verteidigen, wir werden nicht nachgeben, und wir werden gewinnen. Das verspreche ich dir, lieber Walter. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank, auch für die einfühlsamen Worte zu Walter Lübcke. Das darf ich, glaube ich, im Namen des ganzen Hauses sagen. ({0}) Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Timon Gremmels für die Fraktion der SPD. ({1})

Timon Gremmels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004732, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Familie Lübcke! Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Walter Lübcke war auch für mich ein langjähriger politischer Wegbegleiter. Zehn Jahre haben wir in der Regionalversammlung Nordhessen zusammen gearbeitet. Wir haben uns voller Leidenschaft für die Energiewende in unserer Heimat eingesetzt, haben oft und gerne gemeinsam unsere Region repräsentiert, so wie wenige Tage vor seinem Tod bei einer Radtour. Wir haben uns immer wieder getroffen, in unterschiedlichsten Funktionen, zu unterschiedlichsten Themen – immer auf Augenhöhe, immer mit Respekt, immer mit Anstand, als Politiker, aber auch als Menschen. Dieser Walter Lübcke war kein geschliffener Rhetoriker. Er war auch kein Diplomat. Er war ein Waldecker Junge, wie er sich selbst gern bezeichnete, ein Mensch der klaren Worte, mit Ecken und Kanten, ein Menschenfreund mit starken christlichen Wurzeln, einer, der zuhören und zupacken konnte, einer, der sich wirklich für sein Gegenüber interessiert hat, kein Hardliner, kein Dogmatiker, einfach ein anständiger Mensch. Mein politischer Wegbegleiter Walter Lübcke wurde erschossen. Der polizeibekannte Rechtsextremist Stephan E. hat den Mord gestern gestanden. Diese heimtückische Tat, diese gewollte psychische und physische Zerstörung von Walter Lübcke begann aber wesentlich früher und hatte viele Mittäter. Ich war dabei, als wir am 14. Oktober 2015 im Bürgerhaus in Lohfelden zusammenkamen. Gemeinde und Regierungspräsidium hatten zu einer Informationsveranstaltung über eine neue Flüchtlingsunterkunft in einem ehemaligen Baumarkt geladen. Über 800 Menschen kamen, viele, um sich zu informieren, viele, um sich aktiv in der Flüchtlingshilfe zu engagieren, ja, aber auch einige, um ihre Sorgen zu artikulieren. Von ihnen hob sich eine kleine Gruppe ab, der Kasseler Ableger der Pegida-Bewegung. Ihnen ging es nicht um Informationen, nicht um Deeskalation und natürlich auch nicht um Hilfe. Sie störten die Veranstaltung gezielt. Walter ­Lübcke sagte zu diesen 15 Personen, sie hätten die Freiheit, das Land, dessen Werte sie offensichtlich nicht teilten, zu verlassen. Damit ging aber die perfide Rechnung der Rechtsextremisten auf. Sie hatten die Videosequenz, die sie für ihre Kampagne gegen den von ihnen verhassten Staat benötigten. Kurze Zeit später lief die Hetzkampagne über Facebook an, an der sich auch die AfD beteiligte. Dieses aus dem Zusammenhang gerissene Zitat, versehen mit dem militaristischen Hashtag „Herbstoffensive“, ging um die Welt, tausendfach geteilt. Tausendfach hat man Lübcke damit verleumdet, verhöhnt und bedroht. Wie muss es ihm und seiner Familie mit der jahrelangen Bedrohung gegangen sein? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, was wir Walter Lübcke schuldig sind: Egal wer von uns hier im Haus von rechts angegriffen wird, liebe Kolleginnen und Kollegen, egal auf welcher Ebene, in der Kommune, im Land, im Bund, in Europa, lassen Sie uns füreinander einstehen; denn wir und die übergroße Mehrheit unserer Bevölkerung will ein demokratisches, ein offenes, ein tolerantes und ein vielfältiges Land. Das sind wir Walter Lübcke und den anderen Opfern schuldig. ({0}) 13 Jahre nach der Ermordung von Halit Yozgat in Kassel durch den NSU haben wir es wieder mit rechtsterroristischem Terror in Nordhessen zu tun. Diese rechtsextremen Strukturen und Netzwerke wurden unterschätzt. Der erste von einem Rechtsextremisten begangene Mord an einem Repräsentanten unseres Staates muss eine Zäsur sein. Der Rechtsstaat muss mit seiner ganzen Kraft gegensteuern. Wir wissen, dass es Verbindungen zwischen aus dem NSU-Komplex bekannten Personen und dem Mord an Lübcke gibt. Stephan E. war kein Einzeltäter. Er war fest in die nordhessische Neonaziszene eingebunden. Er hatte 37 entsprechende polizeiliche Einträge. Wie kann es sein, Herr Innenminister, dass ein solcher Gefährder vom Radar der Sicherheitsbehörden verschwindet? „Wie kann das sein?“, frage ich an dieser Stelle. ({1}) Ich richte diesen Appell auch an die Landesregierung in Hessen, an der auch die Grünen beteiligt sind: Sorgen Sie dafür, dass alle Akten freigegeben werden, dass der Generalbundesanwalt alles sehen kann, nicht nur die Akten, die angefordert werden, sondern alle Akten. ({2}) Machen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, nicht den gleichen Fehler wie 2013, als Sie im Hessischen Landtag nicht für die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses gestimmt haben. Machen Sie diesen Fehler nicht! Wir sind den Opfern des rechten Terrors eine vollständige Aufklärung schuldig, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({3}) Herr Präsident, lassen Sie mich zum Schluss kommen. Was jetzt nicht sein darf, ist, dass wir Demokraten im Kampf gegen rechten Terror aus Angst, selbst ins Fadenkreuz zu geraten, leise werden. Das Gegenteil muss sein. Wir müssen lauter werden. ({4}) Ich freue mich, dass heute um 17 Uhr in Kassel vor dem Regierungspräsidium Tausende von Menschen, aufgerufen von Gewerkschaften, von der Wirtschaft, von Parteien, aus Unternehmen und Betrieben, demonstrieren werden und sich gegen rechte Gewalt und Rechtsterror aussprechen. Von dieser Stelle aus richte ich – ich hoffe, im Namen vieler Kolleginnen und Kollegen – unsere solidarischen Grüße an die Demonstranten in Kassel. Lassen Sie mich meinen Schlusssatz sagen, Herr Präsident: Wir sind mehr! Ich danke Ihnen. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich beende die Aktuelle Stunde.

Bettina Hagedorn (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003545

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Innovationskraft ist der Schlüssel für Wohlstand und eine gute Zukunft der deutschen Volkswirtschaft. Bei Investitionen in Forschung und Entwicklung ist Deutschland schon jetzt gut aufgestellt, aber man kann ja immer noch besser werden. Diese Große Koalition und auch die Großen Koalitionen davor haben immer an dem 3‑Prozent-Ziel im Bereich Forschung und Entwicklung festgehalten und es auch erfolgreich umgesetzt. Das bestätigt die OECD-Studie von 2017. Sie macht deutlich, dass in diesem Bereich ein Drittel aller Investitionen in Europa in Höhe von 131 Milliarden US-Dollar aus Deutschland kommen. Wenn Europa prozentual so gut wäre wie wir, dann kämen auf europäischer Ebene 100 Milliarden Euro obendrauf. Damit ist eine Marke festgesetzt, deren Erreichung wir als Große Koalition vor dem Hintergrund der neuen europäischen Förderkulisse im nächsten Jahr, wenn wir die EU-Ratspräsidentschaft innehaben, gemeinsam verfolgen werden. Nach dieser Förderkulisse müssen Forschung und Entwicklung eine noch größere, noch prominentere Rolle spielen als bisher. Da sind wir uns absolut einig. ({0}) Wir wissen, dass der wichtigste Treiber von Innovationen die Privatwirtschaft ist; sie leistet zwei Drittel der FuE-Ausgaben in Deutschland. Deshalb unterstützen wir sie mit diesem Gesetz, das wir jetzt als Entwurf einbringen, bei der Forschung steuerlich. Es ist das erste Mal, dass es in Deutschland eine solche Form der steuerlichen Forschungsförderung geben wird. Wir sind stolz darauf, dass wir damit unseren Koalitionsvertrag umsetzen. ({1}) Seit Jahrzehnten wurde darüber diskutiert. Jetzt endlich gibt es eine gute Lösung, die – da bin ich sicher – im parlamentarischen Verfahren möglicherweise noch besser werden wird. Nun aber zu den Rahmendaten. Wir fördern Grundlagenforschung, angewandte Forschung und experimentelle Entwicklung. Das sind die drei Tätigkeitsbereiche, die Forschung und Entwicklung ausmachen. Wir grenzen also keinen Bereich aus und fördern FuE umfassend. Unser Fokus liegt auf der Förderung von Forschung und Entwicklung hier in Deutschland, und zwar genau dort, wo sie geschieht. Deshalb setzen wir bei den Personalausgaben für FuE-Bereiche und den in den Forschungsstätten Beschäftigten einen Schwerpunkt. Was heißt das konkret? Das heißt konkret, dass die Forschungszulage 25 Prozent dieser Ausgaben betragen wird. Bei summa summarum 2 Millionen Euro an Investitionen in Personalausgaben in diesem Bereich wird der Staat also 500 000 Euro dazu beitragen. ({2}) Oder, um es einfacher auszudrücken, damit es leichter nachvollzogen werden kann: Wenn ein mittelständisches Unternehmen zum Beispiel 20 Forscherinnen und Forscher beschäftigt, dann gehen fünf davon auf das Ticket des Staates. Das ist gerade für kleine und mittelgroße Unternehmen eine spürbare Entlastung. Es verschafft ihnen zusätzliche Liquidität, wenn sie diese Steuerförderung wahrnehmen. Aber was uns gemeinsam wichtig war, ist, dass auch Start-ups in den Genuss dieser Förderung kommen können; denn die Förderung wird unabhängig davon, ob eine Gewinnsituation besteht, gewährt. Wir alle wissen, dass Start-ups in der Gründungsphase häufig mit Verlust wirtschaften. Sie sollen aber nicht von diesem Förderinstrument ausgenommen werden. ({3}) Damit wollen wir Gründerinnen und Gründer unterstützen. Wir wissen, dass wir da noch besser werden müssen. Wir brauchen sicherlich einen Blumenstrauß von Maßnahmen. Aber mit dieser steuerlichen Forschungsförderung setzen wir einen ganz wichtigen Akzent. Wir sind fest überzeugt, dass wir eine zielgenaue, effektive und auch gesteuerte Forschungsförderung mit diesem Instrument machen. Wir nehmen nicht Steuersenkungen nach dem Gießkannenprinzip vor. Wir können belegen, dass in der Vergangenheit einfach gewährte steuerliche Entlastungen von den Unternehmen leider nicht immer genutzt wurden, um die zugesagten Investitionen in diesem Bereich zu tätigen. Weil dem so ist, machen wir es nun zielgenau. Wir wollen damit die Unternehmen anregen und diejenigen belohnen, die es sowieso schon gut machen. In diesem Sinne bitte ich das Parlament ganz herzlich um konstruktive Beratungen und vor allen Dingen am Ende um Zustimmung. Vielen Dank. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Dr. Götz Frömming für die AfD. ({0})

Dr. Götz Frömming (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004722, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Was haben Länder wie die USA, China, Japan und die große Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten und der OECD-Länder gemeinsam? Sie haben seit Jahren eine steuerliche Forschungsförderung. Deutschland hinkt hier hinterher. Die Erfahrungen, die in diesen Ländern damit gemacht worden sind, sind durchweg positiv. Es ist ganz wichtig, zu wissen, dass sich für den Staat mittel- und langfristig unter dem Strich ein Plus ergibt, obwohl er zunächst auf Einnahmen verzichtet. Forschung und Wirtschaft brauchen Freiheit und Impulse. Dann entsteht Wachstum. Mehr Wachstum bedeutet mehr Steuereinnahmen und mehr Arbeitsplätze. Das ist letztlich gut für uns alle. Im Kabinettsbeschluss hieß es noch – ich zitiere –, die Förderung solle als Steuergutschrift gewährt werden, „die auch im Verlustfall ausbezahlt wird. Dies ist insbesondere für Start-ups außerhalb der Gewinnzone von Bedeutung“. Das ist vollkommen richtig. Genau das hat die AfD in ihrem Antrag zur steuerlichen Forschungsförderung bereits im vergangenen Jahr vorgeschlagen. Warum Sie jetzt auf den letzten Metern offenbar einen anderen Weg über die Prämie eingeschlagen haben, kann uns vielleicht Herr Meister dann noch erklären; denn international gesehen hat sich die Steuergutschrift als die effizienteste Methode erwiesen, wie eine Auswertung des BDI von über 60 empirischen Studien belegt. Wir vermissen im vorliegenden Entwurf auch den von vielen Seiten geforderten Auftragskostenansatz. Weil das fehlt, können Unternehmen ohne eigenes Forschungspersonal und damit insbesondere der Mittelstand nicht profitieren, da sie in ihrer Rolle als Auftraggeber von Forschungsaufträgen nicht anspruchsberechtigt sind und die meisten ihrer Forschungspartner, also Universitäten, Hochschulen und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen, von der Förderung ausgenommen sind. Die meisten KMUs haben keine eigene Forschungsabteilung. Eine nur auf eigene Personalkosten fixierte steuerliche Forschungsförderung kommt bei vielen Start-ups beispielsweise in der Biotechnologie und der Gesundheitsforschung also gar nicht an. Schon unter ordnungspolitischen Gesichtspunkten sollte ein Unternehmen frei wählen können, ob es Forschung mit eigenem Personal durchführt oder diese bei einer auf den jeweiligen Forschungsgegenstand spezialisierten Forschungseinrichtung in Auftrag gibt und die entsprechenden Kosten im Sinne der Förderung geltend macht. Die außeruniversitären Forschungseinrichtungen haben wir gerade mit der gewaltigen Summe von über 100 Milliarden Euro für die nächsten zehn Jahre, bis 2030, gefördert. ({0}) Ein weiteres Problem ist die Deckelung. Die Deckelung der Forschungs- und Entwicklungsförderung auf förderfähige Personalkosten in Höhe von maximal 2 Millionen Euro birgt ein Problem in sich. Bei einer 25‑prozentigen Förderquote beträgt die höchste Fördersumme somit lediglich 500 000 Euro. Das ist für kleine und mittelständische Unternehmen natürlich eine relevante Größe, wenn sie denn eigenes Forschungspersonal haben, aber nicht für größere Unternehmen, bei denen Forschungsausgaben zumeist deutlich höher sind. Gerade wenn es um die Standortentscheidung großer forschender Unternehmen gehe, seien stärkere Anreize – vergleichbar mit denen anderer europäischer Länder – notwendig, erklärte dazu sinngemäß der Präsident des Stifterverbandes. ({1}) Deshalb haben einige größere Firmen – ich nenne als Beispiel Boehringer Ingelheim – ihre forschungsintensiven Neugründungen ins Ausland – in diesem Fall nach Österreich – verlagert. Dort können Forschungsunternehmen 14 Prozent ihrer Forschungskosten steuerlich geltend machen. Eine Deckelung, wie in Deutschland bzw. wie im Gesetzentwurf vorgesehen, gibt es dort nicht. Die Bundesregierung hat das Kunststück fertiggebracht, das Instrument der steuerlichen Forschungsförderung, das an sich sehr gut ist, durch Überregulierung so zu justieren, dass sowohl kleine und mittlere Unternehmen als auch große Firmen davon wenig haben werden. Eine große Chance für den Standort Deutschland wird hier vertan. Sie sollten dringend nachbessern. ({2}) Die zu enge Deckelung auf nur 500 000 Euro muss unseres Erachtens angehoben werden, und der Auftragskostenansatz muss noch in das Gesetz implementiert werden. Das haben auch in der Anhörung der Sachverständigen etliche Verhandlungspartner gefordert. Auch die Kosten der Auftragsforschung müssen förderfähig sein. Meine Damen und Herren, wir bitten darum, diese Punkte in der weitergehenden Debatte zu berücksichtigen. Sie müssen dann ja nicht sagen, dass die AfD Sie darauf gebracht hat. Die Hauptsache ist, dass wir das Gesetz noch so verbessern, dass es seinen Zweck auch erfüllen kann. Herzlichen Dank. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Michael Meister. ({0})

Dr. Michael Meister (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002733

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben über eine Dekade lang über die Frage diskutiert, ob wir in der Bundesrepublik Deutschland eine steuerliche Förderung für Forschung und Entwicklung einführen sollten. Wir haben das aber nie auf der Grundlage eines Gesetzentwurfs getan. Deshalb will ich zunächst sagen: Ich persönlich freue mich, dass wir nach extrem langer Diskussion einen entsprechenden Gesetzentwurf im Deutschen Bundestag vorliegen haben, und hoffe, dass wir zu einem Ergebnis kommen werden. Ich würde mich noch mehr freuen, wenn wir am 1. Januar 2020 nicht nur einen Gesetzentwurf hätten, sondern ein im Bundesgesetzblatt veröffentlichtes, rechtsgültiges Gesetz, das von den Unternehmen genutzt werden könnte. ({0}) Viele OECD-Staaten haben eine steuerliche Forschungsförderung. In einer Reihe von Studien ist die positive Wirkung der steuerlichen Forschungsförderung untersucht. Vor dem Hintergrund dieser Studien ist es richtig, dass wir nun handeln. Es geht um die Sicherung und den Ausbau der Innovationskraft des Standorts Deutschland. Wir benötigen kontinuierlich steigende Aufwendungen für Forschung und Entwicklung. Wir haben heute einen Spitzenplatz bei den Innovationen inne. Aber wir müssen als Innovationsführer diesen Spitzenplatz in Zukunft verteidigen. ({1}) Es ist richtig, dass wir an den Instrumenten, die sich in der Vergangenheit bewährt haben, festhalten. Wir dürfen uns aber nicht darauf verlassen, dass die bewährten Instrumente ausreichen. Vielmehr wollen wir ein weiteres Instrument neben der Projektförderung, um unser Ziel zu erreichen, den Anteil der Investitionen in Forschung und Entwicklung von derzeit gut 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts bis 2025 auf mindestens 3,5 Prozent zu erhöhen. ({2}) Dafür braucht es ein klares Signal an die Wirtschaft; denn zwei Drittel dieser Mittel werden von der Wirtschaft und nicht vom Staat aufgebracht. Die Wirtschaft braucht das klare Signal, mehr in Richtung Forschung und Entwicklung zu tun. Deshalb halte ich es für sehr wichtig, dass wir ein Gesetz beschließen, das die Zulage ohne Befristung gewährt. Wir haben uns darauf verständigt, dass wir nach einem gewissen Zeitraum die Wirkung der steuerlichen Forschungsförderung evaluieren wollen; aber wir gestalten die Zulage unbefristet. Ich glaube, das ist ein klares Signal an die Wirtschaft. ({3}) Als Bemessungsgrundlage sind die Personalkosten gewählt worden. Man kann lange diskutieren, ob man noch andere Aufwendungen heranziehen sollte. Ich glaube aber, im Sinne einer Pauschalierung ist das richtig; denn wenn man andere Aufwendungen heranzieht, sinkt der Fördersatz. Ich glaube, mit dem Fördersatz von 25 Prozent geben wir ein klares Signal. Das ist nicht unter der Wahrnehmungsschwelle und genau das, Frau Kollegin Hagedorn, was wir uns haushalterisch aktuell leisten können. Deshalb ist meine Bitte, in den Beratungen den Fördersatz nach unten nicht infrage zu stellen. Ansonsten hätten wir zwar ein Gesetz, aber die Wahrnehmung bei den Akteuren wäre nicht die richtige. Uns ist auch wichtig, dass wir ein möglichst flexibles Antragsverfahren bekommen, bei dem die Anträge zur Zertifizierung auf steuerliche Forschungsförderung zu jedem Zeitpunkt gestellt werden können und nicht etwa für ein Projekt vorab und auch nicht irgendwelche Fristen berücksichtigt werden müssen. Also: Flexibilität im Antragsverfahren ist extrem wichtig; denn wir wollen kleine und mittlere Unternehmen ansprechen. Wenn wir die Quote, von der ich vorhin sprach, steigern wollen, sind nicht die Großunternehmen in Deutschland unser Problem. Wir müssen die kleinen und mittleren Unternehmen in diesem Land für Forschung und Entwicklung begeistern. Genau darauf zielt dieser Gesetzentwurf. ({4}) Herr Kollege Frömming, die Start-ups haben wir berücksichtigt. Wir sehen nämlich keine Verrechnung von Verlusten und Gewinnen vor, sondern sagen: Unabhängig von der Ertragslage des Unternehmens werden die Aufwendungen für Forschungsförderung steuerlich berücksichtigt. Das ist gerade für Start-ups ungeheuer wichtig; denn sie haben am Anfang eine Nicht-Gewinn-Situation und müssen auch in Verlustsituationen von dieser Förderung profitieren können. ({5}) Wir brauchen ein klares Signal; das habe ich deutlich gemacht. Wir müssen aber auch darauf achten, dass wir ein EU-rechtskonformes Gesetz einbringen. Ich habe früher erlebt, dass man Gesetze beschlossen hat, die dann wegen des EU-Rechts bedauerlicherweise keine Rechtskraft entwickelt haben. Wir müssen also aufpassen, dass wir ein Gesetz einbringen, das nicht nur am 1. Januar in Kraft tritt, sondern ab 1. Januar ohne Rechtsfragen Wirkung entfaltet. ({6}) Ich möchte Sie darum bitten, sich in den anstehenden parlamentarischen Beratungen mit der Auftragsforschung intensiv auseinanderzusetzen. Ich glaube, daran sind sowohl die Forschungsorganisation als auch die kleinen Unternehmen sehr interessiert; sie haben uns viele Stellungnahmen zugeleitet. Meine Bitte wäre, sich das in dem parlamentarischen Verfahren intensiv anzuschauen und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen, damit wir zu einem guten Ergebnis kommen. Ich freue mich, diese Beratungen begleiten zu dürfen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächstes spricht für die Fraktion der FDP die Kollegin Katja Hessel. ({0})

Katja Hessel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004750, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich wäre heute ein guter Tag. Nach über zehn Jahren Diskussion über die steuerliche Forschungsförderung hat es die Bundesregierung endlich geschafft, einen Gesetzentwurf zur steuerlichen Forschungsförderung auf den Weg zu bringen. ({0}) Noch vor der parlamentarischen Sommerpause ist man hier ein Stück weit aus dem Dornröschenschlaf erwacht. Viele Industrienationen unterstützen schon seit Jahren die steuerlichen Maßnahmen zu Forschung und Entwicklung. Daher ist es höchste Zeit, dass auch wir als Bundesrepublik Deutschland angesichts des hohen Wettbewerbsdrucks in die steuerliche Forschungsförderung einsteigen. Mehr Investitionen in Forschung und Entwicklung sind dringend notwendig für die Zukunftsfähigkeit unseres Wirtschaftsstandorts; denn nur durch konsequente Innovationen kann sich die deutsche Wirtschaft im internationalen Wettbewerb behaupten. ({1}) Es geht bei der steuerlichen Forschungsförderung nicht um das Ob, sondern um das Wie und Wann. Somit ist der Gesetzentwurf ein erster Schritt in die richtige Richtung – vielleicht auch deswegen, weil auch der ein oder andere Punkt aus unserem Antrag vom letzten Jahr enthalten ist wie zum Beispiel die Beibehaltung der bestehenden Projektförderung oder die anschließende Evaluation der Wirksamkeit für mehr Forschung und Entwicklung. Aber dann hört es leider auch schon auf, meine Kolleginnen und Kollegen. Wir wissen nicht genau, wie die steuerliche Forschungsförderung ausgestaltet sein wird. Das Ganze wird eine Rechtsverordnung, über die wir hier nicht abstimmen. Mein Vertrauen in Sie, Herr Meister, ist ja sehr groß; aber wir wissen eben nicht, was passiert, wie die steuerliche Forschungsförderung ausgestaltet sein wird. ({2}) Das heißt, wir kaufen ein Stück weit die Katze im Sack. ({3}) Wir wissen ja genau, dass das Ob und Wie die Schwierigkeiten waren, die wir bei jeder Anhörung hatten, wenn wir versucht haben, die Förderung bürokratiearm, praxisnah und rechtssicher auszugestalten. ({4}) Meine Damen und Herren, ein bisschen hat man schon den Eindruck: Ja, wir haben dann die steuerliche Forschungsförderung; aber die Bundesregierung ist noch relativ planlos, wie sie im Endeffekt ausgestaltet werden soll. Genau davon hängt aber ab, ob die steuerliche Forschungsförderung ein Erfolg wird. Wo sie sicherlich kein Erfolg sein wird, ist im Bereich der kleinen und mittleren Unternehmen. ({5}) Noch in der Einleitung des Gesetzwurfes heißt es – ich darf zitieren –: Durch eine steuerliche Forschungsförderung will die Bundesregierung erreichen, dass insbesondere die kleinen und mittelgroßen Unternehmen vermehrt in Forschung und Entwicklungstätigkeiten investieren. Aber wenn das Ihr Ziel ist, warum schließen Sie dann genau die kleinen und mittleren Unternehmen ohne eigene Forschungsabteilung aus? Das ist die Mehrheit der KMUs. ({6}) Deshalb hat genau für sie die externe Forschung so große Bedeutung. Aber diese Unternehmen gehen nach dem Gesetzentwurf leer aus. Sie bekommen als Auftraggeber die Zulage nicht, obwohl sie das wirtschaftliche Risiko und auch die Kosten tragen. Somit ignoriert die Bundesregierung die Innovationskraft von kleinen und mittleren Unternehmen. Sie blenden deren Beitrag für den Standort Deutschland einfach aus. Während die Innovationsausgaben bei Großunternehmen in den letzten Jahren stark gestiegen sind, stagnieren sie bei den KMUs, und bei denen ohne eigene Forschungsabteilung gibt es sogar einen starken Einbruch. Der letzte EFI-Bericht von 2017 hat belegt, dass der Grund für den Mangel, dass es so wenig Forschung gibt, für 30 Prozent der KMUs die Finanzierungsquellen sind, und für die tun Sie mit diesem Gesetzentwurf nichts. ({7}) Wir hätten schon erwartet, dass die Bundesregierung viel tut, um diesen Unternehmen den Rücken zu stärken. Wir werden jedem Gesetzentwurf zustimmen, der ein Unternehmen und somit den Standort Deutschland und dessen Wirtschaft sichert. Wir schauen, was in der parlamentarischen Beratung passiert. Aber, Frau Hagedorn, ich nehme Ihre Aussage zur Kenntnis. Sie meinten, wir könnten diesen Entwurf verbessern. Es ist notwendig, dass wir ihn verbessern und die Auftragsforschung hineinnehmen. Und, Herr Meister, wir hoffen, dass dieses Gesetz EU-konform sein wird. Bei der Maut ist es uns ja leider nicht gelungen. Vielen Dank. ({8})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächstes spricht für die Fraktion Die Linke die Kollegin Dr. Petra Sitte. ({0})

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke, Herr Präsident. – Meine Damen und Herren! Glaubt man den Vorrednerinnen und Vorrednern, dann hat die Regierung endlich das Paket zur steuerlichen Forschungsförderung gepackt. Aber wenn man dann dieses Paket öffnet, sieht man: Es ist genau genommen eine Mogelpackung. Erstens. Schon der Gesetzestitel verrät, dass es sich lediglich um eine Forschungs zulage handelt. Diese orientiert sich nicht an den Gesamtausgaben für die FuE-Tätigkeit im Unternehmen. Vielmehr sollen nun alle Unternehmen ohne Beschäftigungsgrenzen eine Zulage von 25 Prozent der förderfähigen Löhne des FuE-Personals, allerdings gedeckelt auf 500 000 Euro, erhalten. Also ist diese Forschungszulage mit Sicherheit nicht das, was Sie sich in vier Koalitionsvereinbarungen vorgenommen hatten. Zweitens. Studien zu Effekten steuerlicher Forschungsförderung in anderen Ländern bieten gar kein einheitliches Bild. In Deutschland beispielsweise spielt die direkte Forschungsförderung mit thematischen Programmen – aus den einzelnen Ministerien beispielsweise – und dem erfolgreichen technologieoffenen Zentralen Innovationsprogramm Mittelstand eine bedeutende Rolle. Das gilt für die meisten untersuchten Länder eben nicht. Logisch ist natürlich, dass dort die steuerliche Forschungsförderung eine viel größere Rolle spielt. Das ZIM stagniert seit mehreren Jahren bei etwa 560 Millionen Euro pro Jahr. Die Forschungszulage soll nunmehr jedes Jahr etwa 1 Milliarde Euro kosten. Das Nebeneinander droht nachgefragte Programme wie das ZIM zu kannibalisieren. Sollte sich der Bund nun tatsächlich mit den Ländern und Kommunen auf deren anteilige Finanzierung einigen, was ja noch gemacht werden muss, gerät das ZIM selbstverständlich unter Druck. Ich finde, es ist ein absurder Vorgang, eine erfolgreiche Förderung ohne Not zu gefährden. ({0}) Drittens. Der bürokratische Aufwand ist, wie Sie sagen, keinesfalls gesunken. Über die Projektförderung können Forschungsaufwendungen in der Breite veranschlagt werden, Lohnkosten eingeschlossen. Mit der Forschungszulage werden sie nun gewissermaßen gesondert gerechnet. Damit gibt es für die Unternehmen zwei Arten von Antragsverfahren, zum einen für normale Programmlinien und zum anderen für den neu eingeführten sogenannten Berechtigungsnachweis. Erst durch diesen kann man beim Finanzamt die Erstattung der Lohnkosten beanspruchen, ({1}) und zwar erst nach Abschluss eines Wirtschaftsjahres. Die Behörde zur Erteilung dieser Berechtigung müssen Sie mit den Ländern allerdings erst schaffen. Das Gleiche gilt, wie Sie in Ihrem Gesetzentwurf schreiben, für die Kontrollen. Merken Sie was, meine Damen und Herren? Sie führen etwas ein, was Sie in die bestehende Innovationsförderung viel unbürokratischer integrieren könnten. Die Zahlungen wären für die Unternehmen dann auch planungssicher, da vorgelagert gezahlt würde. Schlauer wäre doch eigentlich, die direkte Innovationsförderung durch eine höhere anteilige Berücksichtigung der Lohnkosten kräftig zu stärken, bei weniger Bürokratie. Die Linke ist für Innovationsförderung. Wir fordern Sie daher auf, sich intensiver mit der Vielfalt des Forschungs- bzw. Innovationsgeschehens zu befassen. Nicht nur, dass die kleinen und mittelständischen Unternehmen derzeit gar nicht erreicht werden; auch 60 Prozent innovativer Unternehmen würden Sie mit der Forschungszulage überhaupt nicht erreichen. Im Übrigen gab es die indirekte Forschungsförderung für F-und-E-Personal bereits in den 80er-Jahren. Da diese bis auf Mitnahmeeffekte keine nennenswerte Wirkung zeigte, wurde sie damals wieder abgeschafft. Und wenn Sie mir nicht glauben, dann nehmen Sie wenigstens Ihren eigenen Sachverständigenrat und seinen Bericht von 2018 ernst, in dem er das abgelehnt hat.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Jawohl, mache ich. – Wenn Sie also schon Steuergelder in diesem Umfang einsetzen, dann machen Sie es mit maximalem Effekt und nicht nur für einen Teil der Betriebe, die Sie erreichen. Aber darüber können wir ja noch diskutieren. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Dr. Sitte. – Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Kerstin Andreae, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Kerstin Andreae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003493, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Manche haben es schon gesagt: Über dieses Thema diskutieren wir wirklich schon sehr lange, fast über ein Jahrzehnt. Ich habe hier unzählige Reden zur steuerlichen Forschungsförderung gehalten und erinnere mich noch an die großen Aufschläge von Heinz Riesenhuber, der immer wieder versucht hat, in seiner Fraktion damit zu werben. Es war auch immer eine Auseinandersetzung gar nicht so sehr zwischen den Fraktionen, sondern auch innerhalb der Fraktionen, zwischen den Wirtschaftspolitikern und den Finanzpolitikern. Denn die Finanzpolitiker haben durchaus zu Recht gesagt: Es geht um den verantwortungsvollen Umgang mit Steuermitteln. – Das darf man nicht kleinreden; da haben sie recht. Die Wirtschaftspolitiker hingegen haben immer gesagt: Es geht um die Frage des Standortwettbewerbs und darum, Innovationen zu fördern. Inzwischen hat sich Gott sei Dank folgende Sichtweise durchgesetzt: Wenn wir eine dynamische Wirtschaftsstruktur haben wollen und diese fördern wollen und wenn wir diese Kreativität und diesen Freigeist, dieses junge Unternehmertun, das vorhanden ist, fördern wollen, dann brauchen wir auch Instrumente, die offen und frei sind. Deswegen eine steuerliche Forschungsförderung. Das ist am Ende – davon sind wir überzeugt – ein verantwortungsvoller Umgang mit Steuermitteln, weil damit die dynamische Wirtschaft in Deutschland vorangebracht wird. ({0}) Wir Grüne haben Ihnen schon vor Längerem einen Gesetzentwurf vorgelegt, der sich tatsächlich auf die kleinen und mittelständischen Unternehmen konzentriert. Wir finden auch nicht besonders gelungen, was jetzt hier aufgemacht wird, weil es doch wieder nur nach dem Prinzip Gießkanne erfolgt und nicht zielgenau gefördert wird. Trotzdem können wir sagen, dass mit einer steuerlichen Forschungsförderung jetzt auch viele Unternehmen erreicht werden könnten. Wir wissen, dass bei den innovationsaktiven Unternehmen 28 Prozent der Großunternehmen heute schon mit Fördermitteln bedacht werden, aber nur 16 Prozent der KMUs. Das heißt, da wollen wir noch mehr herangehen. ({1}) Aber was machen Sie jetzt? Sie machen einen ganz großen Fehler: Sie langen bei der Auftragsforschung nicht richtig zu. Wenn Start-ups – diese entstehen oft durch Ausgründungen aus Hochschulen – universitäre Forschungseinrichtungen, zum Beispiel ein Fraunhofer-Institut, beauftragen, dann kann die steuerliche Forschungsförderung nicht greifen, und dann gehen beide leer aus. Damit machen Sie den großen Fehler, dass Sie genau diese innovativen, hungrigen jungen Unternehmen, diese Start-ups, diese Ausgründungen, von der steuerlichen Forschungsförderung ausschließen. Das geht genau am Ziel, nämlich Innovationen anzureizen, vorbei. Lassen Sie diejenigen, die die Mittel brauchen und deren Kreativität wir brauchen, nicht leer ausgehen. Deswegen sagen wir: Ändern Sie etwas bei der Auftragsforschung! ({2}) Das sagen ja nicht nur wir. Auch die Bundesforschungsministerin Karliczek drängt auf eine Änderung der geplanten steuerlichen Forschungsförderung. Sie müsse auch die innovativen kleinen und mittleren Unternehmen erreichen, die zwar selber keine Forschungsabteilung haben, aber mit Hochschulen und Forschungseinrichtungen zusammenarbeiten. Wir bitten Sie wirklich, da noch einmal heranzugehen. Wenn dann das Argument kommt, dass das doch bedeuten könnte, dass Forschung nicht in Deutschland, sondern im europäischen Ausland gefördert wird, ({3}) kann ich nur sagen: Das ist der Grundgedanke des europäischen Binnenmarktes, das ist Europa. ({4}) Ich zitiere immer wieder gerne Richard Florida. Richard Florida hat sich die wettbewerbsstärksten Regionen Europas und der Welt angeschaut und sagt, es gibt drei Faktoren, die entscheidend sind: TTT. Sie sind nah dran. Talente fördern – das erste T. Sie fördern junge, kreative Denkerinnen und Denker, Forscherinnen und Forscher; sie fördern Kreativität. Technologien voranbringen, Kreativität, Innovationen – das ist das zweite T. Und das dritte T ist Toleranz. Ich sage Ihnen von der AfD: Das war ja eine nette Rede. Aber leider sind Sie Mitglied einer Partei, die nationalistisch und völkisch unterwegs ist. Damit vergiften Sie nicht nur das Klima in diesem Land, sondern Sie schaden definitiv und nachweisbar auch dem Standort Deutschland. „Weltoffenheit und Toleranz“ ist eben der dritte Punkt, um wettbewerbsfähig nach vorne zu gehen. Vielen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Andreae. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach bisheriger Planung ist das Sitzungsende heute 4.49 Uhr. Ich werde bei diesem Tagesordnungspunkt die Sitzungsleitung des Kollegen Oppermann übernehmen und etwas großzügig sein. Ab dem nächsten Tagesordnungspunkt werde ich sehr sorgfältig auf die Einhaltung der Redezeiten achten und weise darauf hin, dass ich eine einmalige Mahnung ausspreche und danach das Wort entziehen werde. Bei einem Ende von 4.49 Uhr kann man das sonst niemandem mehr als ordentliche Sitzung vermitteln. ({0}) Herr Kollege Binding, Sie haben als Nächster für die SPD-Fraktion das Wort. ({1})

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Sehr verehrte Damen und Herren auf den Tribünen! Vielleicht eine kurze Bemerkung zu Katja Hessel: Das Wort „Dornröschenschlaf“ ist halt kritisch; denn wir reden seit zehn Jahren darüber. Was war eigentlich zwischen 2009 und 2013? Da waren ja Leute an der Regierung, die uns jetzt Dornröschenschlaf vorwerfen. Das ist vielleicht ein sehr zwiespältiger Vorwurf. ({0}) Eine Bemerkung zu Petra Sitte: Berechtigungsnachweis? Offen gestanden, wollen wir den. Ohne Berechtigungsnachweis wollen wir nicht fördern; denn für die Förderungen kommen ja nicht wir, die wir hier unten sitzen, auf, sondern diejenigen, die da oben sitzen und Steuern zahlen. Wenn wir Geld ausreichen, brauchen wir von den Unternehmen einen Berechtigungsnachweis, und das ist sehr gut. Forschungsförderung ist in Deutschland ja schon sehr intensiv, speziell die Projektförderung. Davon profitieren die Universitäten, spezielle Fakultäten, außeruniversitäre Einrichtungen, die Helmholtz-Gemeinschaft, Max-Planck-Institute, Leibniz-Institute, Fraunhofer-Institute, Akademie-Institute. Sehr viele Einrichtungen profitieren von dieser starken Förderung. Wer nicht profitiert, sind die kleinen und mittleren Unternehmen. Diese tun sich nämlich schwer, die Antragsverfahren zu bewältigen. Deshalb suchen wir mit diesem Gesetzgebungsverfahren nach Wegen, unbürokratisch, einfach und rechtssicher kleine und mittlere Unternehmen zu fördern. Hierbei soll das vorliegende Gesetz helfen. Es orientiert sich nicht an Inhalten, sondern seriös am Frascati Manual, um zu definieren, was eigentlich gefördert wird. Damit haben wir eine relativ objektive Messlatte, um zu klären, was gefördert wird. Wir sagen auch, es soll einen Tax Credit geben. Das ist ein schöner englischer Begriff, bedeutet aber eigentlich nur „Zulage“. Diese Zulage wird auch im Verlustfall ausgezahlt; das war schon mehrfach Thema. Für Start-ups ist das essenziell, weil sie eine lange Verlustphase haben. Eine unbegrenzte Förderung auch im Verlustfall ist schon eine Liquiditätshilfe, die sich sehen lassen kann. Bettina Hagedorn hat darauf hingewiesen, ebenso Kollege Meister: Das ist eine dauerhafte Förderung, die sich sehen lassen kann. Gleichwohl ist sie europarechtskonform; denn es sind entsprechende Regeln einzuhalten. Das funktioniert mit dem vorliegenden Gesetz sehr gut. Es ist auch schön, dass die Auszahlung so ähnlich wie in Österreich nach dem Veranlagungszeitraum erfolgt, nicht einfach so ins Blaue. Es wird geschaut: Gibt es überhaupt eine Förderfähigkeit? – Wie sollten wir das ohne Förderfähigkeit sonst auszahlen? Wenn solche Sachen allerdings über mehrere Jahre gehen, dann kommt jährlich die Auszahlung, aber immer erst, wenn das Jahr vorbei ist. Das Verfahren ist zweistufig. Eine Stelle kontrolliert die Förderfähigkeit. Wenn die gegeben ist, gibt es eine Bescheinigung, mit der ich zum Finanzamt gehe und eine Auszahlung bekomme. Das ist sehr gut. Die Förderfähigkeit orientiert sich an Löhnen und Gehältern; auch das ist sehr gut. Übrigens werden auch Einzelunternehmer mit der Fiktion einer Lohnzahlung gefördert. Grundsätzlich werden alle forschenden Unternehmen gefördert, ob sie Auftraggeber sind oder nicht. Alle forschenden Unternehmen werden gefördert, und die, die nicht forschen, werden nicht gefördert. Da muss man genau unterscheiden, was hier passiert. Das ist schon sehr wichtig. Wir wollen natürlich keine Doppelförderung; das ist völlig klar. Das ist ein Grundsatz, der hier überall gilt: keine Doppelförderung. Wenn sich Auftraggeber und ein forschendes Unternehmen auf ein Projekt beziehen, dann bekommt nur einer die Förderung. Es wäre ja noch schöner, wenn man das gleiche Objekt zweimal fördern könnte. ({1}) Also, ich denke, auch die Bürger, die dort oben auf den Tribünen sitzen, würden sich nicht wünschen, dass ihre Steuergelder für den gleichen Zweck doppelt ausgegeben werden; das ist völlig klar. Insofern ist es sehr klug, zu sagen: Man orientiert sich an Löhnen und Gehältern, man begrenzt die förderungsfähige Bemessungsgrundlage auf 2 Millionen Euro, und die Unternehmen haben jährlich die Möglichkeit, 500 000 Euro zu bekommen. Eine super Förderung, ein gutes Gesetz; dem kann jeder zustimmen. Schönen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Binding. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Thomas de Maizière. ({0})

Dr. Thomas Maizière (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004105, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich in der Debatte vor allen Dingen an die Grünen und an die FDP wenden mit dem Ziel, dass wir vielleicht am Ende ein gemeinsames Ergebnis hinbekommen. Das Gesetz ist jetzt da; das ist ein gutes Gesetz. Sie haben in der letzten Debatte, als Sie ein Gesetz vorgelegt haben, befürchtet, es kommt von uns nie ein Gesetz. Wir haben gesagt: Es kommt eines. – Jetzt ist es da. Da lagen wir schon mal richtig; Sie lagen falsch. Das ist der erste Aspekt. ({0}) Zweitens. Drei Punkte sind debattiert worden. Zu denen will ich etwas sagen. Erster Punkt: Mittelstandskomponente oder alle Unternehmen? Das war ein wichtiges Thema. Unsere Position ist: Wir wollen eine mittelstandsfreundliche Regelung – die haben wir –, aber wir wollen keine Unternehmen ausschließen. Das ist auch ein Argument zum Bürokratieabbau. Denn wenn wir sagen würden: „Wir berücksichtigen nur kleine und mittlere Unternehmen“, dann ahne ich ja schon, dass große Unternehmen Folgendes machen: Die zerlegen ihre Forschungsabteilungen, nur damit sie das Geld bekommen. – Das wollen wir nicht. Also: Alle Unternehmen werden gefördert, aber der Mittelstand bekommt eine höhere Förderung. Das ist gut und richtig und überzeugt vielleicht auch die Grünen. ({1}) Zweiter Punkt: Auftragsforschung. Frau Hessel, da will ich mich erst mal auf Herrn Binding beziehen. Er hat völlig recht: Jeder, der selbst forscht, bekommt diese Zulage. – Wie hoch der Anteil der Auftragsforschung im Verhältnis zu denen ist, die selbst forschen, ist umstritten; jedenfalls ist es ein kleinerer Anteil. Trotzdem sage für die CDU/CSU-Fraktion: Das Gesetz ist ein Kompromiss, Frau Hagedorn und Herr Meister. Wir wünschen uns, dass wir unseren Koalitionspartner noch davon überzeugen können, statt der Förderung des Auftragnehmers den Auftraggeber als Objekt der steuerlichen Forschungsförderung einzusetzen. ({2}) Die Argumente sind von Ihnen vorgetragen worden. Gerade wenn ein kleiner oder mittelständischer Unternehmer, der selber keine Forschungsabteilung hat, ({3}) dem Fraunhofer-Institut einen Auftrag erteilt, ist das gut und schön. Das Ergebnis ist auch gut. Aber keiner wird gefördert. Da gibt es keine Doppelförderung, sondern keiner wird gefördert. ({4}) Der eine, weil er nicht Gegenstand der Förderung ist, und der andere, weil er sowieso keine Steuern zahlt oder steuerbegünstigt ist. Ich hoffe, wir bekommen es noch hin, die SPD davon zu überzeugen, dass der Auftraggeber der Begünstigte sein soll. Dann sind die FDP und die Grünen wieder mit dabei. ({5}) Dritter Punkt – der ist mir eigentlich mit der wichtigste, weil er so unterschätzt wird –: die bescheinigende Stelle. Ich war ursprünglich der Auffassung, zu sagen: Da wird gar nichts bescheinigt, und hinterher prüfen die Finanzämter, ob das Forschung war oder nicht. – Das Gegenargument war: Das ist aber überhaupt nicht rechtssicher. – Die Finanzämter sagen: Wir sind gut, aber wir können nicht beurteilen, was Forschung ist. – Gutes Argument. Deswegen braucht man eine Stelle, die vorher prüft, ob das Forschung ist oder nicht. Wenn das aber so kompliziert wie bei der Projektförderung ist, dann können wir das Gesetz vergessen. Wenn es dagegen nur ein Abhaken ist, dann haben wir Mitnahmeeffekte und Missbrauch. Deswegen brauchen wir eine Stelle – oder mehrere; übrigens dann auch eine in den ostdeutschen Ländern –, ({6}) die das schlank, schnell und rechtssicher prüft. Das ist ehrlicherweise leicht gesagt, aber nicht so leicht gemacht. Nun haben Sie kritisiert: Das steht nicht im Gesetz. – Es ist auch richtig, dass das nicht im Gesetz steht; denn darin steht eine Verordnungsermächtigung. Die Details gehören gar nicht in ein Gesetz, sondern in eine Verordnung der Bundesregierung. Ich kann hier – das habe ich im Ausschuss auch gesagt – für meine Fraktion sagen: Wir werden dem Gesetz nur und erst dann zustimmen, wenn der Text der Verordnung so vorliegt, dass wir überprüfen können, ob das Verfahren der Bescheinigung, ob das Forschung ist, ja oder nein, drei Kriterien genügt: schnell, schlank und rechtssicher. Dann können Sie ja vielleicht auch zustimmen. ({7}) Kurzum: Wenn das gelingt, dann wäre es gut, wir würden dieses Gesetz einvernehmlich verabschieden. Wenn die Grünen und die FDP aus Gründen der Gesichtswahrung sich enthalten, soll es mir recht sein. Aber wenn wir im Ergebnis etwas für den Forschungsstandort Deutschland hinbekommen, ohne neue Bürokratie aufzubauen, dann würden wir gemeinsam für unser Land etwas Gutes tun. Vielen Dank. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege de Maizière. – Als Nächster spricht zu uns der Kollege Hans Michelbach, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der heutige Tag ist für mich ein Tag besonderer Freude; denn als Vorsitzender der Mittelstandsunion habe ich viele Jahre dafür gekämpft, dass wir auch in Deutschland eine steuerliche Forschungsförderung für Unternehmen, insbesondere für mittelständische Unternehmen, einführen. Heute nun beginnt sich dieser Wunsch zu erfüllen. Meine Bitte ist, dass wir diesen Wunsch hier nicht wieder zerreden, wie das schon oft der Fall war. Deutschland ist einer der wenigen OECD-Staaten, die bisher „nur“ – in Anführungszeichen – eine Projektförderung kennen, die aber gerade für innovative, mittelständische Unternehmen allzu häufig zu bürokratisch und untauglich war. ({0}) Das führt auch dazu, dass wir in der staatlichen Forschungsförderung gemessen am Bruttoinlandsprodukt gegenüber anderen Industriestaaten noch einen Nachholbedarf haben. Meine Damen und Herren, wir müssen Forschung in Deutschland weiter anreizen. Wir dürfen keine Innovationspotenziale verschenken. Das muss die Botschaft und das muss das Ziel sein, meine Damen und Herren. ({1}) Gerade als exportstarkes Land brauchen wir Forschung und Entwicklung, wenn wir dauerhaft Erfolg haben wollen. Im Übrigen: Auch Klimaschutz kann nur durch technologische Innovationen und marktwirtschaftliche Instrumente erfolgreich gestaltet werden. ({2}) Wir benötigen Forschung in der Privatwirtschaft. Ich bin einmal gespannt, ob die Grünen diesem Gesetzentwurf zustimmen; da können sie den Lackmustest machen. Die Einführung einer steuerlichen Forschungsförderung in Ergänzung zur bewährten Projektförderung ist eine wichtige Maßnahme zur Förderung der Attraktivität unsers Wirtschaftsstandortes Deutschland und seiner Arbeitsplätze. Sie wird auch dazu beitragen, bis 2025 den Anteil der F-und-E-Ausgaben auf mehr als 3,5 Prozent des BIP zu steigern. Wenn dann noch die EU-Förderungen dazukommen, dann können wir innovativ die Zukunft gewinnen, meine Damen und Herren. ({3}) Es ist auch für uns sehr wichtig und im Interesse der kleinen Unternehmen, einen möglichst leichten Zugang zur Förderung zu gewähren. Der Kollege Dr. Thomas de Maizière hat gesagt, was hier klare Zielvorstellungen sind. Wir brauchen natürlich die Verordnung, um zu prüfen, ob wir diesem Anspruch gerecht werden. Wir werden darauf achten, dass dieses Gesetz nicht in Kraft tritt, bevor wir wissen, wie das läuft. Das sind wir den Mittelständlern schuldig. Deshalb begrüße ich, dass der heute vorliegende Gesetzentwurf keine Begrenzung der Unternehmensgröße bei der Förderung vorsieht. Eine solche Begrenzung brächte mehr Bürokratie und würde sehr viele F-und-E-Investitionen von der Förderung ausschließen. Das wäre aber das Gegenteil dessen, was wir als Ziel erreichen wollen. Wir wollen wachstumsfreundliche Instrumente schaffen, Innovations- und Investitionsentscheidungen verbessern, international wettbewerbsfähige Rahmenbedingungen schaffen, Start-ups fördern, Neuansiedlungen anreizen. Das ist das Ziel, und wir können hier ganz klar sagen: Es ist richtig, dass keine Unternehmen ausgegrenzt werden. Mittelstandsunternehmen sind in vielen Branchen in ihrer Größenordnung völlig unterschiedlich. Bei einer Grenzziehung gibt es immer Branchen, wo Mittelstand nicht Mittelstand ist und Großunternehmen nicht Großunternehmen sind, sondern Mittelständler. Diesen Weg müssen wir gemeinsam beschreiten. Deswegen ist dieser Gesetzentwurf ein guter Ansatz. Ich hoffe, dass wir eine möglichst breite Unterstützung bekommen. Herzlichen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Michelbach. Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/10940 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das sehe ich nicht. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Thomas L. Kemmerich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004775, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Gäste! Liebe Zuhörer, digital oder analog! Heute vor 30 Jahren schnitten der österreichische und ungarische Außenminister ein großes Loch in die Mauer, die uns lange getrennt hat. Mit diesem Niederreißen von Reglementierungen, von Grenzen haben sie einen Aufschwung begründet, der für viele Menschen neuen Wohlstand, neue Chancen, ein neues Leben ermöglicht hat und auf den wir heute stolz sein können. Ich muss nicht betonen, dass die neuen Länder für uns ein großer Gewinn waren und nach wie vor ein großes Potenzial für Menschen, Land und die Zukunft bergen. ({0}) Aber Fakt ist, dass nach 30 Jahren die Wirtschaft in Ostdeutschland immer noch hinterherhinkt. Ursache: nicht ausreichende Wirtschaftsstruktur in der Breite. Das führt dazu, dass viele Menschen dort den Glauben an das Aufstiegsversprechen durch Bildung, wirtschaftliches Umfeld und eine funktionierende Infrastruktur verloren haben. Deshalb schlagen wir vor, dass wir genau diese Mauern, die heute nicht mehr aus Beton bestehen, sondern – für die Wirtschaft – aus Gesetzen und Bürokratie, die dieses Haus ohne Ende produziert, produziert hat und weiterhin produziert, niederreißen. Deshalb schlagen wir vor: Freiheitszonen für die ostdeutschen Länder. ({1}) Wir schlagen bessere Rahmenbedingungen für Unternehmensgründungen und Existenzgründungen vor. Auch bei der Übernahme von Unternehmen gibt es heute eine große Belastung. Es besteht nicht mehr der Bestandsschutz, den die Alteigentümer hatten; vielmehr werden Neueigentümer mit der kompletten Keule des Gesetzes konfrontiert, mit unsinnigen Aufgaben wie zum Beispiel Fensterpflicht in Toiletten und Teeküchen. Wir brauchen Starterzentren. Der Unternehmer darf keine Angst haben, dass er sich mit einer Gründung aufs Glatteis, in eine Grauzone begibt. Wir brauchen Digital Hubs. Es gibt zwölf in Deutschland, nur zwei in Ostdeutschland, und zwar in Potsdam und Leipzig. Das ist zu wenig. Erstens. Petitesse: Auf eine Steuernummer warten Existenzgründer Monate, teilweise Jahre. Ich selber habe ein Unternehmen gegründet. Es hat neun Monate gedauert, bis ich eine Steuernummer bekommen habe, aber die Androhung von Strafzahlungen kam nach sechs Wochen. Wir müssen Lehre, Ausbildung, Handwerk und Gewerbe neu ausrichten. Es muss Freude machen, erst eine Ausbildung zu machen und dann das Studium zu beginnen. Wir brauchen mehr Meister statt Master; auch hierfür brauchen wir Geld. Wir müssen Meisterprämien haben. Die akademische Ausbildung muss das Privileg verlieren, als einzige ohne große Kosten einen Zugang zu bieten. ({2}) Zweitens. Das Hochschulwesen muss verbessert werden. Ich fasse zusammen wegen der Kürze der Zeit: Wir müssen uns nach Silicon Valley orientieren und nicht Biosphärenreservate schaffen und einen Wohlfühlpark errichten. Wir brauchen wirtschaftlich prosperierende Landschaften und keine, die nur schön aussehen. Wir müssen die Bluecard-Regeln verbessern. Wir können sie in Ostdeutschland gut gebrauchen, um gerade das große Problem der Fachkräfte zu lösen, die uns dort an allen Ecken und Enden fehlen. Drittens brauchen wir eine moderne Infrastruktur. Deshalb müssen wir uns bei Bau- und Genehmigungsverfahren und erst recht beim Vergabeverfahren darauf konzentrieren, was wichtig ist, nämlich das Projekt und die Belange des Mittelständlers, der nicht mehr mitmacht, weil das Vergabeverfahren so kompliziert und ablehnend ist. Andere Regionen haben uns das vorgemacht. Liebe Freunde aus Bayern, bei Ihnen galt einmal nur das Wort „Lederhose“. Leute vor uns haben daraus „Laptop und Lederhose“ gemacht. Ich wünsche mir für Ostdeutschland – ich komme aus Thüringen; Sie erlauben mir das – „Breitband und Bratwurst“, damit wir endlich vorankommen und nicht weiter hinterherhängen. ({3}) Wir brauchen keine sozialpolitischen Almosen. Rente mit 63 ist kontraproduktiv. Wir brauchen klare Hilfe zur Selbsthilfe. Die Menschen in Ostdeutschland haben es nicht nötig, sie wollen und können sich selber helfen. Das haben sie verdient. Lassen Sie uns endlich 30 Jahre nach der Wende, nach dem Aufbruch, den wir heute feiern können, damit anfangen, einen neuen Aufbruch zu initialisieren. Wir brauchen neuen Schwung für Ostdeutschland, mehr Freiheit und mehr Freiheit für die Wirtschaft. Vielen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Kemmerich. – Als Nächstes spricht zu uns der Parlamentarische Staatssekretär Christian Hirte. ({0})

Christian Hirte (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003890

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren, Kollegen und Gäste! Ich glaube, es ist gut, dass wir ausgerechnet heute zweimal über die Situation im Osten Deutschlands sprechen. Heute Mittag in der Debatte zum Thema Treuhand ist klar geworden, dass einige versuchen, den Transformationsprozess der letzten 30 Jahre in ein schräges Licht zu rücken und zu verschleiern, dass eigentlich eine großartige Aufholgeschichte der letzten 30 Jahre hinter uns liegt. Kollege Kemmerich hat gerade richtigerweise darauf hingewiesen, dass genau heute vor 30 Jahren der Eiserne Vorhang zwischen Ost- und Westeuropa an der ungarischen Grenze aufgemacht, aufgeschnitten wurde. Ich glaube, das zeigt uns, dass die Entwicklung der letzten 30 Jahre insgesamt eine positive war. Das sieht man nicht nur an der Überwindung der Teilung, der Überwindung der Unfreiheit und dem Zusammenwachsen des Kontinentes, sondern auch und vor allem an den gewaltigen Wohlstandsgewinnen in Ostdeutschland wie auch in Osteuropa. ({0}) Deshalb ist es mir wichtig, zu sagen: Es ist gut, dass wir die Welt, wie sie bis 1989 bestanden hat, überwunden haben. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Geschichte der Transformation, auf die wir in unserem Land zurückschauen, eben keine Geschichte des Niedergangs ist, wie manche versuchen zu insinuieren, sondern im Gegenteil eine Geschichte von großen Erfolgen, auf die wir mit Hoffnung und auch ein Stück weit mit Selbstbewusstsein aufgrund unserer eigene Geschichte der Transformation in den letzten 30 Jahren in Ostdeutschland zurückschauen können. ({1}) Gerade der Mittelstand hat viel investiert, er hat neue Produkte geschaffen, er verfügt heute über zukunftsfähige und zukunftsweisende Technologien und eine hohe Wettbewerbsfähigkeit. Er ist die breite Basis einer sich weiterhin dynamisch entwickelnden ostdeutschen Wirtschaft. Hier von „Bedrohung“ oder gar von „Krise“ zu sprechen, ist da schon etwas neben der Mütze. Wir werden deshalb, meine sehr geehrten Damen und Herren von der Serviceopposition, unsere gute Mittelstandspolitik auch und gerade für die neuen Länder fortsetzen. So hat der Koalitionsausschuss vor wenigen Wochen auf den Weg gebracht, dass wir 1 Milliarde Euro im Rahmen der Bürokratieentlastung mobilisieren. Wir haben bereits mit dem Familienentlastungsgesetz 10 Milliarden Euro für die Bürger in unserem Land freigesetzt. Wir haben – darüber haben wir gerade diskutiert – die steuerliche Forschungsförderung auf den Weg gebracht. Nicht zuletzt nutzt das vor allem den kleinen und mittelständischen Unternehmen. Schließlich haben wir vor wenigen Wochen mit einem Riesenmigrationspaket das Fachkräftezuwanderungsgesetz auf den Weg gebracht; denn eines der entscheidenden und wichtigsten Wachstumshemmnisse für unser ganzes Land, vor allem für Ostdeutschland, ist der Mangel an guten Facharbeitskräften. Ich glaube, wir sind weiterhin auf einem guten Weg, insbesondere dem Mittelstand im Osten, aber auch im ganzen Land zu helfen. Das gilt im Übrigen auch für die von Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier auf den Weg gebrachte Gründungsoffensive, die motivieren und begleiten soll, wenn man sich mit Engagement bereit macht, in die Selbstständigkeit aufzubrechen oder ein bestehendes Unternehmen zu übernehmen. Dabei geht es im Übrigen nicht nur um digitale Start-ups oder um Hightech, sondern auch um Gründungen und Übernahmen in ganz regulären Wirtschaftsbereichen, etwa im Bereich der Dienstleistungen, des Handwerks, der gewerblichen Wirtschaft oder der freien Berufe. Hinzu kommt: Wir werden unsere umfangreiche Förderpolitik auch und vor allem für die neuen Bundesländer in den nächsten Jahren fortsetzen. Die Bundesregierung hat dafür gesorgt, dass die Unterstützung der neuen Bundesländer auf einem hohen Niveau fortgeführt wird, etwa indem wir uns als Bund im nächsten Jahr in der Nachfolge des Solidarpaktes II im Rahmen der Bund-Länder-Finanzierung mit einem hohen Bundesanteil von über 10 Milliarden Euro engagieren, damit kein Land schlechtergestellt wird. Im Gegenteil: Die Länder werden sogar finanziell besser ausgestattet. ({2}) Wir werden ab dem nächsten Jahr ein gesamtdeutsches Förderinstrumentarium haben. Auf der einen Seite ist klar, dass die besonders strukturschwachen Regionen des Ostens besonders davon profitieren werden. Aber ich halte es auf der anderen Seite für völlig richtig und notwendig, 30 Jahre nach der deutschen Einheit im nächsten Jahr nicht mehr zwischen Ost und West zu unterscheiden, sondern danach, ob und wo es besonderen Förderbedarf gibt. ({3}) Daneben entwickeln wir die Gemeinschaftsaufgabe zur regionalen Wirtschaftsförderung stetig weiter, und zwar hin zu einem Innovations- und Zukunftsförderin­strument mit immerhin 1,2 Milliarden Euro, die vor allem Ostdeutschland in besonderer Weise zugutekommen. Wir stellen sicher, dass Regionen mit Förderbedarf, vor allem auch im Osten, besser gefördert werden. Dabei, Herr Kollege Kemmerich, können wir uns Abweichungen von üblichen bundesgesetzlichen Vorschriften vorstellen, ({4}) etwa im Rahmen von Reallaboren oder im Rahmen von konkreten Projekten, zum Beispiel bei planungsrechtlichen Vorhaben. Reallabore sind Testräume für Innovation und Regulierung. In ihnen können innovative Technologien und Geschäftsmodelle in einem zeitlich befristeten, geografisch abgegrenzten Raum ergebnisoffen ausprobiert werden. Reallabore sind also ein Instrument für vielzählige Innovationsbereiche, zum Beispiel: moderne Mobilität, Logistik, Energiewende, E‑Government, Sharing Economy, digitale Plattformen, E‑Health und innovative Binnenschifffahrt, um nur einige zu nennen. ({5}) Sie sehen also: Wir bereiten das Thema mit neuen Möglichkeiten vor. Wir bringen Reallabore voran und wollen diese im Wettbewerb mit aktiver Begleitung unterstützen. Deswegen darf ich Ihnen sagen: Die Bundesregierung hat die Probleme nicht nur erkannt, sondern sie bietet ganz praktische Lösungen an. ({6}) Wir helfen unter anderem mit Reallaboren durch Flexibilität, die wirtschaftliche Entwicklung des Mittelstandes in den neuen Ländern künftig noch besser zu unterstützen. Vielen Dank. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Enrico Komning, AfD-Fraktion. ({0})

Enrico Komning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004787, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Lieber Kollege Kemmerich, ich freue mich, dass nun auch die FDP entdeckt hat, dass der Osten Deutschlands Sonderwirtschaftszonen braucht. Davon reden wir seit Anfang der Legislatur. Sie freilich nennen das jetzt „Freiheitszonen“. Nun, egal wie man es nennt: Der Ansatz ist richtig, wenngleich hier zu einseitig. Ein erfolgreicher Aufschwung Ost braucht neben Wirtschaftsförderung eine gute Infrastruktur. Beides zusammen ergibt eine erfolgreiche Symbiose oder deren Fehlen einen Teufelskreis. Diesen erleben wir vor allem in Vorpommern, in der Uckermark, im östlichen Mecklenburg oder auch in der Prignitz und der Altmark. Infrastruktur wird abgebaut. Deswegen hauen die Menschen dort ab. Jobs fallen weg, und infolgedessen wird noch mehr Infrastruktur abgebaut. Die Landstriche vergreisen immer mehr und werden immer leerer. Dieser Teufelskreis muss durchbrochen werden. ({0}) Deswegen reden wir nicht von Freiheitszonen, sondern umfassender von Strukturentwicklungsgebieten. Dazu ein paar etwas konkretere Vorschläge. Erstens. Wir müssen zunächst einmal Strukturentwicklungsgebiete definieren und benennen. Dabei muss unterschieden werden zwischen solchen Räumen, die einem Strukturwandel unterliegen, und solchen, in denen Strukturen überhaupt erst wieder geschaffen werden müssen. Zweitens. Da mit dieser Bundesregierung der flächendeckende Ausbau digitaler Infrastrukturen in ganz Deutschland ja eh nicht klappt – und schon gar nicht in einem überschaubaren Zeitfenster –, muss der Staat jetzt und selbst sofort für den Ausbau in den zu benennenden Strukturentwicklungsgebieten sorgen: flächendeckendes Breitband und Mobilfunk. Dabei will ich von 5G gar nicht anfangen; flächendeckender LTE-Standard wäre schon prima. Der Staat muss hier in Vorleistung gehen, ohne Verzug, ohne Ausschreibung und ohne weiteres Gedöns. Wir brauchen, liebe Kollegen von der FDP, nicht über Blockchain-Finanzierung und von Start-ups in Freiheitszonen zu sprechen, wenn es dort schon an der grundlegenden digitalen Infrastruktur mangelt. Drittens. Finanzierung von Unternehmensgründungen ist natürlich ein Thema. Das staatliche Engagement im Bereich von Venturecapital gerade auch über die neu gegründete KfW Capital muss über das gegenwärtige Maß hinaus deutlich ausgebaut werden. Billige Kredite sind heute kein Thema mehr, Vertrauen in Unternehmensgründer zu setzen, hingegen schon. Viertens. Fördermittel müssen auf Strukturentwicklungsgebiete konzentriert und in den ohnehin schon starken Metropolregionen zurückgefahren werden. ({1}) Fünftens. Wir brauchen keine projektorientierte Zusammenarbeit von Verwaltung und Unternehmen, nicht noch einen Debattierklub. Wir brauchen schlichte Entbürokratisierung. ({2}) Das heißt Abschaffung von Dokumentationspflichten etwa beim Mindestlohn, Abschaffung von Umweltauflagen wie Ausgleichsmaßnahmen und Flexibilisierung von Flächennutzungs- und Bebauungsplänen in den Strukturentwicklungsgebieten zur Herstellung von Baufreiheit und Beschleunigung von Baumaßnahmen. Sechstens. Wir müssen die Möglichkeiten dezentraler Arbeit besser nutzen. Homeoffice-Arbeitsplätze oder dezentrale Business Center bieten die Chance, in Dörfern und Kleinstädten Arbeitsplätze entstehen zu lassen, ohne eine Unternehmensniederlassung erforderlich zu machen. Andererseits können Unternehmen ganz andere Fachkräftepotenziale erschließen, wenn sie nämlich nicht mehr auf die unmittelbare Umgebung angewiesen sind. Dazu bedarf es Anpassungen des Arbeitsrechts, einer größtmöglichen Flexibilisierung der Arbeitszeiten sowie neu zugeschnittener Arbeitsschutzpflichten. Und schließlich siebtens. Man könnte in solchen Strukturentwicklungsgebieten tatsächlich ausprobieren, was passiert, wenn man aus dem Steuererhöhungswettbewerb einfach mal ausbricht, was passiert, wenn man Unternehmen, Grundeigentümern und Mietern die Grundsteuer erspart, wenn man die Erhebung von Erbschaftsteuern beim Unternehmensübergang einfach mal weglässt. Ich würde es ausprobieren. Liebe Kollegen von der FDP, Ihr Antrag geht in die richtige Richtung. Gerne arbeiten wir hier mit Ihnen zusammen. Denn eines werden wir nicht akzeptieren: die Aufgabe des Ostens, die Aufgabe der abgehängten strukturschwachen Räume. Vielen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächster Redner hat für die SPD-Fraktion der Kollege Frank Junge das Wort. ({0})

Frank Junge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004317, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Fraktion der FDP, fast 30 Jahre nach der deutschen Einheit entdecken Sie jetzt mit diesem Antrag den Osten. ({0}) Derartiges habe ich bisher noch nicht wahrgenommen, auch nicht, als Sie in Regierungsverantwortung gestanden haben. Entschuldigen Sie bitte, da drängt sich mir der Eindruck auf, dass Ihr Antrag dann vielleicht doch eher was mit den bevorstehenden Landtagswahlen in den neuen Bundesländern zu tun hat ({1}) als mit den Belangen der neuen Länder an sich. ({2}) Wie auch immer: Vielen Dank für den Antrag! Am Ende haben wir Gelegenheit, über die Wirtschaft im Osten zu sprechen. Da will ich zunächst herausstellen, dass bei der Beschreibung der Wirtschaftslage im Osten wichtig ist, mehrere Indikatoren und Parameter zu betrachten, und dass es nicht nur darauf ankommt, handverlesen ein oder zwei herauszugreifen. Macht man das, stellt man fest: Die Entwicklung von Beschäftigung, Investitionen, Bruttoinlandsprodukt und Löhnen belegt, dass es im Osten vorangeht. ({3}) Herr Hirte hat einiges dazu ausgeführt. Wir haben die niedrigste Arbeitslosigkeit seit der Wende. Das Pro-Kopf-Einkommen hat sich verdoppelt, und die Produktivität hat sich sogar um das Vierfache erhöht. Natürlich gibt es im Prozess der Angleichung der Lebensverhältnisse von Ost und West unglaublich viel zu tun; das wissen wir Ossis alle, die wir unsere Wahlkreise in den neuen Ländern haben. Jetzt jedoch Freiheitszonen zu schaffen, um, wie Sie sagen, an dieser Stelle dafür zu sorgen, bundesrechtliche Regulierungen und Vorschriften zu lockern, zu beseitigen sowie landesrechtliche Ausnahmen zuzulassen und damit unnötige bürokratische Hemmnisse für die Erleichterung von Unternehmensgründungen abzuschaffen, bedeutet nach meiner Auffassung im Kern nichts anderes, als der Verschlechterung von Arbeitsbedingungen Tür und Tor zu öffnen. Das muss man an dieser Stelle ganz klar sagen. Solche Wirtschaftszonen, wie Sie sie wollen, führen nicht nur zu Abgrenzungs- und Wettbewerbsproblemen zwischen den Regionen; sie sind auch EU-rechtlich problematisch. Sie sprengen das Steuer- und Rechtssystem, das wir haben, und sie stehen vor allen Dingen etwaigen tarif- und arbeitsrechtlichen Aspekten entgegen. Dabei haben wir solche Experimente nicht nötig; darauf will ich auch hinweisen. ({4}) Denn Deutschland hat bereits eine hervorragende Förderkulisse im Wirtschaftsstandort, um benachteiligten Regionen zu helfen. Eine der wertvollsten ist – das will ich hier nennen – die Gemeinschaftsaufgabe zur regionalen Wirtschaftsstruktur, mit der jährlich etwa 660 Millionen Euro zur Verfügung stehen. Alleine von 2012 bis 2017 sind damit 5 Milliarden Euro geflossen, und damit ist ein Investitionsvolumen von 30 Milliarden Euro angeschoben worden. Damit schaffen wir Voraussetzungen für Unternehmen. Damit investieren wir in Infrastruktur. Lieber Thomas Kemmerich, all die Punkte, die du angesprochen hast, lassen sich auch ohne Freiheitszonen mit solchen Kulissen auf den Weg bringen. ({5}) 80 Prozent der Mittel aus der GRW sind in die neuen Länder gegangen. Das ist in dieser Hinsicht also eine Erfolgsgeschichte. Lassen Sie mich auch sagen: Im Übrigen ist das genau die Kulisse, liebe FDP, bei der Sie im Jahr 2018 in den Haushaltsberatungen noch 100 Millionen Euro kürzen wollten. Also, da passt einiges aus meiner Sicht nicht zusammen. ({6}) Abschließend will ich sagen: Wer es wirklich damit ernst meint, den Wirtschaftsstandort in den neuen Ländern weiter auszubauen, der sorgt dafür, dass unter anderem die GRW bei der Überführung in dieses gesamtdeutsche neue Fördersystem an dieser Stelle nicht hinten runterfällt und wir mindestens die gleiche Wirkung behalten, wie wir sie gegenwärtig haben. Vielen Dank. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Müller-Rosentritt?

Frank Junge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004317, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte. Gerne.

Frank Müller-Rosentritt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004834, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Kollege, mich hat ein Argument sehr betroffen gemacht: dass Sie uns vorwerfen, dass wir erst heute irgendwie den Osten entdecken. Das finde ich ziemlich traurig. Erstens. Wenn es damals nach Ihrer Partei gegangen wäre, wäre ich heute, aus Ostdeutschland kommend, nicht in diesem Parlament, weil Lafontaine damals eine ganz andere Vorstellung von Deutschland hatte. ({0}) Das darf man betonen. Zweitens. Schon Hans-Dietrich Genscher hat diese Forderung vor ganz vielen Jahren gestellt. Deshalb möchte ich Sie einfach mal fragen, wie Sie dazu stehen – zu Ihrem Vorwurf.

Frank Junge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004317, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Anträge, in denen die FDP sich für die Belange des Ostens eingesetzt hat, lassen sich – das kann man nachlesen – wirklich sehr überschaubar darstellen. Mir ist in dieser Legislatur kein weiterer Antrag bekannt. Vor dem Hintergrund baut meine Aussage genau darauf auf. Der Zusammenhang mit den Wahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg – sie stehen vor der Tür – ist offensichtlich. ({0}) Vor diesem Hintergrund erschließt sich mir die Parallele, die ich hier gezogen habe. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Oh, Sie waren schon fertig. Das ist natürlich erfreulich, ({0}) weil wir auf diese Weise 30 Sekunden eingespart haben. Der nächste Redner ist der Kollege Thomas Lutze von der Fraktion Die Linke. ({1})

Thomas Lutze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004103, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, es ist so: Es stehen drei Landtagswahlen in Ostdeutschland an, und die FDP entdeckt in der Tat ihr Herz für den Osten. Herzlich willkommen im Klub! Wir begrüßen außerordentlich, dass Sie sich auch darüber jetzt hier im Parlament Gedanken machen. Die FDP konzentriert sich auf Unternehmensgründungen und auf Start-ups. Das Problem: Die Instrumente, die sie vorschlägt, sind alter Wein in neuen Schläuchen: Bürokratieabbau in Sonderwirtschaftszonen und Unterstützung von Unternehmensgründungen in Ballungszentren, das klingt alles fast irgendwie modern, hat leider nur zahlreiche Risiken und Nebenwirkungen. Zum attraktiv klingenden Begriff des Bürokratieabbaus: Es ist im FDP-Antrag vollkommen unklar, welche bürokratischen Hürden konkret wegfallen sollen. Es wird davon gesprochen, dass für neu zu gründende Unternehmen die Möglichkeit geschaffen wird, ein bürokratiefreies Jahr zu bekommen. Heißt das dann konkret, dass dieses Unternehmen keine Steuererklärung mehr machen muss, obwohl es möglicherweise Geld verdient hat? ({0}) Beim Bürokratieabbau hat die FDP einseitig die Unternehmen im Auge; das liegt vielleicht in der Natur der Sache. Was ist aber mit den Menschen, die zum Amt gehen müssen, um Unterstützung zu beantragen? Sie müssen nach wie vor immense bürokratische Hürden nehmen, um zum Beispiel überhaupt Grundsicherung zu bekommen. Zugespitzt gefragt: Wann bekommen eigentlich Hartz-IV-Beziehende ein bürokratiefreies Jahr, liebe Kolleginnen und Kollegen? ({1}) Zum Thema „Unterstützung von Gründungen“: In Ostdeutschland haben sich die Zentren mit Universitäten sehr positiv entwickelt; aber in strukturschwachen Regionen und auf dem flachen Land sieht die Welt ganz anders aus. Natürlich ist es gut, wenn es erfolgreiche Gründungen gibt. Aber was an Universitätsstandorten passt, funktioniert in der Regel anderswo weniger. Und es ist auch keine Lösung für die Probleme zum Beispiel in den Braunkohleregionen, wie es die FDP suggeriert. Strukturmaßnahmen dort müssen zukünftig viel eher geplant werden, damit die Leute vor Ort eine sichere Zukunft haben, um auch von ihrer Arbeit ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Dazu brauchen wir Neuansiedlungen auch von Industrieunternehmen und vor allen Dingen eine staatlich geförderte Einkommenssicherung. ({2}) Zum Thema „Open Government und digitale Verwaltung“, also „vereinfachter Zugang zu Verwaltungsprozessen und Verwaltungsdaten“: Auch das hört sich gut an, setzt aber eben auch eine gute Internetanbindung bis zur letzten Milchkanne voraus. ({3}) Im Osten wie auch in vielen Regionen in Westdeutschland zeigen sich in der Fläche immer noch große Lücken beim Breitbandausbau. Nach dem FDP-Konzept würden sich die Unternehmen dort ansiedeln, wo die Infrastruktur stimmt. Ergo, viele Regionen in den Flächen bleiben abgehängt. ({4}) Leider fordern Sie in Ihrem Antrag nur, dass sich die Genehmigungsverfahren für den Breitbandausbau verbessern. Notwendig ist aber eine großangelegte Investitionskampagne des Bundes, damit wir wenigstens europäisches Mittelmaß erreichen. Nächster Punkt. Die Anforderungen bei öffentlichen Ausschreibungen zu reduzieren und vergabefremde Kriterien zu minimieren, auch das klingt nach Vereinfachung. Aber haben Sie das wirklich zu Ende gedacht? Aus unserer Sicht muss der sorgsame Umgang mit öffentlichen Geldern auf jeden Fall garantiert werden. Hier sind klare Regeln bei den Ausschreibungen erforderlich. Das garantiert übrigens auch Wettbewerbsgerechtigkeit. Die sollte ja gerade bei der FDP hoch im Kurs stehen. ({5}) Richtig wäre ein Vorschlag zur Förderung von Wagniskapitalfonds für Start-ups. ({6}) Sie fordern lediglich eine regional und bedarfsorientierte Gründerförderung. Das ist uns zu wenig. Die Linke unterstützt die staatliche Förderung von Innovationsclustern und Innovationsökosystemen, wie sie auch Herr Altmaier in seiner Industriestrategie will. Liebe Kolleginnen und Kollegen – letzter Satz; das Zeichen kommt –, wenn „Bürokratieabbau“ meint, dass Unternehmen pauschal weniger Steuern in die öffentlichen Kassen zahlen müssen, dann werden wir nicht mitmachen. Auch Start-up-Unternehmerinnen und ‑Unternehmer brauchen Kindergärten, Krankenhäuser und einen funktionsfähigen ÖPNV, und dieser muss bezahlt werden. Vielen Dank. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Claudia Müller, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Claudia Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004830, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Das Bemühen, die Gründerszene in Ostdeutschland stärker in den Blick zu nehmen, ist grundsätzlich lobenswert. Aber wir alle wissen auch, was es bedeutet, wenn jemandem attestiert wird: „… hat sich bemüht“. ({0}) Genau das trifft leider auf Ihren Antrag zu. Er ist zum Großteil eine Auflistung von Vorschlägen, die es schon gibt, und dabei machen Sie sich leider nicht einmal die Mühe, das genau auszugestalten oder zu sagen, wie Sie das dann umsetzen wollen. Im Bereich Bürokratieabbau und -vereinfachung kann ich das ja durchaus noch erkennen; aber Sie scheuen hier die inhaltliche Auseinandersetzung, zum Beispiel bei der Forderung nach Absenkungen von Anforderungen bei Ausschreibungen, Ihrer Forderung 1 m. Damit soll erreicht werden, dass regionale Firmen besser an Ausschreibungen teilhaben können, die sie gewinnen können. Ganz ehrlich: Ob der Abbau von Hemmnissen oder von Hürden wirklich zu dem Ziel führt, regionale Firmen teilhaben zu lassen, das möchte ich stark bezweifeln. ({1}) Stattdessen kann er zu Dumping führen. Ein Satz zu Herrn Komning. Wenn Sie fordern, Arbeitsschutz-, Lohn- und Umweltschutzstandards zu senken, führt das doch eher wieder zu einer Teilung Deutschlands. Die Ostdeutschen sind doch keine Bürger zweiter Klasse, die kein Anrecht auf Arbeitsschutz haben. Was sind denn das für Aussagen in diesem Zusammenhang? ({2}) Ich begrüße auch, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der FDP, dass Sie das Thema Unternehmensnachfolge stärker in den Blick nehmen. Ja, wir brauchen neue und schnellere Prozesse. Aber auch in diesem Bereich bleiben Sie vage. Bis 2022 stehen in Ostdeutschland rund 25 000 Unternehmen vor der Frage der Unternehmensnachfolge. Das sind rund 350 000 Arbeitsplätze, die davon betroffen sind – das vielleicht mal in Relation zu den Zahlen, über die wir im Bereich Kohleausstieg reden. Diese Zahlen stammen nicht von mir, sondern vom IfM in Bonn, das bei dieser Schätzung eher konservativ herangeht. Die Praxis ist deutlich weiter als Teile Ihres Antrags. Herr Hirte hat Ihre Forderungen nach Experimentierklauseln angesprochen. Die gibt es bereits. Es gibt die Reallabor-Strategie der Bundesregierung, die genau das beinhaltet, was Sie fordern. ({3}) Das heißt: Ihre Forderungen unter den Punkten 1 g und 3 sind damit schon erledigt. Jetzt zu Punkt 2: Ansprechpartner für die Beratung von Start-ups und Unternehmensgründern. Es ist grundsätzlich richtig, dass wir hier noch Nachhol- oder, sagen wir, Verbesserungsbedarf haben. Sie sagen aber nicht, wo diese angedockt sein werden oder wie sie finanziert werden sollen. Auch da, muss man sagen, ist die Praxis weiter. Im Land Brandenburg werden zum Beispiel seit circa 20 Jahren Lotsendienste für gründungswillige Menschen angeboten. Sie werden beraten, sie werden vernetzt, sie werden an die Hand genommen. ({4}) Da ist die Praxis weiter als Ihr Antrag. ({5}) Jetzt zum Thema „steuerliche Vergünstigungen für Privatinvestoren“. Da kann ich nur sagen: Was zu erwarten war. – Denn trotz der vielen Aussagen aus der Wissenschaft, dass eben nicht Steuererleichterungen und -vergünstigungen der Hebel sind, um Wirtschaftskraft in den Regionen zu schaffen, bleiben Sie bei dieser althergebrachten Forderung. Was wir brauchen – meine Kollegin Kerstin Andreae hat es ja vorhin gesagt –, sind die drei T: Talente, Technologie und Toleranz. Das heißt: Investitionen in Bildung, Forschung und Innovation. Wir müssen regionale Wirtschaftskreisläufe stärken, die die Wertschöpfung in der Region erzeugen und möglichst auch da lassen. ({6}) Was wir nicht brauchen, sind kurzfristige Ansiedlungen und Mitnahmeeffekte; denn davon haben die Regionen bisher nicht profitiert. Das bedeutet schlicht und ergreifend, dass wir bestehende Forschungs- und Innovationscluster stärken müssen, dass wir hier anknüpfen müssen und eine Gründerkultur in genau diesen Bereichen fördern müssen. ({7}) Denn hätten die entsprechenden Vergünstigungen und niedrigere Löhne diese Ansogwirkung gehabt, dann müssten wir heute nicht über eine spezielle Förderung für Ostdeutschland reden, sondern hätten die blühenden Landschaften schon seit 10 oder 20 Jahren. ({8}) Um es kurz zu machen: Wirksame und ausdifferenzierte und zielgerichtete Vorschläge für eine Wirtschaftspolitik zum Erhalt von attraktiven Arbeitsplätzen in den Regionen finden sich in Ihrem Antrag leider nicht, und ich bedaure es wirklich sehr, dass Sie diesen Schnellschuss vor der Sommerpause gemacht haben, anstatt gemeinsam mit uns allen in einem langen Prozess über neue Ideen zu diskutieren. Vielen Dank. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Müller. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Mark Hauptmann, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Mark Hauptmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004293, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kollegen! Verehrte Zuhörer dieser Debatte! Es eint uns viel in dieser Debatte. Es eint uns, dass wir uns im 30. Jahr der Friedlichen Revolution Gedanken darüber machen, wie die neuen Bundesländer auch in Zukunft, in den nächsten Jahren weiter wachsen, wie der Angleichungsprozess zwischen Ost und West weiter erfolgreich gelingen kann. Uns eint vor allem, dass wir auch ohne Denkverbote verschiedene Instrumentarien der Förderung diskutieren und in den parlamentarischen Prozess einbringen. Lieber Thomas Kemmerich, du hast viele Punkte angesprochen, die sich im Koalitionsvertrag wiederfinden oder von unserer Fraktion, der Union, bereits beschlossen sind. Aber wir müssen schon auch schauen, wie wir hier eine ehrliche Debatte führen, die dahin geht, ein reales Bild zu zeichnen: Wo steht der Osten? Der Jammerton darf nicht zum Kammerton werden, wenn wir über die neuen Bundesländer sprechen. Es hat sich in den letzten Jahren Unglaubliches ereignet – und vieles in die positive Richtung. Das heißt: Wenn wir über die Treuhand reden, dann führen wir eine in die Vergangenheit gerichtete Debatte, die uns erstens wenig hilft und die zweitens der Realität, nämlich der Entwicklung der neuen Länder, überhaupt nicht gerecht wird. Der Kollege von der AfD hat gesagt, wie es in Mecklenburg-Vorpommern aussieht; Brandenburg wurde genannt, verschiedene andere Bundesländer auch. Ich möchte Ihnen kurz mal einige Punkte aus meinem Südthüringer Wahlkreis nennen, und Sie werden feststellen: Wir haben ganz andere Sorgen als das, was von anderen Kollegen angesprochen wurde. In meinem ostdeutschen Wahlkreis liegt die Arbeitslosigkeit aktuell noch bei 3,5 Prozent. Im Landkreis Sonneberg gibt es heute schon mehr Einpendler aus Bayern als Thüringer, die nach Bayern pendeln, mehr offene Stellen als Arbeitslose, und unser größtes Problem ist Fachkräftemangel, ({0}) nicht etwa fehlende Infrastruktur. Wenn wir in den Osten schauen, muss man sagen: Die Infrastruktur ist doch exzellent. Wir haben hervorragende Autobahnen, wir haben hervorragende Universitäten. Die Universität Greifswald und viele andere Hochschulen – in Jena, in Leipzig, in Potsdam – bieten exzellente Forschungsmöglichkeiten, bieten exzellente Chancen für die jungen Menschen, zu studieren. Sie können auch eine Ausbildung in den Betrieben, in der Fläche bekommen. Das heißt, wir sehen doch: Es hat sich in den letzten Jahren Unglaubliches getan. Lieber Thomas Kemmerich, du hast gesagt: Wir müssen die Aufstiegsversprechen auch einhalten. – Die blühenden Landschaften sind angesprochen worden. Wir sind doch gerade dabei, genau dieses Aufstiegsversprechen mit Wirklichkeit zu füllen. Wenn wir uns das anschauen, dann sehen wir, dass die Herausforderungen heute nicht nur im Osten, sondern in ganz Deutschland Automatisierung, Digitalisierung, Internationalisierung sind. Automatisierung aufgrund von fehlenden Menschen durch den demografischen Wandel: Wenn wir genau wissen, dass die Babyboomer in den nächsten Jahren in Ruhestand gehen und zu wenig von unten nachkommen, werden Automatisierungsprozesse den Unternehmen dabei helfen, effizienter zu wachsen und weiterhin einen Wachstumsprozess zu realisieren. Die Digitalisierung stellt uns doch nicht nur im Osten, sondern in ganz Deutschland vor die Herausforderung: Wie verbinden wir Wertschöpfungsketten? Wie knüpfen wir auch die Unternehmen untereinander in ein digitales Umfeld ein? Wie gestalten wir die Industrie 4.0, die Anknüpfung der klassischen Industrie an die Plattformökonomie? Das sind die Herausforderungen auch im Osten. Ich komme zum dritten Punkt, der Internationalisierung. Erst jüngst, vor zwei Monaten, hat ein internationaler Investor, Edgewell – er ist bekannt für die Wilkinson-Rasierer –, in Thüringen ein Unternehmen für 1,23 Milliarden Euro gekauft. Dieses Unternehmen baut seit 1920 Rasierklingen und ist viele Jahre in einem schwierigen Umfeld in der DDR erfolgreich gewesen, aber erst jetzt durch einen Internationalisierungsprozess, durch die Verknüpfung von einer Start-up-Kultur mit klassischer Industrie auf ein neues Level gekommen und greift aktuell Gillette im amerikanischen Markt des Direktvertriebs online an. ({1}) Das sind die Erfolgsgeschichten, die wir im Osten haben. Aber wir müssen auch darüber berichten. Wir müssen auch aufzeigen, welche Schätze wir hier haben und dass es sich lohnt, über eine Entwicklung der Automatisierung, Digitalisierung und Internationalisierung solches Potenzial zu heben. ({2}) Insofern glaube ich, dass wir diesen Standort nicht schlechtreden sollten, sondern dass wir viele Maßnahmen weiterentwickeln müssen. Wir haben das EXIST-Programm an Hochschulen. Wenn wir uns das anschauen, dann sehen wir, dass drei Viertel der geförderten Projekte und 80 Prozent der Forschungstransferprojekte nach drei Jahren noch am Markt sind und weiter wachsen. Das EXIST-Programm ist eine Erfolgsgeschichte, die wir haben. Wir sehen, dass wir mit ZIM junge, kleine Unternehmen fördern, die sich keine eigene Forschungs- und Entwicklungsabteilung leisten können. 40 Prozent der ZIM-Fördermittel gehen in die neuen Länder, auch hier eine Erfolgsgeschichte. Es ist diese Koalition, die die Mittel für ZIM Jahr für Jahr aufgestockt hat, weil uns der Osten wichtig ist bei dieser Fördermaßnahme. ({3}) Wir werden dies auch weiter tun, weil wir sagen: Gerade das ist ein bürokratieschlankes Programm, mit dem wir dem Mittelstand helfen können. ({4}) Wenn wir die Lebensrealität des Ostens anerkennen, dann sehen wir doch: Wir haben nicht die Supertanker, aber wir haben viele Schnellboote. Wir haben nicht die DAX-Konzerne, aber wir haben eine starke, KMU-geprägte mittelständische Wirtschaft. Und es sich lohnt eben, diese Wirtschaft ganz besonders durch Instrumente des Staates und aus dem Bundeswirtschaftsministerium zu unterstützen. Das geschieht durch ZIM, das geschieht durch INNO-KOM – INNO-KOM dabei nicht mehr nur auf den Osten bezogen, sondern gesamtdeutsch auf strukturschwache Regionen. Das geschieht auch durch eine ganze Reihe von Initiativen: ob es um die künstliche Intelligenz geht, ob es um die Digitalisierung geht, ob es darum geht, dass wir die industrielle Gemeinschaftsforschung auch in den letzten Jahren immer weiter ausgebaut haben. Deswegen, liebe Kollegen, lassen Sie uns diesen Ansatz weiter verfolgen. Lassen Sie uns nicht, wie der Kollege von der AfD vorgeschlagen hat, die Förderkulisse für die Städte einstellen. Nein, wir brauchen diese Leuchtturmförderung. Gerade durch diese Förderung sind Leuchttürme überhaupt erst entstanden; beispielsweise denke ich an die Optik in Jena, die mittlerweile Weltniveau erreicht hat. Deswegen brauchen wir eine solche Förderkulisse. Lassen Sie uns die Instrumente, die uns zur Verfügung stehen, weiterentwickeln: über Wagniskapitalzuschuss, über Venturecapital, indem wir internationale Investoren hereinholen, indem wir die deutschen Family Offices und vor allem die deutschen Pensionskassen dazu auffordern. ({5}) All das passiert im Dialog mit dem Bundeswirtschaftsministerium.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Mark Hauptmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004293, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, ich komme zum Ende. – Deswegen: Aus der Gesamtbetrachtung dieser Debatte lohnt es sich, den Weg, den wir eingeschlagen haben, weiter fortzusetzen. Da nehmen wir die Anregungen der FDP gerne auf. Herzlichen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächste Rednerin hat abschließend das Wort die Kollegin Dr. Manja Schüle, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Manja Schüle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004885, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer und Zuhörer! Wissen Sie, wie lange die Gegenwart dauert? Die Forscher sind sich einig: drei Sekunden. Drei Sekunden hat unser Gehirn, um neue Informationen miteinander zu verbinden und zu verknüpfen. Bekommt es dann keinen neuen Reiz, dann fragt es sofort: Was gibt es Neues? ({0}) Als ich den Antrag der FDP gelesen habe, hat mein Gehirn schon nach zwei Sekunden gefragt: Was gibt es eigentlich Neues? ({1}) Buzzwords first und Verständnis second. Die FDP will eine Freiheitszone, wirklich! Im 30. Jahr der Friedlichen Revolution bzw. des Berliner Mauerfalls will die FDP eine Freiheitszone für Ostdeutschland, und zwar weil Ostdeutschland nach Ansicht der FDP ein Synonym für Bevölkerungsrückgang, für Strukturschwäche und für mangelnde Innovationskultur ist. Diese Feststellung treffen Sie, weil Sie ein paar Studien miteinander mixen. Wenn Wirtschaftspolitik so einfach wäre, dann könnte man sie wirklich der FDP anvertrauen. Aber so einfach ist das nicht. ({2}) Ich sage Ihnen einmal: Sie brauchen kein Statistikstudium, um zu erkennen, dass Megastädte wie München und Frankfurt am Main die Wirtschaftstreiber für den Westen sind. Ja, wir haben solche Megastädte nicht, deswegen möchte ich Sie auch darum bitten, ({3}) die Städte und Regionen miteinander zu vergleichen, die eine annähernd gleiche Einwohnerzahl haben: Leipzig mit Hannover, Magdeburg mit Kassel oder die Region Mecklenburg mit der Eifel. Dann würden Sie nämlich erkennen, dass die Unterschiede bei der Produktivität gar nicht mehr existent sind. Noch nie habe ich in einem Antrag über Ostdeutschland so wenig über den Osten gelesen wie in Ihrem. Besonders die Kommunen haben relativ viel geleistet bei unserem Aufholprozess. Ja, natürlich ist Entbürokratisierung für Unternehmen eine gute und wichtige Sache. Aber, ganz ehrlich, das gilt doch für ganz Deutschland und nicht nur für Ostdeutschland. ({4}) Natürlich bringt uns das dann zu der Vermutung und Feststellung: Sie machen hier Landtagswahlkampf für die drei ostdeutschen Länder, in denen in diesem Jahr gewählt wird, wobei Sie im Übrigen in keinem der Parlamente vertreten sind. ({5}) Wissen Sie, was mich noch zu dieser Überlegung bringt? Ihr Kollege Sattelberger hat im letzten Jahr die Freiheitszone für das Bundesland Bayern gefordert. Was war denn im letzten Jahr in Bayern? Richtig: Landtagswahl. ({6}) Das ist so durchsichtig wie verschaukelnd. Sie sprechen von fehlenden Innovationsanreizen. Allein 100 Millionen Euro werden wir für Sprunginnovationen jährlich ausgeben, neben all den Förderprogrammen, die der Kollege Junge vorgestellt hat. Wir machen Innovationen nicht um der Innovation willen, sondern weil wir einen marktverändernden Unterschied setzen wollen: nicht verbessern und belehren, sondern neu denken. Wenn es Ihnen wirklich um Strukturpolitik gehen würde, wirklich um Ansiedlungspolitik, dann hätten Sie in Ihrem Antrag gefordert, dass die Agentur für Sprung­innovation ihren Sitz in Ostdeutschland bekommen wird. Aber aus den Reihen Ihrer Fraktion höre ich es wispern: Ach, die Agentur passt eigentlich ganz gut zu München, München, München. – Sie erinnern sich? Der Wirtschaftstreiber im Westen unserer Republik. Also, ich fühle mich, ehrlich gesagt, ziemlich verschaukelt. Die FDP will eine Gründerrepublik und meint doch eigentlich nur den Ausbau der Start-up-Szene in den Großstädten. Doch Vielfalt findet ganz woanders statt ({7}) – ja –, nämlich in den Städten und auf dem Land. In Brandenburg finden Gründer das, was in einer komplexen Welt jeder vermisst: Übersichtlichkeit. In unseren Städten haben wir kurze Wege, wir wissen, wer was kann, und unsere Experten bekommen wir relativ schnell von den Fachhochschulen, von den Universitäten oder den Forschungseinrichtungen. Während Sie nach Risikokapital für Gründer rufen, bin ich für niedrige Mieten und für ein Glasfasernetz. Das ist der Unterschied. Sie wollen die Gründerrepublik, ich will das digitale Land. Verstehen Sie mich richtig: Ich sage nicht, das ist alles in Ordnung, und lehne deshalb Ihren Antrag ab. Ich bitte Sie aber um eines: Legen Sie uns bitte nicht permanent recycelte Anträge vor, die von oben herab erklären, wie der Aufschwung Ost zu funktionieren hat. Das haben wir in 30 Jahren nun wirklich häufig genug gehört. Auch die jungen Männer und Frauen in der FDP haben irgendwann genug von der Uniformität der Großstädte. Dann sehen wir uns in Brandenburg; denn die ostdeutsche Zukunft hat schon längst begonnen, aber anders, als es sich die FDP vorstellt. Lieber Herr Kollege Kemmerich, Sie wollen ein bisschen mehr Laptop und Lederhose nach bayerischem Vorbild. Ich sage Ihnen als Brandenburgerin: Wir sind heute schon mega und Märker. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Schüle. – Auch in Brandenburg wird ja gewählt. ({0}) Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/11052 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Stephan Mayer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003589

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen! Sehr verehrte Kolleginnen! Das Bundesvertriebenengesetz ist im Jahre 1953 in Kraft getreten. Ich bin der festen Überzeugung, man kann mit Fug und Recht behaupten: Das Bundesvertriebenengesetz ist eines der Grundgesetze dafür, dass es erfolgreich gelungen ist, nach dem schrecklichen Zweiten Weltkrieg Millionen von deutschen Heimatvertriebenen und Flüchtlingen erfolgreich in die deutsche Gesellschaft aufzunehmen und einzugliedern. Auch für die Aufnahme, Verteilung und für die Eingliederung der Aussiedler und Spätaussiedler ist das Bundesvertriebenengesetz verantwortlich. Insbesondere in den 80er- und 90er-Jahren sind mehrere Hunderttausend Spätaussiedler und Aussiedler nach Deutschland gekommen. Und noch bis zum heutigen Tag kommen Deutsche aus Mittel- und Osteuropa, aus den Nachfolgestaaten der GUS und werden erfolgreich in Deutschland aufgenommen, verteilt und eingegliedert. Innerhalb des Bundesvertriebenengesetzes spielt § 96 eine ganz zentrale Rolle. Der § 96 ist der sogenannte Kulturparagraf. Er ist dafür verantwortlich, dass in erfolgreicher Weise sowohl vom Bund als auch von den Ländern Maßnahmen zur Kulturpflege der Vertriebenen und Flüchtlinge ins Werk gesetzt werden und auch die wissenschaftliche Forschung gefördert wird. Meine sehr verehrten Damen und Herren, heute wird der Bericht der Bundesregierung über die Maßnahmen nach § 96 der Jahre 2017 und 2018 beraten. Ich bin froh, dass es für diesen Zeitraum gelungen ist, insbesondere auch durch die tatkräftige Mithilfe des Haushaltsgesetzgebers, die Mittel, die nach § 96 Bundesvertriebenengesetz ausgegeben werden können, deutlich zu erhöhen, und zwar um 1 Million Euro. ({0}) Es ist eine neue Konzeption entwickelt worden. Ich darf vor allem auch den die Bundesregierung tragenden Fraktionen ganz herzlich dafür danken, dass einerseits diese Neukonzeption zur Erforschung, zur Bewahrung, zur Präsentation und zur Vermittlung der Geschichte und der Kultur der deutschen Heimatvertriebenen und Flüchtlinge unterstützt wird und dass insbesondere zum Zwecke der Umsetzung dieser neuen Konzeption 1 Million Euro zusätzlich zur Verfügung steht. Insgesamt hat die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, die Kollegin Professor Grütters, über 41 Millionen Euro zur Verfügung. Der überwiegende Großteil wird durch die BKM ausgegeben und wird sowohl im Inland als auch im Ausland investiert. Ich bin, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, der festen Überzeugung, dass die Maßnahmen, die nach § 96 gefördert und unterstützt werden, sehr sinnstiftende Maßnahmen sind. Dies sind einerseits Maßnahmen, die der Wissenschaft, der Ausstattung der Museen, der Archive, der Bibliotheken dienen. Aber ich sage auch ganz offen: Es wäre verfehlt, die wichtige Kulturarbeit der deutschen Heimatvertriebenen und Flüchtlinge nur zu musealisieren. Das wäre zu kurz gegriffen. Wir brauchen Landesmuseen, wir brauchen Archive, insbesondere um damit das schreckliche Schicksal, das den deutschen Heimatvertriebenen und Flüchtlingen widerfahren ist, für die Nachwelt zu dokumentieren, aber andererseits natürlich auch, um damit deutlich zu machen, dass es wichtig ist, gegen jede Art von Vertreibung aufzustehen und sich zur Wehr zu setzen. ({1}) Aber es geht eben nicht nur um die Pflege und die Unterstützung der Landesmuseen und der Archive, sondern es geht auch ganz konkret darum, aktive Brauchtums- und Traditionspflege zu unterstützen, in den Landsmannschaften in Deutschland, aber – das sage ich ausdrücklich – auch im Ausland. Ich bin der festen Überzeugung: Sowohl die deutschen Minderheiten im Ausland – wir haben in 25 Ländern auf diesem Globus deutsche Minderheiten – als auch die deutschen Heimatvertriebenen und Flüchtlinge in unserem Land und deren Nachkommen sind die besten Brückenbauer für Versöhnung und für Verständigung. ({2}) Und ich bin der festen Überzeugung: Gerade in einer Zeit, in der der Populismus, in der der Radikalismus, in der das Sektierertum fröhliche Urstände feiert, und zwar in vielen Ländern Europas, brauchen wir Brückenbauer, brauchen wir Personen, die authentisch durch ihre eigene Lebensgeschichte dokumentieren können, dass uns jede Art von Extremismus, von Radikalismus, von Rechtspopulismus ins Verderben führt. Vor dem Hintergrund ist es richtig, dass wir die Mittel gemäß § 96 des Bundesvertriebenengesetzes weiterhin stark nutzen. Wir im Bundesinnenministerium haben allein in den Jahren 2017 und 2018  1,9 Millionen Euro für verständigungspolitische Maßnahmen ausgegeben. Das ist beste Verständigungs-, Versöhnungs- und Ausgleichs­politik, die dadurch erreicht wird. Wir fördern im Jahr über 70 Einzelprojekte bei ungefähr 30 Zuwendungs­adressaten, sowohl, wie gesagt, was die Landsmannschaften anbelangt, aber auch, was die deutschen Minderheiten im Ausland anbelangt. Zuletzt, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, möchte ich ein wichtiges Projekt ansprechen, das mir besonders am Herzen liegt. Das ist das Begegnungs- und Dokumentationszentrum der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung, das nicht weit von hier, nur wenige Kilometer entfernt, im sogenannten Deutschlandhaus am Anhalter Bahnhof entstehen soll. Der Fertigstellungstermin war ursprünglich für 2017 vorgesehen; aber manche Maßnahmen, insbesondere in der Bundeshauptstadt, dauern leider etwas länger. ({3}) Ich hoffe, dass es uns zumindest gelingt, das wichtige Dokumentations- und Begegnungszentrum noch vor Fertigstellung des neuen Flughafens zu eröffnen. Ich sage es hier noch einmal wirklich sehr eindringlich an alle Beteiligten – ich möchte keine Schuldzuweisungen vornehmen –: Wir müssen jetzt alles daransetzen, dass dieses wichtige Dokumentations- und Begegnungszentrum, dieses sichtbare Zeichen gegen jede Art von Vertreibung, möglichst bald der Öffentlichkeit vorgestellt und feierlich eingeweiht werden kann, ({4}) insbesondere im Interesse der Hauptbetroffenen, sprich: des Bundes der Vertriebenen und der Landsmannschaften. Wir blicken mit diesem Bericht einerseits zurück auf die beiden vergangenen Jahre 2017 und 2018, wir entnehmen diesem Bericht aber auch, dass es weiterhin viele Aufgaben gibt. Ich darf abschließend an die Kolleginnen und Kollegen die herzliche Bitte richten: Schenken Sie bei den Haushaltsberatungen, die nach der parlamentarischen Sommerpause beginnen, diesem wichtigen Thema, der ausreichenden Ausstattung der §-96er-Mittel die notwendige Aufmerksamkeit und Fürsorge. In diesem Sinne: Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit und alles Gute! ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Ihre Kollegen aus der Fraktion werden sich freuen über Ihren ausführlichen Beitrag. Als nächster Redner hat der Kollege Stephan Protschka, AfD-Fraktion, das Wort. ({0})

Stephan Protschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004858, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Liebe Gäste hier im Hohen Haus! Herr Parlamentarischer Staatssekretär Mayer, es war klar, dass Sie Ihre Errungenschaften loben. Wenn man aber genauer hinschaut, muss man schon fragen, wie es kommt, dass Sie sich erst seit zwei Jahren so ambitioniert um Vertriebene und Aussiedler kümmern. Wie kommt es, dass plötzlich Geld für Museen und Kulturreferenten da ist, welches vorher nicht da war? Nehmen wir das Beispiel der Russlanddeutschen: 2016 ist Ihnen plötzlich aufgefallen, dass es in Detmold ein Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte gibt, also 20 Jahre nach dessen Gründung. Ausgerechnet im Vorjahr der Bundestagswahl erinnerten Sie sich ganz plötzlich an die größte Aussiedlergruppe – jene Volksgruppe, die verstärkt die AfD wählt. Könnte es da vielleicht einen Zusammenhang geben? ({0}) Nebenbei wurde auch noch eine Stelle für einen Kulturreferenten geschaffen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt, dass Sie einen Russlanddeutschen eingestellt haben. Es geht Ihnen mit Sicherheit nicht um den Erhalt der russlanddeutschen Geschichte, sondern Sie erhoffen sich einfach, Stimmen erkaufen zu können. Bei anderen Vertriebenengruppen sind Sie aber durchaus schon viel weiter, zum Beispiel bei der Sudetendeutschen Landsmannschaft. Vor drei Wochen fand der Sudetendeutsche Tag in Regensburg statt. Das einst so vitale Kulturfest mutiert mittlerweile leider zu einer Grabesfeier, auf der die CSU die sudetendeutsche Kultur beerdigt. Ein CSU-Funktionär an der Spitze, namens Posselt, welcher übrigens eigentlich schon über ein Jahr nicht mehr satzungsgemäß gewählt ist, wickelt den Verein zurzeit kontrolliert ab. Danke, liebe CSU! Sieht so Ihre Kulturförderung aus? ({1}) Sie bauen Museen, die unsere vielfältige Kultur in ein Schaufenster stellen, setzen aber nichts daran, dass unsere Kultur in der Gesellschaft aktiv gelebt wird. Verstehen Sie mich nicht falsch! Museen sind wichtig und richtig; aber das ist halt nur das Mindeste, was man für unsere Vertriebenen tun kann. Wo bleibt eigentlich die aktive Förderung unserer vielfältigen Kultur? Danach sucht man leider sehr lange. Sie missbrauchen lieber die Kulturvereine und Stiftungen für Ihre Agenda. Ein Beispiel: Die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung wurde einst von der verdienten ehemaligen Kollegin aus Ihren eigenen Reihen, liebe Union, Frau Erika Steinbach, initiiert, um an die Flucht der unzähligen Deutschen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten zu erinnern. Ich zitiere den Stiftungszweck: Zweck der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung ist es, im Geiste der Versöhnung die Erinnerung und das Gedenken an Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert im historischen Kontext des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik und ihren Folgen wachzuhalten. So heißt es am Anfang zum Zweck der Stiftung. Ich habe mir dann Infomaterial der Stiftung angeschaut und musste leider mit Erstaunen feststellen, dass dort längst nicht mehr im Sinne des Stiftungszwecks gearbeitet wird. Hier sind zwei Flyer – ich darf sie ganz kurz hochhalten; ich lege sie dann zurück und sage Ihnen, was das ist –, die von der Stiftung verteilt werden, unter anderem auf Arabisch und Persisch. ({2}) Was das mit ostdeutschen Gebieten zu tun hat, würde mich herzlich interessieren. In den Flyern geht es darum, dass Flüchtlinge ihre persönliche Fluchtgeschichte einsenden können, die dann im zukünftigen Dokumentationszentrum – wie Sie schon gesagt haben, ist man leider bei dem Bau hinter dem Zeitplan zurück – ausgestellt wird. Das Dokumentationszentrum ist noch nicht einmal fertiggestellt, und schon wird es zweckentfremdet, um Merkels illegale Einwanderungspolitik zu kaschieren, meine Damen und Herren. ({3}) Es ist ein Hohn gegenüber Millionen von toten Deutschen, sie mit illegalen Migranten zu vergleichen, die den falschen Versprechungen von Angela Merkel gefolgt sind. Sie betreiben widerliche Parteipolitik ({4}) auf den Schultern der Opfer des Zweiten Weltkrieges und von deren Hinterbliebenen, meine Damen und Herren. ({5}) Hören Sie unverzüglich auf damit! Bekennen Sie sich endlich bedingungslos zur Förderung der deutschen Kultur. Lassen Sie den Vertriebenen und Aussiedlern bitte noch etwas Restwürde. ({6}) – Dass die SED-Nachfolgepartei damit nicht leben kann, das war mir schon klar. Ihre Fördergelder für die deutsche Kultur sind lächerlich im Vergleich zu den Milliardenbeträgen, die Sie für fremde Kulturen ausgeben. Sie haben gesagt, es gibt 1 Million Euro mehr. Aber was soll das bringen? Was soll 1 Million Euro für alle Kulturreferenten bringen? Ein einziger Referent vertritt 3 Millionen Russlanddeutsche. Das ist lachhaft, meine Damen und Herren, im Gegensatz zu den Milliarden, die für andere Kulturen ausgegeben werden. ({7}) Aber ich habe noch Hoffnung. Bleiben Sie den deutschen Traditionen treu! Und kämpfen Sie für deutsche Kultur, anstatt sie nur ins Museum zu verbannen und das Geld an fremde Kulturen zu übersenden. Danke, meine Damen und Herren. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Marianne Schieder, SPD-Fraktion, das Wort. ({0})

Marianne Schieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003838, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Förderung der Kultur und Geschichte gemäß § 96 des Bundesvertriebenengesetzes ist eine Erfolgsgeschichte. Daran ändert auch die wirklich sehr, sehr begrenzte Sichtweise meines Vorredners nichts. ({0}) Gerne weise ich als Sozialdemokratin darauf hin, dass die Fördergrundlage, die diese Erfolgsgeschichte erst möglich macht, die sogenannte Konzeption 2000 ist. Sie stammt von der rot-grünen Bundesregierung und wurde im Jahr 2000 verabschiedet. Zu den geförderten Einrichtungen gehören neben der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung hier in Berlin regionale Museen, Wissenschaftszentren, Austauschprogramme und Stipendien, um nur einen Teil davon zu nennen. Besonders freut mich, dass auch die Stiftung Kunstforum Ostdeutsche Galerie in Regensburg – in meiner Oberpfälzer Heimat – gefördert wird. Dort wird eine sehr gute Arbeit geleistet. Wie ich aus eigener Anschauung weiß und wie man dem Bericht der Bundesregierung entnehmen kann, werden dort bundesweit einzigartige Kunstwerke aus Mittel- und Südosteuropa von der Romantik bis zur Gegenwart gezeigt, etwa Werke von Otto Dix, Käthe Kollwitz und Oskar Kokoschka. Es werden neue pädagogische Konzepte ausprobiert, zum Beispiel Programme für behinderte und chronisch kranke Kinder. Eine wirklich tolle Sache! Es werden aber auch kleine Initiativen und Vereine unterstützt, beispielsweise bei der Sanierung, Restaurierung und dem Erhalt von Kirchen in Lettland, in Polen und der Tschechischen Republik. Und ja, es geht auch um die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung. Ich bin dort seit dieser Legislaturperiode Mitglied im Stiftungsrat. Wir beschäftigen uns dort im Moment intensiv mit dem Konzeptentwurf für Bildung und Vermittlung sowie der geplanten Dauerausstellung des Dokumentationszentrums am Anhalter Bahnhof. Herr Staatssekretär hat darauf hingewiesen. Ich meine, der Entwurf dieses Konzepts beleuchtet ausführlich Vertreibung und Flucht der rund 14 Millionen Deutschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Heimat verlassen mussten bzw. aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Aber schon der Name der Stiftung – Flucht, Vertreibung, Versöhnung – bringt doch zum Ausdruck, dass es nicht nur um die historische Aufarbeitung von Flucht und Vertreibung gehen kann, sondern dass es auch Aufgabe dieser Einrichtung sein soll, den Bogen in die Gegenwart zu schlagen, und dass der Versöhnungsprozess zentrales Anliegen der Arbeit der Stiftung sein muss. ({1}) Leider – und das möchte ich heute sehr kritisch anmerken – gibt es Mitglieder in diesem Stiftungsrat, die hier das Rad der Geschichte zurückdrehen wollen. Und das Allerschlimmste für mich bei dieser Kampagne ist – das entsetzt mich wirklich –: Diese Stimmen werden vom Bundesinnenministerium unterstützt. ({2}) Und da, Herr Staatssekretär, wundere ich mich, dass Sie sagen: Da muss doch bald was vorwärtsgehen; das Ganze muss bald zu Ende gebracht werden. – Ja, an uns liegt es nicht. ({3}) An denen, die von uns in der Stiftung sind, liegt es nicht. Sie sind am Zug. Sagen Sie mal Ihrem Ministerium, dass wir im Jahre 2019 leben und dass es nicht angehen kann und auch nicht sein darf, dass jetzt plötzlich ein über die Jahre mühsam gefundener Grundkonsens über die Ausrichtung dieser Stiftung wieder aufgekündigt werden soll! Das kann wirklich nicht angehen. ({4}) Ich möchte mit einem Zitat des Vizepräsidenten des Bayerischen Landtags, Markus Rinderspacher, schließen. Er sagte 2017 beim Empfang für Heimatvertriebene, Flüchtlinge und Aussiedler der bayerischen SPD-Landtagsfraktion: Brücken bauen, Rückblicken und Erinnern, geistiges Erbe fortsetzen, identitätsstiftende Kultur und Tradition pflegen, Vergangenes nicht vergessen und Geschichtsbewusstsein lebendig erhalten, Meinungen austauschen, Wahrheiten aussprechen, auch bisweilen unbequeme Wahrheiten anerkennen, … Grenzen überwinden, … sich mitteilen, auch zuhören, versöhnen, zusammenführen, für Verständnis werben und selbst verstehen wollen, sind die Voraussetzungen für ein auskömmliches und partnerschaftliches Miteinander einer Gesellschaft und zwischen Nationen. In diesem Sinne, Herr Staatssekretär: Sorgen Sie mit uns dafür, dass diese Ausstellung kommt und dass das Konzept realisiert werden kann, und zwar möglichst bald! Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Schieder. – Mit einem langen Zitat kann man seine Redezeit natürlich auch ausweiten. Man kann vermuten, der Deutsche Bundestag besteht nur aus Bayern. Denn als Nächstes kommt der Kollege Thomas Hacker, FDP-Fraktion. ({0})

Thomas Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004734, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach dreimal Altbayern kommt jetzt Franken. Da gibt es noch einen Unterschied. ({0}) Manche mögen fragen: Was interessieren uns heute noch die Vertriebenen, und was gibt uns die Förderung der Kulturarbeit nach dem Bundesvertriebenengesetz? Deutlich kann man jedoch antworten: Ja, eine ganze Menge. Weil diese Kulturarbeit an die bittere Geschichte unserer Landsleute erinnert und sie vor Augen führt – unserer Landsleute, die nach den Schrecken des Naziterrors durch Vertreibung ihre Heimat verloren haben. Und weil das Wissen eines Menschen um seine Heimat und Traditionen genau die Wurzeln sichtbar macht, die jeder Mensch hat und jeder Mensch braucht, gemeinsame Wurzeln, die auch einen Zusammenhalt in der Gesellschaft zeigen. Es ist doch dieser Zusammenhalt, dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit, das uns in der Gegenwart immer mehr abhandenzukommen scheint. Dieses Erinnern drückt auch eine Dankbarkeit für die Aufbauleistung aus, für den Anteil am deutschen Wirtschaftswunder, den die aus ihrer Heimat vertriebenen Landsleute geleistet haben. Dank für unternehmerische und handwerkliche Leistungen, Dank für soziales Engagement und Dank für kulturelle Bereicherung. Der Umbau meines Heimatlandes Bayern – unseres Heimatlandes, wenn man die Rednerliste anschaut – vom Agrarstaat zum Innovationsmotor wäre ohne die Tatkraft von vielen Vertriebenen gar nicht möglich gewesen. ({1}) Die Museen und Forschungseinrichtungen haben auch heute ihre Daseinsberechtigung. Museen wie die Stiftung Kunstforum Ostdeutsche Galerie in Regensburg oder das Schlesische Museum in Görlitz, Forschungseinrichtungen wie das Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas in München oder die vielen Einrichtungen der Kulturvermittlung – alle haben ihren Platz und ihre Berechtigung in der Mitte unserer Gesellschaft. Die dort geleistete Arbeit ist nicht nur wissenschaftlich und historisch, sondern sie verbindet Menschen. Austausch, Vermittlung und Versöhnungsarbeit sowie der genaue Blick auf die Ursachen von Flucht und Vertreibung berühren Kopf und Herz. So können Verständnis und Akzeptanz für die Sorgen und Nöte der Vertriebenen geschaffen werden. Gleichzeitig schlägt sie auch die Brücke in die heutige Zeit. Lassen Sie uns alle gemeinsam diese Brücke bewahren und nicht leichtfertig einreißen. ({2}) Ja, die deutsche und die europäische Geschichte sind geprägt von Flucht und Vertreibung. Gerade in Ost- und Mitteleuropa sind Millionen von Menschen ihrer Heimat beraubt und unter Gewaltanwendung vertrieben worden. Die deutsche und europäische Gegenwart ist ebenso davon betroffen. Kennen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen – Herr Kollege Protschka kennt sie sicherlich nicht –, die Projekte, bei denen sich Vertriebene im fortgeschrittenen Alter mit jungen Flüchtlingen unserer Tage über ihre ganz persönlichen Schicksale austauschen und miteinander sprechen über ihre Erfahrungen im Krieg, über das Zurücklassen der Heimat, über das Entwurzeltsein und über die Notwendigkeit des eigenen Neuanfangs? Das berührt und zeigt uns, dass wir in unseren Anstrengungen nicht nachlassen dürfen. Wir dürfen nicht nachlassen in unseren Anstrengungen, ein Klima der Verständigung zu schaffen, im Aufeinanderzugehen, aber auch im kritischen Hinterfragen und offenen Diskurs. Demokratie und Gesellschaft können das aushalten. ({3}) Liebe Kollegen, wir müssen die Menschen sensibilisieren und über persönliche Erfahrungen und Geschichten berühren. Gerade heute, wo der Umgangston deutlich radikaler geworden ist, Handlungen ins Extreme rutschen, brauchen wir das Bewusstsein, dass Flucht niemals freiwillig geschieht und Vertreibung immer ein Unrecht darstellt. ({4}) Im Erinnern und Bewahren schaffen wir die Grundlage für Versöhnung und Zusammenhalt. Für ein Deutschland und Europa, das Heimat ist und Heimat gibt. Für ein Deutschland und Europa, in dem Freiheit, Rechtsstaat und Bürgerrechte gelten und wir deutlich machen, dass wir in einem offenen und verständnisvollen Land leben, das aus seinen Fehlern gelernt hat. Vielen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Hacker. – Als nächste Rednerin erhält die Kollegin Simone Barrientos, Fraktion Die Linke, das Wort. Auch aus Bayern. ({0})

Simone Barrientos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004660, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Genau, auch aus Bayern, aber Hochdeutsch sprechend. Der Kollege, der nach mir spricht, ist auch aus Bayern. ({0}) Es ist also heute bayerisch dominiert. Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Um das gleich mal klarzumachen: Wir fordern schon lange, lange die Abschaffung des Bundesvertriebenengesetzes. Es wurde ja 1953 verabschiedet – wir hörten es –, um die Integration der Vertriebenen und Geflüchteten zu fördern. Heute steht es für das genaue Gegenteil. Denn die Logik, dass man per Blutlinie deutsch ist und bleibt, atmet den Geist der Entstehungszeit. Da wabert es völkisch aus der Vergangenheit, und es führt auch dazu, dass man niemals richtig deutsch werden kann, wenn man dieser Blutlinie nicht angehört. Dabei ist es völlig egal, ob man hier geboren ist oder schon in der zweiten oder dritten Generation hier lebt. Ich habe den Bericht also mit Interesse gelesen, um zu schauen, ob die Fördermaßnahmen das von mir skizzierte Problem aufgreifen oder glaubhaft berücksichtigen. Im Einzelnen – zum Beispiel in der pädagogischen Arbeit mancher Museen; das ist richtig – gibt es sehr gute Ansätze dafür. Etliche Fragen beantwortet der Bericht aber nicht: Wer überprüft die Partnerorganisationen? Warum gibt es intern eine Doppelförderung von Institutionen? Die wichtigste Frage ist aber – die Antwort darauf bestimmt den Diskurs –: Wer akkreditiert eigentlich die Vertriebenenorganisationen, und was und wen genau repräsentieren sie? Das Fatale ist ja, dass man allein bei den Begriffen Bundesvertriebenengesetz oder Heimatvertriebene sofort an Erika Steinbach, an Landsmannschaften und an Patrioten im allerschlechtesten Sinne denkt. Das haben wir heute ja auch gehört. Das wird missbraucht, und das muss doch verhindert werden; das geht doch nicht. ({1}) Es kann doch nicht sein, dass deutsche Täter mit den verfolgten und ermordeten Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma und all den anderen Opfergruppen auf die gleiche Opferstufe gestellt werden. Das geht nicht; das ist nicht hinnehmbar. Zu den Vertriebenen gehörte die gesamte nationalsozialistische Beamtenschaft, gehörten also Täterinnen und Täter. Vertrieben wurden aber auch Antifaschistinnen und Antifaschisten, Kommunistinnen und Kommunisten, Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, Christinnen und Christen, also Menschen, die nicht bereit waren, ihre Werte aufzugeben, übrigens auch Menschen, die Jüdinnen und Juden versteckten und so retteten, und Menschen, die aus Deutschland geflohen waren, um zu überleben. Den von mir so sehr geschätzten Marcel Reich-­Ranicki möchte ich hier exemplarisch nennen. Seine Autobiografie wünsche ich mir in allen Schulen. ({2}) Diese Menschen kommen im Diskurs viel zu wenig vor; sie sind kaum sichtbar. Ich weiß, dass es ernsthafte Versuche gibt, das zu ändern. All diese Bemühungen müssen aber scheitern, solange das Bundesvertriebenengesetz die Grundlage ist. Wir brauchen eine Kultur des Erinnerns, die dazu führt, dass die Ereignisse von damals ins Handeln von heute münden. ({3}) Davon sind wir meilenweit entfernt; die Toten im Mittelmeer zeigen das. Man kann doch nicht glaubhaft versichern, dass man aus der Geschichte gelernt hat, wenn man das Sterben und Leiden billigend in Kauf nimmt; das geht doch nicht. ({4}) – Ich sage Ihnen das gerne mal unter vier Augen; sonst wird das hier jetzt nicht schön. ({5}) In fast jeder Familie in diesem Land findet man Fluchtgeschichten; in meiner auch. ({6}) Das sind nicht nur Geschichten von Flucht und Vertreibung, sondern auch Geschichten über Neuanfänge und Hoffnungen. Es sind aber eben auch Geschichten über Ausgrenzung und Feindseligkeit, über Scham und Schuld.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss, bitte.

Simone Barrientos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004660, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Dieses kollektive Wissen in progressives Handeln zu überführen, müsste das Ziel von Erinnerungskultur sein, finde ich. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Erhard Grundl, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Erhard Grundl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004733, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Flucht und Vertreibung ist für viele Familien in Deutschland – meine Familie mit eingeschlossen – Teil ihrer persönlichen Geschichte. Mehr als 12 Millionen Deutsche wurden während und nach dem Zweiten Weltkrieg als Folge der brutalen Expansions- und Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten vertrieben. Die Vertriebenen, die damals kamen, kamen nicht einfach als Deutsche zu Deutschen. Da trafen Großbürger aus Marienbad auf hessische Landbevölkerung oder böhmische Handwerker auf Großbauern aus dem Gäuboden. Dialekte, Konfessionen und Sozialisationen hätten unterschiedlicher nicht sein können. Zum Trauma der Fluchterfahrung kam für viele die Fremdheit und Ablehnung in der neuen „Kalten Heimat“, wie es Andreas ­Kossert beschreibt. Gleiches galt später für die Aussiedler und Spätaussiedler. Vielleicht hat die Erinnerung an diese Erfahrung die Bewegung der Hilfsbereitschaft und Solidarität gefördert, mit denen so viele Deutsche den Geflüchteten begegnet sind, die ab 2015 zu uns kamen, um Schutz und Sicherheit zu finden. Wir können dieses Bewusstsein wachhalten, und wir dürfen es nicht den faschierten Rechten im Land gestatten, Zuwanderung und Flucht heute als generelle Bedrohung zu verunglimpfen. ({0}) Bei der Erforschung, der Bewahrung und Vermittlung von Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa im Rahmen von § 96 des Bundesvertriebenengesetzes muss es heute darum gehen, gesellschaftliche Ausgrenzung, Ursachen und Folgen der rassistischen Mordideologie der Nationalsozialisten und der Vertreibung zu analysieren und so auch das Bewusstsein für die aktuelle rechte Hetze zu schärfen. Der vorliegende Bericht zeigt hier erste Schritte auf, bleibt aber auf dem Niveau der Ankündigung. Entscheidend ist, die Kulturarbeit im Rahmen des Bundesvertriebenengesetzes nicht nur auf die Vergangenheit, sondern auch auf die Zukunft auszurichten; ({1}) denn auch hier steht die Generation der Zeitzeugen bald nicht mehr zur Verfügung. Umso wichtiger sind lebensgeschichtliche Interviews, wie sie seit 2013 für das digitale Zeitzeugenarchiv durchgeführt werden. Als modernes Einwanderungsland stehen wir heute vor der Aufgabe, die kulturelle Vielfalt in die Erinnerungspolitik mit einzubeziehen, und zwar im europäischen Kontext. ({2}) Die Menschen, die heute zu uns kommen, bringen ihre jeweils eigene Geschichte mit, und auch diese Geschichte muss in das kollektive nationale Gedächtnis Deutschlands aufgenommen werden. ({3}) Die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung ist unter der Leitung von Dr. Gundula Bavendamm nach Jahren der Skandale und des Misstrauens gegenüber der Stiftung im Begriff, sich neu aufzustellen. In einem Interview machte sie ihre Zielsetzung sehr deutlich. Ich zitiere: Die Täternation Deutschland und die Nationen, die sich den Opfernationen zurechnen, erinnern an ihr Leid und ihre Verluste. Frau Dr. Bavendamm rückt damit deutlich von der Tendenz ab, die Stiftung für das Erika-Steinbach-Narrativ der Deutschen als Opfer zu missbrauchen. ({4}) Doch auch, wenn manches vorangeht: Reformbedarf bleibt. Seit Langem fordert meine Fraktion, den Stiftungsrat dahin gehend zu erweitern, dass alle von Flucht und Vertreibung betroffenen Gruppen vertreten sind, also auch der Zentralrat der Sinti und Roma sowie Vertreterinnen und Vertreter von Migranten- und Flüchtlingsorganisationen. ({5}) Angesichts der jüngsten Fluchtbewegungen darf auch die koloniale Gewaltgeschichte nicht weiter ausgeblendet werden. ({6}) Wenn wir heute über Flucht und Vertreibung im Rahmen der Kulturförderung nach dem Bundesvertriebenengesetz reden, dann dürfen wir keinen Augenblick vergessen: Hier und heute fliehen Menschen vor Gewalt und Zerstörung; sie fliehen unter Lebensgefahr und in eine ungewisse Zukunft.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.

Erhard Grundl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004733, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Niemand tut das leichten Herzens. Das Mindeste, was wir als Deutsche tun können, ist es, wie im Fall der „Sea-Watch 3“, Menschen aus Seenot zu retten und in Sicherheit zu bringen. Das ist kein Almosen, sondern unsere Pflicht als Menschen. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Thorsten Frei, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei der einen oder anderen Rede hatte ich den Eindruck, dass man ein bisschen vom Thema abgeschweift ist. Ihnen, lieber Herr Kollege Grundl, möchte ich nur sagen, dass Deutschland und die Deutschen mit ihrer Migrationspolitik, glaube ich, schon sehr stark Verantwortung angesichts der Herausforderungen der heutigen Zeit übernehmen. Deshalb fand ich die Vergleiche, die Sie angestellt haben, schlicht unangebracht. ({0}) Es ist ganz offensichtlich – das ist ein Zitat von Helmut Kohl aus dem Jahr 1995 –: Wer die Geschichte nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nicht gestalten. Und das trifft bei diesem Thema auch sehr genau zu; denn es geht letztlich darum, dass diejenigen, die als Heimatvertriebene, als Spätaussiedler, als deutsche Minderheiten hierher in die Bundesrepublik gekommen sind, auch einen Großteil unserer Identität und unserer Geschichte ausmachen. Wenn man sich nur einmal die Zahlen vergegenwärtigt, dann stellt man fest, dass während und nach dem Zweiten Weltkrieg 14 Millionen Menschen hierhergekommen sind. In der Zeit von 1950 bis 2016 waren es 4,5 Millionen Menschen. Die Zahl ist zwar nach den 1990er-Jahren deutlich zurückgegangen, in den letzten sechs Jahren aber eben von 1 800 auf 7 200 jährlich gestiegen. Es ist also nach wie vor ein aktuelles Thema, auch angesichts von 3,2 Millionen Heimatvertriebenen, die hier bei uns in Deutschland leben. Vor diesem Hintergrund ist es eine unglaublich wichtige Arbeit, die die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien, aber auch das Bundesinnenministerium in diesem Bereich machen. Im Zeitraum, den wir heute betrachten, haben die Bundesbeauftragte 41,1 Millionen Euro und das Bundesinnenministerium etwa 2 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Das ist ein deutlicher Aufwuchs gegenüber der Vergangenheit. Wenn man etwa vom Tiefpunkt mit gerade einmal 12 Millionen Euro in diesem Bereich im Jahr 2005 ausgeht, dann stellt man fest, dass wir in den vergangenen 15 Jahren fast eine Verdopplung der Mittel hatten. Dieses Geld ist klug und richtig angelegtes Geld; denn es trägt letztlich auch dazu bei, dass wir die Erinnerung und das Erbe unserer Geschichte und damit verbunden nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Mahnung, die diese für die heutige Politik beinhaltet, wachhalten. ({1}) Wir möchten, dass sich diese Ausgaben dynamisch entwickeln. Dahinter steckt unsere Neukonzeption, die über das hinausgeht, was beispielsweise die Kriegsfolgenbewältigung anbelangt. Wir müssen mehr in die Zukunft blicken und insbesondere auch junge Leute ansprechen. Deswegen sprechen wir nicht nur über die Vergangenheit, sondern auch über die Zukunft. Dafür brauchen wir die notwendigen Mittel. Das sage ich in dieser Debatte auch als Baden-Württemberger. Vielen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Frei. Ich hatte aufgrund Ihrer Sprachfärbung schon vernommen, dass Sie nicht aus Bayern kommen. Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Karl-Heinz Brunner, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Karl Heinz Brunner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004256, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Auch ohne Anmoderation – ich komme ebenfalls aus Bayern; aber das macht nichts; denn meine norddeutsche Verwandtschaft hat immer gesagt, wir kämen sowieso fast schon vom Balkan, und über den Balkan reden wir ja heute unter anderem auch. Als ich ein junger Mann, nein, ein junger Bursche von zehn oder zwölf Jahren war, hat mich eine Geschichte immer wieder fasziniert. Ich komme aus dem Wahlkreis Neu-Ulm. Das ist dieser Wahlkreis, der recht weit am Anfang der Donau ist, dieses europäischen Flusses, der untrennbar mit vielen Besiedelungen und mit vielen Vertreibungen, mit vielen Hoffnungen und Ängsten von Menschen verbunden ist. Die Geschichte hat mir meine Oma erzählt. Meine Oma war in den 50er-Jahren Geschäftsführerin der Donauschwaben, die ihr Büro in Ulm hatten, und sie erzählte mir die Geschichte von den Menschen, die sich im 17., 18. und 19. Jahrhundert auf den Ulmer Schachteln aufgrund der Aussichtslosigkeit ihrer Situation, aufgrund ihrer bittersten Armut auf der Schwäbischen Alb dem Ruf folgend auf den Weg gemacht haben, Perspektive zu finden, neue Heimat zu finden und dort aufgenommen zu werden. Nicht alle, aber die meisten haben den Weg der Donau entlang nach Ungarn, nach Siebenbürgen, in das Banat, in die unterschiedlichsten Regionen, in die Walachei geschafft. Sie haben dort eine Existenz aufgebaut. Sie sind dort heimisch geworden. Sie sind dort angekommen und haben ihre Kultur, ihre deutsche Kultur und ihre donauschwäbische Kultur, behalten. Diese Menschen, meine sehr verehrten Damen und Herren, haben mich als Kind geprägt. Deshalb konnte ich nie glauben, dass sich Deutschland, dieses Deutschland, aus dem sich die Menschen im 17., 18. und 19. Jahrhundert auf den beschwerlichen Weg gemacht haben, um neue Existenzen zu gründen, heute bei der Konzeption der entsprechenden Umsetzung des § 96 des Bundesvertriebenengesetzes so kleinlich verhält und sagt, die Geschichtsvermittlung sollte mit einem größeren deutschen Schwerpunkt erfolgen, sie sei zu wenig deutsch, wie aus dem Bundesinnenministerium und aus dem Bund der Vertriebenen zu vernehmen ist. Nein, genau die internationale, die europäische Komponente ist wichtig, um aus der Geschichte der Flucht aus und der Rückkehr der Menschen nach Deutschland tatsächlich etwas zu lernen. Deshalb ist es richtig, dass in der 19. Wahlperiode im Koalitionsvertrag vorgesehen ist, gemeinsam mit den Heimatvertriebenen, mit den Aussiedlern, mit deutschen Minderheiten als Träger des Erbes im Sinne des § 96 des Bundesvertriebenengesetzes sowie im Sinne der europäischen Verständigung die Stiftungen mit Mitteln für die Zukunft zu ertüchtigen und die Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen zu stärken, ({0}) aber nicht deshalb, um allein deutsches Vermächtnis zu vermitteln, sondern um europäische Integration zu fördern und um zu zeigen, dass das, was im 17., 18. und 19. Jahrhundert entlang der Donau gelungen ist, auch im 21. Jahrhundert in Europa wieder gelingen kann. Das ist unsere Verpflichtung, das ist unsere Aufgabe. Dafür sind wir gern bereit, Geld zur Verfügung zu stellen; denn das ist unsere Zukunft, die Zukunft der Menschen in Europa, an der wir arbeiten. Ich blicke gerne auf meinen Fluss, die Donau, an der mein Wahlkreis liegt, und sehe zu, wie das Wasser Richtung Schwarzes Meer fließt. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Brunner. – Als Nächstes und Letztes hat das Wort der Kollege Eckhard Pols, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Eckhard Pols (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004131, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die deutsche Bundeswehr übt in Polen, die deutsche Bundeswehr übt im Baltikum, und die deutsche Bundeswehr ist dort bei der Bevölkerung ausgesprochen willkommen. Was hat das jetzt mit dem vorliegenden Bericht der Bundesregierung zur Kulturarbeit gemäß § 96 des Bundesvertriebenengesetzes zu tun? Zwei Entwicklungen haben in Osteuropa dazu geführt, dass deutsche Soldaten heute nicht mehr als Bedrohung wahrgenommen werden, sondern gemeinsam mit den polnischen und den litauischen Kameraden den Ernstfall trainieren können. Das ist zum einen die spätestens seit 2014 veränderte Sicherheitslage. Die Annexion der Krim war der Wendepunkt. Nur vier Jahre später wurden ausgerechnet auf dem Gebiet des ehemaligen Königsberg russische Raketen stationiert, die eine Reichweite bis nach Berlin und Warschau haben. Deswegen ist der persönliche Einsatz der Bundeskanzlerin zur Bewältigung der Ukraine-Krise, bei der es um die Zukunft Europas geht, nicht hoch genug einzuschätzen. Die zweite Entwicklung, die ich ansprechen möchte, ist der Aussöhnungsprozess der deutschen Heimatvertriebenen mit unseren östlichen Nachbarn. Um diesen Prozess richtig einordnen zu können, verweise ich auf den jüngsten Bericht des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen. Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg sind weltweit über 70 Millionen Menschen auf der Flucht oder vertrieben worden, davon allein 6,6 Millionen Menschen durch den Krieg in Syrien. Dieser traurige Rekord verdeutlicht die Dimension und Nachwirkung der Vertreibung der Deutschen am Ende des letzten Weltkrieges. Es wurde schon angesprochen: Damals waren 14 Millionen Menschen betroffen. Es handelt sich um die bis heute weltweit größte Zwangsmigration. Hunderttausende kamen dabei ums Leben oder wurden körperlich und seelisch verletzt. Die Aufarbeitung der Langzeitfolgen für die Generation der Kriegskinder und -enkel hat erst begonnen. Deshalb führen wir heute, nach über 70 Jahren, diese Debatte im Deutschen Bundestag. Die Beschäftigung mit diesem Schicksal und die Wahrung des Kulturerbes der Deutschen im östlichen Europa und die Kulturarbeit der Landsmannschaften sowie der Organisationen der deutschen Vertriebenen haben zur Aussöhnung entscheidend beigetragen und tun es immer noch. Ich habe mich gefreut, dass Horst Seehofer als Bundesinnenminister und Heimatminister auf einer Veranstaltung mit Spätaussiedlern neulich bei ihm im Hause einen bemerkenswerten Satz sagte, dass nämlich Heimatvertriebene und Heimatverbliebene im Grunde eine der größten Friedensinitiativen Europas verwirklicht haben. (Beifall bei der CDU/CSU Angesichts der Kritik, die von AfD-Seite geübt wurde, kann ich Ihnen nur raten, Herr Protschka: Lassen Sie sich mal von ihrem Kollegen Wilhelm von Gottberg, den ich persönlich sehr schätze, einladen. Wir kennen uns, wir kommen aus demselben Wahlkreis. Herr von Gottberg hat jahrzehntelang in der Landsmannschaft Ostpreußen mitgearbeitet und kann Ihnen erzählen, dass das Ostpreußische Landesmuseum in meiner Heimatstadt, in Lüneburg, mit einer großen Finanzierung des Bundes fantastisch aufgestellt wurde. Wir bekommen – mit Beteiligung des Landes Niedersachsen – einen dritten Bauabschnitt für 8 Millionen Euro, um auch noch das Leben von ­Immanuel Kant und Käthe Kollwitz in der gebührenden Form darzustellen. Was dort an Arbeit geleistet wird alleine für den Bereich Ostpreußen und in Verbindung mit dem Baltikum, mit Polen und auch mit Russland, das ist einzigartig und ist ein wunderbares Beispiel einer Förderung des Bundes. ({0}) Also, lieber Kollege Protschka, lassen Sie sich von Ihrem Kollegen von Gottberg einmal einladen, lassen Sie sich von ihm Nachhilfe geben. Dann würden Sie von diesem Pult aus etwas anderes sagen als das, was Sie gesagt haben. Vielen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/10836 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die heutige Tagesordnung soll um die Beratung einer Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung – Drucksache 19/11246 – zu einem Antrag auf Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens erweitert und diese jetzt gleich als Zusatzpunkt 22 aufgerufen werden. Dieses Verfahren entspricht der langjährigen Praxis des Deutschen Bundestages. Erhebt sich dagegen Widerspruch? – Ich sehe, das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Die Drucksache liegt Ihnen vor.

Michael Kuffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004795, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Staatsbürgerschaft ist die intensivste Form der Bindung an einen Staat. Ein Staat kann einem Menschen kein umfangreicheres Recht in seinem Verhältnis Staat/Bürger zugestehen als dieses. Die Staatsbürgerschaft umfasst eine Vielzahl unveräußerlicher Rechte als freier Bürger im Staat und ein umfassendes Schutzversprechen im Ausland. Die Kriterien zur Erlangung dieses Rechts müssen genau aus diesen Gründen höchsten Maßstäben genügen. Es ist dabei gut und richtig, dass wir mit dem heute hier vorliegenden Gesetzentwurf auch ein Stück unserer zentralen gesellschaftlichen Werte zur Voraussetzung erklären, um Bewerberinnen und Bewerbern die Erlangung der deutschen Staatsangehörigkeit zu ermöglichen. In unserem Grundgesetz, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist Artikel 6 Absatz 1 nicht nur als Grundrecht, sondern auch im Sinne einer Institutsgarantie angelegt: Die tragenden Strukturprinzipien der Ehe, mit denen eine sogenannte Mehrehe geradezu in Form eines Paradebeispiels unvereinbar ist, sind zu respektieren und zu schützen. Der Staat darf es nicht zulassen, dass hier ein vollkommen anderes Eheverständnis hoffähig gemacht wird – und übrigens auch ein Eheverständnis, das mit einem vollkommen anderen Menschen- und Rollenbild der Frau korrespondiert. Darauf möchte ich vor allem Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ausdrücklich hinweisen. Das ist nicht unser Frauenbild. ({0}) Wer die deutsche Staatsbürgerschaft erlangen möchte, muss sich ohne Wenn und Aber zu unseren Werten und zu unserer Staats- und vor allem Gesellschaftsordnung bekennen – ernsthaft und glaubhaft –, und zwar zum allermindesten, aber sicher nicht nur, zu unseren verfassungsmäßig kodifizierten Werten. Daher muss es selbstverständlich sein, dass die Gewährung der Anspruchseinbürgerung nach § 10 Staatsangehörigkeitsgesetz bei bestehender Mehrehe künftig eindeutig ausgeschlossen ist. Diesen eigentlich selbstverständlichen Umstand haben wir mit der vorliegenden Änderung nun normiert. Ebenso, liebe Kolleginnen und Kollegen, setzen wir mit diesem Gesetz aber auch sicherheitspolitisch ein klares Zeichen. Ausländerrecht ist Sicherheitsrecht.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Kuffer, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Akbulut?

Michael Kuffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004795, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, danke. – Durch die Einführung eines zusätzlichen Verlusttatbestandes für terroristische Auslandskämpfer sorgen wir dafür, dass Doppelstaatler, die sich an Kampfhandlungen terroristischer Vereinigungen im Ausland beteiligen, ihre deutsche Staatsangehörigkeit verlieren. So verhindern wir im Übrigen effektiv, dass Terroristen und Gewalttäter zurück ins Bundesgebiet reisen und zur Gefahr für die hier lebenden Menschen werden können. Zu guter Letzt schaffen wir mit der Verlängerung der Rücknahmefrist bei erschlichenen Einbürgerungen von fünf auf zehn Jahre einen entscheidenden Schritt, um Identitätstäuscher auch im Nachhinein wirksam zu sanktionieren. Die Praxis hat uns ja gezeigt, dass sich in vielen Fällen erst im Nachhinein Anhaltspunkte dafür ergeben, dass eine falsche Identität angegeben, ein falsches Bekenntnis oder sonst eine falsche Erklärung abgegeben wurde. Mit der Ausweitung der Rücknahmefrist im Rahmen einer Verdoppelung des Zeitraums von fünf auf zehn Jahre geben wir damit den Ausländerbehörden die nötigen Werkzeuge an die Hand, um auch in diesen Fällen wirksam tätig werden zu können. Kurzum: Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dieser Vorlage ist aus meiner Sicht in vielerlei Hinsicht ein gutes Stück Gesetzesarbeit gelungen. Wir passen damit unser Staatsangehörigkeitsrecht an die Erfordernisse der Praxis an und sorgen für klares, solides und wertebezogenes Regelwerk in Bezug auf das umfassendste Recht, das unser Staat zu vergeben hat. Herzlichen Dank! ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Kuffer. – Der nächste Redner ist Dr. Christian Wirth, AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Christian Wirth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004936, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Werte Kollegen! „Man muss Gesetze kompliziert machen. Dann fällt das nicht so auf“ – so neuerdings unser Innenminister. Eben doch, Herr Seehofer! Die Gesetzesänderungen zum Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit sowie zum Einbürgerungsverbot bei Mehrfachehen der Bundesregierung greifen zu kurz. Obwohl die Bundesregierung für die notwendigen Änderungen Jahre Zeit hatte, scheinen diese mit der heißen Nadel gestrickt, um kurz vor der Sommerpause eine Handlungsfähigkeit der Großen Koalition vorzugaukeln. Richtig ist es, dass Deutsche mit doppelter Staatsangehörigkeit ihre deutsche Staatsangehörigkeit verlieren müssen, wenn sie sich als Terroristen betätigen. Aber Ihr Gesetzentwurf verwendet eine überflüssig große Zahl unbestimmter Rechtsbegriffe, ({0}) verzichtet auf eine Anbindung an das Strafgesetzbuch, was rechtsdogmatisch wünschenswert wäre, und privilegiert Täter, die in Deutschland terroristische Akte vollziehen, da ihnen nach Ihrem Gesetzentwurf nicht die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen wird. In der Neufassung von § 28 Staatsangehörigkeitsgesetz haben Sie in letzter Minute den unbestimmten Begriff „Terrormiliz“ nebst umständlicher Legaldefinition ersetzt durch den Begriff „terroristische Vereinigung“ und formulieren halbherzig wie folgt: Die deutsche Staatsangehörigkeit verliert, der … sich an Kampfhandlungen einer terroristischen Vereinigung im Ausland konkret beteiligt. Aber wenn Sie richtigerweise den Begriff der terroristischen Vereinigung aus dem Strafgesetzbuch übernehmen, dann doch bitte in aller Konsequenz, wie dies der Gesetzentwurf der AfD vorsieht, für den ich hier werbe. Wir fügen einen neuen § 28a ein, in dem formuliert wird: Ein Deutscher, der freiwillig eine Vereinigung im Sinne der Vorschrift aus § 129a Abs. 1 oder Abs. 2 Strafgesetzbuch, sei es im Inland oder auch im Ausland … gründet oder sich an einer solchen Vereinigung als Mitglied beteiligt, verliert die deutsche Staatsangehörigkeit … ({1}) Dadurch wird der Tatbestand in dreierlei Hinsicht deutlich weiter, aber auch klarer gefasst. Erstens würde die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung genügen. Diese würde zweitens im Sinne des Strafgesetzbuches durch ihre Ziele und Pläne definiert; sie müsste nicht auch noch objektiv paramilitärisch oder bewaffnet sein. Und drittens würden auch inländische terroristische Vereinigungen umfasst sein. Denn es kann niemandem einleuchten, dass man seine Staatsbürgerschaft verlieren soll, wenn man zum Beispiel beim „Islamischen Staat“ mitmacht, nicht aber, wenn man in Deutschland sich einer terroristischen Vereinigung anschließt. Terroristische Vereinigungen sind eine reale Bedrohung in Deutschland. Dafür sprechen die steigende Zahl der islamischen Menschen, deren über Generationen hinweg eher abnehmende Assimilationsbereitschaft und der weltweite Trend hin zu einer immer strengeren und politischeren Auslegung des Islam. Auch beim Verbot der Einbürgerung von Ausländern, die in Mehrfachehen leben, greift der Gesetzentwurf der Bundesregierung zu kurz, nachdem das Bundesverwaltungsgericht entschieden hat, dass einem Einbürgerungsanspruch nach § 10 Staatsangehörigkeitsgesetz eine Mehrfachehe nicht entgegensteht. Diesen Missstand will die Bundesregierung dadurch lösen, dass sie § 10 dahin gehend ergänzt, dass der Einzubürgernde nicht mit mehr als einer Person verheiratet ist. Eine zusätzliche Ergänzung von § 8 sei nicht erforderlich. Die Erwägung, dass eine Einbürgerung grundsätzlich ausgeschlossen ist, wenn mehr als eine Ehe vorliegt, sei im Rahmen der Ermessenseinbürgerung nach § 8 bereits berücksichtigungsfähig. ({2}) Diese Ermessensentscheidung beruht auf der Formulierung, dass gewährleistet ist, dass Ausländer sich in die deutschen Lebensverhältnisse einfügen. Meine Damen und Herren, eine unbestimmte Formulierung unterliegt dem Wandel der Zeit und der Rechtsprechung. Im Sozialrecht ist die Mehrfachehe längst angekommen. Es werden für die Ehefrauen zwei, drei und vier nebst Kindern einfach Bedarfsgemeinschaften zwei, drei und vier gegründet, die der Steuerzahler zu finanzieren hat. Ja, öffentlich bedanken sich Ausländer bei Mama Merkel, dass ihnen das deutsche Sozialsystem erst die Mehrfachehen finanziell ermöglicht. Es gibt keine Statistiken, aus denen hervorgeht, wie viele Mehrfachehen tatsächlich in Deutschland bestehen. Aber es dürften in den Ballungszentren in Berlin, Bremen und Nordrhein-Westfalen sehr viele sein. Wie lange dauert es noch bei der andauernden Massenmigration, dass uns ein oberstes Gericht, notfalls der EuGH, sagt, dass auch die Mehrfachehe zu den deutschen Lebensverhältnissen zählt? ({3}) Deshalb werbe ich für den Gesetzentwurf der AfD, der in § 8 des Staatsangehörigkeitsgesetzes ausdrücklich festschreibt, dass eine Einbürgerung bei Mehrfachehen ausdrücklich ausgeschlossen ist. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion hat das Wort die Kollegin Dr. Eva Högl. ({0})

Dr. Eva Högl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003896, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Einen schönen guten Abend! Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir bringen heute eine wichtige, eine notwendige und damit richtige Reform des Staatsangehörigkeitsrechts auf den Weg. Diese Reform des Staatsangehörigkeitsrechtes ist auch Teil unserer Migrationspolitik, die gekennzeichnet ist von einer weltoffenen Gesellschaft, die Schutz und Sicherheit gibt, in der Menschen willkommen geheißen werden, die aber auch ganz klare Regeln formuliert, an die sich alle halten müssen. Unsere Reform umfasst vier Punkte. Ich beginne mit den IS-Kämpferinnen und -Kämpfern. Wir sehen vor, dass diejenigen, die sich einer terroristischen Vereinigung im Ausland anschließen und einem anderen Staat hinwenden, die deutsche Staatsangehörigkeit verlieren, und zwar nur dann, wenn sie eine weitere Staatsangehörigkeit haben; niemand wird in die Staatenlosigkeit entlassen. Aber das ist eine notwendige Schlussfolgerung, die absolut sinnvoll und richtig ist, auch wenn man sich natürlich mit dem Entzug der Staatsangehörigkeit immer schwertut. ({0}) Der zweite Punkt ist, dass wir voraussetzen – das schreiben wir gesetzlich fest –, dass bei der Einbürgerung die Identität geklärt ist. Das zieht sich wie ein roter Faden durch alle unsere Regelungen. Es ist längst gängige Verwaltungspraxis – das ist bereits höchstrichterlich abgesegnet –, dass Personen nur dann eingebürgert werden können, wenn ihre Identität geklärt ist. Deswegen ist es richtig, das jetzt gesetzlich festzuschreiben. ({1}) Der dritte Punkt ist durchaus kompliziert, sehr umstritten und Gegenstand öffentlicher Diskussionen, nämlich unsere Regelung, mit der wir verhindern wollen, dass Personen eingebürgert werden, die in Mehr- oder Vielehe leben. Wir schreiben nun in § 10 des Staatsangehörigkeitsgesetzes fest, dass sich die Personen, wie es bereits in § 9 vorgesehen ist, in die deutschen Lebensverhältnisse einordnen müssen und – das konkretisieren wir – nicht gleichzeitig mit mehreren Ehegatten verheiratet sein dürfen.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Akbulut?

Dr. Eva Högl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003896, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, bitte sehr.

Gökay Akbulut (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004653, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen. – Wir haben in der letzten Sitzungswoche gesehen, wie hier sehr kurzfristig Gesetzespakete verabschiedet werden, ohne dass wir uns damit rechtlich und inhaltlich auseinandersetzen können. Das ist unsere Kritik an diesem Verfahren. Ich möchte des Weiteren wissen – viele verschiedene Sachverständige haben das Ganze begleitet –, was Sie unter „Einordnung in deutsche Lebensverhältnisse“ konkret verstehen. Das wollen Sie festschreiben. Wir haben keine homogene Kultur und Gesellschaft. Es gibt Regenbogen- und Patchworkfamilien in ganz unterschiedlichen Konstellationen. Wie sollen die Behörden dies nachprüfen können? Wie soll die Umsetzung klappen? In Bezug auf die Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation und den daraus resultierenden Staatsangehörigkeitsentzug möchte ich gerne wissen, wie das betreffende Verfahren ausgestaltet werden soll. Mit wem wollen Sie da zusammenarbeiten, um jemandem die Mitgliedschaft oder Taten in einer terroristischen Organisation nachzuweisen?

Dr. Eva Högl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003896, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herzlichen Dank für die Frage, Frau Kollegin. – Wir haben hochkompetente Behörden, die mit Angelegenheiten des Staatsangehörigkeitsrechts befasst sind und solche Prüfungen seit Jahren vornehmen; das alles ist nichts Neues. Die „Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse“ ist zwar ein unbestimmter Rechtsbegriff, der aber gängig ist, voll der gerichtlichen Überprüfbarkeit unterliegt und sich bereits im geltenden Aufenthalts- und Staatsangehörigkeitsrecht finden lässt. Wir konkretisieren das nun in § 10 aus einem einzigen, aber wichtigen Grund. Es gibt ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts von Anfang letzten Jahres, das besagt, dass es bei der Anspruchseinbürgerung nach § 10 keine Möglichkeit gibt, eine Person von dieser Einbürgerung auszuschließen, wenn klar ist, dass sie eine zweite oder dritte Ehe führt. Das ist eine gesetzliche Lücke. Wir können das zwar nach § 9 ausschließen, nicht aber nach § 10. Man kann das auch nicht subsumieren unter das Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Deswegen haben wir uns entschieden, klar zu regeln, dass Personen, die in einer Viel- oder Mehrehe leben, keine deutschen Staatsbürger werden können. Das ist eine klare und deutliche Regelung. ({0}) Ich ergänze noch: Das ist keine Leitkulturprüfung, sondern das unterliegt der gerichtlichen Kontrolle. Mit der Insbesondere-Formulierung legen wir fest, dass auch andere Kriterien, die geprüft werden, eine ähnliche Bedeutung haben müssen, nämlich das in Artikel 6 unseres Grundgesetzes vorgesehene Prinzip der Einehe. Es steht uns gut zu Gesicht, das nun gesetzlich zu regeln. ({1}) Der vierte Punkt, den wir regeln, ist, dass wir in § 35 die Frist zur Rücknahme einer Einbürgerung von fünf Jahren – das ist bislang geltendes Recht – auf zehn Jahre verlängern. Darüber haben wir länger nachgedacht und diskutiert. Aber es geht um Einbürgerungen, die von Anfang an rechtswidrig waren, Einbürgerungen, die aufgrund von arglistiger Täuschung, Bedrohung und Bestechung oder auf der Basis vorsätzlich falscher Angaben erfolgt sind. Es handelt sich nicht um eine Einbürgerung auf Probe, wenn wir diese Frist verlängern. Vielmehr verlängern wir die Frist, um den Behörden die Möglichkeit zu geben, solche von Anfang an rechtswidrigen Einbürgerungen zurückzunehmen. Das ist eine klare Formulierung, mit der wir hier mehr Rechtssicherheit schaffen. Das ist eine wichtige und richtige Maßnahme. ({2}) Insgesamt möchte ich betonen – weil öffentlich intensiv darüber diskutiert wird, ob es sich um notwendige Maßnahmen handelt –, dass wir damit nicht die gesamten Fortschritte des Staatsangehörigkeitsrechts zurücknehmen. Vielmehr schreiben wir das Staatsangehörigkeitsrecht fort. Wir schaffen eine Kombination aus modernem Einwanderungsrecht, klaren Regeln und klaren Vorschriften in unserem Staatsangehörigkeitsrecht. Für die SPD sage ich sehr deutlich – vielleicht als kleiner Unterschied zum Koalitionspartner –: Wir werden uns weiter dafür einsetzen, mehr doppelte Staatsangehörigkeiten zu ermöglichen. Wir werden uns dafür einsetzen, dass mehr Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit das Wahlrecht bekommen. Wir alle, glaube ich, setzen uns dafür ein, dass wir hier in unserer Gesellschaft in Vielfalt gut zusammenleben. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Der nächste Redner: für die FDP-Fraktion der Kollege Stephan Thomae. ({0})

Stephan Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004175, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen! Verehrte Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute abschließend sozusagen über den Nachzügler des Migrations- und Asylpaketes in der letzten Sitzungswoche. Ich will nicht auf den Versuch eingehen, das im verkürzten Verfahren ohne Sachverständigenanhörung – genauso wie in der letzten Sitzungswoche – durch das Plenum zu schieben, genauso wenig wie auf die von Ihnen kurzfristig eingebrachten Änderungsanträge. Ich will heute nur zu den Inhalten und nicht zum Verfahren reden. Ihr Entwurf enthält, wenn man so will, vier Komponenten. Der erste Punkt ist das Thema „Unvereinbarkeit der Viel- und Mehrehen mit der deutschen Staatsangehörigkeit“. Man muss das Positive in Ihrem Entwurf ein bisschen suchen, aber da ist etwas Positives dran. Wir stimmen diesem Punkt zu; wir sehen das genau so, wie es die Koalition auch tut. Auch aus unserer Sicht ist die Mehr- und Vielehe mit dem Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit nicht zu vereinbaren. ({0}) Nach unserem Rechtsverständnis wird die Ehe zwischen zwei Personen unterschiedlichen oder auch gleichen Geschlechtes geschlossen. Der Abschluss einer Mehrehe ist ein Straftatbestand. Nun gilt das Verbot der Mehrehe genau genommen sogar schon, und zwar dann, wenn es sich um die Einbürgerung eines Ehepartners von jemandem handelt, der bereits Deutscher ist. Dann kann er keinen weiteren Ehepartner hinzunehmen. Das muss doch erst recht dann gelten, wenn auch der Antragsteller bei der Einbürgerung in einer Mehrehe lebt. Das wäre sonst eine Unwucht, eine Asymmetrie. Aus diesem Grunde ziehen Sie hieraus die Konsequenzen und machen das Ganze logisch. Es muss für alle Einbürgerungsbewerber der gleiche Maßstab gelten. Dass ein solcher Passus jetzt in das Gesetz reinkommt, ist – das muss ich dazu sagen – nicht zuletzt unserem nordrhein-westfälischen Landesminister Joachim Stamp und der FDP-Fraktion in Nordrhein-Westfalen zu verdanken, die das über den Bundesrat eingebracht haben. ({1}) Aber es ehrt Sie, dass Sie gute Ideen aufgreifen, auch wenn Sie von FDP-Landesregierungen kommen. Die anderen drei Komponenten stoßen bei uns allerdings auf Vorbehalte. Das ist der Grund, warum wir den Gesetzentwurf im Endeffekt gleichwohl ablehnen werden. Punkt zwei ist die Fristverlängerung bei der Rücknahme der Einbürgerung von fünf auf zehn Jahre. Das klingt jetzt erst einmal undramatisch, „fünf auf zehn Jahre“. Aber man muss sehen, dass jemand, der den Antrag auf Einbürgerung stellt, bereits seit acht Jahren seinen Wohnsitz im Inland hat. Wenn Sie dies jetzt addieren – die acht Jahre von dem Zeitpunkt, an dem jemand einen Aufenthaltstitel erhält, bis zum Antrag auf Einbürgerung und dann noch mal zehn Jahre –, dann kommen Sie auf 18 Jahre. Das ist unserer Meinung nach unverhältnismäßig. Wir könnten es bei den jetzigen Zeiträumen belassen. Der dritte Punkt betrifft die gesicherte Identität und die Staatsangehörigkeit. Auch da schießen Sie nach unserer Auffassung über das Ziel hinaus. Natürlich ist es wichtig, dass man bei der Einbürgerung die Identität und die Staatsangehörigkeit geklärt hat. Nur: Ob man das jetzt als unabdingbare Voraussetzung zwingend ins Gesetz schreiben muss, da haben wir Vorbehalte. Denn das setzt ja auch voraus, dass die Herkunftsländer Behörden unterhalten, die, sofern sie überhaupt existieren, einen Aktenbestand haben, die einen Überblick über ihre Staatsangehörigen haben, deren Auskünfte wir anerkennen und die mit uns kooperieren. Es gibt viele Staaten, bei denen das nicht der Fall ist. Denken Sie an Kriegs- und Bürgerkriegsländer oder an Failed States. Ein Somalier hätte niemals die Chance, bei uns eingebürgert zu werden, weil in Somalia keine Behörden existieren, die uns eine Staatsangehörigkeit bestätigen können. Das ist eine Asymmetrie, eine Unwucht. Wir denken, Sie haben diese Konsequenz nicht bedacht. ({2}) Der vierte Punkt, auf den ich hinweisen will, ist der Verlust der Staatsangehörigkeit durch eine Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Es klingt intuitiv zunächst einmal okay, dass ein deutscher Doppelstaatler, der sich an einer terroristischen Organisation im Ausland beteiligt, die deutsche Staatsangehörigkeit verlieren kann. Aber es sind nun einmal Deutsche mit Familie, Eltern, Geschwistern hier in Deutschland. Die Ahndung, auch von schweren und schwersten Straftaten, ist nach unserem Rechtsverständnis Sache von Gerichten, nicht von Ausländerbehörden. ({3}) Auch da gilt das, was immer gilt: Gerichte haben darüber zu befinden, ob eine Tat strafbar ist, und nicht, ob eine Gesinnung dazu führt, dass jemand die deutsche Staatsangehörigkeit verliert. ({4}) Das wäre der Einstieg in eine Art Gesinnungsstrafe. Ich komme zum Schluss. Weil dieser Gesetzentwurf drei Komponenten enthält, gegen die wir schwerste Bedenken hegen, können wir dem Gesetz im Endeffekt leider nicht unsere Zustimmung erteilen. Ich hoffe, Sie können damit leben, Frau Kollegin Högl. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke ist die Kollegin Ulla Jelpke. ({0})

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung legt hier den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes vor, das sie verschärfen will. Doppelstaatler, die sich ausländischen terroristischen Vereinigungen anschließen, sollen die deutsche Staatsangehörigkeit verlieren. Zweifellos reden wir hier über IS-Terroristen, die skrupellose Killer sind. Doch wir reden hier auch über Personen, die sich in Deutschland radikalisiert haben. Durch den Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit wird verhindert, dass diese Verbrecher in Deutschland abgeurteilt werden können. Es ist einfach nur scheinheilig, wenn die Bundesregierung Länder wie Tunesien zur Rücknahme von Straftätern nötigt und andererseits nicht bereit ist, Verantwortung für eigene Verbrecher zu übernehmen. ({0}) Auf jene IS-Anhänger, die jetzt in Gefangenenlagern in Syrien und im Irak sitzen, lässt sich dieses Gesetz rückwirkend gar nicht anwenden. Was Sie hier vorhaben, ist also eine Mischung aus Symbolpolitik und Verantwortungslosigkeit. Der automatische Verlust der Staatsbürgerschaft ohne Verhältnismäßigkeits- und Härtefallprüfung ist zudem europarechtswidrig. ({1}) Für die im Ausland lebenden Betroffenen wäre es nahezu unmöglich, effektiven Rechtsschutz zu bekommen. ({2}) Wir Linken meinen: Wer Straftaten begeht, gehört vor Gericht. Wir verwahren uns aber strikt dagegen, das Staatsangehörigkeitsrecht zur Lösung gesellschaftlicher Probleme zu missbrauchen. ({3}) Ist diese Türe erst einmal geöffnet, wird es immer weitere Rufe nach Ausbürgerung von Straftätern bis hin zu politischen Oppositionellen geben. Doch eine Ausbürgerung von Personen, die nicht als würdig erachtet werden, Deutsche zu sein, verbietet das Grundgesetz als Lehre aus dem Faschismus. ({4}) Wir sagen daher ganz deutlich: Einen Verlust der Staatsbürgerschaft oder gar eine Ausbürgerung aus politischen Gründen darf es nicht geben. Meine Damen und Herren, nach Ansicht der Koalition sollen Einbürgerungen von der – Zitat – „Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse“ abhängig gemacht werden. Damit führen Sie eine schwammige Generalklausel ein, die den Rechtsanspruch auf Einbürgerung grundlegend infrage stellt. Diesen Rückschritt im Staatsbürgerschaftsrecht lehnen wir entschieden ab. Dahinter steckt nichts anderes als unerträgliche Ideologie der deutschen Leitkultur. ({5}) Als Ablehnungsgrund werden insbesondere sogenannte Vielehen genannt.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der Fraktion der SPD?

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja, gerne.

Christian Petry (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004605, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herzlichen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Ich darf Ihnen aus zwölfjähriger Erfahrung mit Einbürgerungen sagen – ich habe im Saarland bei der Einbürgerungsbehörde gearbeitet, und in der Zeit wurden etwa 14 000 Menschen eingebürgert –, dass der Begriff „Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse“ bereits zwölf Jahre Bestandteil des Staatsangehörigkeitsrechts und der Ausführungsbestimmungen und somit kein neuer Begriff ist, ({0}) dass er rechtlich gefestigt zwei Dinge beinhaltet – das kann man auch nachlesen –: Das eine ist die Fähigkeit, die deutsche Sprache auf einem gewissen Sprachniveau nach dem Europäischen Referenzrahmen zu beherrschen. Das andere ist Ausfluss der Frage: „Wie prüft man denn die Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse?“, nämlich des Einbürgerungstests, über dessen Sinn und Irrsinn man durchaus streiten kann. 98 Prozent bestehen ihn. ({1}) Würden Sie mir zustimmen, dass Ihre Aussage, dass durch dieses Gesetz der Begriff „Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse“ neu eingeführt würde, so nicht stimmt? Sondern er wird lediglich durch einen Aspekt ergänzt, nämlich dass die Mehrehe ausgeschlossen ist, und dies wird jetzt auch auf die Ermessenseinbürgerung nach acht Jahren und die Anspruchseinbürgerung nach zehn Jahren angewandt. Würden Sie mir zustimmen, dass dies kein neuer Begriff ist? ({2})

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich habe überhaupt nicht von einem „neuen Begriff“ gesprochen, sondern es wird eine neue Festlegung getroffen. ({0}) Sie kennen das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts. Danach war es bisher eine Ermessensfrage. Sie haben vielleicht an unserer Anhörung teilgenommen, bei der auch Sachverständige, die aus der Koalition bestellt wurden, diesen Punkt sehr, sehr kritisch beurteilt haben. Ich will ganz klar sagen: Natürlich ist für mich eine patriarchale Vielehe widerlich. Aber das Verbot löst das Problem nicht. Diese Menschen sind hierhergekommen, haben Schutz gesucht, und man muss nach wie vor eine Einzelfalllösung finden, wie es das Bundesverwaltungsgericht gefordert hat. Das ist mit dem neuen Entwurf im Grunde ausgeschlossen. Sie sind von vorneherein außen vor. ({1}) Ich meine, das ist nicht integrationsfördernd. Ich will vor allen Dingen einen Punkt herausgreifen. Verlangen Sie wirklich, dass Frauen sich scheiden lassen müssen? ({2}) Es ist doch letztendlich so, dass dies den Frauen zum Nachteil ausgelegt wird; denn sie sind ja nicht diejenigen, die mehrere Männer heiraten, sondern die Männer heiraten mehrere Frauen. Das ist ein sehr sensibles Thema. Wir haben Ihnen in der Anhörung und auch im Ausschuss vorgeworfen, dass Sie diese Fragen viel zu schnell mal eben durchs Parlament jagen, anstatt sie auch mit dem Justizministerium ganz genau zu erörtern, sodass man wirklich eine saubere Lösung dafür findet. Ich jedenfalls denke: So wie Sie es im Moment machen, werden Sie vor allen Dingen den Frauen schaden und damit auch die Integration dieser Frauen infrage stellen. ({3}) Selbstverständlich – ich hatte es eben schon gesagt – lehnen wir patriarchale Vielehen ab. Aber das ist, wie gesagt, keine Lösung der gesellschaftlichen Probleme. Als Letztes möchte ich einen Punkt aufgreifen, der hier auch schon angesprochen wurde: Die Koalition möchte eine Staatsbürgerschaft zweiter Klasse schaffen, ({4}) indem sie die Frist zur Rücknahme von Einbürgerungen von fünf auf zehn Jahre verdoppeln möchte. In den letzten zehn Jahren gab es bei 1 Million Einbürgerungen gerade einmal läppische 125 Rücknahmen. Die Gründe dafür sind schon genannt worden: weil man falsche Angaben gemacht hat oder sonstige Gründe. Deshalb jetzt alle Eingebürgerten auf zehn Jahre hinaus zu Deutschen auf Widerruf zu machen, ist unverhältnismäßig und meines Erachtens auch integrationsfeindlich. ({5}) Zum Schluss – mein letzter Satz –: Integration gelingt nicht durch Ausgrenzung, ({6}) sondern durch gesellschaftliche Teilhabe. Davon sind wir fest überzeugt. Deswegen werden wir diesen Gesetzentwurf ablehnen. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Das Wort hat für Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Filiz Polat. ({0})

Filiz Polat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004857, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Damen und Herren! Das Staatsangehörigkeitsrecht wird mit dem uns heute vorliegenden Gesetzentwurf rückabgewickelt, zurückkatapultiert in die 80er-Jahre. ({0}) Es ist ein weiterer Tiefpunkt in der Migrationspolitik und ein fatales Signal gegenüber unserer Einwanderungsgesellschaft. ({1}) Denn wirft man einen Blick in die kurze Geschichte des Staatsangehörigkeitsrechts, dann bekommt die unbestimmte Formel der „Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse“ eine sehr besorgniserregende Kontur. ({2}) Nach den Einbürgerungsrichtlinien aus dem Jahr 1977, die bis in die 90er-Jahre galten, hat sich – ich zitiere – der fremdstämmige Ausländer der deutschen Eigenart und der deutschen Kulturgemeinschaft anzupassen, um die deutsche Staatsangehörigkeit zu erhalten, im Rahmen des Ermessens. ({3}) In seiner Pressekonferenz wärmt das Bundesinnenministerium diese unsägliche Formel nun wieder auf, indem es die „tätige Einordnung in die elementaren Grundsätze des gesellschaftlich-kulturellen Gemeinschaftslebens“ fordert. ({4}) Meine Damen und Herren, klarer kann man die Zielrichtung doch nicht formulieren. Damit kann die Mehrheit ihre kulturellen Vorstellungen der Minderheit bei der Einbürgerung aufzwingen und Menschen den Bürgerstatus verweigern. Das bricht mit einem von Sozialdemokraten, Freidemokraten und auch vielen Christdemokraten gemeinsam mit uns mühsam errungenen Konsens für ein modernes und demokratisches Einwanderungsland. Hier und heute kündigen Sie mit Ihrem Gesetzentwurf diesen Konsens auf. ({5}) Meine Damen und Herren, das geschieht zu einem Zeitpunkt, zu dem einige Christdemokraten Koalitionen mit der AfD für möglich halten und einige ihrer Mitglieder davon sprechen, das Soziale mit dem Nationalen zu versöhnen. In diesem Kontext müssen Sie die massive Kritik aus der Zivilgesellschaft verstehen. Denn nicht zuletzt dokumentiert das so breite Bündnis aus Migrantenselbstorganisationen, „neuen deutschen organisationen“, juristischen Vereinigungen sowie rund tausend Einzelpersonen aus Politik, aus der gesamten Wissenschaft, unter anderem aus den Bereichen Europarecht und Migrationsrecht, und aus Medien und Kultur die Befürchtungen hinsichtlich der Konsequenzen, die dieses Gesetz in diesem gesellschaftlichen Klima mit sich bringt. Umso erschreckender, absurd und völlig inakzeptabel ist es deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, dass Ihr Sachverständiger in seiner Stellungnahme die unterzeichnenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und Verbände diffamiert und in die Nähe der AfD rückt. ({6}) Das ist unglaublich angesichts der Tatsache, dass genau diese Menschen heute mehr denn je von rechts bedroht werden. ({7}) Und jetzt sind wir doch ehrlich, meine Damen und Herren: Selbst wenn eine Änderung im Einwanderungsrecht nötig wäre, um eine patriarchal geprägte Vorstellung von Vielehe, die wir im Übrigen ablehnen und die in Deutschland strafbewehrt ist, ({8}) zu bekämpfen, wird den Frauen mit diesen Änderungen nicht geholfen. Vielmehr werden sie als Deckmantel genutzt, um im Staatsangehörigkeitsrecht einen Kulturvorbehalt zu verankern. Wir lehnen deshalb das Leitkulturprinzip im Staatsangehörigkeitsrecht entschieden ab. ({9}) Meine Damen und Herren, abschließend zwei Aspekte zum Verlust der Staatsbürgerschaft deutscher IS-Kämpferinnen und IS-Kämpfer als Ihre einzige Antwort auf unsere sicherheitspolitische Herausforderung. Erstens. Sie ignorieren die Möglichkeit, dass auch andere Staaten – das wissen wir – gleichzeitig genau denselben Vorgang vorantreiben, der zum Verlust der Staatsangehörigkeit führt, sodass am Ende Staatsbürgerinnen und Staatsbürger entstehen, für die sich niemand mehr verantwortlich fühlt. Einen von Angst getriebenen Ausbürgerungswettbewerb kann niemand wollen, nicht aus vorgeschobenen sicherheitspolitischen und schon gar nicht aus staatsangehörigkeitsrechtlichen Gründen. Zweitens. Sie riskieren, dass Völkerrechtsverbrechen und schwere Menschenrechtsverletzungen, von deutschen IS-Kämpferinnen und IS-Kämpfern begangen, ungesühnt bleiben. Wir brauchen keine leeren Versprechungen, wir brauchen eine verantwortungsvolle Strategie. Der Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit, damit man sich dieser Menschen einfach entledigen kann, gehört nicht dazu. Wir lehnen den Gesetzentwurf ab. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner: für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Hans-Jürgen Irmer. ({0})

Hans Jürgen Irmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004766, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Hochverehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetzentwurf zur Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts ist gut, vernünftig und zielführend, und er ist im Übrigen ein Beitrag zur Integrationsförderung. ({0}) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich in der entsprechenden Kürze auf die vier wesentlichen Punkte eingehen. Erstens. Wenn die Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse zur Grundlage für die Einbürgerung gemacht wird – ich erinnere an die Ausführungen von Professor Thym –, dann ist das erstens nichts Neues und zweitens richtig und das Normalste dieser Welt. Es ist das, was in allen anderen Staaten Europas gemacht wird. Was dort richtig ist, kann bei uns nicht falsch sein. Es ist völlig normal. ({1}) Zweitens. Wer bei der Identitätsfeststellung nicht mitwirkt, falsche Angaben macht, zeigt, dass er am möglicherweise aufnehmenden Staat kein inneres Interesse hat, sondern tendenziell eher ein finanzielles. Das reicht aber nicht. ({2}) Drittens. Wer meint, eine Mehrehe führen zu müssen, meine Damen und Herren, der kann das in allen islamischen Staaten dieser Welt tun. Diese Freiheit hat er. Das ist aber mit dem deutschen Recht nicht kompatibel, und deshalb gibt es keinen Anspruch darauf, die deutsche Staatsbürgerschaft entsprechend anerkannt zu bekommen. Das ist eine völlig normale Sache. ({3}) Lassen Sie mich einen persönlichen Satz hinzufügen. Ich bin ja sehr dafür, dass wir an Menschen, die bereit sind, sich zu integrieren, letzten Endes die deutsche Staatsbürgerschaft vergeben. Diese Vergabe setzt aber einen langen und erfolgreichen Integrationsprozesses voraus, bei dem klar ist, dass man ein Auskommen mit seinem Einkommen hat, und zwar aufgrund eigener Anstrengungen, und dass man bereit ist, sich mit dieser Nation und mit den Werten des Grundgesetzes zu identifizieren. Das ist die Grundvoraussetzung; sonst wird es nicht funktionieren. ({4}) Der vierte Punkt. Der Entzug der Staatsbürgerschaft für IS-Terroristen ist richtig und im Grunde genommen überfällig. Ich erinnere daran, dass es Innenminister de Maizière war, der genau das schon 2015, 2016 gefordert hat. Damals – das muss man leider dazusagen – gab es die politischen Mehrheiten nicht. Deshalb freue ich mich sehr, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, dass wir heute so weit sind, dies gemeinsam im Sinne Deutschlands machen zu können. Die Zahlen, die ich an dieser Stelle nicht alle aufführen kann, sprechen letzten Endes für sich. Von 1 050 Islamisten aus Deutschland sind 500 im Ausland, 200 umgekommen und etwa 300 aktuell hier in Deutschland. Das heißt, wir haben schon ein Problem. Deshalb ist die Frage des Entzugs der Staatsangehörigkeit ein Thema, und ein anderes ist, dass wir auch darauf drängen müssen, dass diese IS-Terroristen vor einem UN-Tribunal angeklagt und vor Ort entsprechend abgeurteilt werden. ({5}) Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Diejenigen, die zu einer Terrormiliz gegangen sind, haben keinen Häkelkurs besucht oder keine Schülerfreizeit vorbereitet. Sie kamen, um einen islamischen Staat, ein Kalifat, aufzubauen mit ausschließlicher Anwendung der Scharia, die auf dem Koran fußt, um einen Staat aufzubauen, in dem für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung, Religionsfreiheit kein Platz ist. Sie kamen, um Ungläubige – und nicht nur diese, sondern auch eigene muslimische Landsleute – zu ermorden, zu foltern, zu enthaupten, Frauen zu vergewaltigen. Meine Damen und Herren, diese Leute brauchen wir nicht in Deutschland. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Helge Lindh. ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Polat, nur Insider verstehen Ihren Hinweis auf den Sachverständigen Thym, der da lautete, er rücke Sie in die Nähe der populistischen AfD. Wenn Sie so etwas behaupten, ist es unklug, den irrlaufenden Gedanken von einzelnen Abgeordneten, das Nationale mit dem Sozialen zu verbinden, auf unsere heutige Gesetzgebung zu beziehen. Denn das ist nichts anderes als billiger Populismus, den Sie eben gerade vorgeführt haben. ({0}) Sie belegen, was Sie inkriminieren: keine kluge Strategie. Insgesamt muss ich bei Ihren Ausführungen und auch bei den Ausführungen von Frau Jelpke leider sagen: Ich verstehe die Absicht, aber ich vermisse jeglichen Sinn in Ihren Ausführungen. ({1}) Ich finde es atemberaubend, mit welchen Girlanden und relativ abstrakten Verrenkungen Sie es geschafft haben, uns hier zu erklären, warum wir keinen Ausschluss der Einbürgerung bei Mehr- und Vielehe vornehmen sollten. Und ganz schnell, innerhalb von einer Sekunde, waren alle geschlechterrechtlichen Fragen vom Tisch gewischt. ({2}) Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kollegen, ich kann das nicht nachvollziehen. ({3}) Ich finde es auch, ehrlich gesagt, merkwürdig, dass Sie heute uns, die wir diesen Gesetzentwurf unterstützen, vorwerfen, wir würden hinter die Modernität zurückfallen. Ich würde eher behaupten: Die Art, in der Sie diese Debatte skandalisieren, ist ein Rückfall in eine vormoderne Gesellschaft und tut so, als lebten wir nicht in einer modernen, selbstbewussten Migrationsgesellschaft. ({4}) Meine These lautet zugespitzt: Sie verwechseln mutwillig einen Verwaltungsakt, einen rechtsstaatlichen Akt wie zum Beispiel die Identitätsfeststellung mit der Frage der vielgestaltigen sozialen Identität von Menschen. Das eine hat aber nichts mit dem anderen zu tun. Sie aber begehen diesen Kategorienfehler bewusst. Wenn man das von so einem relativ hohen moralischen Ross aus macht, in der Überzeugung, die richtige Gesinnung zu haben, und in der Überzeugung, wir müssten ein schlechtes Gewissen haben, dann müssen Sie sich auch gewisse Kritik anhören. Es wirft meines Erachtens in der Tat eine Frage auf, wenn man versucht, gegenüber Akten der Intoleranz – das ist für mich IS, das sind für mich terroristische Vereinigungen, das ist die Idee der Vielehe – allzu viel Toleranz zu entwickeln. Allzu viel Toleranz gegenüber der Intoleranz mündet im Ende der Toleranz. ({5}) Erstaunlicherweise klagen Sie uns im Tone der Toleranz an. Wenn aber die Prediger der Toleranz gegenüber den Andersdenkenden so intolerant sind, dann herrscht die Intoleranz, und Sie begehen ein kategorisches Eigentor. ({6}) Wenn leider, wie wir heute erlebt haben, von rechts außen behauptet wird, es gäbe keinen Rechtsextremismus, dann ist das eine zutiefst erschütternde Karikatur unserer Gesellschaft. Wenn Sie aber umgekehrt behaupten und unterstellen, unsere Gerichte, unsere Ausländerbehörden und die Innenministerien würden alle von dem Muff von tausend Jahren durchdrungen sein, dann ist auch das eine zutiefst fragwürdige Karikatur unserer modernen rechtsstaatlichen Gesellschaft. ({7}) Sie machen genau das, wenn Sie in diesen Kategorien denken. Wenn Sie behaupten, wir würden als Mehrheitsgesellschaft die Minderheitsgesellschaft diskriminieren, dann machen Sie genau das: Sie reduzieren Menschen auf ihre Gruppenkategorien, und Sie zeichnen eine Karikatur von Menschen, und das ist absurd. ({8}) Es wurde durch Rechtsprechung, Anwendungshinweise, die Gesetzeslage – § 9 – deutlich gemacht – Frau Högl hat es getan –, ({9}) worauf der Begriff „Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse“ zielt. Aber wenn wir jetzt einfach mal allgemeinsprachlich nachdenken würden, – (Zuruf des Abg. Jan Korte [DIE LINKE]

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

– stellten wir fest, dass dieses Land mit seinen heutigen deutschen Lebensverhältnissen ({0}) ein modernes, offenes, liberales Land ist. Und in einem offenen, modernen, liberalen Land ist es kein Problem, sich in diese Verhältnisse einordnen zu können. ({1}) Nein, es ist unsere Aufgabe, im Sinne –

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

– einer Leitkultur, die einen Namen hat – Grundgesetz –, genau dies zu verteidigen und zu vertreten. Nichts anderes macht dieses Gesetz. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner: für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Philipp Amthor. ({0})

Philipp Amthor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004656, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Staatsangehörigkeitsrecht ist das vornehmste Recht unseres Staates. Deswegen ist es richtig und notwendig, dass diese Regierungskoalition Handlungsfähigkeit zeigt und richtige Anpassungen vornimmt. ({0}) Ich kann gar nicht nachvollziehen, dass es hier an drei Punkten Kritik gibt, die eigentlich für jeden selbstverständlich sein sollten: Wir wollen keine Einbürgerung von IS-Terroristen. Wir wollen keine Einbürgerung bei Vielehen. ({1}) Und wir wollen, dass man sich in deutsche Lebensverhältnisse einfügt. – Das sollte eine Selbstverständlichkeit sein und kein Anlass für Kritik. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Opposition hat im Wesentlichen vier Kritikpunkte gegen unseren Gesetzentwurf vorgebracht: ({3}) Es seien Änderungen im Eilverfahren gewesen. Wir hätten hier eine Staatsangehörigkeit auf Probe geschaffen. Es gäbe eine Zweiklassenstaatsangehörigkeit. Und wir würden uns dann auch noch der Leitkultur annehmen. ({4}) Ich kann Ihnen sagen: Alle vier Kritikpunkte sind unberechtigt, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({5}) Zunächst zum Eilverfahren. Das überrascht mich ja schon. Wissen Sie, wenn man an diesem Gesetz eines kritisieren kann, dann allenfalls, dass es nicht schon früher gekommen ist, ({6}) weil wir es dann gegen viel mehr IS-Terroristen hätten einsetzen können, um diesen die Staatsbürgerschaft zu entziehen. Es ist ja keine neue Diskussion. Damit Sie sich das noch mal vor Augen führen: 2014 hat meine Bundestagsfraktion das Thema bereits aufgegriffen. Die Änderungen im parlamentarischen Verfahren, die Sie als überhöht kritisieren, hat die Innenministerkonferenz bereits 2018 vorgeschlagen. Ich finde, das ist genug Zeit, um das mal nachzulesen, selbst für Linke und Grüne, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({7}) Deswegen kann hier von einem Eilverfahren keine Rede sein. Von einer Staatsangehörigkeit auf Probe im Übrigen auch nicht. Denn wir wollen, dass man auch zehn Jahre, nachdem man bei seiner Identität getäuscht hat, die Staatsangehörigkeit noch verlieren kann. Ich sage Ihnen mal was: Täuschen bei der Einbürgerung ist kein Kava­liersdelikt. Wenn man das macht, muss man auch Konsequenzen tragen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({8}) Und dann ein besonders schönes Bonmot: Zweiklassenstaatsangehörigkeit. Klar ist: Natürlich können wir mit unserem Gesetz wegen Artikel 16 des Grundgesetzes und dem Verbot der Staatenlosigkeit Deutschen nicht ohne Weiteres die Staatsbürgerschaft entziehen, wenn sie sich einer terroristischen Vereinigung anschließen. Bei Doppelstaatlern geht das allerdings sehr wohl. Jetzt sagen Sie: Das ist eine ganz schlimme Schlechterstellung für die Doppelstaatler. – Ich sage Ihnen mal eines zum Thema Doppelpass: Das ist in der Regel eine freiwillige Entscheidung. Der CDU/CSU-Bundestagsfraktion braucht man nicht zu erklären, dass wir es besser finden, wenn man sich für einen Pass entscheiden würde. ({9}) Das alleine zeigt doch eigentlich, wie richtig es ist, Kritik an der doppelten Staatsbürgerschaft zu üben. Zum Thema Leitkultur. Das ist ja wirklich das Absurdeste an der Diskussion, das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen: Grüne und Linke haben etwas dagegen, dass man sich bei der Einbürgerung in deutsche Lebensverhältnisse einordnet. ({10}) Ich frage mich: Wie kann man dagegen etwas haben? Wenn es jetzt heißt, die Grünen seien eine so tolle bürgerliche Partei, dann zeigt dieser Auftritt heute: Die Grünen sind eine linke Partei, die ein falsches Verhältnis zum Staat und zur Staatsangehörigkeit hat, und nichts anderes. ({11}) Die Einzigen in diesem Parlament, die für die Staatsangehörigkeit die richtigen Schwerpunkte setzen, sind CDU/CSU und die SPD, die hier wirklich gute Beiträge geleistet haben. Die Handlungsfähigkeit dieser Koalition wird durch dieses Gesetz unterstrichen. Noch eines zu den Patrioten am ganz rechten Rand des Parlamentes. Auch Sie haben ja einen Gesetzentwurf vorgelegt. Ich will Ihnen sagen: Unser Gesetzentwurf geht diesmal durchaus weiter als Ihrer und ist konsequenter. Das heißt, wenn sie etwas für die Staatsangehörigkeit tun will, ist die AfD zu lasch. Da haben CDU/CSU und SPD bessere Gesetzentwürfe zu bieten. Ihre Vorschläge sind sachlich falsch.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Philipp Amthor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004656, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir stimmen für unseren Gesetzentwurf. Die Handlungsfähigkeit der Koalition ist unterstrichen. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Ich schließe die Aussprache, und wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes. Der Ausschuss für Inneres und Heimat empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/11083, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 19/9736 und 19/10518 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Das sind CDU/CSU und SPD. Wer stimmt dagegen? – Das ist die Opposition. Enthaltungen? – Keine. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Das sind wieder die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? – Das sind die Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? – Keine. Der Gesetzentwurf ist damit angenommen. Tagesordnungspunkt 11 b. Hier wird interfraktionell Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/11127 an den Ausschuss für Inneres und Heimat vorgeschlagen. Gibt es andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute am Tag der Immobilienwirtschaft möchten wir einen Blick auf ein aus unserer Sicht zu wenig beleuchtetes Thema werfen: Auch Geldwäsche lässt die Immobilienpreise in Deutschland steigen. Finanzexperten des Bundeskriminalamtes gehen davon aus, dass von geschätzten 100 Milliarden Euro, die aus Steuerhinterziehung, Drogen-, Waffen- und Menschenhandel stammen und jedes Jahr in Deutschland gewaschen werden, 20 Milliarden Euro und mehr auf dem deutschen Immobilienmarkt umgesetzt werden. 20 Milliarden Euro jedes Jahr – das sind 10 Prozent des jährlichen Immobilienumsatzes. Ja, es gibt verschiedene Ursachen für den starken Anstieg der Immobilienpreise in Deutschland: niedrige Zinsen, gute wirtschaftliche Entwicklung, gestiegenes Interesse ausländischer Investoren, Immobilienspekulationen. Aber eine inzwischen sehr spürbare weitere Ursache wurde bisher ausgeblendet: Auch schmutziges Geld lässt die Immobilienpreise in diesem Lande zulasten der Mieterinnen und Mieter zusätzlich steigen. Auch deswegen sollten wir endlich anfangen, Geldwäsche in Deutschland konsequent zu bekämpfen. ({0}) Enrico Schumacher, Mitarbeiter einer Immobilienfirma, berichtet, er bekomme E-Mails von Botschaftern, dass sie mit 1 Million Euro im Koffer gerne eine Wohnung kaufen wollen. Journalistennetzwerke sind monatelang damit beschäftigt, komplexe Briefkastenfirmenverschachtelungen über den halben Globus zu verfolgen, um die damit bezweckte Verschleierung der wahren Eigentümer von Immobilien zu entschlüsseln. Ich finde, es muss klar sein, wer unsere Städte kauft und woher das Geld stammt. Keine weiteren Profite mit schmutzigem Geld und auf Kosten der Mieterinnen und Mieter. ({1}) Geldwäsche im Immobiliensektor ist deshalb besonders attraktiv, weil das Entdeckungsrisiko in Deutschland besonders gering, die Kontrolle schwach, die Intransparenz hoch ist und die möglichen Renditen, gerade in den Großstädten, ebenfalls hoch sind. Konkret: Bundesweit kamen im vergangenen Jahr von 60 000 Verdachtsmeldungen ganze 21 von Immobilienmaklern und ganze 5 von Notaren, während gleichzeitig die Immobilienrenditen in die Höhe schossen. So sind es im Moment auch weiterhin ausschließlich Journalistinnen und Journalisten, die zum Beispiel beim Kudamm-Karree in Berlin herausfinden, dass sich hinter dem Käufer dieser Immobilie ein Firmengeflecht verbirgt, das mit Sitzen in Panama und den britischen Jungferninseln bis nach Russland reicht. Dabei ist das Problem seit Jahren bekannt. So antwortete die Bundesregierung beispielsweise auf eine Anfrage, die Sensibilisierung der Makler für ihre Verpflichtung, einen Geldwäscheverdacht zu melden, sei schwierig; einige hätten Sorge, bestehende oder mögliche Geschäftsbeziehungen zu gefährden. Die Bundesregierung selbst bezeichnet den Immobiliensektor als einen Hochrisikosektor für Geldwäsche. Nur passiert ist bisher nichts. Die EU-Kommission hat deshalb gegenüber Deutschland Anfang des Jahres sogar die erste Stufe eines Vertragsverletzungsverfahrens eröffnet, weil sie Defizite bei der Umsetzung der EU-Geldwäscherichtlinien sah. Inzwischen gibt es einen Referentenentwurf zur Umsetzung der Fünften Geldwäscherichtlinie; aber substanzielle Maßnahmen gegen Geldwäsche im Immobilienbereich fehlen erneut. Noch ist Zeit, nachzubessern; deshalb fordern wir mit unserem Antrag insbesondere fünf Punkte. Erstens. Ohne vollständige Transparenz kein Immobilienkauf mehr in Deutschland. Jedes Unternehmen, das in Deutschland eine Immobilie kaufen will, muss seine Strukturen offenlegen und die Besitzverhältnisse in das deutsche Transparenzregister eintragen ohne Ausnahmen und ganz gleich, ob der Sitz in Deutschland oder im Ausland ist. ({2}) Zweitens. Schluss mit Bargeldkoffern beim Immobilienkauf. So verhindern wir endlich konsequent, dass anonyme Bargeldzahlungen um sich greifen, und verbessern wir die Transparenz über Zahlungsströme im Immobiliensektor. Drittens. Mehr Informationen für Mieterinnen und Mieter sowie Behörden. Zukünftig sollen sie als Personen mit berechtigtem Interesse über ein digitales Grundbuchportal einfach und kostenfrei leichter an Informationen über die tatsächlichen Eigentümer ihrer Wohnung kommen. ({3}) Viertens. Wir brauchen auch verstärkte Pflichten für Notarinnen und Notare. Bevor ein Unternehmen eine Immobilie kaufen kann, sollen zukünftig Notare die Angaben zu Eigentümerstrukturen sorgfältig prüfen. Gelingt diese Prüfung nicht, dann darf der Kaufvertrag schlichtweg nicht zustande kommen. ({4}) Außerdem braucht es gesetzliche Regelungen, wann Notare zur Abgabe von Verdachtsmeldungen verpflichtet sind. Fünftens und letztens.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss.

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Die Aufsicht in Deutschland muss endlich einheitlich und auf Augenhöhe aufgestellt sein. Statt des derzeitigen Flickenteppichs bei der Geldwäscheaufsicht brauchen wir bundesweite Mindeststandards für Personal und Kontrollen, damit die neuen Geldwäscheregelungen dann auch in allen Bundesländern einheitlich und effektiv umgesetzt werden. ({0}) Sie sehen, das ist ein umfangreiches Paket, –

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Frau Kollegin, die Zeit ist um.

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

– effektiv und zielgenau. Lassen Sie es uns umsetzen. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Kollege Sepp Müller ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Sepp Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004832, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Was ist eigentlich Geldwäsche? Bei Geldwäsche geht es um illegal erworbenes Geld: beispielsweise wenn ein SUV im Prenzlauer Berg geklaut und in den osteuropäischen Staaten verkauft wurde, und dieses illegal erworbene Geld in Berlin wieder eingesetzt wird, um Mehrfamilienhäuser zu kaufen, dann zurückfließt und sich durch die teuren Mieten in Berlin wieder reinwäscht. Dass Geldwäsche kein Kavaliersdelikt ist, das haben wir als Große Koalition verstanden. Warum haben wir das verstanden? Bereits in der letzten Legislaturperiode wurde unter Bundesinnenminister Thomas de Maizière mit dem Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble aufgrund internationaler Hinweise beschlossen, die Finanzaufsicht, die Geldwäscheaufsicht, die FIU, dem Finanzministerium zu unterstellen, damit wir, um eine ordentliche Geldwäscheaufsicht zu gewährleisten, auf internationaler Ebene mit anderen Ländern zusammenarbeiten können. Denn andere Länder haben gesagt: Wenn ihr euch nicht so aufstellt wie wir, dann werden wir euch keine Informationen darüber liefern, woher das Geld aus Osteuropa kommt. Ich gehe davon aus, dass wir uns in diesem Hohen Hause darüber einig sind, dass es wichtig ist, zu wissen, wo illegales Geld fließt, und es fließt vor allem grenzüberschreitend. ({0}) Was wird mit dem Geld gemacht? Es geht nicht nur darum, Geld für illegale Finanzierungen über die Grenze zu schleusen. Es geht auch um Terrorfinanzierung, und wenn Terrorgruppen finanziert werden, dann hört der Spaß auf. Wir haben gesagt: Wir wollen den Sumpf weiter austrocknen. Von damals 26 Angestellten im BKA ist die Zahl der Mitarbeiter auf jetzt 475 Zöllnerinnen und Zöllner, die in der FIU tätig sind, angewachsen. Wir haben den Sumpf bereits ausgetrocknet, indem wir mit der 4. Geldwäscherichtlinie mehr Zugriffskompetenzen auf den Weg gebracht haben. Zum Antrag der Grünen. Sie zeigen mit einem Finger auf die Bundesregierung und auf die Große Koalition. Sie müssen sich aber die Frage gefallen lassen: Mit wie vielen Fingern zeigen Sie auf sich? ({1}) Werfen wir einen Blick in Ihren Antrag. Sie zeigen mit dem ersten Finger auf sich, indem Sie in der Begründung zu Punkt 16 in Ihrem Antrag schreiben: Es sind dennoch bislang nicht alle Zweifel ausgeräumt, dass die FIU – das ist die Aufsichtsbehörde – über alle strukturellen, gesetzlichen und organisatorischen Kompetenzen verfügt, um die ihr übertragenen Aufgaben … in einer … international vergleichbaren Qualität ausführen zu können. Ich stelle Ihnen die Frage: Ist das Ihr Ernst? Sie bringen eine ganze Behörde in Misskredit? Sie unterstellen 475 Zöllnerinnen und Zöllnern, die den Geldwäschesumpf austrocknen wollen, dass sie weder über strukturelle noch über gesetzliche oder organisatorische Kompetenzen verfügen. ({2}) Das lassen wir als Große Koalition nicht zu. Im Gegensatz zu den Grünen stehen wir als Große Koalition hinter den Zöllnerinnen und Zöllnern, hinter unseren Sicherheitsbehörden im Finanzbereich. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege Müller, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Paus?

Sepp Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004832, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr gerne.

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Müller, ich muss Sie ernsthaft fragen, ob Sie an Amnesie leiden. Sie sitzen mit mir und weiteren Kollegen hier im Finanzausschuss. Weil es mit der FIU eben nicht funktioniert, haben wir uns im vergangenen Jahr fast in jeder Sitzung mit dem Problem FIU beschäftigt. Wir sind gemeinsam nach Köln gefahren, um vor Ort zu prüfen, warum das nicht funktioniert. Wir haben Zwischenberichte angefordert, um zu prüfen, inwieweit es leichte Fortschritte gibt. Wir haben alle miteinander festgestellt, dass die FIU – das sagt sie selber – gewisse gesetzliche Aspekte eigentlich anders geregelt haben möchte. Wir haben festgestellt, dass jetzt erst einmal in Arbeitsgruppen der FIU und den LKAen in den Ländern angefangen wird, darüber zu reden, wie man die Zusammenarbeit verbessern bzw. überhaupt erst einmal herstellen kann. All das hat stattgefunden, und der Prozess ist noch nicht zu Ende. Und da kritisieren Sie mich, dass ich das anspreche? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein! ({0})

Sepp Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004832, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir können uns gerne über die Vergangenheit unterhalten. Ich gebe Ihnen recht, ({0}) dass die Unterstellung vom Bundesinnenministerium zum Bundesfinanzministerium mit Umzugsproblemen verbunden ist. Da gebe ich Ihnen vollkommen recht. ({1}) Aber wir wollen nicht über die Vergangenheit reden. Vielmehr wollen wir die Gegenwart zur Kenntnis nehmen und sehen, was wir auf den Weg gebracht haben. Zur Gegenwart gehört dazu – das haben Sie bei unserem Besuch gesehen –, dass Zöllnerinnen und Zöllner tagtäglich alles dafür tun, damit der Geldwäschesumpf ausgetrocknet wird. ({2}) Die Kritik, 60 000 Meldungen seien nicht abgearbeitet, ist nicht haltbar. ({3}) Mittlerweile sind alle Meldungen abgearbeitet. Dass Sie eine komplette Behörde in Misskredit bringen, zeigt, wes Geistes Kind Sie sind. Sie als Grüne stehen nicht zu den Sicherheitsbehörden, sondern Sie sind gegen sie und lehnen sie ab. ({4}) Wenn ich mir Ihren Antrag durchlese, stelle ich mir die Frage, ob das ein schlechter Witz ist, liebe Grüne, wenn Sie fordern, im Zuge eines erhöhten Meldeaufkommens die Behörde personell und technisch angemessen auszustatten. Das steht in der Begründung Ihres Antrags zu Punkt 16. Wir haben die Zahl der Beamten von 26 über 200 auf 475 Zöllnerinnen und Zöllner erhöht. Was hat Bündnis 90/Die Grünen gemacht, als wir die Zahl der Beamten von 26 auf 200 Beamte erhöhen wollten? Damals haben Sie gegen den Haushalt gestimmt. ({5}) Was hat Bündnis 90/Die Grünen gemacht, als wir Zahl der Zöllnerinnen und Zöllner auf 475 aufgestockt haben? ({6}) Sie haben dagegen gestimmt. Jetzt versuchen Sie, sich reinzuwaschen, indem Sie etwas kritisieren, was wir schon längst behoben haben. Es geht weiter mit dem zweiten Finger. Unter Punkt 15 fordern Sie, das Fortbildungsangebot für Notare soll konkretisiert werden. Haben Sie sich das Fortbildungsangebot angeschaut? Es ist bereits eine umfangreiche Aus- und Fortbildung zum Thema Geldwäsche vorgesehen. Das wird bereits in Anspruch genommen. Die Notarinnen und Notare in diesem Land müssen zum Thema Geldwäsche geschult werden. Ihr Vorschlag ist also völlig überflüssig. Der dritte Finger zeigt auf Ihre Forderung einer anlasslosen Prüfung durch die zuständigen Aufsichtsbehörden. Das ist interessant: Wer sind denn die zuständigen Aufsichtsbehörden für Notare? Das sind die Landesjustizministerien. Sie haben zu Recht das Ku’damm-Karree in Berlin angeführt. Wer ist Senator für Justiz in Berlin? Das ist ein Grüner. Wenn der seine Hausaufgaben gemacht ({7}) und die Aufsicht richtig wahrgenommen hätte, dann gäbe es keine Geldwäsche in Berlin. Dass es Geldwäsche gibt, liegt an Bündnis 90/Die Grünen und nicht an der Großen Koalition. ({8}) Zum vierten Finger. Das ist noch interessanter. Sie sprechen mit dem vorliegenden Antrag ein Problem an, das tatsächlich auf der Tagesordnung steht. Wir haben in Berlin ein riesengroßes Problem, Notarinnen und Notare auf ihre Pflicht aufmerksam zu machen, und dafür trägt der zuständige Justizsenator von Bündnis 90/Die Grünen Verantwortung. Jetzt hat er versucht, die Zahl der Stellen von speziell ausgebildeten Richtern von zwei auf fünf zu erhöhen. Just in dem Moment kommt Bündnis 90/Die Grünen und fordert den Bund auf, gemeinsam mit den Ländern einen Mindestpersonalschlüssel auf den Weg zu bringen. Das ist interessant. Ich kenne den Spruch: Wer die Musik bestellt, der soll sie auch bezahlen. Soll jetzt der Bund für die nachweislichen Fehler im Justizsenat des Landes Berlin aufkommen, weil Sie in den letzten Jahren zu wenig Personal eingestellt haben? Vielleicht sollten Sie lieber Ihre Hausaufgaben vor Ort machen und ausreichend Personal einstellen, damit die Notarinnen und Notare überwacht werden. Es ist ganz wichtig: Wir wollen nicht nur die Gegenwart und den völlig fehlerhaften Antrag der Grünen zur Kenntnis nehmen, sondern wir wollen auch in die Zukunft schauen. In der Großen Koalition werden wir gemeinsam mit der SPD – Christine Lambrecht ist mittlerweile Justizministerin, wir waren gemeinsam bei der FIU – eine Änderung der 4. Geldwäscherichtlinie auf den Weg bringen. Wir werden vor allem das Thema „Treffer in der Verfassungsschutzdatei“ aufgreifen. Ich freue mich auf Zustimmung der Länder, insbesondere Berlins. Ich bin gespannt, ob Berlin grünes Licht für eine Änderung der Richtlinie gibt oder ob es heißt: Datenschutz geht vor Schutz vor Geldwäsche. Ich bin gespannt auf die Ausführungen Ihres Justizsenators in Berlin dazu, der die Verantwortung für Tausende Geldwäschefälle trägt. ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion der AfD hat das Wort der Kollege Stefan Keuter. ({0})

Stefan Keuter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004778, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Zuschauer zu Hause und auf den Tribünen! Wir befassen uns heute mit zwei Anträgen von Bündnis 90/Die Grünen und der Linken zu Geldwäschebekämpfung und Immobilienbesitz. Die Grünen wollen ein erweitertes Transparenzregister, das es in Deutschland bereits seit Oktober 2017 gibt, in dem Unternehmensbeteiligungen aufgezeigt werden müssen. Hier soll die Verknüpfung über eine ID mit dem Grundbuch stattfinden. Die Linke will einen ganz anderen Weg beschreiten. Sie will ein komplett neues zentrales Immobilienregister schaffen. Die Linke bezeichnet Deutschland als ein Paradies für Geldwäsche, als würde Deutschland mit den Cayman Islands, Barbados, Belize und anderen in einer Reihe stehen. Das ist doch kompletter Realitätsverlust, liebe Genossinnen und Genossen. Wir erwarten aber von Ihnen auch nichts anderes. Um es kurz zu machen: Sie wollen eine Ausdehnung des Staatsapparates. Wir als freiheitliche Partei, wir als AfD sind hier skeptisch. Der Staat muss nicht alles wissen und muss auch nicht alles kontrollieren. Die Daten der Bürger sind zu schützen; die Privatsphäre ist zu wahren. ({0}) Eine wehrhafte Demokratie muss das aushalten, und sie hält es auch aus. Wir lehnen eine weitere Kontrolle unserer Bürger ab. Wir lehnen eine Ausdehnung des Transparenzregisters genauso ab wie ein zentrales Immobilienregister. ({1}) Verstehen Sie uns nicht falsch: Auch die AfD ist für eine strikte Bekämpfung von Geldwäsche. Der Hebel hierzu ist aber in der Justiz zu suchen und in einer Stärkung der Effizienz der Strafverfolgungsbehörden. Damit ist das Wesentliche zu Ihren Anträgen gesagt. Ich möchte mich aber weiter hieran abarbeiten: Erst zur Linken. Interessant an Ihrem Antrag ist die Forderung nach aussagefähigen Kriminalitätsstatistiken, welche die Strafverfolgung von Geldwäsche einschließlich der Vermögensabschöpfung abbilden sollen. ({2}) Dann sollten Sie sich nicht weigern, dazu auch die Herkunft, die Nationalität und die Ethnie der Straftäter mit aufzuführen und die Daten auswertbar bereitzustellen. ({3}) Oder verträgt sich das nicht mit Ihrer linken Ideologie? ({4}) Die Grünen stellen einen Zusammenhang her zwischen organisierter Kriminalität in Großstädten und den dort steigenden Mieten. Ziemlich schräg, oder? Das müssen Sie doch selbst zugeben. Glauben Sie ernsthaft, dass der Grund für steigende Immobilienpreise in den Metropolen in erster Linie bei der Geldwäsche durch organisierte Kriminalität zu suchen ist? ({5}) Die Gründe für steigende Preise liegen doch eher im billigen Zentralbankgeld und dem unverminderten Zuzug Ihrer Zielgruppe, liebe Grüninnen und Grüne. ({6}) Aber richtig ist auch, dass es Probleme gibt. Ich komme aus dem Ruhrgebiet. Gehen Sie da mal hin, kucken Sie sich die Zustände in den Großstädten an, gerade bei den Amtsgerichten. Wenn Sie sich hier die Zwangsversteigerungen anschauen, werden Sie feststellen, dass hier ganz interessante Gruppierungen auf den Immobilienmarkt drängen. Es sind im Wesentlichen die, von denen Sie von den Grünen und Linken hier gar nicht genug haben können. Da werden Zuschläge nicht erfüllt, und bis zur Rückabwicklung kann es bis zu zwei Jahre dauern. In dieser Zeit werden Mieten kassiert, die Mieten werden ins Ausland überwiesen, das Geld ist weg. Da werden Schrottimmobilien völlig überbelegt mit kinderreichen Abbruchunternehmern aus Osteuropa, die hier über Scheinselbstständigkeiten auch noch deutsches Kindergeld für ihre in der Heimat angeblich vorhandenen zahlreichen Kinder abkassieren usw. usf. ({7}) Sie wollen die Symptome einer falschen Politik mit noch mehr Bürokratie erschlagen. Sie nennen das dann Herstellung von Transparenz. Sie wollen, dass Journalisten und NGOs einen gesetzlich garantierten Zugriff auf die Grundbücher erhalten. Warum gerade diese Zielgruppe? Ist das Ihre Lobbypolitik? Sie wollen den Personalkörper des Bundesverwaltungsamtes weiter aufbauen, um Geldwäscheverstöße besser ermitteln zu können. Die alte Regel „Viel hilft viel“ ist hier völlig fehl am Platz und funktioniert nicht. Sie wollen Immobilienmakler und Notare noch stärker in die Haftung nehmen. Wohin das führt, haben wir bei den Banken gesehen, nämlich zu einer Flut von meist irrelevanten Verdachtsmeldungen, die bei der FIU kaum abzuarbeiten sind, ganz nach dem Motto: Melden macht frei. Für Beschäftigung ist auf diese Weise im Staatssektor immer gesorgt. Jetzt kommt noch ein ganz interessanter Punkt. Die Grünen wollen die Barzahlung bei Immobiliengeschäften untersagen, die Linken wollen grundsätzlich die Barzahlung bei Beträgen über 5 000 Euro abschaffen. Wir als AfD halten das für höchst bedenklich. Bargeld ist das gesetzliche Zahlungsmittel. Es ist gedruckte und geprägte Freiheit. Es ist gelebter Datenschutz. Das dürfen wir uns nicht nehmen lassen. Sämtliche Bestrebungen, Bargeld abzuschaffen, lehnen wir entschieden ab. ({8}) Im Kern wollen Sie, verehrte Kolleginnen von den Grünen und den Linken, den gläsernen, systemkonformen Bürger, der sich einer totalen Staatskontrolle zu unterziehen hat, den Sie mit Ihrer Ideologie zwangsbeglücken können. Das erinnert doch sehr stark an Zeiten, die wir von der AfD hier in Deutschland nicht haben wollen. ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.

Stefan Keuter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004778, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ja. – Dann würde ich Sie, Herr Bartsch, gerne noch fragen, was, wenn Sie sich hier „Transparenz“ und „Geldwäsche“ auf die Fahne schreiben, mit den Millionen der SED, Ihrer Vorgängerpartei, passiert ist. ({0}) – Ich höre es: Getroffene Hunde bellen.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, bitte kommen Sie zum Ende.

Stefan Keuter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004778, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Wir werden uns mit dem Thema im Finanzausschuss beschäftigen. Ich garantiere Ihnen aber: Ihre Anträge werden keine Mehrheit finden. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die Kollegin Cansel Kiziltepe ist die nächste Rednerin für die SPD-Fraktion. ({0})

Cansel Kiziltepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004328, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Mieten- und Preisexplosion auf dem Wohnungsmarkt ist eine Katastrophe für viele Mieterinnen und Mieter. Seit Jahren protestieren Menschen gegen soziale Verdrängung, auch heute in meinem Wahlkreis im Friedrichshain am Tag der Immobilienwirtschaft. Es ist einiges passiert in den letzten Jahren; aber das reicht ihnen nicht aus, und das liegt beileibe nicht an uns. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, man kann jedoch beobachten, dass eine gewisse Einsicht einkehrt. Gestern konnte man der Presse entnehmen, dass auch Teile der CDU nicht mehr darauf vertrauen, dass der Markt das Problem mit den steigenden Mieten schon lösen wird. ({1}) „CDU entdeckt ihr Herz für Mieter“, titelt die „Welt“. Es wird ein Ethikkodex gefordert, und unser Mietendeckel in Berlin wird nicht mehr verteufelt. (Dr. h. c. [Univ Kyiv] Hans Michelbach [CDU/CSU]: Der ist verfassungswidrig! Dann sage ich Ihnen: Lassen Sie uns doch gemeinsam das Marktversagen auf dem Wohnungsmarkt an der Wurzel packen. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie jede Krise hat auch die Wohnungskrise ihre Profiteure. Der Immobilienboom ist das Eldorado für Geldwäscher, und das ist möglich, weil es vorne und hinten an Transparenz mangelt. Damit wir mehr Licht ins Dunkel bringen, müssen wir handeln, und das werden wir auch tun. Ich will Ihnen ein Beispiel aus Berlin nennen. Bei Berliner Fußballfans hat in den letzten Tagen ein Fall für Unmut gesorgt. Der 1. FC Union Berlin hat einen neuen Sponsor aus der Immobilienbranche: Aroundtown. Diese Firma hat nicht nur angekündigt, als Erstes gegen den von Berlinern ersehnten Mietendeckel zu klagen; nein, wie Recherchen diese Woche gezeigt haben, ist auch völlig unklar, wer hinter dieser Firma eigentlich steckt – ein komplexes Schattenfirmenkonstrukt, typisch für illegale Geschäfte, wie zum Beispiel die Geldwäsche. Die Spur endet bei drei Anwaltskanzleien in Zypern. Da frage ich mich: Wie will man da als Fan noch mit gutem Gewissen ins Stadion gehen? ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Investor mit guten Intentionen hat keinen Grund, seine Identität zu verheimlichen, ein Investor mit zweifelhaften Absichten hingegen schon. Genau mit dieser Intransparenz muss Schluss sein. ({4}) Aber leider gibt es immer noch viel Widerstand gegen mehr Transparenz im Immobiliensektor, auch in diesem Haus. Ich sage Ihnen: So macht man keine Politik für kleine Wohnungseigentümer. Nein, mit dieser Politik macht man sich zum Gehilfen der organisierten Kriminalität. Deshalb: Lassen Sie uns im Rahmen der Geldwäscherichtlinie auch dieses Problem anpacken. Fehlende Transparenz fördert die Korruption und erleichtert es anonymen Fondsgesellschaften, Mieter wie Zitronen auszuquetschen. Deswegen sage ich: Lassen Sie uns anfangen, ernsthaft über ein Transparenzregister für Immobilien zu sprechen. ({5}) Geben Sie sich einen Ruck! ({6}) Denn Geldwäsche – Herr Kollege Müller hat das hier schon etwas definiert – heißt, illegal erwirtschaftetes Geld in den legalen Wirtschaftskreislauf einzuschleusen. Es ist ein Skandal, dass das in Deutschland über den Kauf von Immobilien wunderbar funktioniert. Als SPD können wir das nicht akzeptieren und wollen das ändern. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion der FDP hat das Wort der Kollege Dr. Florian Toncar. ({0})

Dr. Florian Toncar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003856, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Danke. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Thema Geldwäsche diskutieren wir natürlich ein auch für die deutsche Politik sehr wichtiges Thema, mit dem wir uns auch im Finanzausschuss schon verschiedentlich beschäftigt haben. Die beiden Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke haben jeweils einen Antrag vorgelegt, was man bei allem, was man nachher vielleicht auch kontrovers diskutieren muss, in der Hinsicht positiv erwähnen muss, als dass das ausführliche, präzise Anträge sind, in die Zeit geflossen ist. Das will ich hervorheben, bevor ich hier Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausarbeite. Das ist nicht mit heißer Nadel gestrickt, sondern verdient wirklich auch eine fundierte Debatte hier im Haus. ({0}) Wir sehen es ähnlich: Wir haben in Deutschland Vollzugsprobleme bei der Anwendung des Geldwäscherechts. Im nichtfinanziellen Bereich ist das ganz klar. Ich glaube, es gibt kaum jemanden, der das, was zurzeit stattfindet, für befriedigend hält. Herr Müller, wir haben schon erhebliche Startschwierigkeiten gehabt bei Financial Intelligence Unit. Das ist nichts, was man auf die leichte Schulter nehmen darf. So eine komplizierte Materie so schnell und so unvorbereitet auf eine ganz neue Einheit zu übertragen, muss zwangsläufig dazu führen, dass Verdachtsmeldungen nicht bearbeitet werden. Das ist über Monate, sogar über mehr als ein Jahr in fünfstelliger Höhe passiert. Da war eben auch das Regierungsmanagement ein Problem, weil die Beamten, die Sie schützen wollen, das eigentlich ausbaden mussten. ({1}) Es gibt auch Geldwäschethemen, wo wir Freien Demokraten sagen: Da müssen wir noch weitere Vorschläge machen, die bisher in den Anträgen gar nicht enthalten sind. Ich möchte ein Beispiel nennen: Die Notare machen Geldwäscheprüfungen bei Immobilientransaktionen. Bei Zwangsversteigerungen vor Gericht passiert das aber nicht, und ich höre aus einschlägigen Kreisen, dass häufig die einschlägig bekannte Community auftaucht, mit oder ohne Bargeld, und völlig ungeprüft bei solchen Zwangsversteigerungen im Immobilienbereich mitmacht. ({2}) Das wäre zum Beispiel ein Thema, an das man herangehen könnte. Was auch helfen würde, wäre zum Beispiel, wenn Verpflichtete, zum Beispiel Banken, die einen Geldwäscheverdacht an die Behörden gemeldet haben, auch hören, wenn der geprüft worden ist: War das jetzt eigentlich eine gute Verdachtsmeldung? War da was dran, oder war das die völlig falsche Richtung? Dann können die nämlich auch ihre eigenen Systeme verbessern und vielleicht stärker auf die wirklich schwierigen Fälle ausrichten. ({3}) Man muss denen also schon erlauben, besser zu werden, wenn man gute Ergebnisse haben will. Ich glaube auch, dass wir übrigens das Geldwäscherecht selber klarer fassen sollten. Da gibt es unheimlich viele unbestimmte Rechtsbegriffe und innerhalb der Europäischen Union auch eine sehr uneinheitliche Praxis. Nichtsdestotrotz sind mir beide Anträge aus rechtsstaatlicher Sicht ein Stück weit suspekt. Es weht schon so ein bisschen der Generalverdacht gegenüber wirtschaftlicher Tätigkeit und auch gegenüber dem Immobiliensektor. Das Ganze wird verbunden mit Ideen, die in so eine Art flächendeckende und, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, leider auch anlasslose Überwachung gehen. Ich finde es als Liberaler im Rechtsstaat immer wichtig, dass staatliche Eingriffe nur dann erfolgen, wenn ein Verdacht vorliegt, und dass die Bürger, die keinen Verdacht erwecken, auch bitte schön vom Staat verschont werden sollten. ({4}) Nur Eingriffe auf einen Verdacht hin halten wir in einem Rechtsstaat für richtig. Ich will Ihnen sagen, was ich auch noch bedenklich finde. Sie wollen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Journalisten und NGOs Einblick in Grundbücher geben. Nach meinem Verständnis muss in einem Rechtsstaat das Recht durchgesetzt werden. Aber das ist Aufgabe von staatlichen Behörden, die wir mit Eingriffsbefugnissen ausstatten, die aber anders als die privaten Akteure, die Sie hier in die Aufklärungsarbeit einbinden wollen, an die Grundrechte gebunden sind. An dieser Trennung von grundrechtsgebundenen öffentlichen Behörden auf der einen Seite und Privaten auf der anderen Seite sollten wir unbedingt festhalten, gerade wenn es um Kriminalität geht. ({5}) Selbstverständlich wollen auch wir Freien Demokraten nicht, dass Barzahlungen noch weiter eingeschränkt werden. Natürlich muss es Prüfvorgänge geben. Natürlich sollte ein Notar auch fragen: Wie bezahlen Sie das? Wie wird die Transaktion abgewickelt? Aber ein allgemeines, präventives Verbot jedweder Barzahlung stellt einen Generalverdacht dar, und es gibt auch sehr viele legitime Gründe für Barzahlungen, die wir nicht wegen einiger in der Tat krimineller Fälle pauschal unterbinden sollten. Also: Verhältnismäßigkeit und zielgenaues Vorgehen gegen Geldwäsche, starke Behörden mit entsprechenden Eingriffsbefugnissen, das ist die Richtung, in die wir Freien Demokraten gehen möchten. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege Fabio De Masi. ({0})

Fabio De Masi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004817, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Geldwäsche ist die Kriminalität der Reichen und Mächtigen. Es geht um hässliche Dinge: Es geht um Korruption, Steuerflucht, Menschen-, Drogen- und Waffenhandel sowie um die Finanzierung von Terrorismus. Herr Keuter, ich weiß ja nicht, ob Sie noch viel mitbekommen haben, aber Sie haben das schon richtig verstanden, bei der Alternative für Schwarzgeld: ({0}) Es geht auch um Ihre Geldkoffer in der Schweiz. ({1}) Der Antimafiastaatsanwalt von Palermo, Roberto Scarpinato, meint, wäre er Mafioso, würde er in Deutschland investieren. Es werden jedes Jahr etwa 100 Milliarden Euro schmutziges Geld in Deutschland gewaschen. Im Immobiliensektor steigt eine Party mit Betongold, die auch die Mieten treibt. Die Bundesregierung wird von OECD und EU-Kommission für die unzureichende Geldwäschebekämpfung kritisiert und riskiert ein Vertragsverletzungsverfahren. Bis Januar 2020 muss die 5. Geldwäscherichtlinie umgesetzt werden. Es gibt viele neue Herausforderungen. Facebook plant eine Digitalwährung Libra, die schnell das Darknet der Finanzen werden könnte. Deutschland sollte daher endlich einen Masterplan gegen Finanzkriminalität vorlegen. Geldwäschebekämpfung muss funktionieren wie ein Uhrwerk. ({2}) Es gibt viele Zahnräder: Banken und Notare, den Zoll, der Verdachtsmeldungen filtern soll, und die Landeskriminalämter. Lieber Kollege Müller, bei aller Liebe: Es sind doch die Zollbeamten selber, die sich über die Zustände bei der Financial Intelligence Unit beschweren. Daher lässt man sie nicht im Stich, wenn man diese Zustände kritisiert, sondern man lässt sie im Stich, wenn man die Sache so weiterlaufen lässt. ({3}) Wenn ein Zahnrad nicht funktioniert, haben es Kriminelle leicht. Wir wollen mit unserem Antrag die wichtigsten Baustellen in Deutschland abräumen. Ich nenne nur wenige Stichpunkte: Erstens. Das Transparenzregister ist lückenhaft. ­Rocco und vier Brüder reichen, um die Meldeschwellen zu umgehen. Uns fehlt ein Immobilienregister, und wir müssen Immobilienkäufe wieder über Notaranderkonten abwickeln. Die Grundbücher sind aus unserer Sicht ungeeignet, weil da nicht die wahren Eigentümer von Immobilien stehen. ({4}) Zweitens. Die Aufsicht ist nicht streng genug. Eine Sonderprüfung der BaFin ergab, dass keine deutsche Bank die Geldwäscheregeln im Zusammenhang mit den Panama Papers verletzt habe. Überraschung: Wenig später durchsuchte die Staatsanwaltschaft Frankfurt dann jedoch Büros der Deutschen Bank. Drittens. Im Nichtfinanzsektor, etwa bei Immobilien und Notaren, sind die Bundesländer zuständig, von Standesbeamten bis zu Gerichtspräsidenten. Ich habe keine Zweifel: Standesbeamte können toll Ehen schließen, aber sie sind der falsche Ansprechpartner für die Geldwäschebekämpfung. Im Jahr 2018 kamen nur 0,8 Prozent aller Verdachtsmeldungen aus diesem Bereich. Es braucht daher dringend strengere Kontrollen und abschreckende Bußgelder. ({5}) Viertens versinkt die Financial Intelligence Unit des Zolls weiter im Chaos. Selbst Fälle mit Bezug zu Terrorismusfinanzierung wurden so spät bearbeitet, dass es nicht mehr möglich war, das Geld zu beschlagnahmen. Weder ist der Rückstau abgearbeitet noch der Personalausbau nach Plan umgesetzt. Fünftens. Die Bundesregierung blockiert auf EU-Ebene schärfere Kontrollpflichten für Hochrisikoländer wie Saudi-Arabien, die auch immer wieder den internationalen Terror finanzieren. ({6}) In unserem Antrag fordern wir konkrete Maßnahmen gegen diese Probleme. Weiter muss auch schwere Steuerhinterziehung in den Vortatenkatalog der Geldwäsche aufgenommen werden, wie das in vielen OECD-Staaten der Fall ist. Nur wenn eine solche Vortat vorliegt, können Staatsanwälte wegen Geldwäsche ermitteln. Deutschland braucht eine Bundesfinanzpolizei wie in Italien und ein Unternehmensstrafrecht. Banken, die wiederholt Beihilfe zu Geldwäsche leisten, muss im Zweifel die Lizenz entzogen werden. Ohne diese Maßnahmen ist der Kampf gegen das schmutzige Geld nicht zu gewinnen. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner: für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Sebastian Brehm. ({0})

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kampf gegen Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung muss auch in Zukunft unermüdlich weitergeführt werden. Deswegen befindet sich gerade der Referentenentwurf zur 5. Geldwäscherichtlinie in der Ressortabstimmung und wird uns parlamentarisch in der zweiten Jahreshälfte 2019 beschäftigen. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen und der Linken, so zu tun, als sähe man nur untätig zu und als würden keine Maßnahmen ergriffen, ist wirklich eine Ohrfeige für die Zollbeamtinnen und Zollbeamten in unserem Land und eine Negierung der aktuellen Tatsachen. ({0}) Mit der Umsetzung der 4. EU-Geldwäscherichtlinie im Juni 2017 haben die Regierungsparteien in der letzten Wahlperiode schon ein deutliches Zeichen gegen Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung gesetzt: erstens Schaffung des Transparenzregisters, zweitens verschärfte bußgeldrechtliche und strafrechtliche Regelungen, drittens Bündelung und Neuausrichtung der Financial Intelligence Unit, FIU, bei der Generalzolldirektion mit einer umfangreichen Erweiterung der Befugnisse. Ja, Frau Kollegin Paus, es gab leider organisatorische Missstände am Anfang und Herausforderungen, die nicht sofort gelöst werden konnten. Übrigens waren auch wir im Finanzausschuss unzufrieden und haben auf Nachbesserung gedrungen und uns für die Verbesserung der Abläufe eingesetzt. Aber dies ist alles umgesetzt und erledigt, und wenn Sie sagen, es gibt hier noch Rückstau, dann ist das definitiv falsch. ({1}) Die Fälle aus dem Monitoring sind schon abgearbeitet. Aufgrund der umgesetzten gesetzlichen Verschärfungen haben sich bei der FIU die verzeichneten Geldwäschemeldungen von 7 349 Fällen in 2008 auf 59 845 Fälle im Jahr 2017 erhöht. Das Meldeaufkommen ist deutlich gestiegen. Rund 66 Prozent der Verdachtsmeldungen wurden im Jahr 2017 an die Strafverfolgungsbehörden zur detaillierten Prüfung und Analyse weitergeleitet, ob ein möglicher Zusammenhang mit Geldwäsche oder Terrorismusfinanzierung besteht. Das Gute daran ist, es wurden mehr Fälle denn je geprüft. Die Frage ist aber schon – die müssen Sie sich stellen –, ob man aus der reinen Anzahl der gemeldeten Fälle oder der tatsächlichen Verurteilungen seine politischen Schlüsse ziehen sollte. Im Jahr 2017 wurden nach Angaben der FIU 127 Urteile gesprochen, 257 Strafbefehle erlassen, 90 Anklageschriften erstellt und 20 553 Einstellungsverfügungen erlassen. Ich will das Problem um Gottes willen nicht kleinreden, aber dennoch: Bei der Mehrzahl der gemeldeten Fälle nach Prüfung durch die FIU und nach Prüfung durch die Staatsanwaltschaft konnte sich der Verdacht auf eine mögliche Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung nicht erhärten. Selbstverständlich gilt – das gilt für uns alle – in einem Rechtsstaat, dass wir eine Unschuldsvermutung bis zur rechtskräftigen Verurteilung haben. Deswegen wollen wir keine pauschale Verurteilung machen, sondern uns auf den Einzelfall berufen. Der Einzelfall muss geklärt werden. Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind ein internationales Phänomen. Erst kürzlich kam nach der Münchner Sicherheitskonferenz eine Studie heraus, nach der der geschätzte Geldwäscheumfang in der Welt 4,2 Billionen Dollar beträgt. Deshalb ist es entscheidend, dass wir geeignete Mittel finden und dort ergänzen, wo weitere Verbesserungen notwendig sind. Das haben wir schon in der Beratung zur Umsetzung der 4. Geldwäscherichtlinie diskutiert. Wir haben gesagt: Wir werden nach zwei Jahren noch einmal prüfen, wo nachgeschärft werden muss, was funktioniert hat, was nicht funktioniert hat und wo wir handeln müssen. Genau das tun wir mit dem Referentenentwurf. In diesem erfolgt erstens eine Erweiterung des Kreises der zur Geldwäschemeldung Verpflichteten, zum Beispiel die Verwahrstellen für Kryptowährungen, ein ganz wichtiger Bereich. Zweitens. Es kommt für die freien Berufe und für die Immobilienmakler – Sie haben das Immobilienthema angesprochen – eine Erweiterung der Verdachtsmeldepflicht. Sie soll konkretisiert und erweitert werden. Drittens. Es kommt eine weitere Stärkung der FIU mit einem automatisierten Datenabgleich mit den gemeinsamen Datenbanken der Polizeien. Das sind doch die Maßnahmen, die wir ergreifen müssen, um Geldwäsche zu bekämpfen. Deshalb werden wir in der zweiten Jahreshälfte im Finanzausschuss über diese Fragen intensiv diskutieren. Sie fordern beide eine uneingeschränkte Transparenz, eine Veröffentlichung aller Unternehmensdaten und aller Immobiliendaten für jeden und für alles. Damit verschärfen Sie die Probleme am Markt. Glauben Sie nicht, dass sich, wenn diese Daten – Unternehmensdaten und Immobiliendaten – komplett öffentlich sind, ausländische Staaten und Firmen und diejenigen, die Kriminalität in unserem Land betreiben, die Hände reiben, wenn sie alle Daten frei Haus geliefert bekommen? Deswegen kann man eine vollständige Freisetzung aller Daten überhaupt nicht befürworten. So wie es jetzt mit dem Transparenzregister konzipiert ist, ist es gut. Man muss sich eben anmelden, eine Gebühr zahlen, und dann bekommt man Informationen, und nicht einfach frei Haus. Das schädigt die Wettbewerbsfähigkeit in unserem Land. Und zudem: Rein veröffentlichte Daten können übrigens zu Missverständnissen führen. Insofern sollte man das nicht unkommentiert hineinschreiben. Das Eigentliche am Antrag der Kollegen der Linken ist ein Satz, den will ich Ihnen noch zitieren: Eigentumsstrukturen aufdecken durch … die Wiedererhebung der Vermögensteuer, um über die geldwäscherechtliche Meldepflicht … ({2}) Dort steht auch noch „inkriminieren“. Inkriminieren heißt: zum Gegenstand einer öffentlichen Kampagne machen, also öffentlich diskreditieren. Das ist der wahre Grund Ihres Antrages, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken. Sie sitzen wieder auf dem alten und kranken Pferd des Klassenkampfes und des Sozialismus. ({3}) Steigen Sie ab! Dieses Pferd ist mausetot. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dr. Jens Zimmermann, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Jens Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004603, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ja, der Immobiliensektor ist brandgefährlich für das Thema Geldwäsche. Deswegen ist es absolut berechtigt, dass die Kolleginnen und Kollegen von den Grünen diesen Antrag heute eingebracht haben. Ich glaube, wir sind uns an vielen Stellen einig. Man muss feststellen: Im Nichtfinanzsektor haben wir eine sehr, sehr niedrige Anzahl an Geldwäscheverdachtsmeldungen. Gleichzeitig haben wir heute gehört – da steht ein schöner Alu-Koffer –, wenn man mit 1 Million Euro beim Notar hereinspazieren würde ({0}) – er hebt ihn hoch; das ist sehr gut – und sagen würde: „1 Million Euro, ich möchte mal schnell eine Immobilie kaufen“, dann fänden Sie das ganz normal. Ich muss sagen: Ich finde es nicht normal. Ich würde vielleicht schon ein, zwei Fragen stellen. Ich finde es vor allem nicht normal, dass wir in diesem Bereich, in dem wir schon relativ hohe Anforderungen an die Sorgfaltspflichten haben, nur so geringe Geldwäscheverdachtsmeldungen haben. Deswegen muss dort etwas getan werden. ({1}) Wichtig ist – das wird bei der Umsetzung der 5. Geldwäscherichtlinie auch passieren –, dass die sogenannten freien Berufe stärker in die Pflicht genommen werden. Viel zu oft haben Notarinnen und Notare die Möglichkeit, sich einen schlanken Fuß zu machen. Das ist nicht in Ordnung; denn sie erfüllen an dieser Stelle eine wichtige Funktion. Mit der Umsetzung der 5. Geldwäscherichtlinie wird es eine Verdachtsmeldepflicht bei Immobilientransaktionen geben. Das ist auch richtig so. ({2}) Das Transparenzregister wurde eingeführt. Noch immer haben wir die Situation: Immer wenn man Einsicht nehmen will, muss man ein berechtigtes Interesse nachweisen. Ich begrüße es ausdrücklich, dass Finanzminister Olaf Scholz hier ganz klar gesagt hat: Mit der Umsetzung der 5. Geldwäscherichtlinie werden wir das abschaffen und werden somit den Zugang erleichtern. Auch das ist ein wichtiger Schritt. ({3}) Wir haben an dieser Stelle aber auch auf die Rolle der Länder abzuzielen; denn – das muss ich schon sagen – wenn der Föderalismus beim Thema Geldwäschebekämpfung ins Spiel kommt, dann wird es kompliziert, und dann sind wir fast alle hier im Hohen Hause mit im Boot: sei es in Thüringen, in Berlin, in Hessen, in Baden-Württemberg. Fast alle sind irgendwo in Landregierungen. Ich habe es, weil es ein Antrag der Grünen ist, einmal nachgerechnet. Sie sind mittlerweile in neun Landesregierungen vertreten. Insofern muss man schon sagen: Sie haben auch Einflussmöglichkeiten, dass im Nichtfinanzsektor, wo die Prävention bei den Ländern liegt, mehr gemacht wird. ({4}) Das ist heute schon möglich. Dazu brauchen wir keinen Antrag im Deutschen Bundestag. Aber ich stimme zu, dass wir eine bessere Koordinierung an dieser Stelle brauchen. Aber ich fordere auch ein bisschen Unterstützung. Es ist eben die Financial Intelligence Unit angesprochen worden, unsere Haupteinheit im Kampf gegen Geldwäsche. Ein Problem, das wir aktuell haben, sind die Möglichkeiten des Zugangs zu den Datenbanken der Landeskriminalämter. Das wollen wir mit der Fünften 5. Geldwäscherichtlinie ändern. ({5}) Aber wer verhindert es? Wer mauert? Es sind die Bundesländer. Deswegen bitte ich, dass wir alle zu Hause in unseren Ländern dafür werben. Das ist dringend notwendig. ({6}) Ich bin aber froh, dass wir das Thema Geldwäsche in den letzten Jahren hier im Deutschen Bundestag viel, viel stärker in den Mittelpunkt unserer Debatten gestellt haben. Wir haben eine nicht unerhebliche Gesetzgebungstätigkeit gehabt. Wenn wir diese große Übereinstimmung, die ich heute in dieser Debatte wieder gespürt habe, gemeinsam zusammenführen, dann bin ich sicher, dass wir mit der Umsetzung der 5. Geldwäscherichtlinie eine sehr gute Möglichkeit haben, einen großen Schritt in eine bessere Umsetzung, für einen besseren Kampf gegen Geldwäsche machen zu können. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege Zimmermann. – Ich schließe die Aussprache zu Tagesordnungspunkt 12. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/10218 und 19/11098 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Thomas Jarzombek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004061, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir reden heute über die fünfte Novelle zum Telekommunikationsgesetz, über den Entwurf eines 5. TKG-Änderungsgesetzes. Meine Damen und Herren, wir haben in der letzten Legislaturperiode ein gutes Gesetz beschlossen, das ­DigiNetzG, das den Ausbau von Breitbandnetzen erleichtert, insbesondere im ländlichen Raum. Dabei geht es unter anderem darum, Glasfaserkabel dort mitzuverlegen, wo eine Straße geöffnet wird, wenn zum Beispiel neue Stromleitungen oder Wasserleitungen verlegt werden oder Straßenbauarbeiten fällig sind. Was wir damals nicht gesehen haben, ist, dass in dem Augenblick, in dem ein Anbieter eine Straße öffnet, um zum ersten Mal Glasfaser zu verlegen, ein größerer Anbieter auf die Idee kommen kann – da sind der Kreativität offenbar keine Grenzen gesetzt –, sein Glasfaserkabel direkt mitzuverlegen und darauf zu beharren, dass das kostenfrei sein soll. Diese Praxis werden wir jetzt beenden. Das ist Ziel des heute vorliegenden Gesetzentwurfs. Es darf keinen Überbau mehr geben beim öffentlich geförderten Bau von Glasfasernetzen. Ich glaube, das ist eine gute Korrektur eines guten Gesetzes. ({0}) Wir machen noch ein Zweites. Wir haben in der letzten Zeit viel über die Frage der Mobilfunkversorgung in Deutschland diskutiert. Die Auktion der Mobilfunkfrequenzen ist abgeschlossen. Wir haben nun – das sieht noch nicht jeder – bis zum Ende des Jahres die Verpflichtung, scharfgeschaltet aus der Auktion 2015, dafür zu sorgen, dass 97 Prozent der Bevölkerung, alle Autobahnen und alle ICE-Strecken versorgt sind. Wir haben dazu am Montag im Beirat der Bundesnetzagentur eine Anhörung mit den Anbietern durchgeführt. Wir haben uns darüber informieren lassen, wie weit man ist. Da hat uns die Deutsche Telekom gesagt, sie will 1 800 neue Sender bis zum Jahresende bauen. Vodafone hat uns erklärt, 2 100 Maßnahmen ergreifen zu wollen, LTE-Erweiterung und neue Sender, 75 Stationen im Grenzbereich für immerhin 380 000 Haushalte. Das ist, wie ich finde, eine beeindruckende Zahl. Auch Telefónica will insgesamt 10 000 weitere Sender bauen. Man sieht also, dass die Verpflichtungen wirken. Die erweiterten Verpflichtungen aus der 5G-Auktion, die dann in den Jahren 2022 und 2024 greifen werden, werden die Versorgung auf 98 Prozent, auf alle Schienenwege mit mehr als 2 000 Fahrgästen, auf Bundesstraßen, auf Landesstraßen und auf Wasserwege ausweiten. Das ist ein starkes Paket. Gemäß den Ergebnissen des Mobilfunkgipfels, den Verkehrsminister Andreas Scheuer abgehalten hat, steigt die Versorgungsquote durch Selbstverpflichtungen sogar auf 99 Prozent. Damit das Ganze so, wie es gefordert wird, auch stattfindet, haben wir einen Änderungsantrag eingebracht, der das Thema der Zwangs- und Bußgelder in den Mittelpunkt stellt. Eines ist, glaube ich, klar: In den Unternehmen wird gerechnet, und es darf für die Anbieter am Ende nicht wirtschaftlicher sein, die Ausbauziele mit Blick auf das letzte Stück nicht zu verfolgen und stattdessen Bußgelder zu zahlen. Deshalb erhöhen wir die Bußgelder ganz empfindlich, nämlich auf bis zu 2 Prozent des weltweiten Jahresumsatzes, und die Zwangsgelder auf bis zu 10 Millionen Euro. ({1}) Außerdem führen wir eine Rechtsgrundlage für eine vorausschauende Abfrage zum geplanten Mobilfunkausbau ein; denn auch die Mobilfunkinfrastrukturgesellschaft und die Fördermaßnahmen für das letzte verbliebene Prozent werden uns noch beschäftigen. Wir müssen wissen, was die Anbieter für die Zukunft planen, damit es hier keine Mitnahmeeffekte gibt und keinen doppelten Bau. Hinzu kommt, dass wir mit diesem Gesetz die Transparenz verbessern. Die Anbieter werden künftig genau, anbieterscharf zeigen müssen, wo eine Versorgung besteht. Das erleichtert den Wettbewerb und verbessert die Situation. Meine Damen und Herren, uns liegt heute ein gutes Gesetzespaket vor. Ich bitte Sie um Zustimmung. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion der AfD hat das Wort der Kollege Dr. Dirk Spaniel. ({0})

Dr. Dirk Spaniel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004899, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die AfD-Fraktion wird der Änderung des Telekommunikationsgesetzes zustimmen. Die Änderungen betreffen zwar im Wesentlichen nicht das Themenfeld Überbau – dazu komme ich noch –, sondern sind von der Bundesnetzagentur gewünschte Änderungen, die aus unserer Sicht positiv zu bewerten sind. Wir begrüßen ausdrücklich die erweiterten Informationspflichten der Telekommunikationsunternehmen. Durch dieses Mehr an Transparenz lassen sich lokale Schwerpunkte bei Verbindungsabbrüchen endlich aufspüren und beheben. Auch die Ermöglichung von Zwangsgeldern, die der Größe der Telekommunikationsunternehmen entsprechen, ist eine gute Änderung. Ich sage es nicht gerne; aber auch der Entschließungsantrag der Grünen geht in die richtige Richtung. ({0}) Liebe Kollegen, ganz Deutschland spricht von der Digitalisierung. Die Realität ist aber sehr weit davon weg und auch sehr erschreckend. ({1}) Bei der 4G-Abdeckung ist Deutschland auf dem Stand eines Entwicklungslandes, ({2}) hinter Rumänien und Bulgarien – dazu gibt es Statistiken –, und Besserung ist kaum in Sicht. ({3}) In Zeitungsinterviews konnte man lesen, dass der Wirtschaftsminister – er ist, glaube ich, von der CDU – sich nicht einmal mehr traut, im Auto mit ausländischen Kollegen zu telefonieren, weil es zu peinlich wäre, wenn das Netz zusammenbricht. ({4}) In so einem Land leben wir hier. Da frage ich mich: Was hat eigentlich das verantwortliche Ministerium, in diesem Fall ein seit Jahren CSU-geführtes Ministerium, die ganzen letzten Jahre gemacht? Während die CDU/CSU von 5G an jeder Milchkanne spricht, hat man im ländlichen Raum ganz andere Sorgen: Es gibt häufig gar keinen Mobilfunkempfang und auch gar keinen Breitbandausbau. ({5}) Die Regierungspolitik sorgt für einen einzigen Flickenteppich. Sie haben überhaupt kein Gesamtkonzept. Ohne eine solide Breitbandinfrastruktur ist ein flächendeckender Ausbau von 4G und natürlich auch von 5G überhaupt nicht möglich. Speziell bei diesem Breitbandausbau haben Sie permanent auf falsche Strategien gesetzt. Es werden noch über viele Jahre viele Millionen in die Vectoring-Förderung der Kupferinfrastruktur fließen. Der Breitbandausbau mit Glasfaser wurde dadurch massiv verlangsamt. Wenn dann doch mal Glasfaser verlegt wurde – das haben Sie richtigerweise gesagt –, dann haben Telekommunikationsunternehmen den Anspruch erhoben, die eigene Infrastruktur mitzuverlegen, wenn ein Wettbewerber ausgebaut hat. Damit sind Ausbauprojekte vielfach nicht mehr wirtschaftlich durchzuführen. Das wissen Sie alles. Der Infrastrukturwettbewerb, den die Bundesregierung mit dem vorliegenden Gesetzentwurf weiterhin ermöglicht, führt dazu, dass der Breitbandausbau im ländlichen Raum weiterhin verzögert wird und teilweise immer noch unmöglich bleibt. Die AfD-Fraktion fordert, dass die Breitbandinfrastruktur von öffentlicher bzw. kommunaler Seite gewährleistet wird und diese dann gegen Gebühren zur Nutzung bereitgestellt wird. ({6}) Die Probleme im Ausbau unseres Breitbandnetzes sind von der Politik selbst gemacht und können daher von ihr selbst gelöst werden. ({7}) Aber leider müssen die Bewohner und Unternehmer in ländlichen Regionen noch immer darauf warten, dass es überhaupt einen klaren politischen Ordnungsrahmen und eine umfassend durchdachte Gesamtstrategie für einen flächendeckenden Breitbandausbau gibt. Wir erwarten von Ihnen, dass Sie den Überbau konsequent ausschließen. ({8}) Wir sehen, dass diese Große Koalition sowieso nur noch mit stümperhaftem Stückwerk beschäftigt ist. Deswegen sollten sich die Bürger von dieser Regierung beim Netzausbau nicht mehr allzu viel erhoffen. Aber dieser Trauerzustand dauert ja vielleicht nicht mehr lange. Vielen Dank. ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Gustav Herzog. ({0})

Gustav Herzog (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003148, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit Lautstärke kann man inhaltliche Leere einfach nicht überdecken, Herr Kollege. Ihre Kritik war sehr emotional vorgetragen, aber in der Substanz doch sehr überschaubar. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Auktion ist beendet. In 497 Runden sind über 6,6 Milliarden Euro eingegangen. Ich richte an dieser Stelle ein herzliches Wort des Dankes und der Anerkennung an die Bundesnetzagentur, weil sie über ein Jahr lang erheblichem Einfluss und Druck ausgesetzt war, wie sie diese Auktion denn nun zu gestalten hat. Ich bekenne mich dazu: Auch ich habe versucht, Einfluss zu nehmen. Es gab in diesem Zusammenhang bereits eine Reihe von Gerichtsverfahren, die alle von der Bundesnetzagentur gewonnen wurden. Ich hoffe, dass es dabei bleibt, weil diese 6,6 Milliarden Euro von uns allen gerne für die auch von meinem Vorredner angesprochene Förderung des Glasfaserausbaus im ländlichen Raum – dafür brauchen wir das Geld – und den DigitalPakt Schule ausgegeben werden. An die Adresse der Mobilfunker, die ja zum Teil sehr gejammert haben, sie hätten so viel Geld ausgegeben, sage ich: Ich denke, das war pflichtgemäß gegenüber den Aktionären zu sagen. Aber das Geld wird von uns wieder in die Branche gelenkt. Von daher ist es kein verlorenes Geld. ({0}) Kollege Jarzombek hat den Anlass für diese Gesetzesänderung beschrieben. Es geht um den Überbau, ein sehr komplexes Thema. Das haben wir in der Anhörung, als wir uns damit beschäftigt haben, miterlebt. Drei anwesende Juristen hatten drei unterschiedliche Formulierungsvorschläge gemacht, einschließlich des Vorschlags des Bundesrates. Ich glaube, wir sind als Koalition gut beraten gewesen, bei der Formulierung der Bundesregierung zu bleiben, aber mit dem klaren Hinweis, dass kommunale Unternehmen nicht automatisch öffentliche Gelder bekommen, sondern eigenwirtschaftlich mit Risiko in die Investition gehen und deswegen zu schützen sind. Das machen wir mit diesem Gesetz. ({1}) Kommunale Unternehmen sollen nicht besser, aber auch nicht schlechter als andere gestellt werden. Die weiteren Änderungen, die wir vornehmen, sind nicht sehr überraschend. Frau Kollegin ­Domscheit-Berg, Sie haben im Ausschuss gesagt, das käme so hopplahopp. Nein, das, was im Änderungsantrag steht, ist im Juni 2018, also vor über einem Jahr, im Beirat der Bundesnetzagentur gemeinsam beschlossen worden, und nach meiner Erinnerung sind Sie Mitglied dieses Beirates. Dort haben wir uns darauf verständigt: Wir brauchen mehr Informationsmöglichkeiten. Wir müssen die Bundesnetzagentur stärken, sodass sie von den Unternehmen die Informationen bekommt, die sie für die Kundinnen und Kunden aufbereiten und ins Internet stellen muss, sodass die Kundinnen und Kunden, wenn sie einen Vertrag abschließen wollen, nachschauen können, ob der Mobilfunker für den Wohnort, den Weg zur Arbeit und da, wo sie sich in ihrer Freizeit aufhalten, auch wirklich ein anständiges Netz zur Verfügung stellt. Das ist einer der Gründe, warum wir sagen: Wir brauchen mehr Informationen für die Kunden. Wir brauchen aber auch mehr Informationen für den Staat, um unsere Planungen entsprechend voranzutreiben. Frau Kollegin Kluckert, das geht in die Richtung eines Gigabit-Grundbuches, das Sie in Ihrem Antrag fordern. Wir sagen: All diese Informationen müssen zusammengeführt werden. Ich halte es nicht für hilfreich, dass diese Informationen auf verschiedene Institutionen und Instrumente verteilt sind und es dafür dann noch unterschiedliche Zugriffsrechte gibt. In diesem Zusammenhang will ich noch etwas erwähnen, was für die Kunden wichtig ist. Es geht darum, dass die Bundesnetzagentur das, was sie an Informationen bekommen hat, auch über die Funkloch-App an die Öffentlichkeit weitergeben darf. Da ist meine Bitte, Herr Staatssekretär Bilger, dass das Ministerium der Bundesnetzagentur sehr schnell das Okay dafür gibt, diese Informationen ins Netz stellen zu können. Ich will auch gerne einmal nachschauen, wo in meinem Wahlkreis weitere Funklöcher sind, unter denen ich selbst noch nicht leiden musste. ({2}) Ich denke, das ist auch eine wichtige Information für die Kundinnen und Kunden. ({3}) Ein Weiteres zu der Ausweitung der Sanktionsmöglichkeiten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor der Versteigerung haben alle Mobilfunker mit sehr großen, zum Teil sehr lauten Worten angekündigt, dass sie wegen der hohen Kosten hinterher eng zusammenarbeiten wollen, um beim Ausbau des Netzes die Infrastrukturkosten zu senken. Dazu sage ich von dieser Stelle aus den vier Mobilfunkern: Lasst den Worten bitte auch Taten folgen. – Niemand wird sich ihnen in den Weg stellen, wenn sie gemeinsam Baugenehmigungen beantragen, Kabelgräben ausheben, Funkmasten aufstellen und Antennen anbauen. Das können sie gerne gemeinsam machen. Wir und die Bürgerinnen und Bürger freuen uns darüber. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich noch einen Ausblick auf andere Themen geben, die damit verbunden sind. In dieser Woche hat der Haushaltsausschuss eine kluge Entscheidung getroffen.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hebner?

Gustav Herzog (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003148, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, gerne. ({0})

Martin Hebner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004740, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Herzog, ich habe eine Frage. Sie sagten, Sie hätten von der Äußerung gehört, dass die Betreiber zusammenarbeiten wollen. Warum wurde das nicht, wenn Sie eine flächendeckende Abdeckung als dringlich ansehen – ich sehe das ja genauso wie Sie –, bei der Vergabe der Lizenzen zur Auflage gemacht? Warum wurde nur auf den pekuniären Aspekt geachtet, sprich: die Geldeinnahme? Warum wurde das nicht – wir alle beklagen die Funklöcher – zur Auflage gemacht, damit die flächendeckende Versorgung garantiert wird? Das kann man im Rahmen einer Vergabe definitiv machen. Warum wurde aus Ihrer Sicht darauf nicht geachtet?

Gustav Herzog (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003148, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Darauf wurde sehr wohl geachtet, und zwar in zweierlei Hinsicht. Erstens. Die Bundesnetzagentur hat durch ein wissenschaftliches Institut berechnen lassen, was es die Unternehmen kosten würde, wenn eine flächendeckende Versorgung angeordnet würde. Diese Kosten hätten den Wert der Frequenzen deutlich überschritten. Deswegen hat die Bundesnetzagentur entschieden, auf die genannten Parameter zu gehen. Sie konnte auch vom Gesetz her und aufgrund der europäischen Vorgaben nicht mehr machen. Zweitens. Es steht sehr wohl in den Vergabebedingungen, dass die Unternehmen zusammenarbeiten sollen. Das geht so weit, dass die Bundesnetzagentur eine starke Schiedsrichterrolle einnimmt, die wir mit der Erhöhung des Zwangsgeldes und der Bußgelder weiter stärken. Wenn sich ein Unternehmen verweigert, kann die Bundesnetzagentur einschreiten. Das, was Sie hier kritisieren, hat keinen Bezug zu dem, was die Bundesnetzagentur gemacht hat. ({0}) Lassen Sie mich zu den Modellregionen zurückkommen. Erstens. Es ist wichtig, dass wir in dem Bereich der industriellen Anwendung von 5G in die Pötte kommen. Das ist gut so. Zweitens. Die Koalitionsfraktionen haben sich darauf verständigt, im Hinblick auf die Funklöcher selbst initiativ zu werden und sich des Themas Funklöcher anzunehmen, entweder mit einer Mobilfunkinfrastrukturgesellschaft oder mit anderen Instrumenten. Der dritte Punkt. Wichtig ist, dass die Bundesnetzagentur, sobald entschieden ist, wie hoch die Lenkungsgebühren sein werden, anfangen kann, auf Antrag die Frequenzen für die 100 Megahertz zwischen 3,7 und 3,8 Gigahertz zu vergeben. Es ist wichtig, dass die Unternehmen im Land, die Landwirte, aber auch jene Initiativen, die ein Grundstück haben, das Recht haben, Frequenzen zu beantragen und sie zu nutzen. Wir wollen Vielfalt in diesem Bereich. Wir sind wohl das einzige Land auf der Welt, das den Schritt gegangen ist, einen Teil dieses wertvollen Spektrums nicht zu versteigern, sondern zur allgemeinen Verfügung zu stellen, sodass sich möglichst viele beteiligen können. Es geht darum, diese wertvollen Frequenzen für ganz viele Menschen nutzbar zu machen. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zum Abschluss ein schwieriges Thema ansprechen. Trotz aller Euphorie, die wir hier entwickeln, um im Festnetz und vor allen Dingen im Mobilfunk eine flächendeckende Versorgung zu erreichen, bekomme ich immer mehr Zuschriften, in denen steht: Wir wollen nicht weiter verstrahlt werden. Herr Herzog, was können wir tun, um eine mobilfunkfreie Zone zu werden? – Es gibt auch Hotels, die damit werben, dass sie kein WLAN haben. Wir müssen die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger sehr ernst nehmen. Aber wir müssen auch darauf achten, dass das Klima nicht vergiftet wird. Menschen, die diese Dienstleistung, diese Daseinsvorsorge in Anspruch nehmen wollen, dürfen nicht von jenen, die diese Dienstleistung mit, wie ich finde, nicht gerechtfertigten Argumenten ablehnen, blockiert werden. Ich glaube, es ist unser gemeinsames Anliegen, hier eine sachliche, zielgerichtete Diskussion zu führen. Vielen Dank. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die FDP-Fraktion hat das Wort die Kollegin Daniela Kluckert. ({0})

Daniela Kluckert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004784, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dieser Gesetzentwurf der Bundesregierung wird uns hier als großer Wurf verkauft. ({0}) Das ist es leider nicht. ({1}) Immer und immer wieder wird betont, auch hier und heute, wie wichtig die digitale Infrastruktur ist, dass sie die Grundlage ist für alles, was da kommt in unserem Land, für die wirtschaftliche Entwicklung und die Prosperität unseres Landes. Das stimmt zwar. Nur leider nimmt es die Koalition mit der Umsetzung doch nicht so genau. Die Taten passen einfach nicht zu den Worten. ({2}) Nur 88 Prozent der Bevölkerung sind bisher mit mindestens 50 Megabit pro Sekunde ausgestattet. Hier stellt sich auch noch die Frage: Was kann man mit 50 Megabit pro Sekunde eigentlich so machen? ({3}) Man kann beispielsweise gut Serien schauen und im Internet surfen, und das können auch zwei gleichzeitig machen. Erreicht wird die Geschwindigkeit häufig mit den alten Kupferkabeln, die aufgepimpt worden sind. Smart Home, E-Health, autonomes Fahren, all das ist mit 50 MBit/s aber eben nicht möglich; denn dafür braucht man Glasfaser. Hier sehen die Zahlen noch etwas düsterer aus: Erst 2,6 Prozent der Breitbandanschlüsse in Deutschland waren im Juni 2018, also vor einem Jahr, mit Glasfaserkabeln angeschlossen. In keinem anderen Industrieland auf der Welt sind diese Zahlen so gering. Das bedeutet: 88 Prozent von uns können Netflix schauen, während sich Menschen in anderen Ländern um die Zukunft kümmern, also autonomes Fahren vorantreiben und KI entwickeln. 2014 hatte die Bundesregierung, ebenfalls bestehend aus CDU/CSU und SPD – die gleiche Koalition –, ein Förderprogramm aufgelegt. 4,5 Milliarden Euro sollten es werden. Davon sind bis jetzt gerade einmal 150 Millionen Euro, also traurige 3,3 Prozent, ausgezahlt worden. Dann gab es noch häufig Ärger mit der Telekom, weil sie überbaut und Investitionen von Kommunen zerstört hat. Das soll mit dem vorliegenden Gesetzentwurf geändert werden. Der große Wurf ist das wahrlich nicht. ({4}) Wie gut, dass es die FDP in diesem Bundestag gibt; ({5}) denn wir haben den großen Wurf, und dieser große Wurf beinhaltet fünf Punkte: ({6}) Wir müssen erstens endlich neue Verlegetechniken etablieren. Wir müssen günstiger und schneller werden. Dafür brauchen wir neue Verlegetechniken. ({7}) Wir brauchen zweitens Gigabit-Gutscheine. Es gibt Unternehmen, die es sich eben nicht leisten können, die Anschlusskosten zu finanzieren. In meinem Wahlkreis, hier in Pankow, gibt es solche Unternehmen, und die gibt es in ganz Deutschland. Wir brauchen unbürokratische Möglichkeiten, diesen Unternehmen zu helfen; denn sie müssen sich der Digitalisierung stellen. ({8}) Wir brauchen drittens einen offenen Zugang zur Infrastruktur. Wir brauchen eben keine Monopolbildung, wie wir sie auf dem Digitalmarkt und auf dem Telekommunikationsmarkt so oft sehen. Dem müssen wir mit offenen Zugängen zur Infrastruktur entgegentreten. Wir brauchen viertens ein Gigabit-Grundbuch. Der Kollege hat es gerade schon gesagt: Sie wollen jetzt etwas Ähnliches machen. Derzeit ist aber immer noch nicht klar, wo Glasfaser überhaupt schon gelegt wurde. Das muss transparent werden. ({9}) Fünftens brauchen wir endlich eine konsequente Förderung des Glasfaserausbaus. Sie sagen ja zu Recht: Die digitale Infrastruktur ist die Grundlage für all das, was kommt. Sie ist die Grundlage für die Zukunft. Wir wollen hier in Deutschland sehr gerne auch Netflix schauen. Aber vor allem wollen wir, dass das nächste Netflix und die nächsten guten, innovativen Ideen aus Deutschland kommen und dass die klügsten Köpfe Deutschlands hier die Infrastruktur vorfinden, die keine Grenzen – auch nicht in den Köpfen – kennt. Wir wollen, dass die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land auf die Zukunft vorbereitet sind. ({10})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Kollegin Anke Domscheit-Berg. ({0})

Anke Domscheit-Berg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004703, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Eine unserer größten Entwicklungsbremsen ist die schlechte digitale Infrastruktur. Das ist kein Wunder; denn jahrelang wurden veraltete Technologien gefördert statt Glasfaser. Die angekündigte Mobilfunkstrategie gibt es immer noch nicht, und deutsche Funklöcher sind inzwischen Nachrichtenstoff im Ausland. Erst jetzt aber findet es die Bundesregierung wichtig, zu wissen, wie groß die Funklöcher sind und wo sie sich eigentlich befinden. Erst jetzt stört es sie offenbar, dass laut Bericht der Bundesnetzagentur nur 1,5 Prozent der Mobilfunknutzerinnen und Mobilfunknutzer die vertraglich versprochene Internetgeschwindigkeit auch erhalten. Erst jetzt erkennt sie, dass die Zähne der BNetzA zu stumpf sind; denn bisher kann sie nur marginale Bußgelder verhängen oder die Höchststrafe für Telekommunikationsanbieter, nämlich den Lizenzentzug. Die Folgen merkt man, wenn man in Niedersachsen oder Brandenburg verzweifelt sein Handy in die Luft hält. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf will man nun die Datenlage der Bundesnetzagentur endlich verbessern als Grundlage für wichtige Sanktionen und Landkarten zur Netzabdeckung, und man will endlich die Bandbreite bei den Bußgeldern erhöhen. Ich frage die Bundesregierung aber: Warum waren Sie nicht in der Lage, diese Uraltforderungen in einem ordentlichen parlamentarischen Prozess in den Gesetzentwurf zu bringen? ({0}) Warum waren diese Änderungen nicht schon im Gesetzentwurf enthalten, als er seine erste Lesung hatte? ({1}) Warum war auch in der Fachanhörung dazu keine Rede davon? Warum bekamen wir beide Ergänzungen der Gesetzesänderung – für Themen, die steinalt sind – erst 24 Stunden vor der Ausschusssitzung und erst 48 Stunden vor dieser Debatte im Plenum das erste Mal zu sehen? Das ist eine grobe Missachtung des Parlaments; denn so ist es kaum möglich, die Änderungen in all ihren Details zu bewerten. Dafür möchte ich Sie ausdrücklich rügen. ({2}) Auch was nicht im Gesetzentwurf steht, ist relevant. So erklärt die Bundesregierung stets, für Open Data zu sein. Von maschinenlesbaren, offenen Daten ist im Gesetzentwurf aber keinerlei Rede. Ich vermisse außerdem regionales oder nationales Roaming, also die Möglichkeit, auch ein vorhandenes Netz eines anderen Anbieters zu nutzen; denn damit lässt sich der Netzausbau schneller und auch ressourcenschonender im ländlichen Raum erreichen. ({3}) Mir fehlt aber auch etwas bei der am längsten geplanten Änderung des TKG, nämlich beim Überbauverbot von Glasfasernetzen aus öffentlicher Hand. Das soll nämlich vornehmlich gelten, wenn mit öffentlichen Fördergeldern Glasfasern verlegt werden, die dann als Open Access zur Verfügung stehen – so der Wortlaut im Gesetzentwurf. Wenn Kommunen über kommunale Unternehmen ohne Fördergelder, also mit eigenen Mitteln, ein Glasfasernetz verlegen, darf weiterhin ein bis dahin untätiges Unternehmen, also Telekom und Co, seine Glasfaser einfach neben die kommunale Glasfaser in den Graben legen, der mit öffentlichen Mitteln gebuddelt worden ist. Danach drucken diese Unternehmen bunte Flyer, und am Ende landen die Einnahmen in deren Tasche und nicht im Stadtsäckel, der für die Hauptkosten aufkam. ({4}) – Ich zitiere den Wortlaut des Gesetzentwurfs; das gilt für mich. In Deutschland wird immer wieder das schwedische Erfolgsmodell des kommunalen Glasfaserausbaus gelobt. Von der Bundesregierung werden solche Kommunen bestraft, außer wenn sie Fördergelder des Bundes nutzen, deren Kleingedrucktes sie allerdings zwingt, ihre Glasfasernetze nach zehn Jahren wieder zu verkaufen. Das ist so widersinnig, wie es sich anhört, aber bei Maßnahmen der Bundesregierung mit Bezug zu Breitband oder Mobilfunk überrascht mich ja nichts mehr, auch nicht die Funkloch-App der Bundesnetzagentur, die mit dem iPhone übrigens nicht funktioniert. ({5}) In Funklöchern behauptet sie, man hätte den Flugmodus eingeschaltet und der Standort sei nicht feststellbar; sie erfasst das Funkloch nicht. Die Funkloch-App und die Bundesregierung haben damit eines gemeinsam: Sie funktionieren nicht. ({6}) Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Informationen zu Schwangerschaftsabbrüchen nicht ins Strafgesetzbuch gehören. § 219a StGB gehört endlich und immer noch abgeschafft. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort die Kollegin Margit Stumpp. ({0})

Margit Stumpp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004909, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur fünften TKG-Änderung stammt vom letzten Dezember und wurde trotz der Anhörung im Februar, die wirklich genug Anlass zu Veränderungen gegeben hätte, unverändert eingebracht. Das sind sechs weitere verlorene Monate für den Ausbau des Breitbandnetzes. ({0}) Schlimmer noch: Es wurden damit auch wesentliche Chancen dafür vergeben, sowohl das Festnetz auszubauen als auch die weißen und grauen Flecken im Mobilfunknetz endlich zu schließen. Wirksame Maßnahmen werden nicht angegangen. Beim Überbauschutz greifen die vorgesehenen Regelungen viel zu kurz. Ihre Regelung der Unzumutbarkeit sieht die Abhängigkeit von Förderung und eine Kannbestimmung vor, die Spielräume offenlässt. Wirksam wäre eine echte Verpflichtung gewesen, wie wir sie in unserem Entschließungsantrag formulieren. ({1}) Es fehlt außerdem die Verpflichtung der Mobilfunkunternehmen, nicht von ihren im Markterkundungsverfahren angegebenen Investitionsplanungen abzuweichen. Verstöße dagegen müssen umgehend und relevant sanktioniert werden. Man könnte die betreffenden Gebiete über Netzkonzessionen ausbauen. Der Landkreistag hat dazu ein praktikables Modell vorgelegt. Übernommen wurde leider nichts. Mit dem Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen wurden kurz vor knapp zusätzliche Maßnahmen im Mobilfunkbereich vorgeschlagen. Dazu gehört mehr Transparenz. Bessere Daten, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, sind richtig und wichtig. Wir fordern das schon lange. Mit Ihrem Änderungsantrag bestätigen Sie, was ich aufgrund bisheriger Antworten auf Anfragen immer kritisiert habe: Die aktuelle Datenerhebung ist völlig unzureichend. Kollege Herzog, ich finde es ja positiv, dass meine Kritik an dieser Stelle gefruchtet hat. Sich aber auf Betreiberangaben fast blind zu verlassen und bundesweit mit gerade einmal 14 Messwagen nur stichprobenartig nachzuprüfen, ist geradezu naiv. Eine Funkloch-App kann strukturelle und organisatorische Versäumnisse in diesem Bereich nicht richten. Datenkarten werden die Misere beim Ausbau nicht beheben, wenn die notwendigen regulatorischen Maßnahmen nicht ergriffen werden. Damit die weißen Flecken endlich verschwinden, braucht die Bundesnetzagentur Möglichkeiten, lokales Roaming anzuordnen. ({2}) Den geradezu gebetsmühlenartigen Beteuerungen der Bundesnetzagentur, man habe dazu keine Rechtsgrundlage, hat der zuständige Staatssekretär Bilger – da sitzt er noch – erst gestern widersprochen. Deswegen fordern wir, lokales Roaming sofort umzusetzen, und zwar jetzt und nicht erst in drei Jahren. ({3}) Apropos Reden: Vielleicht wäre es ja ein guter Weg, sich jetzt nach der Auktion mit den Mobilfunkbetreibern an einen Tisch zu setzen und darüber zu reden, wie man die Misere bei der Netzabdeckung gemeinsam sinnvoll angehen könnte, und zwar bevor man eine Infrastrukturgesellschaft gründet, nicht hinterher. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, der beste Zeitpunkt für regulatorische Maßnahmen, um den Mobilfunkausbau wirksam zu beschleunigen, wären zielführende Versteigerungsbedingungen bei der letzten Auktion gewesen. Diese Chance wurde verpasst. Die zweitbeste Möglichkeit wäre, die Bundesnetzagentur zur Anordnung von Local Roaming zu ermächtigen. Deswegen gilt jetzt: Taten statt warten. Ich appelliere an Sie: Stimmen Sie unserem Entschließungsantrag zu! ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Margit Stumpp. – Schönen Abend, liebe Kolleginnen und Kollegen, von mir an Sie! – Der nächste Redner ist Axel Knoerig für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Axel Knoerig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004073, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem heutigen Abschluss der fünften Novelle des Telekommunikationsgesetzes gehen wir einen weiteren Schritt in eine bessere Mobilfunkversorgung. Das Ganze ist das Ergebnis von einem Jahr intensiver Arbeit. Ich will hier formulieren: Mein Dank gilt vor allem unserem stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Uli Lange für seinen Einsatz. ({0}) Bedanken möchte ich mich auch bei meinen vier Kollegen aus dem Wirtschaftsausschuss, bei Astrid Grotelüschen, Peter Bleser, Carsten Müller und Stefan Rouenhoff. Wir haben eine gemeinsame Mobilfunkinitiative auf den Weg gebracht und haben darin deutlich gemacht, worum es bei der digitalen Versorgung hierzulande wirklich geht: um gleichwertige Lebensverhältnisse in Stadt und Land und darum, dass wir eine flächendeckende Versorgung sicherstellen müssen. Meine Damen und Herren, wir wissen alle: Ein gleichzeitiger Ausbau an jedem Ort ist technisch nicht zu realisieren, aber wir müssen ihn doch zumindest gleichwertig planen. Das gilt gerade für 5G. Neben der Versteigerung der Lizenzen hat die Bundesnetzagentur auch ein Spektrum an Frequenzen für lokale Anwendungen reserviert. Industrie und große Landwirtschaftsbetriebe, aber auch Gewerbegebiete können 5G-Frequenzen zukünftig beantragen. Es ist darauf zu achten, dass die Gebühren für Mittelständler verhältnismäßig und wirtschaftlich vernünftig ausgestaltet sind. ({1}) Mit unserem Änderungsantrag regeln wir wichtige Punkte für den Mobilfunkausbau. Erstens. Wir erlegen den Netzbetreibern höhere Transparenzpflichten auf. Sie müssen künftig Informationen über die tatsächlich standortbezogene Netzabdeckung liefern. Das war bisher nicht möglich und ist hiermit vollzogen. Zweitens. Wir geben der Bundesnetzagentur bessere Sanktionsmöglichkeiten gegenüber den Netzbetreibern. Sie können höhere Bußgelder verhängen, wenn die Versorgungsverpflichtungen nicht rechtzeitig erfüllt werden. Drittens. Wir fügen in die Gesetzesbegründung einen Passus zum lokalen Roaming und aktiven Infrastruktur-Sharing ein. Sie alle wissen aber: Ich hätte die Anordnungsmöglichkeit zur Zusammenarbeit zwischen den Netzbetreibern bereits jetzt gerne geregelt, aber der Hinweis auf eine kommende gesetzliche Regelung ist ein guter und richtiger Schritt in diese Richtung. ({2}) Meine Damen und Herren, meine Bilanz lautet ganz klar: Unser Einsatz trägt Früchte; es geht voran. Die Netzbetreiber allerdings müssen ihren Worten jetzt auch tatsächlich Taten folgen lassen und ausbauen. Dazu gehört natürlich auch eine freiwillige Zusammenarbeit insbesondere im ländlichen Raum. Wir müssen zügig und flankierend weitere Maßnahme für den Mobilfunkausbau umsetzen. Insbesondere gilt es – das muss auch herausgestellt werden –, die weißen Flecken zügig zu schließen. Einige von uns kennen das aus dem eigenen Wahlkreis: Ich hatte Vertreter von allen Netzbetreibern in eine Gaststätte an der Bundesstraße 214 in Wehrbleck in Niedersachsen in meinen Wahlkreis eingeladen, und der Praxistest hat gezeigt: Keiner von ihnen hatte Empfang. Bei solchen weißen Flecken wollen wir zukünftig über eine Mobilinfrastrukturgesellschaft Abhilfe schaffen, ({3}) wie wir sie auch in den Beratungen der geschäftsführenden Vorstände von Union und SPD beschlossen haben. Wir müssen jetzt vorangehen, ({4}) um diese Infrastrukturgesellschaft schlank und zügig auf den Weg zu bringen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Axel Knoerig. – Der letzte Redner in dieser Debatte: Ulrich Lange für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ulrich Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004087, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, die Änderungsanträge, die wir im Rahmen dieser fünften TKG-Novelle noch eingebracht haben, waren wichtig. Auch der Prozess der letzten Wochen und Monate war wichtig; denn es geht am Ende um eine verlässliche Mobilfunkversorgung und um eine verlässliche Breitbandversorgung. Es geht am Ende immer um die Gleichwertigkeit von Lebensverhältnissen und um unseren Wirtschaftsstandort. Wir wissen inzwischen auch, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP – Sie sind ja so stolz, dass Sie wieder da sind –: Mit den Kräften des Marktes allein lässt sich das nicht lösen. Auch das haben wir inzwischen gelernt. ({0}) Wir brauchen die Mobilfunkversorgung entlang der Verkehrswege. ({1}) Wir, die wir in Wahlkreisen verankert sind, wissen, dass in dieser Blase hier einiges darüber gesagt wird, ({2}) wie die Versorgung angeblich ist. Es ist aber zu erkennen, dass es vor Ort ebendiese Lücken, diese berühmten weißen und grauen Flecken, gibt. Lassen Sie mich eines, liebe Kollegin Stumpp von den Grünen, anmerken: Mit lokalem Roaming, das wir hier im Gesetz genannt haben, schließen Sie keinen einzigen weißen Fleck. Sie kommen nur an grauen Flecken weiter; denn lokales Roaming hilft nur dort, wo überhaupt ein Netz vorhanden ist, sonst können Sie gar nicht roamen; denn im Nichts roamt nichts. ({3}) Das möchte ich an dieser Stelle, um die Technik zu erklären, einfach einmal darlegen. Ich sage ein herzliches Dankeschön all den Mitstreitern, die wir in den letzten Wochen und Monaten hatten, lieber Axel Knoerig, lieber Kollege Herzog. Es war ein Prozess, in dem wir zwei Tanker bewegen mussten. Der eine Tanker waren die TK-Unternehmen, die in der Diskussion vielleicht ein bisschen aus ihrer Komfortzone herauskommen mussten, und der andere Tanker war sehr wohl die Bundesnetzagentur, die nicht immer gleich an jeder Stelle so ambitioniert vorgegangen ist, wie wir als Politik uns das vorgestellt haben. Am Ende gilt: Die Vorstellung der Menschen hinsichtlich Mobilfunk und Breitband ist: Versorgung quasi als Daseinsvorsorge. Das ist das, was man von uns zu Recht erwartet. ({4}) Mit dieser fünften TKG-Änderung haben wir jetzt auch Grundlagen geschaffen. Die höhere Transparenz wurde bereits angesprochen. Es muss öffentlich sichtbar sein, wo die Lücken bestehen. Die Schmerzpunkte müssen genannt werden – bis hin zur einzelnen Funkzelle. Die zuständige Behörde, die Bundesnetzagentur, muss auf Basis dieser Daten handeln und handeln können.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege – –

Ulrich Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004087, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. – Sie kann handeln, und sie muss handeln. Wir erwarten, dass die Bundesnetzagentur in Zukunft Anwalt der Nutzer ist – so verstehe ich ihren Auftrag – und sich klar auf die Seite der Nutzer von Mobilfunk und Breitband stellt. ({0}) Die Erhöhung des Bußgeldes ist sicherlich auch ein wichtiger Schritt. Es geht darum, dass die Netzbetreiber in Funkmasten investieren und nicht in Bußgelder. Das ist unsere Ansage. Das wollen wir damit deutlich machen. ({1}) Das lokale Roaming – das andere Roaming ist bereits angesprochen worden – haben wir im Gesetz verankert. Die Bundesnetzagentur hat darauf hingewiesen, dass der Kodex umzusetzen ist. Insofern, liebe Kollegen der Grünen, ist Ihr Entschließungsantrag natürlich so zu verstehen, dass Sie auch noch einen Antrag gestellt haben. Wir werden darauf achten, dass all die Netzbetreiber, die in den letzten Wochen und Monaten bei uns waren und das Hohelied der Kooperation gesungen haben, dieses Lied nicht nur bis zum Zeitpunkt der Gesetzgebung singen, sondern dass daraus danach ein stimmiger Chor aller Netzbetreiber wird. ({2}) Ansonsten wissen wir als Gesetzgeber ganz genau, dass der Beweis der Telekommunikationsbetreiber, den sie bringen wollten, nicht erbracht wurde. Der nächste Schritt steht vor der Tür. Die nächste TKG-Novelle kommt, und zwar im Herbst. Dann werden wir den nächsten Schritt hin zu einer verlässlichen Mobilfunk- und Breitbandversorgung in unserem Land machen. Wir werden ihn gehen, weil wir in Deutschland ein Zukunftsland sein wollen. Herzlichen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Ulrich Lange. – Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt noch nicht, sondern gebe dem Kollegen Hebner das Wort für eine Kurzintervention.

Martin Hebner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004740, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Das war ein sehr interessanter Vortrag, Herr Lange. ({0}) Sie sagten – ich zitiere –, eine Daseinsvorsorge bezüglich Breitband und Mobilfunk würden die Bürger zu Recht erwarten. Ich kann Ihnen ganz klar sagen: Was die Breitbandversorgung angeht, ist Deutschland eine komplette Wüste. ({1}) Wie ich weiß, ist das in anderen Ländern anders. Nehmen wir zum Beispiel Japan, wo die Breitbandabdeckung, was FTTH betrifft, an die 80 Prozent beträgt, oder Südkorea mit einer Breitbandabdeckung von weit über 50 Prozent. In Deutschland beträgt sie – das wissen wir alle – nur 2 Prozent. Ich war in den Jahren zwischen 2005 und 2010 mit der Planung der Deutschen Telekom für den FTTH-Ausbau beschäftigt, und zwar auf der technischen Seite. ({2}) Und wissen Sie, wer das alles zurückgestrichen hat? Das war Ihre Regierung. Sie haben das alles zusammengestrichen. Im Moment besteht für viele Firmen, die in ländlichen Gebieten ihre Geschäftssitze haben, das Fiasko darin, dass sie dort keine entsprechende Anbindung an die großen Unternehmen finden. Was passiert? Sie müssen sich, wenn es um die Frage des Firmensitzes geht, ganz klar umorientieren. Sie haben für viele Mittelständler wirklich ein riesengroßes Problem geschaffen. Jetzt behaupten Sie, Sie würden irgendwo einen weiteren Schritt machen. Schauen Sie, das ist doch ein Schneckentempo, das Sie hier vorlegen! Und was die vollkommen unzureichende Netzabdeckung bei 4G oder auch 5G angeht, da muss man feststellen, dass das jetzt auch wieder zementiert wird. Dabei wäre das ein Auftrag an Sie von der Regierung gewesen, hier vonseiten der Regierung längst Infrastrukturmaßnahmen durchzuführen. Da haben Sie komplett versagt. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Hebner. – Es gibt die Möglichkeit einer Kurzintervention. Diese hat er bekommen. Ich werde im Laufe des weiteren Abends sehr restriktiv damit umgehen: maximal eine Kurzintervention pro Tagesordnungspunkt. Er hat jetzt eine bekommen. Wenn Herr Lange antworten möchte, kann er das tun.

Ulrich Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004087, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das war die zweite Kurzintervention. Bei der AfD gibt es einfach das Problem der Redezeitverteilung. Lieber Kollege, Sie sind fachlich in der Fraktion anscheinend nicht zum Zug gekommen, anders kann ich Ihren Beitrag gerade nicht werten. Sie wissen doch ganz genau, dass wir auch durch den Mobilfunkgipfel nochmals eine weitere Aufstockung bei der Versorgung erreicht haben. Sie wissen, dass die Versorgungsauflagen aus der Versteigerung von 2015 bis 2019 erledigt sein müssen. Genau für den Fall, wenn es hier Probleme gibt, haben wir jetzt diese Instrumente geschaffen. Im Herbst werden wir mit der nächsten Novelle den nächsten Schritt gehen. Alles mit Ruhe. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kollege Lange. – Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Telekommunikationsgesetzes. Der Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur empfiehlt unter den Buchstaben a und b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/11180, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 19/6336 in Kenntnis der Gegenäußerung der Bundesregierung auf Drucksache 19/6437 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen. Zugestimmt haben die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD. Dagegengestimmt haben die Fraktionen der FDP und der AfD. Enthalten haben sich die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich jetzt zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Bei dem Herrn, der dort rechts hinten hinter der Säule steht, weiß ich nicht, was er macht. Sie haben jetzt eigentlich allem zugestimmt. Das geht nicht, aber gut. – Der Gesetzentwurf ist angenommen bei Zustimmung von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der FDP-Fraktion und der AfD-Fraktion bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und den Linken. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/11198. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Zugestimmt haben Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke. Dagegengestimmt haben die Fraktionen von CDU/CSU und SPD. Enthalten haben sich etwa drei Kollegen der AfD, der Rest hat nicht mitgestimmt. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Digitalisierung im 21. Jahrhundert – Digitale Infrastruktur im Glasfaserausbau“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/7389, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/6398 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zugestimmt haben die Fraktionen von CDU/CSU, SPD und der Linken. Dagegengestimmt haben die Fraktionen von FDP und AfD. Enthalten haben sich die vier Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen.

Corinna Miazga (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004821, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren des Kollegiums! Seit dem Vertrag von Lissabon verfügen wir als nationales Parlament in EU-Angelegenheiten über die bescheidenen Mitspracherechte Subsidiaritätsrüge und Subsidiaritätsklage, von denen wir leider nur geringen Gebrauch machen, vor allem im Vergleich mit den anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Zu diesem Schluss kommt auch die Unterabteilung Europa der Bundestagsverwaltung in ihrem Bericht über die Subsidiaritätsprüfung im Deutschen Bundestag vom 3. Mai 2017. Sie stellt fest, dass der Bundestag bisher nur drei Subsidiaritätsrügen erhoben hat, obwohl es deutlich mehr Anlass zu Protest gegeben hätte. ({0}) In diesem Zusammenhang weise ich exemplarisch hin auf die Datenschutz-Grundverordnung, die Monti-II-Verordnung und die Verordnung über die Europäische Staatsanwaltschaft. Bei zwei der vorgenannten Vorhaben haben unsere Nachbarstaaten eine Gelbe Karte ausgelöst. Das heißt, mindestens neun Mitgliedstaaten waren sich einig, dass gegen diese Gesetzesinitiativen rechtliche Bedenken bestehen. Da möchte ich doch einmal die Frage stellen: Was war mit Deutschland? Wo waren denn da die Altparteien? ({1}) Zur Erinnerung: Das Subsidiaritätsprinzip ist in Artikel 23 Grundgesetz auf Verfassungsebene verankert. Nur wenn sein Schutz gewährleistet ist, können und dürfen wir überhaupt in der EU mitwirken. Sie aber behandeln dieses Prinzip auf stiefmütterlichste Art, als sei es – wie heißt es so schön? – Pillepalle. Sie haben den Nationalstaat doch eigentlich längst aufgegeben. So kommt es, dass es bislang im Deutschen Bundestag in zehn Jahren noch keinen einzigen Antrag auf Erhebung einer Subsidiaritätsklage gab, trotz des Minderheitenquorums von 25 Prozent, jedenfalls bis heute nicht; denn jetzt sind wir da. ({2}) Wir stehen für Deutschland und seine Bürger ein, völlig egal, als was Sie unsere Bemühungen zum Schutz unseres Landes diffamieren. Wir halten stand. Wir stehen bedingungslos zum Grundgesetz und deshalb auch zu Artikel 23. Wir nehmen diesen ernst. Das bringen wir heute mit unserem Antrag zum Ausdruck. Es geht nicht nur um Uploadfilter und die damit zu befürchtende Zensur des Internets durch die Hintertür. Es geht auch um grundsätzliche Erwägungen zum Subsidiaritätsprinzip. Die neue Richtlinie regelt den Urheberschutz inhaltlich wie eine Verordnung. Genau das geht nicht. Insbesondere darf eine Richtlinie den Mitgliedstaaten nicht Form und Mittel für die Umsetzung vorgeben. Das verstößt gegen Artikel 288 Absatz 3 AEUV. Genau das geschieht hier unter anderem mit der faktischen Vorgabe, Filtersysteme, die auf Algorithmen basieren, einzusetzen. Unabhängig davon, dass damit wieder einmal der Rechtsschutz auf Private, zum Teil sogar auf ausländische Privatunternehmen übertragen wird, darf man all diese Zwänge in einer Richtlinie nicht detailliert vorschreiben. ({3}) Wenn man diese Mittel will ungeachtet ihrer Verhältnismäßigkeit, dann muss der EU-Gesetzgeber eine Verordnung erlassen. Doch wir alle wissen, dass diese politisch nicht durchsetzbar gewesen wäre. So stehen wir jetzt vor dem Dilemma, eine EU-Richtlinie, die funktional eigentlich eine Verordnung ist, bei der Umsetzung dadurch zu reparieren, dass wir auf das rechtswidrige Mittel der Uploadfilter verzichten. Das möchte jetzt sogar die Bundesregierung und erklärt, dass sie selbst mittlerweile ernste Bedenken gegen die Uploadfilter hegt. Aber gleichzeitig weiß sie nicht, wie man die Richtlinie ohne Filtersysteme umsetzen kann. Sie stellt außerdem fest: Sollte trotz einer legeren Umsetzung in das nationale Recht die Meinungsfreiheit tatsächlich beschränkt werden, müsse man darauf hinwirken, dass die festgestellten Defizite des EU-Urheberrechts korrigiert werden. Das heißt im Klartext: 2021 will die Regierung die Richtlinie notfalls noch einmal neu aushandeln. Mehr Rechtsunsicherheit geht nicht! ({4}) All diese Feststellungen stehen in einem Papier, das sich Protokollerklärung nennt. Doch sie liest sich wie eine Bankrotterklärung. Die EU hat versagt. Die neue Richtlinie ist nicht zu retten. Sie muss neu ausgehandelt werden, und zwar jetzt und nicht erst in zwei Jahren. Deshalb wollen wir genauso wie unsere polnischen Nachbarn schnellstmöglich vor den EuGH ziehen und das gerichtlich feststellen lassen. Die deutsche Regierung wird das im Wege einer Nichtigkeitsklage nicht selbst machen. Sie würde ja ihr Gesicht verlieren. Aber wir als Oppositionsfraktionen könnten das mit diesem Antrag veranlassen, das heißt, wenn Sie sich zur Sacharbeit mit der AfD überwinden können. ({5}) Wir haben jetzt noch 30 Minuten Debattenzeit. Das heißt, Sie haben noch eine halbe Stunde Zeit, sich ein Rückgrat wachsen zu lassen ({6}) und sich für die gemeinsame Sache unserer Bürger und den Rechtsstaat einzusetzen. Herr Amthor, wenn Sie sich trauen – –

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist zu Ende. Danke schön. ({0}) Nächster Redner: Dr. Heribert Hirte für die CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Prof. Dr. Heribert Hirte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004302, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörer auf den Tribünen! Der Antrag ist wirklich überraschend; denn die AfD hatte in diversen Ausschuss- und Unterausschusssitzungen im Laufe dieses Jahres genügend Gelegenheit, ihre Bedenken zu äußern, und zwar am 15. Juni 2018 im Unterausschuss, am 28. September 2018 im Unterausschuss, am 18. Januar 2019 im Unterausschuss, am 25. April, am 17. Oktober, am 30. Januar dieses Jahres. Frau Miazga sagt: Wir sind da. – Ich frage: Wo waren Sie denn? ({0}) Herr Peterka hat im Unterausschuss, als der Richtlinienentwurf geändert wurde, gesagt, er begrüße die Entwicklung hin zu dem Entwurf, über den wir nun abschließend beraten. Das ist wirklich ein starkes Stück! Ihr Antrag ist im Wesentlichen auf erhebliche Bedenken bezüglich der Subsidiarität und insbesondere der Verhältnismäßigkeit der Richtlinie gestützt. Es ist ein interessanter Aspekt, dass Sie die Rechtsform der Richtlinie als bedenklich ansehen. Die Richtlinie sei nicht das richtige Instrument, weil nicht nur das Ziel, sondern auch die Mittel vorgegeben seien, was mangels entsprechenden Umsetzungsspielraums für die Mitgliedstaaten nicht dem Charakter einer Richtlinie entspreche. Allerdings liegt mit der Kategorisierung der Diensteanbieterhaftung als Mittel eine völlige Fehleinschätzung vor. Das alles sind nämlich – wenn man den Text der Richtlinie liest, kommt man zu diesem Schluss – Unterziele der Richtlinie. Denn dort heißt es: Die Mitgliedstaaten haben sicherzustellen, dass … Schlösse man sich Ihrer Auffassung an, wäre das Gros aller europäischen Richtlinien unionsrechtswidrig. Insbesondere die Richtlinie, die nun geändert wurde, wäre ihrerseits schon europarechtswidrig gewesen. Wenn das richtig wäre, müsste es Hunderte Stimmen gegeben haben, die das alles vorgetragen hätten. Aber auch da Schweigen im Wald! Das zeigt, wo Sie stehen, nämlich alleine. ({1}) Sie widersprechen sich selbst; denn im Rahmen der Verhältnismäßigkeit wird auch von Ihnen als legitimes Ziel ein wirksamer Urheberrechtsschutz definiert, der durch die fehlende Greifbarkeit der Urheberrechtsverletzer nicht ausreichend gegeben ist. Sie erkennen also an, dass dieses Ziel gerade nicht in einem Begriff oder Kurzsatz zu beschreiben ist. Auch mittelbar zwingt die Richtlinie nicht zu Uploadfiltern, wie das von uns entwickelte Modell – und zwar im Vorfeld des Inkrafttretens der Richtlinie – gezeigt hat. Wir setzen deshalb auf Bezahlen statt Blockieren sowie auf eine menschliche Prüfung von etwaigen automatisierten Kategorisierungen der Inhalte. ({2}) Zur Subsidiarität im engeren Sinne – denn das ist ja Ihr Antrag – sagen Sie, dass die Angleichung des Urheberrechts über TRIPS, also über ein Instrument der WTO, des Weltwirtschaftsrechts, vorgegeben sei. Nur, was Ihr Antrag nicht sagt: Ist das ein Argument für oder gegen die fehlende Subsidiarität? Allerdings ist es kein Argument dafür, dass gegen den Subsidiaritätsgrundsatz verstoßen wurde, dass man den Rechtsbereich auch noch auf einer höheren Ebene regeln kann. Wissen Sie, was daraus folgt, wenn dieses Argument richtig wäre? Dann dürften und müssten wir Kommunalrecht auf der Ebene von TTIP regeln. Lassen Sie sich das mal auf der Zunge zergehen, was Sie hier in Ihrem Antrag sagen. ({3}) Zur Geeignetheit kritisieren Sie an Artikel 17, dem früheren Artikel 13, der Richtlinie, dass die Plattformbetreiber Tätern – das muss man sich gerade im Zusammenhang der sonstigen heutigen Debatten auf der Zunge zergehen lassen – gleichgestellt würden, als hätten sie selbst rechtswidrig Inhalte veröffentlicht. Das sei eine Fiktion, da die eigentlichen Verursacher im Sinne der Kausalität die Nutzer seien; eine entsprechende polizeirechtliche Störerhaftung rechtfertige im deutschen Recht aber keine Schadenersatzansprüche. Nein! Die Richtlinie spricht von „Haftung“ und nicht von „Schadenersatz“. Das ist nicht nur inhaltlich, sondern auch rechtlich etwas anderes. Schon damit fällt Ihre Argumentation in sich zusammen. ({4}) Im Übrigen sollten Sie den Artikel 17 weiterlesen. In Absatz 4 steht genau im Sinne der Verhältnismäßigkeit etwas zu den Ausnahmen und Haftungsvoraussetzungen. Auch da sieht man: Der Antrag fällt in sich zusammen. Es kommt noch schlimmer: Die von Ihnen kritisierte Störerhaftung ist vom EuGH heute schon vorgegeben und damit letztlich heute schon geltendes Recht nach der Entscheidung des EuGH in der Sache „Louis Vuitton gegen Google“. Und: Die Störerhaftung ist, anders als Sie schreiben, ein jahrhundertealtes Instrument des deutschen Rechts und umfasst Beseitigungs- und Unterlassungspflichten; genau die Dinge, um die es hier geht. Das hat das OLG Hamburg in einem Fall, der das Urheberrecht betrifft, auch so entwickelt. „Notice and take down“, was daraus abgeleitet wurde, ist ein Verfahren, welches von ­YouTube schon länger praktiziert wird. Es gilt – das ist das, was die Richtlinie vorschlägt, vorschreiben wird und wir umsetzen werden –: Den Dreck vor der eigenen Haustür muss man wegkehren, auch wenn er nicht von einem selbst hingekippt wurde. Das ist ein alter Rechtsgrundsatz, auch des deutschen Rechts. Wie der Urheberrechtsschutz im Übrigen genau zu verwirklichen ist, sagt die Richtlinie, anders als Sie annehmen, gerade nicht. Ich zitiere den Kollegen Peterka, der das im Unterausschuss völlig korrekt und überzeugend festgestellt hat. Dafür gibt es Alternativen, unter anderem die Extended Collective Licenses, wie sie etwa in den skandinavischen Ländern praktiziert werden, wie wir sie schon in § 51 VGG haben und wie sie Pate stehen und standen für das Modell, was wir als Union entwickelt haben. Als Argument verweisen Sie weiter auf die Geeignetheit, weil das zu Overblocking führen würde. Allerdings nochmals: Es gibt Alternativen, und von diesen Alternativen werden wir Gebrauch machen. Die Änderungsrichtlinie, sagen Sie weiter, widerspräche dem geltenden europäischen Recht. Vorsicht! Screening ist zulässig; um Overblocking geht es gar nicht, und im Übrigen: Jüngeres Recht verdrängt älteres Recht. Und nochmals: Als milderes Mittel, so meinen Sie, müsste der Fokus darauf gerichtet werden, Urheberrechtsverletzungen erst im Nachhinein geltend zu machen. Genau das werden wir in der Umsetzung tun. Ihr Antrag geht auch in diesem Punkte ins Leere. Insgesamt kann ich nur sagen: Aus gutem Grund wird die Bundesregierung keine Klage gegen die Richtlinie erheben. ({5}) Unser Grundsatz ist: Leistung muss sich lohnen. Das neue System zielt auf faire Vergütung und hohe Rechtssicherheit. Ihr Antrag ist für die wichtige Diskussion um die Reichweite europäischer Kompetenzen kein Beitrag. Wir werden ihn ablehnen. Vielen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Hirte. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Roman Müller-Böhm. ({0})

Roman Müller-Böhm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004833, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste! Der Schutz von Urheberrechten ist zweifellos wichtig. Aber Uploadfilter sind wahrscheinlich der denkbar schlechteste Weg, um die Akzeptanz für Urheberrechte zu bewahren. ({0}) Das ist unstrittig und war auch allen Beteiligten klar. Trotzdem hat diese Bundesregierung, getragen von Union und SPD, die Zensurrichtlinie unterzeichnet. ({1}) Entgegen Ihren Ankündigungen haben Sie leider auch nichts dagegen unternommen. Das – es tut mir leid – ist beschämend, und das verurteilen wir zutiefst. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege, erlauben Sie eine – –

Roman Müller-Böhm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004833, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein. ({0}) Nichtstun ist Machtmissbrauch. Das galt nicht nur im Wahlkampf, sondern das gilt auch insbesondere in Debatten wie diesen. Ganz eindeutig sind Uploadfilter der falsche Weg. Das haben Sie bereits in Ihrem Koalitionsvertrag so festgeschrieben. Viele Abgeordnete von Union und SPD haben sich in den Medien dementsprechend geäußert. Ich frage mich dann nur: Warum tun Sie nichts dagegen? Sie verstecken sich hinter Ihrem Modell und sagen: „Ja, das regeln wir mit irgendwelchen pauschalierten Vergütungsansätzen“, obwohl klar in dieser Richtlinie steht, dass gesetzlich vorgeschriebene Pauschalvergütungen nicht in Ordnung sind. Da muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen: Ihr Modell ist dann schlichtweg verlogen und macht es nicht besser. ({1}) Noch mal in Richtung der Sozialdemokratie – ich sage es Ihnen ganz ehrlich; wir haben das bereits im Europawahlkampf getan, und wir werden das auch in jedem weiteren Wahlkampf tun –: Wenn Sie weiterhin behaupten, Sie seien gegen Uploadfilter, und wenn dann Ihr Ministerium in dieser Bundesregierung, von Ihnen getragen, diese Richtlinie maßgeblich mit zu verantworten hat, ganz ehrlich, dann ist Ihre Glaubwürdigkeit so ruiniert, dann brauchen wir darüber gar nicht mehr weiter zu diskutieren. ({2}) Daran werden wir Sie jedes Mal erinnern. Die Gefahren der Uploadfilter scheinen allerdings noch nicht so ganz in der Großen Koalition angekommen zu sein; denn als die Richtlinie noch nicht beschlossen war, habe ich Sie damals schon gewarnt, dass eventuell eines Tages aus Uploadfiltern möglicherweise ­Orwell’sche Wahrheitsfilter werden könnten, die dann wie ein Rasenmäher über die Vielfalt des Internets hinweggehen. Ob dann ein ungerechtfertigter Verstoß vorliegt oder eine zulässige Parodie, lässt sich ohne Weiteres dann nicht mehr unterscheiden. Wissen Sie, dann kommt etwas, das finde ich absolut bemerkenswert: Sie wurden – beide Parteien – bei der Europawahl doch ziemlich abgestraft, nicht zuletzt, weil Sie die massiven Proteste gegen die Uploadfilter nicht ernst genommen haben. ({3}) Und dann fordert die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer, die Meinungsfreiheit von ­YouTubern auch noch zu beschränken. Ganz ohne Not fantasiert sie von einer Zensurmaschine. ({4}) Bei diesen Hintergedanken – kann ich nur sagen – wird mir bei der Umsetzung dieser Richtlinie in nationales Recht durch Ihre Hand angst und bange. ({5}) Sehr geehrte Damen und Herren, auch wir wünschen uns ein modernes Urheberrecht, das die Interessen von Rechteinhabern und Nutzern fair in Einklang bringt. Ich muss aber trotzdem noch mal deutlich sagen: Wir lehnen Uploadfilter ab. ({6}) Wir lehnen diese Urheberrechtsrichtlinie ab. Und wir werden auch nicht warten, bis die Frist zur nationalen Umsetzung abläuft. Wir werden hier im Deutschen Bundestag mit Anträgen an die Bundesregierung und auch mit unseren fantastischen Abgeordneten im neugewählten Europaparlament in Brüssel um Nicola Beer weiterhin gegen Uploadfilter kämpfen. ({7}) Wissen Sie, grundsätzlich bin ich froh, wenn wir solch wichtige Themen, die die Menschen draußen bewegen, hier diskutieren, liebe Kollegen der AfD. ({8}) Aber man muss es so deutlich sagen – jetzt kommen wir zum Kern Ihres Antrags –: Eine Subsidiaritätsklage an der Stelle bringt gegen Uploadfilter ungefähr genauso viel wie die Gründung eines Töpfervereins, nämlich gar nichts. ({9}) Am Inhalt dieser Richtlinie gibt es zweifellos extrem viel zu kritisieren. Das tun wir bereits; das habe ich gerade eben aufgelistet. Aber die Subsidiarität gehört zweifellos nicht dazu. Eine Klage wäre dementsprechend reine Symbolpolitik, und dabei werden wir nicht mitmachen; das sage ich Ihnen ganz deutlich. ({10})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

So, und damit sind Sie drüber. Kommen Sie bitte zum Schluss.

Roman Müller-Böhm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004833, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Urheberrechtsrichtlinie entspricht nicht unserem Verständnis von einem freien Internet. Aber ich sage Ihnen trotzdem: Bei diesem Antrag werden wir nicht mitmachen. Wir wollen einen digitalen harmonischen Binnenmarkt gestalten, aber nicht in dieser Form. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Roman Müller-Böhm. – Das Wort zu einer Kurz intervention – wie gesagt, nur eine pro Debatte – hat der Kollege Hoffmann.

Alexander Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004304, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke, Frau Präsidentin. – Kollege Müller-Böhm, schade, dass Sie meine Zwischenfrage nicht zugelassen haben. Das zeigt letztendlich ein Stück weit Ihre Unsicherheit in der Sache; anders ist das nicht zu erklären. ({0}) Ich hätte Sie nämlich gefragt: Können Sie mir denn die Stelle in der Richtlinie zeigen, wo tatsächlich von Uploadfiltern die Rede ist? ({1}) – Nein, nein. Ich bin noch nicht fertig. – Und – das ist ja noch viel interessanter –: Können Sie mir die Stelle in der Richtlinie zeigen, an der dann tatsächlich ausgeführt wird, dass urheberrechtlich geschütztes Material in Konsequenz auch nicht hochgeladen werden darf? Denn eines muss man ja sagen: Die Uploadfilter sind Ihre Erfindung. ({2}) Das ist ja eine Erfindung derjenigen, die die Menschen auf die Straße treiben und sagen: Ihr müsst dagegen demonstrieren, weil urheberrechtlich geschütztes Material nicht hochgeladen werden darf. ({3}) Jetzt wäre ich Ihnen wirklich verbunden, wenn Sie mir diese zwei Stellen zeigen; ansonsten entlarven Sie das relativ deutlich als Ihre, ich sage jetzt mal, Propagandaerfindung, ({4}) mit der Sie seit Monaten versuchen, die Leute gegen die Richtlinie aufzubringen. Vielen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Jetzt hat das Wort zu einer Antwort Herr Müller-Böhm. ({0})

Roman Müller-Böhm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004833, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Kollege Hoffmann, ganz ehrlich: Ihre Aussagen von gerade eben zeigen genau diese Arroganz, ({0}) die die Menschen draußen dazu bewegt, nach dieser Debatte zu sagen: Nie mehr wieder CDU wählen! ({1}) Das zum Ersten. ({2}) Punkt zwei – weil Sie genau danach gefragt haben –: Das Wort „Uploadfilter“ gibt es so, in der Form, natürlich nicht. ({3}) Aber kommen wir zur Sache: Wenn Sie in Artikel 17 in der neugefassten Version gucken, werden Sie lesen, dass da drinsteht, dass die Inhalte daraufhin zu überprüfen sind, ob sie gegen urheberrechtliche Bestimmungen verstoßen. ({4}) – Lassen Sie mich doch jetzt eben zu Ende reden. Ich bin Ihnen doch gerade auch nicht ins Wort gefallen. Wenn Sie schon Anschuldigungen in dieser Form machen, dann müssen Sie es jetzt auch ertragen, dass man mal eben kurz darauf antwortet. Wenn Sie dann hingehen und sagen, das würde nicht dem entsprechen, was das Wort „Uploadfilter“ meint, sprich: dass beim Hochladen verifiziert wird, ob ein urheberrechtlicher Verstoß vorliegt oder nicht – – ({5}) – Wie soll das denn technisch bitte schön anders gemacht werden als beim Uploadvorgang? Erklären Sie es mir, ({6}) dann sage ich Ihnen auch ganz ehrlich, warum ich ein Problem damit habe, einem Uploadfilter zuzustimmen. So kann ich Ihnen nicht zustimmen. Das, was Sie gerade gesagt haben, stimmt eben nicht. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

So, jetzt wird hier nicht mehr erklärt. Wir hatten eine Kurzintervention, und Herr Müller-Böhm hat darauf geantwortet. Der nächste Redner in dieser lebendigen Debatte ist Florian Post für die SPD-Fraktion. ({0})

Florian Post (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004379, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich war schon sehr verwundert, als ich gerade die intellektuell tiefgehenden Einlassungen der Kollegin Miazga hier hören durfte, ({0}) die tatsächlich eine Verletzung des Subsidiaritätsprinzips erkennt. Ich meine, nicht mal die AfD würde behaupten, dass die Verbreitung von digitalen Inhalten an der Grenze haltmacht. Das kommt, glaube ich, nicht mal aus Ihrem Munde. Deswegen verwundert mich dieser Antrag, den ich ganz klar – das möchte ich gleich zu Beginn sagen – unter der Rubrik „Klamauk“ verbuche, schon sehr. ({1}) Sie begründen Ihre Forderung, dass die Bundesregierung Subsidiaritätsklage erheben soll, damit, dass – angeblich – das Instrument der Uploadfilter ganz klar vorgeschrieben wäre. Die Bundesregierung hat aber anderslautend in einer Protokollerklärung ausdrücklich zu verstehen gegeben, dass wir die Umsetzung dieser Richtlinie eben ohne Uploadfilter vollziehen wollen, und daran arbeiten wir. Es wären, glaube ich, auch mehr Differenzierung und Sachlichkeit in dieser Debatte angebracht. Es handelt sich schließlich um ein sehr komplexes Rechtsgebiet. Es geht um einen fairen Ausgleich: einerseits freies Internet, ja, andererseits aber auch Vergütungsansprüche von Urheberinnen und Urhebern. Und natürlich darf man freies Internet nicht mit kostenfreiem Internet verwechseln. Das gilt es auch einmal ganz klar festzuhalten. Aber der AfD geht es ja um etwas anderes – Sie wollen ja auch nicht wirklich diskutieren; das haben Sie schon am Anfang in Ihren Ausführungen deutlich gemacht –: Weil man halt zu wenig Subsidiaritätsklagen erhoben hat, kann man es ja mal probieren. In Ihren Augen muss man anscheinend die Bilanz oder die Statistik aufbessern, und deswegen haben Sie wieder einen brauchbaren Aufhänger gefunden, um Ihre Geschichte von der bösen EU weiterzuerzählen, die die Souveränität unseres Landes unterwandert und nebenbei auch noch Zensur und Überwachung einführen will. ({2}) – Ja, ja. – Deshalb ist es – ich habe es gerade schon gesagt – auch sehr zu begrüßen, dass die Bundesregierung die entsprechende Protokollerklärung abgegeben hat. Ich freue mich hier künftig auf einen sachlichen Austausch mit allen Fraktionen – bis auf eine –, also mit allen vernünftigen Fraktionen, in dieser Angelegenheit – ({3}) ich glaube, bei der AfD erübrigt sich der Einstieg oder der Versuch eines Einstiegs in eine sachliche Debatte –, sodass wir das eben ohne algorithmenbasierte Zensur umsetzen können, ohne Uploadfilter, die auch ich sehr kritisch sehe, die auch in meiner Partei und von der interessierten Öffentlichkeit kritisch gesehen werden. Ich bin überzeugt davon, dass wir hier im Diskurs mit allen Fraktionen – bis auf eine; das sage ich noch mal ausdrücklich – einen guten Lösungsweg erzielen können. Der Antrag der AfD fällt – ich wiederhole mich – unter die Rubrik „Klamauk“ und ist in dieser Hinsicht natürlich klar abzulehnen. Danke für die Aufmerksamkeit. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Post. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Dr. Petra Sitte. ({0})

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich sage es nicht zum ersten Mal, aber man kann es ja auch nicht oft genug wiederholen: Die europäische Urheberrechtsreform hat die versprochenen Ziele verfehlt und droht insbesondere mit Artikel 17 Schaden anzurichten. Die Verpflichtung zum Einsatz von Uploadfiltern – Herr Kollege, mit einer solchen Zwischenfrage hat sich schon Axel Voss lächerlich gemacht; also lassen Sie es! –, ({0}) weil es eben nicht anders geht, gefährdet die Meinungsfreiheit und schadet kleineren Diensteanbietern und Plattformen zugunsten großer Verlage und Großplattformen. ({1}) – Ja, damit müssen Sie leben, dass das die Konsequenz ist, wenn es technisch nicht anders geht. Dann müssen Sie es streichen, oder dann dürfen Sie solchen Sachen gar nicht erst zustimmen. ({2}) Die Großplattformen und Verlage können den damit verbundenen Aufwand leisten, ohne dass irgendeinem Kreativen damit geholfen wäre. Insofern ist es richtig, diesen Schaden nun, soweit möglich, abzuwenden. Nun fragt man sich aber: Hilft der Antrag der AfD dabei? Ich denke: Nein. Sie wollen eine Subsidiaritätsklage vor dem Europäischen Gerichtshof erheben, um die Reform für ungültig zu erklären. Die Idee dazu stammt mutmaßlich aus Polen, dessen Regierung bereits Klage erhoben hat. Nun wird eine Klage mehr nicht dazu führen, dass der EuGH doppelt so genau prüft. Es ist auch fragwürdig, ob das Subsidiaritätsargument überhaupt greift, nämlich ob der Nachweis gelingt, die EU habe ihre Kompetenzen gegenüber den Mitgliedstaaten überschritten. Das Thema „Urheberrecht im Internet“ erfordert nun einmal grenzüberschreitende Regelungen. Genau genommen ist es eigentlich viel zu wenig harmonisiert worden; insofern musste die AfD an dem Antrag auch schon ziemlich herumschrauben, um irgendwie ein Subsidiaritätsproblem herbeizureden. Aber vielleicht muss man auch mal daran erinnern: Würde es nach den europapolitischen Vorstellungen der AfD gehen, wäre das Europäische Parlament eingedampft, und gewählte Abgeordnete hätten gar kein Mitspracherecht an der Urheberrechtsreform gehabt. Das alles heißt nicht, dass die Urheberrechtsreform und Artikel 17 im Speziellen rechtlich nicht angreifbar wären. Im Gegenteil: Seine Bestimmungen stehen im Widerspruch zu seinen eigenen Garantien bezüglich der Verhältnismäßigkeit und bezüglich des Grundrechtsschutzes. Die Bundesregierung muss vor der Umsetzung gründlich prüfen, was grundrechtskonform überhaupt machbar ist, und im Zweifel eben auf eine Umsetzung von Artikel 17 verzichten. Sonst könnte sie ohne einen Verstoß gegen höherrangiges Recht nicht durchkommen, als da sind: das Grundgesetz und die EU-Grundrechtecharta. Sollte das dann rechtliche Konsequenzen haben, könnten die Fragen inhaltlich statt mit irgendwelchen konstruierten Formalargumenten geklärt werden. Um dabei keinen nationalen Alleingang hervorzubringen, wäre es jetzt essenziell, sehr grundsätzlich in den anlaufenden Dialogprozess der Kommission zu Artikel 17 einzusteigen. Ich kann nur hoffen, dass Frau Lambrecht, die gerade erst heute Morgen als neue Justizministerin vereidigt worden ist, dies schon ganz weit oben auf ihrer To-do-Liste hat. Mithin hatte die Bundesregierung in ihrer Protokollerklärung – davon war ja schon die Rede – entsprechende Ankündigungen gemacht. Denn eins ist doch klar: Eine wirkliche Urheberrechtsreform, die den heutigen Gegebenheiten gerecht wird und den Kreativen am Ende tatsächlich zu ihrem Recht verhilft, kann es nur durch ein Umdenken und, genau genommen, nur durch einen Neuanlauf auf europäischer Ebene geben. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Petra Sitte. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Tabea Rößner. ({0})

Tabea Rößner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004138, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Warum kommt die AfD mit diesem handwerklich schlecht gemachten Antrag um die Ecke? ({0}) Weil Sie vorgaukeln, Sie wären die Einzigen, die sich beim Urheberrecht für die gerechte Sache einsetzten. Auch wir finden Artikel 15 und 17 schwierig. Aber Ihr Antrag wirkt hastig zusammengeschustert und ist inhaltlich und formal falsch. ({1}) Es geht Ihnen ganz offensichtlich nicht um sachgerechte Politik. Dieser Antrag ist eher auf Social Media ausgerichtet, um ein paar schnelle Likes zu bekommen; denn einer genaueren Betrachtung hält Ihr Antrag überhaupt nicht stand. ({2}) – Die Begründung bekommen Sie. Das Kernargument Ihres Antrags besteht ja darin, dass eine Richtlinie nicht das richtige Instrument sei; denn eine Richtlinie müsse den Mitgliedstaaten die Wahl der Mittel überlassen, was bei der Urheberrechtsrichtlinie nicht gegeben sei. Das Argument fällt allerdings in sich zusammen, sobald man in die Kommentarliteratur zum Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union schaut. ({3}) – Ja, haben sie wahrscheinlich nicht. – In zahlreichen Richtlinienbestimmungen werden die Mittel schon ziemlich klar benannt, sodass die Mitgliedstaaten in diesen Fällen nicht mehr über einen nennenswerten Umsetzungsspielraum verfügen. Das ist also ganz normal und nach herrschender Meinung auch unionsrechtlich zulässig. ({4}) Ich gebe Ihnen mal zwei Beispiele aus dem Bereich Verbraucherschutz. In der Verbraucherrechterichtlinie ist ganz klar als Mittel ein Widerrufsrecht beim Onlineshopping mit einer unionsweiten Frist von 14 Tagen formuliert. Und in der aktuellen Pauschalreiserichtlinie sind verschiedene Ansprüche der Reisenden sehr konkret benannt, zum Beispiel das Recht auf Erstattung getätigter Zahlungen und auf Rückbeförderung im Fall der Insolvenz des Reiseveranstalters. Ich finde, das ist eine große Errungenschaft, wenn in allen EU-Mitgliedstaaten bei Fragen des grenzüberschreitenden Handels und Verkehrs gleiche Verbraucherrechte gelten. ({5}) Falls Ihr Argument dann wäre, dass Sie europaweite Regulierungen über Richtlinien generell ablehnen, dann wäre ich nicht überrascht. Sie sind ja eine im Kern europafeindliche Partei. Sie wollen den Euro abschaffen, sind gegen Freihandel, lehnen eine gemeinsame Solidarität der EU-Länder bei der Aufnahme Geflüchteter ab und sehen auch keinen Sinn in europäischen oder internationalen Bemühungen, den Klimawandel zu bekämpfen. Sie haben leider auch bei vielen der von Ihnen angesprochenen Punkte keine politische Glaubwürdigkeit. So beklagen Sie zum Beispiel, dass eine Vorabfilterung auf sozialen Netzwerken den Schutz personenbezogener Daten beeinträchtigen würde. Als die Partei, die Denunziationsplattformen in mehreren Bundesländern ins Leben gerufen hat, wo Schülerinnen und Schüler ihre Lehrer melden, bespitzeln und an den Pranger stellen sollten, wäre ich an Ihrer Stelle ganz still bei diesem Thema. ({6}) Eines muss ich ja gestehen: Es gibt eine Stelle in Ihrem Antrag, die mir Freude bereitet hat. Auf Seite 4 können wir lesen, dass – ich zitiere – „das Wort ‚Upoloadfilter’ nicht (mehr) im Text der Richtlinie vorkommt“. Ja, es war heiß die vergangenen Tage; aber der Autor oder die Autorin hat beim Schreiben wohl zu intensiv an Aperol gedacht. ({7}) Ich kann jedenfalls bestätigen, dass das Wort „Upoloadfilter“ nicht in der Richtlinie und auch sonst nirgendwo vorkommt. ({8}) Sie können Uploadfilter nicht mal buchstabieren, und damit ist auch schon alles über die Schöpfungshöhe dieses Antrags gesagt. ({9}) Vielen Dank. ({10})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Tabea Rößner. – Der nächste Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Philipp Amthor. ({0})

Philipp Amthor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004656, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir erleben ein uns allen jetzt schon ziemlich bekanntes Schauspiel: Donnerstagabend, nach 21 Uhr, ein neuer Beitrag aus der Reihe „Juristisches Halbwissen der Alternative für Deutschland“. ({0}) Es gibt aber diesmal eine Neuerung: Nicht Herr Brandner, der sonst immer der Zauberlehrling ist, tritt an, sondern Corinna Miazga. ({1}) Ich frage mich immer: Was soll das? Wissen Sie, ich versuche immer, das Beste aus solchen Debatten zu ziehen. Da muss ich sagen: Zum Jubiläum „70 Jahre Grundgesetz“ hat der Donnerstagabend irgendwie immer auch was Schönes; denn dann haben wir die Gelegenheit, die weniger bekannten Normen des Grundgesetzes ein bisschen im Parlament zu erörtern. Diesmal haben Sie sich eine schöne Norm ausgesucht: Artikel 23 Absatz 1a – Subsidiaritätsklage. In der Tat, das gab es noch nie im Deutschen Bundestag. Es ist doch schön, dass wir die Gelegenheit haben, mal darüber zu reden. ({2}) Frau Miazga, Sie haben gesagt, Sie nähmen das Grundgesetz und Artikel 23 Absatz 1a sehr ernst. Das ist sehr schön, aber es gibt einen Unterschied zwischen ernst nehmen und verstehen. ({3}) Denn man muss deutlich sagen: Verstanden haben Sie es anscheinend nicht. Ich frage mich: Was machen wir jetzt? ({4}) Wir könnten jetzt juristisches Hochreck machen. Aber ich glaube, es ist schöner, wenn wir das einfach halten. Heribert Hirte hat das alles ja schon in Vorlesungsmanier erklärt. Ich mache das noch mal eine Stufe niedriger. ({5}) Wir machen das einfach mal mit dem Text. Der Bundestag, um dessen Mitwirkungsrechte Sie sich so sorgen, hat sich dazu eine schöne Norm im Integrationsverantwortungsgesetz gegeben. ({6}) – Ganz einfach! – § 12 Absatz 1 Satz 1: Auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder ist der Bundestag verpflichtet, eine Klage gemäß Artikel 8 des Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit zu erheben. ({7}) – Ja, den Satz konnten Sie wohl auch noch lesen; denn da stehen zwei Dinge drin: Protokoll über Verhältnismäßigkeit und Subsidiarität. ({8}) Deswegen machen Sie in Ihrem Antrag lange Ausführungen zu Verhältnismäßigkeit und Subsidiarität. Diese Norm im Integrationsverantwortungsgesetz verweist aber auf das Zusatzprotokoll zum EUV. Gucken wir mal, was darin steht. ({9}) – Viele Normen werden es nicht mehr. Ich bin gleich fertig. Dem ist noch zu folgen, ja? – Subsidiaritätsprotokoll Artikel 8: Der Gerichtshof der Europäischen Union ist für Klagen wegen Verstoßes eines Gesetzgebungsakts gegen das Subsidiaritätsprinzip zuständig … – Moment, was fällt uns da auf? „Verhältnismäßigkeit“ kommt gar nicht mehr vor. ({10}) Das hat damit zu tun, dass dieses Subsidiaritätsprinzip differenziert. Dieses Protokoll und Gegenstand der Klage, die Sie hier erheben wollen, das bezieht sich eben nur auf Subsidiarität und nicht auf Verhältnismäßigkeit. Das ist an der Stelle völlig unzutreffend. Ihre Klage ist nicht nur inhaltlich wegen der Argumente falsch, sondern sie widmet sich auch einem völlig falschen Klagegegenstand. ({11}) Insofern: Text lesen hilft, Frau Miazga. Da müssen wir nicht mal das große juristische Hochreck machen. Das ist gar nichts, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({12}) Aber damit wir es nicht ganz formal machen, will ich auch inhaltlich – dann haben wir das klargezogen – noch mal sagen: Auch inhaltlich haben wir bei dem Thema Uploadfilter kein Problem, was das materielle Recht angeht. Die Richtlinie ist offen für eine nationale Umsetzung. Genau dort wollen wir keine Uploadfilter, sondern ein pauschales Lizenzsystem. Das ist die genau richtige Grundlage. Für uns gilt der Grundsatz: Bezahlen statt Blocken. Darum kümmern wir uns; dafür setzen wir uns ein. Das machen die Rechtspolitiker und die Digitalpolitiker der Fraktion hervorragend. ({13}) Ich glaube, der kleine Juraexkurs reicht. Angesichts der fortgeschrittenen Zeit und des beabsichtigten Endes des Plenums nach 1 Uhr nachts spende ich die verbleibenden zwei Minuten den fleißigen Mitarbeitern der Bundestagsverwaltung, damit wir vorankommen. Alles Gute! – Wir lehnen den Antrag ab. Herzlichen Dank. ({14})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kollege Amthor. Aber mit 1 Uhr nachts wird es nichts. Im Moment sind wir bei nach 3 Uhr. Ich sag’s nur mal. ({0}) Dann sehen wir uns wieder. Sie können gerne noch mal kommen. Letzter Redner in dieser Debatte: Martin Rabanus für die SPD-Fraktion. ({1})

Martin Rabanus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004381, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Liebe Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Werte Zuschauer auf der Tribüne! Den profunden juristischen Ausführungen meines Kollegen Amthor ist nichts hinzuzufügen, was die juristische Seite angeht. Ich habe mir allerdings auch den Antrag im Wortlaut angeguckt: Das wirkt alles so – das ist schon genannt worden –, als wäre das mit einer ziemlich abgebrochenen Nadel zurechtgenäht. In der Begründung dieses Antrags steht, dass die Regelungskompetenz der EU nicht bestritten wird; das ist ja schon mal ein Anfang. Gleichzeitig werden auch – Zitat – „keine durchgreifenden Bedenken gegen die Richtlinie“ selbst vorgetragen; das findet sich da. Da fragt man sich schon: Okay, was soll das Ganze dann? Wenn man dann im Weiteren liest, dass Stein des Anstoßes also die nun vermeintlich verbindlich vorgeschriebenen Uploadfilter für alle Mitgliedstaaten sind, und ein Stück weiter, wie Frau Kollegin Rößner es auch gesagt hat, darauf hingewiesen wird, dass das Wort in der Richtlinie gar nicht drinstehe, dann ist das alles schon ziemlich irre. Dass da „Upoloadfilter“ steht, ist mir, ehrlich gesagt, gar nicht aufgefallen. Aber die Vermutungen dazu teile ich ausdrücklich; das hat schon seine Gründe. Vielleicht ist dieser Antrag mit bewusstseinserweiternden Substanzen entstanden. Also, wenn der Antrag in der Sache offensichtlich dünn bis sehr dünn ist, worum geht es der AfD dann mit diesem Antrag? Er ist natürlich nichts anderes als ein Aufhänger, um einmal mehr ihre Position hier vorzutragen. Wahrscheinlich hat es etwas damit zu tun, dass die FDP das Thema aufgenommen hat. Da haben Sie gedacht: Das müssen wir jetzt auch irgendwie. – Nur ist es noch mehr misslungen als bei der FDP; deren Antrag steht ja später noch auf der Tagesordnung. Die zweite Bemerkung, die ich machen möchte, ist: Sie wollen halt kein funktionierendes Urheberrecht. Das ist der eigentliche Hintergrund, warum Sie so etwas machen. Schließlich finanziert und refinanziert sich der „linksversiffte Kulturbetrieb“, der Ihnen ohnehin ein Dorn im Auge ist, ganz maßgeblich auch über Urheberrechte. Und es ist eine logische Konsequenz, dass man dann ein funktionierendes, modernes Urheberrecht ablehnt. ({0}) Sie wollen für diesen Bereich keine Planbarkeit. Sie wollen keine vernünftigen Rahmenbedingungen. Sie wollen eben auch keine vernünftigen Vergütungssysteme. ({1}) Das ist eine Position, die Sie nicht offen und ehrlich nach außen tragen und aussprechen; und das ist eigentlich das, was ich in Wirklichkeit jämmerlich finde. Wenn Sie das doch so sehen, dann sagen Sie es halt auch, ({2}) und verstecken oder verbarrikadieren Sie sich nicht hinter Fragen, die durchaus berechtigt sind und gestellt wurden. Für uns als SPD ist klar: Wir wollen ein modernes Urheberrecht, wir wollen ein funktionierendes Urheberrecht. Und das gilt für die gesamte Fraktion, auch und erst recht, weil wir kontrovers in der Diskussion damit umgegangen sind. Damit komme ich zur letzten, zur dritten Bemerkung. Wir werden zügig, aber trotzdem ruhig und unaufgeregt in der Koalition umsetzen, was uns die Richtlinie vorgibt. Wir wollen und werden dafür sorgen, dass wir Risiken minimieren, dass wir aber Chancen erkennen und nutzen für Künstlerinnen und Künstler, für Kreative, für die Filmwirtschaft, für die Musikwirtschaft, für die Literatur, für die Verlage, für die bildende Kunst, für die darstellende Kunst. Kurzum: Wir werden die Richtlinie umsetzen und für ein modernes, gutes Urheberrecht hier in Deutschland sorgen. Ihren Antrag werden wir selbstverständlich ablehnen. Herzlichen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herzlichen Dank, Herr Kollege Rabanus. – Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der AfD auf Erhebung einer Subsidiaritätsklage auf Drucksache 19/11129. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – ({0}) Wer enthält sich? – Keine Enthaltungen. Der Antrag ist abgelehnt. Diesem Antrag zugestimmt hat die AfD-Fraktion. Dagegengestimmt haben die Fraktionen der FDP, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die Grünen, der SPD und die Fraktion Die Linke.

Enak Ferlemann (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003525

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss sagen, auch wenn wir zu später Stunde diese Debatte führen, bin ich auch ein bisschen stolz auf den Deutschen Bundestag, dass sich alle Fraktionen so intensiv mit dem Thema Bahn auseinandergesetzt haben. Das hatten wir in den vergangenen Legislaturperioden nach meiner Erinnerung so noch nie. In der Tat ist es so: Im Koalitionsvertrag haben die Koalitionsfraktionen der Bahnpolitik in dieser Legislaturperiode einen besonderen Schwerpunkt in der Verkehrspolitik in Deutschland eingeräumt. Der Koalitionsvertrag enthält so ziemlich alles, was sich Eisenbahnpolitiker nur wünschen können. Deswegen hat die Bundesregierung nach ihrem Antritt gleich das „Zukunftsbündnis Schiene“ gegründet, in dem alle Beteiligten im Schienensektor gemeinsam nach einer neuen Bahnpolitik suchen, Vorschläge machen und im Endeffekt einen Schienenpakt schließen werden. Dabei gibt es viele, viele Punkte, die die Eisenbahn in Deutschland verbessern werden. Wir brauchen eine bessere Infrastruktur, ausgestattet mit mehr Mitteln des Bundes. Wir brauchen einen besseren Unterhalt des Bestandsnetzes. Wir brauchen mehr Fahrzeuge. Wir müssen neue Fahrpläne entwickeln. Wir brauchen bessere Bahnhöfe – Stichwort: Barrierefreiheit – und vieles andere mehr. Alle diese Punkte sind Bestandteil des „Zukunftsbündnis Schiene“. Wir stellen uns natürlich immer die Frage: Wird das, was auf all dem schönen Papier gedruckt ist, auch in die Realität umgesetzt? Ja, es wird in die Realität umgesetzt. Kernbestandteil des Schienenpaktes wird der Deutschland-Takt sein, den Verkehr in Deutschland im Nahverkehr, im Fernverkehr und im Güterverkehr vertaktet zu fahren, wie wir es noch nie hatten, mit Systemtrassen im Güterverkehr, mit einem eng vertakteten Nahverkehr und mit einem deutlich besser ausgestalteten Personenfernverkehr auf der Schiene. Das Letztere vor allem deshalb, um Flugverkehr in Deutschland, aber auch im europäischen Rahmen deutlich zu reduzieren. Dafür brauchen wir neue Trassen. Dafür brauchen wir neue Möglichkeiten für die Schiene. Dies bedarf auch erheblich mehr Haushaltsmittel, als bisher vorgesehen waren. Insofern ist es ein großer Erfolg, dass ein deutlicher Schwerpunkt im Haushaltsplan für das Jahr 2020 ff. – der Bundesfinanzminister hat ihn gestern vorgestellt – zusätzliche Mittel für das Verkehrsmittel Schiene sind. Wir haben eine Finanzausstattung, wie wir sie noch nie hatten. Es gilt jetzt, mit diesem Geld und einem guten Konzept mehr für die Schiene zu machen. Insofern bin ich sehr froh über die vielen Ideen und Anregungen, die in den verschiedenen Anträgen der Fraktionen deutlich werden. Die Koalitionsfraktionen haben einen Antrag gemacht, der hervorragend ist. Ich kann Ihnen wirklich nur aus tiefstem Herzen empfehlen: Stimmen Sie diesem Antrag zu! ({0}) Er ist qualitativ hochwertig, und er umfasst all die Punkte, die die Eisenbahnpolitik der nächsten Jahre bestimmen sollten und müssen. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns, aber ich glaube, wir sind schon große Schritte vorangekommen. Wir werden es in dieser Legislaturperiode schaffen, die Eisenbahn zum Verkehrsmittel des 21. Jahrhunderts zu machen. Glück auf dabei! Herzlichen Dank für Ihre Mithilfe, und stimmen Sie dem Antrag der Koalitionsfraktionen zu! Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kollege Ferlemann. – Nächster Redner in der Debatte: Wolfgang Wiehle für die AfD-Fraktion. ({0})

Wolfgang Wiehle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004933, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Wir reden über insgesamt acht Anträge, in denen es so oder so um Geld für Schienenwege geht. Das Generalthema dahinter ist die Rolle der Eisenbahn im Deutschland der kommenden Jahre und Jahrzehnte. Deshalb ist es tatsächlich schade, dass wir erst am Abend für diese Debatte Zeit haben. Die Eisenbahn hat eine tragende Funktion im deutschen Verkehrssystem. Dieser wird sie dann am besten gerecht, wenn sie ihre Stärken ausspielen kann. Das sind vor allem große Verkehrsmengen, lange Strecken und hohe Geschwindigkeiten. ({0}) Die Erschließung unseres Landes in der Fläche wird aber immer eine Domäne des Straßenverkehrs bleiben. Alles andere ist ideologische Träumerei. Deshalb ist auch das Gerede von einer „Verkehrswende“ töricht. ({1}) Es ist nicht schwierig, hier genauso wie bei der sogenannten Energiewende Billionenbeträge des volkswirtschaftlichen Vermögens zu verschleudern und damit unser Land ärmer zu machen, als es sein müsste. ({2}) Den Verkehrsträger Bahn müssen wir gezielt dort einsetzen, wo er seine Stärken hat. Diese habe ich eben genannt. Die Entscheidung für die Nutzung der Bahn muss freiwillig und ohne Zwang fallen. Der Staat steht in der Verantwortung für die Bahninfrastruktur. Das ist eine Aufgabe der Daseinsvorsorge. Viele Schwachstellen und Engpässe müssen beseitigt werden, Strecken ausgebaut werden, und auch das Signalsystem muss ins digitale Zeitalter kommen. Dafür ist viel Geld nötig, und zum größten Teil ist das das Steuergeld unserer Bürger. Es muss an den richtigen Stellen eingesetzt werden, und es muss auch klar nachvollziehbar sein, was damit gemacht wird. ({3}) Die derzeitigen Leistungs- und Finanzierungsvereinbarungen zwischen Bund und Bahn bringen nicht die nötige Transparenz. Das hat auch der Bundesrechnungshof festgestellt. Jetzt wird an einer dritten LuFV gearbeitet, aber mit Kosmetik alleine wird das Problem nicht gelöst. Notfalls müssen wir uns mehr Zeit nehmen und dafür die zweite LuFV um ein Jahr verlängern – so, wie es mit der ersten auch schon einmal gemacht wurde –, um nach besseren Lösungen zu suchen. Auch über einen Infrastrukturfonds nach Schweizer Vorbild müssen wir reden. Damit komme ich zu den Anträgen. Alle Ansätze, die die LuFV vor allem fortschreiben wollen, greifen zu kurz. Das gilt insbesondere auch für den Weiter-so-Antrag der Koalitionsfraktionen. Der Ansatz der Grünen, zur Bahnfinanzierung den Fernstraßenbau einzustellen und damit die Verkehrsträger Schiene und Straße gegeneinander auszuspielen, verdient ein lautes und klares Nein. ({4}) Das gilt – in der Ausschussberatung – natürlich auch für den neuen Antrag der Linken, der in die gleiche Richtung zielt. Auslandsbeteiligungen der Bahn, die zur Leistung der Bahn in Deutschland nichts beitragen, sind zu verkaufen. Der Erlös wird aber nicht ausreichen, um zum Beispiel die Digitalisierung der Bahn zu bezahlen. Deshalb hilft der FDP-Vorschlag mit dem kleinen Fonds für die Digitalisierung leider nicht weiter. ({5}) In dieser Frage wird sich die AfD-Fraktion enthalten. Die Unternehmensstruktur der Bahn im Bereich Netze muss gestrafft werden. Aber beim Bahnbetrieb wieder zur alten Staatsbahn zurückzukehren, wie die Linke es möchte, ist einfach ein Anachronismus. Die Reaktivierung alter Bahnstrecken ist an vielen Stellen eine gute Idee, aber sie muss vom Engagement vor Ort leben. Neue Fördertöpfe auf Bundesebene nach dem Wunsch der Linken lenken das Geld schnell in die falsche Richtung. Meine Damen und Herren, die Eisenbahn hat eine große Bedeutung als Verkehrsträger in Deutschland. Das war so, und es wird auch in Zukunft so sein. Sie braucht klare Strukturen und eine transparente Finanzierung. Aber schützen wir sie davor, zum Objekt und damit auch zum Opfer ideologischer Fantasien zu werden! ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke, Herr Wiehle. – Nächster Redner: Detlef Müller für die SPD-Fraktion. ({0})

Detlef Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003816, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bahn ist das Verkehrsmittel der Zukunft und die Schiene einer der wichtigsten Infrastrukturträger des 21. Jahrhunderts. Bei den Diskussionen über das Erreichen von Klima- und CO 2 -Zielen gilt für den Verkehrssektor eines klar, Herr Wiehle: Klimafreundliche und ressourcenschonende Mobilität funktioniert nur mit einer starken Bahn. Dafür müssen wir die Voraussetzungen schaffen. Deshalb ist es wichtig, dass wir mit dem vorliegenden Koalitionsantrag den Willen des Parlaments, die Schiene zu stärken, nochmals unterstreichen und der Bundesregierung einen klaren Auftrag mit auf den Weg geben. ({0}) Die Bahn hat Zukunft. Ein Nutzerzuwachs von über 40 Prozent im Personenverkehr seit 2004 macht das deutlich. Diesen Trend müssen und wollen wir fortsetzen. Einiges ist schon auf dem Weg. Herr Ferlemann sprach davon: Der Deutschland-Takt wird in den nächsten Jahren den Fernverkehr vereinfachen und diesen Fernverkehr eben auch in Takt bringen. Die Pünktlichkeitswerte der Bahn im Personenverkehr haben sich deutlich verbessert und lagen im Mai bei über 80 Prozent im Fernverkehr und bei 95 Prozent im Nahverkehr. ({1}) Dass es im täglichen Geschäft funktioniert, liegt vor allem an den Eisenbahnerinnen und Eisenbahnern im und am Zug, auf den Stellwerken, in den Leitstellen, in den Werkstätten usw., die tagtäglich in erster Reihe stehen und großartige Arbeit leisten. ({2}) Obwohl sie es zumeist sind, die unverschuldet die Wut der Fahrgäste abbekommen, wenn Baustellen den Verkehr beeinträchtigen, Züge ausfallen oder ein Mangel an Fahrzeugen besteht. An dieser Stelle einen herzlichen Dank für die geleistete Arbeit. ({3}) Die Steigerung der Attraktivität der Bahn muss mit entsprechendem politischen Willen, Investitionen in die Infrastruktur sowie einer modernen, effizienteren Organisationsstruktur einhergehen. Bei der Infrastruktur brauchen wir deutlich mehr Investitionen in die Zukunft der Schiene. Die Verdopplung des Personenverkehrs und die deutliche Steigerung des Anteils im Schienengüterverkehr sind mit der Bestandsinfrastruktur nicht erreichbar. Wir müssen deutlich in den Ausbau der Knoten sowie in neue Ausbaustrecken investieren. Der Haushaltsplanentwurf für 2020 ist schon eine gute Grundlage, aber auch deutlich ausbaufähig. Wir brauchen Investitionen in das rollende Material und Investitionen in die Ausbildung von Personal, also in die Menschen, die schlussendlich für einen reibungslosen Ablauf vor Ort sorgen. Aber auch in der Fläche muss etwas passieren. Als größte Volkswirtschaft Europas dürfen wir es uns nicht leisten, ganze Regionen und Ballungszentren von einem der wichtigsten Verkehrsträger abzukoppeln. Für Chemnitz und die Region Südwestsachsen mit über 1,6 Millionen Einwohnern kann ich nun sagen, dass nach 15 Jahren ohne jeglichen Bahnfernverkehr der Ausbau und die Elektrifizierung der Strecke Chemnitz–Leipzig im Vordringlichen Bedarf des Bundesverkehrswegeplans enthalten ist. Für die 80 Kilometer Bestandsstrecke stehen uns nun aber acht bis neun Jahre Planung und Bau bevor. Das ist ein inakzeptabler Zustand, den man niemandem erklären kann. Hier muss etwas passieren. Hier braucht es tatsächliche Beschleunigungen und Vereinfachungen im Planungs- und Umsetzungsverfahren. Bleibt zuletzt der Punkt der effizienteren und moderneren Organisationsstruktur des Bahnkonzerns. Hier brauchen wir eine Bahnreform II, mit der die Bahn wieder vom Kopf auf die Füße gestellt wird und zu ihrer Kernaufgabe, Mobilität von Menschen und Transport von Gütern, zurückgeführt wird. Die Bahnreform vor 25 Jahren war und ist ein Erfolg. Die Bahn ist leistungsfähiger, komfortabler, effizienter geworden. Der zunehmende Wettbewerb auf der Schiene hat für die Fahrgäste zu massiven Verbesserungen bei den Angeboten geführt. Dahinter will niemand zurück. Vieles hat sich auch bewährt. Was sich nicht bewährt hat, ist die zersplitterte Holdingstruktur der DB AG mit über 20 direkten Töchtern, vielen Enkelfirmen und unzähligen Beteiligungen an Firmen im In- und Ausland. Denn diese Struktur verbessert keineswegs das Angebot der Bahn für den Kunden, sondern führt mit Ineffizienz und intransparenten Zuständigkeiten immer wieder zu Problemen. Bevor ein Regionalzug überhaupt rollt, sind schon viele Rechnungen geschrieben. DB Station&Service, DB Sicherheit, DB Energie, DB Vertrieb, DB Services, DB Kommunikationstechnik, DB Dialog – alles GmbHs – stellen sich gegenseitig Rechnungen für erbrachte Leistungen wie Sauberkeit, Sicherheit, Strom, Kommunikation. Rollt der Zug, zahlt DB Regio nun an die DB Netz AG die Trassennutzungsgebühr – klar – und an DB Station&Service das Stationsgeld für jeden Halt an der Strecke.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Müller!

Detlef Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003816, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die verbrauchte Energie stellt DB Energie bei DB Regio in Rechnung. Die Reinigung wird an DB Services gezahlt. Ich komme zum Schluss. Wir brauchen eine Bahnreform II, die die Konzernorganisation auf die zwei Kernbereiche Netz und Betrieb zurückführt und eine Freizügigkeit von Technik und Personal innerhalb des Konzerns ermöglicht. Beides funktioniert nur mit einer starken Bahn. Die Verkehrswende kann nur mit einer starken Bahn gelingen. Der Antrag der Großen Koalition legt dazu den Grundstein. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kollege Müller. – Darf ich die Kollegen darauf hinweisen: Wenn Sie überziehen, ziehe ich die Zeit anderen Rednern Ihrer Fraktion ab. Herr Müller, Sie waren gerade noch in der Zeit. Das nächste Mal wird abgezogen. Nächster Kollege: Torsten Herbst, FDP-Fraktion. ({0})

Torsten Herbst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004746, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Deutschland ist führende Industrienation. Wir sind wirtschaftliches Schwergewicht in Europa. Ich frage Sie: Müssten wir dann nicht den Anspruch haben, eine der besten Eisenbahnen Europas hier in unserem Land zu haben? ({0}) Die Realität sieht leider anders aus, auch wenn Herr Ferlemann in seiner Rede so getan hat, als stünden wir an der Schwelle zum Bahntraumland. Ich glaube, wir sind davon ein ganzes Stück entfernt. Die Realität ist ein zu lange vernachlässigtes Schienennetz. Fairerweise muss man sagen: von verschiedenen Regierungskoalitionen zu lange vernachlässigt. Sinnbild sind Stellwerke aus der Kaiserzeit. Realität sind allein im ersten Quartal dieses Jahres 900 ersatzlos ausgefallene Fernverkehrszüge der Deutschen Bahn AG, Personalmangel, Instandhaltungsprobleme. All das passt doch nicht zu einer modernen, kundenfreundlichen Bahn. ({1}) Realität bei der Deutschen Bahn sind auch die Schwierigkeiten bei DB Cargo, die aufgrund der Wirtschaftsentwicklung eigentlich boomen müsste. Sie müsste eigentlich mehr Güter transportieren können als je zuvor. Stattdessen transportiert sie weniger Güter und verschleißt in 20 Jahren 30 Vorstände. Das ist Missmanagement, meine Damen und Herren. ({2}) Nun werden ja von der Politik ganz viele Forderungen an die Bahn als solche, auch an den DB­Konzern herangetragen. Eine Forderung hat gerade auch mein Vorredner, der Herr Müller, vorgetragen: dass die Bahn die Wunderwaffe im Kampf für Umwelt- und Klimaschutz wird. – Meine Damen und Herren, ja, die Bahn ist ein umweltfreundlicher Verkehrsträger. Aber ich möchte, dass Kunden begeistert von der Bahn sind, weil sie pünktlich ist, weil sie zuverlässig ist, weil sie schnell und komfortabel ist, und sie nicht deshalb benutzen, weil sie ein schlechtes Gewissen haben, dass sie, wenn sie mit etwas anderem fahren, irgendwie einen Klimafrevel begehen. Ich möchte, dass das Produkt Bahn begeistert. ({3}) Dafür brauchen wir hohe Investitionen in ein modernes Netz. Wir müssen Engpässe beseitigen, und wir müssen die Digitalisierung vorantreiben, und zwar nicht in dem Schneckentempo, wie es jetzt geplant ist. Wenn wir uns die derzeitige Situation anschauen, sind wir vielleicht bei Bahn 1.5. Wenn wir so weitermachen, werden wir in 30 Jahren bei Bahn 4.0 ankommen. Das ist mir zu langsam, meine Damen und Herren. ({4}) Insbesondere im Schienengüterverkehr merken wir, was für ein Problem es ist, wenn die Angebote nicht flexibel sind, wenn sie wenig automatisiert sind und wenn sie nicht verlässlich sind. Es kann doch nicht wie ein Roulettespiel sein, wenn ein Güterverkehrsunternehmen einen Zug losschickt, und es ist offen, ob er den Hafen erreicht, bevor das Schiff ablegt oder kurz nachdem das Schiff abgefahren ist. Das muss, meine Damen und Herren, anders geregelt werden. ({5}) Stichwort „Verlässlichkeit“: Ja, es ist finanziell einiges auf den Weg gebracht worden. Aber seien wir mal ehrlich: Sie haben auch Dinge versprochen, die im aktuellen Haushalt noch nicht abgebildet sind. Stichwort „Masterplan Schienengüterverkehr“: 500 Millionen Euro aus dem Bundeshaushalt waren versprochen. Im Haushaltsentwurf für das kommende Jahr stehen sie nicht drin. Meine Damen und Herren, ich glaube, wir müssen uns auch grundsätzlich über die Frage Gedanken machen, wie ein DB­Konzern geführt wird. Ich glaube, in dieser Komplexität ist er zu schwerfällig, hat viel zu viele Hierarchiestufen, verzettelt sich mit zahlreichen Aktivitäten im In- und Ausland. Ich glaube, wir brauchen einen modernen Bahndienstleister, der schnell, schlank und kundenorientiert aufgestellt ist. ({6}) Man kann da viele Pläne präsentieren. Im Moment ist es die Strategie „Starke Schiene“. Davor war es die „Bessere Schiene“. Herr Grube hat mal „Bahn 2020“ erfunden. Das alles trifft dann auf die Realität. Die fand heute im ICE 652 von Berlin nach Hannover statt: ein völlig überfüllter Zug, weil sieben Wagen fehlten. Beim Zwangsstopp in Berlin-Spandau war die Ansage: Wir können erst dann weiterfahren, wenn sich genügend Freiwillige finden, die diesen Zug verlassen und nicht mehr weiterfahren. – Meine Damen und Herren, so baut man kein Vertrauen, keine Kundenzufriedenheit, keine Begeisterung für das Produkt Bahn auf. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Denken Sie an Ihre Redezeit, bitte.

Torsten Herbst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004746, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Eine bessere Bahn in Deutschland ist möglich und aus meiner Sicht auch dringend nötig. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Kollege Herbst. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Sabine Leidig. ({0})

Sabine Leidig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004089, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Ich habe vier Minuten für sieben ernstzunehmende Vorlagen, die eine bessere Bahn anstreben. Drei davon hat meine Fraktion, die Linksfraktion, eingebracht. Wir wollen erstens, dass die Bahn demokratisch umgebaut wird. Der Privatisierungskurs hat viel Schaden angerichtet. Damit muss endgültig Schluss sein. ({0}) Wir wollen zweitens, dass im ganzen Land Bahnstrecken wieder aktiviert werden können für eine Bürgerbahn. ({1}) Und wir wollen Geld umverteilen. Dazu gleich mehr. Von den Grünen liegen zwei Anträge vor, die ebenfalls die Bahn als Rückgrat der Verkehrswende ausbauen wollen und die nötigen Mittel dafür einfordern. Damit stimmen wir völlig überein. Allerdings haben wir auch Streitpunkte. Dazu rede ich ein andermal. Heute geht es mir um den Antrag der Koalitionsfraktionen CDU/CSU und SPD, der einen ganz neuen Ton anschlägt. Darin heißt es zum Beispiel, dass man Elektromobilität auf der Schiene braucht, um die Klimaziele zu erreichen. Yes, kann ich da nur sagen. Weiter steht dort: Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, guter Service und hohe Qualität müssen wieder das Markenzeichen der Eisenbahnen in Deutschland werden. Sprich: Sie sind es nicht. Das ist bitter, und das ist hausgemacht. Wir haben vor fünf Jahren hier eine Bilanz von 20 Jahren Bahnreform vorgelegt und die Misere dokumentiert: Tausende Kilometer stillgelegte Bahnstrecken und Gleis­anschlüsse, vergammelte Bahnhöfe und abgehängte Gemeinden, kaputtgesparte Infrastruktur und an der Spitze ein Management, das den Konzern als Global Player auf den Weltmarkt pusht. Ich habe hier am 18. Dezember 2014 für die Bahnreform 2.0 geworben, die der Kollege Müller gerade ebenfalls hier vorgeschlagen hat. Damals hat Ihr Genosse Martin Burkert noch die Meinung geäußert, „dass wir in Deutschland das beste Eisenbahnsystem der Welt haben“. Sie, Herr Kollege Staatssekretär Ferlemann, haben in der damaligen Debatte gesagt – ich zitiere –: 20 Jahre Bahnreform sind eine Erfolgsgeschichte. ... und die DB AG ist ein internationales Unternehmen geworden, einer der größten Logistikkonzerne weltweit. Das ist gut so ... Und weiter: Dass wir hier im Parlament ein paar Linke haben, die das anders sehen, muss man ertragen. ({2}) Inzwischen sehen auch Sie das offenbar anders. Das ist gut so. ({3}) Wir als Linke haben immer wieder verlangt, dass die Ausrichtung der Deutschen Bahn AG am betriebswirtschaftlichen Gewinn aufgehoben wird, dass der Eigentümer Bund das Unternehmen am Allgemeinwohl ausrichtet und nicht am Börsenkurs. Jetzt gehen endlich auch Sie in diese Richtung, nach vielen verlorenen Jahren. Sie haben richtige und gute Forderungen, und Sie haben sogar konkrete Forderungen von uns aufgenommen, zum Beispiel, ein „1 000-Bahnhöfe-Programm“ aufzulegen zur Sanierung der Bahnhöfe. Allerdings habe ich Zweifel, ob Sie das ernst meinen. Sie geben Ihrem Antrag den Titel „Der Schiene höchste Priorität einräumen“; aber das scheint mir ein bisschen Augenwischerei. Warum? Erstens, weil Sie die Finanzierung nicht sicherstellen, und zweitens, weil Sie den Straßenverkehr nicht antasten. Dabei wissen wir alle, dass es massenhaft umweltschädliche Subventionen für Straßen- und Luftverkehr gibt, in der Summe 28 Milliarden Euro pro Jahr. Sorgen Sie mit Ihrer Mehrheit in diesem Parlament endlich dafür, dass mit diesem klimaschädlichen Unsinn Schluss ist. ({4}) Wer die Bahn wirklich an die erste Stelle setzen will, muss gewaltige Investitionen lockermachen; das hat Herr Ferlemann gerade schon gesagt. Allein um die bestehende Infrastruktur wieder instand zu setzen, braucht es 50 Milliarden Euro, und damit ist noch kein einziges Ausbauprojekt finanziert. Wir haben einen konkreten Vorschlag: Der sogenannte Finanzierungskreislauf Straße muss aufgehoben werden. Dafür liegt von meiner Fraktion ein Gesetzentwurf vor. Die Milliardeneinnahmen aus der Lkw-Maut müssen größtenteils für den Bahnausbau eingesetzt werden. Solange diese Einnahmen nur für den Straßenbau ausgegeben werden dürfen, ist die Verkehrswende blockiert.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Leidig, Ihre Zeit ist auch blockiert.

Sabine Leidig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004089, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Mein letzter Satz. – In den vergangenen 25 Jahren sind in diesem Land 290 000 Kilometer neue Straßen gebaut werden; das muss reichen. Jetzt ist mal die Schiene dran. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Sabine Leidig. – Nächster Redner: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Matthias Gastel. ({0})

Matthias Gastel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004278, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Bahn ist eine Problemlöserin. Wenn sie gut organisiert ist und auf leistungsfähiger Infrastruktur fahren darf, reduziert sie die Staus auf den Straßen. Sie reduziert den Ressourcenverbrauch des Verkehrssektors, weil sie hocheffizient ist. Sie leistet einen wesentlichen Beitrag zum Klimaschutz, und sie ist flächenschonend unterwegs. Die vorliegenden Fraktionsanträge zeigen – mit Ausnahme von dem der AfD –, dass wir hier sehr stark gemeinsam unterwegs sind und auch gemeinsame Ziele verfolgen. Allerdings ist der Ausgangspunkt, an dem die Bahn sich befindet, höchst widersprüchlich zu sehen. Zum einen wurde seit Jahrzehnten Infrastruktur zurückgebaut und unzureichend unterhalten. Auf der anderen Seite wollen immer mehr Menschen die Bahn nutzen, was deutlich macht: Die Gesellschaft möchte eine starke und leistungsfähige Bahn haben. ({0}) Die vorhandene Infrastruktur und der Konzern Deutsche Bahn AG in seiner derzeitigen Verfassung können aber diesen Wunsch der Bürgerschaft nicht erfüllen, weil sie nicht leistungsfähig genug sind und weil sie nicht zielgerichtet genug aufgestellt sind. Genau hier setzt der Antrag von uns Grünen an. Erstens wollen wir eine Angebotsoffensive für die Fahrgäste. Das bedeutet, wieder deutlich mehr Großstädte an den Fernverkehr der Bahn anzubinden. Wir wollen den Deutschland-Takt realisieren, um gute Taktangebote für die Fahrgäste bieten zu können. Genau an der Stelle lassen Union und SPD eine wesentliche Frage unbeantwortet, nämlich die Frage: Wie soll garantiert werden, dass die Züge, die im Zielfahrplan unterstellt werden, auch tatsächlich fahren? Für uns hat die Eigenwirtschaftlichkeit Vorrang, aber wir wollen auch, dass der Zielfahrplan vollständig gefahren wird, damit es Sinn ergibt und die Leute diese Züge nutzen können. Deswegen können wir uns hier auch ein wettbewerbliches Ausschreibungsmodell vorstellen, sodass dieser Fahrplan auch vollumfänglich gefahren wird. ({1}) Zweitens wollen wir einen fairen Wettbewerb zwischen den Verkehrsträgern. Das bedeutet beispielsweise: Die Ausweitung der Lkw-Maut ist notwendig. Es ist notwendig, dass wir schrittweise die Subventionen in Sachen Diesel abbauen, und es ist notwendig, dass wir Flugbenzin so besteuern wie andere Kraftstoffarten ebenfalls. ({2}) Drittens wollen wir eine Investitionsoffensive. Die Bedarfsplanmittel für den Aus- und Neubau der Schienenwege müssen deutlich erhöht werden. Wir brauchen Programme für die Streckenelektrifizierung und für die Reaktivierung stillgelegter Bahnstrecken, ({3}) und wir müssen Bahnhöfe sanieren; denn sie sind doch die Visitenkarte für den öffentlichen Verkehr. ({4}) Viertens brauchen wir auch eine Strukturreform bei der Deutschen Bahn. Sie verzettelt sich in viel zu vielen Geschäften, die dem Kerngeschäft nicht zugutekommen. Arriva und Schenker können verkauft werden. Die Erlöse werden gebraucht für neues Wagenmaterial. Wir wollen in einem ersten Schritt die Infrastruktursparten der Deutschen Bahn zusammenlegen und in einem zweiten Schritt separat und ohne Gewinnorientierung betreiben. Das sind ganz wichtige Dinge, damit die Deutsche Bahn wieder leistungsfähig ist. ({5}) Viele richtige Dinge, viele wichtige und richtige Erkenntnisse finden sich auch im Antrag der Koalitionsfraktionen. Einige gute Ideen finden sich darin auch, aber leider setzen Sie davon so gut wie nichts um. Das zeigt auch der Blick in den Haushaltsplanentwurf. Wenn ich mir mal den Bedarfsplan angucke: für 2020 minus 121 Millionen Euro für Aus- und Neubau der Schienenwege. Wenn ich mir den kombinierten Verkehr angucke, also das Instrument, um Güter auf die Schiene zu bringen: minus 30 Millionen Euro. Das entspricht einem Minus von 28 Prozent . ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Gastel, ganz schnell.

Matthias Gastel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004278, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Lärmschutz an der Schiene: minus 37 Millionen Euro. Das entspricht minus 21 Prozent. Es steigen die Investitionen in den Straßenbau: plus 270 Millionen Euro.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Gastel.

Matthias Gastel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004278, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Koalition, beenden Sie diese Blabla-Koalition. Steigen Sie ein in eine Koalition des Handelns. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Matthias Gastel. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Michael Donth. ({0})

Michael Donth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004262, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Beginn möchte ich wie unser Bahnbeauftragter Enak Ferlemann festhalten, dass uns allen hier im Haus die Weiterentwicklung des Schienenverkehrs in der Bundesrepublik und vor allen Dingen auch die Zukunft unseres DB-Konzerns am Herzen liegen. Das kommt schon allein durch die Anzahl von acht Anträgen zum Ausdruck. Damit endet aber die Gemeinsamkeit. Beispielsweise hat mich verwundert, liebe Kollegen der FDP, dass gerade Ihr Antrag eine staatliche Einmischung in das unternehmerische Denken und Handeln einer Aktiengesellschaft fordert, ({0}) sei es zum Thema „Verkauf von Tochtergesellschaften“ oder bei der Frage, wie diese AG ihre Erlöse zu investieren hätte. Zum Antrag der Linken. Schauen wir zurück zum Beginn der 90er-Jahre. Frau Leidig hat ja heute auch schon in die Vergangenheit zurückgeblickt. Ich gehe noch ein Stück weiter. Die Deutsche Reichsbahn brachte ein DDR-Erbe von Tausenden Kilometern an marodem Schienennetz und Rollmaterial ein. Die Bundesbahn stand vor einem riesigen Schuldenberg. Beides zusammen wäre für den damaligen Bundeshaushalt, wenn man es fortgeführt hätte, eine unvertretbare Belastung geworden. Deshalb war die Entscheidung für die Privatisierung der Bundesbahn folgerichtig – bis heute. Ihr Antrag mit dem Titel „Drohenden Kollaps verhindern – Deutsche Bahn AG demokratisch umbauen“ macht vor diesem Hintergrund für mich wieder einmal deutlich, dass Die Linke aus der Geschichte nichts gelernt hat. ({1}) Sie wollen zurück zum Staatskonzern, wie im Übrigen auch in zahllosen Anträgen zuvor. Aber ich sage Ihnen auch heute gern nochmals: Mit dem gescheiterten Rezept der Vergangenheit, meine sehr geehrten Damen und Herren, fahren Sie die Deutsche Bahn nicht in die Zukunft, sondern lediglich aufs Abstellgleis. ({2}) Anstatt uns in die operativen Angelegenheiten der Deutschen Bahn AG einzumischen, sollten wir uns auf das konzentrieren, was unsere Aufgabe ist, nämlich die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen, um einen zukunftsfähigen Bahnverkehr auf einem modernen und leistungsfähigen Schienennetz zu ermöglichen, ein Schienennetz, das allen Marktteilnehmern eine dringend notwendige Erweiterung der Kapazität und allen Kunden einen reibungslosen und pünktlichen Transport von Personen und Gütern ermöglicht. Dazu gehört beispielsweise die Förderung der Elektrifizierung und der Digitalisierung, der Elektromobilität auf der Schiene oder der Forschung an Automatisierung im Güterverkehr. Dazu gehört, auf europäischer Ebene einheitliche Triebfahrzeugführerqualifikationen voranzutreiben, um in einem vereinten Europa Züge auch einmal leichter übers Ausland umleiten zu können. Und dazu gehört neben vielen anderen Dingen, die Sie in unserem sehr guten Koalitionsantrag finden, auch, Infrastrukturunternehmen und Eisenbahnverkehrsunternehmen im Nah- und Fernverkehr sowie die Länder und alle beteiligten Verbände an einen Tisch zu bringen, um gemeinsam die Rahmenbedingungen für den Deutschland-Takt zu schaffen. Das ist übrigens mit dem Zukunftsbündnis Schiene bereits aufgegleist. Der Schiene höchste Priorität einräumen, darin, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, sind wir uns wohl alle einig, aber bitte ohne die Verkehrsträger gegeneinander auszuspielen. ({3}) – Gerade kam es, Herr Gastel. Das, was Sie gerade vorgetragen haben, ist doch der Beweis. Meine Damen und Herren, lassen Sie uns den Schienenverkehr in der Bundesrepublik erfolgreich voranbringen. Stimmen Sie unserem sehr guten Antrag zu. Vielen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Michael Donth. – Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Elvan Korkmaz. ({0})

Elvan Korkmaz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004790, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unsere Deutsche Bahn: Jeder liebt sie, jeder hasst sie, jeder hat aber vor allem eine Meinung zu ihr. Das wird auch heute wieder deutlich, da jede Fraktion mindestens einen Antrag vorgelegt hat. Ja, so mancher hat sogar seine besonderen Erfahrungen mit ihr gemacht. So unterschiedlich diese auch gewesen sein mögen: Im Ziel sind wir uns alle einig, auch hier im Deutschen Bundestag – na ja, fast, würde ich sagen. Wir wollen die Schiene stärken. Dieses klare Signal braucht die Mobilitäts- und Verkehrspolitik in unserem Land, und wir schaffen es auch nur so, Mobilität für jedermann zu gewährleisten und gleichzeitig etwas für Umwelt und Klima zu tun. ({0}) Im Ziel geeint: Erst mal ein gutes Zeichen. Aber zum Ziel muss man ja irgendwie hinkommen. Und genau da trennen sich die Wege. Da wird dann wirklich deutlich, wer hier stringent aufs Ziel zusteuert, wer sich unterwegs verläuft und wer nur das Phrasenschwein füttert. Fangen wir mal links an. Strecken reaktivieren: Klingt gut. Ich finde es sogar richtig gut. Bei mir zu Hause im Kreis machen wir das auch schon. Ab 2023 sind die Städte Harsewinkel, Verl, Gütersloh wieder im Stundentakt auf der Schiene miteinander verbunden. ({1}) Da ist man vor Ort aktiv geworden. Und siehe da: Die Prognose lautet: 6 Millionen eingesparte Pkw-Kilometer. Wer soll da was gegen haben? ({2}) Aber das Beispiel zeigt auch: Reaktivieren können wir schon. Wir sollten es dort machen, wo es sich lohnt. Da wissen die Kommunen meist besser Bescheid als der Bundesgesetzgeber. ({3}) Kommen wir zu meiner Rechten; nicht ganz rechts; denn der AfD-Antrag geht ein bisschen am Thema vorbei. Nein, ich schaue die Kollegen von den Liberalen an. Sie gehen in der Regel davon aus, dass der Bundesgesetzgeber nicht alles weiß und auch nicht alles können muss. So weit, so gut. Regelmäßig sind Sie sogar der Ansicht, dass die Unternehmen besser wissen, was gut für das Land ist. Mit Ihrem Antrag heute wollen Sie aber tief in das Geschäft eines Unternehmens eingreifen. Mein Kollege Donth hat es gerade gesagt. Sie wollen Unternehmensbeteiligungen der DB veräußern, um damit Geld einzunehmen. Sie wissen auch schon ganz genau, wo das Geld investiert werden soll. ({4}) Da passt doch irgendetwas nicht zusammen. Das ist doch sonst nicht Ihre Art. Aber sich selbst treu zu bleiben, schränkt ja auch die Freiheit ein. Entfesselung steht Ihnen deutlich besser. ({5}) Bevor Sie aber auf die Idee kommen, eine vollkommene Veräußerung der Deutschen Bahn wäre die passende Antwort, kann ich Ihnen nur sagen: Die Infrastruktur ist Daseinsvorsorge und gehört in die öffentliche Hand. Genau in diesem Sinne sollten wir die volkswirtschaftliche Orientierung im Stammbuch der Bahn festschreiben. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage ober Bemerkung?

Elvan Korkmaz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004790, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein. ({0}) Sehen Sie dazu einfach einmal in unseren Antrag. Darin steht nämlich, was wir tatsächlich brauchen, nämlich eine höhere Netzverfügbarkeit, und zwar schnell, damit die angestrebte Verlagerung von Personen- und Güterverkehr zu bewältigen ist. Diese Idee steht ganz im Gegensatz zur Trennung von Netz und Betrieb, wie es unter anderem die Kollegen von den Grünen fordern. Im Gegenteil: Wir müssen das Integrationsprinzip im Konzern stärken, damit eine Hand weiß, was die andere tut. Das erzeugt Synergieeffekte. ({1}) Ich möchte darauf hinweisen: Wir legen einen Antrag vor, der noch einmal dokumentiert, was schon im Koalitionsvertrag deutlich wurde. Für diese Koalition steht die Bahn ganz oben auf der Agenda, ({2}) und zwar das gesamte System Bahn. Dazu gehören der Güterverkehr, der Nahverkehr, der Fernverkehr, die Qualifizierung des Personals, aber auch die Barrierefreiheit der Bahnhöfe. Genau das alles nehmen wir in den Blick. Man sieht bei der Bahnpolitik auch ganz deutlich, auch wenn so manche Journalisten das nicht glauben wollen: Die Positionen unterscheiden sich, und zwar nicht zu knapp. Wir wollen hier im Hause ganz häufig zum selben Ziel kommen, aber der Weg ist das Entscheidende. Auf unserem Weg verlieren wir keinen. Wir nehmen alle mit; denn öffentliche Mobilität heißt auch Mobilität für jedermann. Vielen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Elvan Korkmaz. – Letzter Redner in dieser Debatte: Markus Uhl für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Markus Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004645, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mehr als 2,7 Milliarden Menschen pro Jahr nutzen den Schienenpersonennahverkehr in Deutschland. Das ist eine 40-prozentige Steigerung seit 2004. So viele Menschen wie noch nie, nämlich 149 Millionen, nutzten im vergangenen Jahr den Schienenfernverkehr, der übrigens mit 100 Prozent Ökostrom unterwegs ist. Der Anteil der Schiene am Güterverkehr liegt mittlerweile bei 18,6 Prozent. Die Bahn ist somit ohne Frage einer der zentralen Pfeiler unserer Mobilität und nimmt damit zugleich die Schlüsselposition bei der Mobilitätswende ein. Unser Ziel ist es daher, bis 2030 doppelt so viele Bahnfahrer zu gewinnen und deutlich mehr Güterverkehr auf die Schiene zu verlagern. Hauptherausforderung ist dabei der Ausbau der Kapazitäten und der Erhalt der bestehenden Infrastruktur. Klar ist aber auch, dass die Pünktlichkeit, die Zuverlässigkeit, der gute Service bei gleichzeitig hoher Qualität wieder besser werden müssen. Zum Schluss dieser Debatte darf ich, wie meine Vorredner, mit Freude feststellen, dass wir uns in diesem Hohen Hause alle einig sind, dass die Bahn Priorität genießt und dass wir die Weiterentwicklung des Schienenverkehrs gemeinsam betreiben wollen. Aber auch die Unterschiede sind deutlich geworden und wurden schon von den Rednern angesprochen. In den vergangenen Jahren haben wir als Regierungskoalition schon einiges getan, um die Schiene zu stärken. So haben wir im vergangenen Jahr die Trassenpreise für den Schienengüterverkehr halbiert und damit eine deutliche Verbesserung erreicht, um mehr Güterverkehr auf die Schiene zu verlagern. ({0}) Wir haben im Jahr 2018  10,7 Milliarden Euro in den Schienenverkehr investiert, so viel wie noch nie. Die Regionalisierungsmittel für den Schienenpersonennahverkehr der Länder haben wir dynamisiert. Sie steigen jährlich um 1,8 Prozent und liegen derzeit bei 8,65 Milliarden Euro. Meine Damen und Herren, für die Zukunft haben wir auch viel vor. Das ist in unserem Antrag, wie ich finde, sehr gut und ausführlich abgefasst. Ich möchte auf einige wenige Punkte eingehen. Nach dem Regierungsentwurf des Bundeshaushalts und dem vorgelegten Finanzplan für die nächsten Jahre, lieber Herr Gastel, werden die Verkehrsinvestitionen bis 2023 auf über 17,2 Milliarden Euro anwachsen. Die zusätzlichen Gelder kommen dabei vor allem dem Schienenbereich zugute. Wir unterstreichen damit, dass wir die Schiene als klimafreundlichen Verkehrsträger weiter stärken wollen. ({1}) Und wir unterstützen im Rahmen des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes große Infrastrukturprojekte der Länder: im Jahr 2020 mit 665 Millionen Euro und ab 2021 sogar mit 1 Milliarde Euro. ({2}) Bis zum Jahr 2029 werden wir über 51,4 Milliarden Euro für die Leistungs- und Finanzierungsvereinbarungen zur Erhaltung der Schienenwege zur Verfügung stellen, ebenfalls Rekordsumme. Zusätzlich investieren wir über eine halbe Milliarde Euro für die Digitalisierung der Schiene, in digitale Stellwerke oder in das europäische Zugsicherungssystem ETCS. Damit sehen Sie: Diese Koalition handelt nachhaltig und zukunftsorientiert. ({3}) Meine Damen und Herren, die Schiene spielt gerade im ländlichen Raum eine wichtige Rolle zur Sicherung der Mobilität und zur Bewältigung der Mobilitätswende. Für gleichwertige Lebensverhältnisse ist es wichtig, dass wir auch im ländlichen Raum einen schienengebundenen Personennahverkehr haben. Ich kenne diese Herausforderung selbst aus meinem Wahlkreis im Saarland. Wichtig ist aber auch die Erreichbarkeit des Fernverkehrs zur Anbindung unserer Regionen an die Me­tropolen. Daher ist es mir ein besonderes Anliegen, die ICE-TGV-Verbindung Paris–Saarbrücken–Frankfurt zu bewerben. Diese ist für den südwestdeutschen Raum von immenser Wichtigkeit und, wie es schon im Aachener Vertrag steht, auch zukünftig weiter zu stärken. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

So, Herr Uhl, jetzt aber einen letzten Satz.

Markus Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004645, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie sehen: Die Schiene hat für uns höchste Priorität. Von daher darf ich Sie um Zustimmung für den Antrag der Koalition bitten. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Markus Uhl. – Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp­fehlung des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur auf Drucksache 19/11076. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 19/9918 mit dem Titel „Der Schiene höchste Priorität einräumen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zugestimmt haben die Fraktionen von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen, dagegengestimmt haben die Fraktionen der FDP und AfD, enthalten hat sich die Fraktion der Linken. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrages der Fraktion der AfD auf Drucksache 19/7941 mit dem Titel „Die Eisenbahn nicht gegen andere Verkehrsträger ausspielen – Keine Erhöhung der Energiesteuer und CO 2 -Abgabe für Diesel um 30 Cent je Liter – Kein Stopp des Autobahn- und Bundesstraßenbaus“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zugestimmt haben die Fraktionen CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke. Gegenstimmen kamen von der Fraktion der AfD, enthalten hat sich die Fraktion der FDP. Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/6284 mit dem Titel „Digitalisierung der Schiene durch Verkauf von Beteiligungen der Deutschen Bahn AG vorantreiben“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zugestimmt haben die Fraktionen von CDU/CSU und SPD, dagegengestimmt hat die Fraktion der FDP, enthalten haben sich Die Linke, Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion der AfD. Unter Buchstabe d empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/7024 mit dem Titel „Drohenden Kollaps verhindern – Deutsche Bahn AG demokratisch umbauen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zugestimmt haben die Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der AfD. Dagegengestimmt hat die Fraktion Die Linke. Enthalten hat sich die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe e seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/7452 mit dem Titel „Die Eisenbahn zum Rückgrat der Verkehrswende machen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zugestimmt haben die Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und AfD. Dagegengestimmt hat die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Enthalten hat sich die Fraktion Die Linke. Tagesordnungspunkt 15 b sowie Zusatzpunkt 14. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/10993 und 19/10638 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Da Sie damit einverstanden sind, sind die Überweisungen so beschlossen. Tagesordnungspunkt 15 c. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur zum Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Die Bahn wieder ins ganze Land bringen – Bahnstrecken reaktivieren“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp­fehlung auf Drucksache 19/10586, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/9076 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Keine. Die Beschlussemp­fehlung ist angenommen. Zugestimmt haben die Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und AfD. Dagegengestimmt haben die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen.

Nicola Beer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004668, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Zunächst geht es noch einmal um die Urheberrechtsrichtlinie, die am 15. April 2019 im Europäischen Rat verabschiedet wurde. Ziel sollte sein, das Urheberrecht an das digitale Zeitalter anzupassen, ({0}) eigentlich sollte das das Ziel sein. Höchst umstritten waren die Uploadfilter und die Haftungsverteilung für Plattformen. Wir haben es gesehen: Fast 5 Millionen Unterschriften von Internetnutzern, meist junge Menschen, wurden gegen die Neuregelung gesammelt und der Politik übergeben. Genutzt hat das leider nichts; denn es ging offenbar um noch ganz andere Dinge. Mit der Zustimmung scheint man eine Einigung mit den Franzosen bei Nord Stream 2 ermöglicht zu haben; die „FAZ“ hat am 26. März 2019 darüber berichtet. Meine Damen und Herren, ich kann nur sagen: Das war ein schlechter Deal. ({1}) Die Bundesregierung steht in vorderster Reihe der Verantwortlichen. Ohne ihre Zustimmung wäre die Richtlinie nicht zustande gekommen, auf jeden Fall nicht so zustande gekommen. Die deutsche Justizministerin hat zwar in Deutschland gegen die Uploadfilter gewettert, doch im Europäischen Rat für Justiz und Inneres hat sie die Zustimmung organisiert und damit auch den Koalitionsvertrag gebrochen. ({2}) Mit dieser neuen Urheberrechtsrichtlinie wurden Ausnahmen für Haftungsregeln definiert – das war dann immer die Rechtfertigung –, vermeintlich innovationsfreudige Ausnahmen. Doch diese Privilegierungen gelten nur für die Unternehmen automatisch, die jünger als drei Jahre sind und zudem 10 Millionen Euro Jahresumsatz und 5 Millionen Nutzer nicht überschreiten. Damit, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, ist das ein massiver Innovationsverhinderer; denn in Zukunft wird jedes Unternehmen, das älter als drei Jahre ist und auch nur im Entferntesten mit User-generated Content arbeitet, dann zu diesem Zeitpunkt, also drei Jahre nach Gründung, schlichtweg seine Geschäftsgrundlage verlieren. ({3}) Deswegen sage ich Ihnen: Es ist wichtig, dass der Bundestag bei seinen Beratungen dringend sicherstellt, dass wir sowohl in Deutschland als auch in Europa ein günstiges Umfeld für innovative digitale Unternehmen schaffen. Die Bundesregierung hat sich dazu ein Hintertürchen offengehalten und in einer Protokollerklärung aufgezählt, welche Dienste nicht betroffen sein sollen, etwa Wikipedia, Hochschulrepositorien, Blogs und Foren, Softwareplattformen wie GitHub, Special-Interest-Angebote ohne Bezüge zur Kreativwirtschaft oder auch Messenger-Dienste wie WhatsApp, Verkaufsportale oder Cloud-Dienste. Doch ich kann Ihnen nur sagen: Auch hier gilt: Hätte die Bundesregierung die Richtlinie besser vorbereitet, müsste sie nicht mit Protokollerklärungen, die unweigerlich zu einer Fragmentierung des Marktes führen, die Schaffung eines digitalen Binnenmarktes konterkarieren. Es muss jetzt darum gehen, das Beste aus dieser durch und durch verkorksten Reform zu machen. ({4}) Sie muss möglichst gründer- und start-up-freundlich sein, Frau Kollegin; ({5}) denn wir brauchen in Deutschland Gründerinnen und Gründer. Wir brauchen eine Gründerkultur. Das hat nämlich etwas mit Wohlstand in der Zukunft zu tun. In diesem Zusammenhang kann man nur sagen, dass Gründer, gerade erfolgreiche Gründer, gerne länger als drei Jahre arbeiten möchten. ({6}) Diese Umsetzung, liebe Kolleginnen und Kollegen, kann aber nur ein erster Schritt der notwendigen Rettungsaktion sein. Wir Freien Demokraten wollen Urheberrechte im Netz schützen – völlig klar –, aber bitte nicht auf Kosten der Meinungsfreiheit und nicht zulasten von Kreativen und Usern. Deswegen müssen wir auch in Brüssel noch mal an die Uploadfilter ran, ({7}) zumal es viel bessere Wege gibt, um die Vergütung der Leistung von Urhebern wirklich sicherzustellen: blockchain-basierte Smart Contracts, Micropayment-Systeme und – das hat die CDU vor ihrer Zustimmung zu dieser Urheberrechtsreform selbst in die Debatte eingebracht – Pauschalvergütungsmodelle der Plattformen, also ein System, das bei unseren Radiosendern hervorragend funktioniert und auch hier funktionieren kann. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Beer, auch wenn das Ihre letzte Rede hier ist, bitte.

Nicola Beer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004668, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme schon zum Ende, Frau Präsidentin. Lassen Sie mich zum Schluss noch eine persönliche Bemerkung machen: Es war mir eine große Freude, in diesem Hohen Haus mit Ihnen für die Belange unserer Bürgerinnen und Bürger zu arbeiten. Sollte ich im Eifer des Gefechts einmal die eine oder andere Kollegin oder den einen oder anderen Kollegen zu harsch angegangen sein, so war das sicherlich nicht persönlich gemeint. Es ging mir stets um die Sache, und darum wird es mir auch weiterhin stets gehen: für mehr Freiheit, für mehr Chancen für Menschen und damit, kurz gesprochen, um die Menschen in unserem Land. Ich darf mich ganz herzlich bei denen bedanken, die mir dabei geholfen haben, die mich dabei unterstützt haben, in meinem Team, in meiner Fraktion und gelegentlich auch mal in anderen Fraktionen. Ich habe die Zusammenarbeit jedenfalls geschätzt.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

So.

Nicola Beer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004668, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich hoffe, Sie werden sich in die europäischen Diskussionen frühzeitiger einmischen. Das bietet nämlich die Chance zu einem Wiedersehen. Ganz, ganz herzlichen Dank, auch an die Präsidentin für ihren Langmut. Es war mir eine große Ehre, mit Ihnen zusammenzuarbeiten. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Ich wünsche Ihnen alles Gute, Frau Beer. Ich habe Sie jetzt nicht unterbrochen. Aber in Straßburg und Brüssel werden Sie sich an andere Redezeiten gewöhnen müssen. ({0}) Ich weiß, wovon ich spreche. Da sind es dann eine oder zwei Minuten. Wir wünschen Ihnen alles Gute, persönlich viel Erfolg und eine gute Zeit im Europaparlament. ({1}) Nächster Redner: Ansgar Heveling für die CDU/CSU-Fraktion. ({2})

Ansgar Heveling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004056, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorab, vor dem Einstieg in die Sache, Ihnen, Frau Kollegin Beer, alles Gute im Europaparlament! Gerade das Thema Urheberrecht zeigt doch, wie eng verzahnt die nationalen Politiken mit der europäischen Politik sind und wie wichtig es ist, dass man in beiden Parlamenten die Dinge im Blick hat. Dafür Ihnen alles Gute! Das Thema Urheberrecht steht seit geraumer Zeit im Mittelpunkt. Immer drauf auf die Urheberrechtsreform! Das scheint in Mode zu sein. Die Früchte hängen ja offensichtlich auch tief. Und doch überrascht es mich, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, dass Sie mit diesem undifferenzierten Antrag in diesen Chor mit einstimmen. Es überrascht mich, dass Sie vor der wirtschaftlichen Verwertung von Eigentum schützen wollen; das war früher jedenfalls nicht Ihre Art. Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bleibt der Ausgangspunkt der Debatte das ausschließliche Recht der Urheberinnen und Urheber, ihre Werke zu verwerten. Wir wollen die Urheberrechte auch in der digitalen Welt so verankern, dass sie durchsetzbar und damit eben wirtschaftlich verwertbar sind. Das bedeutet: Nicht das Urheberrecht ist begründungsbedürftig, sondern ein Eingriff in dieses Recht ist begründungsbedürftig. ({0}) Wir wollen Geschäftsmodelle und Gründungsideen fördern, die von vornherein mit einpreisen, dass auch die Urheberinnen und Urheber fair vergütet werden; hierhin wollen wir die Innovationen lenken. Deshalb ist es auch so wichtig, dass die Richtlinie keinen Anbieter davon entbindet, sich erst einmal um Lizenzen zu bemühen. Kleinen Unternehmen, die ihren Betrieb gerade erst aufnehmen, ihr Produkt noch entwickeln und trotz Bemühungen keine Lizenzen erwerben konnten, gibt die Urheberrechtsrichtlinie zugleich eine Starthilfe. Unter anderem gerade die deutsche Regierung hat sich dafür starkgemacht, dass nicht sofort der branchenübliche Standard eingehalten werden muss, um urheberrechtsverletzende Nutzungen zu unterbinden. Über die konkreten Schwellen hat man bis zuletzt verhandelt. Über den gefundenen Kompromiss kommen wir bei einer voll harmonisierten Richtlinie allerdings kaum hinaus. Auch deshalb störe ich mich so an der Überschrift Ihres Antrags. Sie wissen, wie eng die Spielräume bei der Ausnahme für Start-ups sind; denn konkret fordern Sie die Bundesregierung, ganz zahm, nur auf, zu prüfen, ob nicht noch weitere Ausnahmen möglich seien. In der Überschrift, für den Effekt, tun Sie aber so, als gebe es große Spielräume. Ebenso zeichnen Sie das Schreckgespenst einer grenzenlosen Haftung, sobald man aus der Privilegierung fällt – um dann zu fordern, man müsse den Mittelstand und Start-ups hiervor schützen. Was wird denn passieren, wenn ein Dienst nicht mehr unter das Privileg fällt? Dann muss das Unternehmen im Rahmen der Verhältnismäßigkeit das ihm Zumutbare tun, um urheberrechtsverletzende Nutzungen zu unterbinden. Ein ganzer Absatz des Artikels 17 befasst sich damit, welche Faktoren das individuell Zumutbare beeinflussen, beispielsweise der Umfang des Dienstes, die Kosten und die Wirksamkeit möglicher Maßnahmen usw. Einem vier Jahre jungen Start-up mit fünf Angestellten und vielleicht 1 Million Umsatz ist etwas anderes zumutbar als einem Unternehmen mit Hunderten Mitarbeitern und Milliardenumsätzen. Das berücksichtigt die Richtlinie; die Richtlinie berücksichtigt die Diversität der Technologiebranche. ({1}) Meine Damen und Herren, bei allen Überlegungen muss der Kreative, muss der Werkschöpfer im Mittelpunkt stehen. Niemand sonst gehört in den Mittelpunkt, kein Dritter; weder der Verwerter, der mit der Vermarktung des Werkes Geld verdient, noch der User, der mit der Gratisnutzung Geld sparen will. Es geht nicht um sie, es geht beim Urheberrecht in erster Linie um den Kreativen. Ihn dürfen wir nicht abspalten von seinem Werk, sein Werk dürfen wir nicht anonymisieren und auch nicht kollektivieren. All dies wäre ein fataler Irrweg. Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Worte, denen ich vollumfänglich zustimme, sind von Sabine ­Leutheusser-Schnarrenberger, der ehemaligen Bundesjustizministerin; sie hat mit diesen Worten 2010 in einer Rede zum Urheberrecht auf die besondere Bedeutung der wirtschaftlichen Verwertung des Urheberrechts hingewiesen. ({2}) Das war damals richtig. Damals war die FDP wohl auch noch eine Eigentumspartei. Dem Antrag der jetzigen FDP geht dieses Bewusstsein völlig ab; deswegen lehnen wir ihn ab. Vielen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächste Rednerin für die AfD-Fraktion ist die Kollegin Joana Cotar. ({0})

Joana Cotar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004696, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kollegen! Wieder einmal steht das Thema Urheberrechtsreform und mit ihm das Thema Uploadfilter im Mittelpunkt der Debatte – völlig zu Recht. Denn das, was die Bundesregierung auf europäischer Ebene mitbeschlossen hat, kann nicht nur das Ende des freien Internets bedeuten, sondern ist für kleine Unternehmen und Start-ups auch eine Frage der Existenz; sie haben oft gar nicht die Möglichkeit, den Forderungen des Artikels 17 – vormals Artikel 13 – umfassend nachzukommen. Allerdings kommt dieser Eineinhalbseiten-Antrag von der FDP recht schmalbrüstig daher. Mehr als eine Aufforderung an die Bundesregierung, sich bei der Umsetzung der Urheberrechtsreform für kleine Unternehmen einzusetzen, steht da nicht. Aber gut, er geht in die Arbeitsnachweisstatistik ein, es gibt wieder mal ein Fleißsternchen. Wenn Sie wirklich etwas gegen Uploadfilter hätten unternehmen wollen, liebe FDP, dann hätten Sie sich unserem Antrag auf Erhebung einer Subsidiaritätsklage, den wir vorhin hier im Bundestag eingebracht haben, angeschlossen. ({0}) Wir wollten diesen unsäglichen Beschluss der EU vom Europäischen Gerichtshof für nichtig erklären lassen, ({1}) weil die Richtlinie weder dem Subsidiaritätsprinzip noch den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit entspricht. Die Bundesregierung hat auf EU-Ebene vollständig versagt. Jetzt wäre eigentlich die Opposition gefragt. Aber die einzige Oppositionspartei, die sich tatsächlich für die Rechte und die Freiheit der Bürger einsetzt, ist wieder einmal die AfD. ({2}) Sie haben gekniffen, liebe Vertreter der FDP; damit haben Sie eindeutig gezeigt, dass Ihnen parteitaktische Spielchen wichtiger sind als der Schutz der Unternehmen vor der Urheberrechtsreform und die Freiheit der Bürger im Netz. Also hören Sie bitte mit Ihren scheinheiligen Spielchen und Anträgen auf! Die nimmt Ihnen keiner mehr ab. ({3}) Der Uploadfilter-Paragraf ist für die Betreiber von kleinen Plattformen quasi nicht umsetzbar. Sie haben gar keine andere Wahl, als auf Filtersysteme von Internetgiganten wie Google oder Facebook zurückzugreifen. Damit stärkt die EU einmal mehr die Macht der Großen, und die Kleinen haben das Nachsehen. Und die Großen werden das ausnutzen, glauben Sie mir! Überall, wo ihre Filter genutzt werden, können sie nämlich Daten abgreifen. Der gesamte Traffic läuft zuerst über ihre Filtersysteme; das heißt, die Konzerne kennen den Inhalt schon, bevor er überhaupt im Internet erscheint. Wie wichtig große Datenmengen im digitalen Zeitalter sind, muss ich niemandem erklären. Die Bundesregierung behauptet, Datenschutz sei ihr wichtig. Ihre Handlungen beweisen das Gegenteil. Zusätzlich bedeutet die Reform für kleine Unternehmen auch eine erhebliche finanzielle Belastung. Fairer Wettbewerb sieht wahrlich anders aus. Die Koalition aus CDU/CSU und SPD zeigt sich als größter Feind von Innovation und Fortschritt in Deutschland. ({4}) Die Bundesregierung hat den Start-ups in ihrem Koalitionsvertrag auch anderes versprochen: Start-ups sollten entlastet und Uploadfilter verhindert werden. Noch während der Verhandlungen über die Reform auf EU-Ebene versprach die Bundesregierung, sich für die Gründer einzusetzen und bei den Filtern wenigstens eine Ausnahme für Unternehmen bis zu einem Jahresumsatz von 20 Millionen Euro durchzusetzen. Leere Versprechen, wie wir heute wissen; denn Deutschland ist in den entscheidenden Gesprächen eingeknickt. Nord Stream war wichtiger; so wurden die Start-ups fallengelassen. Wer sich auf das Wort der Bundesregierung verlässt, der ist im wahrsten Sinne des Wortes verlassen, und das nicht nur beim Thema Urheberrecht. ({5}) Wir alle sind uns einig: Wir brauchen ein faires und gerechtes Urheberrecht. Das, was wir bekommen haben, ist aber das genaue Gegenteil. Erst nachdem die Proteste im Internet immer größer wurden und die jungen Leute zu Zehntausenden auf die Straße gingen, der Hashtag #niemehrcdu trendete, wachte die Union plötzlich auf. Aus Angst vor einem schlechten Ergebnis bei der EU-Wahl versprach sie, bei der nationalen Umsetzung Uploadfilter zu verhindern. Mit Verlaub, wer soll Ihnen das noch glauben? Sie belügen, Sie betrügen die Menschen. Und die FDP zeigt sich zu opportunistisch für ernsthafte Maßnahmen. ({6}) Es gab genug warnende, bittende, fordernde Stimmen vor der endgültigen Abstimmung im EU-Parlament. Sie haben alle ignoriert. Sie haben die Stimmen der jungen Menschen ignoriert, die sich eingemischt haben, die gedacht haben, sie könnten Politik aktiv mitgestalten, die die Hoffnung hatten, mit ihrem Protest etwas zu bewirken. Dafür sind die Parteien und die Regierung doch eigentlich da: um den Willen der Menschen in diesem Land umzusetzen. Aber die jungen Leute haben sich eben auf die Falschen verlassen. Sie haben erkannt, dass ihre Regierung ihnen nicht zuhört. Da hilft es der Union und der SPD auch nicht mehr, sich darüber Gedanken zu machen, wie sie ihr Image in den sozialen Medien verbessern können. Da hilft keine Suche nach einem Rezo in den eigenen Reihen. Zum Schutz von kleinen und mittelständischen Unternehmen und für die Freiheit im Internet ist Konsequenz gefragt. Diese haben alle Altparteien heute Abend vermissen lassen. ({7}) Es ist die AfD, die sich weiter für ein innovatives Deutschland, ({8}) für den Abbau der Bürokratie, für steuerliche Entlastungen, für den Unternehmergeist und vor allem für ein freies Internet einsetzen wird. Vielen Dank. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Der Kollege Florian Post, SPD-Fraktion, hat in vorbildlicher Weise seine Rede zu Protokoll gegeben. Als nächste Rednerin rufe ich die Kollegin Dr. Petra Sitte, Fraktion Die Linke, auf. ({0})

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die europäische Urheberrechtsreform, wie sie vor einigen Wochen in Kraft getreten ist, ist – das haben wir hier schon mehrfach diskutiert – in zentralen Punkten eine ziemliche Katastrophe. Es stimmt: Sie gefährdet die Meinungsfreiheit, sie löst – im Gegensatz zu den Erklärungen von Herrn Heveling – das Versprechen, die Kreativen zu stärken, nicht ein, und sie ist – da hat die FDP völlig recht – innovationsfeindlich und droht insbesondere für kleine Unternehmen zu einer schweren Belastung zu werden. Insofern ist es absolut richtig, dass bei der nationalen Umsetzung alle Spielräume progressiv ausgelegt werden und das Thema erneut auf europäischer Ebene zum Nacharbeiten auf die Tagesordnung gehört. Der vorliegende Antrag greift allerdings etwas zu kurz. Die sogenannte Start-up-Ausnahme bei den Uploadfiltern in Artikel 17 ist eine Fehlkonstruktion, keine Frage. Aber ausgerechnet bei dieser Ausnahme – und das weiß die FDP – wird es in der Umsetzung so gut wie keine Spielräume geben. Viel dringender wäre es im Moment, dass sich die Bundesregierung, wie versprochen, mit einer klaren Haltung in den anlaufenden Dialogprozess der Kommission einbringt. Es ist nämlich nicht nur Artikel 17, der Start-ups zu schaffen machen wird. Mit Artikel 15 wird das Leistungsschutzrecht für Presseverlage europaweit eingeführt. Bereits in Deutschland hat sich aber gezeigt, dass große Unternehmen wie Google das einfach weglächeln können, während kleine Suchmaschinen oder Aggregatoren mit ihrer Informationsaufbereitung in Rechtsunsicherheit geraten. Nun werden mit einer deutlich weiter gehenden Regelung nicht nur solche Dienste, sondern gleich alle betroffen sein. Das ist nichts anderes als eine erneute Flurbereinigung zugunsten von Google & Co und einigen großen Verlagshäusern. Wenn man sich dann, wie Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier im März, hinstellt und sagt: „Na ja, wir mussten in den Verhandlungen zu Uploadfiltern auf eine echte Ausnahme für Start-ups verzichten, damit wir wenigstens das Leistungsschutzrecht bekommen konnten“, dann muss man sich nicht wundern, dass man nicht nur, wie inzwischen gewohnt, die ganzen YouTuber gegen sich aufbringt, sondern gleich die ganze Digitalwirtschaft mit. ({0}) Die Bundesregierung muss sich jetzt dafür einsetzen, dass der Uploadfilter-Dialog der Kommission transparent und nicht nur mit Trägern wirtschaftlicher Interessen geführt wird. ({1}) Sie muss in der Umsetzung alles tun, um die Meinungsfreiheit zu schützen und Innovationen zu ermöglichen. Und noch einmal: Sie muss mit Blick auf Artikel 17 ernsthaft prüfen, inwieweit die Regelungen darin überhaupt zur Anwendung kommen können und keinen Verstoß, wie vorhin schon gesagt, gegen höherrangiges Recht wie die Grundrechtecharta der EU oder das Grundgesetz darstellen. Vor allem muss sie darauf drängen, dass sich die neue Kommission dieses Themas erneut annimmt, die Fehler der Vergangenheit behebt und ein echtes und gerechtes, also ein modernes, dem heutigen Zeitalter angepasstes Urheberrecht auflegt. Danke. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Sitte. – Als nächste Rednerin hat die Kollegin Tabea Rößner, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. ({0})

Tabea Rößner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004138, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollegin Beer, bei der Urheberrechtsrichtlinie geht es um vieles. Es geht auch um Innovationen und Start-ups, für die es ja einige Ausnahmen gibt, aber eben auch noch einiges an Rechtsunsicherheit. Es geht aber doch vor allem um Werke Kreativer, mit denen andere Gewinne erwirtschaften. Es geht um eine gerechte Vergütung derjenigen, die diese Inhalte schaffen. Es geht also um die gesamte Kultur- und Kreativbranche. ({0}) Und es geht ganz allgemein um den Austausch von Gedanken, die Beteiligung an gesellschaftlichen Debatten im Netz, um Meinungsfreiheit und damit auch um unsere Demokratie. Die FDP zeigt – wieder einmal – einen sehr verengten Blick auf das Thema. Ob es die Innovationsfeindlichkeit der Richtlinie war, die am 23. März Zehntausende vor allem junger Menschen auf die Straße trieb, bezweifele ich. Auf den Transparenten standen eher Sprüche wie „Artikel 13 nimmt uns Kreativität und Freiheit“, „Dieselfilter statt Uploadfilter“ oder „Meinungsfreiheit ist in diesem Land nicht verfügbar“. Die Menschen befürchten, dass der Einsatz von Uploadfiltern auch ihre Meinungsfreiheit einschränken könnte und dass die Richtlinie die Situation der Urheberinnen und Urheber nicht verbessern würde. Ganz klar: Die Richtlinie besteht nicht nur aus Artikel 17, und selbst die Problematik der Uploadfilter betrifft nicht nur den Mittelstand, sondern alle. Da frage ich Sie: Wo sind denn die Kreativen in Ihrem Antrag? Wo sind denn die Nutzerinnen und Nutzer? – Uns Grünen ist ein breiter Blick auf das Thema wichtig, der alle mit einschließt, wie auch der Ausgleich zwischen den verschiedenen Interessen. ({1}) Also machen Sie bitte nicht weiter Klientelpolitik. Das ist Ihnen ja schon 2013 auf die Füße gefallen. ({2}) Bitte nehmen Sie, liebe Kollegin Nicola Beer, diese Anregung doch mit nach Brüssel. ({3}) Ich würde mich auch gerne mit der Innovationsfeindlichkeit von Artikel 15 befassen. Der Bundesverband Deutsche Startups hat sich klar gegen ein europäisches Leistungsschutzrecht positioniert, weil es den Innovationsstandort Europa gefährde. Zum gleichen Schluss kam eine Studie des Rechtsausschusses im EU-Parlament wie auch eco – Verband der Internetwirtschaft. Gerade die kleinen Unternehmen aus der Techbranche sind vom Leistungsschutzrecht betroffen und haben es beim Markteintritt schwerer. Ironischerweise wird damit die Marktmacht von Google noch gestärkt, und das kann und darf ja nicht unser Ziel sein. ({4}) Eine kleine Notiz am Rande sei gestattet. Das innovationsfeindliche Leistungsschutzrecht verdanken wir seit 2013, genau, dem damals von der FDP geführten Justizministerium. Start-ups waren der FDP da wohl noch nicht so wichtig. Eigentlich sollte das Leistungsschutzrecht ja schon lange evaluiert werden. Doch leider verweigert sich die Bundesregierung dem seit Jahren. Dass die Bundesregierung mit der Szene fremdelt, hat vor Kurzem auch Bundesminister Altmaier bewiesen: als er sich den Unmut des Beirats „Junge Digitale Wirtschaft“ zuzog. Bis heute steht der Verdacht im Raum, dass pauschalere Ausnahmen für Start-ups im Gegenzug für eine Einigung mit Frankreich im Streit um Nord Stream 2 verdealt wurden. Das zeigt einmal mehr: Die Bundesregierung hat keinen Bezug zur Lebensrealität junger Menschen. Dabei hätten junge Gründerinnen und Gründer von einem modernen Urheberrecht enorm profitieren können. ({5}) Mein Fazit: Die Bundesregierung hat keinen Blick für junge Start-ups. Der FDP wiederum geht es nur um Start-ups. Ich sage: Beim Urheberrecht geht es um alle. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Rößner. – Die Kollegen Alexander Hoffmann, CDU/CSU, Dr. Jens Zimmermann, SPD, und Tankred Schipanski, CDU/CSU, haben ihre Reden vorbildlich zu Protokoll gegeben. ({0}) Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/11054 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD wünschen Federführung beim Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz. Die Fraktion der FDP wünscht Federführung beim Ausschuss Digitale Agenda. Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktion der FDP: Federführung Ausschuss Digitale Agenda. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann haben wir die Mehrheitsverhältnisse, dann ist dieser Vorschlag der Freien Demokraten mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von FDP, AfD und Die Linke abgelehnt. Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD: Federführung beim Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Dann ist dieser Überweisungsvorschlag mit den gleichen Stimmenverhältnissen angenommen.

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir debattieren heute über die nationale Tourismusstrategie, die wir gemeinsam mit der SPD im Koalitionsvertrag vereinbart haben. Ziel dieser Strategie ist es, die Rahmenbedingungen für den Tourismus in Deutschland weiter zu verbessern. Die Bundesregierung hat am 30. April 2019 die Eckpunkte der Strategie mit den strategischen Zielen und Handlungsfeldern vorgelegt. Die darin genannten übergeordneten politischen Ziele sind die Erhöhung der inländischen Wertschöpfung für Betriebe, Beschäftigte und Bevölkerung, eine nachhaltige Steigerung der Lebensqualität der in Deutschland lebenden Menschen und ein Beitrag zur internationalen Stabilität. Wir begrüßen diese Eckpunkte und sehen in ihnen eine gute Grundlage für die zweite Stufe der nationalen Tourismusstrategie. Dabei soll bis zum Frühjahr 2020 ein Aktionsplan der Bundesregierung mit konkreten Maßnahmen erstellt werden. ({0}) Weitere wichtige Akteure in Wirtschaft und Politik, insbesondere die Bundesländer, sind aufgefordert, sich dieser Initiative anzuschließen und eigene Aktionspläne zu entwickeln. Die Tourismuswirtschaft in Deutschland ist ein oft unterschätzter Wirtschaftsfaktor und eine langfristige Wachstumsbranche. Hier arbeiten fast 3 Millionen Beschäftigte, was einem Anteil von 6,8 Prozent aller Arbeitsplätze in Deutschland entspricht. Diese Arbeitsplätze sind an den Standort Deutschland gebunden und nicht exportierbar. Als personalintensive Dienstleistungsbranche bietet der Tourismus große Chancen für die Schaffung von Arbeitsplätzen sowie gute Einstiegs- und Aufstiegschancen auch für geringqualifizierte Arbeitskräfte. ({1}) Damit leistet die Branche auch einen wichtigen Beitrag zur Integration von Flüchtlingen und Migranten, die – besonders im Gastgewerbe – hier bereits vielfach Arbeits- und Ausbildungsplätze gefunden haben. Vor allem für ländliche Räume ist Tourismus oft ein Motor der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, der erhebliche zusätzliche Kaufkraft in Dörfer und Gemeinden bringt. Tourismus trägt zur Sicherung der kommunalen und regionalen Infrastruktur bei und hat große positive Effekte in nachgelagerten Bereichen wie Verkehr, Einzelhandel, Handwerk, Gesundheit und Kultur. Der Tourismus gibt darüber hinaus wichtige wirtschaftliche Impulse für Schwellen- und Entwicklungsländer. Mit jährlich mehr als 11 Millionen Reisen in Entwicklungs- und Schwellenländer sorgen deutsche Touristen – auch dieser Aspekt ist ganz wichtig – dort für 740 000 Arbeitsplätze. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion will im Rahmen der Tourismusstrategie die Chancen der Branche noch besser ausschöpfen und die positiven Effekte weiter stärken. ({2}) – Da können Sie alle mitklatschen. Ich bitte die Kollegen, die Tourismusstrategie jetzt in der Ausschussarbeit konstruktiv zu begleiten und uns bei der Erstellung dieser Strategie zu unterstützen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend. Danke schön. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Lehrieder, das war vorbildlich in der Zeit, fast zwei Minuten. – Als nächster Redner spricht zu uns Sebastian Münzenmaier, AfD-Fraktion. ({0})

Sebastian Münzenmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004836, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutschland kann aufatmen: Die Bundesregierung hat uns endlich mit Eckpunkten für eine nationale Tourismusstrategie beglückt. ({0}) Über ein Jahr lang hat die Bundesregierung jetzt intensiv nachgedacht. Sie hat sich viele Gedanken gemacht, und Herr Thomas Bareiß hält die vorgeschlagenen Eckpunkte für einen Meilenstein. Wenn Sie jetzt, wie ich auch, auf konkrete Maßnahmen gehofft haben, muss ich Sie aber leider enttäuschen. In 14 Monaten konnte sich die Bundesregierung auf allgemeine Zielvorgaben einigen. Konkrete Maßnahmen gibt es also bislang überhaupt keine. Deshalb hat sich die Regierung darauf konzentriert, möglichst blumig und staatstragend die Welt zu retten. Das kennen wir schon – aber diesmal auch im Tourismus. Dabei hat man derart übertrieben, dass sogar die Tageszeitung „Die Welt“ über die Eckpunkte spottet und berichtet, die nationale Tourismusstrategie mache Touristen zu „Weltenrettern“. Immerhin ist, zum Beispiel, strategisches Ziel der nationalen Tourismusstrategie der Bundesregierung, für internationale Stabilität zu sorgen. Ganz nebenbei soll außerdem für Frieden, Toleranz und Völkerverständigung gesorgt werden. Und am besten finde ich: Die wirtschaftliche Entwicklung außerhalb Deutschlands soll durch die nationale Tourismusstrategie nach vorne gebracht werden. Bei dieser ganzen Luftikusrhetorik bleibt wieder mal ein Sachverhalt außen vor: die Realität. Denn die Tourismuswirtschaft in Deutschland hat reale Sorgen. Lassen Sie uns deshalb mal schauen, was dieser Meilenstein der Bundesregierung zu den drängendsten Problemen der Tourismusbranche überhaupt sagt. Erstes Thema: die Gewerbesteuer. Sie haben es immer noch nicht geschafft, den Unfug mit der Gewerbesteuer auf Übernachtungsleistungen zu beenden. Hier geht es um Steuermehrbelastungen von rund 230 Millionen Euro im Jahr für überwiegend kleine und mittelständische Betriebe. Das betrifft eben nicht nur TUI oder Thomas Cook – die sich die Rückstellungen leisten können –, das betrifft auch Reisebus Müller oder Reisebüro Schmidt aus dem Nachbarort. Die drohende Konsequenz ist uns allen klar: Firmenpleiten, Arbeitsplatzverluste und eine Verlagerung von Reiseveranstaltern ins Ausland. ({1}) Jetzt wird es interessant: Im Eckpunktepapier der Bundesregierung steht kein einziges Wort zu diesem Thema. Selbst der Präsident des Deutschen ReiseVerbands zeigt sich in einer Pressemeldung verwundert und meint zur heutigen Debatte, es dürfe nicht bei Lippenbekenntnissen bleiben. ({2}) – Sie waren doch noch nie im Ausschuss. Sie haben doch sowieso keine Ahnung vom Thema. Halten Sie sich also mal mit Ihren Zwischenrufen zurück! ({3}) Zweites Thema: Mehrwertsteuer. Haben Sie sich schon mal darüber geärgert, dass das Gasthaus in der Nachbarstraße oder das gemütliche Restaurant im Dorf verschwunden ist? Das könnte auch daran liegen, dass ein Gastwirt für frisch zubereitete Speisen 19 Prozent Mehrwertsteuer draufschlagen muss, während der Lieferdienst nur 7 Prozent berechnet. ({4}) Was ist Ihr Lösungsansatz in diesem Eckpunktepapier? Vollkommen richtig: Sie haben überhaupt keinen, ganz genau. ({5}) Nächstes Thema: bürokratiearme Rahmenbedingungen. Auch hier erinnere ich immer gern an die europäische Pauschalreiserichtlinie, die von Union und SPD in Brüssel verhandelt und dann in deutsches Recht umgesetzt wurde. Die Folge sind Formulare ohne Ende und bis heute verzweifelte Reisebüromitarbeiter. Meine Damen und Herren da draußen an den Bildschirmen, ({6}) lassen Sie sich bitte keinen Sand in die Augen streuen. Deutschland braucht eine nationale Tourismusstrategie, die diesen Namen auch verdient, eine Strategie mit einem klaren Schwerpunkt auf dem Ausbau des Deutschlandtourismus. Damit verdienen nämlich unsere Hotels, Pensionen, Reisebusunternehmen, Freizeitparks, Gaststätten und Kurorte ihr Geld. ({7}) Das ist nachhaltig und verbessert die Lebenssituation vor Ort. Bei all der Inhaltsleere, die die Bundesregierung bislang als Strategie verkauft, bringt es relativ wenig, meine Damen und Herren von der Koalition, wenn Sie jetzt so kurz vor knapp vor der Sommerpause noch einen eigenen Antrag einbringen, um Tatkraft vorzutäuschen. ({8}) Warum sind denn die Forderungen aus dem Antrag der Koalition nicht Teil der Eckpunkte der Bundesregierung? Möglichkeit eins: Sie konnten die eigene Regierung nicht davon überzeugen. Oder Möglichkeit zwei: Das Eckpunktepapier war so inhaltsleer, dass Sie jetzt noch mal nachlegen mussten. Wir als AfD-Fraktion haben zur Ausgestaltung der nationalen Tourismusstrategie konkrete Maßnahmen vorgeschlagen. ({9}) Schon vor über einem Jahr haben wir Ihnen den Weg gezeigt, um das Desaster mit der Urlaubssteuer abzuwenden. Sie haben sich alle verweigert. Seitdem herrscht Stillstand, und Sie sitzen wie das Kaninchen vor der Schlange und warten auf ein Gerichtsurteil. ({10}) Aber wo bleibt denn Ihr politischer Gestaltungswille? Anderes Beispiel: Sie reden den ganzen Tag von Digitalisierung im Tourismus. ({11}) Daraufhin bringen wir einen Vorschlag zur digitalen Geltendmachung von Fahr- und Fluggastrechten ein, den Sie im Prinzip ganz gut finden. Trotzdem lehnen Sie unseren Antrag dann mit fadenscheinigen Argumenten ab, und die Linken – meine Lieblingspolitiker – versteifen sich zu der Aussage, dass sie grundsätzlich, selbst wenn wir etwas Richtiges sagen, alles ablehnen, weil es von uns kommt. ({12}) Ich sage Ihnen etwas: Die Menschen, die in den Reisebüros sitzen, die in Gaststätten oder im Hotel arbeiten, die werden sich über dieses Demokratieverständnis Ihrer vereinigten Altparteienfront wundern und bei der nächsten Wahl ihr Kreuzchen an der richtigen Stelle machen, meine Damen und Herren. ({13}) Halten wir also fest – lassen Sie es mich mit den Worten Ihres SPD-Übervaters sagen –: Es ist wichtiger, etwas im Kleinen zu tun, als im Großen darüber zu reden. – Nehmen Sie doch Ihren Willy Brandt endlich mal ernst! Handeln Sie, hören Sie auf, immer nur zu quatschen! Das wäre zum Wohl des Tourismus und zum Wohle unseres Landes. Herzlichen Dank. ({14})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Gabriele ­Hiller-Ohm, SPD-Fraktion, das Wort. ({0})

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, der größte Quatscher hat sich gerade hingesetzt. ({0}) Kommen wir zum Thema. Ich freue mich sehr, dass wir heute, wenn auch leider zu später Stunde, den Startschuss für unsere nationale Tourismusstrategie abfeuern können. Warum, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist das so wichtig, warum ist diese Strategie so bedeutend? Tourismus ist zum überwiegenden Teil ein standortgebundenes Dienstleistungsgewerbe. Fast 3 Millionen Menschen arbeiten hier. Das ist enorm. Genießt diese Branche aber auch die angemessene Aufmerksamkeit? Ich sage: Nein, das tut sie nicht. Tourismus wird in Deutschland leider nicht als wichtiger Motor für Beschäftigung und Wachstum wahrgenommen. Woran liegt das? Das hängt vor allem mit den unterschiedlichen Zuständigkeiten zusammen. Tourismus ist Aufgabe der Länder, der Städte, der Kommunen. Aber auch auf Bundesebene und in der Privatwirtschaft befassen sich unterschiedlichste Akteure mit tourismuspolitischen Belangen. Was fehlt, ist eine gute Koordination und Vernetzung der verschachtelten Zuständigkeiten. Meine Damen und Herren, die Bundesregierung wird zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik eine umfassende Strategie zum Tourismus in Deutschland vorlegen. ({1}) Wir bündeln damit alle Kräfte für den Tourismus und stärken die Branche nachhaltig und sozial. Das hat es bisher in Deutschland nicht gegeben; das ist ein ganz gewaltiger Schritt. ({2}) Wir von der SPD haben die Tourismusstrategie in den Koalitionsvertrag hineinverhandelt. ({3}) In der SPD-Bundestagsfraktion haben wir darüber hinaus ein umfassendes Positionspapier erarbeitet, das jetzt Grundlage für den gemeinsamen Antrag mit unserem Koalitionspartner geworden ist. Ich bedanke mich an dieser Stelle bei der CDU/CSU ({4}) für die konstruktive Zusammenarbeit und für die Bereitschaft, die vielen Punkte, die der SPD wichtig sind, mitzutragen. Danke schön! ({5}) Unsere Erwartungen an die Tourismusstrategie sind groß. Unser Antrag umfasst 60 Punkte und Forderungen, um in allen tourismusrelevanten Bereichen eine bessere, gerechtere und nachhaltigere Situation hinzubekommen. Aber wir setzen dabei nicht auf grenzenloses Wachstum, wie es die AfD in ihrem Antrag tut. Der Klimawandel zeigt uns, dass sich auch der Tourismus den neuen Herausforderungen anpassen muss. Wir wollen deshalb eine behutsame Entwicklung, die soziale und ökologische Aspekte berücksichtigt. ({6}) Auch wir unterstützen den Mittelstand, wie es die FDP in ihrem Antrag fordert. ({7}) Uns ist dabei aber ganz wichtig, dass die Interessen der Beschäftigten im Vordergrund stehen; denn sie sind es doch, die mit ihrem Können, ihrem Fleiß und ihrer Freundlichkeit den Tourismus überhaupt erst ermöglichen. ({8}) Nur wenn sich die Beschäftigten wohlfühlen, können sie dieses Gefühl auch an die Gäste weitergeben. ({9}) Deshalb kämpft die SPD auch für eine faire Arbeits- und Ausbildungsvergütung. ({10}) Da muss dringend etwas geschehen, liebe Kolleginnen und Kollegen; denn schon heute ist vor allem die Gastronomie vom Fachkräftemangel massiv bedroht. Ich bin mir sicher, dass unser Fachkräfteeinwanderungsgesetz gerade auch der Tourismusbranche helfen wird, die Personalnot zu überwinden. Schon heute arbeiten viele Menschen aus unterschiedlichen Nationen im Tourismussektor. Damit steht die Branche beispielhaft für unser weltoffenes Land. Wichtig ist aber auch, dass sich die Branche endlich dazu durchringt, ihren Beschäftigten mit guten Tarifverträgen und attraktiven Ausbildungsmöglichkeiten bessere Perspektiven zu eröffnen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben heute einen umfassenden Antrag vorgelegt, der die vielfältigen Aspekte des Tourismus bei uns in Deutschland, aber auch darüber hinaus beinhaltet. ({11}) Unserer Verantwortung für die Schwellen- und Entwicklungsländer sind wir uns sehr wohl bewusst; denn hier kann der Tourismus eine stabilisierende, friedenssichernde Rolle einnehmen und die Lebenssituation vieler Menschen verbessern.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Kommen Sie zum Schluss, Frau Kollegin.

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Tourismussektor ist nicht nur ein wichtiger Wirtschaftszweig, er ist auch ein Symbol für unsere Weltoffenheit und für unsere bunte Gesellschaft. Der Tourismus baut Brücken.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, einen Satz noch, bitte.

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluss.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Ja, das meine ich.

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Er verbindet Menschen, schafft Begegnungen und vermittelt ein positives Bild Deutschlands. Deshalb freue ich mich umso mehr, dass wir mit unserem Antrag einen wichtigen Beitrag zur Erstellung der nationalen Tourismusstrategie und zur Stärkung – – ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, Sie dürfen sich hinsetzen. Ich habe Ihnen gerade das Wort entzogen. ({0}) Als nächster Redner spricht zu uns der Kollege Roman Müller-Böhm. ({1})

Roman Müller-Böhm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004833, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine geschätzten Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Endlich legen Sie, liebe Bundesregierung, die nationale Tourismusstrategie vor, auf die wir alle hier in diesem Hause, aber auch draußen in der Tourismuswirtschaft so lange gewartet haben. An dieser Stelle kann ich sagen: Ein kleines Dankeschön bekommen Sie da auch von der FDP zu hören. ({0}) Das war jetzt aber, ehrlich gesagt, schon die großzügigste Form des Komplimentes, ({1}) da wir im Tourismusausschuss normalerweise auf relativ kollegiale Art und Weise miteinander umgehen. Das war es an der Stelle aber auch. Außer positiven Lippenbekenntnissen – das muss man leider festhalten – ist dieser Strategie nicht viel Konkretes zu entnehmen; das wurde gerade schon einmal gesagt. Sie haben gerade gesagt, Sie sind stolz darauf, dass diese Tourismusstrategie jetzt endlich vorliegt. Es ist klarzustellen: Der Tourismus ist eine der wichtigsten volkswirtschaftlichen Branchen, die wir in unserem Land haben. Diese Branche beschäftigt knapp 3 Millionen Menschen und erwirtschaftet 105 Milliarden Euro pro Jahr zu unserem Bruttoinlandsprodukt. Ganz ehrlich: Ich finde es respektlos, so lange zu warten, um eine nationale Tourismusstrategie auszuarbeiten, wenn man vergleicht, wie Sie an anderen Stellen sehr wohl Branchen privilegieren, um diesen über die Runden zu helfen. ({2}) Ihrem Flickenteppich an Maßnahmen möchten wir wichtige Punkte hinzufügen. Ich möchte Sie ganz konkret auffordern: Lösen Sie doch endlich mal das Problem der gewerbesteuerlichen Hinzurechnung! Flexibilisieren Sie endlich die arbeitsrechtlichen Bestimmungen! ({3}) Führen Sie endlich die Tourismuswirtschaft in das Zeitalter der Digitalisierung! Es ist mir persönlich vollkommen unverständlich, warum Sie lieber auf ein Gerichtsurteil warten, anstatt selber politisch handeln zu wollen. Die gewerbesteuerliche Hinzurechnung ist ein Problem, das Tausende von Betrieben trifft und eventuell auch ihre Existenz kostet. All das lassen Sie wissentlich geschehen, ohne dagegen aktiv zu werden, und das ist unverantwortlich. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich war die letzten Wochen im Ruhrtal auf einer tourismuspolitischen Tour unterwegs. Dabei hört man immer wieder genau die drei Themen, die ich Ihnen gerade auch genannt habe. Die Menschen machen ihren Job mit Leidenschaft und sind auch deswegen für das positive Bild Deutschlands im Tourismus verantwortlich. Genau diesen Leuten möchte ich dann auch Verantwortung übertragen. Dann können wir sagen: Okay, sie können in einem gewissen Rahmen von Wochenstunden selbstständig darüber entscheiden, wie sie ihre Arbeitszeit verteilen wollen. Es macht überhaupt keinen Sinn, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, sich so sehr dagegen zu wehren und zu fragen, warum es sinnvoller ist, nach einer Acht-Stunden-Schicht für zwei Stunden eine neue Schicht beginnen zu lassen. Man kann sagen: Okay, unter Einbeziehung der Ruhezeiten muss es auch mal gestattet sein, diese Leute noch zwei Stunden länger arbeiten zu lassen. Das wird dann eben in der Woche wieder ausgeglichen. – Sie verweigern sich da einer zukunftsträchtigen Lösung, und das ist unverantwortlich. ({5}) Diese Liste könnte man fortsetzen, sei es mit der Mindestlohndokumentierung, sei es mit der Geringfügigkeitsgrenze. Es wäre das Mindeste, dass Sie die Geringfügigkeitsgrenze an die Mindestlohnentwicklung koppeln, damit das irgendwie Sinn ergibt. Das letzte Thema, das ich ansprechen möchte, ist die Digitalisierung. Es ist ein großes Problem, dass wir in Deutschland bisher nur 20 Prozent unseres touristischen Angebotes online präsentieren. Angesichts unserer digitalen Infrastruktur ist das aber leider auch kein Wunder. Ich habe ein Beispiel erlebt: Einem großen Stakeholder, der im touristischen Bereich im Sauerland tätig ist, wird in Zukunft noch nicht mal eine Internetleitung gelegt, und ihm wurde auch noch der ISDN-Anschluss von der Telekom gekündigt. ({6}) So weit sind wir inzwischen. Das ist das Resultat Ihrer unverantwortlichen Politik in diesem Bereich.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen, bitte.

Roman Müller-Böhm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004833, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zum Schluss. – Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir vermissen die Wertschätzung für unseren Tourismus, und wir haben in unseren Eckpunkten dargelegt, wie wir dem Tourismus helfen wollen. Herzlichen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Müller-Böhm. – Als nächste Rednerin spricht zu uns die Kollegin Kerstin Kassner, Fraktion Die Linke. ({0})

Kerstin Kassner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004324, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Berg kreißte – lange, ziemlich lange – und gebar leider nur ein Mäuslein. – Die von der Bundesregierung vorgestellte Tourismusstrategie richtet sich sehr einseitig an den Bedürfnissen der Tourismuswirtschaft aus. Ökologische und soziale Aspekte spielen im Dreiklang Fachkräftemangel, Ökologie und Soziales nur rhetorisch eine Rolle und lassen jede konkrete Umsetzungsmaßnahme vermissen. Zwar werden die aktuell relevanten Begriffe im Text brav genannt – zum Beispiel „barrierefreier Tourismus“, „klimaverträglich“ oder „Stärkung der ländlichen Räume“ –, aber den roten Faden, wie das Ganze umgesetzt werden soll, vermissen wir. ({0}) Insgesamt sind die Eckpunkte nämlich noch ziemlich unkonkret. Es gibt keine greifbaren Vorhaben, aber viele blumige Formulierungen. Ein „Tourismus 4.0“ klingt schön, aber Menschen in meiner Heimat, die manchmal nicht mal einen ordentlichen Handyempfang haben, können über so etwas leider nur müde lächeln. ({1}) Jetzt will die Bundesregierung noch weiter monatelang beraten. Ich fürchte, auch danach wird aus diesem Mäuslein kein Gigant geworden sein. Die Koalitionsfraktionen legen dankenswerterweise nach, weil sie diese Defizite sehen. Aber auch ihr Antrag, muss ich sagen, ist leider nur ein Sammelsurium an allen möglichen kleinen und größeren Vorhaben, die auch teilweise eher kontraproduktiv erscheinen. Es handelt sich um Absichtserklärungen und Prüfvorschläge. Es ist auch ein Zeichen von Kleingeistigkeit, eigene Forderungen nur im Rahmen verfügbarer Haushaltsmittel aufzustellen. Das heißt, neue Ideen dürfen vor allem nichts kosten. So arbeiten Verwaltungen, aber politische Mandatsträgerinnen und Mandatsträger, wie wir das sind, müssen doch kreative Ideen haben, müssen für weitere Ziele kämpfen, und das vermisse ich, wenn man wie Sie all die Dinge nur unter dem Finanzierungsvorbehalt sieht. ({2}) Ja, am Tourismus sieht man am besten, welche Auswirkungen rein technokratische Politik hat. Es ist richtig die Angst zu spüren, mal etwas Neues zu versuchen und anzustreben. Wir brauchen aber neue Ideen, neue Vorhaben, um etwas zu erreichen. Wir haben so viele Aufgaben. Ich denke da nur an den Wassertourismus und daran, was dort alles im Argen liegt, wie dort die Infrastruktur brachliegt. Also, gehen wir es an! Seien wir gemeinsam mutig! Wir werden die Gelegenheit haben, an diesem Vorhaben weiterzuarbeiten. Die Ökologie und die sozialen Bedingungen der Menschen in diesem Bereich, aber auch die wirtschaftliche Trägerschaft fordern das von uns. Also, mehr Mut, liebe Kollegen! ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Kassner. – Als nächster Redner hat der Kollege Markus Tressel, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. ({0})

Markus Tressel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004178, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es war längst an der Zeit, dass wir nach vorne gerichtet über den Tourismusstandort Deutschland sprechen. Eine Strategiedebatte war nötig. Diese ist jetzt da – immerhin. Das ist noch nicht der große Wurf, aber es ist trotzdem gut, dass wir diese Strategiedebatte führen. Man muss aber deutlich sagen: Dabei nur Wachstum im Blick zu haben, wird nicht funktionieren. Wenn wir angesichts der großen Herausforderungen erfolgreich sein wollen, müssen wir umfassender denken, müssen wir weiter denken. Tourismus – das wissen die Tourismuspolitikerinnen und -politiker – ist im besten Sinne ein Querschnittsthema. Das fängt bei A wie Arbeitsbedingungen an – das ist angesprochen worden – und hört bei Z wie Zugverbindung auf. Deshalb braucht das Reiseland Deutschland eine Strategie, die die großen Herausforderungen aufnimmt: ({0}) Klima, Arbeit, Digitalisierung, Innovation und nicht zuletzt auch eine alternde Gesellschaft. Wir müssen also über nachhaltige Tourismuskonzepte und Mobilitätsangebote sowie über entsprechende Verkehrskonzepte und Infrastruktur – auch die digitale Infrastruktur und gerade in ländlichen Räumen – reden. Auch über Barrierefreiheit müssen wir reden. ({1}) Das geht zum Teil weit über das hinaus, was wir als Kernbereich der Tourismusbranche wahrnehmen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das sage ich auch ganz deutlich: Eine zukunftsfähige Tourismuspolitik in Deutschland muss klima- und umweltfreundlich sein, sonst ist sie nicht zukunftsfähig, ({2}) weil die Klimakrise den Tourismusstandort Deutschland schon heute in Teilen bedroht. Denken wir nur an die Skigebiete, in denen im Winter nicht mehr verlässlich Schnee fällt. Denken wir an Brandenburg, das angesichts der Trockenheit mit einer Versteppung zu tun hat. Deshalb muss auch die Klimafolgenbewältigung ganz selbstverständlich Thema einer nationalen Tourismusstrategie werden, und das fehlt mir in Ihren Eckpunkten noch deutlich, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir müssen die Tourismuswirtschaft und vor allem die Destinationen dabei unterstützen, sich diesen Herausforderungen zu stellen, ihre Angebote zu flexibilisieren und ihre Regionen innovativ aufzustellen. Deshalb setzen wir uns als Grüne für eine Förderpolitik ein, die umwelt- und klimafreundliche Konzepte unterstützt, und wir setzen uns für eine Förderpolitik ein, die einen einfachen und unkomplizierten Zugang zu Förderprogrammen verspricht. Wie viele kleine und mittelständische Unternehmen können Fördermittel nicht abrufen, weil es für sie unzumutbare bürokratische Hürden gibt! Auch das müssen wir mit der nationalen Tourismusstrategie adressieren. ({3}) Wir brauchen vereinfachte Antragsverfahren, wir brauchen eine gut strukturierte, besser zugängliche institutionelle Förderpolitik. Da können wir uns ein Beispiel an Österreich mit der Tourismusbank nehmen. Hier lohnt sich der Blick ins Nachbarland. Mit einer solchen Förderpolitik kann man die KMUs als Rückgrat der Branche wettbewerbsfähig machen. Wir müssen die Fachkräftekrise in der Branche lösen; die Kolleginnen und Kollegen haben das angesprochen. Keine Branche lebt so sehr von der Servicequalität wie die Reisebranche, und die Tourismusstrategie kann hier neue Türen öffnen und die Berufsbilder wieder attraktiver machen. Soziale und faire Arbeitsbedingungen: das muss unser Ziel sein. Auch hier gibt es bei den Eckpunkten einen Verbesserungsbedarf. Ich sage das auch deutlich: Tourismuspolitik ist nur dann zukunftsfähig, wenn sie ökologische, ökonomische und soziale Faktoren am Ende des Tages tatsächlich zusammendenkt. ({4}) Liebe Frau Kollegin Hiller-Ohm, wir haben einen Antrag mit knapp 50 Punkten eingebracht, der sinnvolle Maßnahmen für dieses Ziel anbietet. Wir stehen weiter bereit, ein gutes Paket für den Tourismusstandort Deutschland zu schnüren. Das muss aber weit über das hinausgehen, was die Bundesregierung bisher vorgelegt hat. Herzlichen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Die Kollegin Astrid Damerow, CDU/CSU, sowie die Kollegen Frank Junge, SPD, und Dr. Klaus-Peter Schulze, CDU/CSU, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben. ({0}) Damit schließe ich die Aussprache. Tagesordnungspunkte 17 a und 17 b sowie Zusatzpunkt 15. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/11088, 19/9810 und 19/11152 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Tagesordnungspunkt 17 c. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Tourismus auf Drucksache 19/11196. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der AfD auf Drucksache 19/10169 mit dem Titel „Nationale Tourismusstrategie für mehr Wirtschaftswachstum und sichere Arbeitsplätze“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Keine. Dann ist diese Beschlussempfehlung gegen die Stimmen der AfD-Fraktion mit den Stimmen der anderen Fraktionen des Hauses angenommen. Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/7899 mit dem Titel „Nationale Tourismusstrategie mittelstandsfreundlich gestalten – Bürokratie abbauen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Auch keine. Dann ist diese Beschlussempfehlung gegen die Stimmen der FDP-Fraktion mit den Stimmen der anderen Fraktionen des Hauses angenommen.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Gefahr eines Krieges der USA gegen den Iran wächst enorm weiter. Nahezu täglich erleben wir neue Anschuldigungen von US-Präsident Trump gegen den Iran: von Angriffen auf Tanker bis hin zum Abschuss von US-Drohnen über internationalen Gewässern. Stichhaltige Beweise für diese schweren Anschuldigungen werden aber nicht vorgelegt. Stattdessen soll der Weltöffentlichkeit mit bunten Bildern eine Urheberschaft des Iran vorgegaukelt werden, um einen Grund zum Losschlagen zu bekommen. Dies erinnert doch wirklich fatal an die Vorgehensweise der USA im Vorfeld des Irakkrieges 2003 und die angeblichen Massenvernichtungswaffen damals im angeblichen Besitz von Saddam Hussein, mit dem eben auch ein Krieg durch die USA und die Koalition der Willigen mit verheerenden Konsequenzen für die gesamte Region vom Zaun gebrochen wurde. Wenn es 2003 nach der heutigen Bundeskanzlerin Merkel gegangen wäre, hätte sich Deutschland an diesem völkerrechtswidrigen Krieg gegen den Irak auch noch beteiligt. Auch deshalb – ganz besonders deshalb – ist es erschreckend, dass die Bundeskanzlerin im Hinblick auf die Vorwürfe von Trump gegenüber dem Iran heute immer noch von so etwas wie – Zitat – „hohen Evidenzen“ spricht. Ich finde, wer Trumps Beschuldigungen Glauben schenkt, wie es die Bundeskanzlerin Merkel tut, der ist entweder grenzenlos naiv oder eben bereit, sich an der Vorbereitung eines verbrecherischen Krieges gegen den Iran zu beteiligen. ({0}) Wir als Linke sagen hier ganz klar: Deutschland darf sich weder direkt noch indirekt an einem Krieg gegen den Iran beteiligen. ({1}) Deshalb sagen wir auch, dass die Kriegslügen der USA und auch die Kriegsdrohungen des US-Präsidenten Trump, der noch vorgestern dem Iran mit – Zitat – „Auslöschung“ drohte, ganz klare Verstöße gegen das Gewaltverbot der UN-Charta sind, ({2}) das nicht nur die Anwendung, sondern auch schon die Androhung von Gewalt mit einschließt. Ich frage mich: Wo ist hier eigentlich der Protest der Bundesregierung, wenn man sie mal braucht? ({3}) Ein Mitglied des UN-Sicherheitsrats zu sein, bedeutet nicht, dass man den NATO-Verbündeten einen Freifahrtschein gibt, wenn sie überall auf der Welt mit Gewalt drohen. Deshalb finde ich den Umgang der Bundesregierung mit diesem schändlichen Tun der Amerikaner wirklich beschämend. ({4}) Bundeskanzlerin Merkel und auch Außenminister Maas ducken sich ja einfach nur weg und schweigen gegenüber den Ausfällen ihres NATO-Verbündeten, während die USA – und darauf kommt es ja an – die militärische Infrastruktur in Deutschland, ohne zu zögern, für ihren ganzen Aufmarsch in der Region nutzen. Deshalb fordern wir als Linke die Bundesregierung dazu auf, den USA die Nutzung der militärischen Infrastruktur in Deutschland, wie beispielsweise die der US Air Base Ramstein, für einen Krieg gegen den Iran und auch schon für dessen Vorbereitung umgehend zu untersagen. ({5}) Was die USA hier machen, ist nämlich ganz klar ein Bruch des Völkerrechts und auch mit dem Friedensgebot des Grundgesetzes nicht vereinbar. Wir als Linke appellieren hier ganz besonders an die Adresse der sozialdemokratischen Fraktion in diesem Haus: Halten Sie es doch bitte mit dem ehemaligen Bundeskanzler Willy Brandt, der zu Recht mal gesagt hat: „Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen“. ({6}) Das gilt sowohl in Bezug auf den Iran als auch auf alle anderen Regionen in dieser Welt. In diesem Sinne fordern wir die Bundesregierung auf, aktiv zu werden und zu den Kriegsdrohungen der USA nicht mehr zu schweigen. Vielen Dank. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Frau Dağdelen. – Als nächster Redner spricht zu uns der Kollege Roderich Kiesewetter, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Roderich Kiesewetter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004068, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Dağdelen, es ist schade, dass Sie die mitternächtliche Stunde nicht nutzen, um sachlich und vernünftig zu diskutieren. Sie verwechseln Ursache und Wirkung. Wir sollten uns sehr klar bewusst sein, dass es der Iran ist, der Revolutionen exportiert. Der Iran ist es, der die Hisbollah finanziert. Es ist der Iran, der unlängst zivile Handelsschiffe erheblichen Bedrohungen ausgesetzt hat. Hier ist es ganz entscheidend, dass wir uns als westliche Gemeinschaft nicht durch Anträge der Linken spalten lassen, ({0}) sondern alles dafür tun, dass das Abkommen zur Beschränkung der nuklearen Fähigkeiten des Irans aufrechterhalten wird. ({1}) Wir als CDU/CSU möchten gerne, dass dieser Bundestag der Ort einer kundigen Debatte und nicht der Ort von Polemik ist. ({2}) Wir nähern uns der Geisterstunde, und ich wünschte mir, dass wir dieses Thema auch in brennender Mittagssonne behandeln. Für mich sind zwei Punkte wichtig: Wir als Union stehen für die regelbasierte internationale Ordnung, und zur regelbasierten internationalen Ordnung gehört ein Rüstungskontrollregime. ({3}) Wir beobachten gerade, dass die internationale Rüstungskontrollarchitektur erheblich unter Druck gerät: neue Technologien, Letale Autonome Waffensysteme, Staaten, die sich internationalen Verhandlungen verweigern, und der Drang zu mehr nuklearer Rüstung, den wir insbesondere im Iran erleben. ({4}) Dazu kommt noch was, Frau Dağdelen: Sie verschweigen hier einen Antrag. ({5}) Sie legen hier einen Antrag vor, der wohl auch noch zur Abstimmung kommt, den Sie aber gar nicht erwähnen und der fast deckungsgleich ist mit einem Antrag der AfD. Sie wollen ein Sonderabkommen mit Russland, einen Ausstieg aus dem Atomwaffenverbotsvertrag. – Quatsch! Sie wollen einen Einstieg in den Atomwaffensperrvertrag, ({6}) Sie wollen die Aufgabe der nuklearen Teilhabe, und vor allen Dingen möchten Sie einen Sonder-INF-Vertrag mit Russland – übrigens deckungsgleich mit der AfD. Das ganz Entscheidende ist doch, meine sehr geehrten Damen und Herren, dass Sie damit versuchen, die westliche Gemeinschaft zu spalten und die Deutschen von einer europäischen Position abzubringen. ({7}) Für uns als Union – und ich denke, auch für uns in der Koalition – ist es von besonderer Bedeutung, dass wir den Zusammenhalt im Bündnis bewahren. ({8}) Es hilft uns Europäern überhaupt nicht, wenn wir versuchen, Russlands Vertragsbruch beim INF auch noch festzuschreiben und – leider unterstützen das auch die Grünen – die nukleare Teilhabe aufzugeben, ({9}) um damit womöglich Polen und andere Staaten östlich von Deutschland dazu zu bringen, dass die USA im Rahmen eines Sonderabkommens weitere Nuklearwaffen in Europa stationieren können. Unsere Aufgabe ist es, dass wir eine weitere Verbreitung von Nuklearwaffen in Europa verhindern. Unsere Aufgabe ist es auch, die Verifikation – also die Überprüfung von nuklearer Abrüstung – zu ermöglichen. Das ist ein entscheidender Gedanke. ({10}) – Das, was Russland angeboten hat, waren Hüllen. Russland hat keine Verifikation zugelassen. Im Gegenteil! ({11}) Entscheidend ist doch, dass wir zu vernünftigen Verhandlungen zurückkehren. Wenn wir hier auf dem Tableau das Thema „Abkommen mit dem Iran und INF-Vertrag“ haben, so sollte uns in diesem Hause mit großer Sorge erfüllen, dass der Bruch des INF-Vertrags durch Russland womöglich auch der Einstieg in den Bruch von New START ist. ({12}) Wir sollten alles dafür tun, dass das Abkommen über die strategische Raketenrüstung nicht auch aufgekündigt wird – weder von den USA noch von Russland. ({13}) Wir sollten alles daransetzen, in den nächsten zwei Jahren nicht eine Wiederholung der Kündigung des INF-Vertrages zu erleben. Wir müssen die strategische Raketenrüstung und die Mittelstreckenraketenrüstung wieder einer internationalen Kontrolle unterziehen. Deshalb brauchen wir funktionsfähige Bündnisse. ({14}) Ein Sonderabkommen, wie AfD und Linke es fordern – in einmütiger Verbundenheit –, würde nur die transatlantische Gemeinschaft spalten, und wir würden uns in Europa weiter vom Frieden wegbewegen. ({15}) Unsere Aufgabe ist es deshalb, nicht nur Ihre Anträge abzulehnen, sondern auch dafür zu kämpfen, dass wir die Verifikation – Überprüfung von Rüstungskontrolle – weiterhin aufrechterhalten und in Forschung dazu investieren, wie wir vernünftig Überschallwaffen, aber auch nicht Letale und Letale Autonome Waffensysteme besser überprüfen können. ({16}) Das ist die Aufgabe der Bundesrepublik.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.

Roderich Kiesewetter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004068, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

In diesem Sinne unterstützen wir als CDU/CSU alle Bemühungen der ({0}) Bundesregierung, hier zu vernünftigen Abkommen zu kommen. Herzlichen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege ­Armin-Paulus Hampel, AfD-Fraktion. ({0})

Armin Paulus Hampel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004735, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Gäste im Deutschen Bundestag! Herr Kiesewetter, ab 24 Uhr wird es dann doch immer ein bisschen schlicht. ({0}) – Bleiben Sie doch mal ganz entspannt um diese Uhrzeit. Auch Sie unterschlagen ein paar Sachen, die Sie unerwähnt gelassen haben. Vielleicht hätten einige mehr von Ihnen in der vorvergangenen Woche beim Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg sein müssen. Da gab es eine große Panel-Diskussion mit dem UN-Generalsekretär Guterres, dem chinesischen Staatspräsidenten Xi und dem russischen Präsidenten Putin. Sie hätten dort hören können, dass beide – Herr Xi wie Herr Putin – von einer strategischen Partnerschaft der beiden Länder Russland und China gesprochen haben. Das wurde mehrfach wiederholt. ({1}) Hätten Sie aufgepasst, hätten bei Ihnen die Ohren klingeln müssen. Herr Xi hat Herrn Putin sogar als seinen „lieben Freund Wladimir Putin“ bezeichnet. Der russische Präsident hat das übrigens nicht gemacht. Es ging dort um Handelsabkommen und Handelsbeziehungen zwischen Russland und China. Was machen Sie eigentlich, wenn sich diese strategische Partnerschaft auch mal in der militärischen Beziehung entwickelt? Was machen Sie denn dann, wenn sich Russen und Chinesen in Bezug auf die strategischen Waffen so nahe kommen oder verständigen, dass wir dort keinen Einfluss mehr haben, Herr Kiesewetter? Was machen wir denn dann? Durch Ihre Sanktionspolitik machen Sie genau das Gegenteil; das war in Sankt Petersburg spürbar. Sie treiben die Russen seit Jahren konsequent in die Arme der Chinesen. Blöder kann deutsche Außenpolitik nicht sein, Herr Kiesewetter. Das ist der springende Punkt dabei. ({2}) – Hören Sie lieber erst mal zu. Weil wir vernünftig mit den Realitäten in Europa umgehen müssen, haben wir Folgendes vorgeschlagen – wir haben überhaupt keinen einseitigen Vertrag vorgeschlagen; Sie müssen den Vorschlag schon durchlesen –: Wir haben angeführt, dass es im deutschen und im europäischen Interesse sein muss, Europa mittelstreckenraketenfrei zu halten. ({3}) Ich möchte den in diesem Hause sehen, der dagegen votiert. – Ich höre keinen Widerspruch. Das ist ja schon mal gut; Sie haben was dazugelernt. ({4}) Jetzt wollen wir das erreichen, indem wir auch unseren amerikanischen Freunden sagen, dass wir nicht immer gemeinsame Interessen haben. Amerika hat eine große Badewanne mit einer Länge von 5 000 nautischen Meilen zwischen sich und Europa; wir sind nur ein paar Hundert Kilometer entfernt. Deshalb muss es im europäischen Interesse sein, dass diese Waffen auf unserem Territorium, auf unserem europäischen Kontinent – vom Atlantik bis zum Ural – eben nicht vorhanden sind. ({5}) Wir müssen das machen, was ich heute schon den Kollegen von der FDP zugerufen habe. Wir müssen im Sinne Ihres großen Außenministers Hans-Dietrich Genscher handeln, der das immer wieder vorgelebt hat. Wir müssen endlich zur Realpolitik zurückkehren und uns den Problemen so stellen, wie sie wirklich sind, und dürfen uns die Lage nicht erträumen. Die Verständigung mit Russland ist nicht gegen Amerika gerichtet – ganz im Gegenteil: wir haben dafür plädiert, die amerikanischen Freunde einzubinden –, sondern sie ist im europäischen Interesse. Derzeit stehen keine Mittelstreckenwaffen in Europa, und diesen Zustand wollen wir beibehalten. Wir wissen genau, dass es ein ganz langer Prozess ist, bis China und andere – übrigens auch Israel – einer internationalen Vereinbarung – ich stimme Ihnen ja zu, Herr Kiesewetter, dass sie wünschenswert wäre – zustimmen werden. Bevor wir hier zu einem Ergebnis kommen, vergehen – das wissen wir auch – Jahre, wenn nicht Jahrzehnte. Wir wollen die Zwischenzeit nutzen und in dieser Periode mit Russland zu einem Abkommen kommen. Wir wollen, dass Europa mit Russland einen Vertrag schließt, damit dieser Kontinent eine atomwaffenfreie Zone wird. Was spricht eigentlich dagegen? ({6}) Wer fordert uns heraus? Wer bedroht uns, wenn wir das gemeinsam, miteinander beschließen? Keiner! Auch unsere amerikanischen Freunde müssten zustimmen, weil es eine sinnvolle Entscheidung wäre. Von daher sehe ich keinen Widerspruch, und ich sehe auch überhaupt keinen Bruch mit den amerikanischen Interessen. Ich glaube, dass dieser Vorschlag, den wir gemacht haben, für den Zeitraum, bis wir einen entsprechenden Vertrag mit den anderen Mächten ausgehandelt haben, sinnvoll ist. Sie alle – wir haben es oft genug gesagt – wissen ganz genau, dass es um China, Pakistan, Indien, den Iran und Israel geht, wenn wir davon sprechen, dass wir einen langen Weg vor uns haben, um zu einem internationalen Vertrag zu kommen. Überbrücken wir diese Zeit gemeinsam mit Russland! Beenden wir die Sanktionspolitik! Begeben wir uns auf einen Kurs, auf dem wir die Russen in wenigen Jahren nicht an der Seite der Chinesen haben werden! ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.

Armin Paulus Hampel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004735, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Wenn wir das nicht machen, dann werden wir Machtpolitik nämlich in einem anderen Sinne kennenlernen. Ich danke Ihnen. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Der Kollege Dr. Karl-Heinz Brunner, SPD-Fraktion, sowie der Kollege Alexander Müller, FDP-Fraktion, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben. ({0}) Nächste Rednerin ist die Kollegin Katja Keul, Bündnis 90/Die Grünen. ({1})

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Lage ist ernst, todernst. Ein Rüstungskontrollabkommen nach dem anderen zerfällt. Der INF-Vertrag liegt in den letzten Zügen, auch der Nichtverbreitungsvertrag, NPT, steckt fest, weil die Atommächte seit Jahren gegen ihre Abrüstungsverpflichtung verstoßen. Deswegen hat die UN-Vollversammlung zu Recht einen Atomwaffenverbotsvertrag beschlossen. Den boykottiert die Bundesregierung, und sie behauptet, er würde angeblich den Nichtverbreitungsvertrag gefährden. Mit Verlaub: Das ist wirklich Unsinn. Wenn hier irgendjemand den Nichtverbreitungsvertrag gefährdet, dann sind das die Atommächte – und nicht die UN-Vollversammlung. ({0}) Die Linke hat sich leider entschieden, mit ihrem INF-Antrag nur eine der beiden Vertragsparteien aufzufordern, zum INF-Vertrag zurückzukehren. Dem werden wir Grüne so nicht zustimmen. Die Aufkündigung des Atomabkommens mit dem Iran im Mai letzten Jahres ist ein klarer einseitiger und unverantwortlicher Vertragsbruch durch die USA. ({1}) Der Iran hält sich bis heute an das Abkommen und wartet seit einem Jahr auf die angekündigte Unterstützung durch die EU zum Schutz vor den ungerechtfertigten Sanktionen. Bis heute ist aber nichts von dieser Unterstützung bei den Iranern angekommen. Nicht einmal mehr Medikamente und humanitäre Güter können geliefert werden, obwohl sie gar nicht von den Sanktionen erfasst sind, weil sämtliche unserer Banken solche Angst haben, dass niemand mehr irgendwas in oder aus dem Iran überweisen kann. Bis Januar hat es gedauert, bis die Bundesregierung zusammen mit Frankreich und Großbritannien ein alternatives Zahlungssystem namens INSTEX beschlossen hat, das bis heute nicht funktionsfähig ist. Jetzt läuft die Zeit ab, und die moderaten Kräfte im Iran, die das Atomabkommen gegen viel Widerstand durchgesetzt haben, stehen mit dem Rücken an der Wand. Die Hardliner sehen sich hingegen bestätigt und triumphieren, weil sie schon immer gesagt haben, dass man den Amerikanern nicht trauen kann. Was für ein Fiasko! ({2}) Wir waren in der letzten Woche mit einer Delegation des Unterausschusses in Teheran. Unsere Botschaft an die Iraner war, dass sie auf keinen Fall die roten Linien des Vertrags überschreiten dürfen, weil sie dann zwangsläufig unsere Unterstützung und die der EU verlieren würden. Und dann mussten wir uns von unseren Gesprächspartnern anhören, dass sie dazu dringend unsere Unterstützung brauchen, damit sie innenpolitisch erklären können, warum sie an einem Vertrag festhalten, bei dem die Gegenleistung ein Totalausfall ist. Wir seien ja offensichtlich nicht in der Lage, ohne das Einverständnis der USA zu handeln. Was soll ich sagen? Wir stehen mit 28 Staaten – in diesem Fall sogar geschlossen – im Wort. Das ist eine Wirtschaftsmacht von 500 Millionen Menschen, und wir sind nicht in der Lage, auch nur die geringste Finanztransaktion durchzuführen. Das muss uns aufrütteln, und das darf künftig nicht so bleiben. ({3}) Für diese Krise mag es dann möglicherweise schon zu spät sein; denn die diversen Vorkommnisse in der Region zeigen uns, dass die Lage tatsächlich aus dem Ruder läuft. Die Bundesregierung muss jetzt alles – wirklich alles – dafür tun, um INSTEX zum Laufen zu bekommen und bis zum Monatsende erste Geschäfte darüber abzuwickeln. Dass wir in dieser Krise ausgerechnet auf Trump hoffen müssen, damit er sich von Bolton nicht in einen Krieg treiben lässt, den niemand gewinnen kann, zeigt, wo wir gelandet sind. ({4}) Trotz der Dramatik der aktuellen Krise will ich noch ein paar Worte zu einem weiteren der hier aufgesetzten Anträge sagen. Es gibt außer Nuklearwaffen nämlich noch andere künftige Waffensysteme, deren Entwicklung wir gar nicht erst zulassen sollten. Seit 2013 wird im Rahmen der Vereinten Nationen über die Aufnahme von Verhandlungen über die Ächtung von letalen autonomen Waffensystemen – sogenannten Killerrobots – gesprochen. In Ihrem eigenen Koalitionsvertrag erklären Sie, solche Waffensysteme ächten zu wollen. Die Bundesregierung hat sich in Genf aber leider gegen Verbotsverhandlungen ausgesprochen und bevorzugt lediglich eine unverbindliche politische Erklärung. Dabei wird die Zeit für ein vorbeugendes Verbot immer knapper. Es ist doch Irrsinn, zu glauben, man könne die technische Entwicklung schnell noch selbst aufholen, bevor man sie dann international ächtet. Machen wir den Fehler, den wir schon bei der Entwicklung der Atomwaffen gemacht haben, nicht noch einmal! Vielen Dank. ({5})

Volkmar Uwe Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003650, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beraten jetzt den Baukulturbericht 2018/19, und ich möchte an dieser Stelle den Mitarbeitern und dem Vorstand der Bundesstiftung Baukultur herzlich danken – ({0}) nicht nur, aber auch für den nunmehr vorgelegten dritten Baukulturbericht. Er ist klar in der Analyse, weitreichend auch für das gesamte Land, und er gibt uns – das ist besonders wichtig – Handlungsempfehlungen für unsere politischen Entscheidungen – sowohl des Parlaments als auch der Bundesregierung und unseres Ministeriums. Ich will zwei Beispiele dafür nennen, wo das hervorragend geklappt hat: Erstens. Wir haben in der letzten Legislaturperiode die Baunutzungsverordnung geändert und das sogenannte urbane Gebiet eingeführt. Damit erreichen wir durchmischte Gebiete, eine bessere Verzahnung von Wohnen und Arbeiten und natürlich auch ein besseres soziales Gefüge. Zweitens. Ähnliches haben wir in dieser Legislaturperiode gemeinsam in der Koalition mit den dörflichen Kerngebieten vor, wo wir Arbeiten und Wohnen besser miteinander verbinden wollen und wo auch die Möglichkeit der Nutzung von Baureserven sowie Lückenbebauungen und Ähnliches – insbesondere auch die Umnutzung von nicht mehr gebrauchten auch landwirtschaftlichen Anlagen – im Fokus stehen. All das dient dazu, dass wir zum einen keine langweiligen städtischen Quartiere haben, und zum anderen wollen wir natürlich auch keine Schlafdörfer. Deswegen ist der aktuelle Baukulturbericht nach dem Motto „Erbe – Bestand – Zukunft“ aufgebaut. Mit „Erbe“ sind die Tradition und unsere gebaute Heimat angesprochen. Sie gilt es im Bestand zu erhalten und vor allen Dingen zukunftstüchtig zu machen und weiterzuentwickeln. All das beinhaltet der vorliegende Baukulturbericht. Ich will ein Beispiel aus meiner Heimat nennen: Das Rutheneum in Gera ist eines der ältesten Gymnasien. Es geht zurück bis ins 18. Jahrhundert, liegt im Stadtzentrum und lag lange Zeit in Teilen brach. Auch mithilfe des Bundesprogramms „Nationale Projekte des Städtebaus“ ist es gelungen, in der Mitte der Stadt ein ansehnliches Gebäude zu schaffen, das den Bedingungen eines modernen Gymnasiums, einer modernen Bildungseinrichtung, entspricht. Das ist ein Grund mehr dafür, dass wir in der Koalition uns dafür einsetzen, das Bundesprogramm „Nationale Projekte des Städtebaus“ als Förderprogramm zu erhalten, fortzusetzen und zu verstetigen. Genauso sind das Europäische Jahr des Kulturerbes, das wir im vergangenen Jahr begangen haben, und „100 Jahre Bauhaus“ in diesem Jahr Belege dafür, dass Erbe, Tradition und gebaute Heimat für uns wichtig sind. Ich komme zum Antrag unserer Koalition und zu den entsprechenden Aufträgen auch an die Regierung. Ich glaube, es ist wichtig, dass die Handlungsempfehlungen, die auch im aktuellen Bericht gegeben worden sind, Grundlage sein sollten für unsere politischen Entscheidungen, für unsere Arbeit. Das können wir nicht alleine tun, wir brauchen dazu auch die Bundesländer. Deshalb ist es wichtig, dass die Bauministerkonferenz sich dieses Themas annimmt und sich mit den entsprechenden Handlungsempfehlungen beschäftigt. Aber lassen Sie mich auch, gemeinsam mit unserem Koalitionspartner, den Blick nach vorn richten, mit dem Baukulturbericht 2020/21. Hier geht es insbesondere um den öffentlichen Raum, der öffentliche Raum steht im Fokus, er wird wichtiger denn je. Das betrifft Freiflächen, auch Grünflächen, auch in Bezug darauf, dass man für die Inanspruchnahme von Grund für bauliche Anlagen für Ersatz und Ausgleich sorgen muss. ({1}) Hier ist die Frage der Nutzung der Kompensationsverordnungen und der Regelungen, die dort für Ersatz und Ausgleich gelten, von zentraler Bedeutung. Man muss nicht unbedingt alles an Ersatz und Ausgleich auf der grünen Wiese, auf dem freien Feld realisieren. Ich bin überzeugt, man kann damit auch in die Städte gehen, in die Innenstädte. Begrünung sowohl vertikal als auch horizontal sind Möglichkeiten, die man hier nutzen kann. Meine sehr verehrten Damen und Herren, in diesem Zusammenhang: Wenn es um öffentliche Räume geht, geht es auch um neue Mobilität. Wir müssen dem Rechnung tragen. Zur Mobilität in der Stadt gehört das Thema, wie wir mit Fahrrädern, mit Leihrädern umgehen – oder auch mit den Elektrorollern, die wir jetzt auf unseren Straßen sehen. Mit Blick auf den Klimaschutz geht es auch um die klimatischen Bedingungen in unseren Städten; sie werden in Zukunft eine große Rolle spielen. Wenn man weiß, welche Möglichkeiten durch die Grünbepflanzung mit Bäumen und dergleichen im Richtung Reduzierung des Feinstaubs gegeben sind, erkennt man: Das ist ein wichtiger Aspekt. Dieser Aspekt wird im Rahmen des Baukulturberichtes, der jetzt erarbeitet wird, zu untersuchen sein. Ein weiterer Aspekt sind natürlich auch Gewerbegebiete und Industriebauten – ein Feld, das bis jetzt wenig beackert ist, aber wo unbedingt Handlungsbedarf besteht. An dem, was ich alles aufzähle, sieht man, dass seitens der Bundesstiftung Baukultur der Handlungsbedarf und die Aufgaben doch enorm sind. Lassen Sie mich sagen – auch in Richtung der Kollegen vom Haushaltsausschuss, die der Debatte vielleicht noch folgen –: Wir sollten uns aufgrund der vielfältigen Aufgaben auch Gedanken darüber machen, wie wir mit der Personalausstattung und den entsprechenden Sachmittelzuschüssen für unsere Stiftung weiter umgehen. ({2}) Lassen Sie mich zum Ende noch kurz darauf eingehen, dass wir die Bundesstiftung Baukultur bereits haben und dass wir die Bundesstiftung Bauakademie in der ehemaligen Schinkelschen Bauakademie entwickeln wollen. Ich glaube, das Alleinstellungsmerkmal der Bundesstiftung Baukultur ist, dass auf der einen Seite Architekten, Ingenieure im Besonderen, die Bauindustrie im Allgemeinen und auf der anderen Seite wir als Parlament, genauso die Regierung in einer Stiftung zusammenarbeiten, den Dialog pflegen und auf diese Art und Weise zu guten Entscheidungen kommen, zu guten Handlungshinweisen. ({3}) Gerade das hat sich bewährt. Die Bundesstiftung Baukultur ist ja eine Stiftung, die insbesondere im gesamtgesellschaftlichen Kontext alle Teile des Baubereichs – Erbe, Bestand und Zukunftsentwicklung – behandelt. Die Bundesstiftung Bauakademie handelt im guten Erbe und in der Tradition von Schinkel. ({4}) Deswegen wäre mir lieber, die Bauakademie hieße „Neue Schinkelsche Bauakademie“. ({5}) Natürlich wird sie im alten Gebäude stattfinden. Sie soll die Tradition von Schinkel fortsetzen, die insbesondere mit der Entwicklung neuer Techniken, mit der Anwendung neuer Bautechnologien beschäftigt war und ein Stück weit der Vorläufer der Bauaufsicht, wie wir sie in unserer heutigen Zeit haben, war. Daraus ergeben sich enorm viele Berührungspunkte zwischen der Bundesstiftung Baukultur auf der einen Seite und der Bundesstiftung Bauakademie auf der anderen Seite. Es sollte unser gemeinsamer Wille sein, jedenfalls in der Koalition, diese Berührungspunkte für eine intensive Kooperation zu nutzen. Wir wollen das ausdrücklich unterstützen. ({6}) Es gibt heute auch einen Antrag seitens der Kollegen der Grünen, der sich aber sehr konkret mit der Flächen­inanspruchnahme beschäftigt. Das ist sicherlich auch sehr interessant. Aber hier ist das geeignetere Forum, wenn das Ergebnis der Baulandkommission vorliegt, sich dieses Themas anzunehmen. ({7}) Deswegen werden wir diesen Antrag heute ablehnen. Darum, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen: Funktionales Bauen im Einklang mit Kultur, Ästhetik als Gesamtensemble ist und bleibt zentrale Aufgabe der Baukultur. Deswegen sage ich: Gut, dass wir die Bundesstiftung Baukultur haben. An die Architekten, Ingenieure und an die Bauwirtschaft sage ich: Weiter auf gute Zusammenarbeit! Vielen Dank. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächster Redner spricht zu uns der Kollege Frank Magnitz, AfD-Fraktion. ({0})

Frank Magnitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004810, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Werte Kollegen! Liebe Zuschauer! Ich will es kurz machen zu dieser vorgerückten Stunde, aber trotzdem einige grundsätzliche Erwägungen zum Bauen anstellen. Der Begriff „Baubestand“ bezeichnet nicht nur eine bloße Ansammlung von Gebäuden, er definiert das Gesicht des Ortes, in dem sich dieser Bestand befindet, er definiert Heimat. Gebäude sind die Zeugen der Kultur und der Geschichte eines Landes. Deswegen dürfen Veränderungen nur behutsam durchgeführt werden. Die Verantwortung für diese Veränderungen wird leider nur allzu oft vernachlässigt. Davon zeugt auch die Stellungnahme der Bundesregierung: Trotz wortreicher Einlassungen zu allen möglichen Bereichen scheut die Bundesregierung die eindeutige Festlegung, welche Kultur und Identität in unserer gebauten Umwelt auch künftig tonangebend und richtungsweisend sein soll. Ebenfalls taugt der häufig verwandte Begriff der europäischen Stadt nicht zur identitätsstiftenden Erhellung. Weder das Toskana-Haus noch das norwegische Holzhaus schafft dem Deutschen das Gefühl von Heimat. Unsere Aufgabe ist nicht europäisch zu lösen, nein, sie ist spezifisch deutsch; für Deutsche haben wir vordringlich unsere Politik zu machen. ({0}) – Dazu komme ich gleich. – Es fehlt trotz gegenteiliger Beteuerungen das Bewusstsein – vielleicht auch das Verständnis – für die identitätsstiftende Wirkung von Gebäuden. Jedem würde auffallen, dass ein Fachwerk-Reetdach-Haus im traditionellen Baustil der norddeutschen Tiefebene im Alpenvorland nichts zu suchen hat. ({1}) Ein solches Haus wäre dort ein Störfaktor, es wäre künstlich, hat keinen Bezug zur Kultur und Geschichte dieses Standortes. Ein Kirchturm ist ein Kirchturm und ein Schwimmbad ein Schwimmbad, ({2}) ohne weitere Nachfragen in ihrer Funktion zu erkennen. Form und Funktion sind nicht voneinander zu trennen. ({3}) Genauso verhält es sich zum Beispiel mit Moscheen. ({4}) Kein Wunder, dass diese Bauvorhaben oft mit massiven Protesten aus der Bevölkerung einhergehen. ({5}) Schließlich manifestiert sich Identität an Architektur – die in diesem Beispiel aber nichts mit der deutschen Identität zu tun hat. ({6}) Die heftige Ablehnung von unpassend empfundenen Großprojekten führt häufig zur Gründung von Bürgerinitiativen zu deren Verhinderung. Man erkennt hieran, wie sehr den Menschen ihre gestaltete Umwelt am Herzen liegt, ({7}) siehe Stuttgart 21. ({8}) Weder der Baukulturbericht noch die sich darauf beziehenden Entschließungsanträge gehen in ausreichendem Maße darauf ein, wie wichtig die Rücksichtnahme auf kulturelle, historisch gewachsene Raumzusammenhänge ist. ({9}) – Ich sehe das etwas anders. – Unsere erlebte Umgebung ist es aber, die einen entscheidenden Anteil an der mentalen Gesundheit, an der Lebensfreude hat, ({10}) sie ist quasi der Grund dafür, in diesem Land gut und gerne schon länger leben zu wollen. ({11}) – Ja, auch; daher kommt nämlich der Strom, der sichere. Der vorliegende Bericht und die Stellungnahme der Bundesregierung sind eine reine Zusammenstellung und Sammlung von Zahlen und Daten, die in mancherlei Hinsicht verkürzte Interpretationen liefern. So bemängeln 55 Prozent der Befragten das Fehlen von Fahrradwegen und 52 Prozent das Fehlen von Parkplätzen; das mündet dann in die Aussage: In der Bevölkerung werden vor allem mehr Fahrradwege gewünscht. Der Wunsch nach mehr Parkplätzen wird komplett unterschlagen. Solche tendenziösen Schlussfolgerungen sind im Gesamtwerk keine Seltenheit. Unsere gebaute Heimat hat ihre Wurzeln in der abendländisch-christlich-jüdischen Kultur, die zu einer jeweils eigenständigen, regionalen Bautradition entwickelt wurde. Dazu fordern wir von der Bundesregierung ein klares Bekenntnis. Kurz noch zu dem Aspekt Verkehr. Meine Damen und Herren, hören wir doch auf mit dem ständigen Individualverkehr-Bashing – überlassen wir es der freien Entscheidung der Menschen, wie sie sich fortbewegen möchten und können. ({12}) Verdrängt wird seit geraumer Zeit gerne, dass es die Massenmotorisierung war, die individuelle Freiheit und Lebensqualität gebracht hat. Nie zuvor hatten die Menschen so viele Möglichkeiten, die Welt auf eigene Art zu er‑fahren. Nicht zu vergessen, –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Frank Magnitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004810, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich bin sofort fertig.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Sie haben noch einen Satz.

Frank Magnitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004810, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

– dass ohne die vielfältige Ausstattung mit privaten Fahrzeugen die Transportaufgaben einer modernen, entwickelten Gesellschaft gar nicht lösbar wären. Danke. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Kollegin Ulli Nissen, SPD-Fraktion, der Kollege Hagen Reinhold, FDP-Fraktion, und die Kollegin Heidrun Bluhm-Förster, Fraktion Die Linke, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben. ({0}) Als nächste Rednerin rufe ich die Kollegin Daniela Wagner, Bündnis 90/Die Grünen, auf. ({1})

Daniela Wagner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004184, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Verehrter Herr Magnitz, die europäische Stadt hat weder etwas mit skandinavischen Holzhäusern noch mit toskanischen Villen zu tun, sondern ist gekennzeichnet durch Vielfalt auf kleinem, engstem Raum und optimale Nutzung der Fläche; das ist zum Beispiel ein Aspekt von europäischer Stadt – wenn ich Ihnen das einmal mit auf den Weg geben kann. ({0}) Der Baukulturbericht „Erbe – Bestand – Zukunft“ ist ein wichtiger Beitrag in der Debatte über die Frage „In welchen Städten wollen wir in Zukunft leben?“. Wir wissen alle – außer Ihnen von der AfD vielleicht –, dass es hierauf keine pauschale Antwort geben kann; denn die Herausforderungen sind vor Ort völlig unterschiedlich: Einige Städte platzen aus allen Nähten, andere haben mit massiver Abwanderung zu tun. Gemeinden sind vom Donut-Effekt – also hohen Leerständen im Ortskern aufgrund neuer Baugebiete im Außenbereich – betroffen. Hinzu kommen Aspekte wie Klimaschutz, Digitalisierung, in Großstädten Wohnraummangel, Energie- und Verkehrswende, also auch Nachhaltigkeitsziele, und letztendlich auch Integration verschiedenster gesellschaftlicher Gruppen in unseren Städten; das sind die Herausforderungen für alle Kommunen. Ein Anker der örtlichen Verbundenheit und etwas, was mit dem Begriff „Heimat“ in Verbindung gebracht wird, ist oft einfach nur ein bestimmtes Gebäude oder ein Ort aus der Kindheit. Das hat nichts mit Moscheen oder Kirchen oder Synagogen zu tun. Die Schließung alteingesessener Geschäfte, der Verlust von Natur, aber auch seelenlose Neubauten – die übrigens von Istanbul über Florenz bis nach Frankfurt in der Regel völlig gleich aussehen, ohne Rücksichtnahme auf das baukulturelle Erbe vor Ort –, das bedeutet oft einen Verlust von Heimat. ({1}) Die in den Fokusthemen des Berichts aufgearbeiteten Handlungsfelder und Empfehlungen sollte sich die Bundesregierung dringend zu Herzen nehmen und in reale Politik umsetzen, ({2}) zum Beispiel beim Flächenverbrauch; immer noch werden 60 Hektar am Tag verbraucht. Damit sind wir von dem Ziel „30 Hektar“ am Tag immer noch meilenweit entfernt. Ziel muss ein Wohn- und Lebensumfeld sein, das sich sowohl an menschlichen Ansprüchen als auch an Zukunftsaufgaben orientiert. Deswegen fordern wir mit unserem Antrag die Bundesregierung auf, die Innenentwicklung zu stärken und den Verlust von Heimat aufgrund von Flächenverbrauch und leerfallenden Ortskernen einzudämmen. ({3}) Es gilt, leerfallende Innenstädte und Ortskerne zu beleben, zum Beispiel alte Bestände mit spannenden neuen Inhalten zu füllen, leerstehende Gebäude zu aktivieren. Zusätzlich sollte in das Baugesetzbuch das Innenentwicklungsgebiet eingeführt werden. Das würde es Kommunen ermöglichen, Baulücken, Brachflächen und andere Flächen für öffentlichen und privaten Wohnungsbau zusammenhängend zu aktivieren, einen Anteil öffentlicher Nutzungen wie Freiräume und anderes mehr, Mobilitätsinfrastruktur mit vorzusehen. Lassen Sie mich sagen: Das sollte sich auch erstrecken auf Flächen, die nach § 34 Baugesetzbuch bebaut werden können, sollte auch dort anwendbar sein. ({4}) Noch einen letzten Punkt. Sie sollten nicht länger den baurechtlichen Grundsatz „Innenentwicklung vor Außen­entwicklung“ unterlaufen. Streichen Sie § 13b – Einbeziehung von Außenbereichsflächen in das beschleunigte Verfahren – aus dem Baugesetzbuch. Helfen Sie dabei, Ortskerne in strukturschwachen oder ländlichen Räumen zu stärken, Heimat zu erhalten, anstatt sie zuzubetonieren! Da würden Sie sich ein riesiges Verdienst an unseren Städten und Dörfern in Deutschland erwerben. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Die Kollegen Michael Kießling, CDU/CSU-Fraktion, und Bernhard Daldrup, SPD-Fraktion, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben. ({0}) Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bauen, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommunen zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung über den Baukulturbericht 2018/2019 der Bundesstiftung Baukultur mit Stellungnahme der Bundesregierung. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/11191, in Kenntnis der Unterrichtung auf Drucksache 19/5300 eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Dann ist diese Beschlussempfehlung bei Enthaltung der Fraktionen der FDP und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktionen AfD und Die Linke mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/11195. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Bei Enthaltung der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist mit den Stimmen der anderen Fraktionen des Hauses der Entschließungsantrag abgelehnt.

Peter Stein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004416, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das ist ein schönes Thema zu so später oder, man kann sagen, früher Stunde. „EINEWELT ohne Hunger ist möglich“, das ist eine sehr erfolgreiche und gut lancierte Sonderinitiative des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Auf dem Weg dorthin sind wir schon mehrere Schritte gemeinsam gegangen, wir haben Anträge gestellt. Heute liegt Ihnen ein Antrag zur Agrarökologie vor. Ich möchte in aller Kürze drei Punkte herausheben. Das eine ist: Es adressiert sich natürlich im Kern an das Kleinbauerntum. – Hier wird gequatscht hinter mir; Entschuldigung. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, ich habe jetzt Ihre Zeit angehalten. Wir sind gerade noch dabei, den Ablauf des heutigen Morgens – wir haben ja 0.32 Uhr – zu organisieren, weil es zwischen der AfD-Fraktion und mir als Präsidenten, was die Bereitschaft angeht, eine Rede zu halten oder sie nicht zu halten, offensichtlich ein Missverständnis gab.

Peter Stein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004416, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gut; herzlichen Dank für die Aufklärung. – Das Kleinbauerntum ist in einer regional sehr unterschiedlichen Situation. Unterschiedliche Traditionen, unterschiedliche Rahmenbedingungen, beispielsweise Flächengrößen oder auch familiäre Situationen, rechtliche Rahmenbedingungen: all das ist zu berücksichtigen. Wir wollen natürlich nicht, dass die Kleinbäuerinnen und Kleinbauern in Zukunft, in den nächsten zehn, 20, 50 Jahren, weiterhin hinter dem Holzpflug hergehen müssen; wir wollen natürlich, dass dort eine Entwicklung stattfindet. Wir wollen, dass das Kleinbauerntum erhalten bleibt. Wir wollen aber auch, dass es einen entscheidenden Beitrag dazu liefern kann, nicht nur die Ernährung auf den Dörfern, sondern auch der stark wachsenden städtischen Bevölkerung sicherzustellen. Dazu gehört eine ganze Menge. Die Agrarökologie trägt dazu bei, indem sie einen Werkzeugkasten liefert, der die Menschen in die Lage versetzt, Dinge zu verbessern, ohne mit Traditionen zu brechen, ohne Strukturen zu zerstören und ohne die Menschen zu nötigen, ihre Parzelle zu verlassen und ihr Heil und Glück in der Stadt zu suchen. Dazu gehört Ausbildung, dazu gehört technische Ausstattung. Dazu gehört sicherlich nicht allein, den Menschen einen Traktor zu liefern; man muss auch schauen, dass die Strukturen zu diesem Traktor passen, dass nicht eine Riesenmaschine für eine kleine Parzelle geliefert wird, dass sich vielleicht beispielsweise ein Traktorsharing herausbildet, dass technische Wartung möglich ist, dass die Produkte, die dazu nötig sind, Saatgut beispielsweise, verbessert werden, aber parallel dazu auch eine bessere Ausbildung im Umgang mit Düngemitteln stattfindet. Alles das gehört dazu, alles das gehört zum agrarökologischen Ansatz; deshalb dieser sehr umfangreiche Antrag. Einen Punkt habe ich schon angesprochen, der mir als zweiter wichtig ist: die Versorgung der Bevölkerung in den Städten. Dazu brauchen wir den ländlichen Raum. Deshalb sage ich immer wieder: Die Bevölkerungsentwicklung, gerade in Afrika, findet in der Dimension sicherlich in den urbanen Gebieten statt; das heißt aber nicht, dass sich der ländliche Raum deswegen zwangsläufig komplett entleert. Im Idealfall bleibt die Bevölkerungsdichte so erhalten, wie es nötig ist, um die Landwirtschaft aufrechtzuerhalten und die Menschen in dem Land zu versorgen. Auch das muss Teil dieses Ansatzes, dieses Konzeptes sein. Als Letztes möchte ich noch etwas zur Tradition sagen. Alle, die in diesem Bereich unterwegs sind, erleben auf den Delegationsreisen immer wieder sehr unterschiedliche Situationen. Wir haben beispielsweise bei Ebola erlebt, was Tradition bedeutet, wenn Menschen im Umgang mit ihren Kranken bzw. Toten plötzlich vor die Situation gestellt werden, von heute auf morgen mit den Traditionen brechen müssen, um ein System zu verbessern. In der Landwirtschaft ist es natürlich so: Man ändert ein System nicht von heute auf morgen, und man greift auch nicht von heute auf morgen in Traditionen ein. Aber die Menschen entwickeln sich fort. Die sehr stark wachsende jüngere Bevölkerung hat andere Ansprüche, hat andere Ziele und Visionen für ihr Leben. Diesen Teil der Gesellschaft zu motivieren, trotzdem in der Landwirtschaft zu bleiben, heißt natürlich auch: Wir müssen die Lebensbedingungen und die Einkommensverhältnisse, aber genauso auch Bildung und Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum verbessern. Alles das gehört dazu, alles das ist Teil dieses Antrages. Ich bitte um Zustimmung. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Herr Kollege Stein. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Dietmar Friedhoff, AfD-Fraktion. ({0})

Dietmar Friedhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004719, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Herr Stein, das waren wieder einmal gute Gedanken. Aber wieder einmal geht es um einen CDU/CSU-SPD-Antrag, der in höchstem Maße das Machbare und die Realität ausblendet. Dieser Ansatz möchte nicht nur Hunger bekämpfen, sondern auch Mangelernährung. Seit 70 Jahren – ich wiederhole: seit 70 Jahren – schaffen Sie es mit Ihrer fehlgeleiteten Entwicklungspolitik nicht – auch nicht annähernd –, den Hunger auf dieser Welt zu bekämpfen. ({0}) Was jetzt von Ihnen kommt, ist verrückt: Sie zeigen nicht auf, wie das Mindestziel erreicht wird – weil Sie es nicht können. Und nun legen Sie eine Schippe drauf: Aus dem Kampf gegen Hunger machen Sie nun den Kampf gegen Mangelernährung. Zu den Fakten. Alle zehn Sekunden stirbt auf der Welt ein Kind an Hunger. In absoluten Zahlen: Es leiden mehr Menschen an Hunger als vor 25 Jahren. Von 7,7 Milliarden Menschen hungern 800 Millionen Menschen, 780 Millionen davon in Entwicklungsländern – 80 Prozent davon leben auf dem Land –: Menschen, die durch Krieg, Zerstörung und Ressourcenabbau zum Spielball von korrupten Regimen, ideologischen Glaubenskriegern und machtbesessenen Industriestaaten werden. Es sind die Ärmsten, die leiden. Deswegen geht es nicht darum, den Hunger zu bekämpfen, Herr Stein, sondern die genannten Ursachen zu erkennen und zu bekämpfen. Im Jahr 2050 wird die Weltbevölkerung um 3 Milliarden Menschen gewachsen sein, hauptsächlich in Entwicklungsländern und auf dem Land. Wie viele Menschen werden dann hungern, Herr Stein? 2 Milliarden? 3 Milliarden? 4 Milliarden? Nun möchte dieser Antrag ja nicht den Hunger bekämpfen – was Sie ja seit 70 Jahren nicht schaffen –, er möchte die Mangelernährung bekämpfen. Derzeit leiden auf der Welt 2 Milliarden Menschen an Mangelernährung. Im Jahr 2050 werden es vermutlich 3 Milliarden, 4 Milliarden oder 5 Milliarden Menschen sein. Ist es nun Ihr vorrangiger Auftrag, sich dieses Problems – lösbar oder nicht – anzunehmen, Herr Stein, oder ist das nicht die Aufgabe der betroffenen Staaten in Eigenverantwortung? Eines steht doch fest: Wir sind nicht die Regierung dieser Länder. ({1}) Sollte es nicht unsere Aufgabe sein, das von Ihnen beschriebene Problem erst einmal bei uns, im eigenen Land, zu lösen? Jetzt werden einige fragen: Oh, haben wir das Problem auch? – Zwar ist chronische Unterernährung in Deutschland äußerst selten; doch die Menschenrechtsorganisation FIAN hat beobachtet, dass immer mehr Menschen in Deutschland nicht in der Lage sind, sich angemessen und in Würde zu ernähren. Besonders betroffen sind Kinder aus Hartz-IV-Haushalten und Rentner. In Deutschland, Herr Stein, können sich circa 500 000 Kinder nicht in Würde ernähren. An dieser Stelle möchte ich einmal den Tafeln und ihren vielen freiwilligen Helfern meinen Dank aussprechen. Circa 1 000 Tafeln mit 3 000 Ausgabestellen und 60 000 ehrenamtlichen Mitarbeitern sorgen dafür, dass in einem der reichsten Länder der Welt, in Deutschland, 1,5 Millionen Menschen überhaupt eine Möglichkeit haben, sich irgendwie zu ernähren. ({2}) Hier zeigt sich das ganze Versagen unseres Staates, Ihrer Politik, der Politik von CDU/CSU, SPD und der Bundeskanzlerin.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Dietmar Friedhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004719, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Kümmern Sie sich zuerst um die Menschen, denen Sie verpflichtet sind, ({0}) und das sind – –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, ich habe Ihnen gerade das Wort entzogen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Kollege Dr. Sascha Raabe, SPD-Fraktion, hat seine Rede zu Protokoll gegeben. Als nächster Redner spricht zu uns der Kollege Dr. Christoph Hoffmann. ({0})

Dr. Christoph Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Kollegen, Ihr Antrag zur Agrarökologie ist nicht mehr als ein seichtes Geblubber ohne wirklichen Willen zur Veränderung. ({0}) Ich habe echt kein Verständnis mehr für unpräzise Regierungsgedanken zu Themen, die den Menschen eigentlich auf den Nägeln brennen. Sie schauen weg – Sie haben jahrelang weggeschaut – bei der Entwicklung in Afrika, bei der Kriminalität bei uns, bei Rechtsextremismus, bei Migration und beim Klimaschutz, immer weggeschaut. Das bringt die Gesellschaft in Deutschland in ein gefährliches Fahrwasser. ({1}) Ihr Antrag ist ein Verhaften in der Vergangenheit, das an der Wirklichkeit vorbeigeht. Der YouTuber Rezo hat es mit seinem Video „Die Zerstörung der CDU“ voll getroffen: zu viele alte Köpfe auf jungen Körpern und keine Strategie. Seien Sie sicher, meine sehr geehrten Damen und Herren, das, was Sie hier fordern, geht an der Lebenswirklichkeit in Afrika deutlich vorbei. Die Agrarökologie ist wahrlich keine Wunderwaffe gegen den Hunger. Was Sie beschreiben, ist nichts anderes als die dort sowieso existierende Subsistenzlandwirtschaft, erweitert um einen akademischen Komposthaufen. ({2}) Das geht wirklich an der Lebenswirklichkeit und den Problemen vorbei. In einer Zeit, in der China in Afrika investiert und mit der Neuen Seidenstraße Afrika erobert, fordern Sie mehr Komposthaufen für Afrika – passt das wirklich zusammen? ({3}) Schauen wir einmal auf uns: Noch vor Jahren gab es in den ländlichen Gebieten in Deutschland so gut wie in jedem Haushalt einen Komposthaufen. Heute gibt es die braune Tonne, mit viel Energie wird alles in der Gegend herumgekarrt, Klärschlamm wird verbrannt. Ist das die vorbildliche Kreislaufwirtschaft, die Sie nun von anderen fordern? ({4}) Oder nehmen wir die Lebensmittelverschwendung, die überall zu Recht beklagt wird. Auch dagegen wird diese Regierung sicherlich noch ein bürokratisches Gesetz vorlegen. Früher gab es auf jedem Landgasthof zwei Schweine. Die Speisereste sind abgekocht und an die Schweine verfüttert worden, und das Schwein kam später als Schnitzel oder Schinken auf den Tisch. ({5}) Das war eine prima Kreislaufwirtschaft, eine Kreislaufwirtschaft, die Sie in dem Antrag so treffend beschreiben und nun von anderen fordern. Wer hat diese Kreislaufwirtschaft der Landgasthöfe bei uns kaputtgemacht mit hysterisch übertriebenen Hygienevorschriften? Das waren doch Sie. ({6}) Niemand anders als Sie hat das zu verantworten. Es ist die Bürokratie, die Sie verordnet haben und die diese Betriebe umbringt. Deshalb haben wir keine Dorfmetzgereien mehr. Die Ursache für Hunger sind heute Kriege und bewaffnete Konflikte, nichts anderes; hier machen Sie viel zu wenig und zu wenig Entscheidendes. Daran müssen wir arbeiten. Die Despotenhilfe muss endlich aufhören. Europa und Deutschland müssen viel entschiedener auftreten, –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Christoph Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

– um Konflikte zu vermeiden und zu beenden. Warum fährt Frau Merkel auch ein Jahr nach unserer Debatte –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Dr. Hoffmann, kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Christoph Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

– über Kamerun nicht dorthin, um Frieden zu stiften? Ich danke Ihnen. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Danke sehr. – Die Kollegin Eva-Maria Schreiber, Fraktion Die Linke, die Kollegin Renate Künast, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, und der Kollege Dr. Wolfgang Stefinger, CDU/CSU-Fraktion, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben. Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD mit dem Titel „Nachhaltige Entwicklungsziele erreichen – Potenziale aus der Agrarökologie anerkennen und unterstützen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/11022, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 19/8941 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist diese Beschlussempfehlung bei Enthaltung der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen der Fraktionen der AfD und von Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen von CDU/CSU-, SPD- und FDP-Fraktion angenommen.

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dies ist eine besondere, eine historische Nacht. Exakt in diesen Stunden vor 50 Jahren fanden die Stonewall Riots in New York statt, wo mutige LGBTI aufgestanden sind gegen brutale Polizeiwillkür. Das war eine der Geburtsstunden der queeren Emanzipationsbewegung. Blicken wir auf Deutschland. Vor 100 Jahren hat Magnus Hirschfeld sein Institut für Sexualwissenschaft gegründet und war als Wissenschaftler und als Aktivist ein Geburtshelfer der deutschen Homosexuellenbewegung, die von der nationalsozialistischen Diktatur brutal zertrümmert wurde. Erst vor 25 Jahren gab es in Deutschland die restlose Abschaffung des § 175 und damit die Entkriminalisierung schwuler Männer in Deutschland. Und morgen vor zwei Jahren haben wir die Ehe für alle geöffnet. ({0}) Deutschland hat also vor der eigenen Haustür gekehrt. Deutschland hat lange gebraucht bis zur Gleichstellung. Das haben LGBTI-Aktivistinnen und ‑Aktivisten erkämpft und erreicht. Es gibt jedoch noch viel zu tun. Aus der Geschichte, aus dem Grundgesetz und aus der Universalität der Menschenrechte erwächst die Verantwortung, weltweit klarzumachen: Liebe ist Liebe und kein Verbrechen. ({1}) In über 70 Staaten werden LGBTIs kriminalisiert, bestraft dafür, wer sie sind, wen sie lieben, wie sie leben. Sechs Länder vollstrecken die Todesstrafe für gleichgeschlechtliche Handlungen. Nicht Homosexuelle sind pervers, sondern die Verfolgung, der sie vielerorts ausgesetzt sind. ({2}) Ich sage hier sehr klar: Je autoritärer ein Staat, umso höher sind die Diskriminierungsrisiken für LGBTIs. Ob Gewalt, Morde, „Homo-Propaganda“-Gesetze, Anti-NGO-Gesetze oder CSD-Verbote: damit muss Schluss sein. LGBTI-Rechte sind Menschenrechte. ({3}) Deutschland muss als internationaler Partner und einflussreiches EU-Mitglied Vorreiter für den Schutz und die Rechte sexueller und geschlechtlicher Minderheiten werden. In unserem Antrag zeigen wir viele Stellschrauben auf, zum Beispiel die Ächtung der Todesstrafe, Sanktionen gegen Regime und Machthaber, die LGBTIs verfolgen, eine Verschärfung des EU-Rechtsstaatsmechanismus, LGBTI-inklusive Konzepte bei der Entwicklungszusammenarbeit und in der auswärtigen Politik nach den Yogyakarta-Prinzipien. Die LGBTI- und Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten müssen besser geschützt werden, notfalls auch mit humanitären Visa. Homosexualität ist hier in Deutschland auch klar ein Asylgrund. Ich sage hier auch: Länder, die unsicher sind für LGBTIs, können keine sicheren Herkunftsstaaten sein. ({4}) Das alles und viel mehr finden Sie in unserem Antrag. Wir wollen weltweit sexuelle und geschlechtliche Selbstbestimmung. Wir wollen den Druck auf Verfolgerstaaten erhöhen. Und wir wollen mehr Freiheitsgewinnerländer wie zuletzt Ecuador, Bhutan, Taiwan, Botswana. Wir wollen mehr dieser „Good News“ weltweit. Denn ­LGBTIs sind keine Menschen zweiter Klasse. Liebe ist ein Menschenrecht, nicht erst seit Stonewall. Es dürfen keinesfalls weitere 50 Jahre vergehen, bis dies überall weltweit gilt. Liebe Bundesregierung, bitte bewegen Sie hier endlich mehr, und werden Sie zum globalen Vorreiter! ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank. – Da der Kollege Frank Heinrich, CDU/CSU-Fraktion, seine Rede zu Protokoll gegeben hat, kommt als nächster Redner der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion, zu Wort. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die internationale Lage der Menschenrechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transsexuellen, Transgendern, Intersexuellen geht uns alle an, zu jeder Stunde. Denn es geht um den Kern der Menschlichkeit und den Kern der Würde des Menschen. Nach unserem Menschenbild darf und muss jeder Mensch so leben können, wie er möchte. Und er muss so lieben können, wie er das will. ({0}) Das muss die wichtige Botschaft dieses Bundestages sein. Wir wissen, dass in vielen Teilen der Welt – in beinahe 70 Staaten, in denen beinahe die Hälfte der Menschheit lebt – Menschen nicht so leben und lieben dürfen, wie sie das gerne wollen – sie werden verfolgt, diskriminiert, weil sie vermeintlich anders sind. ({1}) Aber sie sind nicht anders, sondern sie lieben anders; das ist etwas, was jeder auf der Welt akzeptieren muss. Es gehört zu den unveränderlichen Menschenrechten, dass es keinen Unterschied geben darf, wie jemand liebt und wie jemand ist. Eine lange, leidvolle Geschichte der Menschheit hat sich an dieser Frage entzündet. Aber wir müssen klar und deutlich machen, dass die Frage des Respekts vor Menschen, die gleichgeschlechtlich leben, eine Frage ist, die auf die Agenda der Weltpolitik muss, ({2}) weil wir nicht akzeptieren, dass Menschen verfolgt werden, weil sie anders lieben. Besonders betroffen macht uns, dass homosexuelle Handlungen in manchen Teilen der Welt nicht nur unter Strafe gestellt sind, sondern dass es Staaten gibt, die dafür die Todesstrafe verhängen. Das muss in besonderer Art und Weise geächtet werden. Das betrifft selbst Staaten, von denen wir es gar nicht annehmen. Selbst in einem Land wie den Vereinigten Arabischen Emiraten ist auf dem Papier die Todesstrafe für homosexuelle Handlungen möglich. Da zeigt sich, dass manchmal auch hinter einer Glitzerfassade der Geist einer unfreien und zutiefst menschenverachtenden Gesellschaft herrschen kann; das müssen wir deutlich machen. ({3}) Wir werden nicht ruhen, bis sich die Menschenrechtslage dieser Menschen überall auf der Welt verbessert. Das ist kein leichter Weg. Wir wissen aus unseren eigenen Erfahrungen in Deutschland, dass es ein langer Weg ist von der Strafbarkeit – noch in den 50er- und 60er-Jahren – bis hin zur Rehabilitation in den letzten Jahren, wo wir klar gesagt haben, dass es Unrecht war, dass dieser Staat Menschen bestraft hat, die gleichgeschlechtlich verliebt waren. ({4}) Aber es gibt auch positive Signale. Ich finde, wir müssen froh sein, wenn überall auf der Welt Staaten gleichgeschlechtliche Liebe entkriminalisieren, dazu stehen, dass Menschen lieben können, wen sie wollen. ({5}) Wenn wie letztes Wochenende in Brasilien Hunderttausende Menschen auf die Straße gehen, um für ihre Rechte und für ihre Gleichstellung zu kämpfen, dann ist das etwas, was Unterstützung und auch Solidarität aus diesem Hause verdient. ({6}) Ich möchte noch kurz das zweite Thema ansprechen: ein Verbot von geschlechtszuweisenden Operationen. Hier ist es notwendig, dass bald ein Gesetzentwurf kommt. Wir stehen zum Koalitionsvertrag und bringen klar und deutlich zum Ausdruck, dass geschlechtszuweisende Operationen an Kindern gegen die Menschenwürde und gegen die Menschenrechte verstoßen. ({7}) Es ist kein Fehler und keine Krankheit, wenn ein Kind intersexuell ist, sondern das ist normal, das ist zu akzeptieren. Darauf werden wir klar und deutlich hinweisen und geschlechtszuweisende Operationen verbieten; Sie können sich darauf verlassen, dass wir diesen Schritt gehen werden. Herzlichen Dank. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Ullrich. – Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Beatrix von Storch, AfD-Fraktion. ({0})

Beatrix Storch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004905, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen! Wir reden über den Antrag und die Große Anfrage der Grünen zur internationalen Lage der Menschenrechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transsexuellen, Transgendern und Intersexuellen. – An dieser Stelle fehlt ein Q. Ich glaube, Sie diskriminieren die Queeren. Egal, in Antrag und Anfrage vermischen die Grünen absichtsvoll – ich sage ausdrücklich: legitime – Anliegen zum Schutz der persönlichen Freiheit und körperlichen Unversehrtheit mit links-grünem Ideologieexport und Klientelpolitik. Die Grünen und die Normalbürger leben auf zwei verschiedenen Planeten. ({0}) Die einen leben in der realen Welt, müssen hart arbeiten und ächzen unter Steuern und Abgaben, unter steigenden Energie- und Wohnkosten, sie müssen sich krummlegen, um ihren Lebensstandard zu halten. Die anderen leben in ihrer staatlich subventionierten links-grünen Scheinwelt, ({1}) ihnen geht es so gut, dass sie sich mit Geschlechtervielfalt in Burkina Faso, der Rolle der Transsexualität in der US-Armee, Intersexualität in Nepal und der Homoehe in Uruguay beschäftigen können. ({2}) Die Grünen fordern, das Diplomatische Korps in den Botschaften soll in LSBTTI-Rechten geschult werden; das soll elementarer Bestandteil der Ausbildung werden. ({3}) Die Bundesregierung handelt bereits in vorauseilendem Gehorsam ganz in diesem grünen Sinne – ich darf zitieren –: Deutsche Botschaften beteiligen sich an Gay-­Pride-Paraden ({4}) in Griechenland, Israel, Italien, Lettland und Litauen. ({5}) Dem deutschen Steuerzahler werden Rekordsteuern abgepresst, um dann damit Diplomaten zu bezahlen, ({6}) die in ihrer Dienstzeit auf den Schwulenparaden in den Hauptstädten Europas tanzen. Das ist Missbrauch von Steuergeldern und kein Einsatz für Menschenrechte. ({7}) Gleichzeitig ist die Bundesregierung unfähig, die Kernaufgaben des Staates, zum Beispiel den Grenzschutz oder den Schutz der öffentlichen Sicherheit, zu erfüllen; sie nimmt die Probleme nicht einmal wahr. ({8}) Das sehen wir an den Antworten auf unsere Fragen an die Regierung: Auf die Frage, ob und auf welchem Weg in Spanien angelandete Asylbewerber nach Deutschland kommen, lautet die Antwort der Regierung: Darüber liegen keine Erkenntnisse vor. Und auf die Frage, ob junge Asylbewerber aus Afrika Studienvisa missbrauchen, um in Deutschland Asyl zu beantragen, ({9}) antwortet die Bundesregierung: Darüber liegen keine Erkenntnisse vor. Aber wenn die Grünen fragen, in welchen Ländern auf diesem großen Globus außer „Mann“ und „Frau“ auch noch ein anderes Geschlecht amtlich eingetragen werden kann, ({10}) eine wichtige Frage, mit der man nicht genug Beamte beschäftigen kann, dann ist die Anwort der Regierung lang und detailgenau – ich zitiere, mit Genehmigung des Präsidenten, nur wenige Ausschnitte –: In Teilen Kanadas (Ontario, Alberta, Neufundland und Labrador …) ({11}) ist es intersexuellen Menschen möglich, ein ihrer Identität entsprechendes Geschlecht in Form eines „X“ anzunehmen. Eine Angabe im Pass ist … jedoch noch nicht möglich. ({12}) Es kann … ein zusätzliches Dokument mit einem Hinweis, dass das Geschlecht als „X“ und somit als unspezifisch anzusehen ist, erteilt werden. Ich stelle fest: Die Bundesregierung hat keine Ahnung, wer die deutsche Grenze übertritt, sie kann aber in epischer Breite ausführen, wie es mit der Eintragung des dritten Geschlechtes auf Neufundland aussieht. ({13}) Überhaupt: das dritte Geschlecht. Das Thema hat uns ja auch schon hier über Gebühr beschäftigt. Bisher haben sich laut „Deutschem Ärzteblatt“ in ganz Deutschland 150 Personen als „divers“ eintragen lassen. ({14}) Die Zahl der Abgeordneten, die über die Einführung des dritten Geschlechtes abgestimmt hat, ist also fast fünfmal so hoch wie die Zahl derer, die von der Regelung bisher Gebrauch gemacht haben. ({15}) Die Grünen wollen diese Politik jetzt auf die globale Ebene ausdehnen; denn Deutschland ist zu klein, um all den Absolventen der Gender Studies einen Versorgungsposten zu beschaffen. ({16}) Denen wollen die Grünen ein globales Betätigungsfeld eröffnen; die Menschenrechtspolitik ist nur das Vehikel dafür. ({17}) Deutschland soll sich für Menschenrechte starkmachen. Da haben wir Konsens. Aber genau danach endet der auch. Denn wenn Sie von den Grünen von Menschenrechten reden, dann meinen Sie meistens Sonderrechte für eine kleine Klientel, ({18}) wie den irren Anspruch auf die freie Wahl des Geschlechtes, ({19}) oder Sie kämpfen für die gleichgeschlechtliche Ehe, und das alles wollen Sie natürlich für die ganze Welt. ({20}) Das wollen wir weder in der ganzen Welt, aber vor allem auch nicht in Deutschland; wir wollen das gar nicht. ({21}) Der Dissens in Sachen LSBTTIQ zwischen der AfD und den Grünen könnte größer nicht sein, und das ist auch gut so. ({22})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächster Redner spricht der Staatsminister Michael Roth zu uns. ({0})

Michael Roth (Gast)

Politiker ID: 11003213

Guten Abend, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn im Jahr 2019 im Deutschen Bundestag solche Reden gehalten werden, dann sind das wieder Momente, in denen man meint, sich schämen zu müssen. ({0}) Vielleicht sollten Sie sich einmal mit einem Schwulen, mit einer Lesbe, mit einer Transsexuellen persönlich unterhalten, Erfahrungen austauschen ({1}) und sich einen Eindruck davon verschaffen, wie die weltweite Lage nach wie vor ist. ({2}) Es geht hier nicht um Sonderrechte. Rechte für Lesben, Schwule, Transsexuelle und Bisexuelle sind Menschenrechte und universell gültig. ({3}) Das hat ganz viel mit der Menschenwürde zu tun, die unteilbar ist. Ich könnte Ihnen jetzt ganz viel über unser Engagement weltweit, über unsere Erfolge und über das Scheitern erzählen. Ich weiß, dass viele von Ihnen der Auffassung sind, dass wir manchmal nicht laut genug sind, wobei es uns nicht darum geht, laut genug zu sein, sondern es geht uns darum, Betroffenen zu helfen und Freiheitsräume zu verschaffen. ({4}) Ich nutze die zwei Minuten und dreißig Sekunden Redezeit jetzt einfach mal, um an einige Menschen zu erinnern, die mich bewegt haben und deren Schicksal mich immer noch gefangen hält. Ich erinnere heute Abend an Malak al-Kashef, eine ägyptische Menschenrechtlerin, die derzeit willkürlich inhaftiert ist. Die 19‑jährige Transfrau wird im Tora-Gefängnis von Kairo, einem reinen Männergefängnis, in Einzelhaft gehalten. Ich erinnere an Vanusa da Cunha Ferreira, 36 Jahre alt, die am 19. Januar dieses Jahres in Goiás in Brasilien vergewaltigt und ermordet wurde. Der Täter gab an, durch die Vergewaltigung die sexuelle Orientierung der lesbischen Frau geändert haben zu wollen. Anschließend erschoss er sie. Ich erinnere heute Nacht an Zak Kostopoulos. Er setzte sich für die Rechte von LGBTI und HIV-positiven Personen in Griechenland ein. Er starb am 21. September 2018 infolge eines gewaltsamen Übergriffs. Videoaufnahmen zeigen, wie Zak in einem Juwelierladen in Athen von zwei Männern brutal zusammengeschlagen wurde. Außerdem ist zu sehen, wie er anschließend gewaltsam von Angehörigen der Polizei festgenommen wurde, als er bereits am Boden lag. Ich erinnere an Débora Ramos Cordón, eine Transgenderfrau und Aktivistin aus Guatemala, 25 Jahre alt, die am 22. September 2018 zu Tode geprügelt wurde. Ich erinnere an Londonn Moore, 20 Jahre alt, die am 20. September 2018 in Port Charlotte in den USA auf der Straße erschossen wurde. Auch sie war eine Transgenderfrau. Ich erinnere an Carol Pérez Guerrero, eine Transgenderfrau, 38 Jahre alt, die am 23. September 2018 in Bolívar aus einem Taxi heraus beschimpft und erschossen wurde. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt noch sehr viel zu tun, und dafür brauchen wir Ihren Einsatz. Ich danke Ihnen. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Michael Roth. – Nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion Gyde Jensen. ({0})

Gyde Jensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004941, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Würde des Menschen ist weltweit immer noch nicht so selbstverständlich unantastbar, wie sie es für Homo- und Transsexuelle schon immer hätte sein sollen. Genau aus diesem Grund müssen wir hier im Deutschen Bundestag immer wiederholen, wie die tatsächliche Situation von LSBTI weltweit aussieht – und das zu jeder Uhrzeit. Es klingt unfassbar, aber Menschen werden weiter aufgrund ihrer sexuellen Orientierung in über 70 Ländern verfolgt. In über 70 Ländern ist Homosexualität immer noch strafbar. Im Sudan, in Saudi-Arabien, im Jemen und im Iran droht Homosexuellen gar die Todesstrafe. ({0}) In nur 20 Ländern weltweit – Herr Gehring, Sie haben es angesprochen – hat gleichgeschlechtliche Liebe die gleichen Rechte wie heterosexuelle Liebe. Das sind ohrenbetäubend zu wenige Länder. ({1}) Angriffe gegenüber LSBTI-Menschen in Russland und in Tschetschenien sind bereits häufig diskutiert worden; wir kennen diese Nachrichten zur Genüge. Zu diesen bekannten Fällen kommen aber beinahe täglich neue Diskriminierungsnachrichten dazu. In London zum Beispiel, einer eigentlich sehr weltoffenen Stadt, wurde ein lesbisches Paar zusammengeschlagen, weil es sich in der U‑Bahn küsste. In Georgien und in der Türkei gab es Gewaltandrohungen im Vorfeld der diesjährigen Pride, um ein Klima der Angst zu schaffen, und in Polen sehen wir, wie menschenverachtende Hetzer die Religion für ihre eigenen Zwecke missbrauchen und offensichtlich nicht davor zurückschrecken, gegen Homosexuelle auch Gewalt anzuwenden. Für diese Länder, insbesondere hier in Europa, sind diese Nachrichten erschreckend, und ich finde, sie sind unwürdig. ({2}) Deshalb müssen wir die Verantwortlichen für diese Menschenrechtsverletzungen klar benennen und in dokumentierten Fällen – auch eben im Ausland – die Möglichkeit haben, diese individuell zu sanktionieren. ({3}) Liebe Grüne, kritisch anmerken möchte ich an dieser Stelle doch: Sie werfen hier das Konzept der sicheren Herkunftsstaaten wieder in einen Topf mit dem individuellen Schutz vor Verfolgung. Das ist erstens fachlich nicht korrekt, und zweitens hilft es den Menschen, die tatsächlich individuell verfolgt werden, nicht – am allerwenigstens denjenigen in den betroffenen Ländern –, wenn Sie ihnen Angst machen, indem Sie sagen, dass sie bei uns keinen Schutz erbitten können. Das ist nicht richtig, und das muss auch so klargestellt werden. ({4}) Meine Damen und Herren, die Gleichberechtigung von Lesben, Schwulen, Inter- und Transsexuellen ist in den europäischen Verträgen, aber auch in der EMRK verbrieft. Nichtsdestotrotz werden ihre Rechte nicht überall gleich durchgesetzt. Bei allen internationalen Sanktionen, die wir verhängen, bleibt die nationale Rechtsdurchsetzung – allerdings auch ein entschiedenes Vorgehen der Polizei gegen jede Form der Diskriminierung – eine der wichtigsten Aufgaben im Kampf gegen Homophobie. Der Bericht des Europäischen Lesben- und Schwulenverbandes zeichnet hier allerdings ein sehr drastisches Gefälle bei der Verfolgung von Hassverbrechen zwischen Ost- und Westeuropa. Es zeigt sich, dass nicht nur der Kampf für Toleranz, sondern auch der Kampf um Akzeptanz einen unbezahlbaren Wert in unserer Gesellschaft hat. Wir müssen aber auch feststellen – das ist hier heute in einigen Beiträgen auch schon genannt worden –, dass sich die Situation von Trans- und Homosexuellen in Europa doch auch verbessert hat, jedoch nicht in allen Ländern. Aber genau diese Positivbeispiele brauchen wir, um weiterhin dafür zu werben, dass es wichtig ist, für diese Bereiche zu kämpfen. Joe Biden hat kürzlich zum Beispiel angekündigt, dass er sich im Falle seiner Präsidentschaft den Rechten der Homo- und Transsexuellen prioritär widmen und einen Equality Act auf den Weg bringen wird. Brasilien wurde schon angesprochen, und bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen in Tunesien, einem mehrheitlich muslimischen Land, möchte zum ersten Mal ein Homosexueller Präsident werden. Im derzeit stattfindenden Pride-Monat ist es die Pflicht eines jeden Demokraten hier in diesem Hause, sich klar gegen die Diskriminierung von Homo- und Transsexuellen zu positionieren. ({5}) Am besten können wir das alle tun, indem wir an den Prides teilnehmen, politische Überzeugung zusichern und unsere Vielfalt und unsere Freiheit sichtbar machen.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Jensen, kommen Sie zum Schluss.

Gyde Jensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004941, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Dafür brauchen wir nicht den rechten Teil dieses Parlamentes. Ich denke, das schaffen wir auch alleine. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Gyde Jensen. – Nächste Rednerin: Doris Achelwilm für die Fraktion Die Linke. ({0})

Doris Achelwilm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004651, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Präsidentin! Es stimmt: Es ist in diesem Moment wirklich sehr genau 50 Jahre her, dass der Stonewall-Aufstand losging und eine sehr erfolgreiche Bewegung und queere Emanzipationsgeschichte ihren Lauf nahmen. Das ist ein Grund zum Feiern. Wir versammeln uns in diesen Tagen und Wochen aber auch deshalb in Klubs und auf Straßen, weil es nicht nur Gründe zum Feiern gibt. Die queer-politische Lage ist weltweit sehr ambivalent. Es gibt Fort- und Rückschritte, und es gibt Richtungskämpfe eben auch von rechts. Brasilien hat mit Bolsonaro einen rechtsextremen Präsidenten gewählt, der sich mit Hass gegen sexuelle Minderheiten profiliert. Brasilien hat aber auch einen obersten Gerichtshof, der homo- und transfeindliche Übergriffe jetzt als Straftaten eingestuft hat. In der Türkei wurden dieses Jahr wieder CSD- und Transparaden durch das AKP-Regime verboten, aber bei der wiederholten Bürgermeisterwahl in Istanbul hat der Kandidat, der gegen diese Politik eintritt, gewonnen, und das sehr deutlich, was uns freut. ({0}) In London hat die Verkehrsbehörde in Bussen und U‑Bahnen fortschrittlicherweise ein Werbeverbot für Urlaubsländer erteilt, die LGBTIQ das Leben schwermachen. Aus London stammt aber auch das durch alle Medien gegangene Bild eines lesbischen Paares, das im Nachtbus von jungen Männern blutig geschlagen wurde. Um es kurz zu machen: Es gibt überhaupt keinen Grund, die Akzeptanz sexueller Minderheiten als gesichert oder nebensächlich oder als ein Luxusproblem zu betrachten. LGBTIQ sind tatsächlich noch nicht gleichgestellt und noch nicht vollständig akzeptiert und müssen besser geschützt werden – auch durch diesen Bundestag. In diesem Sinne geht es auch in dem Entschließungsantrag der Grünen um den Umgang der Bundesregierung mit weltweiten Menschenrechtslagen, und hier stellt sich die Frage, ob es außen- oder asylpolitisch in diplomatischen oder wirtschaftlichen Beziehungen eine Rolle spielt, ob Lesben, Schwule, Bi- oder Transsexuelle im Hintergrund staatlich verfolgt werden oder nicht. Der Antrag der Grünen fordert hier menschenrechtliche Kohärenz, was wir richtig finden und entsprechend unterstützen. Wir als Linksfraktion wiederum haben den Antrag vorgelegt, dass das fremdbestimmte und unnötige Operieren von Genitalien intergeschlechtlicher Kinder ein Ende haben muss. ({1}) Dass diese OPs bis heute noch nicht verboten worden sind, ist schwer zu ertragen; denn es geht hier nicht – das wurde schon gesagt – um eine Krankheit oder um medizinische Notwendigkeiten. Ganz im Gegenteil! Diese OPs bedeuten fundamentale Ablehnung und Schmerzen. Sie werden verfügt und gemacht, damit ein Geschlecht oder Genital, das von der Norm abweicht, eindeutigen Mann- bzw. Frau-Optiken entspricht – ob das betreffende Kind das nun will oder nicht. Diesen Zustand wollen wir nicht für weitere Jahre so stehen lassen, und Menschenrechts- und Interessenverbände sehen das längst auch genau so. Um die Dimension zu veranschaulichen: OPs an intergeschlechtlichen Kindern sind nach wie vor kein Auslaufmodell. Bundesweit wurden zwischen 2005 und 2016 pro Jahr über 1 800 entweder feminisierende oder maskulinisierende Genitaloperationen an Kindern durchgeführt – Tendenz eher steigend. Dabei raten medizinische Behandlungsleitlinien längst dazu, Genital-OPs an Kindern zu begrenzen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten genau hinhören, was intersexuelle Menschen selbst mit derlei OP-Erfahrungen zu berichten haben. Wir bekommen dann einen Eindruck von Biografien, die geprägt sind von Anpassungsdruck und dem Gefühl, ganz grundsätzlich nicht in Ordnung zu sein, und wir erfahren von der Gewalt, die Menschen zugefügt wird, weil die Gesellschaft, in der sie leben, Zwischengeschlechtlichkeit nicht erträgt. Operationen zur Normierung intergeschlechtlicher Kinder verletzen die Persönlichkeitsrechte massiv, und häufig sind diese Eingriffe nur der Beginn eines schmerzhaften Operationsmarathons. Im Fall von Lynn, über den der WDR berichtet hat, bedeutete das im frühen Kindesalter sieben Operationen innerhalb von zwei Jahren. Eierstöcke und Hoden wurden entfernt, es wurden künstliche Schamlippen angebracht usw. usf. Wir fordern, dass diese Eingriffe jetzt auch hier gestoppt werden, nicht nur auf Anraten des Europäischen Parlaments, sondern auch, weil wir hier schon lange die Expertise haben und es im Koalitionsvertrag entsprechend steht. Und wir fordern, dass die Bundesregierung Verantwortung übernimmt und die Opfer menschenrechtswidriger Eingriffe entschädigt. Es freut uns, dass mündliche Zusagen getroffen wurden, und wir hoffen, dass den Worten demnächst dann endlich auch Taten folgen. Vielen Dank. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Doris Achelwilm. – Axel Müller für die CDU/CSU-Fraktion, Dr. Karl-Heinz Brunner für die SPD-Fraktion und Frank Heinrich für die CDU/CSU-Fraktion geben ihre Reden zu Protokoll. ({0}) Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/11177. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Zugestimmt haben die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke, dagegengestimmt haben die Fraktionen von CDU/CSU, SPD und AfD, und enthalten hat sich die Fraktion der FDP. Tagesordnungspunkt 21 b. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz zum Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Stopp der geschlechtszuweisenden Operationen an Kindern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss­empfehlung auf Drucksache 19/10304, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/9056 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zugestimmt haben die Fraktionen von SPD, CDU/CSU und AfD, dagegengestimmt haben die Fraktionen der Linken und Bündnis 90/Die Grünen, und enthalten hat sich die Fraktion der FDP.

Axel Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zu vorgerückter Stunde oder früher Stunde ein etwas dröges Thema: Umsetzung der Datenschutz-Grundverordnung der Europäischen Union 2016/679 und Umsetzung der Richtlinie 2016/680. Wir haben einen längeren und umfangreichen gesetzgeberischen Transformationsprozess hinter uns gebracht. Dieser erstreckt sich in 154 Artikeln auf das Arzneimittelgesetz wie A bis hin zum Zivildienstgesetz wie Z. Die jeweilig erfassten Gesetzesbereiche wurden datenschutzrechtlich auf den Prüfstand gestellt und am Maßstab der Datenschutz-Grundverordnung gemessen. Viele der genannten Artikel und die damit verbundenen einfachgesetzlichen Änderungen beschränken sich im Wesentlichen auf redaktionelle Korrekturen, schaffen für die Anwender im alltäglichen Umgang mit den Gesetzen unter Berücksichtigung des Datenschutzes aber auch Klarheit. Ziel der Verordnung und ihrer jeweiligen nationalen Umsetzung ist es, einen einheitlichen Standard beim Datenschutz in der gesamten EU zu gewährleisten. Daher macht dieser Gesetzentwurf beim Thema Datenschutz im Gegensatz zu den Äußerungen seitens der Grünen in der Ausschussberatung keine qualitativen Abstriche, ({0}) während er im Bereich der Umsetzung der Datenschutz-Grundverordnung gleichzeitig für Erleichterung sorgt: ({1}) Kleinere Betriebe bis 20 Beschäftigte, die nicht ständig und regelmäßig mit der automatisierten Datenverarbeitung beschäftigt und befasst sind, brauchen künftig keinen betrieblichen Datenschutzbeauftragten mehr. ({2}) Ganz nebenbei erwähnt – nur zur Vollständigkeit – betrifft das 90 Prozent der Handwerksbetriebe, und auch Vereine sind davon künftig befreit. Damit erfüllen wir eine Forderung, die nach Einführung der Datenschutz-Grundverordnung vielfach an uns herangetragen wurde. Das zeigt auch, dass dieser Gesetzgeber durchaus in der Lage ist, sich veränderten Bedingungen anzupassen und dafür Sorge zu tragen, dass Auswüchse abgestellt werden. Das gilt im Übrigen auch bei der Umsetzung der Datenschutzrichtlinie 2016/680. Vorwürfe, die in der Beratung des Innenausschusses zu hören waren, es würden Datenbanken mit persönlichen Erkenntnissen zu Opfer und Zeugen angelegt, die dann unbefugten Dritten zugänglich gemacht würden, sind unbegründet. Vielmehr ist ausdrücklich festgeschrieben, dass diese Daten nur für die Zwecke des Strafverfahrens verwendet werden dürfen. Auch der Kreis der Nutzungsberechtigten wurde eng gezogen. Mit Blick auf die jüngsten Ereignisse in Hessen, denke ich, ist es durchaus angezeigt, dass Ermittlungsbehörden Daten austauschen dürfen und können. Letztendlich gilt das auch für die Verwendung von sogenannten Zufallsfunden, die bei anderweitigen Ermittlungen entdeckt werden. Mit Blick auf das Legalitätsprinzip im Strafrecht liegt es auf der Hand, dass man derartige zufällige Erkenntnisse nicht unter den Tisch fallen lässt. ({3}) Im Gegenteil: Mit der Ausweitung und Verbesserung der Position der Nebenklagevertretung zugunsten von Vergewaltigungsopfern haben wir im Zusammenhang mit den vorzunehmenden Änderungen in der Strafprozessordnung den Opferschutz sogar noch verbessert.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Müller, kommen Sie zum Schluss.

Axel Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss. – Zugleich ist es gelungen, den Staatsanwaltschaften ein Instrumentarium an die Hand zu geben, mit dem die organisierte Kriminalität besser bekämpft werden kann, indem Beschuldigten die Auskunft über Verfahren bis zu sechs Monate verwehrt werden kann. Alles in allem ist das ein Entwurf, der gelungen ist und der daher unsere Zustimmung verdient. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Axel Müller. – Nächste Rednerin: Joana Cotar für die AfD-Fraktion. ({0})

Joana Cotar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004696, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Es ist 1.19 Uhr, und wir debattieren und verabschieden zu dieser späten Stunde tatsächlich ein Gesetz von nahezu 500 Seiten, das insgesamt 154 Änderungen in Fachgesetzen betrifft, zusätzlich garniert mit ein paar Entschließungsanträgen. ({0}) Und das alles in neun Minuten! ({1}) Allein das macht fassungslos. ({2}) Sie haben in dieses Datenschutz-Anpassungsgesetz alles hineingepackt, was möglich ist, auch sachfremde Änderungen von Gesetzeswerken, die mit der Anpassung an die DSGVO eigentlich gar nichts zu tun haben. ({3}) Dieses Omnibusgesetz können weder wir hier im Parlament noch die Öffentlichkeit wirklich vollständig durchschauen, und ich unterstelle Ihnen, dass genau das Ihre Absicht ist. ({4}) Wie hat Herr Seehofer das so freimütig zugegeben: „Man muss Gesetze kompliziert machen. Dann fällt das nicht so auf.“ So versuchen Sie, uns in diesem Anpassungsgesetz auch eine Vorratsdatenspeicherung unterzujubeln, die keine klar definierte zeitliche Obergrenze hat. Sie geben datenverarbeitenden Stellen eine Befugnisausweitung, indem Sie den Begriff „Sperrung“ von Datensätzen durch „Einschränkung“ ersetzen. Sperrung entspricht in Ihrem DSGVO-Äquivalent eigentlich eher dem Recht auf Löschung. Sie ziehen hier also offensichtlich gar nicht erst in Erwägung, dass physikalisch gelöscht werden kann oder sollte; Sie schränken nur ein. Damit zeigen Sie, dass Sie gar kein Interesse daran haben, Behörden und anderen Einrichtungen den Zugriff auf Daten überhaupt je zu entziehen. Auch Einwohnermeldebehörden können weiter munter Bürgerdaten sonst wohin weitergeben. Einschränkungen der Datenverarbeitung seitens der Bürger sind kaum durchsetzbar. Bei der Anpassung des IHK-Gesetzes sorgen Sie dafür, dass die Kammern, die einmal irgendwelche Daten erhoben haben, diese auch munter weiterleiten dürfen. Daten, die einmal im großen Topf gelandet sind, bleiben darin. Gleiches gilt für die Anpassung der Handwerksordnung. In Artikel 123 wird die Tür zur Digitalisierung des Gesundheitswesens geöffnet – eine gute Sache. Gleichzeitig werden aber Widerrufsrechte, die bereits bestehen, gestrichen. Die Pflicht zur Bestellung eines Datenschutzbeauftragten soll zukünftig erst bei mindestens 20 Mitarbeitern bestehen. Das klingt erst einmal nach einer Entlastung der Unternehmer, ändert aber nichts an der Tatsache, dass sich die Unternehmen trotzdem an den Datenschutz halten müssen – dann eben ohne Berater, der sich damit auskennt. ({5}) Die Rechnung wird nicht aufgehen. Besser wäre es, darauf zu drängen, den „One size fits all“-Ansatz der DSGVO zwingend auf den Prüfstand zu stellen und hier wirkliche Verbesserungen für den Mittelstand zu erreichen, meine Damen und Herren. ({6}) Ich könnte mit meiner Aufzählung noch so weitermachen, ({7}) aber ich habe nur noch ein paar Sekunden Redezeit. Klar ist: Die AfD wird dieses Gesetz ablehnen. Einzig der Antrag der Koalition „Datenschutz und Meinungsfreiheit in Einklang bringen“ hat mich wirklich überrascht; denn er kam mir sehr bekannt vor. Aus gutem Grund: Er nimmt nämlich genau das auf, was die AfD in ihrem Antrag „Freie Meinungsäußerung sicherstellen ...“ bereits Anfang des Jahres gefordert hat. ({8}) Damals wurde unser Antrag von allen anderen Fraktionen hier im Hause abgelehnt. Ich freue mich, dass die Koalition hier offensichtlich zur Einsicht gekommen ist und ihre Meinung geändert hat. Wieder einmal zeigt sich: AfD wirkt! Ich bedanke mich dafür und wünsche eine gute Nacht. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Kollegin Cotar. – Saskia Esken, SPD, Manuel Höferlin, FDP, und Niema Movassat, Fraktion Die Linke, geben ihre Reden zu Protokoll, und Dr. Konstantin von Notz redet jetzt für Bündnis 90/Die Grünen leibhaftig. ({0})

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dass wir tief in der Nacht oder früh am Morgen, ganz wie Sie wollen, nach einem parlamentarisch eher schwierigen Verfahren – weil sehr kurz – dieses für die Bürgerrechte und die digitale Gesellschaft so zentrale Thema hier debattieren, spricht leider Bände. Die Datenschutz-Grundverordnung selbst ist bereits jetzt ein Exportschlager geworden. In Asien, in Israel, von Kalifornien bis New York: Überall ist sie in aller Munde, auch in Deutschland. Allen Unkenrufen zum Trotz: keine Abmahnwellen, kein Zusammenbruch der deutschen Wirtschaft! So weit, so gut. Durch jahrelange Untätigkeit hat die Bundesregierung aber entscheidend zur Rechtsunsicherheit beigetragen. Danach haben Sie, wie so oft, es nicht sein lassen können, die Umsetzung für die Aushöhlung des nationalen Datenschutzes zu nutzen. Das machen wir nicht mit, meine Damen und Herren. ({0}) Das BSI machen Sie zu einer verdeckt und nicht rechenschaftspflichtig agierenden Datensammelmühle. Das ist ein echter Bärendienst für das Vertrauen in die IT-Sicherheit unseres Landes, aber auch für das Vertrauen in diejenigen, die uns alle vor dem Blackout und den IT-Angriffen schützen und unabhängig beraten sollen. Das ist schlecht. Noch schlimmer: Der Bundesinnenminister beschert sich – wohlgemerkt: an allen EuGH- und Verfassungsgerichtsentscheidungen vorbei – eine Vorratsdatenspeicherung, nämlich beim behördlichen Digitalfunk, also bei Feuerwehren, Rettungskräften, Polizei und Militärs. ({1}) – Aber, Patrick Sensburg, das bleibt schlicht verfassungswidrig, auch wenn es hier um Beamtinnen und Beamte geht, ({2}) und das machen wir nicht mit, meine Damen und Herren. ({3}) Gerne – und das haben wir ja eben erlebt, Herr Müller – würden Sie Ihr Gesetz als Geschenk an die Wirtschaft verkaufen, weil Sie die Bestellpflichtschwelle für betriebliche Datenschutzbeauftrage heraufgesetzt haben. Statt 10 lösen nun 20 Beschäftigte diese Pflicht aus. Dabei schadet das der Wirtschaft sehr viel mehr, als es ihr nützt; denn die rechtlichen Pflichten bleiben exakt dieselben. Es ist nur niemand mehr zuständig. Das Einzige, was steigt, meine Damen und Herren, ist das Haftungsrisiko. ({4}) – Vielen Dank, Frau Haßelmann. ({5}) Zuletzt zur Umsetzung der JI-Richtlinie. Die Anhörung dazu war verheerend, liebe Kolleginnen und Kollegen. In der Koalition haben Sie aber nichts geändert. Künftig werden also nicht nur die Daten von Tätern, sondern auch die von Zeugen und Opfern von Straftaten über Jahre und Jahrzehnte in Dateien der Polizei und in anderen Informationssystemen landen, ({6}) ohne dass sich diese Menschen etwas haben zuschulden kommen lassen. ({7}) – Doch. – Das ist stigmatisierend, und das ist verfassungsrechtlich maximal bedenklich. Das kann man so nicht machen, meine Damen und Herren. ({8}) Wir haben beiden vorliegenden Gesetzentwürfen Entschließungsanträge zur Seite gestellt, um zu zeigen, wie man es besser machen könnte. „Könnte“ muss man ja sagen; denn Sie machen es ja trotz aller Anhörungen genau so, wie Sie es machen wollen. Sie haben Ihre merkwürdigen GroKo-Ausverhandlungslogiken und lassen sich von all unseren guten Argumenten nicht stören, aber das geht an den Bürgerinnen und Bürgern leider vorbei. Herzlichen Dank. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Konstantin von Notz. – Marc ­Henrichmann für die CDU/CSU-Fraktion, Dr. Johannes Fechner für die SPD-Fraktion und Alexander Hoffmann für die CDU/CSU-Fraktion geben ihre Reden zu Protokoll. ({0}) – Was ist? ({1}) – Entschuldigung, ich habe Sie nicht gesehen. – Herr Braun, worum geht es? ({2})

Jürgen Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004680, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich habe mich zur Geschäftsordnung gemeldet, Frau Präsidentin. – Frau Präsidentin, die AfD-Fraktion bezweifelt die Beschlussfähigkeit der Versammlung. ({0}) Gemäß § 45 Absatz 2 der Geschäftsordnung bitte ich um Überprüfung. Es geht hier um die Beschlussfassung über ein sehr wichtiges Gesetzespaket. ({1}) Es kann nicht sein, dass wir hier mit rund hundert Anwesenden ein Gesetz dieser Güte und dieser Schwere beschließen. ({2}) Deshalb bitte ich um sofortige Überprüfung. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Also, wir haben hier oben miteinander diskutiert. Wir sind der Meinung, dass die Beschlussfähigkeit gegeben ist. ({0}) Marc Henrichmann gibt seine Rede zu Protokoll, ({1}) Dr. Johannes Fechner gibt seine Rede zu Protokoll, Alexander Hoffmann gibt seine Rede zu Protokoll. ({2}) – Herr Braun, Sie haben jetzt keine Möglichkeit mehr. Wir haben uns jetzt so entschieden. ({3}) – Setzen Sie sich hin! Wir fahren jetzt in der Sitzung des Parlaments fort. Ich komme zum Tagesordnungspunkt 22 a. ({4}) – Ruhe jetzt. – Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Zweiten Datenschutz-Anpassungs- und -Umsetzungsgesetzes EU. Der Ausschuss für Inneres und Heimat empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/11181, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 19/4674 und 19/5414 in der Ausschussfassung anzunehmen. ({5}) Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? ({6}) Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. ({7}) – Darf ich jetzt um Ruhe bitten! – Zugestimmt haben die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD. Dagegengestimmt haben die Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen, der Linken, der FDP und der AfD. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. ({8}) Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. ({9}) Wer stimmt dagegen? ({10}) Enthaltungen? – Gibt es keine. ({11}) Der Gesetzentwurf ist mit der Zustimmung von CDU/CSU und SPD bei Gegenstimmen von den Fraktionen der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen, der FDP-Fraktion und der AfD-Fraktion angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/11197. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? ({12}) Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Für den Entschließungsantrag hat die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen gestimmt. Dagegengestimmt haben die Fraktionen von CDU/CSU, der AfD und der Fraktion Die Linke, und enthalten hat sich die Fraktion der FDP. Tagesordnungspunkt 22 b. Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/680 im Strafverfahren sowie zur Anpassung datenschutzrechtlicher Bestimmungen an die Verordnung (EU) 2016/679. Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/11190, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 19/4671 und 19/5554 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Zugestimmt haben die Fraktionen von CDU/CSU und SPD. Dagegengestimmt haben die Fraktionen der AfD, der FDP und der Fraktion Die Linke. Enthalten hat sich Bündnis 90/Die Grünen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – ({13}) Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist angenommen. Zugestimmt haben die Fraktionen von CDU/CSU und SPD, dagegengestimmt die Fraktionen von FDP, AfD und der Linken. Enthalten hat sich Bündnis 90/Die Grünen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/11193. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? ({14}) Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Für diesen Entschließungsantrag haben Bündnis 90/Die Grünen, Die Linke und die FDP gestimmt. Dagegengestimmt haben CDU/CSU, SPD und die AfD. Enthalten hat sich niemand.

Michael Stübgen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002280

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch noch ein wichtiger Beschluss des Deutschen Bundestages heute fast zum Morgengrauen, der zur Isofluran-Verordnung. Ich möchte kurz erläutern, worum es geht. Wir als Bundesregierung setzen als Beschlussvorlage für den Bundestag das um, was der Bundestag im Dezember des letzten Jahres beschlossen hat, nämlich dazu zu kommen, dass im Jahr 2020 die betäubungslose Ferkelkastration in Deutschland endet. ({0}) Die Isofluran-Verordnung ist der dritte Weg – das war uns als Ministerium immer wichtig –, den wir als Möglichkeit für die Anwender, für die Ferkelerzeuger, aber auch für die Mäster, anbieten wollen, um mit dem Verbot der betäubungslosen Ferkelkastration umzugehen. Wenn Sie diese Verordnung heute beschließen, regeln wir damit die Möglichkeit der Anwendung von dem Narkosekombinationsmittel Isofluran zur Ferkelkastration auch für Landwirte, ({1}) nicht nur für Tierärzte, wie das bisher der Fall war. Wir regeln die Notwendigkeit der ausreichenden Schulung. Wir regeln die Zertifizierung der Geräte, die genutzt werden dürfen. Hier geht es vor allen Dingen auch um den Schutz der Anwender, weil das Narkosekombinationsmittel, wenn es unkontrolliert austritt, für die Anwender natürlich schädlich ist. Wir regeln für unsere Ferkelproduzenten auch die finanzielle Unterstützung, nämlich 2 Millionen Euro im Haushalt dieses Jahres, 20 Millionen Euro in Verpflichtungsermächtigungen für das Jahr 2020. Das heißt, wir sind im Zeitplan. Wir können das Ziel, das der Bundestag beschlossen hat, umsetzen, nämlich die betäubungslose Ferkelkastration in Deutschland bis Ende Dezember 2020 zu beenden. ({2}) Lassen Sie mich in den wenigen Sekunden, die ich noch an Redezeit habe, auf zwei Dinge hinweisen. Es ist in der Tat ärgerlich, dass wir in Deutschland nicht nur relativ langsam in der Umsetzung der Beendigung der betäubungslosen Ferkelkastration sind, sondern wir sind auch das Schlusslicht, nicht nur in Europa, sondern auch im Hinblick auf viele andere Länder der Welt. ({3}) Das Problem, das damit verbunden ist, ist, dass das gesetzlich gar nicht so einfach zu regeln ist, sondern dass vor allen Dingen die Branche hier mehr tun muss. Da rede ich nicht in erster Linie von den Ferkelproduzenten. Ich rede auch nicht von den Mästern, sondern ich rede von den Schlachtbetrieben, von der verarbeitenden Industrie. Ich rede von der Vermarktung, dem Groß- und Einzelhandel. ({4}) Mir konnte bis heute niemand erklären, warum seit Jahren in Ländern wie Australien, Neuseeland und Südamerika mit der Improvac-Behandlung auf die Kastration komplett verzichtet werden kann. Das funktioniert dort, und hier in Deutschland geht das angeblich nicht. Aus der Branche hören wir, die deutschen Verbraucher würden das nicht mögen. Ich kann mir allerdings nur schwer vorstellen, dass die deutschen Verbraucher so völlig anders sind als die australischen oder die neuseeländischen Verbraucher. ({5}) Aber offenkundiger wird das Problem, das wir in Deutschland haben, in der Frage der Jungebermast. Erfreulich ist die Tatsache, dass sich in den letzten Jahren der Anteil der Ferkel, die in Jungebermast gehalten werden, das heißt der Totalverzicht auf Kastration, auf 20 Prozent erhöht hat. Aber ich glaube, in diesem Bereich gibt es noch erhebliche Potenziale. Wie konnte es, wenn das so schwierig sein soll – ich weiß, es müssen in der gesamten Prozesskette Dinge grundsätzlich umgestellt werden –, Spanien in den letzten zehn Jahren schaffen, ausschließlich auf die Jungebermast zu setzen und gleichzeitig auch noch der größte Ferkelproduzent in Europa zu werden, ({6}) und zwar unter denselben Binnenmarktbedingungen, die wir in Deutschland auch haben? Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir als Ministerium sind der Meinung: Hier muss die Branche mehr Möglichkeiten eröffnen, mehr Engagement zeigen, damit wir auch die anderen alternativen Möglichkeiten nutzen können. ({7}) Dafür hat meine Ministerin Julia Klöckner heute ein Branchengespräch geführt. Wir werden an dieser Geschichte dranbleiben. ({8}) Ich bin der festen Überzeugung: Das, was Spanien geschafft hat, das können wir auch schaffen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Michael Stübgen. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Stephan Protschka. ({0})

Stephan Protschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004858, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Also, eine Präsidentin, die nicht zählen kann und gleichzeitig an Demonstrationen teilnimmt, bei denen „Deutschland, verrecke“ oder „Deutschland, du mieses Stück Scheiße“ zu hören und zu sehen ist, werde ich nicht grüßen. Aber da ich Anstand habe, ({0}) werde ich – laut Geschäftsordnung ist der Posten noch nicht gegendert – Sie mit „Herr Präsident“ begrüßen. Habe die Ehre, Herr Präsident! Liebe Demokraten der Alternative für Deutschland! Liebe Abgeordnete der bundesrepublikanischen Einheitspartei! ({1}) Dass Sie alle der Tierschutz nicht interessiert, sieht man daran, dass die Grünen, die Linken, die CDU/CSU ({2}) ihre Reden zu Protokoll geben. Wenn Ihnen 1.30 Uhr zu spät ist, um zu arbeiten, dann müssen Sie nicht so viele Anträge einreichen. ({3}) Vielleicht kommt dann nicht so viel Scheiß. Liebe Koalitionsparteien, sagen Sie doch den kleinen Landwirten gleich, dass Sie auf sie scheißen, ({4}) weil Sie mit dieser Verordnung die kleinen Ferkelzüchter vernichten und die kleinen Landwirte vernichten. Die armen kleinen Ferkel werden dann in Polen kastriert. ({5}) Da interessiert der Tierschutz keinen Menschen. Sie verlagern die Tierzucht ins Ausland und verlagern somit die Tierquälerei. Das, was Sie betreiben, liebe Regierung, ist Tierquälerei, sonst gar nichts. ({6}) – Unseren Antrag haben Sie von den Einheitsparteien direkt schon abgelehnt. – Es gäbe eine vernünftige Lösung, wie wir in vielen skandinavischen Ländern sehen können. Das Ganze nennt sich Lokalanästhesie. Auch in der Humanmedizin wird auf Lokalanästhesie zurückgegriffen. ({7}) – Vielleicht ist meiner klein, aber Sie haben gar keinen. ({8}) Liebe Grüne, die Lokalanästhesie funktioniert in vielen skandinavischen Ländern. ({9}) Aber leider haben die Einheitsparteien der Bundesrepublik diesen Vorschlag geschlossen abgelehnt, ohne darüber überhaupt zu diskutieren. Die Lokalanästhesie wäre eine vernünftige Lösung gewesen. Warum? Sie ist effizient. Sie verursacht niedrige Kosten. ({10}) Vor allem steht sie für Tierschutz, weil das Ferkel dann ohne Schmerzen kastriert werden kann. Aber alle diese Eigenschaften hat die Bundesregierung nicht im Blick, meine Damen und Herren. Somit quälen Sie weiterhin unsere Ferkel. Diese werden an der Vollnarkose mit Isofluran sterben, ({11}) da sie nicht zu ihrer Mutter zum Säugen kommen können. Die wahren Tierschützer und die wahren Umweltschützer sind wir von der Alternative für Deutschland, ({12}) nicht Schwarz, Rot oder Grün, Gelb von Haus aus schon nicht. Es muss im Tierschutz endlich wieder vernünftig gehandelt werden. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({13}) Habe die Ehre: Fünf Sekunden vor der Zeit! Servus! ({14})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wird spannend sein, im Ältestenrat die einleitenden Äußerungen aufzurufen. ({0}) Die nächste Rednerin, Susanne Mittag für die SPD, gibt ihre Rede zu Protokoll. Der nächste Redner: für die FDP-Fraktion Dr. Gero Hocker. ({1})

Dr. Gero Clemens Hocker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004754, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich muss nach der gerade gemachten Erfahrung erst mal durchatmen. Herr Protschka, nachdem Sie so darauf bestanden haben, dass Sie hier heute Nacht noch reden, habe ich erwartet und erhofft, dass Sie etwas zur Sache und etwas fachlich Fundiertes sagen wollen oder können. ({0}) Das ist leider überhaupt nicht passiert. Ich habe in neun Jahren parlamentarischer Erfahrung keine Rede gehört, die weniger Niveau hatte als Ihre. ({1}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich komme jetzt zum Fachlichen und damit auch zur Kritik an dem, was uns heute vorgelegt wurde, Herr Staatssekretär Stübgen. Also, man muss kurz die Chronologie nachzeichnen. Der Beschluss, dass ab dem 1. Januar 2019 nur noch schmerzfrei kastriert werden sollte, ist schon einige Tage alt. Sie haben jahrelang nicht gehandelt. Aber jetzt, ein halbes Jahr danach – ein halbes Jahr, nachdem der 1. Januar 2019 verstrichen ist –, propagieren Sie einen von mehreren Durchführungswegen, die vielleicht möglich wären. Da haben gerade diejenigen Landwirte, die in den letzten Jahren verantwortlich gehandelt haben – für ihren Betrieb und auch für die Tiere in ihren Betrieben –, die auf andere Alternativen gesetzt haben als auf Isofluran, einen Weg beschritten, durch den sie jetzt Investitionen einfach abschreiben müssen. Das ist tatsächlich das Gegenteil von verlässlichen Rahmenbedingungen, Herr Kollege Stübgen. Da hätten Sie früher eine Entscheidung treffen müssen, und Sie hätten es den Unternehmern selber überlassen sollen, welchen Weg sie wählen, weil der Weg, für den sie sich entscheiden, vielleicht viel besser zu ihren Betriebsabläufen passt, als auf Isofluran zu setzen, meine Damen und Herren. Ich sage Ihnen eines ganz ausdrücklich: Die Anschaffungskosten für diese Narkosegeräte sind immens. Da ist das BMEL auf dem falschen Trip, wenn Sie glauben, das wäre mal eben aus der Portokasse zu bezahlen. 3 000 bis 10 000 Euro alleine für die Anschaffung stehen da im Raum, zuzüglich laufender Kosten für Narkosegas, Wartung, Reparaturen und viele andere Dinge mehr. Sie setzen wiederum in der Landwirtschaft auf einen isolierten nationalen Weg, der nur dazu führt, dass deutsche Landwirte in einem europäischen Binnenmarkt Wettbewerbsnachteile haben, weil sie eben nicht die Entscheidung wie in anderen Ländern haben, auf den Weg zu setzen, der für ihre betrieblichen Abläufe der richtige wäre. Sie glauben daran, ihn vorzugeben, und das halten wir ausdrücklich für falsch. ({2}) Meine Damen und Herren, Studien haben gezeigt, dass bei bis zu 20 Prozent der Tiere, die mit Isofluran betäubt werden, die Narkose nicht ausreichend wirkt und dass ihnen immer noch ein Schmerz entsteht, den sie aber nicht, weil sie eben halb unter Narkose sind, wenn ich das so sagen darf, artikulieren können. Wenn wir einen Blick in die Zukunft wagen und sich diese Mehrheitssituation ändert und sich die Umfragen, die wir derzeit haben, vielleicht bei einer Bundestagswahl in einem Jahr oder in zwei Jahren bewahrheiten und vielleicht eine schwarz-grüne oder grün-schwarze Mehrheit zustande kommt, dann gebe ich Ihnen schon jetzt Brief und Siegel dafür, dass ein grüner Landwirtschaftsminister namens Hofreiter, Göring-Eckardt oder wie auch immer die Union am Nasenring durch die Manege ziehen wird. ({3}) Denn die Grünen werden sagen: Dieser Weg reicht nicht aus, weil immer noch Schmerzen entstehen. Was dann passiert, ist, dass der Landwirt ein zweites Mal mit Zitronen gehandelt hat: das erste Mal schon vor zwei, drei Jahren, als er sich auf den Weg gemacht hat, seinen Tieren mit einem anderen Weg als Isofluran Schmerzfreiheit zu ermöglichen, –

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Dr. Hocker.

Dr. Gero Clemens Hocker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004754, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

– ich habe die Uhr im Blick, Frau Präsidentin –

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Das reicht meistens nicht.

Dr. Gero Clemens Hocker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004754, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

– und dann ein zweites Mal, wenn ihm in ein oder zwei Jahren wiederum der Weg zu Isofluran verwehrt wird. ({0}) Unsere Betriebe brauchen Planungssicherheit, und diese Bundesregierung wäre gut beraten, dafür zu sorgen, dass sie diese Planungssicherheit tatsächlich hinbekommt. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Alles klar. Vielen Dank, Dr. Gero Hocker. – Dr. Kirsten Tackmann, Die Linke, gibt ihre Rede zu Protokoll. Friedrich Ostendorff wird jetzt für Bündnis 90/Die Grünen reden. ({0})

Friedrich Ostendorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003604, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich glaube, es hilft, jetzt mal wieder einen Blick auf die Praxis zu werfen. Wir haben seit vielen Jahren zu beklagen, dass wir Ferkel ohne Betäubung kastrieren. Seit 2013 ist es verboten. Viele Bäuerinnen und Bauern haben sich auf die Suche nach einem Weg gemacht, wie Ferkel mit Betäubung kastriert werden können. Wir haben aus der Schweiz Apparate nach Deutschland gebracht. Ich beschäftige mich seit zehn Jahren mit dieser Frage. Seit zehn Jahren kommt kein Ferkel mehr bei mir im Betrieb an, das nicht mit Isofluran betäubt worden ist. Wir haben als Alternative dazu die Ebermast oder die Immunokastration. Die Immunokastration ist zu Unrecht ins Gerede gekommen. Wir Grünen sind sehr stark dafür, den Weg der Ebermast oder der Immunokastration zu beschreiten. Aber dieser Weg ist immer wieder ins Gerede gebracht worden, mit Hormonfleisch und Ähnlichem. Auch Ministerin Klöckner war hiervon nicht frei. Wir haben neben dieser Frage immer wieder zu beantworten, wie wir die Ferkel betäubt kastrieren wollen. Es wird immer wieder Ferkel geben, die noch kastriert werden müssen, weil der Markt es verlangt, weil die baulichen Verhältnisse oder die Möglichkeiten bei den Betrieben nicht so sind, dass es ohne geht. Dies geht zurzeit – das ist festgelegt; das haben wir so entschieden – nur mit der Isofluranmethode. Heute können wir nur entscheiden – und dieser Weg ist aus grüner Sicht gangbar –, ob wir den Bäuerinnen und Bauern die kurze Phase der Gasanflutung, der Isoflurananflutung, diesen Weg eröffnen. Alles andere, was da passiert, dürfen die Bäuerinnen und Bauern sowieso selber machen. Das Schneiden, die postoperative Behandlung, die Vorbereitung, die schmerzstillende Spritze: all das machen die Halterinnen und Halter sowieso. Es geht nur um die Frage, ob Gasanflutung in die Hand von Bäuerinnen und Bauern gegeben werden kann. Wir haben Betriebe, die 300 bis 400 Ferkel pro Woche kastrieren. Wir Grüne denken, mit harter Sachkundeprüfung ist es machbar, diesen Weg zu gehen. Das können wir unterstützen. Was wir bei der Beratung erlebt haben, war allerdings wenig vertrauensbildend. Abermals kam es dazu, dass wir immer wieder Nachbesserungen bzw. Verschlechterungen erfuhren; es waren eben keine Verbesserungen. Das führt dazu, dass wir uns heute enthalten. Denn zum Beispiel ist es in der Frage der Altgeräte, von denen manche schon seit zehn Jahren in Deutschland im Einsatz sind, völlig klar – auch seitens der Hersteller –, dass diese Geräte auf den neuesten technischen Stand gebracht werden. Was macht aber die Koalition? Sie stellt einen Änderungsantrag und will die Altgeräte von der heute verfügbaren Technik freistellen. Das kann nicht sein. Das lehnen wir ab. Deswegen enthalten wir uns heute leider. Wir hätten gerne zugestimmt, wenn wir eine vernünftige Regelung gehabt hätten. Wir brauchen endlich Apparate, die kontrollierbar sind. Wir wollen verplompte Zählereinheiten, damit wir dieses Verfahren kontrollieren können.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Die Redezeit, Herr Ostendorff.

Friedrich Ostendorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003604, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich habe die Zeit im Blick.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Nein, das glaube ich nicht.

Friedrich Ostendorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003604, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir können aus diesem Grund diesem Verfahren heute nicht zustimmen. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Friedrich Ostendorff. – Letzter Redner ist Artur Auernhammer, aber auch er gibt seine Rede zu Protokoll. Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft zu der Verordnung zur Durchführung der Betäubung mit Isofluran bei der Ferkelkastration durch sachkundige Personen. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/10776, der Verordnung auf Drucksache 19/10082 in der Ausschussfassung zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss­empfehlung ist angenommen. Zugestimmt haben die Fraktionen von SPD und CDU/CSU. Dagegengestimmt hat die Fraktion Die Linke, und enthalten haben sich die Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen, der FDP und der AfD. Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/11176. – Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Zugestimmt haben die Fraktionen der Linken und Bündnis 90/Die Grünen. Dagegengestimmt haben die Fraktionen von SPD, CDU/CSU, FDP und AfD.

Steffen Kotré (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004791, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Im vorliegenden Gesetzentwurf soll ein Bürokratiemonster vereinfacht werden. Aber wir haben es grundsätzlich mit einem falschen System zu tun, und wenn wir innerhalb dieses Systems etwas ändern, dann wird es insgesamt nicht besser. Die Energieaudits und Energieeffizienzmaßnahmen vom Staat vorzuschreiben, bringt nichts. Unternehmen und Haushalte müssen selber entscheiden, ob, wo bzw. an welcher Stelle sie Energie einsparen wollen. Die vorgeschriebenen Energieberater sollten sich am Markt bewähren müssen; sie sollten nicht ihre Kunden frei Haus geliefert bekommen, sozusagen pflichtmäßig. Denn – im Gesetzentwurf ist es auch schon angesprochen worden – es gibt Qualitätsprobleme. Warum gibt es die? Weil wir hier den Markt aussetzen und etwas planwirtschaftlich vorschreiben. Die Branche der Energieberater macht sehr gute Arbeit. Aber wenn die Kunden zwangsweise eine Leistung nehmen müssen, dann gibt es sicherlich einige, die sich ausruhen und nicht entsprechend weiterqualifizieren. Genau das passiert, wenn man nicht den Markt wirken lässt, sondern planwirtschaftlich eingreift. Wie ich schon sagte, sollten die Unternehmen selber entscheiden können, was sie tun. Denn was passiert jetzt durch diese Maßnahmen, die oktroyiert werden? Sie werden natürlich eingepreist, und der Verbraucher muss dann teurere Produkte kaufen. Auf der anderen Seite haben wir mittlerweile solch hohe Energiepreise, dass die Unternehmen schon von selbst auf die Idee kommen, kosteneffizient und natürlich auch energieeffizient zu wirtschaften. Deswegen brauchen wir hier kein Bürokratiemonster. Und wenn denn die Bundesregierung ehrlich ist und Bürokratie abbauen möchte, dann streicht sie diese ganzen Bestimmungen. Denn Marktversagen gibt es hier nicht. Wohin das Ganze führen kann, das sehen wir am Quasiverbot der Glühlampe, eine Maßnahme, die völlig irrsinnig ist, also den Kunden nicht selber entscheiden zu lassen, ob er eine Glühlampe kauft oder eine Halogenlampe. Wir sehen weiter, was die EU alles vorhatte und noch vorhat, zum Beispiel vorzuschreiben, wie viel Watt ein Staubsauger haben darf. Da endet die Geschichte vielleicht noch gar nicht. Darüber könnte man lachen, aber, wie gesagt, wir wissen nicht, wo das Ende ist. Das sind alles Dinge, die mit dem Markt nichts zu tun haben, die also auch mit einem Verständnis von Freiheit, von Konsumentensouveränität nichts zu tun haben. Aus diesem Grunde wäre die Bundesregierung gut beraten, diese ganzen Bestimmungen einfach wegzunehmen, statt am Gesetz herumzudoktern. Danke schön. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Steffen Kotré. – Johann Saathoff für die SPD-Fraktion gibt seine Rede zu Protokoll. Dr. Martin Neumann für die FDP-Fraktion gibt die Rede zu Protokoll. Lorenz Gösta Beutin für Die Linke gibt die Rede zu Protokoll. Dr. Julia Verlinden für Bündnis 90/Die Grünen gibt ihre Rede zu Protokoll, und last, but not least Jens Koeppen für die CDU/CSU-Fraktion gibt seine Rede auch zu Protokoll. Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes über Energiedienstleistungen und andere Effizienzmaßnahmen. Der Ausschuss für Wirtschaft und Energie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/11186, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 19/9796 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Zugestimmt haben die Fraktionen von CDU/CSU und SPD. Dagegengestimmt hat die Fraktion der FDP, und enthalten haben sich die Fraktionen der Linken, Bündnis 90/Die Grünen und der AfD. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich jetzt zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist angenommen. Zugestimmt haben die Fraktionen von SPD und CDU/CSU, dagegengestimmt die Fraktion der FDP, und enthalten haben sich die Fraktionen der Linken, von Bündnis 90/Die Grünen und der AfD.

Wilfried Oellers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004365, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute in erster Lesung ein Gesetz zur Änderung der Sozialgesetzbücher IX und XII. Es handelt sich hierbei um Korrekturgesetze zum Bundesteilhabegesetz, das wir in der letzten Legislaturperiode verabschiedet haben. Es sind Änderungen nötig – und zwar in einem ersten Gesetz, das wir jetzt heute hier beraten – in redaktioneller Hinsicht und einige Klarstellungen, da es beim Bundesteilhabegesetz Formulierungen gibt, die – zumindest in der praktischen Umsetzung, die ansteht – erkennbar zu Rechtsunsicherheiten und Rechtsunklarheiten führen können. Die dritte Reformstufe soll am 1. Januar 2020 in Kraft treten. Deswegen ist es geboten, den Empfehlungen der Arbeitsgruppe Personenzentrierung, die durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales eingesetzt worden ist, hier zu folgen. Diese Arbeitsgruppe setzte sich zusammen aus vielen Vertretern von Leistungsträgern, Leistungserbringern. Die Bundesländer, mit sämtlichen Fachverbänden, waren hier involviert, um entsprechende gesetzliche Unklarheiten zu beseitigen, damit es in der Umsetzung dann nicht zu Rechtsunsicherheiten kommen kann. Es handelt sich, wie gesagt, vornehmlich um redaktionelle Änderungen und gesetzgeberische Klarstellungen zum eigentlichen Sinn bzw. eigentlichen Ziel des Bundesteilhabegesetzes. Es geht hier unter anderem um Vorschriften im Rahmen der Wohnkosten, zudem bei der Anrechnung von Aufträgen auf die Ausgleichsabgabe. Hier ist das Stichwort „andere Leistungsanbieter“ zu nennen. Das musste noch einmal konkretisiert werden. Darüber hinaus geht es zum Beispiel auch um Anrechnungen und Freistellungen im Rahmen des Taschengeldes beim Bundesfreiwilligendienst. Ich will hiermit ausdrücklich erwähnen, dass dieses Gesetz eine erste redaktionelle Korrektur des Bundesteilhabegesetzes ist. Es ist bekannt, dass es noch viele andere inhaltliche Fragestellungen gibt, die zu klären und anzugehen sind; dies wird allerdings in einem zweiten Schritt, in einem weiteren Gesetz stattfinden, dem sogenannten Angehörigen-Entlastungsgesetz, das in dieser Woche bereits das Bundeskabinett passiert hat und im Herbst ins parlamentarische Verfahren eintreten wird. Hier sind insbesondere beispielsweise folgende Themen genannt: Das Budget für Ausbildung wird durch dieses Gesetz eingeführt. ({0}) Darüber hinaus wird eine Entfristung der Regelung zur Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung erfolgen, dass hier auch finanzielle Planungssicherheit besteht – ein Instrument, das auch schon erfolgreich umgesetzt wird. Darüber hinaus wird weiterhin eingeführt ein Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, sodass auch hier diejenigen, die im Rahmen von Werkstätten für Menschen mit Behinderungen arbeiten, entsprechende Ansprüche haben. Letztlich soll auch der Unterhaltsrückgriff auf Angehörige beschränkt werden: auf einen jährlichen Einkommensbetrag von 100 000 Euro. Damit werden wir – in einem zweiten Schritt, wie gesagt – das Bundesteilhabegesetz ergänzen. Die letztgenannten Punkte werden aber solche sein, die wir im Herbst im Rahmen des angekündigten Angehörigen-Entlastungsgesetzes beraten werden. Ich bitte insoweit um beratende Zustimmung in den Ausschüssen. ({1}) Das erste Gesetz ist, wie gesagt, lediglich redaktioneller Natur. Ich denke, dass hier auch Einstimmigkeit erzielt werden kann. Danke schön. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Wilfried Oellers. – Nächster Redner: Martin Sichert für die AfD-Fraktion. ({0})

Martin Sichert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004892, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Wertes Präsidium! Meine Damen und Herren! Wie pervers die aktuell betriebene Sozialpolitik ist, zeigt exemplarisch der vorliegende Gesetzentwurf: Er enthält zahllose bürokratische Miniänderungen und Umformulierungen, die weder den Betroffenen noch dem Staat wirklich helfen. Ein Beispiel: Jugendliche in Pflegeheimen und in Pflegefamilien müssen drei Viertel ihres Einkommens an den Staat abführen – als wäre der Start ins Leben für diese Jugendlichen, die nicht bei ihren Eltern aufwachsen können, nicht schon schwer genug! Indem man ihnen drei Viertel des Lohns wegnimmt, bringt man ihnen bei, dass sich Arbeit nicht lohnt. Diese Regelung, sie gehört so schnell wie möglich abgeschafft. Stattdessen beschäftigen Sie sich in dem Gesetzentwurf ernsthaft damit, den Jugendlichen das Geld künftig nach der Höhe des aktuellen Monatseinkommens statt des Durchschnittseinkommens des Vorjahres wegzunehmen. Mit dieser neuen Regelung schaden Sie letztlich allen. ({0}) Sie schaden den Betroffenen, weil viele Jugendliche in Ausbildung sind und von Jahr zu Jahr ein höheres Einkommen erhalten, also künftig noch mehr an den Staat abgeben müssen. Sie schaden dem Haushalt, weil jetzt schon ein Großteil dessen, was den Jugendlichen abgenommen wird, für die Bürokratie aufgewandt wird. Die Kosten für die Bürokratie werden deutlich steigen, wenn künftig jeden Monat neu ermittelt werden muss, was der Jugendliche verdient, anstatt einmal im Jahr einen Durchschnittswert zu errechnen. Und Sie schaden auch noch dem Staat, wenn Sie den Jugendlichen künftig noch mehr Geld wegnehmen; denn die Jugendlichen lernen dann erst recht, dass sich Arbeit nicht lohnt. Dass man den Jugendlichen drei Viertel ihres Gehalts wegnimmt, ist ein massives Hindernis auf dem Weg zu einem eigenständigen Leben in unserer Leistungsgesellschaft. Schon jetzt lebt der Großteil der Pflegekinder später vom Sozialstaat – kein Wunder bei solchen Regelungen. Ein großer Teil der Abgeordneten wäre wohl nicht hier, wenn Sie drei Viertel Ihrer Diäten, des Nebenverdienstes und der Pauschalen an den Staat abgeben müssten. Würde eine solche Dreiviertelregelung Sie betreffen, gäbe es eine Gesetzesänderung, so schnell könnten wir gar nicht schauen. Aber da es nur arme Heimkinder betrifft, die keine Lobby in diesem Land haben, passiert einfach gar nichts. Ich kann nur hoffen, dass der ein oder andere Abgeordnete aus den Regierungsfraktionen die Sommerpause zur Besinnung nutzt. ({1}) Denn wir brauchen echte und vernünftige Reformen wie die Abschaffung der Kostenheranziehung von Jugendlichen und nicht dieses ständige Herumdoktern an bürokratischen Detailfragen, das alles nur noch schlimmer macht. Frau Roth, Sie haben nach einer meiner letzten Reden gesagt, Sie sehen hier keine Altparteien. Aber allein wenn ich mir die Gesetzentwürfe ansehe, die uns immer wieder vorgelegt werden, sehe ich alte, verbrauchte Parteien, die nur in den Bahnen bestehender Gesetze denken können und zu großen Reformen unfähig sind. ({2}) Deswegen ist es so wichtig, dass mit der AfD eine neue, frische politische Kraft in dieses Parlament eingezogen ist; denn Deutschland braucht Mut zu notwendigen Reformen statt einer Flut redaktioneller Miniänderungen. Vielen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Martin Sichert. – Die nächste Rednerin in der Debatte, Angelika Glöckner, gibt ihre Rede für die SPD zu Protokoll. Wieder live: Jens Beeck für die FDP-Fraktion ist der nächste Redner. ({0})

Jens Beeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004666, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das weißt du noch gar nicht, Herr Kollege Herr Zimmer. – Hochverehrte Frau Präsidentin, herzlichen Dank! Herr Kollege Sichert, Sie haben es bestätigt: Wir denken zumindest in Sozialgesetzen, und damit sind wir Ihnen – jedenfalls was Ihre Initiativen angeht – ein gutes Stück voraus. Deswegen würde ich jetzt gerne wieder zur Sache sprechen. ({0}) Dass wir uns jetzt, um 2.07 Uhr, in der letzten Rede des heutigen Tages noch mit Arbeitszeitgesetzen und dem Arbeitnehmerschutz befassen, ist durchaus bemerkenswert und sensibilisiert die Fachpolitikerinnen und Fachpolitiker aus dem Geschäftsbereich des Ausschusses Arbeit und Soziales, die wir hier noch sitzen – also diejenigen, die sich mit diesen Themen befassen –, auch für andere Arbeiten. Das ist auch ein Trost, weil dieser Gesetzentwurf tatsächlich nicht viel enthält. Das vorliegende erste Reparaturgesetz zum Bundesteilhabegesetz ist relativ mager, und es kommt ein Jahr zu spät. Sie selber wissen, dass es so mager ist, dass das zweite Reparaturgesetz bereits in Arbeit ist. Das wird dann allerdings wesentlich mehr Substanz bringen. Die wesentlichen Fragen, die sich im Zuge des Bundesteilhabegesetzes für die Betroffenen stellen, werden allerdings in beiden Gesetzentwürfen noch nicht adressiert. Das gilt nach wie vor für die Trennung der Fachleistungen der Eingliederungshilfe und der Hilfen zum Lebensunterhalt, die Schnittstelle zwischen Eingliederungshilfe und Pflege, die Auflösung von Komplexverträgen und die dadurch drohenden massiven Haftungsfragen, insbesondere für Angehörige und ehrenamtliche Betreuer. Das einzig Inhaltliche, was wir in diesem Gesetzentwurf regeln, ist die Klarstellung zu den Privilegien oder Nichtprivilegien der anderen Leistungsanbieter. Da geht der Gesetzentwurf in die falsche Richtung. Auf der einen Seite sagt man, dass die anderen Leistungsanbieter nach § 60 SGB IX sämtliche Anforderungen zu erfüllen haben, die auch in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen gelten. Auf der anderen Seite haben sie aber nicht die entsprechenden Privilegien bei der öffentlichen Auftragsvergabe und in Bezug auf die Anrechnungsmöglichkeiten bei der Ausgleichsabgabe. Das geht grundsätzlich in die falsche Richtung. All das sind Schwierigkeiten, die nach 2016 dadurch entstanden sind, dass man an der einen Stelle zwar mutig war und gesagt hat, dass die Personenzentriertheit bedeuten kann bzw. muss, dass nicht mehr nach ambulant, teilstationär und stationär unterschieden wird, aber gleichzeitig den zweiten Schritt nicht gegangen ist. In der Folge wird die Personenzentriertheit dadurch zum Ausdruck gebracht, dass sowohl die existenzsichernden Leistungen als auch die Leistungen der Eingliederungshilfe in einem Sozialgesetzbuch gebündelt werden und nur an einer Stelle eine Auszahlung erfolgt. Eine andere Regelung hätte allen viel erspart; das müssen wir nachholen. Wenn Sie das irgendwann tun, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition, dann haben Sie uns abweichend von diesem Klein-Klein entschieden an Ihrer Seite. Lassen Sie mich als letztem Redner in der Debatte des heutigen Tages die letzten Sekunden meiner Redezeit nutzen, um mich für Ihre sehr sachgerechte und sachliche Sitzungsführung zu bedanken, Frau Präsidentin. ({1}) Nicht alles, was ich heute hier hören musste, hat unmittelbar meinen Vorstellungen davon entsprochen, wie man sich in diesem Hohen Haus benehmen sollte. Sie haben das zu einem guten Teil gerettet. Damit gehen wir entspannt in unseren Feierabend für heute und sehen uns morgen um 9 Uhr wieder. Herzlichen Dank. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen herzlichen Dank, lieber Kollege Jens Beeck. – Norbert Müller, Fraktion Die Linke, Corinna Rüffer, Bündnis 90/Die Grünen, und Peter Aumer, CDU/CSU-Fraktion, geben ihre Reden zu Protokoll. Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/11006 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Es gibt keine weiteren Vorschläge dazu. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Die Tagesordnung – aber nicht nur sie – ist erschöpft. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf heute, Freitag, den 28. Juni 2019, 9 Uhr, ein. Ich bedanke mich recht herzlich bei Ihnen und bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Deutschen Bundestages – vor allem auch bei den Parlamentsassistenten und -assistentinnen – ({0}) und wünsche Ihnen eine ruhige kurze Nacht. – Danke schön. Die Sitzung ist geschlossen. (Schluss: 2.12 Uhr)