Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 6/26/2019

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte Ihnen zu Beginn über den Europäischen Rat berichten, der am 20. und 21. Juni in Brüssel stattgefunden hat. Wir haben sehr intensiv über inhaltliche Fragen gesprochen, aber naturgemäß standen die Personalfragen dann doch im Mittelpunkt. Der Sachstand am 20. und 21. Juni war folgender: Ratspräsident Donald Tusk hat uns nach ausführlichen Konsultationen mitgeteilt, dass keiner der gegenwärtigen Spitzenkandidaten eine ausreichende Mehrheit hat. Man muss wissen: Eine Mehrheit im Rat bedeutet eine doppelte Mehrheit, und zwar 21 Mitgliedstaaten von 28 und 65 Prozent der Bevölkerung. Wir haben deshalb beschlossen, dass erstens Donald Tusk das Europäische Parlament über diesen Sachstand informiert und zweitens wir uns am 30. Juni erneut zu einem Europäischen Rat treffen. Denn es wäre wünschenswert für die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union, dass vor der Wahl des Präsidenten des Europäischen Parlaments von Rat und Parlament gemeinsam ein Personalpaket geschnürt wird, das den verschiedenen Belangen geografischer und parteipolitischer Art entspricht. Wir haben diesen Sachstand zu konstatieren. Ich will hier als jemand, der der EVP-Familie angehört, sagen, dass wir weiter zu dem Spitzenkandidatenprinzip stehen, aber die Konstellationen dieses Mal sehr kompliziert sind. Es gibt keine einfache Mehrheit mehr von zwei politischen Fraktionen. Vielmehr sind die Dinge komplizierter. Insofern müssen wir weiter nach einer Lösung suchen. Wir haben weiterhin eine strategische Agenda mit wichtigen Säulen unserer zukünftigen Arbeit vereinbart. Dazu gehört erstens die Bekämpfung des Klimawandels. Wir haben eine Diskussion geführt über die Frage: Wie verhalten wir uns zu dem Thema „Klimaneutralität bis 2050“? Deutschland gehört zu der überwiegenden Mehrzahl von Ländern, die sich zu dieser Klimaneutralität bis 2050 bekannt haben. Einige wenige Länder konnten diesem Bekenntnis nicht folgen. Da der Europäische Rat nur einstimmig beschließen kann, konnten wir leider nur den Beschluss fassen, der Ihnen zur Kenntnis gekommen ist. Wir haben uns mit dieser Frage auch deshalb beschäftigt, weil viele von uns beim UN-Sondergipfel zum Klimaschutz, der von António Guterres, dem Generalsekretär der UN, für September angesetzt ist, dann auch präsent sein werden. Zweitens haben wir das Thema Digitalisierung als ein wichtiges Thema für die Europäische Union in den nächsten fünf Jahren identifiziert, und wir haben ein sehr klares Bekenntnis zur multilateralen Zusammenarbeit abgegeben. Das führt mich zu dem zweiten Thema, das ich kurz anschneiden möchte, nämlich dem G-20-Gipfel, der von Freitag bis Sonnabend in Osaka in Japan stattfindet. Hier werden wir wieder einmal die Frage der multilateralen Zusammenarbeit diskutieren. Die japanische Präsidentschaft hat Themen auf die Tagesordnung gesetzt, die unsere Unterstützung finden: freier Handel und Kampf gegen unfaire Handelspraktiken, Kampf gegen Protektionismus. Es geht um grundlegende Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards, die weltweit eingehalten werden müssen. Es geht auch um die Frage der Datensouveränität, die die japanische Präsidentschaft auf die Tagesordnung gesetzt hat. Außerdem werden wir über das Thema Klimawandel sprechen – Sie wissen, dass das im G-20-Format sehr kompliziert ist – und uns mit Fragen der Digitalisierung und der künstlichen Intelligenz beschäftigen. Die Finanzminister haben erhebliche Fortschritte erzielt, was eine faire Unternehmensbesteuerung, auch in Zeiten der digitalen Wirtschaft, angeht. Das werden wir aufgreifen und gegebenenfalls auch weiterführende Diskussionen führen. Deutschland wird mit einer Position für den Multilateralismus auf diese Tagung fahren. Angesichts der vielen Themen der Weltagenda wird es beim G-20-Gipfel natürlich viele bilaterale Begegnungsmöglichkeiten geben. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr, Frau Bundeskanzlerin. – Wir beginnen jetzt mit der Befragung. Die erste Frage stellt der Kollege Dr. Gottfried Curio, AfD. ({0})

Dr. Gottfried Curio (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004698, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herzlichen Dank. – Frau Kanzlerin, Staatssekretär Tauber hat aus Anlass des Mordfalls Lübcke empfohlen, den Grundrechteentzug nach Artikel 18 Grundgesetz anzuwenden; bisher noch stets vom Bundesverfassungsgericht verworfen, in Deutschland noch nie angewandt. Er sagt: Artikel 18 ist heute ein Instrument nicht nur gegen Rechtsextreme, sondern auch gegen alle anderen, die sich ebenfalls dem Kampf gegen unsere Freiheit verschrieben haben. Wen meint er? Konkretisierend führt er aus, die politische Rechte könne man nicht integrieren und einbinden, und wünscht sich eine Wiederholung des historischen Statements „Der Feind steht rechts!“. Der Innenminister fährt nun fort: Dieser Mord motiviert mich, alle Register zu ziehen … Er lässt jetzt einen solchen Grundrechteentzug prüfen. Man lässt nur prüfen, was man dann möglichenfalls auch umsetzen will. Sehen Sie die Maßnahme eines Grundrechteentzugs gar bei Gleichsetzung von Rechtsextremisten und einer politischen Rechten, welcher der Feind sei, als geeignetes Mittel, Schwachstellen der Sicherheitsbehörden im Kampf gegen Extremismus zu schließen? Oder würden Sie sich von einem solchen Vorgehen distanzieren?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Es ist erst einmal Tatsache, dass es den Artikel 18 gibt. Ich sehe ihn als absolute Ultima Ratio. Der Kampf gegen Rechtsextremismus erfordert eine klare Abgrenzung von Rechtsextremismus. Diese nehmen wir vor, und die muss im politischen Raum durchgesetzt werden. ({0}) Darüber hinaus ist es ganz, ganz wichtig, dass wir dort zusammenhalten, wo es um diese Abgrenzung geht, und dass wir gar keine Lücken eröffnen, um überhaupt Gedanken zuzulassen, die solchen rechtsextremistischen Taten in irgendeiner Weise Legitimität verschaffen. Das ist eine Aufgabe des gesamten politischen Spektrums. Deshalb sage ich noch einmal: Artikel 18 ist die absolute Ultima Ratio. Er existiert in unserem Grundgesetz. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes werden sich dazu etwas gedacht haben. Aber unsere politische Arbeit findet heute in ganz anderen Bereichen statt.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nachfrage?

Dr. Gottfried Curio (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004698, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ja.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Bitte.

Dr. Gottfried Curio (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004698, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Danke. – Sie sagen, Sie wollen keine Lücke lassen, die es ermöglicht, gewisse Gedanken zuzulassen. Ich habe ja gefragt, ob Sie sich von diesem Vorgehen, den Grundrechteentzug erstmals seit Jahrzehnten anwenden zu wollen, distanzieren würden und ob Sie nicht auch der Meinung sind, dass die Diskussion politischer Alternativen immer essenziell für eine funktionierende Demokratie ist, hingegen ihre Unterdrückung – etwa durch Grundrechteentzug – Quelle von Spaltung und gerade nicht Zusammenhalt sein könnte.

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Nein, ich sage noch einmal: Der Artikel existiert. Das werden Sie auch nicht bezweifeln. Trotzdem sehe ich meine politische Aufgabe in anderen Feldern, weil ich es nicht bis zu einer Ultima Ratio kommen lassen möchte. Das wollen und werden wir auch verhindern.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Martin Schulz, SPD, stellt die nächste Frage.

Martin Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004886, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Merkel, im Jahre 2014 haben Sie und ich gemeinsam – Sie etwas zögerlicher als ich – den Spitzenkandidatenprozess in Gang gesetzt, der dazu führen soll, dass derjenige Spitzenkandidat einer Partei auf europäischer Ebene, der im Europäischen Parlament eine Mehrheit hinter sich versammelt, Präsident der EU-Kommission werden soll. So ist Jean-Claude Juncker ins Amt gekommen. Es war die Idee der Übertragung des Willens der Bürgerinnen und Bürger, um bei der Stimmabgabe zur Wahl zum Europäischen Parlament Einfluss nehmen zu können auf die Besetzung der Spitze der Europäischen Kommission. In meinen Augen ist dies einer der größten Demokratisierungsfortschritte, die wir in den letzten Jahren in Europa hatten. Nun wird mir berichtet – und das schreiben auch Zeitungen –, dass Sie am Ende des Europäischen Rates gesagt haben sollen: Wenn Weber raus ist, dann sind alle raus. – Das kann ich gar nicht glauben. Da aber die Haltung der Bundesregierung im Europäischen Rat – nach Lage der Dinge können immer noch sowohl Manfred Weber als auch Frans Timmermans eine Mehrheit im Parlament bekommen – von entscheidender Bedeutung ist, möchte ich Sie deshalb konkret fragen: Stehen Sie ohne Wenn und Aber zu diesem Spitzenkandidatenprozess?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Schauen Sie, Herr Kollege Schulz, es ist so, dass wir im Jahre 2014 nach dem Spitzenkandidatenprozess – den unterstütze ich; ich habe allerdings immer auf die damit verbundenen Schwierigkeiten mit Blick auf den Rat hingewiesen – eine sehr einfache, übersichtliche Situation hatten, nämlich zwei Fraktionen, die zusammen im Europäischen Parlament eine Mehrheit hatten. Man hat sich entschieden, dass die Fraktion, die mehr Stimmen bekommen hat, dann den Kommissionspräsidenten stellt. Jetzt haben wir keine Mehrheit von zwei Fraktionen, sondern eine kompliziertere Situation. Es werden Gespräche mit den Grünen und den Liberalen geführt. Das ist auch notwendig, um zu stabilen Mehrheiten zu kommen. Jetzt wird von den Sozialisten und der EVP das Spitzenkandidatenkonzept weiter befördert. Allerdings haben die Sozialisten nun gesagt, dass sie zwar das Spitzenkandidatenkonzept haben wollen, aber den Spitzenkandidaten der größten Gruppe im Europäischen Parlament nicht unterstützen. So etwas hat es 2014 bei Ihnen nicht gegeben. Dafür bin ich Ihnen sehr dankbar. Die Sache ist deshalb diesmal komplizierter. Wenn man in eine Debatte hineingeht und sagt: „Wir finden das Spitzenkandidatenkonzept toll; aber den Spitzenkandidaten der größten Gruppe finden wir nicht toll, sondern nur unseren Spitzenkandidaten“, dann kommen wir natürlich zu bestimmten Verwerfungen. Wenn man so vorgeht, dann darf man sich nicht wundern, dass andere sagen: Ja wenn es so losgeht, dann agieren wir nicht anders. Wir haben doch alle miteinander eine Verantwortung für Europa. Da würde ich mir wünschen, dass wir zu einer Lösung kommen, die das Spitzenkandidatenkonzept natürlich nicht ins Abseits stellt, die aber auch Europa handlungsfähig sein lässt. Da müssen sich alle ein bisschen bewegen. Hinzu kommt, dass im Rat nicht alle vom Spitzenkandidatenkonzept überzeugt sind. Sie gehören doch auch zu denen, die die deutsch-französische Freundschaft sehr hochhalten. Aber wir müssen konstatieren, dass der französische Präsident zur Frage des Spitzenkandidaten eine andere Meinung hat als ich.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Bundeskanzlerin, vielen Dank.

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Entschuldigung, ich werde 15 Sekunden bei irgendeiner anderen Frage einsparen. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Ich wollte gerade sagen: Der Prozess ist so kompliziert, –

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Der auch nur notdürftig dargestellt werden konnte.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

– dass ich in diesem Fall die Überschreitung der üblichen Zeit zulasse. Nachfrage, Herr Kollege Schulz.

Martin Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004886, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Man merkt ja, Frau Merkel, dass Ihnen die Frage unangenehm ist.

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Nein.

Martin Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004886, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Länge Ihrer Ausführung beweist das.

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Wem das unangenehm ist, das steht mal dahin.

Martin Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004886, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Na ja. – Man merkt, dass Ihnen die Frage unangenehm ist, deshalb: Vielen Dank, Herr Präsident, dass ich die Möglichkeit zur Nachfrage habe. Politik ist ein dynamischer Prozess, Frau Merkel. Im Europäischen Parlament haben auch in diesen Stunden alle Fraktionen erklärt, dass sie nicht vom Spitzenkandidatenprozess abweichen wollen. Deshalb gehe ich davon aus, dass sowohl Manfred Weber als auch Frans ­Timmermans im Parlament immer noch die Chance haben, eine Mehrheit hinter sich zu versammeln. Es ist das Prinzip, dass der- oder diejenige, der oder die im Parlament eine Mehrheit hinter sich versammelt – unabhängig davon, ob er oder sie der Stärkste bzw. die Stärkste ist –, Spitzenkandidat werden soll. Sie haben recht: Im Rat ist die Lage heterogener als im Parlament. Deshalb ist die Rolle Ihrer Regierung, Ihre Rolle als Bundeskanzlerin des stärksten Mitgliedslandes der Europäischen Union gerade im Lichte der Haltung der französischen Regierung von entscheidender Bedeutung. Ich frage Sie deshalb noch einmal sehr präzise: Stehen Sie uneingeschränkt und ohne Wenn und Aber zu diesem Spitzenkandidatenprozess?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Erst einmal waren Sie damals ein fairer Verlierer. Das will ich ausdrücklich hervorheben. ({0}) Sie haben sofort und noch in der Nacht gesagt, dass Jean-Claude Juncker der Kommissionspräsident wird. Zweitens bin ich Ihnen sehr dankbar, dass Sie eben gesagt haben, dass sowohl Manfred Weber als auch Frans Timmermans die Chance haben, im Parlament eine Mehrheit hinter sich zu versammeln. Allerdings ist damit die Arbeit nicht getan; denn es kann zur Wahl des Präsidenten der Kommission überhaupt nur antreten, wer vom Europäischen Rat vorgeschlagen wird. Dieser Vorschlag hängt nicht von mir alleine ab. Es ist notwendig, die doppelte Mehrheit, wie ich es gerade gesagt habe, im Europäischen Rat zu bekommen, um dem Parlament überhaupt einen Vorschlag zu machen. Daran muss gearbeitet werden. Ich möchte, dass dies unter Berücksichtigung des Spitzenkandidatenkonzepts geschieht. Ob das im Rat gelingt, kann ich Ihnen heute nicht sagen. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Katja Suding, FDP, stellt die nächste Frage.

Katja Suding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004910, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Frau Bundeskanzlerin, in der Koalition gab es im letzten Jahr ein monatelanges Tauziehen um den § 219a Strafgesetzbuch. Die SPD wollte ihn abschaffen, die Union wollte ihn so lassen, wie er ist. Im Februar 2019 haben wir im Hause eine Änderung des Paragrafen verabschiedet. Sowohl die Vertreter der SPD als auch der Union haben daraufhin der Öffentlichkeit ausdrücklich versichert, dass es nun möglich sei, dass Ärztinnen und Ärzte auf ihrer Website darüber informieren, dass sie Schwangerschaftsabbrüche vornehmen. Jetzt sind allerdings in der vorletzten Woche zwei Ärztinnen in Berlin dafür verurteilt worden, dass sie auf ihrer Website angegeben haben, dass zu ihren Leistungen auch Schwangerschaftsabbrüche gehören. Da wurde die Öffentlichkeit also getäuscht. Es besteht also immer noch keine Rechtssicherheit für die Mediziner. Die Frauen können sich noch immer nicht auf den Websites frei informieren. Ich möchte gerne wissen. Wie bewerten Sie diesen misslichen Umstand? Finden Sie nicht auch, dass die Gesetzesänderung noch nicht die notwendige Verbesserung gebracht hat? ({0})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ich glaube, dass die Gesetzesänderung die Sicherheit für die Frauen und vor allen Dingen auch für die Ärztinnen und Ärzte erhöht, und ich glaube, dass wir sehr präzise dargestellt haben, was unter „Information“ zu verstehen ist. Deshalb muss an dieser Stelle die Rechtssicherheit auch höher sein. Ich kann die einzelnen Fälle hier jetzt nicht bewerten. Ich sage nur: Wir haben uns sehr viel Mühe gegeben, zu sagen, was „Information“ ist, um damit die Abgrenzung zur Werbung deutlich zu machen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nachfrage?

Katja Suding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004910, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, eine kurze Nachfrage, und zwar: Das Ziel war – das war eindeutig und klar –, die Rechtssicherheit für die Ärztinnen und Ärzte zu erhöhen und die Informationsrechte der Frauen zu stärken. Jetzt sehen wir aber anhand des Urteils, welches ja auf Grundlage der neuen Regelung gefällt wurde, dass dieses Ziel noch nicht erreicht ist. ({0}) Können Sie sich denn vorstellen, weiter an dem Paragrafen zu arbeiten, ihn vielleicht sogar abzuschaffen, ihn zu reformieren?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Nein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass unsere sehr präzisen und wirklich lange und sehr intensiv erarbeiteten Vorschläge nicht so sind, dass man informieren kann und die Abgrenzung zur Werbung dabei deutlich wird. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Roderich Kiesewetter, CDU/CSU, stellt die nächste Frage.

Roderich Kiesewetter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004068, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke, Herr Präsident. – Frau Bundeskanzlerin, ich möchte einen Gedanken aufgreifen, den Sie zu Beginn Ihrer Einführung zum Thema G 20 hatten. Japan als Gastgeber von G 20 ist ja ähnlich ausgerichtet wie wir: in Fragen des internationalen Handels, bei der Revitalisierung der internationalen Ordnung, aber eben auch bei Fragen der Konfliktbewältigung im Golf. Inwiefern sehen Sie G 20 künftig durch die Zusammenarbeit mit Staaten, die ähnlich ausgerichtet sind wie wir, als einen möglichen Konfliktregelungsmechanismus bei internationalen Konflikten, die ja zunehmen, wie jetzt gerade im Bereich des Golfs? Ich sehe hier eine Chance mit Blick auf die Handlungsunfähigkeit des UN-Sicherheitsrats.

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ich glaube, hier muss man sehr nüchtern sein; denn alle Mitglieder des VN-Sicherheitsrates sind auch Mitglieder der G-20-Gruppe. Und wenn diese sich im G-20-Format blockieren, dann gibt es kein Kommuniqué, dann gibt es keine gemeinsamen Stellungnahmen. Also: Die Blockaden des UN-Sicherheitsrats kann man nicht durch G 20 sozusagen ungeschehen machen. Ich glaube, dass G 20 die Möglichkeit bietet, am Rande eine Vielzahl von Gesprächen zu führen, die ja auch zur Lösung von sicherheitspolitischen Fragen beitragen können, dass wir G 20 aber auch nicht überfrachten dürfen. G 20 ist von den größten Wirtschaftsländern dieser Erde aufgrund der Finanzkrise auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs gegründet worden. Das wird der Hauptpunkt bleiben, und deshalb mache ich mir keine Illusionen über die Schlagkraft von G 20 bezüglich außenpolitischer Fragen, die im UN-Sicherheitsrat nicht zu lösen sind.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Die nächste Frage stellt Matthias Höhn, Die Linke.

Matthias Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004759, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Bundeskanzlerin, Sie haben vor einiger Zeit in einem Interview mit der Zeitung „Die Zeit“ darauf hingewiesen, dass es bei den Ostdeutschen ein hohes Maß an Frustration und das Bedürfnis gebe, Bilanz zu ziehen, auch mit Blick auf die Jubiläen, die vor uns liegen. Ich würde Sie gerne fragen, inwiefern Sie den Eindruck haben – vor allem mit Blick auf die 1990er-Jahre –, dass die Arbeit der Treuhandanstalt Teil dieser Frustration ist, und ob Sie wie ich der Meinung sind, dass es Zeit wäre, die Arbeit der Treuhandanstalt einer Bilanz zu unterziehen.

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ich glaube, dass sich vielleicht zu wenige Menschen an die schonungslose Analyse des Zustands der DDR-Ökonomie von Günter Mittag erinnern und dass die Erlebnisse im Zusammenhang mit der Treuhandanstalt manchmal zu dem Gedanken führen: Die Schwierigkeiten liegen vielleicht an der Treuhandanstalt. – Es lag aber eigentlich an der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen Wirtschaft. ({0}) Man muss die Ursachen wirklich klar benennen: Es war ein harter Transformationsprozess. Ich weiß aber von vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Treuhandanstalt, dass sie wirklich ihr Bestes gegeben haben. Es hat sicherlich auch Fehler gegeben – in der Ansprache, im Umgang –, aber es gab viele, die sich dafür eingesetzt haben, dass die Wirtschaft in den neuen Bundesländern eine gute Chance bekommt. Ich will an dieser Stelle auch daran erinnern, dass Herr Rohwedder, der Chef der Treuhandanstalt, im Zusammenhang mit dieser Funktion ermordet wurde. Das war ein ganz schwieriger Prozess. Ich danke deshalb den vielen Mitarbeitern, die damals auch etwas ganz Neues begonnen haben. Deshalb würde ich sagen: Wir können auf diese Arbeit zurückblicken. Wir können immer über Fehler oder Dinge, die nicht hundertprozentig gelungen sind, nachdenken. Aber die Treuhandanstalt hat mit dazu beigetragen, dass wir heute wieder Wirtschaftskerne in den neuen Bundesländern haben, die auch überlebensfähig sind und wachsen können. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nachfrage?

Matthias Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004759, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Bitte, Herr Kollege Höhn.

Matthias Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004759, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Bundeskanzlerin, ich habe eine Nachfrage, weil ich mir nicht ganz sicher bin, wie ich es zu verstehen habe. Wollen Sie dem Bedürfnis der Ostdeutschen nach Bilanzierung, das Sie ja selber diagnostiziert haben, als Bundesregierung nachkommen, jetzt in der aktuellen Diskussion 30 Jahre später? Inwiefern kann die Arbeit der Treuhand in diese Bilanzierung der Bundesregierung einfließen, und in welcher Form wollen Sie die Arbeit bilanzieren?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ich sehe jetzt keine Konzentration auf die Arbeit der Treuhandanstalt, um gegebenenfalls Enttäuschungen im Einigungsprozess allein darauf zurückzuführen. Es gab natürlich Enttäuschungen für die vielen Menschen, die ihre Arbeit verloren haben und nicht wieder an ihren alten Beruf anknüpfen konnten. In der ehemaligen DDR waren 11 Prozent der Beschäftigten in der Landwirtschaft tätig, nach der Wirtschafts- und Währungsreform waren es nur noch 2 Prozent. Es ist natürlich klar, dass die vielen Tierärzte, die vielen Menschen, die in der LPG gearbeitet haben, nicht sofort irgendwo hingehen und in einem ganz anderen Berufsfeld beginnen konnten. Das hat Enttäuschungen produziert. Viele haben auch den Eindruck, dass ihre Lebensleistung in der DDR nicht ausreichend gewürdigt wurde; denn da wurde hart gearbeitet und vieles getan in einem sehr ineffizienten System. Deshalb bin ich sehr wohl bereit, zu bilanzieren – natürlich –, aber nicht mit der Konzentration allein auf die Treuhandanstalt.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Dr. Kerstin Kappert-Gonther, Bündnis 90/Die Grünen, stellt die nächste Frage.

Dr. Kirsten Kappert-Gonther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004773, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Bundeskanzlerin, heute ist Weltdrogentag, und Sie wissen, dass Deutschland das letzte Land in der EU ist, das die großformatige Werbung für Tabakprodukte im öffentlichen Raum noch zulässt. Das bedeutet, dass Kinder und Jugendliche in Deutschland auf ihrem Schulweg von dieser Werbung beeinflusst werden, was einen signifikanten Einfluss darauf hat, dass sie anfangen zu rauchen, wie wir wissen. In der letzten Legislatur gab es einen Kabinettsentwurf zum Verbot der Tabakwerbung. Dieser hat den Bundestag nicht erreicht. Frau Mortler hat im Dezember einen neuen Gesetzentwurf von Ihnen angekündigt; das Gleiche hat die Staatssekretärin Weiss in einer der letzten Fragestunden bekräftigt. Ich möchte gerne wissen, wie Sie es beurteilen, dass Deutschland das letzte Land ist, das diese Werbung noch zulässt, und wann Sie endlich der Prävention Vorrang vor den wirtschaftlichen Interessen, die zulasten der Gesundheit gehen, einräumen werden. – Danke. ({0})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Das ist in der Tat ein hoch umstrittener Sachverhalt in der Fraktion, der ich angehöre. Ich persönlich glaube, dass wir hier handeln und die Sache zu einer Entscheidung bringen sollten. Da ich darüber berichten kann, dass wir heute im Kabinett wie versprochen über die Rüstungsexportrichtlinien diskutiert haben, was auch eine schwierige Sache war, sage ich einfach mal, dass wir bis zum Jahresende eine Haltung dazu finden. Wenn es nach mir geht, sollten wir das Tabakwerbeverbot haben, also die Werbung für Tabakprodukte verbieten. ({0}) – Man spürt, dass es bei uns in der Fraktion ein viel diskutiertes Thema ist. Aber auch das werden wir schaffen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Die nächste Frage stellt Martin Renner, AfD.

Martin Erwin Renner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004862, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Grüß Gott allerorten! Verehrte Frau Bundeskanzlerin, Sie waren ja auf dem Kirchentag in Dortmund, der relativ wenig christlich ablief, und haben da eine Rede gehalten. In dieser Rede haben Sie gesagt, wir sollten Afrikas Interessen erfüllen, wir dürften nicht nur das machen, was wir richtig finden, sondern wir müssten das machen, was Afrika glaubt zu brauchen. Das war so in etwa die Rede, die Sie schon mal auf einem Kirchentag gehalten haben. Das war 2011 in Dresden, wo Sie gesagt haben: Wer die neue Weltordnung haben will, der wird nicht umhinkommen, Teile seiner Souveränität abzugeben. Jetzt habe ich einfach mal die Bitte, dass Sie dem Bürger erklären, was denn „Wer die neue Weltordnung haben will“ bedeutet. Was ist die neue Weltordnung? Und wie soll der Prozess laufen, Souveränitätsrechte des Bürgers sozusagen teilweise abzugeben, um jemand anderen mit diesen Rechten auszustatten? Das wäre eine Frage, die mich brennend interessieren würde als Vertreter der Rechte unserer Bürger. – Danke schön. ({0})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Wir haben hier am Anfang über die Europäische Union gesprochen, die ein multilaterales Projekt ist, bei dem wir sehr wohl nach einem bestimmten Schema Rechte an die Europäische Union abgeben, aber immer so, dass die Nationalstaaten die Herren – wie man sinnvollerweise sagt; man könnte auch sagen: die Frauen – der Verträge sind. Das heißt, es ist jeweils eine bewusste Entscheidung eines Deutschen Bundestages, eine bestimmte Kompetenz an eine andere Institution zu übertragen. Davon zu trennen sind unsere Beziehungen zu Afrika. Die Beziehungen zu Afrika beruhen aus meiner Perspektive zu oft darauf, dass wir in unserer Entwicklungspolitik glauben, zu wissen, was richtig ist. Ich bin sehr froh, dass die Afrikanische Union mit ihrer Agenda 2063 für sich Dinge priorisiert hat, die sie für die Entwicklung ihres Kontinents wichtig findet. Das heißt nicht, dass wir ihnen in allem folgen, sondern dass wir aufhören sollten, zu glauben, Entwicklungspolitik sei ein karitativer Akt und jeder, der von uns etwas bekommt, müsse sich darüber freuen. Vielmehr zeigt das eine emanzipatorische Diskussion darüber, wie wir uns am besten entwickeln und ergänzen können. Das heißt auch, dass wir etwas von Afrika lernen können; davon bin ich zutiefst überzeugt. Zu glauben, wir wüssten alles, und zu meinen, dort gebe es keine interessanten kulturellen Erfahrungen, hieße, ganz andere Blicke auf die Zukunft und damit ein Riesenpotenzial beiseite zu legen. Das möchte ich für uns nicht. Europa, das tut uns gut. Der Papst hat mal gesagt: Europa erscheint ihm in Bezug auf eine Perspektive für die Zukunft ein bisschen wie eine Großmutter, da manches Lebendige entwichen ist – wobei ich damit nicht etwa die Großmütter beleidigen will. Vielleicht können uns Länder, deren Bevölkerung ein Durchschnittsalter von 15 Jahren hat, einen ganz anderen Blick auf die Zukunft ermöglichen. Das möchte ich auch hier und heute gerne sagen. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Möchten Sie eine Nachfrage stellen?

Martin Erwin Renner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004862, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ja, aber sicher, klar. – Sie benutzen gerne Wörter wie „Multikulturalismus“, „Multilateralismus“, „Universalismus“ und „Globalismus“. Bei diesen ganzen Ismen: Spielt da auch das Wohl des Bürgers unserer Gesellschaft noch eine Rolle? ({0}) Sind diese ganzen Ismen vielleicht auch nur Camouflage, um andere Interessen und Intentionen zu verdecken, um beispielsweise irgendwie herausgehobene Positionen in irgendwelchen supranationalen Staatsorganisationen zu bekommen? ({1}) Sind Sie tatsächlich davon überzeugt, dass Sie dem Wohl des Bürgers noch dienen, was Sie im Amtseid geschworen haben?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Mich leitet das Wohl der Bürgerinnen und Bürger bei dem, was ich tue. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir in Zeiten der Globalisie rung  – ich bitte, die Endung zu beachten – ({0}) gut daran tun, immer auch die Interessen anderer zu bedenken. Denn wenn man sich nur noch auf seine eigenen Interessen konzentriert, führt man ein Land in die Katastrophe. Davon bin ich zutiefst überzeugt. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Die nächste Frage stellt Dr. Marco Buschmann, FDP.

Dr. Marco Buschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004023, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Bundeskanzlerin, ich möchte zurückkommen auf den Vorschlag des Innenministers und eines Parlamentarischen Staatssekretärs Ihrer Regierung, in der Auseinandersetzung mit Extremisten Grundrechte nach Artikel 18 des Grundgesetzes zu entziehen. Nach dem Bundesverfassungsgerichtsgesetz ist die Bundesregierung unter anderem zuständig dafür, ein solches Verfahren einzuleiten. Sie müssten also auch persönlich daran mitwirken. Vor dem Hintergrund, dass diese Verfahren immer erfolglos waren, möchte ich Sie fragen: Halten Sie diese Vorschläge für klug eingedenk der Tatsache, dass sich rechte Hetzer als Märtyrer stilisieren können und durch dieses Ausnahmeverfahren eine Bühne bekommen und im Falle, dass es erfolglos ist, möglicherweise sogar von sich behaupten, durch das Bundesverfassungsgericht reingewaschen zu sein?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Also, ich konzentriere mich – ich habe es schon gesagt – auf andere Aktivitäten im Kampf gegen den Rechtsextremismus und habe nicht die Absicht, Grundrechte zu entziehen. Dennoch ist im Zuge der Meinungsbildung der Hinweis nicht verboten, dass unser Grundgesetz interessanterweise einen solchen Artikel enthält. ({0})

Dr. Marco Buschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004023, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nun hat der Parlamentarische Staatssekretär, der diesen Vorschlag gemacht hat, heute ganz konkret davon gesprochen, dass er Bloggern die Grundrechte entziehen möchte. Ist Ihnen ein Blogger oder eine Äußerung von Herrn Seehofer oder von Herrn Tauber über einen Blogger bekannt, auf den die Voraussetzungen des Artikels 18 Grundgesetz heute zutreffen könnten?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Nein.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Die nächste Frage stellt Dr. Anja Weisgerber, CDU/CSU.

Dr. Anja Weisgerber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004440, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, das Klimakabinett und die zuständigen Ministerien erarbeiten gerade umfangreiche Maßnahmen für mehr Klimaschutz in allen Sektoren. Ziel ist, eine umfassende Klimaschutzgesetzgebung bis zum Ende dieses Jahres zu verabschieden, die es in der Form so noch nicht gegeben hat. Daneben wird im Klimakabinett auch intensiv über die Frage der CO 2 -Bepreisung diskutiert. Daher meine Frage: Wie sehen Sie die Chancen, das europäische Emissionshandelssystem, das bereits eine Bepreisung vorsieht, auf europäischer Ebene oder zumindest in einer Koalition der Willigen auf andere Sektoren auszuweiten?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Wir haben im Zusammenhang mit der Frage der Bepreisung verschiedene Aktivitäten entfaltet. Unter anderem werden uns der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung am 12. Juli ein Gutachten zur Bepreisung im Nicht-ETS-Bereich vorlegen. Die Idee, dass wir alle europäischen Länder davon überzeugen können, das ETS-System in der gebotenen Eile auf die Sektoren Verkehr, Gebäude und Landwirtschaft auszuweiten, ist, glaube ich, nicht zielführend, weil wir hierfür wieder einstimmige Entscheidungen brauchen. Das geht nicht ohne den Europäischen Rat. Eine Koalition der Willigen wird möglich sein. Wir werden uns insbesondere mit den Niederlanden und mit Frankreich darüber unterhalten, wie sie die Frage der Bepreisung angehen. Ob daraus eine Koalition der Willigen entsteht, kann ich heute noch nicht sagen. Aber wir müssen dann ein Extrasystem erfinden, weil wir nicht einfach ins europäische System einspeisen können, wenn es dazu keine Beschlussfassung der gesamten Europäischen Union gibt.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Susann Rüthrich von der SPD stellt die nächste Frage.

Susann Rüthrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004391, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Bundeskanzlerin, als Vorsitzende der Kinderkommission des Deutschen Bundestages und als Kinderbeauftragte meiner Fraktion habe ich mich sehr gefreut, dass wir uns im Koalitionsvertrag vorgenommen haben, die Kinderrechte in das Grundgesetz aufzunehmen und dort ausdrücklich zu verankern. Eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe ist eingesetzt, die uns im Herbst einen Formulierungsvorschlag vorlegen wird. Wir sind sehr gespannt darauf. Für die SPD-Bundestagsfraktion ist das Vorhaben sehr wichtig; denn durch im Grundgesetz verankerte Kinderrechte würde der Staat stärker in die Pflicht genommen, wenn es um kindgerechte Lebensverhältnisse, um Kinderschutz und um gleiche Entwicklungschancen geht. Kinder sollen auch an den Entscheidungen, die sie betreffen, beteiligt werden. Das stärkt nicht nur die Kinder, sondern die ganze Familie. Frau Bundeskanzlerin, teilen Sie unsere Auffassung? Und werden Sie sich persönlich weiter für die Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz und damit für deren Stärkung einsetzen und das zur vorrangigen Aufgabe machen, sodass wir am Ende des Jahres das Grundgesetz hoffentlich tatsächlich entsprechend ändern können?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Das Vorhaben ist nicht nur Teil unseres Koalitionsvertrages, sondern es war auch Teil des Regierungsprogramms von CDU und CSU. Insofern sind wir überzeugt, dass wir etwas finden müssen. Neben mir sitzt ja jemand, der morgen eine andere Funktion annehmen wird. Wir werden sehr intensiv zusammenarbeiten. Als Nichtjuristin kann man sich manchmal gar nicht vorstellen, wie schwierig es ist, den einfachen Satz „Kinderrechte ins Grundgesetz“ auch wirklich umzusetzen. Aber diese Hürden werden wir überwinden. Wir müssen das hinbekommen. Ich weiß nicht genau, ob es Dezember oder Januar wird, aber ich kann sagen: Ich fühle mich dem Vorhaben vollständig verpflichtet. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Susanne Ferschl, Die Linke, stellt die nächste Frage.

Susanne Ferschl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004715, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Bundeskanzlerin, mittlerweile hat Deutschland den größten Niedriglohnbereich in Westeuropa. Jeder fünfte Beschäftigte ist von Niedriglohn betroffen. ({0}) In Ostdeutschland ist die Situation noch dramatischer. Dort sind doppelt so viele Beschäftigte wie in Westdeutschland vom Niedriglohn betroffen. Klar ist, dass sich Kolleginnen und Kollegen gewerkschaftlich organisieren müssen, um für die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen zu streiten, so wie aktuell die IG Metall, die die Arbeitszeitangleichung auf eine 35-Stunden-Woche für die Beschäftigten in Ostdeutschland fordert. Ich wünsche den Kolleginnen und Kollegen an der Stelle ganz viel Erfolg. Meine Frage an Sie: Was wollen Sie ganz konkret unternehmen, um den riesigen Niedriglohnsektor endlich einzudämmen? Was wollen Sie 30 Jahre nach dem Mauerfall tun, um den Kolleginnen und Kollegen in den neuen Bundesländern endlich die gleichen Arbeitsbedingungen und die gleichen Löhne zu bieten?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Da wir gesehen haben, dass die Tarifpartner nicht mehr flächendeckend in der Lage sind, Lohnverhandlungen zu führen, weil es sehr viele Betriebe gibt, die eben nicht tarifgebunden sind, haben wir uns entschieden, einen Mindestlohn einzuführen. Wir haben auch in Übereinstimmung mit den Tarifpartnern eine Mindestlohnkommission eingesetzt. Wir sehen, dass die wachsenden Durchschnittslöhne in Deutschland, die wir ja glücklicherweise haben, dazu führen, dass auch der Mindestlohn ansteigt. Das ist eine gute Nachricht. Ansonsten setzen wir auf Bildung, vor allen Dingen auf Qualifizierung, weil Qualifizierung eine bessere Chance auf höhere Löhne bietet. Deshalb haben wir als Bundesregierung eine umfassende Weiterbildungsstrategie verabschiedet. Ansonsten heißt es, alles zu tun, damit wir wettbewerbsfähig genug sind, um gute Arbeitsplätze in Deutschland zu halten und zu verhindern, dass solche Arbeitsplätze woandershin abwandern. Darum haben wir ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz gemacht – das hängt damit zusammen –, damit nicht ein Mangel an Fachkräften zum Thema wird. Gleichzeitig sind wir stolz darauf, dass wir die geringste Jugendarbeitslosenquote in ganz Europa haben.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nachfrage?

Susanne Ferschl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004715, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja. – Eine Nachfrage zum Thema Arbeitszeit: Frau Bundeskanzlerin, 30 Jahre nach dem Mauerfall ist es immer noch so, dass die ostdeutschen Kolleginnen und Kollegen in der Metall- und Elektrobranche drei Stunden länger arbeiten als ihre westdeutschen Kolleginnen und Kollegen. Die Arbeitgeber sagen, die ostdeutschen Beschäftigten seien nicht so produktiv. Stimmen Sie mit mir überein, dass das nicht eine Frage der Produktivität der ostdeutschen Beschäftigten ist, und werden Sie die Arbeitgeber aufrufen, ihre Blockadehaltung zu beenden? ({0})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Es ist gute Sitte in Deutschland, sich nicht in die Tarifgespräche einzumischen. ({0}) Sie wissen sehr wohl, dass Anfang der 90er-Jahre die Forderung nach einer sehr schnellen Angleichung der Arbeitszeiten der Tarifautonomie in den neuen Ländern einen großen Schaden zugefügt hat. Das ist jedenfalls meine Meinung. Wir haben seitdem nicht tarifgebundene Arbeitgeber in den Arbeitgeberorganisationen. Das alles hat die Dinge nicht vereinfacht. Ich wünsche mir natürlich gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Deutschland. Deshalb muss dieser Prozess vorangebracht werden – das sage ich jetzt in so allgemeiner Form –; aber die konkreten Gespräche müssen die Tarifpartner miteinander führen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Harald Ebner, Bündnis 90/Die Grünen, stellt die nächste Frage.

Harald Ebner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004215, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke, Herr Präsident. – Frau Bundeskanzlerin, viele bewundern ja zu Recht Ihre Kenntnis in vielen Detailfragen, so zum Beispiel beim Thema Pestizide, wo Sie ganz klare Positionen zu einzelnen Wirkstoffen vertreten. So haben Sie vor exakt zwei Jahren, kurz vor der letzten Bundestagswahl, beim Deutschen Bauerntag den dort versammelten Bauern versprochen, dass Sie für die weitere Glyphosat-Nutzung einstehen. Sie haben sich also klar für die weitere Glyphosat-Nutzung ausgesprochen. ({0}) Vor ein paar Wochen, Anfang Mai, haben Sie im Berliner Naturkundemuseum Schülerinnen und Schülern den Glyphosat-Ausstieg versprochen, also den Ausstieg. Deshalb frage ich Sie: War das ein relativ schneller persönlicher Erkenntnisprozess bei Ihnen? Sind Sie in zwei Jahren von der Glyphosat-Befürworterin zur Glyphosat-Gegnerin geworden? Oder haben einfach die Bauern die Antwort bekommen, die sie hören wollten, und die Schülerinnen und Schüler die Antwort, die sie hören wollten? ({1}) Beides zusammen geht jedenfalls schlecht. Deshalb frage ich mich: Welche der beiden Aussagen stimmt nun? Wollen Sie Glyphosat weiter nutzen oder aussteigen? ({2})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Schauen Sie, man kann nicht zum gleichen Zeitpunkt beim einen dies und beim anderen jenes sagen; aber hier ist der Zeitstrahl zu berücksichtigen. Sie kramen ja schon in Ihren Unterlagen, um vorzulesen, was ich vor zwei Jahren gesagt habe. Das ist alles gut und richtig. Wir haben in der Frage der Glyphosat-Nutzung, glaube ich, einen Entwicklungsprozess durchschritten. Gucken Sie in unseren Koalitionsvertrag. Es ist ganz klar, dass Glyphosat in einigen Bereichen inzwischen gar nicht mehr genutzt wird, in Parks und an ähnlichen Orten. Ansonsten haben wir eine Strategie zum Ausstieg. Das sagen, glaube ich, auch die europäischen Richtlinien. Ich habe die Zeiträume jetzt nicht ganz genau im Blick; aber das entwickelt sich, und wir werden dahin kommen, dass es eines Tages keinen Glyphosat-Einsatz mehr gibt. Man kann die Bauern aber nicht von einem Tag auf den anderen vor eine komplette Veränderung stellen, sondern man muss einen solchen Prozess vernünftig organisieren, wie wir das zum Beispiel auch beim Ausstieg aus der Kohle machen. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Möchten Sie eine Nachfrage stellen?

Harald Ebner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004215, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gerne.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Bitte.

Harald Ebner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004215, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Da bin ich ganz bei Ihnen, Frau Bundeskanzlerin. Von einem Tag auf den anderen geht das nicht. Die Glyphosat-Debatte ist aber nicht erst vor zwei Jahren entstanden, sondern sie läuft schon einige Jahre. Seit einigen Monaten können sich die Agrarministerin und die Umweltministerin in Ihrem Kabinett nicht einigen, wie das gehen soll, wie der Weg beschritten werden soll, den Sie gerade kurz skizziert haben. Wir erleben keinen Schritt in Richtung Ausstieg. Stattdessen lassen die Bundesbehörden weitere Glyphosat-Produkte zu. Da Sie sagen, dass Ihnen der Glyphosat-Ausstieg – Schritt für Schritt, also nicht über den Zaun gebrochen – am Herzen liegt, frage ich: Wann machen Sie diese Sache zur Chefsache? Wann machen Sie von Ihrer Richtlinienkompetenz Gebrauch, damit sich hier etwas tut, damit sich Agrarministerium und Umweltministerium endlich auf den Weg in die von Ihnen skizzierte Richtung machen?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ich bin sehr froh, dass die beiden Ministerinnen sich jetzt über die Düngefragen geeinigt haben. Das war durchaus auf meinem Radar. „Chefsache“ bedeutet ja nicht, dass ich einfach der einen Ministerin recht gebe und der anderen nicht, sondern dass wir in einer Koalition gemeinsame Lösungen finden. Es trifft sich gut: Just heute Morgen habe ich wieder nach der Strategie für die Zulassung von Schädlingsbekämpfungsmitteln, unter anderem Glyphosat, gefragt. Ich bin sehr dicht dran. Ich glaube, dass wir Ihnen spätestens im September eine Lösung präsentieren können.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Die nächste Frage stellt Tobias Peterka, AfD.

Tobias Matthias Peterka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004850, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank. – Frau Bundeskanzlerin, es mehren sich ja bekanntlich öffentliche Feststellungen, zuletzt von Ihrem Fast-Vorsitzenden Friedrich Merz, dass sich weite Teile von Polizei und Bundeswehr von Ihrer Politik abwenden. Ja, sie wenden sich richtigerweise der AfD zu. ({0}) Wie erklären Sie sich dies, außer durch die Tatsache, dass Ihre Regierung sämtliches konservative Profil verloren hat? ({1})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ich will ausdrücklich an dieser Stelle ein klares Wort positiver Art ({0}) zu der Arbeit unserer Bundespolizisten, unserer Polizisten in Deutschland insgesamt und auch unserer Bundeswehrangehörigen sagen. ({1}) Sie erfüllen wirklich ganz klar ihren Auftrag, und wenn wir rechtsextreme Tendenzen feststellen, dann wird dem intensiv und entschieden nachgegangen. Insoweit teile ich die Aussage von Friedrich Merz an dieser Stelle nicht. Wenn wir solche Tendenzen haben, müssen wir klar und hart vorgehen. Aber die überwiegende Mehrzahl unserer Polizistinnen und Polizisten und Soldaten tut diesem Staat einen guten Dienst. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nachfrage, Herr Kollege Peterka?

Tobias Matthias Peterka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004850, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Stimmen Sie mir dann wenigstens zu, dass diese Personenkreise, die Verantwortung für die öffentliche Sicherheit tragen, ein Warnindikator für die verfehlte Politik in diesem Bereich sind?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Nein, da stimme ich Ihnen natürlich nicht zu. Ich will Ihnen allerdings noch mal in Erinnerung rufen, dass diese Bundesregierung in unglaublich starker Form deutlich macht – wir haben heute den Bundeshaushalt 2020 im Kabinett verabschiedet –, dass unsere Sicherheitsinstitutionen gute Ausrüstung brauchen, gerade in Zeiten technologischen Wandels, sowohl in der Bundeswehr als auch bei der Bundespolizei. Dem trägt der Bundeshaushalt voll Rechnung. Das wird auch die Motivation derjenigen, die ihren Kopf hinhalten – im wahrsten Sinne des Wortes –, steigern. Gute Ausrüstung gehört dazu. Das ist die Grundvoraussetzung für gute Arbeit in diesem Bereich. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Johann Saathoff, SPD, ist der nächste Fragesteller.

Johann Saathoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004393, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Bundeskanzlerin, Sie sprechen viel von Verantwortung; ich finde, zu Recht. Wir haben heute viel von Verantwortung für Europa gehört. Ich finde, es geht auch um Verantwortung für die Erde. Sie haben vom Kampf gegen den Klimawandel, gegen Erdüberhitzung gesprochen. Dazu ist das Klimaschutzgesetz natürlich wichtig – das ist überhaupt keine Frage –, aber um das Ziel der Klimaneutralität 2050 zu erreichen, ist es aus meiner Sicht auch wichtig, dass wir uns anschauen, wie viel Strom aus erneuerbaren Energien wir in der nächsten Zeit produzieren. Wir haben uns im Koalitionsvertrag drauf verständigt, mehr Strom aus erneuerbaren Energien produzieren zu wollen, weil zum Beispiel im Verkehrssektor künftig mehr Elektrizität gebraucht wird. Nun ist es aber so, dass die Verhandlungen schon seit Monaten stocken, nicht nur die Verhandlungen über das Klimaschutzgesetz, sondern auch zur Frage des Ausbaupfades für den Bereich der erneuerbaren Energien. Ich gehe davon aus, dass Sie in Ihrer Funktion als Klimakanzlerin – gegen diesen Begriff haben Sie sich ja nie gewehrt – weiterhin zum 65‑Prozent-Ziel stehen. Ich frage Sie: Was können Sie konkret tun, damit dieser Verhandlungsblock endlich aufgebrochen wird und wir wirklich einen verlässlichen Ausbaupfad – auch im Sinne der Menschen, die Fridays for Future demonstrieren – auf die Strecke bekommen?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Also, das 65-Prozent-Ziel ist ja das Ziel für 2030, was den Anteil der erneuerbaren Energien an der Energieversorgung anbelangt. Durch die Ergebnisse der Kohlekommission sind wir diesem Ziel schon mal ein ganzes Stück näher gekommen. Wir müssen diesen Ausbaupfad natürlich vorantreiben. Aber ein Hemmschuh im Augenblick ist, dass die Akzeptanz von Windenergieanlagen und deren Ausbau sehr stark nachgelassen hat, insbesondere wenn es um Onshore-Windenergieanlagen geht. Deshalb hat die Koalition eine Arbeitsgruppe gegründet, bei der es auch um mehr Akzeptanz für den Ausbau erneuerbarer Energien geht. Ich wünsche mir, dass die Koalitionsarbeitsgruppe möglichst schnell zu einem Ergebnis kommt. Dazu gehören für mich zum Beispiel auch Abstandsregelungen, mit denen wir wirklich die Belange der Menschen, die das nicht wollen – ich komme aus einer Region, wo Windenergieanlagen gebaut werden –, berücksichtigen. Wir müssen auch schauen, dass wir Stadt und Land versöhnen. In den Städten ist man sehr froh, Strom aus erneuerbaren Energien nutzen zu können – auf dem Lande muss man ihn produzieren. Wenn wir uns um diese Akzeptanz nicht kümmern, dann wird der Ausbaupfad in Gefahr geraten – nicht weil ich nicht will, dass wir bis 2030 bei 65 Prozent angekommen sind, sondern weil vor Ort so viele Bürgerinitiativen entstehen, die das einfach nicht mitmachen. Und das müssen wir verhindern. Wir müssen beides zusammenbringen, und daran wird diese Koalition weiter arbeiten – mit Ihrer Mithilfe sicherlich. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nachfrage?

Johann Saathoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004393, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege.

Johann Saathoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004393, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Bundeskanzlerin, der sogenannte Kohlekompromiss war sozusagen die Grundlage der 65 Prozent bis 2030.

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Genau.

Johann Saathoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004393, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das heißt, wir sind durch den Kohlekompromiss noch keinen Schritt weitergekommen, sondern der Ausbaupfad stand unter der Voraussetzung, dass dieser Kompromiss zustande kommt.

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Richtig.

Johann Saathoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004393, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme genau wie Sie aus einer Region, wo Anlagen zur Gewinnung von Strom aus erneuerbaren Energien, insbesondere Windenergieanlagen, hergestellt werden. Da sind Tausende von Menschen in Arbeit, die sich aus meiner Sicht zu Recht darauf verlassen können, dass die Bundesregierung Antworten für sie hat, wie das in Zukunft weitergeht. Dafür brauchen wir aus meiner Sicht einen verlässlichen Ausbaupfad – sonst brauchen wir eine Strukturwandelkommission für die Regionen, die Windenergieanlagen produziert haben. Ich frage mich manchmal – vielleicht können Sie mir das beantworten –: Was sagen Sie eigentlich ausländischen Regierungschefs, wenn die Sie auf die Situation der Onshore-Windenergie in Deutschland und auf den Ausbau der letzten sechs Monate ansprechen?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Also, die sprechen mich meistens darauf an, wie wir es schaffen wollen, gleichzeitig aus Kernenergie und Kohle auszusteigen. ({0}) Das ist mehr das Thema, auf das ich angesprochen werde. Ich komme nicht aus einer Gegend, wo so viele Windenergieanlagen hergestellt werden – allenfalls Plattformen für Offshore-Anlagen –, sondern ich komme aus einer Region, wo Windenergieanlagen aufgestellt werden. Und dort gibt es neue Tendenzen – das wissen Sie ja auch –; deshalb müssen wir doch um die Akzeptanz ringen. Das 65-Prozent-Ziel hängt indirekt mit dem Kohleausstieg zusammen; aber das ist jetzt egal. Wir müssen jedoch gucken, dass wir nicht einen theoretischen Ausbaupfad festlegen, der zum Schluss keine Akzeptanz vor Ort findet. Deshalb wünsche ich mir, dass die Koalitionsarbeitsgruppe jetzt Ergebnisse erzielt, und dann machen wir weiter. Ich bin diesem Ausbaupfad verpflichtet. Ich sehe, dass wir einen Fadenriss hatten. Aber warum hatten wir einen Fadenriss? Weil sich – das muss ich noch schnell sagen – so viele Bürgergesellschaften für Windenergieanlagen beworben haben, aber die planungsrechtlichen Voraussetzungen überhaupt nicht gegeben waren. Deshalb mussten wir auf andere Art und Weise jetzt einen Zwischenschritt einlegen. Den haben wir auch eingelegt. Weitere Zwischenschritte werden wir aber nur einlegen können, wenn wir auch die Akzeptanz verbessern.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Oliver Luksic, FDP, stellt die nächste Frage.

Oliver Luksic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004102, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, der Europäische Gerichtshof hat die Infrastrukturabgabe, auch Pkw-Maut genannt, gestoppt. Daraus entstehen jetzt riesige Kosten bei diesem lange umstrittenen Projekt, das ja schon Herr Ramsauer angestoßen hat. Die FDP hat es in der 17. Wahlperiode noch verhindert. Aber Herr Dobrindt und Herr Seehofer haben Druck gemacht, und so hat die Pkw-Maut in der letzten Wahlperiode den Weg ins Bundesgesetzblatt gefunden. Herr Scheuer hat jetzt einen 2‑Milliarden-Auftrag vergeben, unterschrieben, ohne das Urteil abzuwarten, wovor die Opposition, aber auch die SPD-Bundestagsfraktion ausdrücklich gewarnt haben. Daraus werden jetzt massive Kosten entstehen. Über 50 Millionen Euro wurden schon ausgegeben. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden Vertragsstrafen auf uns zukommen. Im Einzelplan des Ministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur wird es zu Einnahmeausfällen kommen. Deswegen meine Frage. Sie haben 2013 zu Recht gesagt: Mit mir wird es diese Maut nicht geben. ({0}) Hätten Sie an Ihren Bedenken, die Sie damals zu Recht vorgetragen haben, festhalten müssen?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Nein. Wir haben für diese Infrastrukturabgabe eine Lösung gefunden, die das Autofahren in Deutschland nicht verteuert und gleichzeitig eine gerechtere Bepreisung für alle Fahrer, inklusive denen aus anderen Ländern, ermöglicht. Es gab intensive, lange, schwierige Gespräche mit der Europäischen Kommission. Wir sind auf alle Bedenken eingegangen. Wir haben also nicht einfach aus der Lamäng entschieden, sondern unsere Regelung ist von der Europäischen Kommission akzeptiert worden. Dass der Minister dann, um jetzt nicht ewig Zeit verstreichen zu lassen, die ersten Schritte gegangen ist, ist klar. Er hat den Ausschuss sehr transparent informiert. Heute wird es noch eine Aktuelle Stunde dazu geben. Wir machen uns, wie Sie eben selber gesagt haben, im Augenblick mehr Sorgen über die fehlenden Einnahmen aus dieser Abgabe, die wir schon eingeplant hatten, um bestimmte Straßenprojekte zu realisieren. Das stellt uns in der Tat vor eine große Aufgabe. Ich glaube, wir beide sind einig, dass wir möglichst viel in unsere Infrastruktur investieren wollen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nachfrage?

Oliver Luksic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004102, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Bundeskanzlerin, Sie haben die Begründung der Bundesregierung ausgeführt. Sie haben selber davor gewarnt, eine europarechtswidrige Regelung zu schaffen. Der CSU ging es ja explizit darum, dass nur Ausländer bezahlen müssen. Genau das ist es ja, was der Europäische Gerichtshof kritisiert hat. Insofern kann ich diesen Punkt nicht ganz nachvollziehen. Es stellt sich noch eine weitere Frage: Wie geht es jetzt weiter mit diesem Instrument, das auf dem Tisch liegt? Es gibt da ja unterschiedliche Einschätzungen, auch in der Arbeitsgruppe 1 beim Verkehrsministerium. Auch der Verkehrsminister schließt nicht aus, dass man über eine andere Form der Maut nachdenken muss, wie auch immer man sie nennt, Klimamaut oder anders. Deswegen meine Frage: Möchten Sie heute ausschließen, dass eine andere Form der Maut mit Ihnen eingeführt wird? Oder arbeitet die Bundesregierung weiter und hält es sich offen, eine andere Form der Maut einzuführen?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Diese Form, wie wir sie jetzt gewählt hatten, wie sie mit der Europäischen Kommission abgesprochen war, geht nicht mehr; das ist klar. Wir sind jetzt an einer Stelle, wo wir uns die Bepreisung im gesamten Bereich des Ausstoßes von Klimagasen noch mal anschauen. Was die Ergebnisse sein werden, kann ich heute nicht sagen. Deshalb schließe ich nichts ein und nichts aus.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Felix Schreiner, CDU/CSU, ist der nächste Fragesteller.

Felix Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004883, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, wir diskutieren darüber, wie wir die Klimaschutzziele erreichen können. Konkret bedeutet das für den Verkehrssektor, dass wir bei den Treibhausgasemissionen bis 2030 über 40 Prozent einsparen müssen. Mich persönlich würde interessieren: Was sind aus Ihrer Sicht die richtigen Maßnahmen im Verkehrsbereich, um die Klimaschutzziele zu erreichen?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Der Verkehrsbereich stellt sich als der komplizierteste dar; denn wir müssen feststellen, dass wir seit 1990 noch keinerlei Einsparungen im Verkehrsbereich hatten. Es gab auch keinen Anstieg. Das heißt, alle Innovationen, die es unbestritten gab, sind im Grund durch ein Mehr an Verkehrsaufkommen wieder aufgefressen worden. Wir stehen jetzt vor einer Einführung der Elektromobilität in großem Stil bis zum Jahre 2030. Das wird natürlich die Klimaschutzziele befördern. Innerhalb der Europäischen Union gibt es das Ordnungsrecht zu der Einsparung im Flottenverbrauch bis 2030 bzw. schon bis 2020. Wie wir die Frage der weiteren Reduzierung angehen, kann ich Ihnen nicht sagen, weil wir auch im Zusammenhang mit dem Gutachten, das wir am 12. Juli bekommen, bewerten werden, ob wir zu einer Zertifikatelösung für diesen Bereich kommen werden – so wie ich es eben der Kollegin Weisgerber schon dargestellt habe – oder ob wir individuelle Maßnahmen treffen. Wahrscheinlich wird es ein Mixtum sein. Auf jeden Fall brauchen wir mehr Innovation, auf jeden Fall brauchen wir Anreize. Wir haben in dem strategischen Dialog mit der Automobilindustrie jetzt verabredet, dass wir einen Masterplan für die Ladeinfrastruktur für die Elektromobilität vorlegen. Wir müssen technologieoffen arbeiten. Wir brauchen also eine Vielzahl von Herangehensweisen. Das kann man nicht auf einen Weg reduzieren.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Die nächste Frage stellt Stefan Liebich, Die Linke.

Stefan Liebich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004093, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke, Herr Präsident. – Frau Bundeskanzlerin, die Europäische Union hat auf ihrem letzten Treffen erneut die Wirtschaftssanktionen gegenüber der Russischen Föderation verlängert. Die Russische Föderation bzw. deren Regierung hat jetzt die Gegensanktionen beschlossen. Es gibt Stimmen – aus Ihrer Partei, aber auch aus den Reihen Ihres Koalitionspartners, der SPD; alle Ministerpräsidenten der östlichen Bundesländer –, die warnen, diesen Weg weiterzugehen. Mich würde interessieren: Verstehen Sie die Sorgen der Unternehmerinnen und Unternehmer und vor allen Dingen der Menschen, die in den Unternehmen arbeiten, im Osten Deutschlands? Und: Wie reagieren Sie darauf?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ja. Natürlich wäre es jedem lieb, wenn es keine Sanktionen geben müsste, auch mir. Aber man muss ja fragen: Warum sind diese Sanktionen verhängt worden? Sie sind verhängt worden im Wesentlichen wegen der Annexion von Donezk und Luhansk durch die Separatisten mit russischer Hilfe, wodurch die territoriale Integrität der Ukraine verletzt wurde. Das ist ein ziemlich einmaliger Vorgang in der Nachkriegsgeschichte, zumal die Ukraine von verschiedenen Ländern umfassende Garantien bekommen hat, als sie ihre Nuklearwaffen abgegeben hat. Wir vertreten die Meinung, dass die Verletzung der territorialen Integrität nicht sein darf und dass die Ukraine wieder Zugang zu ihrem gesamten Gebiet bekommen muss. Deshalb erscheinen uns Sanktionen an dieser Stelle richtig und wichtig, solange wir das Minsker Abkommen nicht umsetzen. Wir haben hierüber bereits mit dem neuen ukrainischen Präsidenten gesprochen. Die Situation ist einfach so, dass es dort keinen Waffenstillstand und nicht genug Fortschritt gibt, um die Sanktionen aufheben zu können, und deshalb finde ich es richtig, dass sie verlängert wurden.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nachfrage?

Stefan Liebich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004093, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja, gerne. – Wenn wir jetzt in eine andere Region schauen, nämlich in die Türkei und nach Syrien, dann stellen wir fest, dass die türkische Armee das kurdische Afrin auf syrischem Territorium besetzt hat und immer noch besetzt hält. Alle Fraktionen und der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages sind der Überzeugung, dass es sich hierbei um einen Bruch des Völkerrechts handelt. Mich interessiert: Planen Sie auch dafür Sanktionen, und, wenn nein, warum gibt es hier unterschiedliche Standards? ({0})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Wir als Bundesregierung haben darauf in folgender Weise reagiert: Obwohl die Türkei ein NATO-Partner ist, haben wir unsere Rüstungsexporte in die Türkei eingeschränkt. Auf der einen Seite gibt es natürlich diese Besorgnisse, die ja auch im Parlament artikuliert wurden, auf der anderen Seite ist die Türkei aber auch in einer sehr schwierigen Lage – denken wir jetzt mal an Idlib und Ähnliches – bezüglich der Flüchtlinge. Die Bundesregierung hat an dieser Stelle aber eben auch durch die Einschränkung der Rüstungsexporte reagiert.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Anja Hajduk, Bündnis 90/Die Grünen, stellt die nächste Frage.

Anja Hajduk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003547, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Bundeskanzlerin, multilaterales Denken und Freihandel sind auch wichtig für den internationalen Klimaschutz. Im April haben 600 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie 300 indigene Gruppen die EU in einem offenen Brief aufgefordert, mit ihrem wirtschaftlichen Gewicht Umwelt- und Menschenrechtsstandards im Freihandelsabkommen mit den Mercosur-Staaten zentral zu verankern. Letzte Woche haben 340 NGOs einen Stopp der Verhandlungen gefordert, weil sich die Menschenrechtslage und die Umweltsituation in Brasilien unter dem rechtsextremen Präsidenten Bolsonaro immer weiter verschlechtern. Auch einige EU-Staaten haben sich gegen einen schnellen Abschluss des Abkommens ausgesprochen. Nun drängen ausgerechnet Sie auf einen schnellen Abschluss dieses Abkommens. Wie erklären Sie das den Menschen in Deutschland und in Europa, die sich auch im Freihandel einen wirksamen Klimaschutz wünschen? ({0})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Die Motivationen dafür, zu sagen, dass das ­Mercosur-Abkommen nicht schnell abgeschlossen werden sollte, sind sehr unterschiedlich. Manchmal geht es dabei auch um europäische Interessen. Wir haben uns trotzdem für einen schnellen Abschluss ausgesprochen, weil es nicht nur um Brasilien, sondern auch um andere Länder geht; Mercosur ist ja eine Ländergruppe. Sie dürfen davon ausgehen, dass ich, genauso wie Sie, das Handeln des neuen brasilianischen Präsidenten mit größter Sorge sehe und dass ich die Gelegenheit wahrnehmen werde, sofern sie sich auf dem G-20-Gipfel jetzt ergeben wird, hierzu ein klares Wort zu sagen, weil auch ich das, was in Brasilien zurzeit geschieht, dramatisch finde.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nachfrage? – Frau Hajduk.

Anja Hajduk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003547, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Noch einmal, Frau Bundeskanzlerin – auch vor dem Hintergrund Ihrer breiten Erfahrungen –: Sie haben gegenüber der deutschen Öffentlichkeit deutlich gemacht, dass Schluss sein müsse mit „Pillepalle“ beim Klimaschutz, und gerade Ihre Fraktion betont immer wieder, Deutschland könne zwar Vorreiter sein, aber wir können das Klima nicht alleine retten. Hier möchte ich Sie nicht nur als Bundeskanzlerin, sondern auch als Naturwissenschaftlerin fragen: Wie schätzen Sie die Auswirkungen auf die Klimakrise ein, wenn Hunderte Hektar Regenwald im Amazonasgebiet für mehr Rinderfarmen bzw. für den Export von Rindfleisch nach Europa gerodet werden? ({0})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Ich glaube, wir sind uns in der Sache nicht uneinig, aber ich denke, dass der Nichtabschluss des ­Mercosur-Abkommens keinerlei Beitrag dazu leisten würde, dass in Brasilien 1 Hektar Regenwald weniger gerodet wird. Im Gegenteil! Deshalb glaube ich, dass der Nichtabschluss des Mercosur-Abkommens nicht die Antwort auf das sein darf, was jetzt in Brasilien geschieht. Ich werde mich mit der Kraft, die ich habe, dafür einsetzen – ohne meine Möglichkeiten zu überschätzen –, ({0}) dass das, was in Brasilien geschieht, möglichst nicht weiter geschieht. Ich glaube aber, dass der Nichtabschluss des Freihandelsabkommens nicht die Antwort auf diese Frage sein darf.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Armin-Paulus Hampel, AfD, stellt die nächste Frage.

Armin Paulus Hampel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004735, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Bundeskanzler, es war der SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder – unterstützt und maßgeblich getrieben von den Grünen –, der damals den ersten Kriegseinsatz der deutschen Bundeswehr nach dem Zweiten Weltkrieg befohlen hat, und zwar im von der AfD-Fraktion nach wie vor als völkerrechtswidrig angesehenen Jugoslawienkrieg, der mit der Abspaltung des Kosovo endete. Inzwischen haben wir über 130 000 Soldaten dort unten im Einsatz gehabt, wir beklagen 27 Tote und haben 3,4 Milliarden Euro investiert. Heute haben wir dort eine ungeklärte Situation; es gibt Streit. Herr Thaci und Herr Vucic waren unlängst bei Ihnen in Berlin. Auch dieses Gespräch ist ohne Ergebnis zu Ende gegangen. Jetzt gibt es eine Äußerung des kosovarischen Präsidenten Thaci, der sagte – ich zitiere –, dass die EU kein geeigneter Verhandlungspartner sei, um eine Lösung des Konflikts herbeizuführen; dies sei nur durch die Vereinigten Staaten von Amerika möglich. Frau Bundeskanzler, nach 130 000 eingesetzten Soldaten, Kosten in Höhe von 3,4 Milliarden Euro sowie 27 Toten, die wir auf dem Balkan zu beklagen haben, frage ich Sie: Was würden Sie Herrn Thaci antworten?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Dass ich das anders sehe; das habe ich ihm auch schon geantwortet. Ich glaube, wir kommen schneller zu Lösungen, wenn wir in der Region gemeinsam mit den Vereinigten Staaten und nicht gegeneinander arbeiten; das ist allerdings richtig. Ich denke aber, dass die Europäische Union eine ureigene Verpflichtung hat, sich auf dem Balkan einzusetzen und den Ländern eine europäische Perspektive zu geben, weil das in unserem strategischen Interesse liegt. Deshalb glaube ich, dass wir einen wichtigen Beitrag zur Lösung der Probleme dort leisten können und müssen. ({0}) Es ist ja auch nicht das erste Mal, dass ich mit einem Präsidenten nicht übereinstimme.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Hampel, Sie haben eine Zusatzfrage.

Armin Paulus Hampel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004735, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Das wird Herr Thaci nach seinen Äußerungen wahrscheinlich anders sehen, und es stellt sich die Frage, welche Einflussmöglichkeiten Sie in Zusammenarbeit mit den anderen europäischen Ländern noch haben, Frau Merkel, wenn er Ihre Vermittlung gar nicht möchte. Schauen wir aber weiter auf den Kosovo. Ich hatte unlängst die Möglichkeit, mit dem serbischen Außenminister über dieses Thema zu sprechen. Er hat bitter beklagt, dass die Serben eine Vielzahl der sogenannten Normalisierungsvereinbarungen einhalten und alles tun, um da zu einem erfolgsorientierten Prozess zu kommen, während die Kosovaren – das hat er mir durch Unterlagen belegen können; das sind nicht nur serbische Erkenntnisse, sondern auch Erkenntnisse aus Deutschland, Europa und den USA – extrem mauern und der serbischen Minderheit im Kosovo nicht die entsprechenden Rechte einräumen. Es gibt dort Drogenhandel, Menschenhandel und kriminelle Strukturen; andere sagen, selbst die Regierung sei tief darin verwickelt. Wie wollen Sie in dieser Situation, in der sich ein Staat zu einem Failing State, zu einem kriminellen Staat, entwickelt hat, wie das im Kosovo der Fall ist, eine politische Konsequenz ziehen?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Dass wir strategische Geduld beim Umgang mit diesen Staaten brauchen, zeigt sich ja allenthalben. Das ist nicht nur auf das Kosovo zu beschränken. Herr Thaci ist der Einladung von Emmanuel Macron und mir gefolgt und war unser Gast. Wir haben uns dort auch sehr interessant und gut unterhalten. Wie Sie wissen, gibt es im Kosovo noch eine zweite politische Kraft, nämlich den Ministerpräsidenten Haradinaj. Um es mal vorsichtig zu sagen: Beide stimmen nicht immer überein. Deshalb müssen wir mit beiden Kräften im Kosovo zusammenarbeiten, um den Ausgleichsprozess mit Serbien voranzubringen. Ich stimme zu, dass Serbien eine Vielzahl von Dingen eingehalten hat, aber das heißt ja nur, dass wir weiter mit dem Kosovo darüber reden müssen, wie wir diesen Prozess wieder in Gang bekommen. Nichtstun ist aus meiner Sicht jedenfalls keine Alternative, wenn es darum geht, den Prozess voranzubringen; wir müssen etwas tun. Wir nutzen unsere Möglichkeiten. Ich werde sie das nächste Mal Anfang Juli nutzen, wenn wir uns in Polen mit den Staaten des westlichen Balkans treffen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Bundeskanzlerin. – Als letzte Fragestellerin erhält die Kollegin Eva Högl, SPD-Fraktion, das Wort.

Dr. Eva Högl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003896, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, ich habe eine Frage zu einem nicht ganz alltäglichen Vorgang in der Bundesregierung, nämlich zu dem Wechsel des früheren Beauftragten für die Nachrichtendienste des Bundes, Klaus-Dieter Fritsche, zum Berater des früheren österreichischen Innenministers Kickl. Herr Fritsche war ja ein hoher Spitzenbeamter in Deutschland, im Verfassungsschutz und zum Schluss im Kanzleramt.

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Für den BND.

Dr. Eva Högl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003896, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Genau. – Deswegen frage ich Sie, Frau Bundeskanzlerin: Wie beurteilen Sie diesen Wechsel als Berater zum damaligen FPÖ-Innenminister auch nach den heutigen Entwicklungen? Wieso waren Sie der Auffassung – das Bundeskanzleramt musste das ja prüfen –, dass keine dienstlichen Interessen betroffen sind?

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Uns hat geleitet, dass es ein sehr hohes Interesse daran gibt, zwischen Österreich und Deutschland eine gute Kooperation zu haben, auch zwischen den Innenministerien. Da ich die fachliche Qualifikation von Herrn Fritsche kenne, konnte seine Arbeit in Österreich gerade unter der damaligen Regierung nur Positives bewirken.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Frau Kollegin, Sie haben eine Nachfrage. Diese lasse ich jetzt auch noch zu. Bitte schön.

Dr. Eva Högl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003896, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr gerne, Herr Präsident. Schön, dass Sie sie zulassen. – Frau Bundeskanzlerin, ich würde gerne fragen, da auch die deutschen Sicherheitsbehörden die Zusammenarbeit mit Österreich nach den letzten Entwicklungen durchaus mit einem Fragezeichen versehen, ob Sie in künftigen Fällen, wenn ein hoher Spitzenbeamter, insbesondere aus sicherheitspolitisch so relevanten Bereichen, in Regierungen als Berater wechselt oder anderweitig zur Verfügung steht, um seine bisherigen Kenntnisse anzuwenden und einzubringen, das nicht kritisch bewerten müssen und ob Sie nicht vielleicht bei künftigen Fällen anders entscheiden würden, wenn etwa zu rechtspopulistischen oder rechtsextremen Regierungen oder Parteien gewechselt wird, die es auch in Europa durchaus gibt.

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Also, in diesem Falle würde ich meine Entscheidung nicht anders treffen. Aber ich gebe natürlich zu, oder ich sage natürlich – da brauche ich gar nichts zuzugeben –, dass wir uns in jedem Einzelfall genau anschauen müssen: Was sind die deutschen Interessen? Können die deutschen Interessen gewahrt werden? Um welche Person handelt es sich? Wie ist der Charakter der Zusammenarbeit? Deshalb gibt es keine Aussage „In jedem Fall würde man das genau so wiedermachen“; in diesem Falle allerdings ja.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Bundeskanzlerin, für Ihre Bereitschaft, hier Rede und Antwort zu stehen. ({0}) Damit ist die Befragung abgeschlossen.

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Unserer Gesellschaft, uns fällt es unendlich schwer, uns mit dem Thema „Lebensende, Krankheit oder Organspende“ zu beschäftigen. Aber, meine Damen und Herren, es gibt momentan 10 000 Menschen in diesem Land, die sich mit diesem Thema zwangsläufig auseinandersetzen müssen, weil sie sehnsüchtig auf ein lebensrettendes Organ warten. Ich will zu Beginn dieser Debatte – ich glaube, ich spreche für uns alle – sagen: Genau um diese Menschen geht es uns. Weil das so ist, hat sich der Deutsche Bundestag 2012 schon einmal mit dieser Thematik befasst. Wir haben gesehen: Die Spendenbereitschaft in diesem Land ist groß – theoretisch. Wir haben gedacht: Mit der Zustimmungslösung kommt man dazu, dass dann, wenn man die Menschen nur ausreichend informiert, am Schluss viele einen Organspendeausweis in der Tasche tragen. – Heute, sieben Jahre später, haben wir festgestellt, dass die Spendenzahlen zurückgegangen sind, dass wir im Jahr 2017 mit 797 Spendern den niedrigsten Stand erreicht haben und dass unser Ansatz falsch war. Deshalb diskutieren wir heute miteinander darüber, etwas anders zu machen. Da gibt es nun zwei große konkurrierende Vorschläge. Der eine besagt: Lasst uns das Bestehende in kleinen Schritten weiterentwickeln. – Der andere Vorschlag, für den ich stehe, besagt: Lasst uns zur Widerspruchslösung kommen. Lasst uns einen großen Schritt tun. Ich sage Ihnen ganz offen: Ich habe in den letzten Wochen und Monaten keinen Transplantationschirurgen getroffen, der gesagt hat: Das solltet ihr nicht tun. – Aber ich habe viele, viele hoffnungsvolle Patientinnen und Patienten getroffen, die mir gesagt haben: Jetzt ist es an der Zeit, dass der Deutsche Bundestag nicht kleine Schritte macht, nicht noch einmal ein Experiment durchführt und mit unserem Leben spielt, sondern dass er jetzt einen großen Schritt macht und diese Widerspruchslösung einführt. ({0}) Das ist meine Motivation. Jeden Tag sterben drei Menschen, weil wir zu wenige Organspenden haben. Es gibt welche, die sagen: Ja, aber die Widerspruchslösung schränkt doch unser Recht ein, uns mit der Thematik gar nicht beschäftigen zu müssen. – Nein, meine Damen und Herren, auch wenn wir eine Widerspruchslösung haben, muss man sich mit der Thematik nicht beschäftigen. Aber die Rechtsfolge ist eine andere, nämlich dass man dann als Spender gilt. Was ist da dabei? 95 Prozent sagen, sie würden im Zweifel ein Organ annehmen, wenn sie schwer krank sind. Wenn das die Regel ist, kann ich doch auch erwarten, dass die breite Mehrheit dann auch bereit ist, ein Organ zu spenden. Das ist doch miteinander verknüpft, das kann man doch nicht trennen. In der Tat, wenn man theoretisch fragt, sagen über 80 Prozent, sie wären bereit, ein Organ zu spenden. Für sie ist es im Grunde ein Service, dass sie in Zukunft gar nichts tun müssen, ({1}) dass ihre Spendenbereitschaft an dieser Stelle dokumentiert ist ({2}) und dass sie nicht auf einen Organspendeausweis angewiesen sind, der nach einer Weile so aussieht wie meiner und im Zweifel dann, wenn man hirntot im Krankenhaus liegt, gar nicht aufgefunden wird. Ich halte es für das ganz zentrale Argument: Es gibt nichts Christlicheres, nichts, was mehr mit Nächstenliebe zu tun hat, als im Tode einem anderen das Leben zu retten. Ich will, meine Damen und Herren, dass wir die Chance größer machen, dass ein Mensch dann, wenn er hirntot ist, als Spender identifiziert werden kann. Genau das leistet diese Widerspruchslösung in einer ganz besonderen Art und Weise. Sie nimmt niemandem etwas. Denen, die sagen: „So etwas gibt es doch in unserer Rechtsordnung gar nicht“, antworte ich ganz offen: Es gibt viele Fälle, in denen man einfach mit dem leben muss, was der Deutsche Bundestag an dieser Stelle an Rechtsfolgen festlegt. Ein Beispiel ist das Testament. Wenn ich keines schreibe, dann muss ich einfach damit klarkommen, dass der Gesetzgeber festlegt, wer letztendlich Erbe ist. Ein anderes Beispiel, das näher am Thema ist: Wenn ich keine Patientenverfügung mache, dann muss ich damit klarkommen, dass dann am Schluss einfach lebensverlängernde Maßnahmen durchgeführt werden. So ist es in Zukunft dann auch bei der Organspende. Der Regelfall ist dann: Man gilt als Spender, es sei denn, man hat widersprochen. Nur dann muss man sich mit der Thematik beschäftigen. Wer kein Organspender sein will und das nicht ertragen kann, der kann widersprechen. Ich glaube, das ist etwas, was einen großen Schritt bedeutet, etwas, was uns klar voranbringt. Ich bitte herzlich um Unterstützung für diesen Gesetzentwurf.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, bitte kommen Sie zum Schluss.

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Viele, viele leidgeprüfte Patientinnen und Patienten, die heute immer noch auf der Warteliste stehen und die kein Organ bekommen, setzen auf uns; das ist ganz wichtig. Deshalb bitte ich herzlich um Unterstützung. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin spricht zu uns die Kollegin Annalena Baerbock. ({0})

Annalena Baerbock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004245, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Sehr verehrte Gäste auf der Tribüne! Täglich trauern Menschen um ihren Sohn, um ihre Mutter, um ihren Freund, denen nicht rechtzeitig eine Niere, ein Herz oder eine Leber gespendet wurde. Rund 9 400 schwerstkranke Menschen warten auf eine Transplantation, wissend, dass im vergangenen Jahr nur 955 Spenden durchgeführt wurden. Uns eint bei dieser Debatte – deswegen ist es mir auch wichtig, diese im Ton angemessen zu führen –, ({0}) dass wir es nicht beim Status quo belassen wollen. Aber die entscheidende Frage ist doch: Wie können wir am besten und am schnellsten erreichen, dass wir zu mehr Organspenden kommen? ({1}) Für unsere Gruppe ist entscheidend, dass wir bei einer so höchst persönlichen, individuellen Frage die sehr individuelle Situation eines jeden einzelnen Menschen und den möglichen Handlungsrahmen, in dem wir uns bewegen, im Blick haben: auf der einen Seite die Mutter, die tagtäglich am Bett ihres kranken Sohnes sitzt und auf ein Spenderorgan hofft; auf der anderen Seite der Ehemann, der ins Krankenhaus gerufen wird und die schreckliche Nachricht erhält, dass der Hirntod bei seiner Frau festgestellt wurde, und er in diesem Moment seine Frau nicht gehen lassen möchte. Gerade weil es um sehr unterschiedliche Situationen, um sehr unterschiedliche Menschen geht, gerade weil wir in unserer Verfassung aus guten Gründen – mit Blick auf die deutsche Geschichte – verankert haben, dass es ein Recht auf die Unversehrtheit des eigenen Körpers gibt, können wir nicht einfach mal so eine schnelle Lösung auf den Weg bringen. ({2}) Lieber Herr Nüßlein, wir müssen auch bei dieser Debatte bitte ehrlich sein und bei den Zahlen ganz genau hinschauen. ({3}) Grundvoraussetzung für eine Organspende in unserem Land – das unterscheidet uns nun einmal von anderen europäischen Ländern – ist der festgestellte Hirntod. Auch wenn alle Menschen in unserem Land – unabhängig von der jeweiligen Lösung – Organspender wären, kämen wir an dem Fakt nicht vorbei, dass im letzten Jahr in Deutschland bei 1 416 Verstorbenen der Hirntod festgestellt wurde. 9 000 stehen auf der Warteliste. Diese Diskrepanz werden wir aufgrund des Momentums des Hirntodes nicht ändern können. ({4}) Deswegen ist es unserer Gruppe auch so wichtig, nicht nur auf die Spendenbereitschaft zu schauen, sondern gerade auch auf die Situation in den Krankenhäusern mit Blick auf die Hirntodfeststellung. Wenn Sie sich die Zahlen genau anschauen, werden Sie feststellen: Es gab sogar Spender, die hätten spenden können. Aber aufgrund der Voraussetzungen in den Krankenhäusern ist es dann zu keiner Organtransplantation gekommen. Das gehört genauso in den Mittelpunkt dieser Debatte. ({5}) Zugleich kommt es auf jede einzelne Spende an, weil es auf jeden einzelnen Menschen ankommt. Um den Betroffenen wirklich zu helfen, müssen die Gesetze auch verfassungskonform sein. Deswegen muss ich hier so deutlich sagen: Gut gemeint ist nicht immer gut gemacht. ({6}) Aufgrund unserer Geschichte haben wir eine besondere Verpflichtung im Grundgesetz verankert, anders als andere Länder. Aufgrund unserer Geschichte gilt die körperliche Unversehrtheit. Gerade wenn wir zu mehr Organspenden kommen wollen, müssen wir das im Licht unserer Geschichte und Verfassung prüfen. Nicht nur Artikel 1 und 2 des Grundgesetzes gelten. Vielmehr fußt seit langer Zeit unser ganzes gesellschaftliches Zusammenleben auf dem Zustimmungsrecht. In allen anderen Lebensbereichen sagen wir – dafür haben Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler dieses Landes gekämpft –, dass man zustimmen muss, wenn es die eigenen Persönlichkeitsrechte betrifft, zum Beispiel beim Recht am eigenen Bild. Aber genau bei dieser sensiblen Frage schlagen Sie nun vor, das Prinzip umzukehren und ein Opt-out-Prinzip einzuführen. Natürlich kann man darüber verfassungsrechtlich streiten. Aber ich persönlich und unsere Gruppe halten das für einen unverhältnismäßigen Eingriff, weil es mildere Mittel gibt, um die Organspendenbereitschaft zu erhöhen. ({7}) Gerade weil uns die Organspendebereitschaft so wichtig ist, machen wir einen Vorschlag, bei dem es keine Fragezeichen mit Blick auf das Bundesverfassungsgericht gibt. Um gemeinsam mit den Menschen etwas zu verändern, machen wir einen anderen Vorschlag. 84 Prozent unserer Bevölkerung – das ist Ausdruck einer großen Bereitschaft – möchten spenden. Das steht in Diskrepanz zu der Tatsache, dass nur 39 Prozent einen Spenderausweis haben. Diese Lücke wollen wir schließen. Einige sagen nun: Warum soll man sich ausgerechnet beim Bürgeramt mit diesem Thema auseinandersetzen? Das passt doch nicht! – Stimmt, das ist nicht der klassische Ort. Aber wir können so garantieren, alle Menschen in diesem Land zu erreichen, zusätzlich zu den Ärzten und anderen Orten, an denen man Grundlageninformationen zu diesem Thema erhalten kann. ({8}) Das Entscheidende an unserem Vorschlag ist der Eintrag in ein zentrales Register, sodass man im Krankenhaus abrufen kann, wer wirklich Spenderin bzw. Spender ist. Uns eint: Wir wollen die Zahl der Organspenden erhöhen. Unsere Gruppe will, dass das jetzt passieren kann. Deswegen werben wir für einen Vorschlag, der die Organspendenzahlen erhöht, das Recht auf die Unversehrtheit des eigenen Körpers wahrt und zugleich zeitnah umzusetzen ist. Wir bitten um Unterstützung für unseren Antrag. Herzlichen Dank. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Baerbock. – Als Nächster spricht zu uns der Kollege Jens Maier. ({0})

Jens Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004811, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was bedeutet es, Organspender zu sein? Was bedeutet es, seinen Körper über den eigenen Tod hinaus zur Verfügung zu stellen? Was nimmt man da auf sich? Eine Organspende ist nur möglich, wenn der Spender so tot wie rechtlich erforderlich, aber noch so lebendig wie medizinisch notwendig ist. Ein vollständig Toter, eine Leiche, ist als Spender nicht mehr zu gebrauchen. Bereits in der Sterbephase muss daher entschieden werden, ob die betreffende Person als Spender in Betracht kommt oder nicht. Kommt sie in Betracht, muss der umsichtige Arzt bereits in der Sterbephase nicht nur die medizinische Versorgung des Spenders, sondern bereits auch die gesundheitliche Situation des Empfängers im Blick haben. Durch die Verabreichung hochwirksamer Medikamente in der Sterbephase können Organe, die für eine Spende von Bedeutung sind, geschädigt werden. Allgemein ist es so, dass möglichst cleane Organe verpflanzt werden sollen. Für den Spender kann dies bedeuten, dass er in der Sterbephase nicht mehr damit rechnen kann, optimal, nur auf ihn zugeschnitten, medizinisch versorgt zu werden. ({0}) Die Widerspruchslösung bringt potenziell jeden ab dem 16. Lebensjahr in diese Situation. Nur der erklärte Widerspruch kann das verhindern. Ich halte dies allein aus verfassungsrechtlichen Gründen für untragbar. Ob ein Mensch bereit ist, das von mir beschriebene Prozedere auf sich zu nehmen, um einem anderen Menschen zu helfen, muss im Grundsatz immer seine eigene Entscheidung bleiben. ({1}) Die Widerspruchslösung ist mit dem aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht abzuleitenden Recht auf negative Selbstbestimmung nicht vereinbar. Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages hat bereits am 31. Oktober 2003 eine Ausarbeitung zum Thema Widerspruchslösung erstellt. Darin wurde festgestellt, dass aus dem allgemeinen Selbstbestimmungsrecht die Freiheit resultiert, sich mit bestimmten Fragen gerade nicht zu befassen. Der Bürger hat grundsätzlich das Recht, bewusst keine Entscheidung zum Umgang mit seinen Organen zu treffen, ohne irgendwelche Folgen befürchten zu müssen. Die Widerspruchslösung berührt das Recht auf negative Selbstbestimmung. Potenzielle Spender müssen sich entweder mit der Thematik Organspende befassen, oder sie laufen Gefahr, dass ihnen nach ihrem Hirntod Organe entnommen werden, obwohl dies ihrem Willen zuwiderliefe, wenn sie sich damit befasst hätten. Hinzu kommt, dass die Einführung der Widerspruchslösung für sich allein weder notwendig noch geeignet ist, die Anzahl der Spenden zu erhöhen. Die Erfahrungen in Spanien oder in Schweden haben gezeigt, dass erst 10 bis 15 Jahre nach Einführung der Widerspruchslösung mehr Organe zur Verfügung gestanden haben, und zwar deshalb, weil es erst zu diesem Zeitpunkt organisatorische Verbesserungen gab, und nicht wegen der Einführung der Widerspruchslösung. In der im November letzten Jahres geführten Orientierungsdebatte hier im Bundestag sind weniger einschneidende Alternativen zur Widerspruchslösung aufgezeigt worden. Es ist möglich, Maßnahmen zur Gesundheitsvorsorge zu verbessern, damit weniger Menschen überhaupt ein fremdes Organ brauchen. Zu guter Letzt muss man sich vergegenwärtigen, dass auch erhebliche Gründe gegen eine Angemessenheit der Widerspruchslösung sprechen. Die Unwissenheit oder die Unwilligkeit der Bürger werden ausgenutzt. Es droht die Gefahr, dass gerade die Leute, die von der Widerspruchslösung entweder nichts wissen oder sich damit auch nicht befassen wollen, die Hauptspendergruppe stellen. Gerade für junge Leute ist das Thema „eigener Tod“ oft noch weit weg. Nicht zuletzt sind auch die Leute betroffen, denen es allgemein schwerfällt, überhaupt irgendeine Entscheidung zu treffen. Das führt zu unfairen Ergebnissen. Man muss daher feststellen: Die Widerspruchslösung ist unverhältnismäßig. Sie stellt keinen gerechtfertigten Eingriff in das Recht auf negative Selbstbestimmung dar. Sie ist verfassungswidrig und wird, wenn sie jetzt doch eingeführt wird, in der Praxis keine große Wirkung haben. Im Vergleich dazu kann man über den Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft bei der Organspende durchaus nachdenken. Er ist aber handwerklich schlecht gemacht. Dies verdeutlicht beispielsweise der geplante § 2 Absatz 1b des Transplantationsgesetzes. Dort heißt es: Im Rahmen einer ambulanten privatärztlichen Behandlung richtet sich der Vergütungsanspruch des Arztes für die Beratung über die Organ- und Gewebespende nach der Gebührenordnung für Ärzte. Ist das nun eine Rechtsgrund- oder eine Rechtsfolgenverweisung? Außerdem ist der Änderungsentwurf insoweit völlig unzureichend, als dass man ihm nicht entnehmen kann, wann ein konkreter Vergütungsanspruch für den Arzt begründet ist. Da steht: „Der Vergütungsanspruch besteht je Patient alle zwei Jahre.“ Aus dieser Formulierung ergibt sich nicht eindeutig, ob der Arzt den Patienten innerhalb von zwei Jahren überhaupt und, wenn ja, einmal oder mehrfach über die Organspende beraten haben muss. Der Änderungsentwurf kann genauso gut so gelesen werden, dass der Hausarzt gegenüber jedem privatversicherten Patienten alle zwei Jahre eine Gebühr abrechnen kann, unabhängig davon, ob er ihn zur Organspende beraten hat oder nicht. Wir von der AfD-Fraktion haben eine eigene Lösung entwickelt. Darüber werden meine Kollegen im Weiteren berichten. Vielen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Karl Lauterbach das Wort.

Prof. Dr. Karl Lauterbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003797, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin froh, dass wir diese Debatte führen; denn die Probleme sind sehr drängend. Welches sind die Probleme, die wir heute lösen wollen? Es sind im Wesentlichen drei Probleme. Zum Ersten. Im Moment sterben pro Tag im Durchschnitt sechs Menschen, die auf der Warteliste stehen und auf ein Organ warten. Wir wollen das psychische und körperliche Leid dieser Menschen nicht nur lindern, sondern sie, wenn möglich, retten. Zum Zweiten. Mehr als die Hälfte derer, die bereit sind, Organe zu spenden, spenden deshalb nie, weil sie als Spender nicht dokumentiert sind und damit später für die Spende ausfallen, obwohl sie hätten spenden wollen. Zum Dritten. Ärzte und Angehörige sind in der Situation überfordert, wenn sie nach dem Tode eines Menschen diese Entscheidung treffen und versuchen müssen, den möglichen Willen desjenigen zu rekonstruieren. Auch das ist ein wichtiges psychisches Leid und ein ethisches Problem. Wir setzen uns für die Widerspruchslösung ein, die in 20 von 28 europäischen Ländern praktiziert wird. Weshalb ist diese Lösung richtig und auch ethisch geboten? Ich argumentiere hier ausdrücklich aus ethischer Perspektive und nicht aus der Nützlichkeitsperspektive. Es geht nicht darum, dass auf der einen Seite die Selbstbestimmung des Menschen und auf der anderen Seite das Nützlichkeitsdenken der Widerspruchslösung steht; das ist nicht so. Es geht vielmehr darum, zu fragen: Worin ist die Selbstbestimmung des Menschen zu sehen? Was ist hier die bessere Umsetzung? Wenn die Mehrheit der Menschen spenden will, das System aber dahin gehend versagt, dass sie nie Spender werden, dann ermöglicht die Widerspruchslösung die Selbstbestimmung des Menschen, indem sie möglich macht, dass das passiert, was die Menschen tatsächlich wollen. Die Menschen wollen spenden, werden aber nicht zu Spendern. Es geht also um die Umsetzung der Selbstbestimmung des Menschen und nicht um die Frage, wer von uns die Selbstbestimmung des Menschen achtet. Ich bitte daher, dass man das ethische Anliegen, das uns hier eint, nicht künstlich dagegenstellt. ({0}) Keine dieser Vorlagen steht ethisch höher als andere. Wir stehen ethisch auf dem gleichen Sockel; wir wollen das gleiche Ziel erreichen. Das eint uns, und das spricht für diese Vorlagen. Es stellt sich hier die Frage: Kann ich das, was ich vorgetragen habe, ethisch überhaupt verlangen? Kann ich sagen, dass die Widerspruchslösung ethisch verlangt werden kann? Ich sage, das kann man, und zwar aus der Perspektive der Theorie des Universalismus von Kant: Das, was ich für mich selbst wünsche, muss ich auch bereit sein anderen zu geben. – Ich bin Arzt und habe große Studien geleitet, bei denen es um die Organspende ging. Ich habe einmal eine Studie geleitet, an der 14 000 dialysepflichtige Menschen beteiligt waren. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie einen einzigen Patienten gesehen, der gesagt hat: Jetzt brauche ich ein Organ; aber ich möchte nicht auf die Warteliste, weil ich nie einen Spenderausweis hatte. – Jeder, der selber oder für die eigenen Kinder ein Organ benötigt, will automatisch Empfänger sein. Und ich sage: Dann muss es zumindest die Pflicht geben, bereit zu sein, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und zu widersprechen, wenn man das nicht möchte. Dann kann man immer noch Empfänger werden; kein Problem. Aber das ist die geringste Pflicht, die ich aus der Perspektive von Kant und dem, was hier gesagt wurde, ableite. ({1}) Ich weise ausdrücklich darauf hin: Ich teile, was Annalena Baerbock hier gesagt hat: dass es ein Recht auf körperliche Unversehrtheit gibt. Ich bin übrigens nicht der Meinung, dass wir dafür die deutsche Geschichte heranziehen müssen. Dieses Recht würde auch dann in Deutschland gelten, wenn wir eine ganz andere Geschichte hätten. ({2}) Ich bin sonst immer bereit, zu sagen: Wir müssen auf die Geschichte besonders achten. – Aber dieses Recht hat jeder in Europa; das sollte überall beachtet werden. Und ich sage, dass dieses Recht hier nicht missachtet wird; denn ich kann ja zu jedem Zeitpunkt unbürokratisch und mit geringsten Hürden zum Ausdruck bringen, dass ich nicht Spender werden möchte. Somit bleibt hier die Frage: „Wie setze ich das unbestrittene Recht auf körperliche Unversehrtheit um?“, nicht: „Wer von uns ist der höhere Verteidiger?“ Der Verweis auf die deutsche Geschichte ist hier nicht richtig. Zum Schluss: Ich stimme zu, dass die Widerspruchslösung nicht alle Probleme löst und dass zum Beispiel in Spanien noch ganz andere Faktoren eine Rolle spielen. Aber selbst wenn wir unsere Spenderquote nicht vervierfachen können: Mir genügen sogar ein paar Hundert verhinderte Todesfälle pro Jahr. Damit wäre ich auch zufrieden; denn für mich als Arzt zählt jedes Einzelschicksal. Daher bin ich bereit, zu kämpfen, selbst wenn es nur ein Schritt in die richtige Richtung ist und das Problem nicht komplett löst. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Karin Maag. ({0})

Karin Maag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004104, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Zahl wurde genannt: 84 Prozent der Bevölkerung stehen der Organspende und der Gewebespende positiv gegenüber; ihre Entscheidung dazu dokumentiert haben aber leider nur 39 Prozent der Bevölkerung. Unsere Gruppe, die heute den Gesetzentwurf zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft bei der Organspende vorlegt, eint ein zentraler Gedanke: Natürlich wollen wir die Organspendezahlen in Deutschland erhöhen; aber wir wollen, dass Organspende eine bewusste und freiwillige Entscheidung bleibt, ({0}) die weder vom Staat erzwungen noch von der Gesellschaft erwartet werden kann. Wir wollen nicht, dass das Selbstbestimmungsrecht des Menschen auf ein nachträgliches Veto reduziert wird, so wie es derzeit die Widerspruchslösung vorsieht. ({1}) Eine solche Regelung, die davon ausgeht, dass einem Menschen Organe entnommen werden dürfen, wenn er nicht ausdrücklich widerspricht, hat für uns weder etwas mit dem Selbstbestimmungsrecht des Menschen zu tun – sie ist eben nicht mit dem Selbstbestimmungsrecht vereinbar – noch mit dem Recht auf körperliche Unversehrtheit. ({2}) Da, Herr Lauterbach, geht es auch nicht um die Umsetzung des Selbstbestimmungsrechts. Ich zitiere den Vorsitzenden des Ethikrats, Professor Dabrock, der von einem groben „Bruch in der Rechtskultur“ spricht und sagt, es würde eine „Organabgabepflicht mit Widerspruchsvorbehalt“ geschaffen, ({3}) und das will ich sicher nicht. ({4}) Wir meinen, dass der freiheitliche Staat keine Entscheidungspflichten schaffen darf, und das gilt insbesondere bei einem so hochsensiblen Thema wie der Organspende; das ist eine sehr persönliche Entscheidung. ({5}) Die Widerspruchsregelung würde doch genau diese Entscheidungspflicht nach sich ziehen. Schlimmer noch: Die Widerspruchslösung könnte aus unserer Sicht das Vertrauen der Menschen in die Organspende beschädigen, welches wir nach vielen Unregelmäßigkeiten in der Vergangenheit erst langsam wieder entwickeln müssen und welches sich gerade langsam wieder entwickelt. ({6}) Die Widerspruchslösung weckt vor allem Ängste wie etwa: Wird man mir im Krankenhaus jedwede Behandlung weiterhin zugestehen? – Entsprechende Schreiben haben wir alle erhalten; wir alle sind in Veranstaltungen mit solchen Sorgen konfrontiert worden. Natürlich ist es nicht so. Natürlich wird jeder weiterhin die bestmögliche Behandlung im Krankenhaus erhalten. Aber das A und O im Transplantationswesen ist, dass die Menschen Vertrauen in das Transplantationswesen haben. Erst mit diesem Vertrauen kommt doch die Bereitschaft, sich mit dem Thema Organspende zu befassen. Ein besorgter Mensch lässt sich ohne dieses Vertrauen sicher nicht davon überzeugen, Organspender zu werden. Ich meine: Auch der Staat muss Leben schützen. In einem vertrauensvollen Klima kann eine Entscheidung über den Tod hinaus reifen, die dann auch Dritten, den Betroffenen, denjenigen, die sich derzeit fürchterlich lange auf den Wartelisten tummeln müssen, eine Perspektive gibt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich werde in meiner Fraktion und auf Veranstaltungen mit Aussagen konfrontiert wie, es müsse doch jetzt endlich etwas passieren, in der Vergangenheit sei viel zu wenig getan worden, es sei nichts geschehen. – Das ist falsch. Wir haben endlich getan, was uns viele Sachverständige empfohlen haben, was wir aus dem Ausland gelernt haben: Wir haben in einem ersten Schritt vor allem die Strukturen in den Krankenhäusern, in den Entnahmekliniken verbessert. ({7}) Potenzielle Spender können in diesen Entnahmekliniken jetzt erkannt werden; sie werden gemeldet. Das Gesetz ist seit April dieses Jahres in Kraft. Ich hätte mir gewünscht, dass wir die positive Wirkung, die dieses Gesetz entfalten wird, abwarten ({8}) und die Menschen nicht sofort in eine neue Verunsicherung stürzen. Aber ich bin zutiefst davon überzeugt: Mit diesen neuen Strukturen werden wir Gutes tun. Wenn in der Vergangenheit, kurz nach der Entscheidung in 2011 – da haben wir uns schon einmal mit dem Thema Organspende beschäftigt –, nicht diese Unregelmäßigkeiten in vielen Krankenhäusern aufgetreten wären, wenn die Krankenkassen daraufhin nicht darauf verzichtet hätten, Infomaterial zur Verfügung zu stellen, dann müssten wir jetzt nicht erst wieder Prozesse in Gang bringen. Wir müssen – das ist unsere oberste Pflicht – Vertrauen schaffen, wir müssen die Menschen an die Organspende heranführen. Die Widerspruchslösung ist dafür sicherlich kontraproduktiv, und deswegen würde ich mich über die Unterstützung unseres Gesetzentwurfs herzlich freuen. Danke schön. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Maag. – Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Dr. Katja Leikert. ({0})

Dr. Katja Leikert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004337, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jeder hat heute seine ganz eigene Motivation, in dieser Debatte zu sprechen. Ich war in der letzten Legislatur Berichterstatterin zum Thema Organspende und habe mir das alles ganz genau angeguckt. Ich war in Krankenhäusern, Dialysezentren, habe mit Betroffenen in der Charité, in Frankfurt auf der Herzinsuffizienzstation und in Hamburg gesprochen und dramatische Krankheitsverläufe erlebt. Ich war auf vielen Fachkongressen und habe unzählige Gespräche mit Transplantationsärzten geführt. Ich habe die Diskussion hier im Deutschen Bundestag verfolgt, als wir über das Thema Hirntod mit dem Ethikrat debattiert haben. Und wir haben bisher auch einiges zusammen erreicht. Ich bin stolz darauf, dass wir im Sommer 2016 das Transplantationsregistergesetz eingeführt haben. Zum ersten Mal werden Spenden wirklich systematisch erfasst; damit wird die Forschungsgrundlage verbessert. Weitere wichtige Maßnahmen hat unser Gesundheitsminister Jens Spahn in dieser Legislatur auf den Weg gebracht, vor allem mit der Änderung des Transplantationsgesetzes: von einer besseren Vergütung bis zur Schaffung besserer Strukturen in den Krankenhäusern. Dazu gehört auch die Freistellung der Transplantationsbeauftragten. Jeder, der sich mit dem Thema intensiv beschäftigt hat, weiß – das wurde hier schon öfter gesagt –: Der Schlüssel liegt in den Krankenhäusern. Deshalb ist es richtig und wichtig, dass wir die Ärzte bei diesem schwierigen Thema besser unterstützen, ({0}) das so überhaupt nicht in einen Krankenhausalltag passt. Eine multiple Organentnahme ist extrem aufwendig. Jeder von uns weiß: Das alles sind sehr wichtige Maßnahmen; aber sie reichen eben nicht aus. Die Diskussion, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir an dieser Stelle ehrlicher führen. Vielfach verlassen wir uns darauf, dass unsere europäischen Nachbarn uns über Euro­transplant mit den notwendigen Organen versorgen. Wir sind mit Blick auf die Spendenbereitschaft faktisch das Schlusslicht in Europa. Und wenn wir einmal schauen, was die anderen EU-Länder anders machen als wir, dann stellen wir fest, dass in 20 von 28 EU-Staaten die Widerspruchslösung gilt. Die wenigsten in diesem Raum können einen Hirntod diagnostizieren oder eine Organentnahme durchführen. Alles, was wir als Abgeordnete leisten können, ist, das System so effizient zu organisieren, dass wirklich alles getan wird, um die Patienten bestmöglich zu versorgen. Genau das ist meine Motivation, mich für die Widerspruchslösung einzusetzen. ({1}) Neben der guten Ausstattung der Krankenhäuser – dass sie notwendig ist, darin sind wir uns alle einig – gehört nun einmal eine umfassende Erfassung aller potenziellen Spender dazu. Ich sage es ganz deutlich: Der Organspendeausweis ist weder in seiner Form zeitgemäß – ganz egal, ob er jetzt nicht mehr nur in Papier-, sondern auch in Plastikform vorliegt –, noch stellt er eine ordentliche Dokumentation des Spenderwillens dar. Sieben Jahre nach Einführung der Entscheidungslösung gibt es eine ganz klare Bilanz – Georg Nüßlein hat darauf hingewiesen –: Eine Verringerung der Patientenzahl auf der Warteliste wurde nicht erreicht. Jetzt können wir uns lange philosophisch über die Frage unterhalten: Widerspruchslösung, ja oder nein? Ich fand auch die Worte von Karl Lauterbach gut, der gesagt hat, dass wir uns hier auch nicht in unserer ethischen Auffassung unterscheiden. Die Frage ist nur, ob der Staat ein solches Register führen darf oder nicht. Ich sage an dieser Stelle: Ja. Man kann Mitbürgerinnen und Mitbürgern im Sinne der Solidarität eine Entscheidung abverlangen. Liebe Karin, es bleibt am Ende des Tages eine freiwillige Entscheidung, ob ich Spender sein möchte oder nicht. Ich kann 24 Stunden, 7 Tage die Woche widersprechen. ({2}) Ich sage abschließend ganz offen: Das andere Modell, die freiwillige Registrierung alle zehn Jahre beim Besuch im Bürgeramt, fällt wieder hinter den Anspruch einer umfassenden Registrierung zurück. Die Menschen wollen nicht, dass wir hier Gesetze machen, die nach zwei Jahren evaluiert werden. Dann stellen wir nämlich fest, dass nachgebessert werden muss, und gehen in die nächste Schleife. Die Menschen wollen, dass wir hier Entscheidungen treffen, die schnell wirksam sind. Ich möchte den Menschen, die auf ein Organ warten, Mut machen und würde mich sehr freuen, wenn aus diesem Hohen Haus heute das Signal ausgeht, dass sich wirklich etwas ändert. Herzlichen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Hilde Mattheis.

Hilde Mattheis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003588, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es wurde schon gesagt: Im April dieses Jahres haben wir ein wichtiges Gesetz verabschiedet, ein Gesetz zur Verbesserung der Strukturen in den Entnahmekrankenhäusern. Das ist ein ganz zentraler Punkt, ({0}) für den wir hier im Haus eine breite Mehrheit hatten und bei dem jeder und jede gesagt hat: Ja, das ist der richtige Ansatz. Obwohl dieses Gesetz seine Wirkung noch nicht hat entfalten können, diskutieren wir jetzt über einen fundamentalen Systemwechsel. Da will ich gerne auf das, was Frau Leikert gerade gesagt hat, eingehen. Ja, der Schlüssel liegt in den Krankenhäusern. Das haben wir mit der Verabschiedung dieses Gesetzes begriffen, und das wollen wir mit diesem Gesetz auch umsetzen. ({1}) Aber der Schlüssel liegt auch im Vertrauen der Menschen, und zwar insbesondere der Angehörigen. Jetzt schauen wir einmal, wie die Widerspruchslösung – ja, 20 von 28 Ländern Europas haben die Widerspruchslösung – praktiziert wird. Das kann mit dem Herztod als Voraussetzung für die Organentnahme zu tun haben – das ist eine Möglichkeit –, hat aber vor allen Dingen etwas mit den Strukturen zu tun. Die Spanier sagen: Wenn wir dieses Vertrauen nicht aufgebaut und die Strukturen nicht verbessert hätten, dann hätten wir diese Zahlen nicht. Die meisten – wir haben auch mit Abgeordneten gesprochen – wussten gar nicht, dass die Widerspruchslösung in ihrem Land gesetzlich verankert ist; denn die Praxis ist eine andere: Man will die Entscheidung der Menschen akzeptieren und unterstützen, ({2}) und das mit Strukturen, die das ermöglichen. Schauen wir nach Bulgarien: Bulgarien hat die Widerspruchslösung und ganz niedrige Spenderzahlen, noch niedriger als bei uns. Schauen wir nach Dänemark: Dänemark hat die Zustimmungslösung, der Herztod wird nicht als Entnahmevoraussetzung akzeptiert, und es gibt hohe Spenderzahlen. Woran liegt das? Das liegt daran, dass man das Vertrauen der Bevölkerung unterstützt und mit Maßnahmen unterfüttert. Das ist der entscheidende Punkt. ({3}) Darum muss es uns gehen. Ich glaube, keiner von uns hier würde dem anderen absprechen, dafür zu sein, dass sich die Spenderzahlen erhöhen. Wir alle kennen aus Briefen und persönlichen Begegnungen das Leid derer, die auf ein Spenderorgan warten. Aber jetzt will ich mal ein Szenario aufzeigen, das vielleicht noch nicht in allen Köpfen ist: Stellen Sie sich vor, ein junger Mensch hat einen Motorradunfall und sich mit dem Thema zuvor nicht befasst. Das ist nämlich der Punkt: Bei der Zustimmungslösung hat man sich befasst; bei der Widerspruchslösung hingegen weiß man nicht, ob sich dieser junge Mensch damit befasst hat. – Der junge Mensch ist hirntot, und den Eltern wird gesagt: Er hat nicht widersprochen. – Ich möchte mir nicht vorstellen, was in unserer Gesellschaft los ist, ({4}) wenn in dieser Situation die Eltern sagen: Ich weiß nicht, dass mein Kind Organe spenden wollte. Und jetzt sitze ich da und habe keine Möglichkeit. ({5}) – Stopp! Dann schauen Sie in Ihren eigenen Gesetzentwurf. ({6}) – Nein, das ist nicht unlauter. ({7}) Also bitte, mit einer solchen Wortwahl wollen wir doch bei diesem wirklich wichtigen Thema nicht umgehen. ({8}) Es geht doch darum, dass wir gemeinsam den richtigen Weg finden. Wir wollen die Zustimmung ganz aktiv abholen: beim Erste-Hilfe-Kurs, wenn jemand einen Führerschein macht, in der Ausweisstelle, indem man sich in ein Onlineregister eintragen kann – wir wollen ein Onlineregister einrichten –, und auch beim Hausarzt. Alle zwei Jahre soll es die Möglichkeit geben, beim Hausarzt genau über dieses Thema zu sprechen. Dafür soll den Ärzten eine Gebührenleistung zur Verfügung gestellt werden. Ich glaube wirklich fest daran, dass es wichtig ist, dass wir alle miteinander wissen, dass es um die Strukturen geht, an denen wir den Gesetzentwurf ausrichten – die Zahlen habe ich genannt –, und dass klar ist, dass das Selbstbestimmungsrecht der Bevölkerung ein wichtiges Gut ist – für alle übrigens, für alle. Vielen Dank. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Bevor ich der nächsten Rednerin das Wort erteile, möchte ich darum bitten, auf Zwischenfragen zu verzichten, da wir immer abwechselnd einen Redner für die Widerspruchslösung und einen für die Zustimmungslösung haben und die Debatte sonst zeitlich ins Uferlose gehen würde. ({0}) Als nächste Rednerin spricht zu uns die Kollegin Dittmar. ({1})

Sabine Dittmar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004261, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich spreche heute als Gesundheitspolitikerin und Ärztin zu Ihnen. In meiner Praxis habe ich nicht nur mit schwerkranken Patientinnen und Patienten auf der Warteliste gebangt und auf den erlösenden Anruf „Es gibt ein passendes Organ“ gehofft, sondern auch Angehörige begleitet, die in einer emotionalen Ausnahmesituation am Sterbebett eines geliebten Menschen vor der Frage standen: Organspende, ja oder nein? Wie hat mein Partner, mein Kind darüber gedacht? – Meistens war es nicht bekannt. Überlegen Sie bitte einen Augenblick: Ist Ihnen die Einstellung Ihres Partners, Ihres Kindes, Ihrer Eltern, Ihrer Geschwister zu diesem Thema bekannt? ({0}) Meine Damen und Herren, ich habe in meinem Wahlkreis den sechsjährigen René, der dringend auf ein Spenderherz wartet. René und seine Mutter haben ihren Wohnsitz jetzt nach Barcelona verlegt, weil sie sich in Spanien schnellere Hilfe erwarten. Wenn ich heute hier stehe und aus tiefster Überzeugung für die Unterstützung unseres Gesetzentwurfs zur doppelten Widerspruchslösung werbe, dann habe ich René und jene 10 000 Patienten und Patientinnen auf der Warteliste vor Augen, die teilweise zehn Jahre und länger auf ein passendes Organ warten. ({1}) Auch heute werden wieder bis zu vier Menschen in Deutschland versterben, weil sie eben kein passendes Organ erhalten. Und um genau diese Menschen geht es in dieser Debatte. ({2}) Einen ersten Schritt haben wir mit dem Gesetz für bessere Zusammenarbeit und bessere Strukturen bei der Organspende getan. Damit wird es gelingen, dass wir in den Kliniken mehr potenzielle Organspender identifizieren. Doch, meine Damen und Herren, das Dilemma ist trotzdem nicht aufgelöst; denn wir wissen nach wie vor nicht: Was war der Wille des Verstorbenen? Und da, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es meine feste Überzeugung, dass uns der vorgelegte Gesetzentwurf zur Entscheidungslösung keinen Schritt nach vorne bringen wird; denn er ändert nichts Grundlegendes. ({3}) Seit 2011 haben wir die Aufklärung über Organspende massiv intensiviert: Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung fährt diverse Kampagnen. In Apotheken und Arztpraxen erhalten Sie Organspendeausweise. Die Krankenkassen informieren regelmäßig. Übrigens sind auch die Bürgerämter und Passämter schon seit 2012 verpflichtet, auf die Organspende hinzuweisen. ({4}) Aber faktisch passiert nichts. Im Gegenteil: Die Zahlen werden schlechter. Neu an der Entscheidungslösung ist neben dem Honorar für Hausärzte lediglich, dass ein Register geschaffen wird und beispielsweise beim Behörden- und Arztgang darauf hingewiesen wird, dass man sich eintragen kann. Mir, liebe Kolleginnen und Kollegen, fehlen die Fantasie und der Glaube daran, dass die Entscheidungsfreudigkeit des Einzelnen dadurch erheblich zunimmt. Warum sollte jemand, der bisher keinen Organspendeausweis ausgefüllt hat, obwohl er der Organspende positiv gegenübersteht, sich nun aktiv in ein Register eintragen? Nur mehr Information, das ist mir persönlich viel zu wenig. ({5}) Ich bin davon überzeugt: Wenn es bei der Entscheidungslösung bleibt, werden wir in zwei, drei Jahren die gleiche Debatte wieder führen; ({6}) denn die Entscheidungslösung ist eine Verzögerungslösung. Aber den Menschen auf der Warteliste läuft die Zeit davon. ({7}) Mit der Widerspruchslösung werden wir auch ein Register implementieren. Aber wir gehen einen deutlichen Schritt weiter: Wir setzen alle in die Pflicht, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen. Und ich sage hier in aller Deutlichkeit: Angesichts der dramatischen Zahlen auf der Warteliste ist es den Menschen zuzumuten, sich mit der Organspende auseinanderzusetzen. ({8}) Dies ist kein Angriff auf die Selbstbestimmung. Es gibt keine Pflicht zur Organspende – die bleibt freiwillig –; aber es gibt eine Pflicht, sich mit der Thematik zu befassen und eine Ablehnung auch zu dokumentieren. ({9}) Dies, meine Damen und Herren, kann der Staat seinen Bürgern abverlangen. Denn es ist so, wie Karin Maag gesagt hat: Im Grundgesetz ist eine Schutzpflicht für das Leben verankert. In Abwägung der beiden Grundrechte hat für mich das Grundrecht auf Leben einen höheren Stellenwert als das Grundrecht auf Nichtbefassung mit einer Thematik. ({10}) Ich bitte Sie daher um Unterstützung für den Gesetzentwurf zur Widerspruchslösung, wie wir sie in 20 von 28 Ländern und auch in den meisten Eurotransplant-Ländern haben, von denen wir übrigens sehr dankbar Organe annehmen. Dieses moralische Dilemma müssen mir die Gegner der Widerspruchslösung auch einmal erklären. Den Menschen auf der Warteliste sind wir die Widerspruchslösung schuldig und ebenso jenen, die zukünftig hinzukommen – das können schon heute oder morgen ich, Sie, Ihre Angehörigen oder Ihre Freunde sein. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({11})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Jetzt spricht zu uns die Kollegin Aschenberg-Dugnus. ({0})

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Artikel 1 unseres Grundgesetzes lautet: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Ich bin stolz auf unser Grundgesetz. ({0}) In Bezug auf die Organspende bedeutet das für mich: Der Staat darf aus einem Akt der Freiwilligkeit, aus einem Akt der freiwilligen Solidarität keinen Pflichtakt machen; denn das Selbstbestimmungsrecht jedes Einzelnen von uns hat etwas mit Würde zu tun. ({1}) Ja, Frau Kollegin Dittmar, Sie haben hier einen Fall geschildert. Es berührt uns alle, wenn ein junger Mensch auf eine Organspende wartet. Sie haben gesagt, man müsse sich mit dem Thema beschäftigen. Sicher. Ich weiß zum Beispiel von all meinen Angehörigen, wie sie zur Organspende stehen. Ich selbst hatte in der Familie einen Schwager, der jahrelang auf ein Spenderherz gewartet hat. Trotzdem sage ich: Für mich missachtet die Widerspruchslösung das Selbstbestimmungsrecht der Bürgerinnen und Bürger und verkehrt die freie Entscheidung – eine Spende ist eine freie Entscheidung – genau ins Gegenteil. ({2}) Insofern, Herr Kollege Spahn, muss ich Ihrem Post vom Wochenende widersprechen, in dem Sie schreiben, die Widerspruchslösung zwinge niemanden zur Organspende. Doch! ({3}) – Herr Spahn. – Denn es muss eine freie Entscheidung bleiben, ({4}) Organe zu spenden, Organe nicht zu spenden oder sich gar nicht zu entscheiden – Letzteres kommt in Ihrem Gesetzentwurf nicht vor –, ({5}) und das Ganze ohne einen Zwang. Das ist das Entscheidende. Für mich hebelt die Widerspruchslösung den Grundsatz aus, dass jeder medizinischen Behandlung und jedem medizinischem Eingriff auch zugestimmt werden muss. Die Patientenbeauftragte redet gleich noch. In ihrem Ratgeber – sie unterhält sich gerade und hört nicht zu – heißt es – ich zitiere –: Ob und wie Sie sich behandeln lassen, ist grundsätzlich allein Ihre Entscheidung. Hier greift das Recht auf Selbstbestimmung … die rechtliche Grundlage hierzu ist Ihre Einwilligung. Aha! Wie die Patientenbeauftragte richtig ausführt, benötigen wir für jede medizinische Maßnahme eine konkrete Einwilligung. Genau das wollen wir in dem von uns vorgelegten Gesetzentwurf zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft auch weiterhin für die Organspende haben. ({6}) Ich kann es nur wiederholen: Es kann doch nicht sein, dass wir nach der Datenschutzgrundverordnung der Veröffentlichung eines Bildes im Internet positiv zustimmen müssen und bei der Widerspruchslösung, bei der es sich doch um eine ganz persönliche Entscheidung handelt, Schweigen als Zustimmung gelten soll. Das kann ich nicht akzeptieren. ({7}) Ich finde, es ist Ausdruck des Respektes vor der individuellen Entscheidung jeder Bürgerin und jedes Bürgers, dass wir gerade bei einem so wichtigen Thema eine ausdrückliche Zustimmung voraussetzen. Darauf müssen die Bürger vertrauen; auch das hat direkt etwas mit Würde zu tun. ({8}) Meine Damen und Herren, als wir unseren Antrag gemeinsam formuliert haben, haben wir uns die Frage gestellt: Was hindert die Menschen eigentlich daran, trotzdem sie positiv zur Organspende eingestellt sind, ihren Ausweis nicht auszufüllen? Das Ergebnis nach vielen Befragungen ist, dass wir – das wurde heute schon mehrfach gesagt – Vertrauen in die Organspende wiederherstellen müssen. Vor allen Dingen müssen wir gezielt Ängste und Fragen der Menschen ernst nehmen und beseitigen; denn viele Menschen fragen sich: Bin ich vielleicht zu alt für eine Organspende? Was bedeutet eigentlich der Hirntod? Diese individuellen Fragen müssen auch individuell beantwortet werden. ({9}) Den Hausärztinnen und Hausärzten kommt dabei eine Schlüsselrolle zu; denn ihnen vertrauen die Menschen und ihnen können sie die Fragen stellen, die sie bei diesem Thema bedrücken. Die Hausärzte sollen quasi eine Lotsenfunktion erfüllen. Unser Vorschlag sieht vor, dass dort regelmäßig zur Organspende, wenn das gewünscht wird, beraten wird und dass auch zur Eintragung in das entsprechende Register ermutigt wird. Dafür soll es natürlich eine Vergütung geben. Zudem sieht unser Vorschlag vor, dass ein bundesweites Onlineregister eingerichtet wird. Unser Ziel ist, eine Registrierungsmöglichkeit zu schaffen, die für die Bürger einfach und sicher ist. ({10}) Das wird die Bereitschaft zur Organspende auf jeden Fall verstärken. Viele Dinge sind schon gesagt worden: Bürgerämter, Erste-Hilfe-Schulungen, dass man auch selbst zu Hause seine Entscheidung eintragen kann usw. Zu der Kritik, es sei nichts passiert, muss ich sagen: Das stimmt einfach nicht. Mit dem Transplantationsgesetz haben wir etwas Tolles erreicht; das muss seine Wirkung entfalten. Dann können wir allen Menschen erklären, was Organspende bedeutet, nämlich das Leben eines anderen Menschen zu retten. Ich würde mich freuen, wenn Sie sich für unseren Antrag entscheiden würden. Danke sehr. ({11})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als nächster Redner hat der Kollege Ulrich Oehme das Wort. ({0})

Ulrich Oehme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004843, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Jährlich warten circa 10 000 Menschen in Deutschland auf eine Organspende. Dabei wurden 2018 von gerade einmal 955 Menschen Organe entnommen. Warum aber kommt es zu so wenig Spenden, wenn 84 Prozent der Menschen in Deutschland einer Organspende positiv gegenüberstehen und circa 36 Prozent, also circa 30 Millionen, einen Organspendeausweis besitzen? Wie so oft liegt es an der Politik und der Führung dieses Landes und nicht an der Bereitschaft der Bürger, sich selbst im Sterben für ihre Mitmenschen zu engagieren. Es liegt am missbrauchten und verspielten Vertrauen in die Institutionen, die die Rechte dieser Menschen schützen sollen. Der Gesetzentwurf der Gruppe um Herrn Spahn will Spendenbereitschaft erzwingen, statt dieses Vertrauen wiederherzustellen. ({0}) Damit verkommt der selbstbestimmte Mensch zum wandelnden Organbehälter, der während des Sterbens mit staatlicher Hilfe der Lieferkette zugeführt wird. ({1}) Was sind die Gemeinsamkeiten zwischen Organspendern, Polizisten, Soldaten oder Feuerwehrleuten? Sie alle sind Altruisten, das heißt, sie opfern sich für das Wohlergehen anderer auf. Ein Organspender handelt altruistisch, indem er wissentlich seine körperliche Unversehrtheit zugunsten eines anderen Menschen aufgibt und so dessen Leben verlängert. Der Spender ist dabei noch nicht tot. Oder wie können Sie einem Toten lebende Organe entnehmen? ({2}) Anstatt nun diese Menschen durch Transparenz und Information dahin gehend zu bestärken, diese noble Entscheidung selbst zu treffen, will die Gruppe um Herrn Spahn die Menschen per Gesetz dazu zwingen, schlimmer noch: Sie geben sie denjenigen preis, die gezeigt haben, dass sie massive monetäre Interessen an der Ressource Organe haben. ({3}) Wir als AfD finden dies mehr als bedenklich und möchten eine solche Entscheidung durch fundierte und ausreichende Informationen unterstützen und nicht durch rechtlichen oder moralischen Zwang diktieren. Für uns stehen die Stärkung des Charakters der freiwilligen Spende und nicht die bloße Erhöhung der Zahl der Organentnahmen im Vordergrund. ({4}) Was meine ich mit monetären Interessen? Mit den Gesetzesänderungen vom 22. März 2019 übergaben Sie die Entscheidung und Kontrolle über dieses lukrative Geschäft der Vermittlung und Übertragung von Organen an private, nichtstaatliche Akteure. Überlassen Sie damit nicht gerade denjenigen die Kontrolle und die Aufsicht dieses Millionengeschäftes, mit denen Sie jahrelang selbst Geschäfte gemacht haben? Das ist ganz klar Klientelpolitik, Herr Spahn. ({5}) Die AfD möchte mit ihrem Antrag zur Vertrauenslösung die Kontrolle und Aufsicht nicht bei denjenigen liegen sehen, die ein finanzielles Interesse an der Entnahme und Transplantation besitzen, sondern bei einem unabhängigen staatlichen Institut. Wir fordern in unserem Antrag eine bundeseinheitliche Regelung und Verantwortlichkeit. Das schafft Transparenz, Vertrauen und mehr Spendenbereitschaft. Während derzeit ein Spender entweder selbst die Entscheidung trifft oder dies seine Angehörigen für ihn tun, wollen Sie auch hier eine Entscheidung erzwingen. ({6}) Meistens entscheiden sich die Angehörigen gegen eine Entnahme, weil sie nicht wissen, wie der Patient zur Organentnahme stand, oder dessen Ablehnung kannten. In dem Gesetzentwurf mit der Widerspruchslösung werden Angehörige von der Entscheidung völlig ausgeschlossen. ({7}) Der Gesetzentwurf dieser Gruppe untergräbt die Freiheit der Bürger, eine Entscheidung zu treffen oder eben nicht zu treffen, ohne dass der Staat sie dazu zwingt. Zwang gegen die Bürger dieses Landes scheint eine beliebte Methode der schon länger hier Sitzenden zu sein. ({8}) Dass wir etwas an den Verhältnissen der Organspende ändern müssen, wird von keinem der hier Sitzenden infrage gestellt, auch nicht von uns. Dass wir aber aus einem altruistischen Akt einen Zwang, aus selbstloser Nächstenliebe ein Geschäft ({9}) und aus Anerkennung für diese Tat bei Angehörigen Bitterkeit und Enttäuschung werden lassen, ist nicht hinnehmbar. Deswegen fordert die AfD die Beibehaltung der freiwilligen Entscheidung, die Unabhängigkeit und einheitliche Regelung der Kontrolle und Aufsicht der Entnahme, Vermittlung und Übertragung und das Beibehalten des Einflusses von Angehörigen auf diese Entscheidung, wenn keine solche vom Patienten vorliegt. Das bedeutet eine wirkliche Lösung des Problems und bestärkt den Glauben der Bürger in unseren Staat und schafft nicht zuletzt Vertrauen in die Organspende. Vielen Dank. ({10})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Dr. Hermann Otto Solms. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich werbe für die Widerspruchslösung. Ich halte es für völlig verfehlt, einem der Antragsteller von der einen oder anderen Seite moralische, ethische, rechtliche Vorhaltungen zu machen. ({0}) Alle wollen das Beste. Es ist nun einmal so, dass die Situation, die wir erleben, ausgesprochen unbefriedigend ist, und zwar nicht erst seit Kurzem, sondern seit vielen, vielen Jahren. Es hat sich wirklich nichts grundlegend verändert. Es wird angekündigt, es könne sich etwas ändern; aber bis jetzt können wir das noch nicht feststellen. Täglich sterben Menschen, die zwischen Leben und Tod schweben und bangen, ob sie ein Organ bekommen oder nicht rechtzeitig versorgt werden können. Das liegt eben auch sehr stark daran, dass das Bewusstsein in der Bevölkerung für die Notwendigkeit, bereit zu sein, Organe zu spenden, nicht ausreichend vorhanden ist. Wir haben nun das Phänomen, dass über 80 Prozent der Bevölkerung einer Umfrage zufolge sich positiv für die Organspende aussprechen, aber nur etwas über 30 Prozent tatsächlich einen Organspendeausweis ausgefüllt haben. Woran liegt das? Das ist doch die Gretchenfrage. Nahezu 50 Prozent der Bevölkerung wären eigentlich bereit bzw. sind grundsätzlich positiv eingestellt, aber sie gehen diesen Schritt nicht. Und sie gehen den Schritt aus einem ganz natürlichen und menschlichen Grund heraus nicht: Sie wollen sich nicht mit dem eigenen Tod befassen. – Das geht doch eigentlich jedem so. Als ich meinen Organspendeausweis vor vielen Jahren ausgefüllt habe, habe ich das ja auch nicht sofort und spontan gemacht, sondern natürlich ging dem ein Nachdenkensprozess voraus, wie man das machen kann, ob man das machen muss und ob man den Schritt gehen sollte oder nicht. Ich habe mir dann einen Ruck gegeben und gesagt: Wenn ich so denke, dass das notwendig ist, muss ich es auch tun. – Aber das hat bei 50 Prozent der Bevölkerung nicht funktioniert. Wenn alle objektiven Voraussetzungen erfüllt sind, wenn beide Anträge verfassungsrechtlich zulässig sind, wenn beide ethisch-moralisch gleichwertig sind, wenn das Selbstbestimmungsrecht der Menschen nicht eingeschränkt ist – gut, da gibt es leichte Differenzen, aber ich glaube, man sollte die Prinzipienreiterei nicht auf die Spitze treiben –, dann geht es doch darum: Wie bewege ich die Menschen dazu, sich dazu zur Verfügung zu stellen? Das ist eben eine Entscheidung fürs Leben, und nicht für den Tod. Fürs Leben! ({1}) Darauf müssen wir uns konzentrieren: Wie bewegen wir die Menschen dazu, ihre Opferbereitschaft, die offenkundig vorhanden ist, auch tatsächlich zu realisieren? Ich glaube, dass die Widerspruchsregelung da die besseren Voraussetzungen bietet. Es macht daher auch keinen Sinn, jetzt viele weitere Jahre zu warten, ob irgendwelche Instrumente besser helfen als bisher. Die Zustimmungsregelung ist ja nur eine Weiterführung des bisherigen Konzeptes, das nicht erfolgreich war. ({2}) Dann muss man halt auch einmal andere Wege gehen. Ich bin der Meinung, dass es dem Selbstbestimmungsrecht der Menschen überhaupt nicht zum Nachteil gereicht, wenn man sie zwingt, Widerspruch zu leisten, wenn sie nicht bereit sind, Organe zu spenden. Aber entscheidend ist doch, dass über die Jahre Zehntausenden von Menschen geholfen wird, die weiterleben könnten. Ich finde es als Gedanken immer tröstlich, zu wissen – das habe ich auch gedacht, als ich meinen Ausweis unterschrieben habe –, dass man im Tod anderen Menschen helfen kann, weiterzuleben. Das ist doch ein schöner Gedanke auch in Verbindung mit diesem unangenehmen Thema. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Solms. – Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Kathrin Vogler. ({0})

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Organspende ist ein höchst individueller Akt der Solidarität mit einem total unbekannten Menschen. Dass wir diesen Akt der Solidarität stärken wollen, darüber sind wir uns in diesem Hause hoffentlich alle einig. Aber dass wir in Deutschland vergleichsweise wenig Organe für Transplantationen zur Verfügung haben, zurzeit etwa 9 400 Menschen auf den erlösenden Anruf eines Transplantationszentrums warten, aber nur etwa ein Drittel diesen Anruf erhalten wird, das darf uns nicht kaltlassen; das lässt uns nicht unberührt. Trotzdem: Als im Sommer letzten Jahres Jens Spahn seine lautstarke Kampagne für eine Widerspruchsregelung entfachte, da war meine spontane Reaktion: Warum macht er das eigentlich? Er ist doch lange genug Gesundheitspolitiker, um zu wissen, dass das Problem genau so eben nicht zu lösen ist. Meine Damen und Herren, der Mangel an Spenderorganen ist ein soziales und ein gesundheitspolitisches Problem, das sich nicht mit autoritären Modellen lösen lässt, sondern ausschließlich mit Vertrauen, Solidarität und mit strukturellen Veränderungen im Gesundheitssystem. ({0}) Eine Datenanalyse der Uni Kiel wies im letzten Jahr schon darauf hin, dass die Zahl möglicher Organspender von 2010 bis 2015 um 14 Prozent zugenommen hat, die Kontaktquote mit der Deutschen Stiftung Organtransplantation allerdings von 11,5 auf 8,2 Prozent gesunken ist. Das heißt: Würden wir all diese potenziellen Organspenderinnen oder Organspender identifizieren und melden, hätten wir dieses Problem gar nicht mehr. Herr Spahn hat das erkannt und hat in der TPG-Novelle, die zum 1. April in Kraft getreten ist, ja auch Maßnahmen auf den Weg gebracht, die wir alle unterstützt haben. ({1}) Die Widerspruchsregelung basiert auf einem Menschenbild, das ich einfach nicht teilen kann. Sie führt dazu, dass Menschen in einer höchstpersönlichen Frage instrumentalisiert und bevormundet werden, nämlich in der Frage: Wie stehe ich zu meinem eigenen Tod, zu meinem Körper, und wie will ich sterben? Ich selbst habe übrigens erst seit 2012 einen Organspendeausweis. Ich bin also ein lebendes Beispiel dafür, dass es manchmal mehrere Anstöße von außen braucht, um sich zu informieren und zu entscheiden. Genau diese Anstöße sollen Bürgerinnen und Bürger mit dem Gesetz zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft regelmäßig bekommen. ({2}) Meine Lebenserfahrung auch als Mutter eines Teenagers sagt mir, dass es überhaupt nicht ausreichend ist, Menschen im Alter von 16 Jahren dreimal in kurzer Zeit anzuschreiben ({3}) und dann von ihnen zu erwarten, dass sie zum Amt laufen, um sich irgendwo registrieren zu lassen, wenn sie mit der Organspende nicht einverstanden sind. Das ist, wie ich finde, einfach lebensfremd, wenn man sich überlegt, was 16-Jährige sonst so im Kopf haben. ({4}) Meine Beschäftigung mit der Praxis der Organspende hat mir deutlich gemacht, dass es sehr auf die Organisation des Gesundheitswesens ankommt, ob es in einem Land viele oder wenige Organspenden gibt. Nehmen wir einmal Spanien – das Beispiel ist schon öfter genannt worden –: Da gibt es die Widerspruchsregelung im Gesetz, aber faktisch wird keiner Person ein Organ ohne Zustimmung der Angehörigen entnommen. ({5}) Erst die Verbesserung aller Prozesse in den Krankenhäusern zehn Jahre später hat dort zu dieser hohen Zahl von Organspenden geführt. ({6}) Schauen wir einmal ins eigene Land. Auch da gibt es ja erstaunliche Unterschiede, obwohl doch überall dasselbe Transplantationsgesetz mit derselben Zustimmungslösung gilt. Während es in Bremen nicht einmal 6 Organspender auf 1 Million Einwohner sind, sind es in Hamburg 30. ({7}) Schleswig-Holstein liegt knapp über 11, während wir in Mecklenburg-Vorpommern direkt nebenan 25,5 haben. ({8}) Das sind übrigens Zahlen, die die „Ärzte Zeitung“ von der Deutschen Stiftung Organtransplantation zitiert. Deutschlandweit sind wir im Durchschnitt bei 11,5; das heißt, wenn wir überall in Deutschland Organspendezahlen wie in Hamburg hätten, dann hätten wir gar keinen Mangel an Spenderorganen. Dafür braucht es einfach keine Widerspruchslösung. Unser Gesetzentwurf zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft geht auf die Menschen zu: Sie werden regelmäßig angesprochen, sie erhalten ergebnisoffene Informationen und persönliche Beratungsangebote und sie bekommen die Möglichkeit, ihre Entscheidung in ein Register einzutragen und sie selbstverständlich auch jederzeit wieder zu ändern. Und: Sie können auch weiter den bewährten Organspendeausweis benutzen oder ihre Entscheidung in einer Patientenverfügung regeln. ({9}) Meine Damen und Herren, das Vertrauen in die Transplantationsmedizin kann nicht erzwungen werden. Es braucht Ehrlichkeit und Transparenz. Wir müssen offen aufklären, auch über kritische Fragen zum Hirntodkonzept und zum Ablauf der Hirntoddiagnostik. Und wir sollten die Entscheidung der Menschen über ihren eigenen Körper respektieren. Kein Nein ist noch lange kein Ja. ({10})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Gitta Connemann. ({0})

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Organspende hat für mich viele Gesichter. Seit mehr als 20 Jahren begleite ich Menschen, die auf ein Organ warten – warten! –, nicht wie in einer Schlange vor der Kasse, sondern in Angst; denn die Zeit läuft ab. Das Warten auf den Anruf: „Wir haben ein Organ für dich“, dieses Warten in Angst ist fühlbar und erkennbar. Die Betroffenen spüren, dass sie ihre Kraft verlässt, und ihre Angehörigen sehen es, dass die Kraft sie verlässt. Das Warten hat übrigens immer ein Ende. Manchmal kommt der erlösende Anruf, viel zu häufig aber gar nicht oder zu spät. Wir haben heute hier berührende Lebensgeschichten gehört. Auch ich könnte jetzt über Einzelfälle sprechen, über junge Familienväter, krebskranke Kinder. Das möchte ich aber nicht. Denn so wichtig jedes einzelne Schicksal ist: Mir geht es um eine grundsätzliche Frage. Welche Verantwortung müssen Menschen für sich und andere übernehmen, und was können und dürfen wir als Gesetzgeber verlangen? Alle hier in diesem Saal eint ein Ziel: Wir wollen Leben retten; das ist unstreitig. Wir alle wissen übrigens auch, dass es viele Gründe für den Mangel an Organen gibt. Das ist nicht monokausal. Mögliche Spender werden nicht erkannt, Transplantationsbeauftragte haben keine Zeit, Entnahmekrankenhäuser können nicht kostendeckend arbeiten. Darauf haben wir bereits reagiert, indem wir das Transplantationsgesetz, übrigens auf Initiative von Jens Spahn, verändert haben. Danke dafür! ({0}) Das bedeutet erstens mehr Geld für Entnahmekrankenhäuser, zweitens mehr Zeit für Beauftragte und drittens, dass Transplantationsmedizin in Deutschland eine Zukunft hat. Nun fehlt für mich persönlich der letzte Schritt, nämlich eine Antwort auf die Frage: Dürfen wir von Bürgern eine Entscheidung verlangen, ja oder nein? Meine persönliche Antwort heißt: Ja. Für mich ist diese Frage übrigens elementar. Dabei will ich gar nicht über die Relevanz von Spenderzahlen reden. Wir wissen zwar, dass in Ländern mit Widerspruchslösung im Gesamtdurchschnitt die Zahlen 30 Prozent höher sind als in Ländern mit Zustimmungslösung, aber für mich ist am Ende ausschlaggebend, dass Menschen Verantwortung für sich und andere übernehmen. Dabei denke ich nicht allein an diejenigen, die in dieser Angst warten, sondern ich denke auch an uns selbst, an unsere Angehörigen. Denn auch nach unserem Vorschlag der doppelten Widerspruchslösung bleibt jeder in seiner Entscheidung frei. Er kann Ja sagen, und er kann Nein sagen. Eine Ablehnung, ein Nein muss übrigens nicht begründet werden. ({1}) Auch das ist wichtig. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass diese Entscheidungen zu selten getroffen werden. Die Kollegen, die sich für die Zustimmungslösung aussprechen, wollen die potenziellen Spender mit mehr Beratung, mit einem Onlineregister überzeugen. Aber das findet heute schon alles statt. ({2}) Fakt ist: Schon heute werden Abermillionen Organspendeausweise ausgegeben. Jeder Krankenversicherte erhält mit Vollendung seines 16. Lebensjahres ein Exemplar. Sie liegen überall aus. Eigentlich müsste jeder von uns mehrere Ausweise in der Schublade haben. Manchmal liegen sie auch dort, aber eben unausgefüllt, verdrängt. Man möchte ja, aber man kommt nicht dazu. Das werden übrigens das Bürgeramt, der Hausarzt auch nicht ändern können. Wie wollen Sie übrigens den Beamten auf dem Amt schulen? Wie wollen Sie den Hausarzt schulen? Wollen Sie diese verpflichten, und woher nehmen Sie die Zeit, die da wegläuft? Die doppelte Widerspruchslösung setzt genau hier an. Ich empfinde diese Entscheidung am Ende als Chance; denn jeder von uns wird angehalten, sich mit dem eigenen Leben und mit dem eigenen Tod auseinanderzusetzen. Das sind existenzielle Fragen, denen wir nicht ausweichen sollten, übrigens auch vor dem Hintergrund der Betroffenheit unserer Angehörigen. Da sei mir eine Bemerkung noch gestattet, Frau Mattheis.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss.

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich weiß um die Emotionalität der Debatte. Aber das rechtfertigt nicht die falsche Behauptung, ({0}) dass Angehörige nach unserer Lösung kein Mitspracherecht mehr hätten; ({1}) denn nahe Angehörige werden genau diese Möglichkeit erhalten können, nämlich zu widersprechen. ({2}) Kämpfen wir gemeinsam für Lebensrettung! ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Kirsten Kappert-Gonther das Wort. ({0})

Dr. Kirsten Kappert-Gonther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004773, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein positiver Effekt bei geringer Eingriffstiefe ist besser als ein tiefer Eingriff, der nichts bringt, ({0}) ganz besonders bei einer höchstpersönlichen Frage wie der Organspende. Es ist gut, dass wir diese Debatte seit Monaten führen. Aber sie muss fair geführt werden, vor allem bei so sensiblen Themen. ({1}) Es gab eine Reihe von parlamentarischen Foulspielen. Was ich aber wirklich problematisch finde, ist, dass Ihr Gesetzentwurf mit der Widerspruchsregelung auf die Uninformiertheit und die Trägheit der Bevölkerung setzt. ({2}) Die Menschen haben ein Recht auf Information. Es reicht eben nicht, in einem kurzen Zeitraum dreimal hintereinander Jugendliche, 16-Jährige, anzuschreiben. Wer Jugendliche kennt, weiß, dass sie in der Regel andere Dinge in ihrem Kopf haben, als sich mit Organspende auseinanderzusetzen. ({3}) Und es muss ein Recht geben, sich nicht zu entscheiden. ({4}) Schweigen darf nicht Zustimmung bedeuten. Es gibt Lebensphasen, da können Menschen sich nicht mit der komplexen Frage beschäftigen, ob sie nach ihrem Tod Organe spenden wollen, sei es, weil ihnen der Alltag über den Kopf wächst, sei es, weil sie sich in einer psychischen Krise befinden. Das sind weit mehr Menschen als die, die Sie in Ihrem Gesetz ausschließen. ({5}) Wir dürfen nicht zulassen – das sage ich ausdrücklich als Ärztin –, dass Kranken und Menschen, die weniger privilegiert sind, nach dem Tod Organe entnommen werden, obwohl sie das möglicherweise nicht gewollt hätten. ({6}) Ich hätte mir insbesondere von der Patientenbeauftragten gewünscht, dass sie die Haltung vertritt, dass Patientinnen und Patienten mit seelischen Erkrankungen geschützt sind. ({7}) Wenn ich meinen Newsletter verschicken will, brauche ich eine schriftliche Einwilligung, genau wie Sie alle, und das finde ich richtig so. Diese Regelung soll aber für so etwas zutiefst Persönliches wie die Organspende nicht gelten? Das ist doch absurd. Organe zu spenden, ist doch nichts Banales. Da geht es doch um zutiefst persönliche Entscheidungen, mit denen man sich auseinandergesetzt haben muss. ({8}) Von Spanien – heute schon häufig genannt –, dem Organspendeweltmeister, können wir lernen. Das A und O sind die Strukturen und das Vertrauen der Bevölkerung. ({9}) Das hat uns kürzlich auch die Leiterin der spanischen Organisation für Organtransplantationen, Frau Dr. Dominguez-Gil, hier im Bundestag bestätigt. Die Widerspruchsregelung gilt in Spanien nur auf dem Papier. Gelebt wird dort die Zustimmungsregelung. ({10}) Die Organisation in den Krankenhäusern ist dort vorbildlich. Um die Strukturen auch hierzulande zu verbessern, haben wir endlich – war ja lange überfällig – im Frühjahr ein gutes Gesetz verabschiedet, und das wird seine Wirkung erst noch entfalten. ({11}) Vertrauen schaffen Sie durch Information und Selbstbestimmung. Das muss bedeuten: direkte Ansprache, mehr Beratung und nicht weniger. ({12}) Die Hälfte der Menschen fühlt sich schon jetzt schlecht informiert. Abgesehen von den Briefen wollen Sie, Herr Spahn, Herr Lauterbach und alle anderen, die die Widerspruchsregelung unterstützen, weitergehende gesetzliche Informationen sogar streichen. Das ist nicht in Ordnung. ({13}) Gut finde ich, dass Sie unseren Vorschlag eines Onlineregisters auch in Ihr Gesetz übernommen haben. Im Gegensatz zu Ihnen wollen wir aber den bewährten Organspendeausweis behalten. ({14}) Eine britische Studie, die dieses Jahr veröffentlicht wurde, vergleicht die Transplantationsraten von insgesamt 35 europäischen und anderen Ländern. Was ist das Ergebnis? Das Ergebnis ist: Es gibt keinen signifikanten Unterschied bei den Spenderaten in den Ländern aufgrund der Widerspruchsregelung oder der Zustimmungslösung. Die Widerspruchsregelung nutzt nichts. ({15}) Unser Gesetzentwurf für eine freie Entscheidung sorgt dafür, dass mehr und aktiver informiert wird. Die Vergütung der Beratung durch Hausärztinnen und Hausärzte ist dafür ein wichtiger Baustein. Etwa ein Viertel der Versicherten wünscht sich eine Beratung durch ihren Arzt oder ihre Ärztin. Diesem Beratungsbedarf müssen wir nachkommen, um die Menschen zu einer selbstbestimmten und freiwilligen Entscheidung zu befähigen und zu ermutigen. ({16}) Ich möchte schließen mit einem ganz ausdrücklichen Dank an alle, die in dieser Gruppe miteinander gearbeitet haben. Es war eine ausgesprochen gute, wertschätzende und lösungsorientierte Zusammenarbeit. Wir bringen den Gesetzentwurf heute gemeinsam ein für mehr Selbstbestimmung und eine höhere Verbindlichkeit. So werden wir das Ziel erreichen, die Organspende in diesem Land zu fördern. Vielen Dank. ({17})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Petra Sitte. ({0})

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Selbstbestimmung über den eigenen Körper ist zentrales Element menschlicher Würde. Ein Satz – das würde jeder sagen –, der an Klarheit kaum zu überbieten ist. Er wird von Annalena Baerbock aus der Pressekonferenz zur erweiterten Entscheidungslösung zitiert oder ihr zugeschrieben. Und doch haben wir im Bundestag bioethische Debatten erlebt, in denen verschiedene Konzepte vertreten wurden, was wohl unter Menschenwürde am Lebensanfang, am Lebensende und nach dem Tod zu verstehen ist, angefangen bei biomedizinischer Forschung über Patientenverfügungen bis zur Sterbehilfe. Und nun stellt sich diese Frage mit der Organspende. Niemand stellt diesen Satz infrage: nicht Menschen, die der Spende ablehnend oder auch aufgeschlossen gegenüberstehen, nicht Menschen, die auf Organe teils seit Jahren warten, nicht Menschen, die mit transplantierten Organen leben, oder auch Menschen, die aufgrund ihres schlechten gesundheitlichen Zustandes von den Wartelisten gestrichen wurden, nicht Angehörige der Wartenden und schließlich auch nicht Transplantationsmediziner. Niemand stellt diesen Satz infrage. Aber bei aller Einigkeit kommen wir bei der Frage, wie mehr Organspenden realisiert werden können, zu verschiedenen Antworten. Mit den unlängst beschlossenen Regelungen – das ist hier schon gesagt worden – haben wir deutlich bessere Konditionen geschaffen. Staat und Organisationen können dadurch ihrer Schutzfunktion besser nachkommen. Das ist unumstritten. Aber nach den Erfahrungen mit der Entscheidungslösung fürchten wir nun, dass dies nicht reichen wird. Daher soll auch die Organspende selbst anders gestaltet werden. Wie können Selbstbestimmung und menschliche Würde gleichermaßen von möglichen Organspendenden wie auch wartenden Erkrankten gelebt werden? Ich finde, dass am Anfang der Entscheidung stehen sollte, sich in die Situation des oder der jeweils anderen hineinzudenken. Jeder oder jede kann schon morgen eines Organs bedürfen. So oder so, wir erwarten Verständnis und Mitgefühl füreinander, nicht nur passiv, sondern wir erwarten es auch aktiv. ({0}) Unter gelebter solidarischer Verantwortung verstehe ich, dass man sich mit der Organspende nicht nur auseinandersetzt, sondern sich auch entscheidet, Klarheit für sich selber schafft und gleichermaßen Angehörige entlastet. Der Mensch ist mit der Widerspruchslösung – das stimmt nicht – kein bloßes Objekt, es wird keine Organabgabepflicht realisiert. Vielmehr kann er sein Mitwirkungsrecht realisieren, er kann Einfluss nehmen. Die Entscheidung selbst ist differenzierbar, sie bleibt differenzierbar und sie kann zurückgenommen werden – jederzeit. Man behält im Leben wie nach dem Tod seinen persönlichen Achtungsanspruch und die Selbstbestimmung. ({1}) Selbst wenn sich eine Patientenverfügung grundsätzlich gegen lebensverlängernde Maßnahmen bei medizinisch aussichtsloser Verletzung oder Krankheit ausspricht, so ist die Organentnahme, Organspende möglich. Maschinen und Apparate werden in diesem Fall ausschließlich der Organentnahme wegen gebraucht. Der vorher festgestellte Hirntod – er muss von zwei Ärzten unabhängig voneinander, die nichts mit dem Spendeverfahren, dem Transplantationsverfahren zu tun haben, festgestellt werden – wäre dann die Voraussetzung. Ohne Apparate und Organversagen würde der Tod des Betreffenden oder der Betreffenden viel zu früh eintreten, zumindest viel zu früh für die Organentnahme. Ich bin ebenso auf das künftige Register für die Organspendeerklärung angesprochen worden. Das trifft auf beide Gesetzentwürfe zu. Man spürt sehr wohl das Misstrauen gegenüber Registern mit personenbezogenen Daten. Das war für uns Anlass, im Gesetz selbst Regelungen zum Zweck der Datenspeicherung, zu Authentifizierungsverfahren beim Zugriff für Erklärende, beim Abrufen durch befugte Ärzte bis hin zur Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik und schließlich auch zur Übergangsphase zu treffen. Das sind Kriterien, die also beide brauchen. Schließlich hat Ulla Schmidt mit ihrer Sorge um nicht einwilligungsfähige Menschen uns veranlasst, deren Schutz ganz klar zu verankern. Augenzwinkernd, liebe Kolleginnen und Kollegen, möchte ich noch sagen: 16-Jährige sind bei Gott nicht nur mit Liebeskummer und künftigen Lebensperspektiven oder Beschäftigungsperspektiven beschäftigt. Wir sehen, es sind Tausende, die wegen Fridays for Future oder gegen die EU-Urheberrechtsreform demonstriert haben. Also, wir sollten ihnen deutlich mehr zumuten bzw. zutrauen. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Als nächster Redner spricht zu uns der Kollege Stephan Pilsinger. ({0})

Stephan Pilsinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004853, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Deutschland gibt es zu wenige Organspenden. Das wollen wir ändern. Wir haben schon viel erreicht. Im April ist ein Gesetz in Kraft getreten, das gezielt organisatorische und finanzielle Hindernisse in den Entnahmekliniken abbaut. Damit haben wir die Abläufe zur Erkennung möglicher Organspender maßgeblich verbessert, Verantwortlichkeiten gestärkt, und wir vergüten die dafür nötigen Strukturen angemessen. Trotzdem fordert Bundesminister Spahn heute gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen die Einführung der doppelten Widerspruchslösung. Ich halte das für falsch – aus fachlichen und ethischen Gründen. Aus fachlichen Gründen, weil es keinen wissenschaftlichen Nachweis dafür gibt, dass eine Widerspruchsregelung die Zahl der Organspenden signifikant steigert. Ihre Maßnahme geht einfach ins Leere. ({0}) Drei Gründe möchte ich exemplarisch anführen: Erstens kam eine 2018 veröffentlichte Untersuchung der Universität Kiel zu dem Schluss, dass vor allem ein Defizit in den Erkennungs- und Meldestrukturen der Entnahmekrankenhäuser für den Rückgang der postmortalen Organspenden in Deutschland verantwortlich ist. Genau hier haben wir schon angesetzt. Zweitens. Vielfach wird Spanien als Vorbild angeführt, wenn es um die Zahl der Organspenden geht. Beim Besuch des Gesundheitsausschusses haben uns die Verantwortlichen jedoch berichtet, dass die höhere Zahl der Organspenden gar nicht mit der geltenden Widerspruchslösung zusammenhängt, sondern mit den mittlerweile stark verbesserten Prozessen und Rahmenbedingungen. Erneut: Hier haben wir bereits schon angesetzt. ({1}) Drittens. Eine von mir in Auftrag gegebene Untersuchung des Wissenschaftlichen Dienstes hat eindeutig gezeigt, dass in keinem Land die Widerspruchsregelung die Organspendezahlen nachweislich erhöht hat. In Schweden beispielsweise stagniert die Zahl gespendeter Organe trotz Einführung der Widerspruchslösung, wohingegen die USA, die auf eine Zustimmungslösung setzen, sehr hohe Organspendezahlen aufweisen. Ich halte die Widerspruchslösung aber auch aus ethischen Gründen für falsch. Sie hebelt die Selbstbestimmung der Bürgerinnen und Bürger über ihren eigenen Körper aus und nötigt im Zweifel die Angehörigen, einen Nachweis über den Widerspruch zu erbringen. Das verstößt klar gegen unsere Werte. ({2}) Stillschweigen darf in einer so wichtigen Frage nicht als Zustimmung gewertet werden. ({3}) Eine Organspende muss immer freiwillig sein. Sie darf nicht zu einer allgemeinen Organabgabepflicht werden. Darauf weist schon der Begriff „Spende“ hin. ({4}) Die Einführung einer Widerspruchslösung birgt die Gefahr, dass Menschen, die sich aus sozialen, intellektuellen oder psychischen Gründen nicht in der Lage sehen, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, gegen ihren Willen als Organspender missbraucht werden. ({5}) Ein solcher staatlicher Zwang zur Organspende weckt Ängste. Er senkt das Vertrauen in die Organspende. Ich bin überzeugt: Das ist der falsche Weg zur Steigerung der Organspendezahlen. ({6}) Aus diesem Grund habe ich gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen einen Kompromiss ausgearbeitet, damit weiterhin verstärkt gilt: Die Organspende nach dem Tod ist eine bewusste, freiwillige Entscheidung. Wir setzen uns dafür ein, diese stets widerrufbare Entscheidung klar zu registrieren. Wir setzen uns dafür ein, verbindliche Informationen und bessere Aufklärung zu gewährleisten. Wir setzen uns dafür ein, die regelmäßige Auseinandersetzung mit dieser Thematik zu fördern. ({7}) Wir steigern die Organspendezahlen in Deutschland langfristig, indem wir Bürgerinnen und Bürger bei der Beantragung, Verlängerung oder persönlichen Abholung der Ausweispapiere verbindlich ansprechen und indem sie von Hausärzten und Hausärztinnen beraten werden. ({8}) Wir steigern die Organspendezahlen, ohne in die Selbstbestimmungsrechte eingreifen zu müssen, ohne ethischen Tabubruch. Das durch unseren Gesetzentwurf geschaffene Onlineregister wird darüber hinaus nicht nur einen sicheren und einfachen Weg zur Dokumentation des eigenen Willens schaffen; es wird darüber hinaus auch in den Entnahmekliniken im Ernstfall Sicherheit geben. Denn die Kliniken können jederzeit auf die hinterlegte Erklärung zur Organ- und Gewebespende zurückgreifen. Daher benötigen wir eine Lösung, die die Freiwilligkeit der Organspende in den Mittelpunkt rückt, und zwar durch wiederholte und direkte Ansprachen sowie verbindliche Aufklärungsangebote, die Menschen ohne Zwang dazu bewegen, ihren Willen zu erklären. Nur so werden wir die Zahlen der Organspende in Deutschland nachhaltig steigern. Ich bitte um Zustimmung für unseren Vorschlag. Ich glaube, das ist ein vernünftiger Kompromiss, mit dem vielen Menschen geholfen werden kann. Vielen Dank. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist der Kollege Paul Viktor Podolay. ({0})

Paul Viktor Podolay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004855, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr verehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Mehr Organspenden zu forcieren, ist der falsche Weg in der Medizin. Ich selbst war im zwölfköpfigen Operationsteam bei der ersten Herztransplantation in Europa. Es war am 9. Juli 1968 an der Uniklinik in Bratislava. Das waren damals die Anfangszeiten der Transplantationsmedizin. Diese Erfahrung hat meine Einstellung zu dieser Art von Operationen sehr stark geprägt. Als Medizintechniker habe ich nämlich jahrelang bei herkömmlichen Herzoperationen an der Herz-Lungen-Maschine mitgewirkt und bin zu der Erkenntnis gekommen, dass wir unsere Gesundheit in die eigenen Hände nehmen sollten. Das Gesundheitswesen hat nämlich mit den vielen Transplantationen eine falsche Richtung eingeschlagen. Unser Körper ist kein Ersatzteillager. Wir Menschen sind keine Autos, die viele Ersatzteile brauchen. Viel wichtiger wäre es, wesentlich mehr auf die Gesundheitsvorsorge zu setzen und hier schon bei der Jugend in den Schulen anzufangen und auch zu investieren. ({0}) Aufklärung und Vorsorge sind viel besser, als ungesund zu leben und dann auf eine Organspende zu hoffen. Somit könnte man die Zahl der Patienten, die ein Organ benötigen, senken. ({1}) Liebe Mitbürger, kümmern Sie sich mehr um Ihre Gesundheit! ({2}) Essen Sie zum Beispiel mehr Grün! Trinken Sie mehr Grün! Chlorophyll ist nämlich grünes Sonnenlicht und eine der wirksamsten lebensspendenden Substanzen auf unserem Planeten. ({3}) Es war ja unsere Urkost. Da liegt das Fundament unserer Gesundheit. Eine Transplantation sollte die absolute Ausnahme sein, zu der selbstverständlich Unfallopfer und angeborene Fehlbildungen zählen. Etwa 10 000 Menschen stehen in Deutschland auf der Warteliste für ein Spenderorgan. Hat sich jemand einmal die Frage gestellt, warum wir immer mehr und mehr Organe benötigen? Für die Ersatzteillager? Nein. Für Kliniken sind nämlich Organspendentransplantationen finanziell sehr attraktiv. Mit jedem Patienten steigt der Umsatz beträchtlich. Jede Klinik bemüht sich darum, so viele Eingriffe wie möglich vornehmen zu können. Nicht immer ist es auch medizinisch indiziert. Die Kosten tragen die Krankenkassen des Empfängers, und die Pharmaunternehmen verdienen an den Medikamenten enorme Summen. Im vergangenen Jahr wurden bundesweit 4 054 Transplantationen durchgeführt. Meine Überzeugung ist deshalb: Wir müssen die Zahl der benötigten Spenderorgane reduzieren und dürfen nicht nach mehr streben. Der Vorstoß von Bundesminister Spahn, die Praxis der Organentnahmen spenderseitig in eine Widerspruchslösung umzukehren, um mehr Organe zu generieren, ist der falsche Weg und führt nicht automatisch zu einer Erhöhung der Zahl. Nach deren Einführung in Dänemark und Frankreich ist die Zahl sogar gesunken. Aus Achtung vor dem Leben des Menschen ist es nicht legitim, ohne explizite Einwilligung des Betreffenden Organe aus seinem Leib zu entnehmen. Zu der Diagnostik sogenannter Hirntoter, welche höchstens Sterbende sind, aber nicht Tote, kann ich mich aus Zeitgründen nicht äußern. ({4}) Es ist aber naiv zu meinen, Tod sei Tod und medizinisch eindeutig. ({5}) Jeder muss persönlich eine Entscheidung für oder gegen eine Organspende treffen. Eine Spende ist immer freiwillig. Eine politische Festlegung per Gesetz aber, welche jeden zum potenziellen Organspender machen würde, ohne dass dieser eingewilligt hätte, wäre eine staatliche Grenzüberschreitung, die der besonderen Würde des Menschen nicht entspricht. Schweigen ist nämlich keine Zustimmung. Eine Spende ist eine höchst private, aber auch ethische Entscheidung, und das soll künftig so bleiben. Doch der Gesundheitsminister will uns Bürger jetzt zum Spenden zwingen. Das sollten wir nicht hinnehmen. Dabei zweifelt er selber an der Mehrheitsfähigkeit seines Gesetzentwurfs und versucht, mit der im Vorfeld der Debatte an alle Abgeordneten geschickten Erklärung diese zu beeinflussen. Die Neuregelung stellt einen Eingriff des Staates in die Freiheit des Einzelnen dar. Die AfD-Fraktion lehnt den Gesetzentwurf des Ministers ab. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächster Redner hat der Kollege Tino Sorge das Wort. ({0})

Tino Sorge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004409, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will jetzt gar nicht auf das eingehen, was Herr Kollege Podolay gerade gesagt hat. Nur so viel: Dass Sie den Menschen, die händeringend auf ein Organ warten, auch noch unterstellen, dass sie an diesem Leid selbst schuld sind, ist an Zynismus nicht zu überbieten. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe erst vor Kurzem die Möglichkeit gehabt, mich erneut mit einer jungen Mutter zu unterhalten, deren kleine Tochter schon länger auf ein Spenderorgan gewartet hatte. Glücklicherweise hat das kleine Mädchen rechtzeitig ein Spenderherz bekommen und konnte überleben. Diese Mutter ist dem Spender zutiefst dankbar. Sie ist auch deshalb zutiefst dankbar, weil er natürlich mit seiner großzügigen Tat noch im Tod ihrer kleinen Tochter das Leben gerettet hat. Genau darum geht es natürlich in dieser Debatte. Es geht darum: Jeder kann Lebensretter sein. Gleichzeitig hat sie mich auch gefragt: Warum dauert das bei euch in der Politik immer so lange? Warum dauert es bei diesen lebenswichtigen Themen so lange, eine Entscheidung zu fällen? Und sie hat recht: Ja, der Handlungsdruck ist hoch. 10 000 Menschen warten jedes Jahr händeringend auf ein Spenderorgan. Jeden Tag sterben drei Menschen, weil kein Spenderorgan gefunden wird oder Spender nicht identifiziert werden. Deshalb ist es gut, dass wir hier über alle Fraktionsgrenzen hinweg dieses Thema mit oberster Priorität behandeln. Egal ob man für die Widerspruchslösung oder die Zustimmungslösung ist: Es geht darum, das Ziel zu verfolgen – und das eint uns alle –, die Zahl der Spender zu erhöhen. ({1}) Gleichzeitig muss man sich auch ehrlich machen. Es ist eben nicht so, wie es hier in der Debatte angesprochen worden ist, dass die Widerspruchslösung, die ich entschieden vertrete, heißt, dass es einen Zwang zur Organspende gibt. Es heißt lediglich, dass man sich mindestens einmal im Leben mit der Frage beschäftigen muss: Möchte ich im Falle meines Todes Organspender sein, oder möchte ich das nicht? ({2}) Es wird kritisiert, Angehörige stünden bei der Widerspruchslösung vor dem Problem, entscheiden zu müssen, was der potenzielle Spender gewollt hat. Das Gegenteil ist der Fall: Der Spender, der sich im Vorfeld mit dem Thema befasst und sagt: „Ja, ich möchte Spender sein“ oder „Nein, ich möchte kein Spender sein“, der nimmt seinen Angehörigen diese Entscheidung gerade ab. Darum geht es in der Debatte. ({3}) Wir haben in unserem Gesetzentwurf für eine Widerspruchslösung festgelegt – deshalb heißt es auch doppelte Widerspruchslösung –, dass ich mich einerseits als Spender entscheiden muss, ob ich Spender sein möchte oder nicht – wenn ich das nicht möchte, muss ich widersprechen –, und andererseits ermöglichen wir nahen Angehörigen für den Fall, dass nicht eindeutig erkennbar ist, was der Spender gewollt hat – wenn es nur die Vermutung gibt, dass er spendewillig ist, wenn nahe Angehörige glaubhaft machen, dass der potenzielle Spender das überhaupt nicht gewollt hat, dass er in den letzten Monaten und Jahren immer wieder davon gesprochen hat, mit all seinen Organen beerdigt zu werden, sei es aus religiösen Gründen, sei es aus sonstigen Gründen –, zu sagen: Nein, Organe werden nicht entnommen. Deshalb kann man nicht von einem Zwang zur Organspende die Rede sein. Es geht lediglich um die Verpflichtung, sich einmal im Leben mit dem Thema zu beschäftigen. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir leben in einem Land, in dem es an so gut wie nichts mangelt. Wir haben ein hoch innovatives Gesundheitssystem. Wir leben in einem Land, in dem wir uns über virtuelle und reale Netzwerke über alle möglichen Gesundheitsfragen eine Meinung bilden können. Wir leben in einem Land, in dem es relativ einfach ist, sich zu informieren. Jeder kann einen Willen bilden und darf diesen frei äußern. Ich glaube schon, dass es den 16-Jährigen und jedem erwachsenen Menschen zuzumuten ist, sich mit diesem Thema einmal im Leben zu beschäftigen und Ja oder Nein zu sagen. ({5}) Wir haben in der Debatte gehört, das sei ein Eingriff in das individuelle Selbstbestimmungsrecht, es gebe mildere Mittel. Aber wir haben in den letzten Jahren gesehen, dass die vermeintlich milderen Mittel nicht funktionieren. Wie sollen die Bürgerämter besser aufklären? Wie sollen die Ärzte in ihrer täglichen Routine über das Thema informieren? Das wird nicht funktionieren. Ich sage denjenigen, die sagen, man könne niemandem zumuten, überhaupt eine Entscheidung zu treffen: Ja, wir können dem Einzelnen zumuten, eine Entscheidung zu treffen. Es ist zutiefst unethisch denjenigen gegenüber, die auf ein Spenderorgan warten, zu sagen: Wir können euch keine Spenderorgane zur Verfügung stellen, weil die Leute sich einfach nicht entscheiden wollen. Das ist zutiefst unethisch. Das wollen wir ändern. Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit der Widerspruchslösung schlagen wir einen Ansatz vor, der Klarheit schafft, Klarheit für jeden einzelnen Bürger. Es ist kein Zwang. Es ist die Verpflichtung, sich zu entscheiden: Ja oder Nein. Wir wollen Klarheit für die Ärzte, damit Ärzte genau wissen, woran sie bei dem jeweiligen Spendewilligen sind. Außerdem schaffen wir Klarheit für die engsten Angehörigen, denen wir nicht die Entscheidung aufbürden, im Todesfall auch noch darüber entscheiden zu müssen, was der potenzielle Spender gewollt hat. Wir wollen mit der Widerspruchslösung die Probleme beheben. Wir wollen dazu beitragen, dass die Organspende gestärkt wird. Deshalb bitte ich um Ihre Unterstützung für den Gesetzentwurf. Vielen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Dietmar Nietan. ({0})

Dietmar Nietan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003199, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe bei dem vorhergehenden Redebeitrag eines nicht verstanden: Warum soll die Widerspruchslösung Eindeutigkeit schaffen? Woher weiß ich denn, dass, wenn jemand keinen Widerspruch eingelegt hat, er oder sie das gemacht hat, weil er oder sie es verbaselt hat oder sich doch nicht mit dem Thema auseinandersetzen wollte, weil er es vergessen hat oder was auch immer? Ich finde, eine Einwilligung ist eindeutig, ein fehlender Widerspruch nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Trotzdem steht es völlig außer Zweifel, dass wir besser werden müssen, dass wir handeln müssen. Wer bei einem Freund oder Familienangehörigen diese unerträgliche Ungewissheit, dieses quälende Hoffen und Bangen miterlebt hat, der spürt, dass wir heute hier eine große Verantwortung haben und dass wir am Ende des Tages zu Entscheidungen kommen müssen, die den betroffenen Menschen helfen. Das steht außer Frage. Es ist auch keine Frage, dass eine Gesellschaft, die die Defizite im Bereich Organtransplantation nur achselzuckend zur Kenntnis nehmen würde, eine unmenschliche Gesellschaft wäre. Wir müssen also schnell und konsequent handeln. Ja, wir brauchen mehr Organspenden. Ganz ehrlich, am Anfang habe ich auch gedacht: Ist die Widerspruchslösung nicht eine gute Lösung? Doch dann hat mich eine Frage immer wieder beschäftigt: Ist die Freiheit, zu widersprechen, in einer offenen Gesellschaft freier Menschen der Freiheit, eigenständig zu entscheiden, gleichzustellen? Ich finde, dass in diesem Zusammenhang die Widerspruchslösung ein gravierender Paradigmenwechsel ist. Der freie Mensch muss aktiv werden und widersprechen, um die ihm bisher garantierte Unversehrtheit des Körpers zurückzuerlangen. Ich habe da ein anderes Menschenbild. In einer Gesellschaft freier, aber gleichzeitig auch dem Gemeinwohl verpflichteter Menschen, bedeutet für mich Freiheit immer die Freiheit, eigenständig eine Entscheidung treffen zu können, ({1}) und zwar in dem Sinne, dass ich mich bewusst für etwas entscheide, mich einer Sache zuwende. Ich will nicht, dass Menschen der Einschränkung ihrer Freiheit widersprechen müssen, weil der vormundschaftliche Staat erst einmal für sie und über sie hinweg entschieden hat. Ich weiß nicht, ob ich überempfindlich bin, wenn ich bei „Widerspruch“ irgendwie auch an „Widersetzen“ oder gar an „Widerstand“ denken muss. Ich finde, das passt in diesem Zusammenhang nicht. ({2}) Allerdings – das will ich auch deutlich sagen – gehören zur Freiheit auch immer Solidarität und die Bereitschaft, dem Gemeinwohl zu dienen. Als Christ sehe ich die Organspende als einen Akt der Nächstenliebe, aber als Christ billige ich jedem anderen Menschen zu, dass er genauso sein unveräußerliches Selbstbestimmungsrecht wahrnimmt und in der Frage der Organspende zu einer völlig anderen Entscheidung kommt als ich. ({3}) – Oder auch manchmal nicht, richtig. – Unter dieser Freiheit, sich zu entscheiden oder sich nicht zu entscheiden, verstehe ich allerdings nicht die Freiheit, zu sagen: Was geht mich das an? Ganz im Gegenteil: Ich finde, die Widerspruchslösung könnte – ich betone, dass das von den Initiatoren nicht beabsichtigt ist – zum Kumpanen von Ignoranz und Gleichgültigkeit werden. Warum? – Warum soll ich mich noch mit all den ethischen Fragen beschäftigen? Das hat doch schon der Staat für mich entschieden. Warum soll ich widersprechen? Das ist mir im Moment nicht wichtig. ({4}) Ich finde, wir müssen zu einem anderen Weg kommen. Wir müssen dazu kommen, dass die wichtigen Fragen immer wieder in den Mittelpunkt der Gesellschaft gestellt werden. ({5}) Es sind Fragen, die wir nur dann aus der Ecke von Tabu, Scham und manchmal leider auch Gleichgültigkeit herausholen, wenn sie immer wieder auf die Tagesordnung kommen. Einmal sich mit 16 zu einem Widerspruch zu entscheiden, ist nicht das, was wir brauchen, sondern wir brauchen eine permanente Auseinandersetzung mit diesen Fragen. ({6}) Deshalb bin ich der festen Überzeugung: Statt Stillschweigen als eine Art Freigabe der eigenen Organe zu bewerten und damit die bewusste menschliche Geste einer freiwilligen Spende der eigenen Organe zu einer staatlich verordneten Organentnahme zu entwerten, sollten wir den vermeintlich mühsameren, längeren oder auch unsichereren Weg einer verbesserten Entscheidungslösung gehen, indem wir immer wieder neu verbindliche Informationen und bessere Aufklärung gewährleisten, indem wir immer wieder regelmäßige Auseinandersetzungen mit dem Thema Organspende fördern und indem wir immer wieder ermutigen, sich dem Leid anderer zuzuwenden. Eine Möglichkeit zur stets widerrufbaren positiven Entscheidung zu schaffen, die positive Entscheidung für eine Organspende in Krankenhäusern stets verfügbar zu halten und ein transparentes Organspenderegister mit einem gesicherten Zugang zu meinen persönlichen Daten zu schaffen: ({7}) Ich finde, das ist ein gangbarer Weg zu einer menschlichen Gesellschaft, der uns davor bewahrt, in unserem Bemühen, das Gute tun zu wollen, der Bevormundung den Weg zu bahnen. Herzlichen Dank. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Das Wort hat jetzt der Kollege Jens Spahn. ({0})

Jens Spahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003638, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Nietan, ich habe vor sieben Jahren in etwa die gleiche Rede hier gehalten. Ich habe gesagt: Wir müssen mehr informieren, mehr aufklären. – Ich weiß noch, wie wir damals die Pressekonferenz gegeben haben, als wir das Recht geändert haben. Wir haben es gefeiert, dass die Krankenkassen alle zwei Jahre Informationen verschicken und wir Aufklärungskampagnen machen, und wir haben wahrlich viele gemacht. – Wir sind den Weg gegangen, den Sie gerade beschrieben haben. Und wir müssen feststellen: Der Weg hat zu einem Tiefstand bei der Organspende geführt; ({0}) viele Menschen auf der Warteliste haben umsonst gewartet. Der Weg hat bis hierhin nichts gebracht. Das ist jedenfalls der Befund an dieser Stelle. ({1}) Wenn man zu dem Befund kommt – so war es zumindest bei mir persönlich –, dass ein Weg, den man nach einer Abwägungsentscheidung eingeschlagen hat – das war ja eine Abwägungsfrage, wie Sie es beschrieben haben; das ist kein schwarz/weiß, kein eins/null, kein falsch/richtig; das ist ein Abwägen von Argumenten –, keinen Unterschied macht für die Patientinnen und Patienten auf der Warteliste und hinsichtlich der Frage, wie es mit der Organspende in Deutschland ausschaut, dann stellt sich die Frage, ob wir einen weiteren Schritt gehen, um einen Unterschied zu machen. ({2}) Ich muss Ihnen sagen, dass der vorliegende Gesetzentwurf zur Entscheidungslösung faktisch nichts ändert. ({3}) Es wird eine Broschüre mehr ausgegeben auf dem Bürgeramt – das steht übrigens heute schon im Gesetz drin –, und der Arzt kann zusätzlich was abrechnen. Das ist beides okay, ich habe nichts dagegen; aber es ändert faktisch nichts im Verhältnis zur heutigen Rechtslage. ({4}) Das ist eine Frage der Verbindlichkeit. Ich weiß noch: Als die Debatte begonnen hat, hat die Kollegin Baerbock öffentlich immer davon gesprochen, es bräuchte eine verbindliche Entscheidung, man solle „ja“, „nein“, oder zumindest „will jetzt nicht“ sagen, aber sich verbindlich entscheiden. Von dieser Verbindlichkeit ist in diesem Gesetzentwurf nichts mehr übrig geblieben. ({5}) Das Einzige, was geblieben ist, ist die Herausgabe von Informationen. Das ist mir an dieser Stelle einfach zu wenig angesichts der Lage, vor der wir stehen. Die Wahrscheinlichkeit, selbst Empfänger einer Organspende zu werden – auch darüber muss man mal nachdenken –, sie zu brauchen, weil man entsprechend erkrankt ist, ist höher als die Wahrscheinlichkeit, selbst als potenzieller Organspender mit Spenderausweis Organspender zu werden. Die Wahrscheinlichkeit, Empfänger zu werden, ist höher als die, Spender zu werden – selbst wenn man Ja gesagt hat. Und die Freiheit desjenigen, der krank ist – die Frau Kollegin Sitte hat darauf hingewiesen –, der dreimal in der Woche zur Dialyse muss, der ein Herz oder eine Lunge braucht, ist ohne Zweifel deutlich mehr eingeschränkt, als die Freiheit eingeschränkt wäre, wenn wir dazu verpflichten, sich zu entscheiden. ({6}) Das ist die Abwägung, um die es geht. Weil jeder von uns im Krankheitsfall potenzieller Organempfänger ist – wir sind alle potenzielle Organempfänger –, ist die Frage, ob das nicht rechtfertigt, grundsätzlich potenzieller Organspender zu sein, es sei denn, man widerspricht ausdrücklich. Das ist der Gedankengang, der dahintersteht. ({7}) Dabei ist es wichtig, dass wir sagen: Ja, wir gehen von einer grundsätzlichen Bereitschaft aus, außer man widerspricht ausdrücklich. Bei Inkrafttreten des Gesetzes werden innerhalb von sechs Monaten alle dreimal angeschrieben und auf die Rechtsfolge hingewiesen. Das gibt es selten bei einer Gesetzesänderung. Und ja, auch jeder 16-Jährige wird angeschrieben. Wenn Sie sagen, wir sollten denen noch mal etwas schicken, wenn sie 18 oder 20 sind, dann sage ich: Ich habe überhaupt kein Problem damit, öfter Informationen zu verschicken. Parallel dazu verbreiten wir – das sieht der Gesetzentwurf vor; das sehen aber auch heute schon die Haushaltsmittel des Gesundheitsministeriums vor – natürlich weiterhin Informationen. Es wird nicht nur das Schreiben geben. Es wird natürlich weiterhin Informationskampagnen und Aufklärung geben. Zur doppelten Widerspruchslösung. Frau Kollegin Mattheis, Sie haben gerade gesagt, es würden die Angehörigen gar nicht mehr involviert. ({8}) – Doch, das haben Sie gesagt. ({9}) – Bei dem 18-jährigen Motorradfahrer werden trotzdem die Eltern gefragt, ({10}) ob es einen mutmaßlichen Willen des Verstorbenen gibt, der dagegen spricht. ({11}) Das ist die Frage. Aber sie werden gefragt. Sie haben vorhin einen anderen Eindruck erweckt. ({12}) Ich will nur sagen: Ich finde, das ist in der Kaskade – wie die Informationen gegeben werden und wie die Entscheidungsfindung stattfindet – so angelegt, dass man das gut verantworten kann, und darum geht es ja. Es geht um die Frage, ob das eine Lösung ist, die im Gesamtkontext verantwortbar ist. Und ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch die Widerspruchslösung ist keine Wunderwaffe. Sie wird nicht alle Probleme, die wir hinsichtlich Organspende und Warteliste haben, lösen; aber das ist eine Entscheidung, die im Vergleich zu dem, was wir heute haben, einen qualitativen Unterschied ausmacht. Und ja, es gibt ein Selbstbestimmungsrecht. Der qualitative Unterschied besteht darin, dass wir in der Abwägung aller Interessen zu dem Ergebnis kommen, dass man die Pflicht hat, von diesem Selbstbestimmungsrecht Gebrauch zu machen – weil man es den Patientinnen und Patienten schuldig ist. Das ist der entscheidende Unterschied in der Einschätzung, in der Abwägung aller Argumente. Ich finde, angesichts der Lage, angesichts der Debatten der letzten Jahre, angesichts dessen, was wir nicht erreicht haben, und angesichts dessen, was wir erreichen müssen, ist genau diese Verpflichtung, sich entscheiden zu müssen, am Ende auch in einer freien Gesellschaft zumutbar. ({13})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Otto Fricke.

Otto Fricke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003530, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Geschätzter Herr Vizepräsident! ({0}) Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ja, Kollege Spahn, es ist so: Politik ist das ständige Bohren von dicken Brettern. Es geht darum, sich immer wieder an die Bürger zu wenden und zu sagen: Wir bitten euch, da etwas zu tun. – Wir als Staat gehen zum Bürger und sagen: Wir brauchen deine Mitarbeit. – Das ist anstrengend; das ist viel. Herr Kollege Spahn, weil sich bei der Organspende so wenig geändert hat, hat, ich glaube, fast das ganze Haus Ihrem Entwurf zur Änderung des Transplantationsgesetzes ausdrücklich zugestimmt, ({1}) weil sich am Verfahren etwas ändern musste. Und für dieses Vorgehen verdienen Sie Lob. Es ist richtig, bei der Frage des Verfahrens anzusetzen. Anders ist es bei der zweiten Frage. Bei der Frage „Wie sorge ich für mehr Spendenbereite, durch das Widerspruchsverfahren oder durch unser Verfahren?“ – darum geht es – gehen die Meinungen auseinander. Dazu möchte ich eines sagen, auch an die Adresse derer, die jetzt zuhören und zuschauen: Unser Leben ist endlich; aber wir wollen das nicht wahrhaben. Wir wollen uns nicht mit Themen wie Testament, Patientenverfügung oder Organspende auseinandersetzen. ({2}) Wir wollen nicht mit unseren Kindern darüber sprechen – ich habe das persönlich gemerkt; das war einer der größten Widerstände in der letzten Zeit –: Wie ist das eigentlich bei dir? Wenn du, meine 14-jährige Tochter, wenn du, mein 18-jähriger Sohn, sterben solltest, wie soll ich mich dann verhalten? – Aber ich glaube, es ist unsere Aufgabe als Politik, dem Bürger immer wieder klarzumachen, dass er sich mit dieser Frage auseinandersetzen muss, weil er ein eigenverantwortliches Wesen ist und weil er die Verantwortung für sich und seine Mitbürger hat. Dabei kommt es darauf an, dass man am Ende – in der doppelten Bedeutung des Wortes – Gutes tun will. Jetzt kommt die Frage, die man sich, Kollege Spahn, stellen muss: Will ich, dass dieses „Gutes tun“ etwas ist, was in der Grundentscheidung der Staat vorgegeben hat – mit der Möglichkeit, wie Sie es beschrieben haben, rauszugehen –, oder will ich, dass dieses „Gutes tun“ aus dem Menschen selbst kommt, aus dem Individuum, das sagt: „Ich muss mich mit der Frage auseinandersetzen“? Ich kann dann sagen: Ich habe noch keine Lösung. Ich kann Ja oder Nein sagen. Aber muss es nicht so sein, dass der Mensch selbst sagt: „Ja, ich will es; es ist mein Wille, es ist meine Freiheit“, übrigens zur Verantwortung für andere? Das ist der wesentliche Unterschied, um den es geht. Diese Frage muss sich jeder Bürger stellen, aber auch jeder Abgeordnete, wenn er über diese Gesetzentwürfe abstimmt. ({3}) Meine Damen und Herren, ich will das herleiten, und zwar aus unserer Verfassung. Geht unsere Verfassung davon aus, dass es den Staat gibt, der den Bürgern Rechte zuweist, der sagt: „Du hast diese Pflicht, weil du dem helfen musst, weil du das tun musst“, oder ist es nicht vielmehr so, dass unsere Verfassung mit den Grundrechten am Anfang sagt: „Die Rechte kommen von den Bürgern, und der Bürger entscheidet, was er dem Staat gibt, um ein funktionierendes Gemeinwesen mit verantwortlichen Menschen zu haben, die in diesem leben“, Kollege Nietan? Es ist das Letztere, für das sich die Mütter und Väter der Verfassung entschieden haben. Sie haben sich entschieden, zu sagen: Die Rechte kommen vom Bürger. Das sind Abwehrrechte. Der Bürger ist derjenige, der die Rechte hat, und der Staat muss eine Begründung finden, warum er in diese eingreift. All diese Grundsätze werden in der Widerspruchslösung, so schön Sie sie aufbauen, an dieser Stelle nicht eingehalten. ({4}) Meine Damen und Herren, ich will noch zwei Dinge anmerken. Mir geht es nicht darum, ob es jetzt gegen Herrn Spahn, gegen den Gesundheitsminister, gerichtet ist. Ich glaube, darum geht es bei beiden Gesetzentwürfen nicht. Es geht bei beiden Gesetzentwürfen darum, möglichst die beste Lösung zu finden. Ich glaube, dass wir eine Lösung finden müssen, die stetig von den Bürgern, von uns allen verlangt, dass wir uns selber in die Pflicht nehmen, dass wir uns selber in die Verantwortung nehmen. Zum Schluss. Der Entwurf zur doppelten Widerspruchslösung verkennt nach meiner Meinung, dass unsere Gesellschaft – bei allen Makeln, bei allen Fehlern – nicht so weit gekommen ist, weil der Staat die richtigen Entscheidungen für seine Bürger getroffen hat, sondern weil die Bürger am Ende immer wieder die richtigen Entscheidungen für ihre Mitbürger und damit für den Staat getroffen haben. Herzlichen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Fricke. – Da Sie immer so viel Wert auf Förmlichkeiten legen, darf ich Sie darauf hinweisen, dass diejenigen, die hier oben sitzen, während ihrer Sitzungsleitung die amtierenden Präsidenten sind. Herr Kollege Oppermann, mein Kollege Vizepräsident, ({0}) Sie haben das Wort.

Thomas Oppermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kollegen und Kolleginnen! Wenn in unserem Land 10 000 Menschen, die auf ein Spenderorgan warten, in großer Not sind, schwer krank sind – manche von ihnen bereits in Lebensgefahr – und nur wenig Hoffnung haben können, weil es viel zu wenig Spenderorgane gibt, dann ist das nicht nur gesundheitspolitisch, sondern auch moralisch ein schwer erträglicher Zustand in unserer Gesellschaft. Darüber sind wir uns in diesem Haus einig. Deshalb liegen hier zwei Gesetzentwürfe vor, die beide auf eine Verbesserung der Situation abzielen. Kürzlich hat die Ärztekammer vorgeschlagen, um einen Anreiz zu schaffen, den Empfang eines Spenderorgans von der eigenen Spendebereitschaft abhängig zu machen nach dem Motto: Wer bereit ist, zu geben, der soll bevorzugt empfangen. – Dieser Vorschlag geht in die völlig falsche Richtung. ({0}) Die Organspende ist kein Handel im Sinne von Leistung und Gegenleistung, die Organspende ist keine geschäftliche Beziehung. Die Organspende muss ein persönlicher Akt der Nächstenliebe und der Solidarität bleiben. Wenn wir als Gesetzgeber in der Verantwortung sind, dann müssen wir Regelungen schaffen, die diese Solidarität auch effektiv ermöglichen. Deshalb bin ich für die erweiterte Widerspruchsregelung. Die Widerspruchsregelung, die übrigens überall in Europa gut funktioniert – und wir bekommen viele Spenderorgane aus Ländern mit Widerspruchsregelung –, wird durch diesen Gesetzentwurf zum gesetzlichen Regelfall. Die Organspende wird damit nicht mehr die Ausnahme, sondern die gesellschaftliche Normalität. Ich bin überzeugt, dass dieser gesetzliche Paradigmenwechsel auch zu einem Mentalitätswechsel in unserer Gesellschaft führt. Alle über 16-Jährigen sind potenzielle Organspender, ({1}) es sei denn, sie lehnen ab. Und für die Ablehnung ist weder eine Begründung noch eine Rechtfertigung nötig. Und natürlich muss jede Ablehnung auch respektiert werden – als eine Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes. Und selbstverständlich dürfen weder direkte noch indirekte Nachteile daraus erwachsen. ({2}) Die einzige Frage, die sich stellt, ist die, ob eine solche Mitwirkungspflicht bei der Ausübung der Selbstbestimmung zumutbar ist. Natürlich kann niemand bestreiten, dass von der Widerspruchsregelung ein Druck ausgeht; aber es ist ein sanfter Druck. Wenn ich kein Organspender sein will, muss ich aktiv werden. Dafür reicht es aus, wenn ich das Organ- und Gewebespenderegister anwähle und das Nein anklicke; nichts ist einfacher oder unbürokratischer. Es gibt keine Pflicht zur Organspende, es gibt keine Pflicht zur Solidarität – nur den sanften Druck, sich einmal im Leben mit dem Thema Organspende zu befassen und eine Entscheidung zu treffen. Deshalb, meine Damen und Herren, ist die Widerspruchsregelung die eigentliche Entscheidungsregelung. ({3}) Eine Entscheidungsregelung, bei der es nicht einmal den sanften Druck gibt, sondern die nur auf die wiederholte Ansprache und die Bitte um Solidarität setzt, ist am Ende nichts anderes als unsere bereits existierende Zustimmungsregelung – mit einem erhöhten Appellativ­charakter. ({4}) Das wird aber an den Zuständen wenig ändern. ({5}) Bei der Widerspruchsregelung muss abgewogen werden: das Recht auf Schweigen, das Recht, in Ruhe gelassen zu werden, auf der einen Seite; das Recht auf Leben, die Bitte um lebensrettende Hilfe auf der anderen Seite. Für mich persönlich hat das Letztere den höheren Wert. Diese Bewertung entspricht auch dem Menschenbild des Grundgesetzes, bei dem nicht das nur auf sich selbst bezogene egoistische Individuum im Mittelpunkt steht, sondern, wie es das Bundesverfassungsgericht formuliert hat, der Mensch als gemeinschaftsbezogener und gemeinschaftsgebundener Bürger. ({6}) Denken Sie bitte über diesen gemeinschaftsbezogenen Bürger oder diese gemeinschaftsgebundene Bürgerin nach. Ich glaube, dass die Widerspruchsregelung vielen Menschen helfen kann, und bitte deshalb um Unterstützung für diesen Gesetzentwurf. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Oppermann. – Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Niema Movassat. ({0})

Niema Movassat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004114, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Alle hier wollen die Zahl der Organspender erhöhen. Wir streiten um die ethisch vertretbare sowie rechtlich zulässige Lösung. Die Widerspruchslösung will weg vom Spendenprinzip bei Organen – der bewussten und freiwilligen Entscheidung – hin zu einer Organentnahme, der man nur durch Widerspruch entgehen kann. Ich halte das für verfassungswidrig. ({0}) Die Widerspruchslösung verletzt die Menschenwürde, das Selbstbestimmungsrecht und das Recht auf Leben. Die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes setzt voraus, dass es einem legitimen Zweck dient, zur Zweckerreichung geeignet ist, das mildeste Mittel darstellt und verhältnismäßig ist. Gehen wir das für die Widerspruchslösung mal durch: Ja, es ist ein legitimer Zweck, für mehr Organspenden zu sorgen. Aber zweifelhaft ist schon, ob die Widerspruchslösung auch geeignet ist. Wahr ist, dass 84 Prozent der Menschen hierzulande einer Organspende eher positiv gegenüberstehen, aber nur 36 Prozent einen Organspendeausweis haben. Es wäre aber zu einfach, zu sagen, dass, wer keinen Organspendeausweis hat, zu faul ist, sich darum zu kümmern. Denn es ist ein Unterschied, einer Organspende abstrakt positiv gegenüberzustehen oder sich konkret dafür zu entscheiden. Die Unsicherheit vieler Menschen rührt auch aus zu wenig Beratung und den Organspendeskandalen. ({1}) Die Widerspruchslösung ignoriert das. Sie zwingt allen etwas auf, statt zu erklären. Die Widerspruchslösung ist antiaufklärerisch und schadet dem Vertrauen in die Organspende. ({2}) Die Erfahrung in Spanien zeigt, dass die Widerspruchslösung nicht zu mehr Organspenden führt. Sie wurde dort 1979 eingeführt. Die Spenderzahlen gingen erst viele Jahre später hoch, als die Abläufe in den Krankenhäusern und in der Beratung verbessert wurden. Das ist der richtige Ansatz. Auch deshalb brauchen wir mehr Personal in den Krankenhäusern. ({3}) Auch ist die Widerspruchslösung nicht das mildeste Mittel. Im Gesetzentwurf zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft schlagen wir mildere Mittel vor: Erstens sorgen wir für bessere Information, indem etwa beim Beantragen des Ausweises auch Informationsmaterial zur Organspende mitgegeben wird und Hausärzte alle zwei Jahre – alle zwei Jahre! – über die Organspende informieren. Zweitens schaffen wir die Möglichkeit, dass Menschen ihre Entscheidung für eine Organspende selbst online treffen und jederzeit ändern können. ({4}) Unsere Vorschläge setzen auf Selbstbestimmung und Aufklärung. Die Widerspruchslösung hingegen ist nicht verhältnismäßig. ({5}) Zum Recht auf Leben gehört auch, über den Sterbeprozess zu entscheiden. Bei einer Organentnahme wird immer in den Sterbeprozess eingegriffen; denn die Maschinen in der Intensivmedizin müssen weiterlaufen, um die Organe entnehmen zu können. Dieser Eingriff setzt eine Einwilligung voraus. ({6}) Um den Hirntod überhaupt feststellen zu können, werden testweise Schmerzen zugefügt. Sollte jemand noch nicht hirntot sein, stellt das einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit dar; auch das braucht Zustimmung. ({7}) Es gibt keinen Rechtsgrundsatz, nach dem Schweigen Zustimmung ist. Schweigen heißt im Regelfall Nein. Wo im Recht Schweigen mal ausnahmsweise Ja heißt – wie etwa teils im Wirtschaftsrecht –, geht es nicht um ein so bedeutendes Grundrecht wie das Recht auf Leben, geht es nicht um so grundlegende ethische Fragen. Hinzu kommt, dass der Gesetzentwurf für eine Widerspruchslösung die Informationspflichten der Krankenkassen massiv reduziert. Außerdem sieht er vor, dass man mit dem 16. Lebensjahr dreimal über die Widerspruchsmöglichkeit informiert wird; danach gibt es während der gesamten Lebensspanne keine verbindliche Information mehr. Damit folgt der Gesetzentwurf zur Widerspruchslösung dem Motto: möglichst nicht über den Hirntod und die Organspende aufklären und die Hürden für einen Widerspruch möglichst hoch hängen, sodass möglichst viele nichts mitbekommen und ihren Widerspruch nicht erklären. Das ist unvereinbar mit der Menschenwürdegarantie. ({8}) Die Menschenwürde beinhaltet auch das Selbstbestimmungsrecht und dass der Staat einen Menschen nicht zum Objekt machen darf. Wer Schweigen als Ja interpretiert und auf möglichst wenige Informationen setzt, der will bewusst Selbstbestimmung umgehen. Damit macht der Vorschlag zur Widerspruchslösung, der hier vorliegt, Menschen zum Objekt, und das ist nicht zustimmungsfähig. ({9}) Ich werbe daher dafür, die Widerspruchslösung abzulehnen und für eine Verbesserung der Entscheidungslösung zu stimmen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sage: Abseits dieser Gesetzesvorschläge müssen wir beachten, dass die Bereitschaft für eine Organspende Vertrauen voraussetzt. Die massiv zunehmende Kommerzialisierung und Privatisierung im Gesundheitssystem führen dazu, dass Menschen Vertrauen verlieren. Deshalb müssen wir der Profitlogik im Gesundheitssektor entgegentreten, um wieder Vertrauen zu gewinnen – auch für die Organspende. Danke schön. ({10})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Dr. Claudia Schmidtke für die Widerspruchslösung. ({0})

Prof. Dr. Claudia Schmidtke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004879, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Genau; herzlichen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor uns liegen zwei Gesetzentwürfe, deren Unterstützer jeweils erklären, dass sie eine Verbesserung der inakzeptablen Organspendesituation in Deutschland erreichen wollen. Ihre Aufgabe als Abgeordnete ist eine vorurteilsfreie Bewertung der Entwürfe. Dabei machen Sie es sich nicht leicht, und das dürfen Sie auch nicht; denn es stehen Schicksale dahinter, für die spätestens seit der heutigen Debatte Sie die Verantwortung tragen. Es geht nicht um persönliche Befindlichkeiten, sondern um Patienten, deren Leben bedroht ist. Wenn Sie tatsächlich die Situation der Patientinnen und Patienten sowie ihrer Familien und Freunde, zu denen jeder und jede von uns von jetzt auf gleich gehören kann, als Grundlage für Ihre Entscheidung nehmen, dann können Sie nur zu einem Entschluss kommen: Ein Entwurf hilft ihnen, und einer tut es nicht. Die Regelung der Kollegen um Frau Baerbock ist eine Aufschiebelösung. Sie versucht gar nicht erst, einen anderen Anschein zu erwecken. Sie versucht vielmehr, mit zwei vermeintlich empirischen Argumenten, die wir auch schon gehört haben, zu begründen, warum wir so weitermachen können wie bisher. ({0}) Zitiert werden häufig eine Studie der Universität in Kiel und die gelebte Praxis in Spanien. Frau Baerbock, Sie haben gesagt, wir sollen und wollen ehrlich sein. Das müssen wir auch sein. Wir haben hier einige falsche Fakten gehört, insbesondere beispielsweise, dass die Zahlen nicht steigen, wenn man die Widerspruchsregelung einführt. Wenn Sie sich die heutige Pressemitteilung der Deutschen Transplantationsgesellschaft angucken, dann sehen Sie, dass da ganz klar drinsteht, dass bei Gesamtbetrachtung der Länder die Zahlen um 30 Prozent höher sind, wenn es die Widerspruchsregelung gibt; es gibt dann also 30 Prozent mehr Spender. ({1}) Wer sich die vielzitierte Kieler Studie, die einen Zuwachs an Organspenden allein den organisatorischen Abläufen zurechnet, genauer anschaut, erkennt bald ihre erheblichen methodischen Mängel. Man kann aus ihr eben nicht ableiten, dass allein die Infrastruktur verantwortlich ist. Ich empfehle Ihnen stattdessen die Lektüre einer aktuellen Publikation, und zwar der Arbeit der doctores Brauer und Günther aus Jena aus diesem Jahr. Bezüglich unseres großen Vorbilds Spanien, wo sehr viel mehr Menschen durch Transplantationen gerettet werden, wird fachlich behauptet, dass dort zwar de facto eine Widerspruchsregelung gilt – das haben wir gerade auch wieder gehört –, sie aber überhaupt nicht gelebt werden würde. Was dabei stets ignoriert wird, ist, dass der Systemwechsel das Entscheidende ist. Ohne diesen Paradigmenwechsel hätte es nicht eine Organspende mehr gegeben; ({2}) denn es geht nicht nur um die gesetzliche Neuordnung; es geht auch um die gesamte kulturelle Ausrichtung, die dahintersteht. Nicht nur Spanien hat die Entscheidung für einen Systemwechsel bei der Organspende längst klug getroffen. Es sind nicht 20, sondern mittlerweile 22 von 28 EU-Mitgliedstaaten, die die Widerspruchsregelung implementiert haben. Zuletzt ist Schottland vor zwei Wochen dazugekommen. Im Eurotransplant-Verbund sind wir acht Länder. Davon haben sieben die Widerspruchsregelung. Nun raten Sie mal, welches Land sie nicht hat! Von ihnen allen importieren wir Organe. Deutschland überlebt durch die Widerspruchsregelung der anderen Länder. Solidarität sieht anders aus. ({3}) Wir konnten uns seit Jahrzehnten nicht zu so einem Schritt durchringen. Dass sich diese Länder nicht für eine Aufschieberegelung entschieden haben, sollte ihre Befürworter zum Nachdenken anregen. Wer tatsächlich davon ausgeht, dass die Abfrage der Organspendebereitschaft in einem Bürgerarmt neben der Yucca-Palme mit einer Wartenummer in der Hand und der Möglichkeit, „ja“, „nein“ oder sogar auch „weiß nicht“ anzukreuzen, zu einer Erhöhung der Zahlen führt, der muss wirklich über eine äußerst große Fantasie verfügen. Wer wirklich denkt, dass die möglichen Spender zwischen dem Antrags- und dem Abholtermin mit einem Flyer in der Hand einen Termin bei ihrem Hausarzt machen, dessen Vorstellung von der arbeitenden Bevölkerung hat mit der Wirklichkeit wenig zu tun – von den zeitlichen Möglichkeiten unserer Hausärzte mal ganz zu schweigen. ({4}) Zu allem Übel wäre frühestens nach zehn Jahren eine Abfrage der Bevölkerung nahezu erreicht. Zehn Jahre, in denen alle Befragten weiterhin mit „Ich weiß nicht“ antworten könnten! Liebe Kollegen, denjenigen von Ihnen, die es tatsächlich als unzumutbar empfinden, den Menschen eine Entscheidung über den Verbleib ihrer eigenen Organe nach dem Tod abzuverlangen, muss ich unterstellen, dass sie den Ernst der Lage nicht verstanden haben. ({5}) Die Patienten – derzeit stehen 10 000 auf der Warteliste, und täglich sterben 3 von ihnen – halten von einer solchen Lösung nichts. Ich bitte Sie herzlich, persönlich mit ihnen zu sprechen. Leider haben Sie, Frau Baerbock, entsprechende Anfragen bisher abgelehnt. ({6}) Liebe Frau Kappert-Gonther, die Patienten sind sehr wohl im Fokus meines Tuns. Lernen Sie zum Beispiel Herrn Korosec kennen; dort oben auf der Tribüne sitzt er. Nach jahrelanger Dialyse kämpft sein Körper mit erheblichen Folgeschäden. An einen normalen Alltag oder daran, eine Nacht durchzuschlafen, ist für ihn nicht zu denken. Oder denken Sie an den kleinen Oskar, der mit seinen vier Jahren langsam versteht, dass sein Leben ohne Schwimmbad und Urlaub anders verläuft als das anderer Kinder. Er fragte tatsächlich jüngst seine Mutter – und ich zitiere –: Mama, warum kann der liebe Gott mir nicht einfach ein neues Nierchen schenken, damit ich nicht mehr an die Dialyse muss? ({7}) Ich bitte Sie wirklich: Sprechen Sie mit den Betroffenen! Bis zur zweiten Lesung ist genug Zeit. Melden Sie sich gerne, kontaktieren Sie mein Büro! Wir vermitteln gerne. ({8}) Meine Damen und Herren, es bleibt dabei: Die Aufschieberegelung wäre ein weiteres Beispiel für zaghafte Unentschlossenheit, für ein Zaudern, das diesem Hohen Hause, insbesondere in diesen Zeiten, schlecht zu Gesicht stünde. ({9}) Die Menschen erwarten von uns nicht Zögern, sondern Handeln, und zu diesem Handeln gehört nur ein einziger Zwang: sich zu entscheiden. ({10})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Damit sind wir am Ende der Debatte; das war die erste Lesung. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/11096, 19/11087 und 19/11124 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das kann ich nicht erkennen. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Oliver Luksic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004102, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir können heute nicht nur feststellen, dass durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs in Sachen Messstellen weitere Fahrverbote drohen und Minister Scheuer in Sachen Fahrverbote eine dünne Bilanz hat. Auch in Sachen Pkw-Maut hat das Urteil des Europäischen Gerichtshofs ein klares Stoppzeichen gesetzt. Der Fairness halber sei gesagt: Er hat diese Probleme auch ein Stück weit geerbt. Es war schon Verkehrsminister Ramsauer, der das in der 17. Wahlperiode unbedingt umsetzen wollte. ({0}) Die FDP hat das damals verhindert. Herr Dobrindt, der gerade hereinkommt, und Herr Seehofer haben das gegen die Bedenken von Frau Merkel, ({1}) gegen die Bedenken der SPD in den Koalitionsvertrag reingeschrieben. Hätte die SPD ihre Bedenken so aufrechterhalten wie damals die FDP, hätten Sie sich viel Ärger und auch viele Kosten erspart. ({2}) – Herr Ramsauer, Sie haben das damals vorgeschlagen, auch wenn Sie jetzt etwas anderes sagen. Es ist ja nachzulesen. Herr Scheuer war damals der Staatssekretär. ({3}) Die Verteidigungslinie ist ja klar erkennbar: Alle anderen sind schuld, außer der CSU. Aber der springende Punkt ist: Dieses Projekt wurde mit politischer Gewalt durchgesetzt. Niemand wollte es. Es ist ein sehr teures Projekt. Wir werden und müssen jetzt über die Kosten, die durch diese Fehlentscheidung entstehen, diskutieren. Da müssen wir als Erstes feststellen, dass Minister Scheuer diese Entscheidung selber zu verantworten hat; denn er hat im Jahr 2018 – darum ging es ja heute auch im Ausschuss – die Entscheidung getroffen, Kapsch und Eventim den Auftrag zu geben. Er hat im Dezember den Vertrag unterschrieben, obwohl er davor gewarnt wurde. Er wurde davor ausdrücklich gewarnt. Ich verstehe ja noch, dass Sie nicht auf Ihren Koalitionspartner hören. Herr Bartol hat in einem Zeitungsartikel klar davor gewarnt, den Auftrag zu vergeben, bevor der Europäische Gerichtshof entschieden hat. Aber es waren nicht nur die SPD-Bundestagsfraktion und die FDP, die in den Haushaltsberatungen immer wieder vor diesem Risiko gewarnt haben. Es waren auch Sie, Herr Dobrindt – das ist in der „Süddeutschen Zeitung“ nachzulesen –, der klar gesagt hat, man müsse aus Respekt vor dem Europäischen Gerichtshof die Entscheidung aus Brüssel, aller Instanzen, abwarten. Hätten Sie sich an das gehalten, was Ihr eigener Vorgänger gesagt hat, hätten Sie sich sehr viel Ärger erspart, Herr Scheuer. ({4}) In der Vorbereitung der heutigen Sitzung habe ich noch mal nachgelesen, ({5}) was der Wissenschaftliche Dienst zweimal aufgeschrieben hat. Zweimal wurde klar aufgeschrieben: Das ist eine Ausländermaut, ein Projekt aus dem bayerischen Bierzelt. – Sie haben ja selber die Begründung geliefert für den Europäischen Gerichtshof, weil Sie gesagt haben: Nur die Ausländer sollen zahlen. – Da weiß jeder: Das kann nicht gehen. Der Wissenschaftliche Dienst hat zweimal klar aufgeschrieben: Das geht so nicht. – Was war Ihre Reaktion? Es wäre ja noch verständlich, wenn Sie gesagt hätten, Sie sehen das anders. Aber lesen Sie mal nach: Sie haben damals – das ist ein absolutes Unding – gefordert, den zuständigen Mitarbeiter der Bundestagsverwaltung aus dem Dienst zu entlassen. ({6}) Ich frage Sie: Stehen Sie weiterhin zu der Forderung, diesen Mitarbeiter zu entlassen? Haben Sie sich damals geirrt? Entschuldigen Sie sich bei diesem Mitarbeiter, und legen Sie die Maßstäbe, die Sie bei anderen anlegen, auch bei sich selber an! ({7}) Die Kosten, die durch diese massive Fehleinschätzung entstehen, werden hoch sein. In der freien Wirtschaft müsste man dafür seine Konsequenzen ziehen. Sie weigern sich. Alle anderen sind schuld. Wir werden das jetzt aufarbeiten müssen, weil Sie nicht alle Fragen beantworten. Sie haben heute vorgerechnet, 50 Millionen Euro seien ausgegeben worden. Allein für das Haushaltsjahr 2019 sind 89 Millionen Euro eingestellt, die noch nicht abgeflossen sind. Die 100-Millionen-Euro-Grenze wird also gerissen werden. ({8}) Hinzu kommen die Einnahmeausfälle, die Sie selber eingeplant haben, und vor allem die potenziellen Strafzahlungen. „Der Spiegel“ redet von 300 Millionen Euro, das „Handelsblatt“ von 500 Millionen Euro. Das haben Sie zu verantworten, weil Sie ohne Not frühzeitig die Aufträge vergeben haben. Dafür müssen Sie politisch geradestehen, und es ist natürlich ein Irrwitz der Geschichte, dass Sie am Tag des Urteils die Verträge kündigen und dann Tage später Sachen nachliefern und schwere Vorwürfe gegen die Betreiber erheben. Das ist natürlich eine weitere Ablenkungsstrategie, die falsch ist. Das wird teuer werden für den deutschen Steuerzahler. Deswegen: Hören Sie auf, zu vertuschen. Sagen Sie klar, wo es langgeht. Übernehmen Sie auch politische Verantwortung, sonst wird es nicht nur zu einem U-Ausschuss kommen. Am Schluss werden Sie auch dafür die Verantwortung zu tragen haben. ({9})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Daniela Ludwig für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Daniela Raab (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003613, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin froh, dass Andreas Scheuer Verkehrsminister ist. Warum? Er macht seinen Job. ({0}) Sein Job ist es, Gesetze umzusetzen, die der Deutsche Bundestag und der Bundesrat beschlossen haben, die der Bundespräsident unterzeichnet hat und ({1}) für die – das geht hier leider ein bisschen unter, weil es Ihnen nicht passt – die Europäische Kommission nach intensiven Verhandlungen zu genau diesem Thema grünes Licht gegeben hat. ({2}) Was anderes, als tätig zu werden, soll ein verantwortungsbewusster Verkehrsminister tun? Danke, Andi Scheuer, es war genau das Richtige. Es gab keine Alternative dazu, im letzten Jahr auszuschreiben und die Aufträge zu vergeben. ({3}) Das ist der erste Punkt. Meine lieben Kollegen, denken Sie es einmal umgekehrt. Die Europäische Kommission gibt grünes Licht für ein deutsches Vorhaben. Die Europäische Kommission wird künftig noch öfter grünes Licht für deutsche Vorhaben geben. Ist dann der Umkehrschluss, wenn Sie recht haben, dass wir künftig alles, was die Europäische Kommission freigibt, anzweifeln sollen? ({4}) Nein, so kann es natürlich nicht gehen. Deswegen war es richtig, das Verfahren einzuleiten und zu vergeben. Der zweite Punkt, weshalb es richtig war, liegt doch auf der Hand. Die Gleichen, die heute die Krokodilstränen um die entgangenen Mauteinnahmen weinen, die Scheinheiligen, würden bei einem positiven Urteil und bei Nichttätigwerden des zuständigen Ministers heute hier stehen und darüber heulen, dass uns jetzt Einnahmen entgehen. ({5}) Meine lieben Freunde, ich kann Ihnen nur sagen: Scheinheilig bis zum Ende, und deswegen kann ich nichts davon ernst nehmen, was Sie heute von sich geben. ({6}) Jetzt haben wir uns dieses Urteil bedauerlicherweise eingefangen. Es gab keinerlei Signale, dass es so ausgehen würde. Wir haben ein Plädoyer des Generalanwaltes, das Sie heute auch freundlich unter den Tisch haben fallen lassen, der sehr deutlich gesagt hat: Alles, was die Bundesregierung im Hinblick auf das Infrastrukturabgabengesetz vorgelegt hat, ist europarechtskonform. – Er empfiehlt dem EuGH, diesem Gesetz genau so zuzustimmen. Ab diesem Zeitpunkt spätestens gab es bei uns zu keinem Moment mehr Zweifel, dass wir richtigliegen und dass wir dieses Gesetz für die deutsche Infrastruktur und für die Beteiligung aller an dieser deutschen Infrastruktur umsetzen müssen. ({7}) Jetzt ist es leider nicht so gekommen. Das ist absolut bedauerlich. Richtig. Aber auch da muss ich sagen, dass ich froh bin, dass Andi Scheuer Verkehrsminister ist; denn er hat blitzsauber reagiert. Er hat binnen eineinhalb Stunden eine Taskforce gegründet, die sich mit der Aufarbeitung der Folgen des Urteils befasst. Ich möchte einmal einen von Ihnen sehen, der nach einem so schwierigen Urteil so sauber und transparent reagiert. ({8}) Das hätte niemand von Ihnen in der Form zustande gebracht. Großes Lob von unserer Seite. ({9}) Die Taskforce arbeitet täglich daran, die Öffentlichkeit und auch Sie zu informieren. Heute im Ausschuss muss ich mir anhören: Das reicht alles nicht. Wir sollen bitte an das schwarze Brett des Bundestages hängen, was an Vertragsabschlüssen gemacht wurde, und möglichst noch sämtlichen Mailverkehr. – Wenn Sie nicht wollen, dass der Bund vertragsbrüchig wird, dass er sich Schadensersatzansprüchen aussetzt, dann unterlassen Sie bitte künftig diese Forderungen. Was der Minister gemacht hat, ist das einzig Richtige. Er stellt die Verträge der Geheimschutzstelle zur Verfügung. Da können Sie alle hingehen. Viele waren schon dort. Sie können sich selber einen Eindruck verschaffen. Jetzt höre ich das Wehklagen: Ja, aber darüber kann ich mit niemandem reden. – Wir sind ja auch kein Gesprächskreis und keine Selbsthilfegruppe. Wir sind das deutsche Parlament. Ich erwarte von einem Abgeordneten, dass er auch mit sich selber und mit den Inhalten, die er hier zur Kenntnis nehmen kann, klarkommt. ({10}) Deswegen sage ich noch einmal: Wir hatten grünes Licht, nicht nur aus dem Bundestag, sondern vor allem und ganz entscheidend von der Europäischen Kommission, die uns gesagt hat: Es ist okay, was wir tun. – Wir hatten grünes Licht vom Generalanwalt. ({11}) Deswegen gab es zu keinem Zeitpunkt für mich einen Zweifel daran, dass das, was der Bundesminister tut, richtig ist. Jetzt gehen wir mit den Folgen dieses Urteils selbstverständlich und richtigerweise transparent und offen um. Wir werden in den nächsten Tagen sehen, ob überhaupt Schadensersatzansprüche geltend gemacht werden. Die bis dahin angefallenen Kosten sind Ihnen transparent gemacht worden. Deswegen sage ich Ihnen ganz ehrlich: Es gibt für mich keinerlei Grund, irgendwie Kritik am Minister zu üben. Er hat das Richtige getan. Er ist dem Bundestag gefolgt. So gehört sich das für einen Minister. Vielen herzlichen Dank. ({12})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der AfD der Kollege Leif-Erik Holm. ({0})

Leif Erik Holm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004761, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Liebe Bürger! Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dieses Scheitern der Maut ist eigentlich nur ein Beispiel für die vielen Desaster, die diese Bundesregierung zu verantworten hat. Die teure Energiewende – Sie sind auf ganzer Linie gescheitert. Sie wollten bis 2020  1 Million E-Autos auf den Straßen haben – nichts als heiße Luft, weil kein Mensch seine Kaufentscheidung nach ideologischen Kriterien ausrichtet. Auf das flächendeckende schnelle Internet warten wir seit Jahren. Der BER wird vom Jahrhundert- eher zum Jahrtausendprojekt. Jetzt also das Großprojekt Pkw-Maut, das Sie in den Sand gesetzt haben. Was kann diese Bundesregierung überhaupt? Regieren ist jedenfalls nicht Ihre Stärke. ({0}) Die Geschichte der Maut ist von Anfang an bemerkenswert. Wenn man sich Frau Merkel wieder vor Ohren führt, im Wahlkampf 2013 hat sie gesagt: „Mit mir wird es keine Pkw-Maut geben.“ Ich hätte mich nicht gewundert, wenn sie sich heute hierhingestellt und gesagt hätte: Ich habe doch mein Versprechen gehalten. Im Grunde kann die Bundesregierung dem EuGH geradezu dankbar sein; denn die Maut wäre auch finanziell ein echter Schuss in den Ofen gewesen. Laut ADAC hätten künftig bis zu 200 Millionen Euro Verluste pro Jahr gedroht. Nun aber werden die Entschädigungszahlungen fällig. Das ist natürlich das Verdienst dieses Verkehrsministers. Das muss man klar benennen. Manche sprechen von dreistelligen Millionenbeträgen. Das alles aber hätten Sie vermeiden können, wenn Sie zum Beispiel auf den Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages gehört hätten. Er hat doch mehrfach die klaren Warnhinweise gegeben, dass diese Maut in dieser Konstruktion eben nicht gerichtsfest sein könnte. Die Lösung wäre aus meiner Sicht eine ganz einfache gewesen: Hätten Sie die Kfz-Steuer einfach komplett abgeschafft, dann wären Sie damit vollends auf der sicheren Seite gewesen. Der EuGH hätte Ihnen nicht mehr dazwischenfunken können, und Sie hätten die Bürger sogar ein wenig entlasten können. Aber diese Regierung will oder kann das einfach nicht. Sie haben diese Chance vertan und stehen nun zu Recht da wie die begossenen Pudel. ({1}) Zusammengefasst: Sie haben es in jeder Hinsicht vergeigt. Aus der Schnapsidee der CSU ist eine teure Schnapsidee zulasten der Steuerzahler geworden, zumal jeder Autofahrer schon jetzt reichlich blecht, und zwar an der Zapfsäule. Jeder, der tankt, zahlt bereits einen Riesenbatzen an Steuern auf Sprit, und zwar verbrauchs- und kilometerabhängig. Wir haben also bereits so etwas wie eine Maut, und das reicht dann eigentlich auch. Wir bräuchten nur eine einzige Änderung. Die fast 60 Milliarden Euro, die Auto- und Lkw-Fahrer jährlich bezahlen, müssten auch in den Erhalt und den Ausbau unserer Verkehrswege investiert werden. Die Koalition aber verteilt diese enorme Summe überallhin, jedoch kaum in die Verkehrsinfrastruktur. Da kommen gerade mal mickrige 15 Prozent an. Wir tanken also im Wesentlichen eben nicht für gute Autobahnen, sondern für die Gießkannenpolitik dieser Regierung, und das halten wir für eine ziemlich schlechte Idee. ({2}) Dabei bin ich mir ziemlich sicher, dass die Autofahrer bereit sind, für gut ausgebaute Straßen zu bezahlen. Aber eines ist eben auch klar: Sie wollen nicht die Trottel der Nation sein, die sich ausnehmen lassen wie eine Weihnachtsgans. Manche lassen auch jetzt, nach der Gerichtsentscheidung, offensichtlich nicht locker. In der CSU gibt es ja offensichtlich Versuche, das Projekt mit einem durchschaubaren Trick zu retten. Das geht ja im Zeitalter der Klimahysterie perfekt. Da wird mal eben die Klimamaut erfunden in der Hoffnung, dass die Deutschen unter diesem Label dann schon alles akzeptieren werden. ({3}) Nein, die Bürger wollen auch keine Klimamaut. Sie zahlen schon jetzt mehr als genug. Meine Damen und Herren, die AfD sagte es von Anfang an: Deutschland braucht keine Pkw-Maut. Schließen Sie sich dem endlich an, und schicken Sie diese fixe Idee bitte endgültig in die ewigen Jagdgründe! Danke schön. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion der SPD die Kollegin Kirsten Lühmann. ({0})

Kirsten Lühmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004101, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! „Mit mir wird es keine Pkw-Maut geben“: Diese Aussage der Kanzlerin im Wahlkampf ist jetzt Realität geworden. ({0}) Ich gebe zu: mit einem kleinen Umweg. ({1}) Ja, die SPD hat im Koalitionsvertrag dieser Pkw-Maut zugestimmt. Sie alle haben schon mal Koalitionsverträge abgeschlossen. Die CSU wollte gerne die Pkw-Maut, die SPD wollte unter anderem den Mindestlohn. Beides stand drin. Der Mindestlohn ist Gesetz. Er wurde mehrfach angehoben. 4 Millionen Menschen haben davon profitiert. Er wird weiter angepasst. Er ist ein Erfolgsmodell. ({2}) Die Pkw-Maut hatten wir im Koalitionsvertrag mit mehreren Bedingungen versehen. Die erste Bedingung, Herr Dobrindt, haben Sie mit Ihrem Gesetzentwurf damals erfüllt: Kein in Deutschland zugelassener Pkw sollte mehrbelastet werden. Es gab sogar einige, die dann weniger belastet worden wären. Also insofern: Alles gut. Die zweite Bedingung war: Es sollte nennenswerte Mehreinnahmen geben. Viele hier im Haus waren bei der entsprechenden Fachanhörung dabei, wo uns die Experten dargelegt haben, dass es mit den 500 Millionen Euro zusätzlichen Einnahmen wohl etwas schwierig wird. Fakt ist aber, dass wir in der Mittelfristplanung unseres Bundeshaushaltes 360 Millionen bis 380 Millionen Euro eingestellt haben, die jetzt sicher nicht kommen können. Vorher haben wir das nur erwartet. Aber ich bin Minister Scheuer dankbar, dass er heute Morgen im Ausschuss klargestellt hat, dass dieses zusätzliche Geld für die Straße verplant war und dass es auch dort bei den Projekten gestreckt werden muss. Das heißt, es wird keine Kürzungen in dem für uns so wichtigen Schienenpakt geben. ({3}) Herzlichen Dank dafür! ({4}) Die letzte Bedingung war: Die Maut muss europarechtskonform sein. Da sage ich ganz deutlich: Wir haben das in den Abschlussdebatten hier diskutiert. Die einen haben gesagt, das ist europarechtskonform. Wir waren eher der Meinung, das ist schwierig. Aber ehrlich: Wir können das nicht entscheiden. Das kann nur einer entscheiden, nämlich der EuGH, und der hat jetzt entschieden: Das Ganze war nicht europarechtskonform, und darum wird es auch nicht kommen. Jetzt ist hier die Frage aufgeworfen worden: Wenn wir so ein Gesetz zur Pkw-Maut machen, muss es denn nicht vorbereitet werden, auch wenn es zur Klage kommt? Dazu sagen wir ganz klar Ja. Wir haben nämlich dem Haushalt zugestimmt. Wir finden es richtig, dass Personal eingestellt wurde, dass Sie das vorbereitet haben, dass eine europaweite Ausschreibung gemacht wurde. Nur, dann kam die Klage. Und dann kam der Moment, wo überlegt werden musste: Werden die ausgehandelten Verträge trotz des Risikos unterschrieben? Wir haben immerhin eine unabhängige Gerichtsbarkeit. Das finde ich ganz wichtig. Insofern können eine Kommission, ein Generalanwalt und wer auch immer was erzählen – die Richter und Richterinnen sind unabhängig. Also stellte sich die Frage: Unterschreiben wir diesen Vertrag, oder unterschreiben wir ihn nicht? Und da gab es viele – unter anderem die SPD, auch mit Sören Bartol, öffentlich in der Presse, aber auch in persönlichen Gesprächen –, die gesagt haben: Das Risiko ist zu groß. Der Minister hat gesagt: Das Risiko gehe ich ein. – Und ich muss ganz deutlich sagen: Niemand, Herr Scheuer, hätte Sie hier kritisiert, wenn Sie dargelegt hätten: Das Risiko ist zu groß, und nach der Entscheidung des EuGH unterschreibe ich, oder ich unterschreibe eben nicht. ({5}) Das ist das, was wir nicht verstehen und was, denke ich, auch noch erläutert werden sollte. Aber auf der anderen Seite muss man deutlich sagen: Wir haben von Ihnen heute Morgen Dinge gehört, die wir sehr gerne gehört haben, und zwar, dass das zusätzliche Personal, das wir eingestellt haben, in unseren Behörden verbleiben wird. Das halten wir auch für dringend notwendig. In den Haushaltsberatungen stellen wir immer wieder fest, dass bei den relevanten Behörden – Bundesamt für Güterverkehr, im Ministerium selbst oder auch beim Kraftfahrt-Bundesamt – Fachleute fehlen. Wir haben jetzt motivierte Fachleute eingestellt, und Sie haben uns zugesagt, dass alle diese Fachleute bleiben werden und für eine vernünftige Verkehrspolitik in diesem Land arbeiten werden. Herzlichen Dank dafür! ({6}) Es wurde heute Morgen im Ausschuss auch gefragt: Wie geht es denn jetzt weiter? Auch die Journalisten haben das gefragt. Ich denke, das hat etwas Zeit. Sie haben deutlich gesagt: Die Pkw-Maut in Deutschland ist tot. Aber wir haben seit einigen Jahren eine Debatte in Europa. Bis jetzt haben wir uns an dieser Debatte nicht beteiligt, weil wir gesagt haben: Wir haben eine eigene Maut. Wenn wir die behalten dürfen, ist uns alles andere egal. Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, ich glaube, es ist zwingend erforderlich, dass wir uns jetzt in diese Debatte einbringen und dass wir europarechtlich unsere Interessen vertreten – im Sinne einer modernen Verkehrspolitik in unserem Land. Herzlichen Dank. ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion Die Linke der Kollege Victor Perli. ({0})

Victor Perli (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004849, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine Damen und Herren! Verkehrsminister Scheuer hat heute den ganzen Tag versucht, das Debakel bei der Pkw-Maut zu erklären. Es ist ihm nicht gelungen. Das CSU-Prestigeprojekt geht als Totalflop in die Geschichte ein: ein schludriger Umgang mit Steuergeld, der jetzt zu einem mit Sicherheit mehrere Hundert Millionen Euro schweren Schaden führen wird. Und überall im Land fragen sich jetzt die Leute: Wie kann ein Verkehrsminister einen milliardenschweren Betreibervertrag unterschreiben, während das entscheidende Gerichtsverfahren noch läuft? Wie kommt man darauf, Leistungen für 2,1 Milliarden Euro zu bestellen, bevor man weiß, ob man das überhaupt darf? Wir erinnern uns: Es ist seit Jahren bekannt, dass die als Stammtischparole der CSU entwickelte Pkw-Maut für Ausländer politisch und rechtlich hochumstritten ist. Die CSU wollte unbedingt ein Gesetz, mit dem unterm Strich nur Nichtdeutsche auf den Autobahnen zur Kasse gebeten werden sollten. CDU und SPD haben das mitgetragen. Unzählige Studien und Rechtsgutachten haben vor dieser Maut gewarnt, weil im EU-Recht solche Diskriminierungen aufgrund von Staatsangehörigkeit nicht zulässig sind. Es war lange bekannt, dass der Europäische Gerichtshof in diesem Jahr ein Urteil sprechen wird. Trotzdem hat der Verkehrsminister vor einem halben Jahr einen milliardenschweren Betreibervertrag abgeschlossen. Herr Scheuer, warum haben Sie nicht noch diese sechs Monate abgewartet? Was ist das für eine Arroganz gegenüber einem rechtsstaatlichen Verfahren? ({0}) Jetzt ist das EuGH-Urteil zum Totalschaden für die CSU, für Verkehrsminister Scheuer und leider auch für die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler geworden. Mehr als 53 Millionen Euro sind bereits ausgegeben worden, Tendenz steigend. Die beauftragten Firmen pochen jetzt auf Schutzbestimmungen. Es drohen laut „Handelsblatt“ über 500 Millionen Euro Schadensersatz. Dazu kommen dann noch hohe Anwalts- und Gerichtskosten. In der Haushaltsplanung der Großen Koalition klafft jetzt ein Milliardenloch für die nächsten Jahre. Und das alles nur, weil Sie ein paar Monate Zeit sparen wollten. Das ist doch absurd. Wo gibt es denn so was, Herr Scheuer? ({1}) Keine Privatperson und kein Unternehmen kämen auf die Idee, ein Haus zu bauen und schon mal die Baufirma zu beauftragen, loszulegen, obwohl die Baugenehmigung noch gar nicht erteilt worden ist. Genau das haben Sie hier aber gemacht: Sie haben das Fell des Bären verteilt, bevor er erlegt worden ist. Das Sprichwort besagt, dass man das nicht tun sollte. Die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler haben ein Recht darauf, dass mit ihrem Geld nicht Roulette gespielt wird. Aber das ist hier passiert. Verkehrsminister Scheuer ist mit großem Risiko auf Schwarz gegangen: auf Erfolg vor Gericht. Aber der EuGH hat anders entschieden. Die Kugel ist auf Rot gefallen. Viel Risiko, hoher Schaden – das kann so nicht stehen bleiben, Herr Minister. ({2}) Es ist sehr ärgerlich – wir haben heute lange darauf gewartet –, dass Sie sich nicht zu Ihrer Verantwortung bekennen und nicht den Fehler eines zu frühen Vertragsabschlusses eingestehen. Schuld sind die anderen, so sagen Sie. Sie setzen auf einen langen und teuren Rechtsstreit wie bei der Lkw-Maut. Das Kalkül ist offensichtlich: Da wird jahrelang verhandelt, dann ist ein anderer Minister im Amt, es gibt eine andere Koalition, und die Hiobsbotschaften von teuren Kosten müssen andere verkünden. Mit dieser Strategie, Herr Scheuer, gehen Sie in die Geschichte ein als Verkehrsminister, der viel zu viele Auftragsbücher von Anwälten, Beratern und Schiedsgerichten, aber viel zu wenig die Auftragsbücher von Bahn‑, Bus- und Schienenbauern füllt. Und sagen Sie nicht, dass Sie nicht gewarnt worden sind. Viele haben gewarnt. Vor knapp zwei Jahren hat der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages deutlich darauf hingewiesen, dass das Mautvorhaben gegen geltendes Recht verstößt und so nicht durchkommen wird. Damals, vor zwei Jahren – Herr Scheuer war noch CSU-Generalsekretär –, hat er darauf geantwortet – ich zitiere –: Bei so viel fachlicher Ignoranz muss man die Frage nach dem Sinn des Wissenschaftlichen Dienstes stellen. ({3}) Das ist Hochmut, und Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall. Ich möchte den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Wissenschaftlichen Dienstes an dieser Stelle ausdrücklich für ihre Arbeit danken. ({4}) Sie ist sehr wichtig für uns und für die Öffentlichkeit, und sie haben recht behalten. Dieses Zitat, Herr Scheuer, fällt jetzt auf Sie selbst zurück: Bei so viel fachlicher Ignoranz muss man die Frage nach Ihrer Eignung als Verkehrsminister stellen. Es sind schon Minister wegen weniger Versagen zurückgetreten. Deshalb ist unsere klare Botschaft: Übernehmen Sie die Verantwortung! Treten Sie zurück! Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächster spricht zu uns der Kollege Oliver Krischer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist notwendig, an dieser Stelle noch einmal klarzustellen, welchem Zweck die Pkw-Maut diente. Der alleinige Zweck war, Ausländerinnen und Ausländer auf unseren Straßen zu diskriminieren. Es war die in Gesetz gegossene Stammtischparole, und CDU und SPD haben sich in Geiselhaft nehmen lassen. ({0}) Zweimal wurden hier entsprechende Beschlüsse gefasst. Ich möchte klar sagen: Ich danke den Richterinnen und Richtern beim EuGH dafür, dass sie diesen Unsinn gestoppt haben, dass sie Europa vor diesem Quatsch geschützt haben und dass diese Maut jetzt endgültig auf dem Müllhaufen der Geschichte unsinniger CSU-Projekte gelandet ist. Das ist gut so, meine Damen und Herren. ({1}) Aber – das muss man leider auch sagen –: Die Skandalmaut ist zwar jetzt erledigt, aber der Skandal geht weiter, und er heißt Andi Scheuer; denn die Maut reißt auch als Mumie Löcher in den Verkehrsetat, ({2}) und das ist allein die Verantwortung dieses Ministers. Das muss man an dieser Stelle klar sagen. ({3}) Es geht nämlich darum, dass Herr Scheuer so miese Verträge gemacht hat, dass bei einem negativen Urteil des Europäischen Gerichtshofes dem Betreiber, dem Vertragsnehmer der Bruttounternehmenswert als Entschädigung erstattet werden soll. So, und wir lesen jetzt in der Presse, dass das mindestens 500 Millionen Euro sein könnten, andere sprechen von noch größeren Zahlen. Der Minister sagt selber, der Vertrag hat einen Wert von 2 Milliarden Euro. Ich frage Sie, Herr Scheuer – mal ehrlich! –: Wie kann man eigentlich so verrückt sein, einen solchen Vertrag mit einer solchen Entschädigung abzuschließen, wenn man weiß, dass das EuGH-Urteil noch aussteht? ({4}) Das ist doch Wahnsinn! ({5}) Um es klar zu sagen: Es hat in Deutschland schon eine Reihe von Ministerrücktritten gegeben, aber viele davon aus wesentlich geringerem Anlass als der, über den wir jetzt reden. Herr Scheuer, Sie sollten in einer ruhigen Stunde vielleicht einmal darüber nachdenken. ({6}) Wir erleben jetzt, auch heute im Ausschuss, dass gesagt wird, für den frühzeitigen Vertragsabschluss sei der Minister nicht verantwortlich, nein, der Bundestag sei dafür verantwortlich, weil der entsprechende Beschlüsse gefasst habe. Herr Scheuer, wenn das so wäre: Wieso haben Sie den Bundestag über das Risiko in den Verträgen, die Sie abschließen, trotz Nachfragen, sogar trotz Kritik vom Koalitionspartner – Frau Lühmann hat es eben angesprochen – nicht informiert? Das wäre Ihre verdammte Pflicht gewesen! ({7}) Aber was man in der CSU besonders gut kann – das kennen wir schon von den Amtsvorgängern, insbesondere von Herrn Dobrindt –: Wenn es schwierig wird, werden Nebelkerzen gezündet. Herr Scheuer erfindet Tag für Tag neue Gründe, warum der Vertrag nichtig ist. Heute Morgen im Ausschuss hat er uns erklärt – man glaubt es kaum –, am 17. Juni, ein Tag vor dem Urteil des EuGH, sei ein Brief des Betreiberkonsortiums ins Ministerium geflattert, in dem stand, das Vertrauen sei zerstört und man habe sowieso überlegt, den Vertrag zu kündigen. Meine Damen und Herren, wer glaubt denn ernsthaft solche Geschichten, dass man am Tag vor dem EuGH-Urteil im Ministerium plötzlich, nachdem nie vorher jemand etwas davon gehört hat, erkennt, dass man den Vertrag kündigen will? ({8}) Es geht einzig und allein darum, dass Herr Scheuer von seiner eigenen Verantwortung ablenken will. Wir werden in den nächsten Tagen erleben, dass weitere Nebelkerzen gezündet werden, um zu verhindern, dass deutlich wird, wer in Wahrheit für den Skandal verantwortlich ist. 50 Millionen Euro sind schon versenkt, die sind schon weg; wahrscheinlich ist es – wenn man alles zusammenrechnet – sogar deutlich mehr. Wir reden am Ende über eine Summe im höheren dreistelligen Millionenbereich, wenn nicht gar im Milliardenbereich. ({9}) Ich bin gespannt. Wenn die Forderung des Betreiberkonsortiums auf dem Tisch liegt, dann werden Ihnen Ihre Nebelkerzen auch nichts nützen, Herr Scheuer, dann werden Sie die politische Verantwortung übernehmen müssen. Ich sage Ihnen: Wir sind in der letzten Sitzungswoche kurz vor der Sommerpause, und wir kennen das Spielchen. Da wird ein bisschen Nebel erzeugt, und man hofft, dass im September, wenn das politische Berlin wieder zusammentritt, Gras über die Sache gewachsen ist. Aber da werden wir nicht mitmachen. Herr Scheuer, ich kann Ihnen hier ankündigen: Das wird eine lustige sitzungsfreie Zeit; denn wir werden bei diesem Thema nicht lockerlassen. Wir werden Sie nicht aus der Verantwortung lassen. Stehen Sie endlich zu Ihrer Verantwortung! Schieben Sie die Schuld nicht auf andere! Seien Sie einmal nicht der kleine Andi im Sandkasten, sondern ein Minister, der Verantwortung dafür trägt, was er tut. ({10}) Das will ich jetzt gleich von Ihnen hier hören. Ich danke Ihnen. ({11})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer. ({0})

Andreas Scheuer (Minister:in)

Politiker ID: 11003625

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Mir war sehr klar, welche Begriffe von einigen aus der Opposition hier verwendet werden: Skandal, Murks, Vertuschung, Rücktritt, Nebelkerzen etc. etc. ({0}) – Das wundert mich überhaupt nicht, Herr Kollege. ({1}): Debakel!) – „Debakel“ habe ich noch vergessen, genau. Sehr bemerkenswert ist, Herr Kollege Krischer, dass Sie Ihre Schadenfreue mit einem Dank an den EuGH verbinden, dass er so entschieden hat. ({2}) Das ist bemerkenswert, weil das Urteil Deutschland viel Geld kostet. ({3}) Herr Krischer, wenn Sie das so sehen, obwohl uns damit viele Einnahmen abhandenkommen, dann ist das schon eine bemerkenswerte Aussage Ihrerseits. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, keiner will hier Nebelkerzen zünden. Ich habe seit dem Urteil völlige Transparenz hergestellt und Informationen gegeben. ({5}) Wir haben heute in den Ausschüssen Verkehr und Haushalt vier Stunden debattiert. Ich bin auf alle Fragen eingegangen. Wenn weitere Fragen und Anliegen der Abgeordneten kommen, dann werden wir sie beantworten und erfüllen. Wir haben im Vorfeld der Ausschusssitzungen dem Parlament einen umfassenden Bericht vorgelegt. ({6}) Wir haben nach intensiver juristischer Prüfung die Erfüllung der Auskunftsersuchen der Abgeordneten durch die Offenlegung der Verträge in der Geheimschutzstelle – und zwar ungeschwärzt und vollständig – möglich gemacht. Das ist der erste Punkt. Der zweite Punkt ist: Seit 2014 gab es umfassende Debatten und Zustimmung im demokratischen Prozess für ein Projekt, das die Mehrheit in diesen Gremien beschlossen hat. Wir haben alleine acht große Debatten zu dem Thema Infrastrukturabgabe geführt. Wir haben einen klaren Auftrag durch die Beschlussfassung der Bundesregierung, des Bundestages, des Bundesrates, mit der Unterschrift des Bundespräsidenten, mit dem grünen Licht der EU-Kommission für dieses Projekt. Daran waren alle Ministerien beteiligt. Das sage ich, weil immer wieder von Rechtsgutachten und rechtlicher Beurteilung die Rede ist. ({7}) Das Bundesjustizministerium hat seine Stellungnahme abgegeben und grünes Licht gegeben. Der Bundespräsident hat dieses Gesetz unterschrieben. ({8}) – Herr Kollege Krischer, im Bundesrat waren Parteien aller Farben, auch Ihre Partei, beteiligt. Kein Widerspruch zu diesem Projekt! ({9}) Alle Parteien, Herr Kollege Krischer! ({10}) Drittens, sofortiges Handeln nach dem Urteil: Um 9.30 Uhr war das Urteil gefällt. Ich habe sofort, um 10 Uhr, eine Taskforce einberufen. Wir haben das Urteil intensiv ausgewertet und haben noch am selben Tag Einstellungen gestoppt, wir haben alles, was die Einrichtung der Infrastrukturabgabe betrifft, gestoppt, und wir haben veranlasst, die zwei Verträge, die schon vergeben sind, sofort zu kündigen. ({11}) Das EuGH-Urteil hat natürlich finanzpolitische Auswirkungen. Natürlich haben wir in der Finanzlinie Einnahmeausfälle von rund 1 Milliarde Euro zu beklagen. ({12}) Diese Einnahmen sind in den Haushaltsjahren zuvor durch den Haushaltsgesetzgeber für die Finanzplanung der nächsten Jahre verplant worden. Es war deswegen selbstverständlich, dass ich die Entscheidungen, die im demokratischen Prozess mit Mehrheit hier im Deutschen Bundestag beschlossen wurden, als Minister, als Exekutive, respektieren muss. Nachdem wir 2017 diese Beschlussfassung hatten und danach eine Bundestagswahl und eine längere Suche nach einer Koalition und einer neuen Bundesregierung, haben wir natürlich sofort agieren müssen, weil der Haushalt uns die Freigabe gegeben hat, diese Verträge zu schließen. Das war der Hintergrund. Sie fordern immer wieder Gutachten ein. Zum einen sagen Sie: Das war zu teuer, wir haben bis jetzt schon zu viel ausgegeben. Für Sie ist das aber noch nicht genug Gutachterei, sondern es sollen weitere Gutachten erstellt werden. Ich sage Ihnen: Im ganzen Prozess haben wir Gutachten und Stellungnahmen – Sie sehen das an dieser Liste hier, eng geschrieben – en masse, sowohl pro als auch kontra. ({13}) – Ich stelle die zur Verfügung, Herr Krischer. Das habe ich schon mit dem Kollegen Kindler so vereinbart. Ich habe den Entwurf schon fertig. Wir stellen komplette Transparenz her. Da Sie immer den Wissenschaftlichen Dienst ansprechen, ({14}) sage ich Ihnen: Dieses Ergebnis war im Februar 2017. Danach – danach! – hat der Deutsche Bundestag mit Mehrheit hier die Infrastrukturabgabe rechtlich ordentlich eingestuft und die Freigabe dazu erteilt. ({15}) Wir haben bei den Verträgen Vorsorge getroffen, nämlich verschiedene Kündigungsgründe aufgeführt, die diesem Prozess beim EuGH Rechnung tragen. Wir haben uns auf die Offenlegung geeinigt, sodass die Abgeordneten Einsicht in die Verträge bekommen können. Wir haben ein geändertes Schiedsverfahren vorgesehen, eines, das schneller zum Ergebnis führt. ({16}) Jetzt sage ich Ihnen zum Thema Risiko: Wäre dieses Urteil genau andersherum ausgegangen – nämlich Bestätigung der Infrastrukturabgabe – und der zuständige Minister hätte nichts gemacht, ({17}) dann wären Milliardenausfälle zu beklagen gewesen. Das hätten Sie dann genauso kritisiert, ({18}) dann hätten Sie genauso meinen Rücktritt gefordert. ({19}) Es ist schon bemerkenswert, dass Sie ständig mit Entschädigungszahlungen argumentieren und dabei aus den Medien zitieren. Wir haben vom Auftragnehmer noch keine Forderung auf dem Tisch liegen. ({20}) Sie zitieren aus der Medienberichterstattung. Wie seriös ist denn das? Sie täuschen die Öffentlichkeit mit Zahlen, die hochspekulativ sind, die keiner bestätigen kann. Als verantwortungsvolle Mandatsträger müssten Sie ein Interesse daran haben, dass die Entschädigungszahlungen, die sich in diesem Streit aus der Kündigung ergeben könnten, für den Bund möglichst gering gehalten werden. Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir haben in allem, auch hinsichtlich der Vergabe, interne und externe rechtliche Prüfungen durchgeführt, ob wir 2018 vergeben sollten. Wir haben Risikomanagement betrieben. Wir haben Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen durchgeführt. Die Ergebnisse werde ich morgen im Internet veröffentlichen, damit sie einer breiten Öffentlichkeit zugänglich sind. Wir haben zu diesem Thema seit Längerem Prüfer des Bundesrechnungshofs im Haus. Der Bundesrechnungshof hat von dieser Vergabe immer gewusst und war immer wieder eingebunden. ({21}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wenn wir über die Nutzer und die Steuerfinanzierung reden, ist doch eines klar: Jeder hat sein eigenes Modell zur Nutzerfinanzierung, der eine mit mehr ökologischer Lenkungswirkung, der andere mit weniger. Aber Fakt ist – und das ist das Bittere an diesem Urteil –, dass wir nun wiederum abhängig sind von der Steuerfinanzierung. ({22}) Wir wollten das System umstellen auf ein gerechtes System: Wer nutzt, der zahlt. ({23}) Wenn ich auf meiner Heimatautobahn fahre, der A 3, einer transeuropäischen Magistrale, dann zähle ich da viele, viele ausländische Kennzeichen. Wie gerecht ist es denn, dass in über 20 Mitgliedstaaten der Europäischen Union Nutzerfinanzierung vorherrscht und der EuGH sich in einem sehr widersprüchlichen Urteil genau gegen dieses gerechteste System der Infrastrukturfinanzierung ausspricht? ({24}) Wenn ich jetzt mit dem Bundesfinanzminister rede, dann wird es darum gehen, die Finanzlinie so positiv umzugestalten, dass wir weiterhin den Investitionshochlauf haben. Viele haben mir nach dem Urteil geschrieben, SMS und E-Mails geschickt. Die haben gesagt: Ich war immer gegen die Pkw-Maut; aber schau bitte mit dem Finanzminister, dass die Einnahmeausfälle, die jetzt zu beklagen sind, möglichst schnell ausgeglichen werden, damit wir in unserem Bundesland unsere Verkehrsprojekte umsetzen können. ({25}) Das ist ein Widerspruch. Das eine geht nicht ohne das andere. Man kann nicht gegen die Maut sein, aber eine eminent hohe Mittelausstattung fordern. Wir wollten es durch die Nutzerfinanzierung schaffen, zu einem gerechten System zu kommen. Wir wollten einen gerechten Finanzierungskreislauf: Straße finanziert Straße. Deswegen werde ich mit dem Bundesfinanzminister über die exorbitant gute Ausgangslage bei den Investitionen im Verkehrsetat reden müssen und dafür kämpfen müssen, und zwar, Herr Perli, nicht nur bezogen auf die Straße. Wir haben heute im Kabinett einen Haushalt 2020 beschlossen, der ein klares Statement für die Schiene ist und ein klares Statement für mehr Investitionen. Mein Haushalt wächst auf. Darauf bin ich stolz. Jetzt müssen wir in der Finanzplanung die 350 Millionen, 320 Millionen und 380 Millionen, die wir durch dieses EuGH-Urteil jährlich verlieren, möglichst schnell auffangen. ({26}) Diese Lücke müssen wir mit anderen Mitteln schließen. Es ist das Ziel der Koalition, die Finanzausstattung des Verkehrsetats hochzuhalten. Herzlichen Dank. ({27})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der AfD der Kollege Wolfgang Wiehle. ({0})

Wolfgang Wiehle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004933, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Für die Autofahrer ist es eine Freude, wenn einmal die Belastung aus Steuern und Abgaben nicht zunimmt; wenn man sich darauf verlässt, dass die Kompensation über die Kfz-Steuer tatsächlich bestehen bleibt. Es fragt sich nur, ob ihnen diese Freude auf den zweiten Blick nicht im Halse stecken bleibt und sie außerdem nur von kurzer Dauer sein wird. Auf diesen zweiten Blick ist es so, dass wir Deutschen die „Maut-Deppen Europas“ sind, so titelt die „Bild“-Zeitung. In fast allen anderen Ländern Europas berappen wir eine Maut, und deren Bürger zahlen auch künftig auf deutschen Autobahnen keinen müden Cent. Auch wer, wie wir von der AfD, in Deutschland gar keine Maut will, stößt ja auf diesen Widerspruch. Die anderen Länder haben selbstverständlich die Steuersystematik für ihre autofahrenden Bürger seit Jahrzehnten darauf angepasst, dass es diese zusätzliche Mautbelastung gibt. Nur wir in Deutschland dürfen eine solche Anpassung, falls wir sie denn wollten, nun aber nicht mehr vornehmen, ({0}) nur weil wir später dran sind? Hat der EuGH hier wieder einmal seine bekannte Neigung zugunsten eines europäischen Zentralismus ausgespielt? ({1}) Oder haben Koalition und Bundesregierung mit dem Mautgesetz einfach zu hoch gepokert? Egal, das Ergebnis ist und bleibt einfach absurd. ({2}) Die Freude über die ersparte Maut wird für die Autofahrer auch nur kurz sein; das sage ich Ihnen an dieser Stelle voraus. Zu viele Geldeinsammler und Ideologen warten nämlich längst auf ihre nächste Chance. Im Gespräch mit n-tv träumt eine Kollegin von der CSU von einer einheitlichen europaweiten Maut. So ist Zentralismus besonders schön: wenn er auch noch die Kassen füllt. ({3}) Auf der Internetseite der CDU/CSU-Fraktion liest man, dass die Nutzerfinanzierung – wir haben es schon gehört; damit ist offensichtlich nichts anderes als die Maut gemeint – trotz des EuGH-Urteils richtig bliebe, nur wahrscheinlich in Zukunft ohne Ausgleich durch eine Senkung der Kfz-Steuer. Einen sogenannten Finanzierungskreislauf Straße braucht aber niemand als neue, große Erfindung zu preisen. ({4}) Dass die Autofahrer als Straßennutzer durch die Mineralölsteuer nämlich heute schon ein Vielfaches dessen zahlen, was für den Straßenbau von Bundesseite her eingebracht wird, hat mein Kollege Holm bereits trefflich beschrieben. SPD und Grüne haben sich gegen das Mautprojekt der CSU gestellt. Aber wie lange wird diese Position halten, wenn die finanzpolitischen Lockrufe der Klimarettung zu hören sind oder gar das neue Modewort „Verkehrswende“ erklingt? Ein paar Monate oder gar nur ein paar Wochen oder vielleicht nur ein paar Stunden, wenn ich die Frau Kollegin Lühmann richtig verstanden habe? ({5}) Außerdem hat die Mautdebatte längst die Leitplanken der Autobahnen verlassen. Immer häufiger wird über eine Citymaut, also eine extra Einfahrabgabe für Städte gesprochen. Zuletzt war das die Berliner Verkehrssenatorin Regine Günther, die den Grünen nahesteht. ({6}) Auf so einem Weg wird die Zufahrt in die Städte für Arbeit, Einkauf und Freizeit noch beschwerlicher und im Umkehrschluss der Einkauf in den großen Zentren auf der grünen Wiese außerhalb der Städte noch attraktiver. Trotzdem versucht man, uns das als neue Lösung zu verkaufen – Hauptsache wohl, man kann die Hand aufhalten und bei den Autofahrern ein weiteres Mal abkassieren. ({7}) Nein, die Freude der Autofahrer über die gefloppte Maut wird bestimmt nicht lange währen. Wie sagte Kanzlerin Merkel einmal – Sie wurde heute schon zitiert –: Mit mir wird es keine Pkw-Maut geben. – Es passiert ja wirklich selten, aber an dieser Stelle sind wir von der AfD diejenigen, die das aus voller Überzeugung unterstützen. Mit unseren Stimmen wird es keine Pkw-Maut geben. ({8})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächster redet für die Fraktion der SPD der Kollege Udo Schiefner. ({0})

Udo Schiefner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004397, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute, in dieser Aktuellen Stunde, sprechen wir über die Nichteinführung der Pkw-Maut. Ich hätte mir – natürlich unter anderen Umständen – diese Diskussion schon im Juni 2015 gewünscht. ({0}) Schon 2016 sollte die Pkw-Maut erhoben werden; das ist über drei Jahre her. Nach Abzug der Kontroll- und Verwaltungskosten rechnete der damalige Verkehrsminister Alexander Dobrindt mit Einnahmen von jährlich 500 Millionen Euro. Ein überzeugendes Argument war das damals bereits nicht. Der personelle und administrative Aufwand stand, wie ich finde, zu keinem Zeitpunkt in einem guten Verhältnis zu dem politischen Streit um dieses Symbolthema, meine Damen und Herren; ({1}) denn mit 500 Millionen Euro – um das einmal bildlich darzustellen – kann gerade einmal die A 39 um die 45 Kilometer zwischen Lüneburg und Uelzen verlängert werden. ({2}) Zum Vergleich: Allein mit den Einnahmen aus der Kaffeesteuer könnte man die doppelte Strecke finanzieren. ({3}) Doch was haben wir jetzt, im Juni 2019? Statt einer halben Milliarde Einnahmen bleiben uns nur Ausgaben. Die SPD hat von Anfang an deutlich gemacht, dass die Pkw-Maut nicht unser Verkehrsprojekt war. ({4}) Wir haben – dies hat Frau Lühmann eben erläutert – einen Koalitionsvertrag, und die SPD hat mit diesem Koalitionsvertrag vor allem ein sozialpolitisches Gesamtpaket durchgesetzt. Das nennt man nicht Geiselhaft, Herr Krischer, sondern Koalitionsvertrag. ({5}) Auch Sie unterschreiben – in den Ländern – Koalitionsverträge mit Kolleginnen und Kollegen der CDU. Man lebt in der Politik, wenn man Koalitionen eingeht, nun einmal von Kompromissen. Frau Lühmann hat die drei Punkte angesprochen, die für uns wichtig waren. Ich möchte sie jetzt nicht noch einmal nennen. Aber wir wissen, dass alle drei Voraussetzungen nicht gemeinsam erfüllt werden. Nach dem Urteil des EuGH wäre nur noch – rein theoretisch; ich hoffe, auf diese Idee kommt keiner – eine Pkw-Maut möglich, die die Deutschen zusätzlich belastet. Ich kann hier für die SPD-Fraktion erklären: Das wollen wir nicht. ({6}) – Ich bin ja nicht Frau Merkel. Machen Sie sich da mal keinen Kopf! Seit Beginn der Diskussion um die Pkw-Maut hatten wir große Bedenken, ob sie europarechtskonform sein kann. Der damalige und der jetzige Minister haben alle unsere Einwände stets vom Tisch gewischt. Alle rechtlichen Unklarheiten auf EU-Ebene seien ausgeräumt, wurde immer wieder gesagt. Das Gegenteil war offensichtlich der Fall. Ausgeräumt und klar war nun gar nichts. Trotzdem wurden Verträge unterschrieben. Auch hier hatten wir Bedenken angemeldet. Sören Bartol hat für die SPD-Bundestagsfraktion gewarnt. ({7}) Unsere Warnungen wurden ignoriert. Ich muss ganz deutlich sagen: Entscheidend sind auf europäischer Ebene nicht die Äußerungen eines Staatsanwaltes, sondern der Richterspruch, ({8}) und solange der nicht da ist, besteht Unsicherheit. Deswegen waren die Warnungen richtig, meine Damen und Herren. ({9}) Von Ihnen, Herr Minister Scheuer, erwarten wir jetzt, wie Sie es heute im Ausschuss gesagt haben, eine schnelle, klare und lückenlose Darstellung aller rechtlichen und finanziellen Konsequenzen. Ich gehe davon aus, dass Sie dies auch in den nächsten Wochen und Monaten umsetzen werden. Sie sprachen eben mit Blick auf die zu erwartenden Schadensersatzansprüche von rein spekulativen Zahlen, die derzeit durch die Öffentlichkeit geistern. Nur wenn Sie das, was Sie heute Morgen im Ausschuss gesagt haben, wirklich umsetzen, werden Sie solche Spekulationen vom Tisch bekommen. Wir werden Sie dabei unterstützen. Die SPD-Bundestagsfraktion wird die Abwicklung der Pkw-Maut sachlich und konstruktiv begleiten, auch wenn sich in den Reihen der Opposition der ein oder andere jetzt vor Schadenfreude auf die Schenkel klopft. ({10}) Ich glaube, so etwas bringt uns nicht weiter. Wir müssen hier sachlich und vernünftig zusammenarbeiten. Sie sind am Zug, Herr Minister, das umzusetzen, was Sie heute Morgen angekündigt haben. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Christoph Meyer für die FDP. ({0})

Christoph Meyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004820, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Scheuer, Sie haben in Ihrer Rede die Maske fallen lassen. Die Arroganz, mit der Sie eben Richterschelte betrieben haben, ist Ihnen mit dem EuGH-Urteil auf die Füße gefallen. ({0}) Sie haben hier wunderschön dokumentiert, was Ihre Strategie war: Augen zu und durch, mit dem Kopf durch die Wand; es muss gehen. – Genau das ist die Grundproblematik, über die wir bei der Pkw-Maut sprechen. Es war eine politische Entscheidung. ({1}) Es war eine politische Entscheidung auf der Ebene der EU-Kommission. Die Verkehrskommissarin war seinerzeit nämlich klar der Auffassung, dass die Maut nicht europarechtskonform ist. Es waren Ihre Parteifreunde, die das auf europäischer Ebene durchgedrückt haben. Genau so ist natürlich der Kompromiss in der Koalition zustande gekommen, und genau so ist natürlich die Bewertung zustande gekommen, die im Bundesrat und anderswo gefallen ist. Das war keine rechtliche Argumentation, sondern eine politische Argumentation. ({2}) Sie haben heute sowohl im Verkehrsausschuss als auch im Haushaltsausschuss und hier die Chance vertan, klare Antworten zu geben. Sie haben eben nicht klargemacht, auf welcher Informationsgrundlage Sie seinerzeit die Entscheidung getroffen haben, die Vergabeverfahren durchzuführen. ({3}) Sie haben nicht klargemacht, aufgrund welcher externen Beratungsleistungen das geschah. Sie haben sich darauf zurückgezogen, dass Sie externe Beratung hatten. Wie aber die Abwägung war, konnten Sie nicht klarmachen. Außerdem ist vollkommen unklar – das klang bei meinen Vorrednern schon an –, wie die Kostensituation aussieht. Die 54 Millionen Euro, die Sie jetzt ins Schaufenster stellen, gelten vielleicht bis zum Haushaltsjahr 2018. Allein in diesem Haushaltsjahr wird es mehr Geld werden. Die 600 bis 700 Millionen Euro, die im Raum stehen, werden in den nächsten Jahren noch obendrauf kommen, und das geht auf Ihre Rechnung, auf die Rechnung der CSU. ({4}) Es war interessant: Sowohl im Haushaltsausschuss als auch hier haben Sie sich wieder einen Ausweg offengelassen. Sie haben eben nicht klar gesagt, dass Sie von der Idee der Pkw-Maut abrücken. Sie haben sich die Hintertür offengelassen, Ihre verquere Idee der Nutzerfinanzierung hier noch mal auf die Agenda zu setzen. Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. ({5}) Dadurch, dass Sie hier schrittweise Informationen herausgeben, befeuern Sie das Misstrauen hier im Haus und im Ausschuss natürlich weiter. Sie haben uns eben die drei Seiten Rechtsgutachten zur Pkw-Maut gezeigt. Welcher vernünftige Minister, der sich über die Risiken im Klaren ist, entscheidet denn, wenn er drei Seiten Rechtsgutachten über mehrere Jahre in Auftrag gegeben hat, bevor das europäische Gericht endgültig entschieden hat? Das ist aberwitzig. Sie beweisen doch, dass Sie genau dieses Risiko eingegangen sind, und das fällt Ihnen jetzt auf die Füße. ({6}) Dafür tragen Sie alleine die Verantwortung, Herr Scheuer, und niemand anderes. Wenn man den Finanzminister und auch die Kollegen der SPD heute gehört hat, dann kann man gespannt sein, wie sie hier vorgehen werden. Herr Scholz hat sehr deutlich formuliert, dass er von Ihnen, aus Ihrem Haus, einen Vorschlag hören will, wie die Haushaltsrisiken gegebenenfalls gegenfinanziert werden, und er erwartet in der Tat auch eine Aussage dazu, welche Infrastrukturprojekte nicht ausfinanziert sind. Das ist Ihre Aufgabe, und auch da werden wir Sie nicht aus der Verantwortung entlassen. Sie haben nun die Mautverträge gekündigt. Ich persönlich muss ganz ehrlich sagen, dass ich nachvollziehen kann, dass Sie in dieser Konstellation jetzt versuchen, eine stärkere Rechtsposition aufzubauen, indem Sie irgendwelche Kündigungsgründe nachschieben. Das wird nach meiner Einschätzung aber nicht erfolgreich sein, sondern zeigt eher, dass Sie jetzt krampfhaft versuchen, weitere Gründe zu finden, um eine bessere Verhandlungsposition zu haben, welche Sie den Auftragnehmern entgegensetzen können. Das haben wir ein Stück weit ja auch schon bei Toll Collect gesehen. Die Beratungskosten, die in den nächsten Jahren entstehen werden, kommen auf die Rechnung noch obendrauf. Auch hier hätten Sie jetzt die Chance, zu sagen: Ja, ich habe einen Fehler gemacht und übernehme die politische Verantwortung. ({7}) Das wäre für den Haushalt und für uns alle allemal sinnvoller. Über eine Schlechtleistung als Kündigungsgrund kann man diskutieren. Für mich ist die abschließende Frage: Wenn Schlechtleistung ein Kündigungsgrund ist, wann ist Ihre Schlechtleistung hier zu bewerten, und warum treten Sie nicht zurück, Herr Scheuer? Das wird auf jeden Fall das Thema sein, das uns über die Sommerpause und im Herbst dann auch wieder hier im Bundestag begleiten wird. ({8})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Thomas Jarzombek für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Thomas Jarzombek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004061, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als wir nach der Bundestagswahl im Jahr 2013 zusammensaßen und die Koalition verhandelt haben, da – das gebe ich unumwunden zu – war ich ein großer Gegner dieser Pkw-Maut, und es gab auch andere. Aber wir haben einen Koalitionsvertrag beschlossen. Es ist eben so, dass man dann in der Sache auch Dinge beschließt, die nicht jedem gefallen. Insgesamt aber haben wir einen guten Koalitionsvertrag beschlossen, und zur Pkw-Maut haben wir eine gemeinsame Formulierung gefunden. Sie lautet: Diesem Ziel dient auch eine Ausweitung der Lkw-Maut sowie eine europarechtskonforme Pkw-Maut … Bezogen auf die Europarechtskonformität der Pkw-Maut muss man sich die Frage stellen: Wie findet man das denn heraus? – So interessant es ist, dass heute über Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes diskutiert wird: Am Ende ist es das übliche Verfahren einer Regierung, dass man so etwas zur Notifizierung in Brüssel anmeldet. Und genau das haben wir getan. Diese Notifizierung war kein einfacher Prozess. Es gab von der EU-Kommission Zweifel. Es wurde nachgebessert, und es gab eine zweite Version des Gesetzentwurfes. Ich zitiere aus einer Mitteilung der Kommission vom 2. Dezember 2016, nach der die zuständige Verkehrskommissarin Bulc die Lösung begrüßt und erklärt hat: Die beiden Gesetze werden nach den angekündigten Änderungen gewährleisten, dass das deutsche Mautsystem mit dem EU-Recht in Einklang steht. Wir haben damit auch einen ersten großen Schritt in Richtung einer binnenmarktfreundlichen EU-weiten Maut getätigt. Ob man das Thema mag oder nicht mag: Von da an war das grüne Licht aus Brüssel da. ({0}) Ich sage Ihnen einmal ganz klar: Wir können im Deutschen Bundestag doch nicht mit jedem Gesetzentwurf, den wir beschließen wollen, warten, bis es Urteile des EuGH oder des Bundesverfassungsgerichts dazu gibt. ({1}) – Sie sehen doch, bei wie vielen Gesetzen solche Urteile manchmal erst fünf oder zehn Jahre nach Inkrafttreten gefällt werden. ({2}) Wenn wir so agieren würden, käme der Deutsche Bundestag bei keinem Thema mehr voran. Deshalb finde ich die Kritik am Bundesverkehrsminister ungerechtfertigt. ({3}) Andreas Scheuer hat das getan, was wir von ihm hier erwartet haben und was der Bundestag beschlossen hat. Wir haben – ich habe das gerade vorgelesen – noch etwas Zweites beschlossen, was wir heute nicht ganz aus dem Blick verlieren sollten, nämlich die Ausweitung der Lkw-Maut. Es gab 14 Jahre lang Schiedsverfahren in Bezug auf die Lkw-Maut, die damals übrigens nicht von einem Verkehrsminister der Union, noch nicht einmal von einer Regierung, der die CDU angehörte, eingeführt wurde, sondern von Rot-Grün. In den 14 Jahren sind in diesem Verfahren sogar mehrere Schiedsgerichtsvorsitzende dahingeschieden. ({4}) Am Ende ist Andreas Scheuer der Einzige und Erste gewesen, der – entschuldigen Sie den unparlamentarischen Ausdruck – die Eier in der Hose hatte, hier eine Entscheidung zu treffen. ({5}) Er hat am Ende 3,2 Milliarden Euro für den Bundeshaushalt herausgeholt, anstatt abzuwarten, bis sich das Verfahren in die Unendlichkeit hinzieht. Hier sind also 3,2 Milliarden Euro realisiert worden. Bei der Lkw-Maut gibt es noch etwas zu beachten. Wir haben hier im Deutschen Bundestag sehr oft über die Pkw-Maut geredet. So misslich die 56 Millionen Euro sind, die jetzt hier in Rede stehen: Wir haben damals beschlossen, die Lkw-Maut vom Autobahnnetz auf alle Bundesstraßen auszudehnen. Das führt nicht nur dazu, dass Ausweichverkehre von Lkws vermieden werden, sondern auch dazu, dass wir seit dem 1. Juli des letzten Jahres unsere jährlichen Einnahmen von 4,6 auf 6,6 Milliarden Euro steigern konnten. ({6}) Das heißt, wir haben jedes Jahr 2 Milliarden Euro Mehreinnahmen, die vollständig in die Verkehrsinfrastruktur fließen. Das gehört zur Gesamtbeurteilung der Leistung der Regierung und des Bundesverkehrsministers genauso dazu, und das sind sehr große Erfolge. ({7}) Wir werden in der Zukunft darüber reden, wie es weitergeht. Ich sage Ihnen nur eines: Das heutige Finanzierungssystem hat auch eine soziale Komponente; die wird oft vergessen. Vorhin haben Redner der AfD gefordert, die Kfz-Steuer durch ein Pickerl zu ersetzen. Ich sage Ihnen nur eines: Bei der Kfz-Steuer zahlt der Geringverdiener, der einen Polo mit 1 Liter Hubraum besitzt, bedeutend weniger als der Besitzer eines Mercedes S 500. Das ist ein sozialer Ausgleich, und der ist auch fair. In dem Augenblick, wo Sie die Kfz-Steuer streichen und eine Flatrate für alle einführen, erschweren Sie für einkommensschwache Menschen die Mobilität. ({8}) Ich bin ausdrücklich dagegen. Das wird es mit der CDU in einer solchen Form nicht geben. Vielen Dank. ({9})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der SPD der Kollege Falko Mohrs. ({0})

Falko Mohrs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004824, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Mein Gesetz ist gut. Daran wird kein Wort geändert. Vielleicht wissen Sie noch, von wem dieser Satz stammt? Er stammt tatsächlich vom damaligen Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt aus dem März 2015, und zwar zur ersten Änderung des Infrastrukturabgabengesetzes, also lange bevor die Pkw-Maut überhaupt in Kraft gesetzt werden sollte. Heute, im Jahr 2019, wissen wir, dass diese Maut nicht zum 1. Januar 2016 gekommen ist, nicht in der letzten Legislaturperiode gekommen ist und – meine Kollegin Kirsten Lühmann hat darauf hingewiesen – offensichtlich nicht mit dieser Bundeskanzlerin und auch nicht mit dem EuGH kommen wird, meine lieben Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Das, was wir in der Zwischenzeit erlebt haben, hat mich manchmal ein bisschen an ein trotziges Kind erinnert, welches probiert, einen viereckigen Bauklotz seines Holzspielzeugs durch das sternförmige Loch zu pressen. ({1}) Aber heute wissen wir konkret, dass die Pkw-Maut mit dem Urteil des EuGH Geschichte ist. Da muss man sagen: Das Eckige passt in diesem Fall nun einmal nicht durch das Loch. Um bei den Fakten zu bleiben: Fest steht auch, Herr Krischer, dass die SPD-Bundestagsfraktion während der gesamten Verhandlungen zum Koalitionsvertrag und auch danach klar gesagt hat, was wir von dieser Maut halten und wie kritisch wir dieser Maut gegenüberstehen, dass sie nur unter ganz bestimmten Bedingungen von uns mitgetragen wird: wenn es erstens keine zusätzlichen finanziellen Belastungen für inländische Autofahrer gibt und wenn zweitens die europäischen Nutzerinnen und Nutzer bei uns nicht diskriminiert werden. – Sie haben unsere Bedenken in Ihrer Rede leider genauso weggewischt, wie es der Kollege Luksic getan hat. Herr Luksic, da ich gerade bei Ihnen bin: Sie haben ja in Ihrer Rede empfohlen, dass wir uns die FDP zum Vorbild nehmen sollten. Ich sage Ihnen einmal etwas als jemand, der aus Niedersachsen kommt: Wir hätten weder eine Landesregierung in Niedersachsen, wo Sie sich der Bildung einer Ampel entzogen haben, ({2}) noch hätten wir auf Bundesebene eine Bundesregierung zustande bekommen, wenn sich alle wie Sie aus der Verantwortung gestohlen hätten. Ich bin froh, dass wir uns an Ihnen, der FDP, kein Vorbild genommen haben. ({3}) Da wir gerade bei einem Rückblick auf die Reden sind, komme ich auch zu den Kollegen Holm und Wiehle von der AfD. Vielleicht sollten Sie in Ihrer Partei und in Ihrer Fraktion auch mal für Klarheit darüber sorgen, was Sie von diesem Vorhaben halten. Ich habe mir den zweifelhaften Spaß gemacht und einmal auf Ihrer Internetseite nachgeguckt. Ihr Kollege Dirk Spaniel behauptet, dass der EuGH mal wieder zulasten des deutschen Staates entschieden hätte; er bedauert, dass diese Maut nicht kommt. In das gleiche Horn stößt übrigens Stefan Keuter, der diese Entscheidung ebenfalls bedauert. ({4}) Gucken Sie einfach mal auf Ihre eigene Homepage, und überlegen Sie doch mal, ob das, was Sie hier eben gesagt haben, nämlich dass Sie diese Entscheidung begrüßen, am Ende mit dem zusammenpasst ({5}) und ob Sie neben dem typischen Euro- und EuGH-­Bashing Ihre Positionen für sich wirklich geklärt haben, Kolleginnen und Kollegen von der AfD. ({6}) Besonders problematisch erscheint mir übrigens – das wurde angesprochen –, dass, obwohl die Klagen aus Österreich und den Niederlanden bereits vorlagen, das Konsortium mit der technischen Vorbereitung beauftragt wurde und die Warnungen an dieser Stelle ignoriert wurden. Das stellt uns jetzt vor zwei konkrete Probleme. Erstens müssen wir dringend klären, in welcher Höhe tatsächlich Vertragsstrafen anfallen. Hier brauchen wir die heute Morgen zugesagte Transparenz, und das zügig. Zweitens muss dringend geklärt werden, wie das entstandene Loch in Ihrem Haushalt, Herr Scheuer, zu stopfen ist. Was nicht funktioniert, ist – um bei dem Bild des trotzigen Kindes zu bleiben –, wie ein kleines Kind, dem das Spielzeug weggenommen wurde, zu Papa Olaf, dem Finanzminister, zu laufen und zu jammern, er möge ihm mehr Geld geben. Herr Scheuer, ich erwarte schon von Ihnen als Minister, dass Sie Lösungsvorschläge machen, wie wir diese Finanzierung am Ende aus Ihrem Haushalt, aus Ihrem Etat sicherstellen können. ({7}) Dann können wir darüber weiter diskutieren. Fakt ist also: Das Wunschprojekt einiger, die Pkw-Maut, wird nicht kommen; sie ist gescheitert. ({8}) – Mein Verhältnis zur Regierung ist an der Stelle absolut ungetrübt. ({9}) Wir haben einen Koalitionsvertrag, Herr Kollege. Im Gegensatz zu Ihnen übernehmen wir Verantwortung ({10}) und bashen nicht Gerichte und Minderheiten. Wir übernehmen Verantwortung. Ich bin übrigens froh, dass Sie das in diesem Land nicht tun. Dabei wird es hoffentlich auch bleiben. ({11}) Meine Damen und Herren, die Pkw-Maut wird in dieser Form nicht kommen: mit uns nicht und mit dem EuGH nicht. Und das ist gut. In diesem Sinne: Alles Gute, meine Damen und Herren! ({12})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Karl Holmeier für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Karl Holmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004059, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die im Deutschen Bundestag beschlossene Infrastrukturabgabe oder Pkw-Maut ist leider durch den Europäischen Gerichtshof gescheitert. Man muss dieses Urteil akzeptieren, verstehen muss man es nicht. Das Kernanliegen bei der Pkw-Maut war der Wechsel von der Steuerfinanzierung hin zur Nutzerfinanzierung, ein guter und ein richtiger Weg; denn es geht vor allem um Gerechtigkeit. Derjenige, der die Straße benutzt, sollte auch die Kosten für Bau und Instandhaltung tragen. Die Lkw-Maut war der erste Schritt in Richtung Nutzerfinanzierung in der Infrastruktur. Die Pkw-Maut, meine Damen und Herren, wäre ein weiterer Schritt zu mehr Gerechtigkeit gewesen. Deutschland ist ein Transitland in der Mitte Europas. Alle ausländischen Pkw-Nutzer sowie Fahrer von Lkw bis 7,5 Tonnen benutzen unsere Straßen kostenlos. Die Kosten für Instandhaltung und Bau trägt damit zum großen Teil der Steuerzahler. ({0}) Es wäre nur gerecht, wenn ausländische Nutzer sich an der Finanzierung unserer Straßen ebenfalls beteiligen würden. In den umliegenden Staaten ist das selbstverständlich. Wir zahlen Maut in Österreich, in der Schweiz, in Frankreich, in Italien, in Tschechien und in vielen weiteren europäischen Staaten. ({1}) Die Nichtumsetzung der Pkw-Maut bedeutet für uns einen Verzicht auf eine konjunkturunabhängige Finanzierung unserer Infrastruktur, ({2}) einen Verzicht auf eine größere Unabhängigkeit vom Bundeshaushalt und einen Verzicht auf eine größere Planungssicherheit bei der Finanzierung unserer Verkehrsinfrastruktur. ({3}) Meine Damen und Herren, das Gericht verweist in seinem Urteil auf den angeblichen Verstoß gegen den freien Verkehr von Waren und Dienstleistungen. Diese Einschätzung ist mir ein Rätsel. Gerade in Österreich ist die Einschränkung des freien Personen- und Warenverkehrs gängige Praxis. Mit den Blockabfertigungen und Straßensperrungen greift Österreich massiv in die Freiheit des Verkehrs ein. ({4}) Hier wird mit zweierlei Maß gemessen. Das Gericht sagt, die Entlastung deutscher Autofahrer über die Kfz-Steuer sei diskriminierend. Österreich hat 1997 die Maut eingeführt. ({5}) Gleichzeitig entlastete Österreich die einheimischen Autofahrer mit einer Erhöhung der Pendlerpauschale. ({6}) Auch hier wird mit zweierlei Maß gemessen. ({7}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Grünen haben übrigens nicht nur im Bundesrat der Maut zugestimmt. Sie haben auch bei den Jamaika-Verhandlungen die Umsetzung der Maut akzeptiert. Also braucht ihr euch nicht aufzuregen. ({8}) Für uns war entscheidend, dass der deutsche Autofahrer nicht zusätzlich belastet wird. Deswegen war und ist eine finanzielle Entlastung als Ausgleich für die Maut richtig. Meine Damen und Herren, das Urteil ist gesprochen. Wir werden uns dem fügen. Jetzt müssen wir aber den Blick nach vorne richten. Die Diskussion über eine Nutzerfinanzierung wird sicherlich weitergehen. Ich bin zuversichtlich, dass wir eine Lösung finden, die unsere Infrastruktur in Zukunft auf eine solide finanzielle Basis stellt. Dabei müssen wir in besonderer Weise den ländlichen Raum im Auge behalten. Herzlichen Dank. ({9})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich beende deshalb die Aktuelle Stunde. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 27. Juni 2019, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. (Schluss: 18.59 Uhr)